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Copyright by Brigitta Helbig-Mischewski - Helbig-mischewski.de

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<strong>Brigitta</strong> <strong>Helbig</strong>-<strong>Mischewski</strong>: Ein Mantel aus Sternenstaub, Nor<strong>de</strong>rstedt 2005<br />

269<br />

Materie, Entgrenzung, Schmerz. Die Welt erscheint <strong>de</strong>m Ich als großer Friedhof, es<br />

lebt auf <strong>de</strong>n „Überresten“ von Verstorbenen und erbt <strong>de</strong>ren „Daseinsschmerz“,<br />

„Angst“ und „Ohnmacht“. 9 „Millionen von Begier<strong>de</strong>n“ spürt das Ich in seiner Brust,<br />

und es „watet im Blut“. Es sieht sich auch als substanzloses, heulen<strong>de</strong>s Gespenst<br />

(mara), 10 das über <strong>de</strong>m bo<strong>de</strong>nlosen Nichts gespannt ist und „nur das An<strong>de</strong>re<br />

reflektiert“. (Ritz 2001, 153) In <strong>de</strong>r letzten Strophe wird es als „versteinerte Klage“ ins<br />

Grab, „an die sandigen Wän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Friedhofs geworfen“. Es taucht ein christliches<br />

Motiv auf – die Verdammung zur ewigen Strafe, die jedoch nicht in <strong>de</strong>r Hölle,<br />

son<strong>de</strong>rn ganz materiell auf <strong>de</strong>m Friedhof lokalisiert wird. Jegliche Sinn<br />

konstituieren<strong>de</strong> Metaphysik wird aus diesem Gedicht verbannt. Die entworfene Vision<br />

<strong>de</strong>s menschlichen Lebens lässt keinen Raum für Hoffnung. Zwischen <strong>de</strong>m<br />

mütterlichen Schoß und <strong>de</strong>m Grab gibt es keinen Unterschied. Doch auch schon zu<br />

Lebzeiten ist <strong>de</strong>r Leib <strong>de</strong>s Ichs nicht intakt, seine Brust ist aufgeschlitzt und blutet,<br />

<strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r „Unglaube“ (niewiara) 11 hat seine Krallen in sie hineingebohrt.<br />

Es gibt im Jungen Polen zahlreiche, meist von Männern (u.a. von Bolesław Leśmian)<br />

geschriebene Gedichte, die die Ichauflösung als einen durchaus verlocken<strong>de</strong>n Zustand<br />

imaginieren. 12 Doch, wie <strong>de</strong>r zeitgenössische Mystiker Anselm Grün schreibt: „Man<br />

kann das eigene Ich nur loslassen, wenn man es erworben hat.“ (Grün/Riedl 2001, 39)<br />

Das Ich von „Krzyk“ aber hat keine Hoffnung, jemals ein Subjekt, ein Individuum zu<br />

wer<strong>de</strong>n. Das unausgelebte, uferlose Lebensbegehren wird als „Millionen von<br />

Begier<strong>de</strong>n“ (żądz miliony) ins Bild gesetzt, die uneingelöste Ichwerdung dramatisch<br />

9 Polnisch: „Ból życia – strach – i bezsiłę...“ (159)<br />

10 Vgl. die Bildlichkeit von „Biesy“.<br />

11 Es könnte sich hier um das für Komornickas Schaffen vor 1900, insbeson<strong>de</strong>re für „Forpoczty“<br />

signifikante Motiv <strong>de</strong>s verlorenen religiösen Vertrauens han<strong>de</strong>ln.<br />

12 Zu diesem Motiv vgl. <strong>de</strong>n Film von P. Almodovar „Sprich mit ihr“ (2002). In <strong>de</strong>n die Aktion auf eine<br />

metaphorische Ebene projizieren<strong>de</strong>n Stummfilmszenen kriecht ein geschrumpfter Mann in die Vagina<br />

seiner Frau und erfüllt sich damit seine erotisch-existenziellen Sehnsüchte. Der Ort <strong>de</strong>r Geburt wird zum<br />

Grab.<br />

<strong>Copyright</strong> <strong>by</strong> <strong>Brigitta</strong> <strong>Helbig</strong>-<strong>Mischewski</strong><br />

<strong>Copyright</strong> <strong>by</strong> <strong>Brigitta</strong> <strong>Helbig</strong>-<strong>Mischewski</strong> 2005 / www.helbig-<strong>mischewski</strong>.eu

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