Copyright by Brigitta Helbig-Mischewski - Helbig-mischewski.de

Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
393
auch wohl kaum in Anspruch genommen. Die Dichterin scheint jedoch tatsächlich
daran geglaubt zu haben, durch intensive Sühnepraktiken und eine entsprechende
Gymnastik ihren Körper formen zu können, bis dieser die andersgeschlechtlichen
Züge entwickelt, um sich anschließend an die körper- und geschlechtslose, dafür aber
‚beflügelte’ Existenzweise der Engel anzunähern. Damit scheint die selbstgewählte
Männlichkeit 3 für Komornicka eine Station auf dem Weg zur Entkörperlichung und
Vergeistigung, eine Stufe auf der biblischen Himmelsleiter gewesen zu sein. So
schreibt Piotr am 27.06.1909 aus der Irrenanstalt in Opawa (Troppau) an die Mutter:
Erlaubt mir, mich in Ruhe zu entwickeln. Ich versichere, dass keine Diät, keine Folter oder
irgendeine Quälerei dafür nötig sind, sondern sich bremsend auswirken. Diesem Körper würde
nur helfen, wenn ich mich auch geistig ‚ausbreiten’ und arbeiten könnte. Das Geschlecht ist ein
folgsames Tier – wenn der Kopf gesund ist und seinen Beitrag zum Wohlstand des restlichen
Organismus leistet. 4
In ihren ersten literarischen Texten, die sie als Jugendliche und junge Frau verfasste,
zeigt Komornicka jedoch zunächst ein ausgeprägtes feministisch-emanzipatorisches
Bewusstsein und einen starken Drang zu einer, in keiner Weise metaphysisch
gedachten, Überschreitung der geschlechtsspezifischen Stereotype. Sie entwirft
mehrere – an ihrer eigenen Person orientierte – Figuren von jungen Rebellinnen gegen
patriarchale Unterdrückung und Fremdbestimmung. All diesen gegen die
Einschränkungen einer traditionellen weiblichen Existenz aufbegehrenden, nach
Selbstverwirklichung strebenden, Männer um Zugänge zu Machtdiskursen,
öffentlichen Räumen und zur Autorschaft beneidenden, hochintelligenten und
lebenshungrigen weiblichen Figuren (Helena, Staszka, Halszka, Wanda) ist
gemeinsam, dass sie für ihre Revolte mit lähmenden Schuldgefühlen bezahlen. Die
3 In ihren Schriften entwickelt Komornicka zwei Konzepte von Männlichkeit. Zum einen verbindet sie
diese mit animalischen Trieben, zügelloser Sexualität und der Orientierung am Körper, zum anderen mit
hohen geistigen und intellektuellen Fähigkeiten, die die philosophischen Diskurse der Zeit Frauen
absprachen. Sie selbst identifiziert sich ausschließlich mit dieser zweiten Konzeption der Männlichkeit.
4 Polnisch: „Dajcież mi się w spokoju rozwinąć. Zaręczam bowiem, że ani dyeta, ani dręczenie, ani
szarpanie, ani jakiekolwiek nękanie potrzebne do tego nie są, a są hamulcem. Przy tem ciału by tylko
pomogło, gdybym się i duchowo mógł rozpostrzec i pracować. Wszakże płeć to zwierzę pokorne, gdy
dobrą jest głowa, i udział ma swój w dobrobycie reszty organizmu.“
Copyright by Brigitta Helbig-Mischewski
Copyright by Brigitta Helbig-Mischewski 2005 / www.helbig-mischewski.eu