Die ausführliche Version als pdf - Futur III
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ANDREAS SIEMONEIT<br />
<strong>Futur</strong> <strong>III</strong><br />
Unterwegs zu einer Politischen Theorie der Nachhaltigkeit<br />
Langversion der Webseite www.futur-<strong>III</strong>.de<br />
<strong>Version</strong> 3.3 vom 18.03.2013
Vorwort ...................................................................................................................3<br />
Widmung ...................................................................................................................5<br />
Über <strong>Futur</strong> <strong>III</strong> und den Autor ..........................................................................................6<br />
Der Autor und sein Standpunkt.....................................................................................6<br />
<strong>Futur</strong> <strong>III</strong> .....................................................................................................................6<br />
Kapitel 1: Einleitung ....................................................................................................8<br />
1.1 Intro .................................................................................................................8<br />
1.2 Ausgangspunkt ................................................................................................11<br />
1.3 Überblick über das Buch....................................................................................13<br />
Kapitel 2: Ursachen ...................................................................................................15<br />
2.1 Technische Revolutionen...................................................................................15<br />
2.2 Bevölkerungswachstum.....................................................................................17<br />
2.3 Geld und Markt ................................................................................................19<br />
2.4 Menschliche Vernunft........................................................................................24<br />
2.5 Antrieb des Menschen.......................................................................................29<br />
2.6 Antrieb der Wirtschaft.......................................................................................34<br />
2.7 Produktivitätssteigerung....................................................................................38<br />
2.8 Wider die Vernunft ...........................................................................................41<br />
Kapitel 3: Sackgassen................................................................................................44<br />
3.1 Sackgasse Produktivität ....................................................................................44<br />
3.2 Institutionelle Wachstumstreiber........................................................................61<br />
3.3 Ungleichheit.....................................................................................................64<br />
3.4 Computer, Internet und mobile Kommunikation ..................................................65<br />
3.5 Widersprüchliche Botschaften............................................................................68<br />
Kapitel 4: Scheinlösungen ..........................................................................................70<br />
4.1 Inseln der Vernunft ..........................................................................................70<br />
4.2 Green New Deal ...............................................................................................72<br />
4.3 Großtechnische Lösungen .................................................................................74<br />
4.4 Cradle to cradle................................................................................................75<br />
Kapitel 5: Fazit..........................................................................................................79<br />
5.1 Stand der Dinge ...............................................................................................79<br />
5.2 Ziele eines Umbaus ..........................................................................................83<br />
Kapitel 6: Alternative .................................................................................................90<br />
6.1 Eine liberale Antwort.........................................................................................90<br />
6.2 Humanistische Marktwirtschaft ..........................................................................93<br />
6.3 Demut, Selbstvertrauen und Vernunft .............................................................. 105<br />
6.4 Verfall und Tod .............................................................................................. 108<br />
6.5 Was macht uns zufrieden? .............................................................................. 111<br />
6.6 Systemumbau ................................................................................................ 116<br />
Epilog ............................................................................................................... 127<br />
Was können Sie selbst tun?...................................................................................... 127<br />
Schlusswort ............................................................................................................ 129<br />
Literaturhinweise........................................................................................................ 130<br />
2
Vorwort<br />
<strong>Die</strong> Welt der Wirtschaft dreht sich immer schneller: Ein entfesselter Finanzmarkt, Investoren,<br />
die Grundstücke und Rohstoffe hamstern, steigender Ressourcenverbrauch, Millionen Arbeitslose<br />
und ein ruinöser Wettbewerb der Nationen sind nur einige Stichwörter der Negativspirale.<br />
Warum sind die bewährten liberalen Prinzipien<br />
• Freiheit des Einzelnen<br />
• Demokratie<br />
• Marktwirtschaft<br />
• Gerechtigkeit<br />
• „Leistung soll sich lohnen”<br />
• Zurückhaltung des Staates<br />
anscheinend nicht in der Lage, unsere ökologischen und sozialen Grundlagen zu bewahren?<br />
Ist das nur unsere „angeborene Gier”? Demokratie und Marktwirtschaft werden <strong>als</strong> Konzepte<br />
von verschiedenen Seiten zunehmend in Frage gestellt – kann man sie noch einmal „rehabilitieren“?<br />
Selbstverständlich. Es ist eigentlich ganz einfach. Mit genau diesen liberalen Prinzipien kann<br />
man nämlich auch zu einem Gesellschaftsmodell kommen, in dem Vernunft und Mäßigung<br />
auf einmal zum Natürlichen werden. Es ist liberal, denn es würdigt die Freiheit des Einzelnen.<br />
Es ist humanistisch, denn es berücksichtigt die menschlichen Konflikte zwischen kurzfristigen<br />
und langfristigen Interessen. Es ist der Versuch herauszufinden, was Demokratie so edel und<br />
Marktwirtschaft so unwiderstehlich macht, und ob man das nicht noch einmal anders kombinieren<br />
kann.<br />
Es gibt zwei gegensätzliche gesellschaftliche Botschaften:<br />
• <strong>Die</strong> Botschaft der freien Marktwirtschaft<br />
Denke unternehmerisch. Maximiere Deinen Gewinn. Verbinde Dein persönliches<br />
Wachstum mit dem Wachstum der Wirtschaft. Bleibe wettbewerbsfähig. Suche Gelegenheiten<br />
zum Investieren. Steigere den Umsatz. Senke die Kosten. Sei nie zufrieden<br />
mit dem Erreichten.<br />
• <strong>Die</strong> Botschaft der Mäßigung<br />
Mäßige Dich. Handle vernünftig. Wirtschafte nachhaltig. Schütze die Umwelt. Senke<br />
den Ressourcenverbrauch. Teile Deinen Reichtum. Nimm Rücksicht auf die Schwächeren.<br />
Geld ist nicht alles. Sei zufrieden mit dem, was Du hast.<br />
Das Problem ist: <strong>Die</strong> Botschaft der freien Marktwirtschaft ist viel lauter <strong>als</strong> die der Mäßigung.<br />
Wir haben 1001 Maßnahmen getroffen, um der Botschaft der freien Marktwirtschaft Gehör<br />
zu verschaffen, aber nur eine Handvoll für die Botschaft der Mäßigung. Und wir verschaffen<br />
der Botschaft der freien Marktwirtschaft über viele übergeordnete Prinzipien Geltung, der<br />
Botschaft der Mäßigung jedoch vorwiegend über nachgelagerte Gesetze und Verordnungen.<br />
Das führt zu einem grotesken Ungleichgewicht:<br />
• Wir sind in einer Spirale aus Produktion und Konsum gelandet, weil unser Wirtschaftssystem<br />
das Unternehmertum geradezu entfesselt und die Konsumenten zum<br />
Konsum drängt. Gewinne werden privatisiert und Kosten vergesellschaftet. Das ist<br />
nicht gottgegeben, sondern durch verschiedene Prinzipien so gestaltet.<br />
• Ebenso ist eine ständige Steigerung der Produktivität nicht „natürlich”, sondern basiert<br />
praktisch ausschließlich auf der ungehemmten Ausbeutung der natürlichen Ressourcen.<br />
Der Gesamteffekt von Produktivitätssteigerung und Arbeitsteilung ist schon<br />
seit langem für die Gesellschaft insgesamt negativ.<br />
3
• Viele derzeit diskutierte „Lösungen” versuchen, nur die wildesten Auswüchse zu begrenzen,<br />
ohne die Frage nach den tieferen Gründen zu stellen. <strong>Die</strong> Wirtschaft soll<br />
zum Maßhalten gezwungen werden. Das führt zu einem undurchschaubaren Geflecht<br />
von Vorschriften sowie ganz unangenehmen moralischen Appellen.<br />
Es wird daher nicht reichen, Plädoyers für neue Leitbilder zu halten, neue Formen der Arbeit<br />
zu diskutieren oder den Gestaltungswillen der Politik einzufordern, solange überwältigende<br />
Anreize und praktische Subventionen im Gesellschaftsmodell existieren, die zu Reichtum,<br />
Machtkampf, Wettbewerb und Ressourcenverschwendung auffordern – kurz: Zu Maßlosigkeit<br />
und Unvernunft. <strong>Die</strong> Idee der Leistungsgesellschaft „Wer mehr leistet, bekommt auch mehr”<br />
wurde pervertiert in die Idee der Wettbewerbsgesellschaft „Wirtschaft ist Kampf, und es gibt<br />
Gewinner und Verlierer”. Der Mensch könnte viel vernünftiger sein, wenn man ihm nur eine<br />
Chance geben würde.<br />
Wie kann man die Systemfrage stellen, ohne liberale Prinzipien aufzugeben? Millionen von<br />
Menschen mit unterschiedlichsten Interessen kann man nicht dazu bringen, an einem Strang<br />
zu ziehen. Statt dessen darf man die Kräfte bestimmter Stränge nicht zu stark werden lassen.<br />
Das Stichwort zur Sicherung der Freiheit lautet „Machtbegrenzung”, und die Aufgabe<br />
lautet, das in der Wirtschaft ohne Willkür zu realisieren. Es geht nicht darum, nachhaltiges<br />
Verhalten zu fördern, sondern nicht nachhaltiges zu bremsen. <strong>Die</strong> unfaire Konkurrenz ist<br />
zu groß.<br />
<strong>Die</strong> notwendigen Prinzipien der Umgestaltung umfassen im wesentlichen folgende Punkte,<br />
die allesamt fest auf einer liberalen Grundlage stehen:<br />
• Marktwirtschaft und Demokratie sind das Gleiche. Es sind die beiden Seiten der Medaille<br />
„Leben in Gemeinschaft”. Nur mit Marktwirtschaft kann man die wirtschaftliche<br />
Freiheit des Einzelnen realisieren, aber sie darf nicht grenzenlos sein. In der Politik<br />
waren wir schon mutiger und haben die Macht der Repräsentanten demokratisch begrenzt.<br />
Notwendige Voraussetzung war die Erfahrung der politischen Katastrophen<br />
des 20. Jahrhunderts. Das müssen wir jetzt in der Marktwirtschaft nachholen, um<br />
nicht vollends in eine ökologische und soziale Katastrophe des 21. Jahrhunderts abzugleiten.<br />
Machtbegrenzung bedeutet in der Marktwirtschaft eine absolute Obergrenze<br />
für Vermögen.<br />
• Aus dem Grundsatz „Leistung soll sich lohnen” kann man ableiten, dass leistungslose<br />
Einkommen, die einfach nur aufgrund von Eigentum erzielt werden, nicht zulässig<br />
sind. Einkommen dürfen nur aufgrund einer eigenhändig erbrachten Leistung erzielt<br />
werden. Kein Grundstück wurde je von Menschen erschaffen, kein nichterneuerbarer<br />
Rohstoff je von Menschen produziert. <strong>Die</strong>ses „Menschheitserbe” darf demzufolge<br />
nicht den Marktgesetzen unterliegen. Damit erhält man einen veränderten Eigentumsbegriff.<br />
• Demokratie bedeutet auch die Berücksichtigung der zukünftigen Generationen, und<br />
zwar nicht nur der nächsten 50 Jahre. Wir haben genug Rohstoffe aus der Erde geholt,<br />
und mit dem, was wir haben, müssen wir sorgsam umgehen. Das führt zu einem<br />
absoluten Nachhaltigkeitspostulat: 100 % Recycling oder 100 % Abbaubarkeit<br />
(„Cradle to cradle”), keine zusätzlichen nichterneuerbaren Rohstoffe verbrauchen,<br />
Produktverantwortung des Herstellers über die gesamte Produktlebensdauer (umfassende<br />
Rücknahmepflicht).<br />
Auf dieser Basis könnte man zu einer neuen Gesellschaftsordnung kommen, die gutes Leben<br />
nicht primär über den Konsum definiert. Angebotsdenken würde ersetzt durch Nachfrageorientierung.<br />
<strong>Die</strong> konkrete Ausgestaltung könnte wieder getrost den Kräften des Marktes überlassen<br />
werden, der dann sozusagen auf eine Vernunft-Diät gesetzt ist. Es könnte die Bewahrung<br />
von Demokratie und Marktwirtschaft sein – eine humanistische Marktwirtschaft.<br />
4
Widmung<br />
Das Buch „<strong>Futur</strong> <strong>III</strong>” möchte ich der Fotografin Ingeborg Ullrich und dem Filmemacher Hans-<br />
Georg Ullrich widmen, die beide seit langem in Berlin leben.<br />
Ich habe einen großen Teil meiner Kindheit in ihrem Haus verbracht, nachdem ich im Kindergarten<br />
ihren Sohn Volker kennengelernt hatte, der zum engsten Freund dieser Zeit wurde.<br />
Ihnen danke ich für die Zuwendung und Großzügigkeit, die ich in dieser Zeit erleben<br />
durfte, und für die Freiheiten, die Volker, ich und viele andere Kinder dam<strong>als</strong> in Haus und<br />
Garten und anderswo genießen konnten. Wir lebten eine Kindheit, in der es erlaubt war, sich<br />
nicht mit den Fragen der frühkindlichen Förderung, Handys, iPods und Mehrsprachigkeit zu<br />
beschäftigen, sondern mit Schlamm, Kletterbäumen, Höhlen, Dachböden, Verkleiden und<br />
ganz normalem Spielzeug. Wir durften auf die Symbole der Erwachsenenwelt verzichten.<br />
Ingeborg und Hans-Georg haben sich in ihrer beruflichen Arbeit sehr viel mit dem Alltag der<br />
Menschen beschäftigt, weil sie wissen wollen, wie es wirklich ist, und vor allem auch, wie es<br />
jenseits des Hype ist. Sie wussten immer, dass die Wahrheit vor allem in der Einfachheit<br />
liegt. Sie haben uns Kindern einen Humanismus praktisch vorgelebt und uns ihre Werte unaufgeregt,<br />
im Zweifel aber konsequent vermittelt.<br />
Anfang der 1970er Jahre war dieser Kindergarten, in dem ich Volker kennengelernt hatte, im<br />
Berliner Bezirk Schmargendorf gegründet worden, von Eltern und Erzieherinnen, die mit den<br />
staatlichen und kirchlichen Kindergärten unzufrieden waren. Sie waren vom studentischen<br />
Aufbruch der 68er geprägt und voller Optimismus. Der Kindergarten wurde „ZOP 4” genannt,<br />
was viele für eine politische Abkürzung hielten – es war aber einfach die Abkürzung von<br />
„Zoppoter Str. 4”. Er zog später um in die Barstraße am Fehrbelliner Platz und wurde erst vor<br />
einigen Jahren aufgelöst und mit anderen Einrichtungen zusammengelegt.<br />
Auch dam<strong>als</strong> herrschte viel Verwirrung um den richtigen Weg, ähnlich wie heute, und viele<br />
hatten politische Extrempositionen. Es gab aber auch eine Menge Leute, die die Idee des<br />
Humanismus in ihrem Alltag ganz praktisch neu belebten, indem sie umsetzten, wovon sie<br />
innerlich überzeugt waren, und versuchten, ihren Kindern davon etwas mitzugeben.<br />
Für mein Leben bedeutet es ein großes Glück, in dieser Zeit von all diesen Menschen geprägt<br />
worden zu sein.<br />
5
Über <strong>Futur</strong> <strong>III</strong> und den Autor<br />
Der Autor und sein Standpunkt<br />
Geboren 1967 in Köln. Aufgewachsen in Berlin (siehe Widmung), dort Grundschule und humanistisches<br />
Gymnasium, anschließend Studium zum Diplom-Physiker an der TU Berlin. Danach<br />
eine Weile auf Sinnsuche, die mit dem Entschluss zu einem Aufbaustudium endete,<br />
nämlich Wirtschaftsingenieurwesen an der Beuth-Hochschule für Technik (dam<strong>als</strong> noch TFH<br />
Berlin). Während dieses Aufbaustudiums fasziniert von der Wirtschaftsinformatik. Seit dem<br />
Diplom 1998 auf diesem Feld tätig, erst angestellt, dann <strong>als</strong> „angestellter Gesellschafter”.<br />
Zunächst eher breitbandig im Bereich Warenwirtschaft tätig, seit 2005 praktisch ausschließlich<br />
fokussiert auf Software für den Bereich der Zeitarbeit – einem gesellschaftlichen Brennpunkt<br />
und „Labor” für die Diskussion um den Wert der Arbeit und die Bedeutung der Produktivität<br />
bzw. ihrer Steigerung.<br />
<strong>Die</strong> Idee zu diesem Text entstand, <strong>als</strong> ich eine zunehmende Distanz zu meiner eigenen Erwerbsarbeit<br />
aufbaute. Ich habe keine Lust mehr, <strong>als</strong> Softwareentwickler an der vordersten<br />
Front der Beschleunigung mitzuarbeiten. Oder um mit Harald Welzer zu sprechen: Ich habe<br />
keine Lust mehr, niem<strong>als</strong> fertig zu sein.<br />
Meine Vision ist die einer radikal einfacheren Welt, die wieder menschliche Dimensionen erhält.<br />
Vielleicht bin ich einfach in der f<strong>als</strong>chen Zeit geboren – gefühlt hätte ich lieber vor 100<br />
oder 150 Jahren gelebt. <strong>Die</strong> „gute, alte Zeit” (die so gut oft nicht war) war materiell erheblich<br />
verträglicher, aber gesellschaftlich und vom Wissen her ziemlich rückständig. In der heutigen<br />
Moderne (die so gut auch nicht ist) sind wir im Wissen viel, gesellschaftlich nur in manchem<br />
weiter, dabei aber materiell zutiefst rückständig, indem wir die Erde vergewaltigen. Wir<br />
sollten versuchen, das Beste aus beiden Welten zusammenzubringen – und die gute, alte<br />
Zeit dient <strong>als</strong> Beweis dafür, dass es zumindest technisch funktionieren kann. Denn es hat<br />
schon mal funktioniert. Wir müssen ja nicht alle Fehler von dam<strong>als</strong> wiederholen.<br />
Ich selbst mache bei einem Gutteil der modernen Wunderdinge einfach nicht mehr mit:<br />
• Kein Handy und schon gar kein Smartphone<br />
• Kein Auto<br />
• Keine Flugreisen<br />
• Kein Fernsehen<br />
• Keine Vollzeitstelle<br />
• Kein Fast Food<br />
Ich konnte bisher keine Verringerung der Zufriedenheit feststellen, im Gegenteil. Auf den<br />
Computer verzichte ich nicht, weil ich mich nicht ganz aus dieser Gesellschaft katapultieren<br />
möchte.<br />
<strong>Futur</strong> <strong>III</strong><br />
Warum „<strong>Futur</strong> <strong>III</strong>”? Eigentlich war es zunächst „<strong>Futur</strong> II”, unter diesem Namen ging es am<br />
31.10.2011 online. Das ist einerseits ein Wortspiel: Es geht um eine grundlegende Alternative<br />
zu vorherrschenden Zukunftsmodellen. Andererseits ist <strong>Futur</strong> II eine grammatische Form,<br />
die die Vergangenheit aus der Perspektive der Zukunft beschreibt: „Ich werde dies und jenes<br />
gemacht haben”. Im Sinne eines (kritischen) Rückblicks aus der Zukunft passte das ganz<br />
gut. Seit März 2011 war das für mich der Arbeitstitel meines „Sudelbuches”, eines Notizheftes<br />
für Gedanken und Beobachtungen.<br />
Erst später bekam ich mit, dass Harald Welzer den Begriff des <strong>Futur</strong> II in genau diesem Sinne<br />
bereits in wachstumskritischen Debatten verwendet hatte. Ich habe das Buch zunächst<br />
6
trotzdem so benannt. Als dann aber klar wurde, dass Harald Welzer diesen Begriff „weiter<br />
ausbauen” möchte zur Stiftung „<strong>Futur</strong> 2”, habe ich mich entschieden, die Namen zu entzerren,<br />
mein Buch <strong>Futur</strong> <strong>III</strong> zu nennen und die Domain zu wechseln. <strong>Futur</strong> <strong>III</strong> ist eine grammatische<br />
Form, die es nicht gibt, sie ist sozusagen undenkbar – und das passt ganz gut zu den<br />
hier gemachten Vorschlägen. Auch davon erscheint vieles in der aktuellen Debatte undenkbar.<br />
Warum ein Internet-Buch? <strong>Die</strong>se Entscheidung fiel mir schwer, denn ich halte das Internet<br />
mittlerweile nicht mehr für das Füllhorn des 21. Jahrhunderts, sondern für einen weiteren<br />
Schritt in Richtung Abgrund. Im Detail nehme ich dazu im Abschnitt Computer, Internet und<br />
mobile Kommunikation Stellung. Ich sehe aber auch, wie langsam sich die Diskussion über<br />
Wachstum verbreitet, und möchte hier bewusst beschleunigen.<br />
Außerdem habe ich bereits gute Erfahrungen mit einem Internet-Buch gemacht. Der eine<br />
oder andere wird vielleicht mein Nautisches Lexikon kennen. Optische und strukturelle Ähnlichkeiten<br />
sind überhaupt gar nicht zufällig. Ein Internet-Buch hat den Vorteil, dass man<br />
leicht neue „Auflagen” erstellen kann. Man kann es ändern, kürzen, erweitern und damit<br />
dem Fortgang der Diskussion anpassen. Es ist ja nicht so, dass das Internet keine Vorteile<br />
hätte. Aber der Preis ist zu hoch.<br />
7
Kapitel 1: Einleitung<br />
1.1 Intro<br />
1.1.1 Immer schneller<br />
<strong>Die</strong> Welt der Wirtschaft dreht sich immer schneller:<br />
• Arbeitsplätze sind immer unsicherer geworden,<br />
• an ein Millionenheer von Arbeitslosen – mal mehr, mal weniger – haben wir uns<br />
schon lange gewöhnt,<br />
• die Finanzkrise kostet Hunderte von Milliarden Euro,<br />
• Griechenland ist finanziell nicht zu retten,<br />
• die Hypo Real Estate verrechnet sich mal eben um 55.000.000.000 EUR,<br />
• Investoren versuchen, sich Land, Wasser und Rohstoffe zu sichern,<br />
• Zeitarbeit boomt, prekäre Arbeitsverhältnisse und Mini-Existenzen nehmen zu,<br />
• der Wirtschaftsteil der Zeitung liest sich wie Kriegberichterstattung,<br />
• im Pazifik schwimmt ein Müllstrudel von der Größe Westeuropas,<br />
• Schulden erdrücken die Staaten,<br />
• CO2 soll unter der Erdoberfläche gebunkert werden,<br />
• mit dem Atommüll weiß man immer noch nicht so recht, wohin,<br />
• Pendler fahren immer weiter zu ihrem Arbeitsplatz,<br />
• Konzerne ziehen mit ihren Fabriken heimatlos von Land zu Land,<br />
• mit dem Drohwort „Arbeitsplätze” kann man alle und jeden erpressen,<br />
• China stellt uns alles Mögliche billig her und ängstigt uns gleichzeitig mit seiner wirtschaftlichen<br />
Macht,<br />
• nachhaltige Mittelständler werden gelobt, sind aber auch irgendwie zu Exoten geworden,<br />
• Bioäpfel kommen aus Argentinien und Pangasiusfilet von der vietnamesischen Fischfarm,<br />
• Öl- und Rohstoffunternehmen durchwühlen die Oberflächen von Erde und Meeresgrund<br />
und Ewigem Eis,<br />
• an der Börse schwirrt vielfach mehr Kapital durch die Gegend <strong>als</strong> es Wirtschaftsleistung<br />
gibt,<br />
• jährlich werden in Deutschland 10 Mio. t Lebensmittel weggeworfen,<br />
• Smartphones können immer mehr,<br />
• der Einzelne kann immer weniger,<br />
• nur eine Weltregierung wird es richten,<br />
• Nationen und Regionen konkurrieren um die großen Arbeitgeber,<br />
• Fast Food und Fertiggerichte lösen das Kochen ab,<br />
• Wegwerfen ist in,<br />
• ohne Handy ist man out,<br />
• ab 45 hat man auf dem Arbeitsmarkt nichts mehr zu melden,<br />
• qualifizierte Arbeitskräfte werden Mangelware,<br />
• Fliegen ist billiger <strong>als</strong> Taxi zu fahren,<br />
• Aggressivität scheint zuzunehmen,<br />
• Mitmenschlichkeit scheint abzunehmen,<br />
8
• die Krankenversicherung wird immer teurer,<br />
• die Miete auch,<br />
• die Rente immer weniger,<br />
• die Ungleichheit immer krasser,<br />
• die Welt immer voller,<br />
• ...<br />
<strong>Die</strong> Liste könnte noch endlos weitergehen. Wo soll das alles enden? Wenn Ihnen eine Nachricht<br />
begegnet, wo Sie denken: „Was für ein Irrsinn!”, dann haben Sie vermutlich recht. Ihr<br />
spontanes Gefühl wird meistens richtig liegen: Es ist Irrsinn. Viele Menschen beschäftigen<br />
diese Themen, aber überall herrscht Ratlosigkeit – was soll und kann man tun? Nachdenklichkeit<br />
und Änderungsbereitschaft sind vielerorts zu spüren, aber ebenso weit verbreitet sind<br />
Resignation und ein Gefühl der Machtlosigkeit. Auch Ignoranz.<br />
Wir haben ein Zuviel an wirtschaftlichem Handeln, nicht ein Zuwenig. Wir haben zu viel Produktion,<br />
zu viel Handel, zu viel <strong>Die</strong>nstleistung, zu viel Konsum, zu viel Mobilität. Der Mensch<br />
hat hier alles, was er braucht – deshalb findet der Rüstungswettlauf der modernen Wirtschaft<br />
im wesentlichen in unsinnigen Bereichen statt, die sich im Grunde nur selbst am<br />
Wachsen halten. Aber wie kann man das stoppen? Wieviel Verzicht müssen wir üben? Und<br />
was ist mit den Arbeitsplätzen??? Auf die eine oder andere Weise haben die meisten von uns<br />
ihre Existenz mit dem Wirtschaftswachstum verknüpft. Ein individueller Ausstieg erscheint<br />
trotz Unbehagen unmöglich. Stillstand ist Rückschritt. Viele wissen, dass es so nicht weiter<br />
geht, aber keiner hat Lust, der Erste zu sein, deshalb wird weitergemacht – jeder sein eigener<br />
Lobbyist. Wie Ödipus im antiken Drama sind wir dabei, unsere eigene Tragödie durch<br />
unser eigenes Handeln zu vollenden.<br />
Schaffen wir es, den Gordischen Knoten zu zerschlagen, der uns an diese Wirtschaftsform<br />
fesselt? Wir stecken immer mehr Geld und Energie in die Steuerung eines Systems, bei dem<br />
wir andererseits aufgrund des Wachstumsdogmas bewusst zulassen, dass es unsteuerbar<br />
wird. Das ist widersprüchlich. „Wachstum unter Kontrolle” ist der Hauptwiderspruch, alles<br />
andere sind keine Nebenwidersprüche, sondern Folgewidersprüche.<br />
1.1.2 Dreifach-Krise<br />
Derzeit sind drei Krisen zu unterscheiden, die inhaltlich zwar zusammenhängen, aber einander<br />
nicht ursächlich bedingen. Sie haben jedoch eine gemeinsame Wurzel: Der Wunsch nach<br />
Produktivitätssteigerung und nach mehr Profit.<br />
• eine Ressourcenkrise, die zur Umweltkrise führt<br />
Sie resultiert aus der Begrenztheit der materiellen Ressourcen dieser Erde und ihrer<br />
beginnenden spürbaren Verknappung, sowie aus den Belastungen der Natur mit den<br />
Rückständen des menschlichen Wirtschaftens. Als Lösung wird „Nachhaltiges Wachstum”,<br />
wahlweise auch „Ökologisches Wachstum” oder „Intelligentes Wachstum” genannt.<br />
Ressourcenschonung mit Hilfe von intelligenter Technologie, aber weiterhin<br />
unter der Überschrift: „Wohlstand für alle!” Man möchte die schlechten Seiten des<br />
Kapitalismus vermeiden und die guten Seiten der Marktwirtschaft bewahren. Ökologie<br />
und Ökonomie widersprechen sich nicht? Das ist richtig, aber Ökologie und materieller<br />
Wohlstand für alle widersprechen sich.<br />
• eine Beschäftigungskrise, die zur sozialen und politischen Krise führt<br />
Sie resultiert aus der permanenten Steigerung der Produktivität, deren Gewinne zunehmend<br />
ungleich verteilt werden und die zur Freisetzung von Arbeitskräften führt.<br />
Beides führt zu einer Konzentration von Macht auf der Unternehmerseite und einer<br />
zunehmenden Erpressbarkeit der Gesellschaft, die in all ihren Strukturen und Institutionen<br />
auf eine gleichmäßig verteilte Erwerbsarbeit angewiesen ist. Mittlerweile ist die<br />
Produktivität insbesondere durch die Computerisierung so hoch geworden, dass nur<br />
9
noch ein Teil der Menschen im erwerbsfähigen Alter überhaupt benötigt wird oder<br />
den Anforderungen gewachsen ist, und hier konzentriert sich die Auswahl der Arbeitgeber<br />
zunehmend auf die Leistungsfähigsten dieser Gruppe, die gut Ausgebildeten<br />
zwischen 20 und 45. Der Rest verrichtet Hilfsjobs oder fällt ganz aus dem System des<br />
Erwerbslebens. Gleichzeitig wird ein Mangel an Arbeitnehmern prognostiziert, die die<br />
heute benötigten hohen Qualifikationen besitzen. Und bereit sind, sich dem Stress<br />
auszusetzen. Aber wer hat da schon die Wahl?<br />
• eine Finanzkrise, die ebenfalls zur sozialen und politischen Krise führt<br />
Massive Förderung von Eigenheimen, eine kreditfreudige Geldpolitik und das Verpacken<br />
von Immobilienkrediten in undurchsichtigen „Bündelungen” waren die Basis der<br />
Bankenkrise von 2008, die im Kollaps der Lehman Brothers Bank gipfelte. Doch auch<br />
in Europa wurden reichlich Kredite vergeben, an Staaten, von denen man stets dachte,<br />
dass sie nie insolvent werden könnten, schon gar nicht in einem System des Euro.<br />
Ziel war stets ein Wachstum.<br />
„<strong>Die</strong> Wurzeln der Wirtschaftskrise liegen erheblich tiefer <strong>als</strong> im leichtsinnigen Verhalten<br />
eines Landes im Bankensektor oder in der Abhängigkeit eines anderen Landes<br />
vom Export. Ein Teil der Ursache ist der gemeinsame Versuch aller Beteiligten, mehr<br />
Kredite zu gewähren, um so die Wirtschaft weltweit expandieren zu lassen. [...] Es<br />
waren eben jene Maßnahmen, mit denen das Wachstum der Wirtschaft stimuliert<br />
werden sollte, das am Ende zu ihrem Niedergang führte. Der Markt wurde durch das<br />
Wachstum selbst zerstört.” (Jackson 2011 S. 50f., Hervorhebung von mir)<br />
1.1.3 Sätze der Resignation<br />
Seufzend werden folgende und ähnliche „Wahrheiten” <strong>als</strong> gottgegeben hingenommen:<br />
• <strong>Die</strong> Welt wird immer schneller und komplexer.<br />
• <strong>Die</strong> Mobilität von Arbeitnehmern, Waren und Kapital wird weiter zunehmen.<br />
• Lebenslanges Lernen ist unumgänglich.<br />
• Lebensläufe mit Brüchen werden häufiger werden.<br />
• Nur Wachstum liefert Wohlstand für alle.<br />
• Der Mensch will nun mal alles immer bequemer haben.<br />
• Der Mensch ist schlecht.<br />
• Geld regiert die Welt.<br />
• <strong>Die</strong> Weltbevölkerung wird weiter wachsen.<br />
• Immer mehr Menschen werden in Städten leben.<br />
• Ich kann mir die Anforderungen meiner Kunden nicht aussuchen.<br />
• ...<br />
Aus heutiger Sicht erscheinen einem diese Konsequenzen in der Tat <strong>als</strong> unausweichlich. Hier<br />
noch eine Auswahl von Sätzen, die ebenfalls mal <strong>als</strong> ewige gesellschaftliche Wahrheiten galten:<br />
• Es gibt eine natürliche Aufteilung in Adlige und „normale” Menschen<br />
• Der König ist ein Herrscher von Gottes Gnaden.<br />
• <strong>Die</strong> Frau ist dem Manne untertan.<br />
• Rassentrennung ist gottgewollt.<br />
Solche Sätze werden von jenen formuliert, die entweder resigniert haben oder davon profitieren.<br />
Dabei wird vergessen oder aber übergangen, dass es die Menschen sind, welche ihr<br />
Zusammenleben gestalten, und dass wir lediglich in einer Phase leben, in der diese Gestaltung<br />
in den Hintergrund getreten ist, weil andere Dinge sich in den Vordergrund gedrängelt<br />
haben. Das kann man auch ändern. Nicht einfach und nicht von Heute auf Morgen.<br />
10
Aber genau darum geht es hier: Um die Rückgewinnung der Gestaltungshoheit in einem demokratischen<br />
Prozess. Warum soll man sich an das alles gewöhnen müssen?<br />
1.2 Ausgangspunkt<br />
Ausgangspunkt dieses ganzen Buches waren folgende eigene Zweifel:<br />
• In fast allen Diskussionen, Interviews und Artikeln zum Thema Wachstum und<br />
Wachstumskritik, die ich erlebt oder gelesen habe, ging es entweder sehr allgemein<br />
moralisch zu („Das Leben müsste wieder langsamer werden”, „Wenn der Einzelne<br />
sich nur ein bisschen zusammenreißen würde”, „Man muss die Gier begrenzen” ...)<br />
oder sehr konkret technisch (Elektroautos, neue Mobilitätskonzepte, CO2-<br />
Reduzierung, ...). Insbesondere das Moralische fand ich zunehmend interessant. Ich<br />
dachte mir, es kann doch nicht sein, dass man die Vernunft des Menschen dermaßen<br />
streng und vor allem detailliert steuern muss. Das ist ja gar keine Vernunft (denn die<br />
käme aus uns selbst), das ist Bevormundung.<br />
• Eine zunehmende Abneigung gegen den modernen Hype inklusive meiner eigenen<br />
Arbeit machte sich in mir breit und das sichere Gefühl, dass weder „normales” noch<br />
nachhaltiges Wachstum uns auch nur einen Deut weiterbringen werden. <strong>Die</strong> mit dem<br />
ganzen Wachstum verbundene Eitelkeit der Gewinner ist mir sehr unangenehm.<br />
• Zu kurz gedacht sind mir auch diese ganzen Sätze der Resignation mit dem Tenor<br />
„Das kann man nicht ändern, das ist nun mal so”, wie sie insbesondere geäußert<br />
werden, wenn es um die Themen Geld, Macht und Produktivität (!) geht. Mein Leitbild<br />
ist das des Humanismus, nach dem der Mensch das Potential hat, seine schöpferischen<br />
Kräfte voll entfalten zu können, und dieses Schöpferische beschränkt sich<br />
nun wahrlich nicht auf die Wirtschaft. Der Mensch hat die Fähigkeit zur Vernunft und<br />
zur Liebe. Er hat ein Interesse an seinen Mitmenschen, besitzt Mitgefühl und Altruismus.<br />
Das erlebt man ja täglich. Der Mensch „ist” nicht, er wird in erster Linie gemacht.<br />
Wodurch?<br />
Ich arbeite <strong>als</strong> Softwareentwickler für betriebswirtschaftliche Software, <strong>als</strong>o Programme, die<br />
Unternehmen verwenden, um sich selbst zu verwalten: Finanzbuchhaltung, Lagerverwaltung,<br />
Einkauf und Verkauf, Produktion usw. Das ist eine interessante und schwierige Tätigkeit, weil<br />
man versuchen muss, in der betrieblichen Wirklichkeit das Wesentliche und die Ausnahmen<br />
zu erkennen. Das Wesentliche will man vereinfachen, die Ausnahmen beschränken. So sieht<br />
Produktivitätssteigerung aus. Daraus wird ein logisches Modell entwickelt und dieses dann<br />
programmiert. Was betriebswirtschaftliche Software für mich interessanter macht <strong>als</strong> technische<br />
Software, ist die Tatsache, dass betriebliche Wirklichkeit oft viel bizarrer ist <strong>als</strong> technische<br />
Wirklichkeit. Menschlicher eben.<br />
Meine Erfahrung war: Wann immer es bei der Programmierung kompliziert und komplizierter<br />
wurde, stimmte etwas mit dem logischen Modell nicht. Man hätte dann natürlich noch weiter<br />
programmieren und versuchen können, die Wirklichkeit ins Modell zu pressen, aber es wurde<br />
zunehmend unproduktiv und nervenzehrend. Besser war es dann, sich noch mal in Ruhe<br />
dem Modell zuzuwenden und zu schauen, ob man nicht eine bessere Abbildung der Wirklichkeit<br />
findet. Häufig ist mir das gelungen, und siehe da: <strong>Die</strong> Programmierung wurde einfacher,<br />
klarer, kürzer und allein schon durch ihre Struktur auch fehlerärmer. Ich konnte einfach nicht<br />
mehr so viel f<strong>als</strong>ch machen, weil der Weg viel klarer vor mir lag. Meistens sparte ich sogar<br />
am Ende viel Zeit dadurch, mir zwischendurch die Ruhe genommen zu haben.<br />
Schauen Sie sich bitte mal unsere ganzen Gesetze an. Ich habe den Eindruck, dass sie kompliziert<br />
sind und immer komplizierter werden, und dass ein großer Teil von ihnen nur dazu da<br />
ist, die „unvernünftige” Energie von Menschen zu bremsen und sie in „vernünftige” Bahnen<br />
zu lenken. Das ist doch viel zu kompliziert. Es kann nicht sein, dass es so kompliziert sein<br />
muss. Menschliche Energie ist etwas Tolles. Es kann nicht in erster Linie darum gehen, Ener-<br />
11
gie zu bremsen. <strong>Die</strong> Marktwirtschaft kennt ein sehr einfaches Prinzip, um die Energie des<br />
Einzelnen zu wecken, nämlich den Eigennutz. Wo ist das einfache Prinzip des Menschen, um<br />
die Energie des Einzelnen zu wecken, Vernunft zu entwickeln? Eigentlich mag in einer freiheitlichen<br />
Gesellschaft niemand Restriktionen <strong>als</strong> Maßnahmen gegen den Neoliberalismus gut<br />
finden. Jedes Verbot ist immer auch das Eingeständnis eines gesellschaftlichen Scheiterns.<br />
Aber es fallen einem derzeit keine bessere Lösungen <strong>als</strong> Verbote und Einschränkungen ein,<br />
weil man auf der anderen Seite die (tatsächlichen oder vermeintlichen) Wohltaten dieser<br />
Entwicklung nicht gefährden will.<br />
Wir brauchen wenige Prinzipien statt vieler Gesetze. Das ist die Forderung nach der Freiheit<br />
des Einzelnen. Wir pressen die wirtschaftliche Wirklichkeit in ein Modell der Vernunft, wo sie<br />
derzeit nicht hineinpasst. Wenn wir weiterhin versuchen, Vernunft von oben gleichsam zu<br />
verordnen, obwohl eine andere Botschaft die Energie in eine andere Richtung treibt, werden<br />
wir scheitern. Es weckt Widerstand, und eine destruktive Energie des Lückensuchens und<br />
Überwindens treibt ihre Blüten, um der Botschaft der Marktwirtschaft zu folgen.<br />
<strong>Die</strong> Suche umfasst <strong>als</strong>o folgende Punkte:<br />
• Nach den offensichtlich vorhandenen starken Antrieben für unser „unvernünftiges”<br />
Handeln <strong>als</strong> Individuen, aber auch <strong>als</strong> Wirtschaftsteilnehmer. Welche Elemente benötigt<br />
eine „Theorie des Wachstums”? Vieles fehlt mir in der aktuellen Diskussion, und<br />
außerdem frage ich mich, wo diese Antriebe herkommen. Vererbte Gene scheinen mir<br />
ein reichlich schwaches Argument zu sein.<br />
• Nach Argumenten, warum ich es für völlig aussichtslos halte, das Wachstum – genauer:<br />
die Produktivitätssteigerung – auch nur einen Moment länger voranzutreiben.<br />
• Nach den widersprüchlichen Botschaften, die offensichtlich im aktuellen Gesellschaftsmodell<br />
versteckt sind. Wenn Vernunft so offensichtlich ignoriert wird, muss ein<br />
psychologisches Moment dahinterstecken.<br />
• Nach einfachen Prinzipien, welche <strong>als</strong> Grundlage eines neuen Gesellschaftsmodells<br />
dienen können, so dass das Vernünftige zum Natürlichen wird. Wie sieht eine freiheitliche<br />
Gesellschaft aus, die die Individualität des Menschen respektiert, aber ihre Existenzgrundlagen<br />
nicht zerstört?<br />
Für diese Suche ist eines ganz wichtig: Man muss den Dingen vorurteilsfrei und vor allem<br />
angstfrei auf den Grund gehen. Wer aus Angst vor „zu großer” Veränderung das Undenkbare<br />
nicht denkt, kommt nicht weiter. Vernunft ist die Fähigkeit, eine Situation unabhängig von<br />
den eigenen Befindlichkeiten (Interessen, Sehnsüchte, Ängste) zu betrachten. Wer sich<br />
selbst betrügt, betrügt den einzigen Menschen auf der Welt, dem er voll und ganz vertrauen<br />
könnte.<br />
Selbst Wachstumskritiker wie Hans Christoph Binswanger schreiben eher beiläufig Sätze wie<br />
„Selbstverständlich können wir nicht mehr zur ‚alten Zeit‘ zurückkehren.” oder „Das Ziel muss<br />
sein, den Reichtum zu halten, indem man auf seine exzessive Steigerung verzichtet. Um dieses<br />
Ziel zu erreichen, muss die globale Wachstumsrate so weit gesenkt werden, dass ...”<br />
Reichtum. Gesenkt. Also immer noch ganz schön groß.<br />
12
1.3 Überblick über das Buch<br />
Das Buch folgt diesem „inhaltlichen Spannungsbogen”:<br />
• Wie sind wir hier gelandet? („Theorie des Wachstums”)<br />
Welches sind die technischen und menschlichen Voraussetzungen für die bisherige<br />
Entwicklung gewesen? Welche Begriffe sind dabei wichtig? Begriffe prägen das Denken,<br />
deshalb sind sie sorgfältig zu beschreiben und auch zu hinterfragen. Ein Schlüssel<br />
ist das Wesen von Geld <strong>als</strong> Hoffnung und Verpflichtung, aber auch „typisch<br />
menschliche Eigenschaften” wie Eitelkeit, Angst und Sportsgeist spielen eine große<br />
Rolle.<br />
• Warum wird uns weitere Produktivitätssteigerung mehr schaden <strong>als</strong> nutzen?<br />
Der „Kern des Problems” ist meines Erachtens nicht das Wirtschaftswachstum selbst,<br />
sondern Wirtschaftswachstum ist die Folge der immer weiteren Produktivitätssteigerung.<br />
Ich versuche den Nachweis zu führen, dass eine weitere Steigerung der Arbeitsproduktivität<br />
per Saldo negative Effekte hat, und beschreibe einige „institutionelle<br />
Wachstumstreiber”. Eine eigene Betrachtung verdient der Bereich rund um die Informationstechnologie,<br />
mit dem Internet <strong>als</strong> dem vermeintlichen Füllhorn des 21.<br />
Jahrhunderts.<br />
• Warum können „Nachhaltiges Wachstum” und diverse andere Vorschläge<br />
nicht die Lösung sein, sondern bestenfalls Zwischenschritte?<br />
<strong>Die</strong> aktuelle Debatte ist geprägt von Vorschlägen, die ich <strong>als</strong> „Scheinlösungen” bezeichne.<br />
Sie sind nicht alle schlecht, aber sie sind keine echten Lösungen. Einen Teil<br />
davon kann man meines Erachtens relativ schnell abhandeln, die sogenannten „Inseln<br />
der Vernunft” oder die großtechnischen Lösungen. Etwas länger halte ich mich<br />
beim Green New Deal auf. Hier versuche ich den Nachweis zu führen, dass es ebenfalls<br />
nicht weiterführt, wenn wir versuchen, uns auf die sogenannte Ressourcenproduktivität<br />
zu konzentrieren, <strong>als</strong>o „statt Menschen Kilowattstunden arbeitslos zu machen”.<br />
Das „Cradle to cradle”-Konzept von Michael Braungart hingegen enthält zumindest<br />
das unverzichtbare „Umdenken”.<br />
• So geht es <strong>als</strong>o nicht<br />
Zusammenfassung des erreichten „Zwischenstandes” und Erläuterung der derzeitigen<br />
Debatte. In zwei Exkursen ein paar Gedanken zum „Parteien-Dilemma” und die Darstellung<br />
einiger widersprüchlicher Botschaften unseres derzeitigen Gesellschaftsmodells.<br />
Dann werden aufgrund der bisher gesammelten Feststellungen die Ziele eines<br />
Umbaus formuliert: Was könnte man erreichen wollen? Wie könnte die Vision aussehen?<br />
• Eine humanistische Kritik der Begriffe Demokratie und Marktwirtschaft<br />
In der politischen Diskussion werden Demokratie und Marktwirtschaft immer <strong>als</strong> getrennte<br />
Sphären betrachtet, die zwar gut zusammenpassen, sich aber nicht gegenseitig<br />
ins Handwerk pfuschen sollen. Demokratie und Marktwirtschaft sind jedoch das<br />
Gleiche. Sie sind die zwei Seiten der Medaille „Leben in Gemeinschaft”, des Spannungsfeldes,<br />
in dem sich der Mensch <strong>als</strong> Individuum und <strong>als</strong> Teil der Gemeinschaft<br />
befindet. <strong>Die</strong> eine Seite betrifft die Öffentlichen Güter, die andere das Privateigentum.<br />
Es geht um die Aufhebung des unproduktiven Nebeneinander zwischen Demokratie<br />
und Marktwirtschaft mit Hilfe einer Symmetrieüberlegung.<br />
Als Ergebnis erhalten wir Prinzipien und Maßnahmen, die wir konkret politisch umsetzen<br />
können und die der Wirtschaft zu einem Wandel verhelfen könnten, in einem<br />
System einer „Humanistischen Marktwirtschaft”.<br />
• Was macht uns zufrieden? Wovor haben wir Angst?<br />
Ein Ergebnis dieser Umsetzung wird ein materieller Rückbau sein, was zunächst<br />
schwer vorstellbar ist. Es lohnt sich daher, tiefer in „das Wesen des Menschen” einzu-<br />
13
tauchen: Worin besteht der Sinn von Arbeit? Was macht uns zufrieden? Wo liegt das<br />
rechte Maß? Welche Rolle spielen Alter, Krankheit, Sterben und Tod in unserem Leben?<br />
Können wir einen Umgang mit Existenzangst und Eitelkeit finden?<br />
• Was kann man ganz konkret tun?<br />
<strong>Die</strong> Theorie ist das eine, doch musste sich noch jede Theorie an der Praxis messen<br />
lassen. Wir stehen vor einem ökologischen, finanziellen und sozialen Scherbenhaufen,<br />
den wir jetzt nach und nach zusammenkehren müssen. Auf dem Weg zum Humanismus<br />
müssen wir aufpassen, dass unsere Gesellschaft nicht zerrissen wird von den widerstreitenden<br />
Interessen.<br />
Von den hier vorgetragenen Ideen ist kaum eine neu. Fast alles ist in der einen oder anderen<br />
Form schon mal gedacht worden, vor langer Zeit oder erst vor kurzem. <strong>Die</strong> ganze Bibel ist<br />
voll davon ... Wenn ich es wusste, habe ich den Urheber oder die Quelle genannt, aber ich<br />
habe nicht für alles nach einem Urheber gesucht. Achtung: Der Text ist keine Forschungsarbeit,<br />
sondern eine qualitative Überzeugungstat. Betrachten Sie ihn <strong>als</strong><br />
Indiziensammlung, und ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse.<br />
„Il semble que la perfection soit atteinte non quand il n'y a plus rien à ajouter, mais quand il<br />
n'y a plus rien à retrancher.”<br />
Es scheint, Vollkommenheit ist erreicht – nicht, wenn sich nichts mehr hinzufügen, sondern<br />
wenn sich nichts mehr weglassen lässt.<br />
Antoine de Saint-Exupéry „Terre des Hommes” (1939)<br />
14
Kapitel 2: Ursachen<br />
2.1 Technische Revolutionen<br />
Grob kann man die Technischen Revolutionen unterscheiden in Revolutionen der Energie,<br />
des Materi<strong>als</strong> und der Technologie, wobei jeweils die eine Revolution nur im Vordergrund<br />
stand, die anderen Revolutionen waren im Hintergrund stets mit dabei.<br />
„Erst die Nutzung fossiler Energien – Kohle, Erdöl, Erdgas – erlaubte jene ungeheueren Produktivitätssteigerungen,<br />
die ein rasantes Wirtschaftswachstum ermöglichten. [...] die Durchschlagskraft<br />
dieser Verwandlung speist sich auch aus den interdependenten Entwicklungsprozessen<br />
im Handel, im Wissen, in der Technologie und nicht zuletzt in der Nationenbildung.”<br />
(Welzer 2011)<br />
2.1.1 Revolution der Energie<br />
Kraft und Geschwindigkeit des Menschen sind begrenzt. Schon immer hat er nach Überwindungen<br />
dieser Grenzen gesucht. <strong>Die</strong> Pyramiden wurden gebaut, indem Tausende von Menschen<br />
gezwungen wurden, ihre Kraft zu bündeln. Tiere wurden und werden eingesetzt, um<br />
Dinge zu transportieren und Feldarbeit zu erledigen. Aber erst die in fossilen Rohstoffen gebundenen,<br />
riesigen Mengen an Energie haben tatsächlich die technische Revolution in Gang<br />
gesetzt – die Überwindung der naturgegebenen Grenzen. Kraftvolle Betätigung wurde durch<br />
Maschinen übernommen.<br />
<strong>Die</strong> Nutzung dieser Ressourcen entspricht einer Vervielfachung der Weltbevölkerung. So<br />
könnte man auch sagen: Auf der Welt hantieren derzeit nicht sieben Milliarden Menschen,<br />
sondern Hunderte, wenn nicht tausende von Milliarden – gerechnet in „normalen Menschenkräften”.<br />
Und das dient beileibe nicht nur der Erhöhung der menschlichen Kraft, sondern immer öfter<br />
einfach nur der Beschleunigung. In einem durchschnittlichen Garten wird heutzutage fast<br />
alles mit Motorkraft bewältigt – Kettensägen, Heckenscheren, Rasenmäher, Laubsauger,<br />
Grascutter, … Und übertragen gilt das für praktisch alle Bereiche der Wirtschaft.<br />
Eine „Teil-Revolution” ereignete sich mit der Umwandlung von fossiler in die leicht zu handhabende,<br />
„edle” Elektro-Energie, die zum ausgehenden 19. Jahrhundert begann. Elektromotoren,<br />
elektrische Beleuchtung und nicht zuletzt die Kommunikation per Telegraf und Telefon<br />
waren die Folge.<br />
<strong>Die</strong> Überreste dieser Energie belasten <strong>als</strong> Treibhausgas CO2 zunehmend unsere Atmosphäre.<br />
<strong>Die</strong> resultierende Klimaerwärmung ist eine existentielle Bedrohung der Menschheit und ihres<br />
sozialen Zusammenhaltes.<br />
2.1.2 Revolution des Materi<strong>als</strong><br />
„... der Siegeszug der Kunststoffe begann so richtig erst in den fünfziger Jahren des 20.<br />
Jahrhunderts. 1950 wurde weltweit gerade einmal eine Million Tonnen Kunststoff hergestellt,<br />
1976 waren es über 20 Millionen Tonnen, 1989 schon 100 Millionen Tonnen, und 2002 wurde<br />
die Marke von 200 Millionen Tonnen übersprungen. Dem Volumen nach gerechnet hat<br />
der leichte Kunststoff den Traditionswerkstoff Stahl schon in den 80er Jahren überholt.”<br />
(www.plasticseurope.de, 23.10.2011)<br />
Heute (2011) stehen wir bei über 270 Millionen Tonnen. Hier Auszüge aus zwei sehr lesenswerten<br />
Artikeln der „Berliner Zeitung” vom 18.08.2011:<br />
Kunststoffe sind Alleskönner:<br />
15
„Sie sind leicht, bruchfest und elastisch, sie trotzen hohen und niedrigen Temperaturen, sind<br />
wiederverwendbar und lassen sich am Ende recyceln. Nach Angaben des Verbandes der<br />
Kunststofferzeuger Plastics Europe liegt die Verwertungsquote in Deutschland bei 97 Prozent.<br />
Wird der Verbrauch in Zukunft sinken? Im Gegenteil: Er wird zunehmen, vor allem bei<br />
High-Tech-Produkten. Kunststoffe sind leichter, vielseitiger und stabiler <strong>als</strong> herkömmliche<br />
Werkstoffe wie Stahl oder Aluminium. Leichtere Automobile und Flugzeuge brauchen weniger<br />
Treibstoff. Beim Klimaschutz geht es kaum ohne Kunststoffe: So bestehen Wärmedämmplatten<br />
für Gebäude vor allem aus Polystyrol und Polyurethan. Und Faserkunststoffe<br />
geben den Rotoren von Windrädern die erforderliche Stabilität.” (Berliner Zeitung: „<strong>Die</strong> Alleskönner”<br />
18.08.2011)<br />
Man beachte den subtilen Hinweis auf die „umweltfreundliche Seite” dieser Materialien, der<br />
sicherlich von Plastics Europe kommt. <strong>Die</strong> Kehrseite der Alleskönner sieht unter anderem so<br />
aus:<br />
„Auf offener See finden sich nach aktueller Schätzung bis zu eine Million Plastikpartikel pro<br />
Quadratkilometer. Europas Badewanne enthält damit ebenso viel Schrott wie der Große Pazifische<br />
Müllstrudel, ein gigantischer Teppich von der Größe Westeuropas, der zwischen den<br />
Küsten Kaliforniens und Japans im Nordpazifik im Uhrzeigersinn rotiert. In den 1990er-<br />
Jahren entdeckt, wurde dieser Great Pacific Garbage Patch zum Symbol menschlicher Umweltsünden.”<br />
(Berliner Zeitung: „Endstation Ozean” 18.08.2011)<br />
<strong>Die</strong> relativ schlechte Haltbarkeit natürlicher Materialien ist demzufolge auch ein Segen. <strong>Die</strong>se<br />
Materialien scheren einfach nicht aus der automatischen Recyclingkette aus. Bei Kunststoffen<br />
hingegen sind hohe Recycling- oder Verwertungsquoten angesichts der absoluten Mengen<br />
eine Beschönigung: Was bedeutet zum einen Verwertung? Häufig am Ende nur Verbrennung.<br />
Und 97 % Verwertung bedeuten 3 % nicht verwertet, das sind viele Millionen Tonnen.<br />
Und mit diesen 97 % können nur hochorganisierte Staaten wie Deutschland aufwarten, in<br />
anderen Ländern liegt die Quote unter 50 %, und man kann sich ausmalen, wo das Zeug<br />
überall hinwandert – praktisch unverrottbar, ein Fluch an Stabilität.<br />
2.1.3 Digitale Revolution<br />
Was kann der Computer, was der Mensch nicht kann? Grundsätzlich nichts. Er kann es nur<br />
schneller und zuverlässiger <strong>als</strong> der Mensch. Er ist unfassbar viel schneller, er macht keine<br />
Fehler, er braucht keine Pause und keinen Schlaf, kaum Wartung, er streikt nicht und stellt<br />
keine Lohnforderungen. Kommt Ihnen das bekannt vor? Genau, das ist das Vokabular der<br />
Produktivitätssteigerung. Ein Computer ist letztlich eine ganz normale Maschine und wird aus<br />
den gleichen Gründen eingesetzt. Das Mystische, was den Computer umgibt, resultiert aus<br />
der Tatsache, dass man weder sehen kann, was er macht, noch können die meisten es gedanklich<br />
richtig fassen, weil der Computer „anders denkt” <strong>als</strong> der Mensch, genauer: Während<br />
ein Mensch assoziativ (in Zusammenhängen) denken kann, rattert ein Computer eine rein<br />
logische Prozesskette herunter. Er kann jedoch auf diese Weise eine Menge von Aufgaben<br />
übernehmen, für die der Mensch sein Gehirn benötigt. Vielleicht kann er irgendwann sogar<br />
„richtig” denken, die Forscher der Künstlichen Intelligenz setzen jedenfalls ihren ganzen Ehrgeiz<br />
daran ...<br />
Computer, Internet und mobile Kommunikation basieren alle auf dem gleichen Grundmechanismus:<br />
Alltägliche Prozesse werden in einer mittlerweile fast unendlichen Kette der Aufteilung<br />
in logische Prozesse „heruntergebrochen”, <strong>als</strong>o letztlich in Ja/Nein-Entscheidungen überführt.<br />
Bereits die einfachste Rechenaufgabe 1 + 1 wird erst in das sogenannte binäre<br />
Zahlensystem übersetzt, dann in einer Folge von „binären Operationen” zum Ergebnis geführt,<br />
welches dann für uns verständlich <strong>als</strong> 2 dargestellt wird. Dass das gleiche Grundprinzip<br />
auch dem Abruf von E-Mails zugrundeliegt, ist nicht mehr so leicht ersichtlich, denn die Kette<br />
des „Herunterbrechens” umfasst mittlerweile Millionen und Milliarden von Schritten. Da ein<br />
Schritt aber mittlerweile weniger <strong>als</strong> eine Milliardstel Sekunde dauert, geht das auch gefühlt<br />
16
sehr schnell. Damit Menschen den Programmierprozess überhaupt bewältigen können, besitzen<br />
die IT-Systeme selbst eine umfangreiche innere Arbeitsteilung, ein hochkomplexes<br />
Schichtenmodell. Aber letztlich ist es immer Ja/Nein. Quintillionen von einfachsten Entscheidungen.<br />
Elektronenröhren (die Dinger, die in alten Dampfradios so hübsch glühen) waren die ersten<br />
einigermaßen effektiven „elektrischen Ja/Nein-Entscheider”, aber für den Einsatz in komplexeren<br />
Strukturen immer noch zu groß, zu langsam, zu energieaufwendig. Erst die Erfindung<br />
des Transistors ermöglichte es, die Schnelligkeit und Leichtigkeit von Elektronen wirklich effektiv<br />
zu nutzen, und in der Folge führte die ganze Mikroelektronik erneut zu einem sagenhaften<br />
Innovationsschub. Zunächst einfache Steuerungen, später immer neue Generationen<br />
von Großrechnern, dann der breite Durchbruch mit dem Personalcomputer. Das Denken und<br />
die Kommunikation wurde durch Maschinen übernommen. Heute steht die Mobilität der<br />
Computer bzw. ihrer Leistungen im Fokus. <strong>Die</strong> Welt wird ein großes Funknetz.<br />
Erneut kam es zu einer „Vervielfachung der Weltbevölkerung”. Millionen von Klein- und<br />
Kleinst-„Gehirnen” speichern und transportieren Informationen, rechnen, regeln, steuern ...<br />
Ebenso kam es zu einem erneuten Anstieg des Ressourcenverbrauchs. Allein das Internet<br />
verbraucht heute (2011) etwa ebensoviel Energie wie der weltweite Flugverkehr.<br />
2.2 Bevölkerungswachstum<br />
Angesichts der derzeitigen Betonung der technologischen Ursachen des Weltwirtschaftswachstums<br />
und der aktuellen Arbeitslosigkeit gerät die Rolle des Bevölkerungsanstiegs etwas<br />
aus dem Blick. Aber bereits seit mehreren hundert Jahren ist der Anstieg der Bevölkerung<br />
und damit die Verfügung über Arbeitskräfte eine wesentliche Voraussetzung dafür gewesen,<br />
dass die Wirtschaft überhaupt so rasant wachsen konnte – und eine Voraussetzung für die<br />
damit verbundenen exorbitanten Gewinne der Unternehmer, die buchstäblich von der bitteren<br />
Armut der meisten Werktätigen finanziert wurden.<br />
„Adam Smith, der berühmte Ahnherr der modernen Nationalökonomie, war schon fast 50<br />
Jahre alt, <strong>als</strong> er mit seiner Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums<br />
der Nationen begann. Er war ledig geblieben und hatte mit aller Wahrscheinlichkeit auch<br />
keine unehelichen Kinder. Aber er wusste sehr gut, dass die Industrielle Revolution, die dam<strong>als</strong><br />
in England und Schottland schon begonnen hatte, sich nur entfalten konnte, wenn die<br />
Arbeiter sich vermehrten.” (Knolle 2010 S. 9, Hervorhebung im Original)<br />
„Ähnlich wie Adam Smith, aber mit schmerzhafter Deutlichkeit, hat David Ricardo den Zusammenhang<br />
zwischen Lohn und Reproduktionsverhalten der Arbeiter und Arbeiterinnen<br />
formuliert. [...] <strong>Die</strong>ser Lohntheorie liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Arbeiterfamilien<br />
die Produktionsstätten einer Ware sind, der Ware Arbeitskraft. Wenn aber die Arbeitskraft<br />
eine Ware ist, dann unterliegt sie dem gleichen ökonomischen Gesetz wie alle anderen Waren:<br />
steigt der Marktpreis über den ‚natürlichen Preis‘, dann wird mehr produziert. Wenn <strong>als</strong>o<br />
der Lohn steigt, dann kann ein Arbeiterhaushalt mehr Kinder ernähren, und mit einigen Jahren<br />
Verzögerung nimmt die Menge der Ware Arbeitskraft zu. <strong>Die</strong>ser Mechanismus wäre jedoch<br />
blockiert, wenn die Arbeiterinnen die Zahl der Geburten beschränken würden. Damit<br />
wird verständlich, dass die Bourgeoisie im Frühkapitalismus ein vitales Interesse daran hatte,<br />
die Arbeiterfrauen an der Geburtenkontrolle zu hindern.” (Knolle 2010 S. 27)<br />
Damit haben wir auch schon die beiden wichtigsten Zutaten auf der Unternehmerseite: Den<br />
ausdrücklichen, wirtschaftlich begründeten Wunsch nach einer Zunahme der Bevölkerung,<br />
verbunden mit einer starken Motivation, eine wie auch immer geartete Geburtenkontrolle<br />
auszuhebeln. Auf der Unternehmerseite verbanden sich somit weltliche und kirchliche Macht:<br />
Seit Jahrhunderten sucht die katholische Kirche die Nähe zu Macht und Geld und war bereits<br />
im Mittelalter ein großes Finanzimperium. Mit ihrem Dogma „Seid fruchtbar und mehret<br />
Euch” ist die katholische Kirche ein indirekter Wachstumstreiber.<br />
17
Besonders wirksam wird dieses Gebot in Verbindung mit dem Verweis auf die angebliche<br />
Natürlichkeit und historische Zwangsläufigkeit hoher Geburtenraten:<br />
„<strong>Die</strong> heute herrschende Richtung der Nationalökonomie betrachtet die menschliche Arbeitskraft<br />
<strong>als</strong> gegebene Ressource, deren Erneuerung das Thema einer anderen Wissenschaft ist,<br />
der Demographie. <strong>Die</strong> Demographen ihrerseits erklären das beschleunigte Wachstum der<br />
Weltbevölkerung seit dem 18. Jahrhundert ohne Bezugnahme auf die Ökonomie mit der<br />
‚Theorie des demographischen Übergangs‘. Nach dieser Theorie herrschte von der Frühzeit<br />
der Menschheit bis zum Beginn der Neuzeit überall ein Zustand mit hoher Geburtenrate und<br />
hoher Sterblichkeit. Später hätten Hygiene und medizinischer Fortschritt die Sterblichkeit<br />
gesenkt, während die Geburtenrate hoch blieb. <strong>Die</strong>se beiden Faktoren hätten ein schnelles<br />
Wachstum verursacht, das erst zum Stillstand kam, <strong>als</strong> die modernen Mittel der Empfängnisverhütung<br />
auf den Markt kamen und angewendet wurden. Ein direkter Einfluss ökonomischer<br />
Interessen auf die demographische Entwicklung wird <strong>als</strong>o geleugnet.<br />
Nachfolgend werden ethnologische, epidemiologische und medizinhistorische Forschungen<br />
aus dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts herangezogen, um die Theorie des demographischen<br />
Übergangs zu widerlegen. <strong>Die</strong> Auswertung des vielfältigen Materi<strong>als</strong> wird zu folgenden<br />
Schlüssen führen: In den urzeitlichen menschlichen Gesellschaften waren Geburtenrate<br />
und Sterblichkeit tief. Erst nach dem Übergang zu Ackerbau und Viehzucht stieg die Geburtenrate<br />
an, aber neue Infektionskrankheiten führten zu erhöhter Sterblichkeit. Das nur langsame<br />
Wachstum der Weltbevölkerung bis 1500 war jedoch nicht nur den Infektionskrankheiten<br />
geschuldet, sondern auch dem Festhalten an traditionellen Methoden der Geburtenkontrolle.<br />
Das starke Bevölkerungswachstum, das nach 1750 im christlich geprägten Europa einsetzte,<br />
war die Folge der von Kirche und Staat vorangetriebenen Verdrängung der Geburtenkontrolle.”<br />
(Knolle 2010 S. 9f.)<br />
Es ist eigentlich auch schwer verständlich, warum sich in urzeitlichen Gesellschaften die<br />
Frauen beim Kinderkriegen so viel ungeschickter <strong>als</strong> die Tiere hätten anstellen sollen. Tiere<br />
hatten und haben keine hohen Sterblichkeitsraten. Eine Geburt ist ein natürlicher Vorgang<br />
und keine Krankheit. Infektionskrankheiten wie Pocken oder Pest hielten mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
aufgrund der Tierzucht beim Menschen Einzug. Erst die Sesshaftigkeit ermöglichte<br />
eine wirksame Übertragung.<br />
„Vor 70 Jahren [d. h. 1936, A.S.] erschien ein Werk des Medizinhistorikers Norman Himes,<br />
das die Geschichte der Empfängnisverhütung im interkulturellen Vergleich darstellt. Es bietet<br />
eine Übersicht über die Techniken und die moralische Bewertung der Kontrazeption in allen<br />
Hochkulturen von der Antike bis zur Gegenwart. Anhand von zahlreichen Zitaten aus altägyptischen,<br />
indischen, chinesischen und arabischen Quellen bewies Himes, dass die Empfängnisverhütung<br />
in allen Hochkulturen der Alten Welt verbreitet war und moralisch gebilligt wurde.<br />
Einzige Ausnahme: das christliche Abendland. Hier wurde bis weit ins 20. Jahrhundert hinein<br />
an der Ablehnung der Geburtenkontrolle festgehalten.” (Knolle 2010 S. 15)<br />
<strong>Die</strong> Ursachen für Kinderreichtum sind somit dam<strong>als</strong> wie heute die gleichen, und sie sind keine<br />
Zwangsläufigkeit:<br />
• Patriarchale Strukturen und Männlichkeitswahn<br />
• Fehlende Kenntnis von Verhütungsmethoden<br />
• Ein wirtschaftliches Interesse an Armut und Kinderreichtum<br />
Mit diesen Erkenntnissen sollte man auch humanistisch akzeptable Auswege finden aus der<br />
Zwangsläufigkeit von „<strong>Die</strong> Weltbevölkerung wächst nun mal.” Wer das Leben schützen<br />
möchte, sollte überlegen, ob die Ablehnung der Verhütung und die Kriminalisierung des<br />
Schwangerschaftsabbruches wirklich die richtigen Baustellen sind.<br />
18
2.3 Geld und Markt<br />
2.3.1 Geld, Schulden und Kredit<br />
<strong>Die</strong> folgenden Absätze sollen keine Theorie des Geldes darstellen, sondern in einfachen Worten<br />
die Rolle von Geld <strong>als</strong> „Leistungshoffnung und -verpflichtung” verdeutlichen und den<br />
Weg, wie diese Hoffnung mit der Zeit immer abstrakter wurde.<br />
Geld und Schulden<br />
Geld ist total praktisch: Wurde einst Leistung gegen Leistung getauscht, reicht es<br />
heute aus, wenn einer eine Leistung anbietet und der andere Geld. Geld ist die Verschiebung<br />
der sofortigen Gegenleistung in die Zukunft, und zwar von einem beliebigen<br />
Leistungserbringer. Es muss nicht einmal der ursprüngliche Tauschpartner sein.<br />
Geld macht <strong>als</strong>o alles viel einfacher. Es stellt die Hoffnung dar, dass es irgendwann<br />
jemanden geben wird, der einem dafür eine Gegenleistung erbringt. Schulden (sozusagen<br />
negatives Geld) sind hingegen die Verpflichtung, irgendwann selbst eine Leistung<br />
zu erbringen. Schulden des einen sind die Forderungen des anderen.<br />
In dem Moment, wo Geld ins System eingeführt wird, ändert sich etwas ganz Fundamentales:<br />
<strong>Die</strong> Hoffnung kommt ins Spiel. Geld erhöht die Flexibilität, bringt aber Ungewissheit.<br />
Man weiß nie zu 100 %, ob man für sein Geld jem<strong>als</strong> irgendwo eine Gegenleistung<br />
erhalten wird. Das ist beim Tausch anders. Das bloße Vorhandensein von<br />
Geld ist <strong>als</strong>o eine gesamtgesellschaftliche Leistungshoffnung bzw. Leistungsverpflichtung:<br />
<strong>Die</strong> Gesellschaft insgesamt ist in Höhe des umlaufenden Geldes verschuldet. In<br />
der Geldmenge, die in Umlauf ist, drückt sich die Hoffnung aller aus, dass alle diese<br />
Leistungen irgendwie irgendwann erbracht werden. Erst Geld ermöglicht wirksames<br />
Sparen, denn wie soll man wirtschaftliche Leistung sonst „speichern”? Es bleiben<br />
dann nur noch die unhandlichen Sachwerte, und das ist eher Horten <strong>als</strong> Sparen. Sparen<br />
von Geld ist <strong>als</strong>o das Aufbewahren von „realistischer Hoffnung”.<br />
Golddeckung<br />
Lange Zeit wurde Geld dadurch knapp gehalten, dass die Zentralbanken nur soviel<br />
Geld in Umlauf brachten, wie durch die sogenannten Goldreserven gedeckt waren.<br />
Bargeld war eigentlich nur ein Stellvertreter der realen Goldstücke im Keller der Zentralbank.<br />
Obwohl man Gold nicht essen kann, hat Gold doch eine so hohe Anziehungskraft,<br />
dass alle das Gefühl hatten: Egal, was passiert, im Zweifel kann ich bei<br />
der Zentralbank immer Gold für mein Geld bekommen. Mein Geld kann nicht wertlos<br />
werden, selbst wenn sich niemand findet, der mir eine Gegenleistung dafür erbringt.<br />
Reduzierung der Golddeckung<br />
Weil alles so gut lief, wurde im Laufe der Zeit die Golddeckung der Zentralbanken<br />
immer weiter reduziert, d. h. nur ein Teil des Bargeldes war durch Goldreserven abgedeckt.<br />
Dahinter steckte die Erfahrung, dass es nur sehr wenige sind, die zur Zentralbank<br />
kommen und ihr Bargeld gegen Gold eintauschen. <strong>Die</strong> meisten „glauben”<br />
dem Bargeld, <strong>als</strong>o konnte mehr Schmiermittel ins Getriebe gegeben werden <strong>als</strong> Gold<br />
vorhanden war. Mittlerweile ist die Golddeckung ganz aufgehoben. <strong>Die</strong> Zentralbanken<br />
besitzen zwar immer noch Gold, aber nicht mehr dafür.<br />
Kredit<br />
Nun ist knappes Geld ein Wirtschaftshemmnis. Wer gerade kein Geld hat, aber wirtschaften<br />
will, muss sich wie früher Tauschpartner suchen, was so dermaßen unpraktisch<br />
ist, dass es faktisch keiner macht. Im Dorf geht das noch, aber nicht in einem<br />
größeren Rahmen. Geld ist das Schmiermittel des wirtschaftlichen Getriebes. So<br />
kommt man zu dem Wunsch, erst Geld zu bekommen und mit dessen Hilfe dann die<br />
19
wirtschaftliche Gegenleistung zu erbringen: Das nennt man Kredit. Einem Kredit liegt<br />
der Glaube zugrunde, dass der Kreditnehmer diese Gegenleistung erbringen wird. Es<br />
ist ein Hoffnungsvorschuss.<br />
Buchgeld<br />
Jemand kam auf die Idee, dass auch Bargeld noch lästig ist und es doch viel einfacher<br />
ist, das Bargeld zu ergänzen durch „Buchgeld”. Buchgeld oder Giralgeld ist das<br />
Geld, was bei den Banken auf den „Girokonten” liegt: Bargeld wird ersetzt durch einen<br />
Eintrag in einem Büchlein. Alle haben dabei das sichere Gefühl, dass sie mit diesem<br />
Büchlein jederzeit zur Bank gehen können und dann sofort Bargeld zurückerhalten.<br />
Überweisungen<br />
<strong>Die</strong> Banken gingen sogar noch einen Schritt weiter: Sie sagten nämlich denen, die<br />
Kredite haben oder Geld abheben wollten, dass sie das Bargeld gar nicht brauchen,<br />
falls sie es ohnehin jemand anderem geben müssen, sie könnten es statt dessen „überweisen”,<br />
falls der auch ein Büchlein hat. Eine Überweisung ist eine bloße Mitteilung<br />
der Banken untereinander, dass der Geldpegel in einem Büchlein sinkt und in einem<br />
anderen steigt. Aber wer darf Bargeld durch Buchgeld ersetzen, <strong>als</strong>o Giralgeld im<br />
wahrsten Sinne des Wortes schöpfen? <strong>Die</strong> Banken dürfen das, indem sie Kredite vergeben,<br />
und das ist in gewisser Weise schon sensationell.<br />
Geldschöpfung durch die Banken<br />
Konnte einst eine Bank nur das Geld verleihen, welches vorher bei ihr eingezahlt (gespart)<br />
worden war, so ist das heute völlig anders: <strong>Die</strong> Ersparnisse bei einer Bank haben<br />
mit ihrer Fähigkeit, Kredite zu vergeben, kaum noch etwas zu tun. Eine Bank darf<br />
statt dessen solange Kredite vergeben, wie sie selbst wiederum bei der Zentralbank<br />
Kredit aufnehmen darf. <strong>Die</strong>sen Zentralbankkredit an die Bank nennt man Reserve.<br />
<strong>Die</strong>se Reserve muss nur einen Bruchteil (lat. Fraktion) der Kundenkredite und bestimmter<br />
Ersparnisse bei der Bank betragen (sog. Mindestreserve), und die Reserve<br />
dient auch nicht dazu, das Kreditgebaren der Bank unter Kontrolle zu halten, sondern<br />
ihre Fähigkeit zur Teilnahme am Zahlungsverkehr sicherzustellen. <strong>Die</strong> Bank muss<br />
praktisch niemandem Rechenschaft ablegen, warum sie wieviel Kredit vergibt. Solange<br />
die Bank der Meinung ist, dass die von ihr vergebenen Kredite sinnvolle<br />
(= rentable) Vorhaben finanzieren, kann sie relativ ungestört schalten und walten.<br />
Das nennt man „fraktionales Reservebanking”. <strong>Die</strong> Bank erzeugt <strong>als</strong>o Giralgeld buchstäblich<br />
aus dem Nichts, indem sie einem Kunden sagt, dass er Kredit erhalte.<br />
Refinanzierung<br />
Erst wenn die Reserve einer Bank „aufgebraucht” ist, muss die Bank zur Zentralbank<br />
gehen und um mehr Zentralbankkredit betteln. <strong>Die</strong> Zentralbank gibt der Bank diesen<br />
Kredit nur gegen entsprechende Sicherheiten, d. h. die Bank muss bei der Zentralbank<br />
beispielsweise Wertpapiere hinterlegen. Und sie muss Zinsen zahlen, den „Leitzins”.<br />
Über den Leitzins versucht die Zentralbank, die „Kreditfreudigkeit” der Banken<br />
zu steuern. Überspitzt kann man auch sagen: 1 EUR sicheres Wertpapier reicht einer<br />
Bank, um über die Refinanzierung bis zu 99 EUR unsichere Kredite zu vergeben.<br />
Denn die Qualität des 1 EUR überprüft die Zentralbank, die der anderen 99 EUR nur<br />
die Bank. <strong>Die</strong> hat aber ein Eigeninteresse an einer möglichst hohen Kreditvergabe,<br />
denn damit verdient sie Geld. Das ist einer der Hauptkritikpunkte des modernen Kreditwesens<br />
und hat zu einer Forderung nach Vollgeld (Konzept von Joseph Huber)<br />
geführt, wo die Geldschöpfung durch die Banken nicht mehr stattfindet.<br />
20
Geldvernichtung<br />
Geld kann auf drei verschiedenen Wegen wieder verschwinden (danke, Michael):<br />
Durch Abbezahlen eines Kredites (das Gegenteil der Geldschöpfung), durch Konkurs<br />
(Streichung von Schulden und Forderungen in gleicher Höhe) und durch Inflation<br />
(nomineller Erhalt, aber realer Wertverlust = Reduzierung der mit einem Geldbetrag<br />
verbundenen Hoffnung).<br />
Das alles ist nicht unlauter, denn schließlich ist Geld so oder so „nur” Hoffnung auf zukünftige<br />
Leistungserbringung. Welche Form das Geld hat, ist egal. Statt zu sagen: „<strong>Die</strong> Geldmenge<br />
wächst”, kann man auch sagen: „<strong>Die</strong> Hoffnung auf zukünftige Leistungserbringung wächst”,<br />
und da Kredite ja nicht einfach so, sondern (eigentlich) nur nach strenger Prüfung und gegen<br />
Sicherheiten vergeben werden, entspricht der umlaufenden Bargeld- und Buchgeldmenge<br />
auch irgendwo ein realer Wert in der Welt. <strong>Die</strong> Kreditmenge ist letztlich begrenzt durch<br />
die akzeptierten Sicherheiten.<br />
<strong>Die</strong> Firma FlowTex ist das berühmteste deutsche Beispiel für Betrug, wo Unternehmer immer<br />
die gleichen teuren Maschinen mit jeweils „anderen” gefälschten Seriennummern <strong>als</strong> Sicherheit<br />
für neue Kredite angegeben haben. Aber das sind eher Ausnahmen.<br />
<strong>Die</strong> Leistungsverpflichtung des Kreditnehmers gegenüber seiner Bank verteilt sich über das<br />
Geld im ganzen System, indem der Kreditnehmer die Leistungen anderer Firmen in Anspruch<br />
nimmt. Mit immer mehr Krediten pumpen die Banken immer mehr Leistungshoffnung und<br />
-verpflichtung in das System. <strong>Die</strong> mit dieser Hoffnung hergestellten, immer größeren Waren-<br />
und <strong>Die</strong>nstleistungsmengen nennen sich Wirtschaftswachstum. Wenn zuviel Hoffnung im<br />
System kursiert, weil Banken zu wenig Sicherheiten für ihre Kredite akzeptiert, <strong>als</strong>o Geld<br />
buchstäblich „für Nichts” geschaffen haben, neigen die Geldanleger zur Spekulation, d. h.<br />
Geschäfte werden ohne gute wirtschaftliche Grundlage gemacht, weil sich Gelegenheiten<br />
bieten, und es steigt die Bereitschaft, höhere Preise zu zahlen. Inflationsgefahr droht. Aufgabe<br />
der Zentralbanken ist es dann, Hoffnung abzuziehen, <strong>als</strong>o die Geldmenge nach und<br />
nach zu reduzieren, indem sie den Leitzins erhöhen. Allerdings greift dieses Instrument<br />
kaum. Geeigneter wäre eine direkte Beeinflussung der Geldmenge. Tatsächlich erhöhen die<br />
Zentralbanken die Geldmenge permanent und reduzieren sie praktisch nie.<br />
Ein Kredit ist somit ein Mittel für mehr Wachstum und seine Beschleunigung: Man möchte<br />
eine Leistung früher in Anspruch nehmen <strong>als</strong> aufgrund des eigenen Ersparten möglich ist,<br />
mit dem Ziel, früher ein bestimmtes Ziel zu erreichen.<br />
Folgende Punkte führten dann zu unserer Finanzkrise:<br />
• Staatsanleihen gelten (galten) <strong>als</strong> sehr sichere Kredite. Mit einer Staatsanleihe <strong>als</strong> Sicherheit<br />
bekommt man immer Zentralbankgeld. Der Besitz einer Staatsanleihe ist für<br />
Banken <strong>als</strong>o eine Basis, mit der sie Kredite decken können. Eine hohe Staatsverschuldung<br />
ist somit per se wachstumsfördernd. Und Staatsanleihen werden (wurden) eher<br />
unkritisch gekauft, weil sich niemand vorstellen kann (konnte), dass ein Staat pleite<br />
gehen kann.<br />
• Sicherheiten können sich <strong>als</strong> wertlos entpuppen. <strong>Die</strong>s ist insbesondere bei amerikanischen<br />
Immobilien der Fall gewesen. Solange alle an die Wertsteigerung der Immobilien<br />
glaubten, wurden immer neue Kredite vergeben. Irgendwann wurde deutlich,<br />
dass der Gegenwert einer Immobilie eigentlich nur in einem Haufen Sand, Stein und<br />
Holz besteht, und Millionen von Amerikanern wurde deutlich, dass sie statt einer<br />
wertvollen Immobilie einen Haufen Luft gekauft hatten. Es fand ein irreparabler Hoffnungsverlust<br />
statt.<br />
• „Moderne Finanzprodukte” sind abstrakt gebündelte Hoffnungen, die mitunter zu<br />
noch abstrakteren Hoffnungen weitergebündelt oder auch wieder geteilt wurden.<br />
Rein theoretisch nichts Schlimmes, denn Hoffnung bleibt Hoffnung. Nur konnte man<br />
häufig nicht mehr erkennen, was denn konkret hinter dieser oder jener Hoffnung<br />
21
steckt. Denn letztlich steht hinter jedem Kredit eine Sicherheit, die aber auch fragwürdig<br />
sein kann. Moderne Finanzprodukte machen es schwer, den realen wirtschaftlichen<br />
Wert dahinter zu erkennen, und alle haben es ja eilig (und manchmal läuft einem<br />
ob der vielen Hoffnung das Wasser im Munde zusammen) und prüfen deshalb<br />
nicht lange.<br />
<strong>Die</strong> ganze uferlose Geldschöpfung hat dann am Ende vor allem jenen genutzt, die im Finanzsektor<br />
engagiert waren. Denn von den ganzen Hoffnungen haben sie sich immer einen Teil<br />
<strong>als</strong> üppiges Gehalt, Provision und Bonus abgezweigt. Ungerechtfertigt große Hoffnung kann<br />
man auch Gier nennen. Aber Gier kommt auch am Anfang der Kette ins System, z. B. über<br />
den Traum von einem Häuschen, das man sich eigentlich nicht leisten kann, oder über die<br />
Erwartung einer überdurchschnittlich profitablen Geldanlage oder über jedes unangemessen<br />
hohe Gehalt.<br />
2.3.2 Risiko und Zins<br />
Wirtschaftliche Betätigung ist immer mit Investitionen verbunden, selbst wenn man nur einen<br />
Acker bestellt: Man muss erst Arbeit in die Sache stecken, um später die Früchte zu ernten.<br />
Oftm<strong>als</strong> kommt man ohne die Arbeit anderer nicht aus und muss sie daher dazu bewegen,<br />
mitzumachen, indem sie entweder direkt mitarbeiten oder „Mittel” geben, <strong>als</strong>o Geld<br />
oder Werkzeuge zur Verfügung stellen. Das ist ein Vertrauensvorschuss in das Gelingen der<br />
Sache, <strong>als</strong>o ein Kredit. In der modernen Wirtschaft mit ihrer stark differenzierten Arbeitsteilung<br />
sieht es so aus, dass ein Unternehmer praktisch permanent verschuldet ist, weil er aus<br />
allen Ecken Leistungen bezieht und sie erst später bezahlt.<br />
Nun sind nicht alle Unternehmungen erfolgreich, manche scheitern, bevor die Früchte den<br />
Arbeitseinsatz angemessen belohnen. Investitionen in eine solche Unternehmung sind <strong>als</strong>o<br />
mit einem Risiko behaftet. Was macht man, wenn man dennoch breite wirtschaftliche Betätigung<br />
haben möchte? Man verteilt das Risiko, indem jeder nur so viel Risiko schultert, dass er<br />
mit dem Verlust im Zweifel leben kann. Genossenschaften, Versicherungen, Banken, Kapitalgesellschaften<br />
sind alle letztlich aus der Verteilung von Risiko auf die Schultern vieler entstanden:<br />
• Bei Genossenschaften wird das Risiko in Form von Genossenschaftsanteilen plus<br />
Nachschusspflicht auf alle Genossen umgelegt.<br />
• Bei Versicherungen wird das Risiko in Form von Prämien auf alle Versicherten umgelegt.<br />
• Bei Krediten wird das Risiko auf alle Kreditnehmer in Form von Zinsen umgelegt.<br />
• Bei Kapitalgesellschaften wird das Risiko des Stammkapit<strong>als</strong> in Form von Gesellschaftsanteilen<br />
auf alle Gesellschafter umgelegt und das Risiko der Insolvenz auf die<br />
Kunden, die Lieferanten und die übrige Bevölkerung ...<br />
In dieser Form des Risikoentgeltes ist Zins allgemein <strong>als</strong> ethisch zulässig anerkannt, und<br />
wenn man sich darauf beschränken würde, wäre das ziemlich preiswert zu haben. Aber da<br />
gibt es auch noch die Knappheit, wenn <strong>als</strong>o Kapital zur Ware wird.<br />
2.3.3 Markt, Marktwirtschaft und Kapitalismus<br />
Markt<br />
Der (ideale) Markt ist der reale oder abstrakte Ort, an dem Angebot und Nachfrage zusammentreffen.<br />
Es gibt ein privates Eigentum an Produktionsmitteln und damit Entscheidungsfreiheit<br />
über ihre Verwendung (oder auch ihre Nichtverwendung) zur Produktion von Gütern.<br />
Gehandelt werden individuelle Güter zu einem frei ausgehandelten Preis. Aufgrund der Steuerungsfunktion<br />
über den Preis ist der Markt selbstregulierend, d. h. Angebot und Nachfrage<br />
kommen immer bei einem bestimmten Preis zu einem Gleichgewicht. Es herrscht freier<br />
Marktzugang für Anbieter und Nachfrager und eine vollkommene Preistransparenz: Man weiß<br />
22
ei jedem Anbieter, zu welchem Preis er anbietet. Wie man leicht einsieht, ist der ideale<br />
Markt ein theoretischer Grenzfall ... Aber unter dem Gesichtspunkt einer Verteilung von<br />
knappen, mit Geld bewertbaren Gütern ist der Markt optimal.<br />
(Reine) Marktwirtschaft<br />
Öffentliche Güter nennt man solche Güter, die jeder nutzen kann und wo die Nutzung andere<br />
Nutzer nicht beeinträchtigt. Dazu gehören z. B. „Frieden” oder „Leuchtturm”. „Straßen”,<br />
„Schulen” oder „Büchereien” gehören strenggenommen nur solange dazu, wie der Zugang<br />
weiterer Nutzer die bisherigen nicht beeinträchtigt. Praktisch sieht es meistens so aus, dass<br />
bei zu starker Nutzung öffentlicher Güter diese vermehrt werden (weiterer Straßenbau etc.).<br />
Erweitert man die Menge aller Märkte einer Gesellschaft um die öffentlichen Güter und deren<br />
Angebot (was wo in welcher Menge über eine politische Entscheidung), dann erhält man<br />
eine Marktwirtschaft. Sie kennt zudem meritorische Güter, deren Verwendung die Gesellschaft<br />
fördern möchte (z. B. Bücher: niedriger Umsatzsteuersatz, Buchpreisbindung), und<br />
demeritorische Güter, deren Verwendung sie einschränken möchte (z. B. harte Drogen: Verkaufsverbot,<br />
Strafverfolgung).<br />
In einer Marktwirtschaft gibt es einen Kapitalmarkt, der über den Allokationsmechanismus<br />
des Zinses Kredite gewähren kann. Unter Kapital versteht man im wesentlichen „freies Geld”,<br />
welches für Investitionen verwendet werden kann. Seinen Besitzer nennt man Investor. Da<br />
Kapital a) knapp und b) bei der Investition durch Verlust gefährdet ist, hat auch Kapital einen<br />
Preis für denjenigen, der Kapital sucht, den Zins. Der Zins mehrt das Kapital, und in dem<br />
Anteil, der das Risikoentgelt übersteigt, handelt es sich um ein leistungsloses Einkommen<br />
des Investors. Das Risikoentgelt im Vorfeld zu bestimmen, ist allerdings auch eine schwierige<br />
Sache ... Nachher ist man immer klüger.<br />
<strong>Die</strong> Marktwirtschaft ist eine Form der Leistungsgesellschaft, in der die Leistung des Einzelnen<br />
über sein Einkommen entscheidet. Dafür ist der Eigentumsbegriff essentiell, denn die eigene<br />
Leistung kann nur dann vor dem Zugriff anderer geschützt werden, wenn ein Rechtsinstrument<br />
diesen Schutz gewährleistet.<br />
Kapitalismus <strong>als</strong> Machtkonzept<br />
Der Begriff des Kapitalismus ist schwer umstritten, insbesondere seine Abgrenzung vom Begriff<br />
der Marktwirtschaft. <strong>Die</strong> Positionen reichen bis hin zur völligen Gleichsetzung. In meinen<br />
Augen sind Kapitalismus und Marktwirtschaft nicht das Gleiche, sondern der Kapitalismus<br />
enthält Elemente, die der Idee der Marktwirtschaft fremd sind, insbesondere wenn man diese<br />
mit demokratischen Prinzipien kombiniert:<br />
• Geld bedeutet Macht, und Kapitalismus bedeutet die unkontrollierte Machtausübung<br />
über das Medium Kapital. Im Kontext einer Demokratie ist das völlig inakzeptabel.<br />
Auch die Geldschöpfung durch die Banken über Kredit würde ich <strong>als</strong> Widerspruch zu<br />
den Prinzipien der Marktwirtschaft ansehen, da es sich um eine nichtlegitimierte<br />
Machtposition handelt.<br />
• Kapitalistisches Eigentum an Grund und Boden sowie an natürlichen Rohstoffen widerspricht<br />
dem Leistungsgedanken.<br />
Soziale Marktwirtschaft<br />
<strong>Die</strong> soziale Marktwirtschaft ist eigentlich ein Kapitalismus mit ausgleichenden Zügen. Sie<br />
kennt ausgleichende Umverteilungsmechanismen, um einen „sozialen Fortschritt” zu gewährleisten.<br />
Da aber andererseits der Gewinn nach oben offen ist, ist auch die Ungleichheit in der<br />
sozialen Marktwirtschaft nicht begrenzt, sondern nur eine Armutsgrenze nach unten definiert,<br />
deren Unterschreitung die Gesellschaft nicht akzeptieren will.<br />
23
2.4 Menschliche Vernunft<br />
Über das Wesen des Menschen kann man natürlich unendlich diskutieren. Man kann aber für<br />
die Zwecke dieser Diskussion ohne weiteres einige wesentliche Punkte herausgreifen, die das<br />
Verhältnis des Menschen zur Vernunft betreffen. Immer wieder staunt man, wie unvernünftig<br />
Menschen sein können, und dieses Staunen ist oft wechselseitig: Man kann sich diesen<br />
„Vorwurf” gegenseitig machen. Vernunft scheint <strong>als</strong>o kein geistiger Zustand zu sein, auf<br />
dessen Eigenschaften sich Menschen in einfacher Weise einigen können. Dennoch kann man<br />
angeben, was Vernunft bedeutet, und es gibt plausible Theorien, warum manche Leute ihre<br />
Unvernunft dennoch für Vernunft halten.<br />
2.4.1 Vernunft und Impuls<br />
Zufriedenheit entsteht im Kopf. Unzufriedenheit auch.<br />
Der Mensch an sich „ist” nicht gut oder schlecht, sondern ein Wesen mit erstaunlich vielen<br />
Möglichkeiten – im Guten wie im Schlechten. Das ist mit den Eigenschaften des Gehirns verknüpft.<br />
Flexibilität<br />
<strong>Die</strong> geistige Biegsamkeit <strong>als</strong> größte „Leistung” des Gehirns ist gleichzeitig seine Achilles-<br />
Ferse. Das Gehirn ist so flexibel gebaut, dass es immer auch Gefahr läuft, sich in Richtungen<br />
zu entwickeln, wo der Mensch sich vorwiegend selbst im Wege steht. Das führt zu verschiedenen<br />
psychischen Krankheiten und Defekten. Intelligenz einerseits sowie Vernunft, Gewissen<br />
und Moral andererseits sind völlig unabhängigen Bereichen des Gehirns zugeordnet, es<br />
gibt nur sehr schwache Zusammenhänge. Intelligenz ist teilweise angeboren, teilweise während<br />
Kindheit und Jugend erworben. Vernunft, Gewissen und Moral sind hingegen ausschließliche<br />
Produkte der Sozialisation des Menschen, <strong>als</strong>o angewiesen auf das Aufwachsen<br />
in einem intakten Umfeld. <strong>Die</strong> moderne Hirnforschung lässt uns immer besser verstehen, wie<br />
sehr das Gehirn „sich selbst seine Welt konstruiert” und somit Vernunft eine höchst individuelle<br />
Angelegenheit ist. Insbesondere der bekannte Gehirnforscher Gerhard Roth hat hierzu in<br />
den letzten Jahrzehnten viel veröffentlicht.<br />
Archaische Verhaltensmuster<br />
Obwohl sich unser Lebensumfeld seit der Steinzeit grundlegend gewandelt hat und – zumindest<br />
in der westlich geprägten Welt – die Grundbedürfnisse der meisten Menschen ausreichend<br />
und sicher befriedigt werden, sind verschiedene archaische Verhaltensmuster immer<br />
noch vorherrschend <strong>als</strong> Handlungsimpulse. <strong>Die</strong> Entwicklung des Gehirns hat mit der Entwicklung<br />
der Welt nicht Schritt gehalten, die alten Teile des Gehirns sind immer noch mächtiger<br />
<strong>als</strong> notwendig. Das führt dazu, das allzu häufig Fressen, Saufen, Ficken, Knechten und Protzen<br />
die wesentlichen Antriebe des Menschen sind. Mit Freibier und einem Buffet lässt sich<br />
fast jeder ködern, der VW-Konzern hat seinem Betriebsrat nicht Bildungsreisen, sondern<br />
Lustreisen spendiert, Machtspiele sind fester Bestandteil des Kapitalismus, und Statussymbole<br />
haben immer noch und immer wieder Hochkonjunktur. <strong>Die</strong> Entwicklung der Technik, das<br />
Zeitalter der Aufklärung, die modernen Naturwissenschaften – sie alle haben an der Weitergeltung<br />
der archaischen Verhaltensmuster wenig geändert. <strong>Die</strong> Evolution ist zu langsam für<br />
die schnelle Veränderung unserer Umwelt.<br />
Kritik und Kränkung<br />
Kritik ist die Hinterfragung eines Sachverhaltes. Umgangssprachlich meinen wir damit die<br />
Bewertung der Handlungen oder Äußerungen von anderen Menschen. Auf eine negative<br />
(missbilligende) Kritik durch andere reagieren viele Menschen nicht mit einem erfreuten Interesse,<br />
sondern mit einem verletzten Selbstwertgefühl: Wir fühlen uns zurückgewiesen. <strong>Die</strong><br />
negative Kritik an einer unserer Handlungen oder Äußerungen wird <strong>als</strong> Zurückweisung der<br />
eigenen Person überinterpretiert. Wir fühlen uns <strong>als</strong> Person zurückgewiesen, obwohl meistens<br />
lediglich etwas, was wir getan oder geäußert haben, Ziel der Kritik ist. Eine Zurückwei-<br />
24
sung <strong>als</strong> Person ist etwas sehr Schwerwiegendes, und somit reagieren wir häufig mit schwerem<br />
Geschütz: Wir verteidigen uns, geben Contra oder werden sogar aggressiv, obwohl eine<br />
unvoreingenommene Diskussion über die Kritik meistens weiter führen würde.<br />
Kränkungen können ihre Ursache insbesondere auch in Erlebnissen während Kindheit und<br />
Jugend haben, wenn Personen, zu denen wir ein nahes Verhältnis haben (müssen), uns direkt<br />
oder indirekt zurückweisen. In dieser sehr formbaren Zeit erfahrene Kränkungen wirken<br />
mitunter ein ganzes Leben lang.<br />
Vernunft (Rationalität)<br />
Vernunft ist die Fähigkeit, eine Situation unabhängig von den eigenen Befindlichkeiten (Interessen,<br />
Sehnsüchte, Ängste) zu betrachten, <strong>als</strong>o das Ich wegzulassen und die Sache „nüchtern”<br />
zu betrachten. Sie ist die fehlende Lust am Selbstbetrug und beinhaltet unter anderem<br />
die Fähigkeit, einen Prozess „unendlich weit in die Zukunft” zu denken, wo er einen schon<br />
lange nicht mehr betreffen wird.<br />
Unvernunft (Irrationalität)<br />
Unvernunft ist nicht das Gegenteil von Vernunft, sondern ihre Abwesenheit: Wer eine Situation<br />
nur mit den eigenen Interessen, Sehnsüchten und Ängsten betrachten kann, handelt<br />
unvernünftig.<br />
Gefühl (Emotionalität)<br />
Der Gegenpol von Vernunft ist Gefühl, nämlich die Einbindung des Ich in die Welt, die Betonung<br />
des persönlichen Befindens. Der Begriff „Pol” betont, dass immer beide Anteile vorhanden<br />
sind.<br />
<strong>Die</strong> Balance zwischen diesen verschiedenen Anteilen ist delikat und offensichtlich schwer zu<br />
halten. Sie ist im Gehirn nicht automatisch angelegt, sondern eine Übung, die erlernt werden<br />
muss, und es ist die derzeitige Tragik des Menschen, dass das Hauptaugenmerk dieses<br />
„Trainings” (auch Erziehung und Bildung genannt) eben nicht auf einer Meisterschaft in dieser<br />
Kunst liegt, sondern auf einem effizienten Fitmachen für den globalisierten Wettbewerb,<br />
was uns weiter weg vom Ziel führt.<br />
Rationalisierung<br />
Rationalisierung (im psychischen, nicht im wirtschaftlichen Sinne) ist der Versuch, eine Situation,<br />
die sehr wohl mit den eigenen Befindlichkeiten zu tun hat, künstlich „vernünftig” zu<br />
erklären, <strong>als</strong>o vom Ich abzutrennen und so zu tun, <strong>als</strong> hätte das mit einem selbst nichts zu<br />
tun. Vernünftig-logische Handlungsmotive werden <strong>als</strong> alleinige Beweggründe für Handlungen<br />
angegeben oder vorgeschoben. Gefühlshafte Anteile an Entscheidungen werden ignoriert<br />
oder unterbewertet (siehe Wikipedia, ich hab's nicht besser formulieren können).<br />
Technikgläubigkeit (Technophilie) ist eine besondere Form von Rationalisierung. Es ist die<br />
Glorifizierung der technischen Welt und ein Herunterspielen der Bedeutung der emotionalen<br />
und sozialen Welt.<br />
2.4.2 Konstruktivismus<br />
Grundsätzlich steht das Gehirn unter einem „Zwang”, ein Gedankensystem zu entwickeln,<br />
welches in sich stimmig ist, wo das Eine sinnvoll in das Andere greift, wo die Stellung der<br />
Dinge in der Welt sinnvoll definiert ist, wo Anfang und Ende einen Platz haben. Fehlende<br />
Stimmigkeit macht unser Gehirn krank, in einem ganz realen Sinne. Wenn die Stimmigkeit<br />
nicht durch die tatsächlichen Verhältnisse gegeben ist oder den eigenen Interessen zu stark<br />
widerspricht, dann greift das Gehirn „korrigierend” ein und baut sich seine eigene Welt: Es<br />
blendet störende Aspekte aus (Verdrängung, Verleugnung) und nimmt förderliche Aspekte<br />
auf (Wunschdenken, Aberglaube), und zwar so lange, bis das Bild wieder stimmt. Man nennt<br />
das Konstruktivismus. Wir benötigen eine logische Begründung für die innere Welt. Auch hier<br />
gibt es verschiedene Grade der Krankhaftigkeit.<br />
25
Es gibt eine ganze erkenntnistheorische Strömung, die sich mit diesem Thema befasst. Unter<br />
dem Namen „Radikaler Konstruktivismus” haben namhafte Neurobiologen, Physiker, Philosophen<br />
und andere Wissenschaftler eine Theorie begründet, wonach eine objektive Wirklichkeit<br />
nicht existiert, sondern der Mensch sich seine Wirklichkeit selbst konstruiert, und zwar nicht<br />
nur bezogen auf die Interpretation der sozialen Welt („Wirklichkeit zweiter Ordnung”), sondern<br />
sogar bezogen auf alle physikalischen Sinneseindrücke („Wirklichkeit erster Ordnung”).<br />
Nach Ansicht der Konstruktivisten gibt es dabei keinen Grund, einen grundsätzlichen Unterschied<br />
zwischen den Wirklichkeiten erster und zweiter Ordnung zu machen. Der Unterschied<br />
ist lediglich graduell.<br />
<strong>Die</strong> tiefere Ursache ist demnach das „Bestreben” des Gehirns, mit technischer und sozialer<br />
Komplexität angemessen umzugehen, <strong>als</strong>o durch „Reduktion auf das Wesentliche” das jeweils<br />
Entscheidende schnell in den Fokus des menschlichen Handelns zu bringen. Was dieses<br />
Entscheidende gerade ist, ist von unendlich vielen Faktoren abhängig, von aktuellen Bedingungen<br />
ebenso wie von unserer ganzen Lebenserfahrung und -prägung. Nur so können wir<br />
einen Zustand der Lähmung angesichts von zuviel Information vermeiden und gerade auch<br />
in kritischen Situationen schnell reagieren.<br />
In der Wirklichkeit erster Ordnung entspricht dem beispielsweise auch die Erfahrung, dass<br />
heftige Träume absolut „realistische” Sinneserfahrungen vermitteln, die in der realen Welt<br />
keine Entsprechung haben. <strong>Die</strong> Konstruktivisten gehen davon aus, dass auch die „objektiven”<br />
Sinneseindrücke im Gehirn bereits eine Mischung aus realen physischen Signalen der<br />
Umwelt und selbsterzeugten Signalen aus dem „inneren Vorrat” des Gehirns sind. <strong>Die</strong> Anteile<br />
dieser Mischung bestimmen wir teils selbst, teils werden sie durch die Dynamik des Geschehens<br />
bestimmt. Durch die Fokussierung unserer Aufmerksamkeit, Ausschalten äußerer Störungen<br />
(„stilles Kämmerlein” oder andere Zonen der Ruhe) können wir Bedingungen schaffen,<br />
die einem höheren Anteil „objektiver” Sinneseindrücke förderlich sind. Stress, Unaufmerksamkeit<br />
und Ablenkung fordern unser Gehirn hingegen auf, nur die notwendigsten der<br />
„objektiven” Signale zu berücksichtigen, um Platz zu schaffen für die Bearbeitung dessen,<br />
was sich gerade in den Fokus drängt.<br />
Eine besondere Variante des Konstruktivismus ist das „Rosinenpicken”: Aus einer vollständigen<br />
Einheit (dem Kuchen) werden die Teile herausgepickt, die den größten persönlichen<br />
Nutzen versprechen (die Rosinen). Angewendet auf das menschliche Verhalten bedeutet das,<br />
dass wir oft nur die nützlichen Aspekte einer Sache in den Vordergrund stellen und den „unschönen<br />
Rest” ignorieren, der aber zwangsläufig dazugehört. In der Politik werden Konzepte<br />
wie „Wachstum” oder „Soziale Gerechtigkeit” gepriesen, indem ihre Vorteile herausgestellt<br />
werden. Der Rattenschwanz an lästigen Konsequenzen wird schamhaft verschwiegen. Im<br />
Privaten ist es meistens unser Konsum, der dieser Versuchung erliegt: Wir greifen im Supermarkt<br />
beherzt zum billigen Schnitzel und ignorieren dabei die Leiden der Tiere in der Massentierhaltung.<br />
Das Phänomen des Rosinenpickens ist damit ein fester Bestandteil der modernen<br />
Wirtschaftsverfassung. Wie kommt es zu dieser Verdrängung?<br />
2.4.3 Täuschung und Selbst-Täuschung<br />
In seinem gerade erst erschienenen Buch „Deceit and Self-Deception” („Täuschung und<br />
Selbst-Täuschung”) hat der amerikanische Sozialbiologe Robert Trivers eine allgemeine Theorie<br />
über die evolutionären Ursachen des Selbstbetrugs vorgelegt. Nach seinen Ergebnissen<br />
sind (waren) Menschen, die sich selbst betrügen, evolutionär im Vorteil, weil es ihnen leichter<br />
fällt, andere zu betrügen, um sich ungerechtfertigte Vorteile zu verschaffen. Betrug fällt<br />
leichter, wenn der Betrüger sich nicht verstellen muss – wer den Unsinn glaubt, den er anderen<br />
vorsätzlich serviert, vermeidet verräterische Hinweise wie Anspannung, Widersprüche<br />
etc., wie sie fast zwangsläufig bei bewusstem Betrug auftreten. Zudem kann sich das Gehirn<br />
von aufwendiger Denkarbeit entlasten, die mit der mentalen Anspannung eines Betruges<br />
einhergeht, es arbeitet <strong>als</strong>o effizienter und trägt somit ebenfalls zu einer geringeren Entde-<br />
26
ckungswahrscheinlichkeit bei. Und bei Entdeckung kann man sich obendrein besser entlasten,<br />
weil man ja nicht bewusst betrogen habe: Das Unterbewusstsein war schuld.<br />
Damit wird verständlich, warum Selbstbetrug so „populär” ist: Er ist evolutionär bedingt, ebenso<br />
wie unser heute unsinniger Appetit auf Fett, Zucker und Salz. Ein weiteres Beispiel für<br />
die schlechte Anpassung von Körper und Geist an die schnelle Veränderung unserer Umwelt<br />
durch uns selbst.<br />
2.4.4 Moral und Verantwortung<br />
Moral<br />
Moral bezeichnet die akzeptierten Handlungsprinzipien der Gemeinschaft. Sie ist die „innere<br />
Landkarte” des sozialen Menschen. Nur bei wenigen Menschen ist diese Landkarte so klar<br />
gezeichnet, dass sie sich ohne äußere Hilfe sicher auf diesem unwegsamen Terrain bewegen<br />
können, alle anderen benötigen immer wieder Wegweiser oder müssen jemanden nach dem<br />
Weg fragen. Hierbei spielen Autoritäten eine tragende Rolle.<br />
Moral ist keine zeitliche Konstante, sondern eine momentane Übereinkunft des gesellschaftlich<br />
Akzeptierten. Und sie ist meist kein schmaler Pfad, sondern ein mehr oder weniger breiter<br />
Weg mit ausgefransten Kanten. Moralische Entrüstung steigert sich langsam mit der Entfernung<br />
von der Mittellinie. Gesellschaft und Individuen sind in einer ständigen Abstimmung<br />
über die „moralischen Leitplanken”, manchmal öffentlich, beispielsweise im Parlament oder<br />
bei einer Sitzblockade, häufiger jedoch durch private Diskussionen mit Freunden und Fremden,<br />
oder durch privates Handeln, beispielsweise ob jemand sein Vermögen zur Ökobank<br />
bringt oder damit an der Börse zockt.<br />
<strong>Die</strong>jenigen, die weit oben in der sozialen Anerkennung stehen, vermögen besonders wirkungsvoll<br />
moralische Leitplanken zu definieren oder niederzuwalzen. Moral hat zudem viel<br />
mit Gewöhnung zu tun – und mit dem Aussterben der älteren Generation, denn moralische<br />
Vorstellungen werden stark von der Kindheit und der Tradition geprägt.<br />
Moral ist auch eine „denk-ökonomische Strategie”. Man muss im Alltag individuelle Entscheidungssituationen<br />
auf das notwendige Maß reduzieren, man möchte nicht dauernd alles mit<br />
sich und anderen ausdiskutieren. Dafür bleiben immer noch genügend Gelegenheiten. Deshalb<br />
gibt man sich selbst Leitlinien, die man bewusst oder unbewusst anwendet, und beschränkt<br />
das große Nachdenken auf die wirklich wichtigen Fälle. Routine spielt in der Praxis<br />
des Alltags die größere Rolle.<br />
Eine Gesellschaft, gerade wenn sie keine Zwangsbeglückung will, muss sich auf ihre Leitlinien<br />
verständigen. Individualismus ohne Gemeinschaftssinn ist asozial.<br />
Verantwortung<br />
Verantwortung zu übernehmen, bedeutet, eine Angelegenheit zur eigenen zu erklären. Verantwortungslosigkeit<br />
bedeutet, seine eigenen Angelegenheiten ungefragt anderen zu überlassen.<br />
Es hat sich noch nie bewährt, wenn Menschen Verantwortung übernehmen für Dinge, die<br />
eigentlich ihrem Ziel widersprechen, wenn sozusagen der Bock zum Gärtner gemacht wird:<br />
• Geschwindigkeitsbegrenzungen im Straßenverkehr: Eigentlich will man schnell<br />
vorankommen.<br />
• Selbstverpflichtung von Unternehmen zum ökologischen oder sozialen Handeln: Eigentlich<br />
wollen sie ungehindert ihre Produkte verkaufen. Das „gute Handeln” wird auf<br />
diese Weise zum Teil des Produktes und abhängig von der Marktakzeptanz. <strong>Die</strong> Kunden<br />
befinden sich jedoch ebenfalls in dem unauflösbaren Konflikt zwischen gut und<br />
billig.<br />
• Appelle an Mediziner und Patienten, Kosten im Gesundheitssystem zu sparen: <strong>Die</strong><br />
Mediziner wollen ihre Brötchen verdienen, und Patienten wollen gut behandelt wer-<br />
27
den und haben mit dem Beitrag bereits (fast) alles bezahlt. Beide haben an einer Verringerung<br />
der Leistungen kein Interesse.<br />
• Mülltrennung im Haushalt: Wird <strong>als</strong> Zeitverschwendung und Gängelung empfunden<br />
und ist zu kompliziert. Kein Platz für die vielen Eimer.<br />
Der Interessenkonflikt ist zu groß, damit kann man nicht sinnvoll umgehen. Kurz und knapp<br />
kann man sagen: Moral und Verantwortung sind gut, brauchen aber Gelegenheit. <strong>Die</strong> Versuchung<br />
muss in Schach gehalten werden.<br />
Es gibt verschiedene Wege, verantwortungsvolles Handeln zu fördern:<br />
Sinn und Einbindung<br />
Das ist der einfachste oder schwierigste Weg, je nach Sichtweise. Wer den Sinn in einer Sache<br />
sieht und eingebunden wird, macht sie zur eigenen Sache, dazu benötigt man keine anderen<br />
Mittel. Sie darf einen jedoch nicht überfordern, jeder Mensch hat seine Grenzen.<br />
Doch selbst die sinnvollste Sache kann mit den individuellen Interessen in Konflikt geraten.<br />
Man sieht zwar einerseits das große Ganze, hat aber auch die Gelegenheit, sich persönliche<br />
Vorteile zu verschaffen. Man nennt das auch Versuchung.<br />
Unter dem Stichwort „Tragik der Allmende” wird in den Wirtschaftswissenschaften das Problem<br />
diskutiert, dass gemeinschaftlicher Besitz von Raubbau bedroht ist, wenn jeder Beteiligte<br />
„einfach so” auf ihn zugreifen kann und nicht an der persönlichen Gewinnmaximierung gehindert<br />
wird. Wer wartet, verliert. Das klassische Beispiel ist die Allmende, <strong>als</strong>o das von allen<br />
gemeinsam genutzte Weideland, das in kurzer Zeit übernutzt wird, wenn jeder „einfach so”<br />
sein Vieh darauf treiben kann. <strong>Die</strong> ersten auf der Weide bekommen das fetteste Gras, die<br />
anderen haben das Nachsehen. <strong>Die</strong> persönlichen (kurzfristigen) Interessen gewinnen Oberhand<br />
über die gemeinsamen (langfristigen).<br />
Eine „Lösung” des Problems lautet: Privatwirtschaft mit Profitmaximierung anstelle von gemeinschaftlichem<br />
Besitz. <strong>Die</strong> gemeinsamen und individuellen Interessen werden sozusagen<br />
im Unternehmer „fusioniert”. Da der Unternehmer den Profit maximieren möchte, bringt ihm<br />
die langfristige Nutzung mehr <strong>als</strong> die kurzfristige, und alles wird gut – gerne mit dem Unterton:<br />
„Seht her, der Markt kann es doch besser!” Abgesehen davon, dass das meistens gar<br />
nicht richtig funktioniert, gibt es auch eine andere Lösung:<br />
Unabhängige, mit Macht ausgestattete Institutionen<br />
In Übereinkunft der Beteiligten wird eine unabhängige Institution gebildet, die definierte<br />
Machtbefugnisse erhält und mit der Verwaltung des gemeinschaftlichen Besitzes beauftragt<br />
wird. Es wird <strong>als</strong>o eine Struktur installiert, in der Menschen ihre persönlichen Interessen überwinden<br />
können. <strong>Die</strong> gemeinsamen und individuellen Interessen werden entkoppelt, die<br />
individuellen gebremst. Unabhängigkeit und damit Vernunft – das ist die Idee der Genossenschaften:<br />
Gemeinsamer Besitz wird von einer unabhängigen juristischen Person und ihren<br />
Organen verwaltet. Das kann dann zu anderen Versuchungen wie Korruption und Vetternwirtschaft<br />
führen, aber auch dessen kann man Herr werden, mehr dazu weiter unten.<br />
Strafe<br />
Androhung von Strafe für Verantwortungslosigkeit ist ein beliebter, weil vordergründig billiger<br />
Weg. Man muss zunächst nichts machen außer der lauten Verkündung. Erst wenn der<br />
Mensch versagt, muss man die Strafe vollstrecken.<br />
<strong>Die</strong> Wirklichkeit zeigt, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis so gut nicht ist. Zum Verkünden<br />
muss man das Vergehen klar definieren. Um zu strafen, muss man das Vergehen erst einmal<br />
bemerken, dann muss man es beweisen, und dann muss man auch noch strafen. Je nachdem,<br />
wie groß die Energie des Verantwortungslosen ist, ist das aufwendig bis unmöglich.<br />
Steuerhinterziehung, Schwarzfahren, Geschwindigkeitsüberschreitungen, Schwarzarbeit, illegale<br />
Drogen sind gesellschaftliche Lachnummern der Gerechtigkeit. Ein volkswirtschaftlicher<br />
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Ressourcenfriedhof erster Güte, wenn man sich vor Augen hält, wie viele Menschen ihr Geld<br />
damit verdienen, diese Delikte zu verfolgen.<br />
Kosten<br />
Wer die Folgen eigenen Handelns im Geldbeutel spürt, handelt verantwortungsbewusster,<br />
und auf dieser Erkenntnis basieren viele gesellschaftliche Steuerungssysteme. <strong>Die</strong>se Beliebtheit<br />
hat mehrere Ursachen:<br />
• Geld ist objektiv und einfach. Einen realen Euro kann man nur einmal ausgeben. Das<br />
versteht jeder.<br />
• Es erfordert keine weitere Kommunikation oder Verfolgung. Das Problem ist erfolgreich<br />
an den Einzelnen abgegeben.<br />
• Es ist flexibel: Eine Ökosteuer beispielsweise kann man erhöhen oder senken und so<br />
den Effekt steuern.<br />
Das Problem wird <strong>als</strong>o „marktwirtschaftlich handelbar” gemacht, man nennt es „marktwirtschaftliche<br />
Steuerung”. Der Nachteil ist: Es lässt sich nur dort anwenden, wo man etwas mit<br />
Geld bewerten kann. Und das sind beileibe nicht alle Felder.<br />
Fazit<br />
Sinn und Einbindung ist der einfachste und schönste Weg. Macht zufrieden.<br />
2.5 Antrieb des Menschen<br />
Aus diesen Quellen schöpft der einzelne Mensch seine Energie für Wirtschaft und Wettbewerb.<br />
2.5.1 Leitbilder und Merksätze<br />
Jeder Mensch hat innere Bilder von dem, was zum Ziel führt und was nicht. Sie sind die positiv<br />
formulierte Ergänzung der moralischen Leitplanken, die die Grenzen setzen. Ähnlich wie<br />
diese führen Leitbilder durch die unübersichtliche Welt, und das tun sie dann am besten,<br />
wenn sie einfach und prägnant sind. Einige unserer Leitbilder sind sehr stark mit Produktivität<br />
verknüpft, und zwar sowohl im Wirtschafts- wie auch im Privatleben:<br />
Pareto-Prinzip (80/20-Regel)<br />
Wirtschaft und Privatleben sind durchsetzt – man könnte auch sagen: durchseucht – vom<br />
Geist des sogenannten Pareto-Prinzips. Es lautet in etwa: „Konzentriere Dich auf das<br />
Wesentliche. Belasse es bei demjenigen Aufwand, der das Ergebnis einigermaßen<br />
sicherstellt. Sei nicht perfekt, das ist zu teuer, lass den Rest bleiben und nutze die gewonne<br />
Zeit für etwas anderes.” Quantitativ formuliert besagt es, dass mit 20 % des Aufwandes<br />
häufig bereits 80 % des Ergebnisses erreicht werden, deshalb nennt man es auch 80/20-<br />
Regel.<br />
<strong>Die</strong>se Haltung führt durch Reduktion auf das Wesentliche immer mehr zum Verlust des Eigentlichen:<br />
<strong>Die</strong> Dinge werden nicht mehr anständig zuende gebracht. Es reicht, dass es<br />
funktioniert, Versäubern der Kanten ist nicht nötig. Zum unwesentlichen Rest gehören oft<br />
genug die Ästhetik, die Verantwortung, der Müll, der Umweltschutz, der Tierschutz und die<br />
künftigen Generationen. Erfahrene Menschen haben in der Regel ein gutes Gespür dafür,<br />
wann sie fertig sind und wie weit sie dafür gehen müssen. Aber man lässt sie nicht mehr.<br />
Kernkompetenzen<br />
Ein anderes Leitbild sind die sogenannten Kernkompetenzen. „Mach nur das, was Du am<br />
besten kannst, und versuche darin noch besser zu werden.” Alles andere lass andere machen,<br />
die das besser können und ebenfalls versuchen, darin noch besser zu werden. Es lohnt<br />
sich nicht, seine Mittelmäßigkeiten zu überwinden, man soll an seinen Stärken arbeiten. Am<br />
Ende sind alle in allem besser.<br />
<strong>Die</strong>s ist ein Antrieb für immer stärkere Arbeitsteilung und Wettbewerb.<br />
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Verwaltungsaufwand lenkt ab vom Eigentlichen<br />
Was muss heutzutage nicht alles verwaltet werden! Termine, Steuererklärungen, Meldungen<br />
bei der Sozialversicherung, Statistiken, das eigene Bankkonto, ... Dabei hätte man doch<br />
Wichtigeres zu tun, möchte sich den eigentlichen Aufgaben zuwenden. <strong>Die</strong> Komplexität des<br />
modernen Lebens bedarf nun mal auch einer komplexen Steuerung, Abstimmung mit anderen,<br />
Planung. In Verbindung mit der Idee der Kernkompetenzen sind das dann häufig Tätigkeiten,<br />
die <strong>als</strong> unwürdig und ablenkend empfunden werden. Mindern die eigene Produktivität.<br />
Müssen ausgelagert oder beseitigt werden.<br />
Neben stärkerer Arbeitsteilung hat das vor allem eine umfassende Computerisierung zur Folge,<br />
denn Verwaltung kann ein Computer gut. Das ist eine seiner Kernkompetenzen.<br />
2.5.2 Der soziale Wert der Dinge<br />
Der Wirtschaftswissenschaftler Tim Jackson hat mit „Wohlstand ohne Wachstum” ein mittlerweile<br />
klassisches Buch zum Thema geschrieben. Darin hat er hervorragend verständlich<br />
beschrieben, warum materieller Konsum für uns so wichtig ist, auch wenn wir schon alles<br />
haben. Da ich es selbst nicht besser formulieren kann, mögen er und Sie mir verzeihen,<br />
wenn ich ihn etwas <strong>ausführliche</strong>r zitiere. Natürlich ist auch das nicht neu, aber häufig hilft<br />
uns ja schon eine neue Beschreibung in einem neuen Zusammenhang. <strong>Die</strong> kursiven Hervorhebungen<br />
sind von mir.<br />
„<strong>Die</strong> Lösung des Rätsels ist, dass wir dazu neigen, materielle Dinge mit gesellschaftlicher und<br />
psychologischer Bedeutung aufzuladen. <strong>Die</strong>s wird inzwischen durch zahlreiche Belege aus<br />
der Konsumforschung und der Anthropologie gestützt – eine verheerende Erkenntnis. Konsumgüter<br />
liefern eine Symbolsprache, in der wir unablässig miteinander kommunizieren, und<br />
zwar nicht einfach bloß über die Dinge selber, sondern darüber, was uns wirklich wichtig ist:<br />
Familie, Freundschaft, Zugehörigkeit, Gemeinschaft, Identität, sozialer Status, Sinn und Ziel<br />
im Leben.<br />
Ganz wesentlich dabei: Eben diese gesellschaftliche Konversation ermöglicht die Teilhabe am<br />
gesellschaftlichen Leben. Mit anderen Worten: Der Wohlstand selbst beruht darauf. [...] Man<br />
ist versucht anzunehmen, dass es sich hier um ein vorwiegend westliches (und vergleichsweise<br />
modernes) Phänomen handelt. Belks [Anm. ein Konsumforscher] Studie, aber auch<br />
zahlreiche weitere legen eine andere Deutung nahe. Dem Konsumenten, so die Anthropologin<br />
Mary Douglas, geht es ganz allgemein darum, »an der Erschaffung einer sozialen Welt<br />
mitzuwirken und darin einen glaubwürdigen Platz zu finden«. In jeder Gesellschaft, über die<br />
es Aufzeichnungen gibt, konnten Anthropologen die symbolische Rolle materieller Güter<br />
nachweisen.” (Jackson 2011, S. 67f., Hervorhebungen von mir)<br />
Da wir nun <strong>als</strong>o „dummerweise” Dinge benötigen, um uns über unseren sozialen Wert zu<br />
verständigen, ist klar, dass wir auch ein entsprechendes Einkommen haben müssen, um diese<br />
Dinge zu kaufen. Warum aber reichen uns heute nicht immer noch Muschelschalen oder<br />
bronzene Haarspangen? Weil wir danach streben, in der sozialen Rangordnung der Gesellschaft<br />
weit oben zu stehen. Ein hoher sozialer Status ist statistisch nachweislich mit mehr<br />
Zufriedenheit, besserer Gesundheit, längerer Lebenserwartung verbunden. Man könnte auch<br />
sagen: Je weiter oben man steht, desto geringer ist die Angst, zuwenig zu haben (und umso<br />
größer die Angst vor dem Absturz). Letztlich ist ein Teil unseres Konsums <strong>als</strong>o angstgetrieben.<br />
Ein fetter Mercedes verschafft unter diesem Blickwinkel nicht Zufriedenheit, sondern<br />
Erleichterung und Gewissheit darüber, noch dabeizusein.<br />
Das Problem ist: <strong>Die</strong>ser Statuswettbewerb hört nie auf. „Wenn man die Gesellschaft <strong>als</strong> Ganzes<br />
betrachtet, ist <strong>als</strong>o das Wachstum bei den Einkommen – und der damit verbundene Materialverbrauch<br />
– möglicherweise ein ‚Nullsummenspiel‘. <strong>Die</strong> Bevölkerung wird insgesamt<br />
reicher. Einige Leute werden wohlhabender <strong>als</strong> andere, und vielleicht verschieben sich die<br />
gesellschaftlichen Positionen. Aber insgesamt bringt der Statuswettbewerb wenig oder nichts<br />
für das Niveau des Wohlbefindens in einem Land. Das ist eines der Argumente, mit denen<br />
30
man das Paradox der Lebenszufriedenheit erklärt hat.” (Jackson 2011, S. 70, Hervorhebung<br />
von mir)<br />
Es gibt noch einen weiteren Aspekt: Wir binden uns auch seelisch an Dinge. Wir haben Lieblingsdinge,<br />
die für uns mit tiefen Emotionen verbunden sind, und wir haben praktische Dinge,<br />
die wir nie, nie, nie missen möchten. Es käme uns nicht in den Sinn, sie <strong>als</strong> bloßen Besitz<br />
zu bezeichnen. Bindungen an Dinge können aber auch viel flüchtiger sein, wenn nämlich der<br />
Neuigkeitswert eine wesentliche Rolle spielt: „Viele der neuesten Geräte und Modeartikel sind<br />
anfangs nur den Reichen zugänglich. Neue Produkte sind von Natur aus teuer, weil sie in<br />
kleiner Stückzahl produziert werden. Vielleicht werden sie sogar gezielt zu besonders hohen<br />
Preisen auf den Markt gebracht, um diejenigen anzulocken, die für soziale Abgrenzung zu<br />
zahlen in der Lage sind. Auf die Abgrenzung erfolgt die Nachahmung. Der soziale Vergleich –<br />
nämlich das haben zu wollen, was andere haben – erhöht die Nachfrage nach erfolgreichen<br />
Produkten rasant und ermöglicht die Massenproduktion.” (Jackson 2011, S. 111)<br />
<strong>Die</strong> beliebtesten Produkte überhaupt, mit dem größten Hype und der stärksten Bindung, sind<br />
dann jene, die alle folgenden Bedingungen erfüllen:<br />
• Sie sind neu<br />
• Sie sind teuer<br />
• Sie können zu einem Lieblingsding werden<br />
• Sie steigern massiv unsere persönliche Produktivität. Mehr zu diesem Punkt weiter<br />
unten in Produktivität und Lebensstandard<br />
Das iPhone erfüllt alle diese Bedingungen und ist deshalb buchstäblich zu einem Symbol des<br />
modernen Konsums geworden.<br />
2.5.3 Der soziale Wert des Geldes<br />
Auch wenn man den meisten Menschen ihr Einkommen oder ihr Vermögen nicht direkt ansehen<br />
kann, sondern nur indirekt über Kleidung, Auftreten und sichtbares Eigentum, so ist<br />
Geld doch für den Einzelnen bereits ein direkter, „innerer Sozi<strong>als</strong>tatus”, auch wenn es noch<br />
gar nicht ausgegeben wurde. Geld ist Leistungserwartung an die Gemeinschaft, und es<br />
drückt wirtschaftliche Macht aus, indem der Besitzer entscheiden kann, über welche Waren<br />
oder <strong>Die</strong>nstleistungen er die Arbeitsleistung anderer für sich nutzen kann und im wahrsten<br />
Sinne des Wortes im Wohlstand leben wird.<br />
Geld ist ein sehr einfacher Weg, um auf unpersönlichem Wege Anerkennung für Leistung<br />
auszudrücken bzw. anzusammeln. <strong>Die</strong> Messbarkeit und Vergleichbarkeit von Geldbeträgen<br />
vereinfachen auch den sozialen Bereich des Lebens. So wie die Markttheorie den Preis <strong>als</strong><br />
Ersatz für den Wert ansieht, so ist Geld ein Ersatz für soziale Anerkennung. Ein hohes Gehalt<br />
oder ein hoher Gewinn sind eine starke Motivation. Jede wirtschaftliche Nachfrage ist somit<br />
auch eine soziale Nachfrage.<br />
2.5.4 Sportsgeist und Wettbewerb<br />
<strong>Die</strong> Kernbotschaft unserer Gesellschaft ist so einfach, dass man sie heute nicht weiter erklären<br />
muss, und sie ist von durchschlagendem Erfolg: „Handle in Deinem eigenen Interesse!<br />
Maximiere Dein Glück und Dein Geld!” Unser Wohlstand ist das Ergebnis vieler Egoismen, die<br />
– weil alle in die gleiche Richtung gerichtet – zu einem beeindruckenden Gesamtergebnis<br />
führen, von dem jeder profitiert, auch die Armen (zumindest hierzulande). Dafür sorgt das<br />
System der staatlichen Umverteilung, welches den Reichen ein bisschen nimmt und den Armen<br />
gibt. Am Ende haben alle mehr.<br />
<strong>Die</strong> Marktwirtschaft ist deshalb so erfolgreich, weil sie es seit längerem schafft, die Energie<br />
des Einzelnen in Vorteile für ihn und die Gesellschaft zu transformieren. Sie verbindet geschickt<br />
das individuelle Wachstum mit dem Wachstum der Wirtschaft: Indem man auf eigene<br />
31
Rechnung arbeitet, arbeitet man gleichzeitig für das Ganze, wenn auch oft mit Härten und<br />
Vergeudung verbunden. Aber es geht schneller <strong>als</strong> über die Abstimmung mit den vielen anderen<br />
und besser <strong>als</strong> in einer Planwirtschaft. Man braucht sich dabei nicht verantwortlich zu<br />
fühlen, außer für sich selbst.<br />
Sportsgeist im Wirtschaftsleben<br />
Es ist dabei egal, ob man <strong>als</strong> Freiberufler oder Unternehmer die eigene Sache voranbringt,<br />
oder ob man sich <strong>als</strong> Mitarbeiter die Sache von jemand anderem zu eigen gemacht hat. Und<br />
letztlich lässt sich jeder packen, auch in dem blödesten Job findet man den Punkt, wo man<br />
sportlichen Ehrgeiz entwickeln kann, denn ohne Identifikation ist der Mensch praktisch handlungsunfähig.<br />
Wenn die Sache aber gut läuft, dann entwickelt der Mitarbeiter in seinem Bereich<br />
Unternehmergeist, denkt mit, ist initiativ und innovativ und stärkt somit seine eigene<br />
Zufriedenheit – und natürlich die Zufriedenheit derjenigen, für die er arbeitet.<br />
Stets gibt es zwei Anteile:<br />
• <strong>Die</strong> äußere Belohnung: Das Lob von Kollegen und Vorgesetzten, die Gehaltserhöhung,<br />
die Begeisterung der Kunden, die Anerkennung der Familie und der Freunde,<br />
...<br />
• Der sportliche Ehrgeiz aus sich selbst heraus, denn es gehört zu den Wesenszügen<br />
des Menschen, dass er ordentliche Arbeit leisten möchte. Es gibt eine hohe innere<br />
Bereitschaft, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen. Man möchte mit seiner<br />
Leistung zufrieden sein. Alles andere ist pathologisch.<br />
Gute Arbeitgeber und Auftraggeber wissen das, und sie tun alles dafür, damit sich diese Zufriedenheit<br />
einstellt, denn es gibt definitiv keinen größeren Leistungsanreiz. Niemand arbeitet<br />
besser <strong>als</strong> derjenige, der selbst mit seinen Ergebnissen zufrieden sein möchte.<br />
Ich halte das, was ich hier „Sportsgeist” nenne, für eine immens wichtige Voraussetzung des<br />
Wirtschaftswachstums. Es ist pure Energie. Sportsgeist und Wettbewerb sind der wirtschaftliche<br />
Antrieb schlechthin. Jeder spielt mit, und diese riesige Mannschaft bringt die Wirtschaft<br />
voran.<br />
Der Sportsgeist wird ständig weiter angestachelt, indem die Erwartungen hochgeschraubt<br />
werden. In dem Jubelheft einer internationalen Spedition las ich vor einiger Zeit einen Bericht<br />
über Messebauer, die stolz sind, eine Baumaschinenmesse in zwei Tagen aufbauen zu<br />
können. Und über die Logistiker, die sich zum Ziel setzen, dass jedes Ersatzteil innerhalb von<br />
24 Stunden überall auf der Welt verfügbar sein soll. Der sportliche Gegner sind die Konkurrenzfirmen.<br />
Ob es für die Menschen sinnvoll ist, dass es schnell geht, wird nicht hinterfragt,<br />
denn der Sinn wird innerhalb des Systems erzeugt. So glaubt auch noch jeder, einen Beitrag<br />
zum „großen Ganzen” zu leisten. Im System des Wettbewerbs und der gegenseitigen wirtschaftlichen<br />
Abhängigkeiten steigt das Niveau der zu erwartenden Leistung permanent weiter<br />
an. Reichten gestern noch vier Tage für den Messeaufbau, so sind es heute zwei und soll<br />
es morgen einer sein. Es gibt keine Grenze – was möglich ist, wird gemacht, und es wird<br />
versucht, es besser zu machen, <strong>als</strong> es eigentlich möglich ist. Und schon haben sich die Erwartungen<br />
wieder verschoben.<br />
Gänzlich unerträglich scheint es auch zu sein, nicht der erste zu sein, der eine bestimmte<br />
Idee hat, der eine Marktlücke bemerkt, der eine Spekulation wittert. Das triumphierende<br />
Gefühl der eigenen Glorie, wenn man vorn ist und die anderen hinter sich weiß, scheint einen<br />
starken Glanz zu haben.<br />
„Eine stationäre Wirtschaft ist [...] gänzlich undenkbar – sie wird sofort mit Stillstand in der<br />
Wohlstands- wie in der Persönlichkeitsentwicklung assoziiert.” (Welzer 2011 S. 24, Hervorhebung<br />
von mir) Das Ergebnis: „Eine prinzipiell unendliche Reihe von Produkten [...] Nichts<br />
ist jem<strong>als</strong> fertig, die Arbeit hört niem<strong>als</strong> auf.” (Welzer 2011 S. 20)<br />
32
Sportsgeist im Privatleben<br />
Und der Mensch stellt sich darauf ein: Sportsgeist ist auch im Privaten eine große Motivationsquelle.<br />
Schaffe ich die Ampel noch oder nicht? Kriege ich die S-Bahn? Komme ich mit<br />
dem Fahrrad den Hügel hoch? Wir suchen die Herausforderung im Großen wie im Kleinen.<br />
<strong>Die</strong> Überwindung von Hindernissen ist eine Überlebensstrategie, und wenn die beruhigte<br />
Natur um uns herum nicht mehr genug Überlebenshindernisse bietet, müssen wir uns selbst<br />
welche definieren.<br />
Auch die ganze Geiz-ist-geil-Debatte und das Schnäppchenjägertum lassen sich meines Erachtens<br />
wesentlich auf das Phänomen „Sportsgeist” zurückführen. Der Preis ist die sportliche<br />
Herausforderung, sozusagen die Messlatte, die es zu reißen gilt, und die Anbieter sind die<br />
Wettkämpfer, die wir herausfordern zum Zweikampf. Verstärkt wird dieses Phänomen durch<br />
die Anonymität großer Anbieter oder Internet-Anbieter, das senkt die moralischen Hürden.<br />
Unser Gewinn ist der Stolz, etwas billiger <strong>als</strong> alle anderen erworben zu haben – eine monetäre<br />
Goldmedaille, Ruhm und Ehre im Bekanntenkreis.<br />
Wer heute aufwächst, wächst in dem Bewusstsein auf, dass jeder seines Glückes Schmied ist<br />
und seine Biografie darauf auszurichten muss, wenn er denn an dem schönen Spiel teilnehmen<br />
möchte. Was in der Marktwirtschaft <strong>als</strong> Wettbewerb dazugehört, findet zwangsläufig<br />
seine Entsprechung im Privaten: Der Wettbewerb prägt mittlerweile alle Facetten des Lebens,<br />
und mit der Gestaltung der Biografie fangen ehrgeizige Eltern schon im Kleinkindalter<br />
an. Bis zum Eintritt in das Berufsleben ist ein unglaublicher Staffellauf von Qualifikationen zu<br />
absolvieren, und wer ins Ziel kommt, gehört zur neuen Kaste der „High Potenti<strong>als</strong>”. <strong>Die</strong> Wirtschaftsbiografie<br />
<strong>als</strong> Krone der Selbstverwirklichung.<br />
<strong>Die</strong> Unternehmen spielen für die derart in den „modernen Adelsstand” Erhobenen die Rolle<br />
des Ritterschlägers: Viel Geld und ein hohes Sozialprestige winken <strong>als</strong> Gegenleistung für<br />
Treue und hohe Arbeitsleistung ihrem Lehnsherren gegenüber – wobei es mit der Treue nur<br />
solange gut geht, bis sie das Königreich wechseln. Aber im Kern ist es immer das Gleiche:<br />
Wie kann man den Sportsgeist eines Menschen anstacheln? Ihn dazu bringen, ohne Peitsche<br />
Höchstleistungen zu vollbringen? Ihn zu Treue und Loyalität anhalten?<br />
Sportsgeist in höheren Sphären<br />
Eine besondere Variante scheint vor allem eine Domäne der Männer unter den Menschen zu<br />
sein: Wir wollen sein wie Gott. Hier ist der sportliche Gegner die Natur. Roboter werden immer<br />
ausgefeilter, die Künstliche Intelligenz wird weiterentwickelt (gerne auch beides kombiniert),<br />
die medizinischen Grenzen werden immer weiter hinausgeschoben. Mit der Gentechnologie<br />
wird in den Fortpflanzungsprozess direkt eingegriffen, was zuvor schon indirekt bei<br />
der Züchtung von landwirtschaftlichen Hochleistungstieren geschehen ist. Man möchte besser<br />
sein <strong>als</strong> die Natur, und man möchte diese Macht dann auch durch Patente abgesichert<br />
wissen.<br />
Grundsätzlich geht es bei Sportsgeist und Wettbewerb um positive Eigenschaften des Menschen.<br />
Sie werden allerdings zu einseitig auf das Feld Wirtschaft ausgerichtet und zu einseitig<br />
gegenüber Kooperation und Mäßigung gefördert. Es muss erlaubt sein, die Frage zu stellen:<br />
Wer befürwortet Wettbewerb, und auf wessen Kosten geht er? Das Konzept des Wettbewerbs<br />
und seine Ausweitung werden typischerweise von den Starken eingefordert, und<br />
schon allein das sollte Misstrauen wecken. Es besteht der Verdacht, dass das nichts anderes<br />
<strong>als</strong> eine Form von Lobbyismus in eigener Sache ist.<br />
2.5.5 Sportsgeist und Widerstand<br />
Verbote, Schranken und Grenzen haben vor allem einen Effekt: Sie wecken Widerstand bei<br />
jenen, die davon betroffen sind. Und zwar grundsätzlich, denn der Mensch ist (auch) Individualist,<br />
und ein Eingreifen in sein individuelles Handeln stellt zunächst mal eine Kränkung<br />
dar, egal ob das Verbot legitim ist oder nicht. Das individuelle Gerechtigkeitsempfinden ist<br />
33
verletzt, oder das Verbot macht die Sache erst interessant. Wer Kinder hat, kennt das. <strong>Die</strong><br />
Psychologen nennen das Phänomen „Reaktanz”.<br />
Je nach Schwere dieses Eingriffs sinnt der Mensch auf Abhilfe und überlegt, wie er das System<br />
austricksen kann. Das ist ein völlig normaler und gesunder Vorgang, eine Form von<br />
Sportsgeist und Spieltrieb. Jedes Kind macht das mit elterlichen Verboten. Es gibt sogar Gemeinschaften,<br />
die das kultiviert haben: Menschen, die sich treffen, um Schlösser zu knacken<br />
(Grundsatz: Knacke nie ein Schloss ohne Erlaubnis des Eigentümers). Oder der Hamburger<br />
Chaos Computer Club, der das Hacken von Computern zum Aufklären der Gesellschaft betreibt.<br />
Solche Ansätze sind jedoch selten. Häufiger überwiegen die Suche nach dem eigenen Vorteil<br />
oder die Destruktivität, und dabei werden Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Kreditkartenbetrug,<br />
Steuerhinterziehung, F<strong>als</strong>chparken: Immer ist auch die findige Suche nach der<br />
Lücke im System dabei. Das Entscheidende ist: Es weckt Energie. Viel Energie. Energie, die<br />
man besser auf etwas anderes richten könnte. Hacker und Computerviren sind einfach nur<br />
Beispiele für fehlgeleitete Kreativität.<br />
Jedenfalls muss sich jeder, der sich ein System mit Grenzen ausdenkt (z. B. der Gesetzgeber)<br />
mit diesem Effekt befassen, denn er tritt unweigerlich auf. Demokratisch beschlossene<br />
Verbote sind dann besonders problematisch, wenn sie im Widerspruch zu anderen offiziellen<br />
oder inoffiziellen Botschaften stehen: Widersprüche reizen besonders zum Widerstand. <strong>Die</strong><br />
Grenzen müssen wohlbegründet sein und auf die Fälle beschränkt bleiben, wo es sich lohnt,<br />
Grenzverletzungen zu verfolgen – und auf die Fälle, wo das überhaupt möglich ist. Beim<br />
Thema Internet werden wir noch einmal darauf zurückkommen.<br />
Das ist eine wesentliche praktische Begründung für den liberalen Grundsatz: Der Staat soll<br />
sich raushalten, wo immer es geht. Es weckt schlicht weniger Widerstand, und eigentlich<br />
möchte man Menschen mit ihrer Motivation nicht bremsen, sondern fördern.<br />
2.6 Antrieb der Wirtschaft<br />
Aus diesen Quellen schöpfen die Unternehmer ihre Energie für Wirtschaft und Wettbewerb.<br />
2.6.1 Unternehmer <strong>als</strong> Helden<br />
Wir haben uns daran gewöhnt, dass jeder, der wirtschaftlich etwas unternehmen will, nicht<br />
nur möglichst ungehindert agieren darf, sondern sogar unter allen Umständen gefördert<br />
wird. „Unternehmer” ist ein extrem positiv besetzter Begriff. Ihm werden alle Hürden aus<br />
dem Weg geräumt, er darf über eine Kapitalgesellschaft seine persönliche Haftung reduzieren,<br />
er bringt Menschen in Lohn und Brot, er verbessert unser Leben, sein Handeln ist ein<br />
leuchtendes Vorbild für alle anderen. Keine sich bietende Möglichkeit darf ausgelassen werden.<br />
Ein ähnlicher Mythos ist der des „Leistungsträgers”. Das ist Sozi<strong>als</strong>tatus pur.<br />
<strong>Die</strong>se Zuschreibungen nähren aufgrund der übertrieben positiven Bewertung durch die Gesellschaft<br />
die Eitelkeit. Eitelkeit ist eine Leuchtkraft, die durch äußere Bestätigung entsteht.<br />
Es besteht meines Erachtens außerdem der Verdacht, dass einige Leistungsträger ihre Motivation<br />
aus Kränkung beziehen und es irgendjemandem so richtig beweisen wollen: Ihrem<br />
Vater oder ihrer Mutter, „den” Männern oder „den” Frauen, dem ehemaligen Lehrer, den<br />
Mitschülern, dem Bruder, der Schwester, dem Konkurrenten, der Menschheit ... Anders lässt<br />
sich dieses Ausmaß an wirtschaftlicher Energie gar nicht erklären. Das Buch „<strong>Die</strong> heimlichen<br />
Gewinner” von Hermann Simon liefert dafür (unfreiwillig) einen Haufen Beispiele.<br />
Es muss die Frage erlaubt sein, welche wirtschaftlichen Unternehmungen wir <strong>als</strong> Gesellschaft<br />
haben wollen und welche nicht, wenn der Unternehmergeist uns gegen die Wand fährt. <strong>Die</strong><br />
Dominanz der Siegertypen muss ein Ende haben. Es wird immer Menschen geben, die mit<br />
Komplexität besser umgehen können, die einen besseren Riecher haben, kreativer sind,<br />
34
schneller sind. Aber diese dürfen nicht immer die anderen dominieren. <strong>Die</strong> Handlungsfreiheit<br />
für die Unternehmer schränkt mehr und mehr die Handlungsfreiheit der Individuen ein.<br />
2.6.2 Gewinn und Reichtum<br />
Zins für Kapital über das Risikoentgelt hinaus und Arbeitslohn über die „eigentliche” Arbeitsleistung<br />
hinaus sind leistungslose Einkommen. Mitunter bis hin zum Reichtum. Wie hoch der<br />
leistungslose Anteil in beiden Fällen tatsächlich ist, darüber gibt es einen heftigen gesellschaftlichen<br />
Streit, siehe die Renditeerwartungen von Kapitalgesellschaften oder Gehälter<br />
und Boni von Managern. Beim reinen Kapital ist es noch relativ einfach: Jeder, der von einer<br />
Geldanlage mehr erwartet <strong>als</strong> Rückzahlung plus einen angemessenen Risikoausgleich, erwirbt<br />
ethisch inakzeptables Geld ohne Gegenleistung. Wenn Herr Ackermann <strong>als</strong> Renditeerwartung<br />
für die Deutsche Bank 25 % für angemessen erklärt (welt-online, 24.05.2010) und<br />
bei der Begründung darauf verweist, dass im verarbeitenden Gewerbe eher noch höhere<br />
Renditen erzielt werden, dann ist wohl weder bei der Deutschen Bank noch im verarbeitenden<br />
Gewerbe alles in Ordnung. Ein Ausfallrisiko von jährlich 25 % für die gesamte Investition<br />
erscheint nicht ganz realistisch. <strong>Die</strong> Gegenleistung besteht in diesen Fällen wohl eher im erpresserischen<br />
Versprechen von Arbeitsplätzen. Was die Gesellschaft hier akzeptiert, ist ganz<br />
maßgeblich für die Schnelligkeit des Wachstums verantwortlich.<br />
Ein dauerhafter, in Summe über alle Unternehmen positiver Gewinn kommt, wie Binswanger<br />
anschaulich beschreibt, nur durch einen Anstieg der Geldmenge zustande (Binswanger 2009<br />
S. 17ff.). Das heißt: Durch einen Anstieg der Leistungshoffnung. Immer mehr Geld muss<br />
erwirtschaftet werden, um die immer höheren Leistungsverpflichtungen zu erfüllen. Letztlich<br />
sind <strong>als</strong>o Gewinn, Wirtschaftswachstum und Anstieg der Geldmenge direkt miteinander verknüpft.<br />
2.6.3 Haftungsbeschränkung<br />
<strong>Die</strong> mit Abstand wichtigste Rechtsform von großen Unternehmen ist die Kapitalgesellschaft.<br />
Eine Kapitalgesellschaft kann man sich etwa so vorstellen: Geldgeber geben einer Person<br />
Geld, damit sie damit etwas unternimmt. Wenn es gut geht, macht die Person Gewinn und<br />
kann den Geldgebern immer wieder etwas zurückgeben (Ausschüttungen). Wenn es schief<br />
geht, ist das Geld weg. Aber die Person hat kein Anrecht darauf, mehr Geld zu verlangen <strong>als</strong><br />
die Geldgeber von sich aus geben möchten. Und niemand, der mit der Person Geschäfte<br />
gemacht hat, kann von ihr mehr Geld verlangen <strong>als</strong> sie hat: Ihre Haftung ist beschränkt auf<br />
das, was sie hat. <strong>Die</strong>se Person ist nicht aus Fleisch und Blut, sondern nur eine Idee, eine<br />
„juristische Person”. Man nennt sie auch „Gesellschaft”, und die Geldgeber nennt man bei<br />
der Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) „Gesellschafter”, bei der Aktiengesellschaft<br />
(AG) „Aktionäre”.<br />
Kapitalgesellschaften haften <strong>als</strong>o nur mit dem Vermögen, welches sie selbst besitzen. Das<br />
Vermögen derer, die wiederum die Kapitalgesellschaft besitzen, ist vor jedem Zugriff geschützt<br />
– und damit auch vor Verantwortung. Das nennt man die Haftungsbeschränkung von<br />
Kapitalgesellschaften. Wenn eine Kapitalgesellschaft eine Pleite hinlegt, dann haben alle, die<br />
ihr Geld schulden oder andere Leistungen von ihr erwarten, das Nachsehen, es sei denn,<br />
man kann den Geschäftsführern bzw. dem Vorstand nachweisen, dass sie ihre Pflichten<br />
strafrechtlich relevant verletzt haben, dann hat man unter Umständen Anspruch auf Schadenersatz<br />
(dieses Risiko ist übrigens mit ein Grund für hohe Geschäftsführer- und Vorstandsbezüge).<br />
<strong>Die</strong> eigentlichen Geldgeber haften nie mit mehr <strong>als</strong> ihrem Anteil, den sie ja<br />
schon eingezahlt haben.<br />
Sinn dieser Haftungsbeschränkung ist die Erkenntnis, dass die allermeisten Firmengründungen<br />
mehr oder weniger Erfolgsgeschichten sind und dass man mehr Wirtschaft hat, wenn<br />
man das unternehmerische Handeln in diesem Punkt erleichtert. Wer eine Kapitalgesellschaft<br />
gründet, der investiert sowieso mindestens das sogenannte Stammkapital (die finanzielle<br />
35
Grundausstattung des Unternehmens), hat <strong>als</strong>o in der Regel ein Interesse am Erfolg. Man<br />
möchte Unternehmern einen Vertrauensvorschuss geben, sie ermuntern, ein gewisses Maß<br />
an Risiko einzugehen, ohne ihre gesamte finanzielle Zukunft aufs Spiel zu setzen. Und meistens<br />
klappt das auch ganz gut, und deshalb stehen GmbH und AG für beispielloses wirtschaftliches<br />
Wachstum. <strong>Die</strong> Haftungsbeschränkung ist eine der Hauptvoraussetzungen für<br />
die Bereitschaft zum Eingehen wirtschaftlicher Risiken. Das Stammkapital ist letztlich auch<br />
eine Form von Kredit der Geldgeber an die Gesellschaft.<br />
Für Bankkredite an GmbH's werden häufig dann doch die Gesellschafter zur Hinterlegung<br />
von Sicherheiten verpflichtet, den Banken ist das sonst zu heiß. Und größere Lieferanten<br />
schauen sich eine Kapitalgesellschaft auch genau an, bevor sie liefern, denn bei Insolvenz<br />
müssen sie den meist mageren Rest mit allen anderen teilen.<br />
Das Konstrukt gerät dann in eine Schieflage, wenn die Kapitalgesellschaft Risiken eingeht,<br />
die in keinem Verhältnis zu ihrer wirtschaftlichen Potenz stehen. Da eine Kapitalgesellschaft<br />
keinen unabhängigen Aufpasser hat, kann das ziemlich leicht passieren – der Geschäftsführer<br />
bzw. Vorstand muss sich nur gehörig selbst überschätzen oder genügend kriminelle Energie<br />
besitzen. Müllbeseitigungsfirmen, die illegal Müll entsorgen, Telefongesellschaften, die<br />
sich von ihren Kunden üppige Vorauszahlungen überweisen lassen, sind aktuelle Beispiele.<br />
Sie können Pleite gehen, ohne für die Folgen ihres Handelns geradestehen zu müssen. Sie<br />
können ganz offiziell verantwortungslos sein. Das Risiko tragen dann Lieferanten, die auf<br />
unbezahlten Rechnungen sitzen bleiben, Kunden, die keine Leistungen erhalten, und die soziale<br />
Gemeinschaft, die die Überreste beseitigen muss.<br />
Genossenschaften<br />
Viel ist derzeit die Rede von Genossenschaften <strong>als</strong> „nichtkapitalistische Alternative”. Manch<br />
einer kennt sie <strong>als</strong> Wohnungsbau-Genossenschaft, aber auch die Volksbanken und Raiffeisenbanken<br />
sind Genossenschaften. Als Beispiel nehme ich hier landwirtschaftliche Genossenschaften,<br />
wo sich Landwirte zusammengeschlossen haben, um Geräte gemeinsam zu nutzen,<br />
gemeinsam in größeren Mengen einzukaufen und auch zu verkaufen. Größere Mengen sind<br />
immer einfacher: Weniger Verwaltungsaufwand, mehr Marktmacht. Dazu legen alle Geld<br />
zusammen, die Genossenschaftsanteile. Sie bilden das Kapital. <strong>Die</strong> Genossenschaft erhält<br />
ebenfalls einen Vorstand. Und dann wirtschaftet die Genossenschaft: <strong>Die</strong> Nutzung der Geräte<br />
wird geplant und zugeteilt, im Genossenschaftsladen kann man preiswert einkaufen und seine<br />
produzierten Güter an die Genossenschaft verkaufen, die sie dann weiterverkauft. Der<br />
Gewinn der Genossenschaft ist eher zweitrangig und wird entweder investiert oder an die<br />
Genossen ausgezahlt. Der eigentliche Gewinn für die Genossen besteht im „Wirtschaften” mit<br />
der Genossenschaft.<br />
<strong>Die</strong> Haftung ist bei Genossenschaften flexibler: Sie kann begrenzt oder unbegrenzt sein, die<br />
Gestaltung der Satzung besitzt hier Freiheiten.<br />
2.6.4 Beteiligungen<br />
Eine sehr bedeutsame Eigenschaft von Kapitalgesellschaften ist ihre rechtliche Eigenständigkeit,<br />
unabhängig von den jeweiligen Eigentümern: Sie ist eine juristische Person. In dieser<br />
Eigenschaft kann sie in Teilen oder <strong>als</strong> Ganzes den Eigentümer wechseln. Eigentümer kann<br />
dabei auch eine andere Kapitalgesellschaft werden, man spricht von Beteiligungen. <strong>Die</strong> Wirtschaftswelt<br />
ist voll von Beteiligungen, z. T. bestehen riesige Beteiligungsgeflechte. Ein Teil<br />
dieses Geflechtes war mal <strong>als</strong> „Deutschland AG” bekannt: Große deutsche Banken, Versicherungen<br />
und Industrieunternehmen waren gegenseitig aneinander beteiligt, und in den Aufsichtsräten<br />
saßen immer wieder die gleichen Leute.<br />
Beteiligungen sind interessant, weil man damit Macht ausüben kann, denn gemäß den erworbenen<br />
Anteilen besitzt man Stimmrechte und kann die Geschicke des Unternehmens beeinflussen.<br />
Und Beteiligungen sind leicht wieder zu verkaufen, weil die Organisationsstruktur<br />
36
des Unternehmens nicht angetastet wird, im Gegensatz zu einer Fusion. Auf diese Weise<br />
können Beteiligungen mit wenig organisatorischem Aufwand zu großen Machtkonzentrationen<br />
führen: Viele rechtlich eigenständige Unternehmen stehen letztlich unter einer gemeinsamen<br />
Kontrolle.<br />
2.6.5 Subventionen<br />
Sie nennen sich Gründungszuschuss, Überbrückungsgeld, Ansiedlungspolitik, Steuererleichterung,<br />
Infrastrukturförderung, Stillegungsprämie, Garantiepreise und derlei mehr. Gemeint ist<br />
aber immer das Gleiche: Subventionen, <strong>als</strong>o bewusste, staatliche, finanzielle Förderungen<br />
privatwirtschaftlicher Tätigkeit, mit der Begründung, der reine Markt sei aus irgendeinem<br />
Grunde zu streng. Man ist der Meinung, mit einem Marktpreis, der auf einer normalen Kostenkalkulation<br />
beruht, kommt das Unternehmen nicht weiter.<br />
<strong>Die</strong> Gründe sind unglaublich vielfältig: Man möchte nicht, dass noch mehr Landwirte pleite<br />
gehen, man möchte junge Selbständige unterstützen oder die Umwelt schonen, man möchte<br />
nicht zu viel Ärger mit den Kohlekumpels, man möchte ein Unternehmen hier ansiedeln und<br />
nicht im anderen Bundesland, man möchte die Flugzeuglobby nicht vergrätzen oder einen<br />
Großverbraucher von Energie etwas entlasten ... In einer echten Marktwirtschaft sind Subventionen<br />
ein „Geht gar nicht”. Beispielsweise schufen Immobilienförderprogramme in den<br />
USA in Verbindung mit anderen staatlichen Maßnahmen einen regelrechten Eigenheim-Hype,<br />
der über komplexe Finanzprodukte dann 2008 die Bankenkrise auslöste.<br />
Subventionen fördern noch nicht einmal immer das Wachstum, sondern gegebenenfalls nur<br />
das Wachstum einer Region auf Kosten einer anderen. Subventionen der Bundesländer sind<br />
häufig nur eine Gegenmaßnahme für Subventionen anderer Bundesländer. Im Ergebnis ist<br />
das Geld dann zweimal weg.<br />
Bestimmte Lohnanteile werden durch staatliche Steuersubventionen finanziert: Steuerfreie<br />
Sonntags-, Nacht- und Feiertagszuschläge und Fahrtkostenerstattungen für Arbeitnehmer.<br />
Wenn die Erbringung einer wirtschaftlichen Leistung Nachtarbeit erfordert, dann hat sich das<br />
in einer echten Marktwirtschaft gefälligst im Preis niederzuschlagen. Wenn eine Produktion<br />
so umfangreich oder komplex ist, dass die Arbeitnehmer von weit her kommen müssen, um<br />
den Laden am Laufen zu halten, ebenso. <strong>Die</strong>se Kosten hätte <strong>als</strong>o eigentlich der Arbeitgeber<br />
zu übernehmen und auf den Preis umzulegen. Dass das nicht passiert, liegt an der gesellschaftlichen<br />
Erpressung mit den Arbeitsplätzen durch die Unternehmer, die sich geschickt mit<br />
den Arbeitnehmern verbünden, die solche Zuschläge erhalten und natürlich auch weiterhin<br />
nicht versteuern möchten. <strong>Die</strong> begreifen nämlich nicht, dass nicht sie davon profitieren, sondern<br />
der Arbeitgeber, der den höheren Lohn spart und ihn sich von der Gesellschaft bezahlen<br />
lässt.<br />
Subventionen sind in der Wirtschaft das, was Doping im Sport ist: Unerlaubte Leistungssteigerungen.<br />
In einer Zeit, wo die Gesellschaft mit dem Drohwort „Arbeitsplätze” erpressbar<br />
geworden ist, spielen Subventionen eine traurige Hauptrolle im Prozess des Wirtschaftswachstums.<br />
2.6.6 Ressourcen <strong>als</strong> normale Waren<br />
Nichterneuerbare Ressourcen stellen auf dieser Welt etwas Besonderes dar: Steinkohle, Erdöl,<br />
Metalle, Mineralien, ... Sie sind eigentlich ein Erbe der gesamten Menschheit, denn niemand<br />
hat sie geschaffen. Sie werden seit langem genutzt, aber erst seit etwa 250 Jahren hat<br />
dieser Verbrauch akut gefährliche Größenordnungen erreicht, mit dem Beginn der Technischen<br />
Revolution, dem Aufkommen von Kraftmaschinen auf der Basis von fossilen Brennstoffen,<br />
dem stark ansteigenden Stahlverbrauch und der Kunststoffproduktion. Zum einen werden<br />
die noch verfügbaren Ressourcen spürbar gemindert, zum anderen belasten uns die<br />
37
Rückstände insbesondere der Erdöl- und Kohlenutzung immer stärker, <strong>als</strong> CO2-Emissionen<br />
und Kunststoffmüll.<br />
Der Markt kann für solche „Waren” keinen brauchbaren Preis bilden, denn er besitzt keine<br />
Mechanismen, die die Begrenztheit dieser Ressourcen sowie ihre Stellung <strong>als</strong> „Welterbe” berücksichtigen.<br />
Somit kommt es zu einer Preisbildung, die lediglich den Aufwand der Gewinnung<br />
berücksichtigt sowie das Erpressungspotential der Förderländer (Stichwort OPEC). Eine<br />
aktive Verwaltung der absoluten Verbrauchsmengen gibt es bisher nur in Ansätzen, nämlich<br />
den Emissionshandel für CO2. <strong>Die</strong>ser wird sicherlich einmal mehr Wirksamkeit entfalten,<br />
greift aber insgesamt zu kurz, da er sich auf die fossilen Ressourcen und hier nur auf die<br />
Verbrennung beschränkt.<br />
Insgesamt stellt die Tatsache, dass es für nichterneuerbare Ressourcen keine generelle Kontingentierung<br />
gibt, eine starke Förderung entsprechender Wirtschaftszweige dar.<br />
2.6.7 Patente<br />
<strong>Die</strong> Möglichkeit der Patentierung basiert auf dem Grundsatz „Leistung soll sich lohnen”. Um<br />
zu verhindern, dass ein anderer die Früchte erntet, die der Erfinder mühsam gezogen hat,<br />
wird dem Erfinder für eine begrenzte Zeit (maximal 20 Jahre) ein Ausschließlichkeitsrecht für<br />
die gewerbliche Nutzung der patentierten Erfindung erteilt. Patente sind somit ein explizites<br />
Mittel zur Förderung von Innovationskraft und wirtschaftlicher Tätigkeit.<br />
Dabei sind die Patentgesetze stets eine Gratwanderung zwischen Förderung und Behinderung<br />
von Innovationen, denn ein zu starker Patentschutz kann dazu führen, dass die Erfindung<br />
durch den Erfinder nur unzureichend genutzt wird, ihre Nutzung aber vielen anderen<br />
verwehrt bleibt. Eine zweite kritische Stelle des Patentrechtes ist die Frage, was alles patentierbar<br />
ist. Insbesondere Patente im biomedizinischen Bereich stehen dabei im Zentrum der<br />
öffentlichen Diskussion, denn Profit auf der Basis von Gesundheitsleistungen führt schnell zu<br />
der Frage nach dem Preis von Leben und Tod. Aber auch andere „Patente auf Leben”, beispielsweise<br />
auf Saatgut im landwirtschaftlichen Bereich, geraten in die Kritik, da sie der Idee<br />
der ungehinderten biologischen Vermehrung widersprechen.<br />
2.6.8 Aufweichung der Grundrechte<br />
<strong>Die</strong> Grundrechte des Menschen werden abgewogen gegen Wirtschaftsinteressen, und diese<br />
Waage neigt sich mangels schwächerer Lobby auf der Seite der Grundrechte immer mehr<br />
der anderen Seite zu:<br />
• Grundrecht auf Arbeit<br />
• Grundrecht auf Schutz der natürlichen Umwelt<br />
• Grundrecht auf Schutz der Gesundheit<br />
• Schutz der Allmende „Öffentlicher Raum” vor Werbung, Lärm, optischer Vermüllung,<br />
Flächenmissbrauch<br />
2.7 Produktivitätssteigerung<br />
<strong>Die</strong> Kombination aus angstgetriebenem Konsum und Sportsgeist ist verheerend. Menschen<br />
und Wirtschaft überbieten sich mittlerweile in einer ständigen Erhöhung der Produktivität, die<br />
im Privaten „Lebensstandard” heißt.<br />
2.7.1 Der Schwung trägt weiter<br />
Früher, <strong>als</strong> das Leben noch hart war, lautete die Wahl: Frieren oder hungern. Manchmal<br />
musste man auch beides. <strong>Die</strong> Arbeitszeit reichte in Gegenden mit rauherem Klima oft nicht<br />
aus, um alle Grundbedürfnisse zu befriedigen. <strong>Die</strong> Werkzeuge waren einfach, Material war<br />
38
wertvoll, man war den Elementen ziemlich ausgeliefert. Wirtschaftswachstum war überlebenswichtig.<br />
Erst durch Verbesserung der Wirtschaftsweise war es im Laufe der Zeit möglich,<br />
auch in weniger lebensfreundlichen Gegenden <strong>als</strong> Afrika brauchbar Landwirtschaft zu betreiben,<br />
Menschen für die sozialen Berufe freizustellen, Bildung zu verbessern usw. Wachstumskritik<br />
war nicht aktuell – es ging um die verbesserte Befriedigung der Grundbedürfnisse. <strong>Die</strong><br />
„gute alte Zeit” war für die meisten eine Zeit des Mangels und der nicht enden wollenden,<br />
schweren Arbeit, verrichtet unter oft menschenunwürdigen Bedingungen (was allerdings<br />
durchaus nicht immer nötig gewesen wäre, es gab schon dam<strong>als</strong> Gewinner und Verlierer).<br />
Heute lautet die Wahl: Abwasch oder Spülmaschine. Festnetz oder Mobiltelefon. Es geht <strong>als</strong>o<br />
nicht mehr primär um existentielle Fragen. Trotzdem halten wir am Wachstum weiter fest,<br />
weil der Schwung der Entwicklung uns immer weiter trägt. Das Wachstum hat sich von seiner<br />
ursprünglichen Motivation gelöst und hält sich selbst in Gang, mit fatalen Folgen.<br />
2.7.2 Das Kernproblem<br />
Wenn auch noch recht verhalten, so gibt es doch mittlerweile eine Wachstumskritik. Sie wird<br />
auf hohem Niveau in kleineren Zirkeln geführt, erreicht aber in Deutschland langsam breitere<br />
Kreise (siehe auch Literaturliste). In der allgemeinen Politik ist sie jetzt gerade erst angekommen<br />
– Wachstumsbefürwortung ist für einen Politiker (noch) eine risikoarme Strategie,<br />
aber es gibt immerhin eine Enquete-Kommission des Bundestages zum Thema. Selbst Bündnis<br />
90/<strong>Die</strong> Grünen kommen um eine Wachstumsbefürwortung nicht herum, bei ihnen heißt<br />
es dann eleganter „Grüne Marktwirtschaft”. Man kann sich eine Wirtschaft ohne Wachstum<br />
nicht mehr so recht vorstellen.<br />
Allerdings geht diese Kritik meines Erachtens bei allem Verdienst doch leicht am Kern vorbei.<br />
Wachstum ist nicht die Ursache, Wachstum ist ein Ergebnis.<br />
Das Kernproblem heißt Produktivitätssteigerung. <strong>Die</strong>se ist – dank fehlender Beschränkung<br />
von materiellen Ressourcen – ursächlich für das Wachstum verantwortlich. Wenn es heißt,<br />
Staat und Wirtschaft hielten am Wachstum fest oder förderten es, so ist das nicht richtig: Sie<br />
halten an weiterer Produktivitätssteigerung fest oder fördern sie, und daraus ergibt sich weiteres<br />
Wachstum, weil die freigewordene Produktivkraft wieder im Wirtschaftsprozess eingesetzt<br />
wird. Eine Innovation steigert nicht das Wachstum, sie steigert die Produktivität.<br />
Das ist mehr <strong>als</strong> eine sprachliche Ungenauigkeit, denn während Wachstum mittlerweile nicht<br />
mehr heilig ist und Wachstumskritik ein hohes inhaltliches Niveau erreicht hat, wird Produktivitätskritik<br />
noch kaum betrieben, und wenn, dann eher fokussiert auf die sozialen Folgen.<br />
Wachstum wird angesehen <strong>als</strong> durch verschiedene f<strong>als</strong>che Weichenstellungen menschenverursacht<br />
und damit korrigierbar, während Produktivitätssteigerung <strong>als</strong> so „menschlich” angesehen<br />
wird, dass sie <strong>als</strong> gottgegeben hingenommen wird. Es wird über Wege weg vom<br />
Wachstum diskutiert, aber kaum über Wege weg von der Produktivitätssteigerung. Eine Verringerung<br />
der Produktivität wird allenfalls <strong>als</strong> Zufallsprodukt anderer Maßnahmen gesehen.<br />
Dabei ist es meines Erachtens die Produktivitätssteigerung, die wir global in den Blick nehmen<br />
müssen.<br />
2.7.3 Produktivität und Lebensstandard<br />
Was im Wirtschaftsbereich Produktivitätssteigerung heißt, wird im privaten Bereich Erhöhung<br />
des Lebensstandards genannt. Aber meistens ist es das gleiche: In kürzerer Zeit mehr erreichen.<br />
Mehr Dinge parallel machen können. Maschinen machen lassen. Bequemeres Leben.<br />
<strong>Die</strong> Welt zum Dorf machen. Wir steigern im wirtschaftlichen wie im privaten Bereich ständig<br />
unsere Produktivität, und Fortschritte auf der einen Seite wecken neue Ideen auf der anderen.<br />
Ein paar Beispiele:<br />
39
• Auto statt Fahrrad<br />
• Waschmaschine statt Handwäsche<br />
• Spülmaschine statt Abwasch<br />
• E-Mail statt Brief<br />
• Wikipedia statt Lexikon<br />
• CD statt Tonband<br />
• amazon statt Karstadt<br />
• facebook und Twitter statt Kneipe<br />
• Single-Börse statt Zufall<br />
• Fliegen statt Bahnfahren<br />
• Mobiltelefon statt Festnetz<br />
• Kurztrip statt Schrebergarten<br />
• Fertiggerichte statt selbst kochen<br />
• Fernsehen statt Buch lesen<br />
• Wegschmeißen statt reparieren<br />
Ähnlich wie der Arbeitgeber ständig die Produktivität innerhalb des Betriebes steigert, weil er<br />
sonst den Kampf gegen die Konkurrenz verliert, ist auch der Arbeitnehmer gezwungen, ständig<br />
seine private Produktivität zu steigern. Sie ist nicht nur die Voraussetzung für eine Arbeitsstelle<br />
mit all ihren Nebenbedingungen wie hohe Qualifikation, Mobilität, Überstunden<br />
etc., sondern auch eine Voraussetzung für das soziale Leben, welches immer wieder die Vielfalt<br />
anstrebt. Überlegen Sie mal, was ihr soziales Umfeld mit Ihnen macht, wenn Sie beschließen,<br />
auf Auto, Computer und Mobiltelefon zu verzichten. Dem Wachstumszwang der<br />
Wirtschaft entspricht ein Wachstumszwang im Privaten. Wir sind zur Erhöhung unseres Lebensstandards<br />
verdammt. Der „Reiz des Neuen” liegt nicht nur im „sozialen Wert der Dinge”,<br />
sondern vor allem auch darin, ob das Neue geeignet ist, die persönliche Produktivität zu<br />
steigern. Vor allem solche Produkte haben Erfolg, die jene zu steigern vermögen. Private<br />
Produktivitätsgewinne werden mittlerweile kaum noch in mehr Zufriedenheit umgesetzt, beispielsweise<br />
in Form von mehr Muße oder mehr Teilnahme an Kultur, sondern häufig nur<br />
noch in die Fortsetzung der Suche nach mehr Produktivität oder mehr Konsum.<br />
Das sei auch all den Wachstumsgegnern ins Stammbuch geschrieben, die mit Mobiltelefonen<br />
und übers Internet, Billigflügen zu Kongressen und Fertigpizza versuchen, ihr Ziel zu erreichen:<br />
Passt auf, dass ihr nicht der Täuschung des Rosinenpickens erliegt. Wer konsequent<br />
gegen Wachstum und Globalisierung ist, sollte die obige Liste eher von rechts nach links lesen.<br />
Grundsätzlich gibt es keine gute und schlechte Technik: Mit einem Messer kann man Gemüse<br />
schneiden oder einen Menschen umbringen. Und mit einem Computer kann man Bücher<br />
schreiben oder Arbeitsplätze wegrationalisieren. Das heißt, weil Technik neutral ist, muss<br />
man sich um den Fortschritt keine Gedanken machen? Doch. Wesentliche Unterschiede zwischen<br />
dem Messer und dem Computer sind der direkte und indirekte Ressourcenverbrauch,<br />
die Komplexität der notwendigen Infrastruktur und die Auswirkungen auf den sozialen Menschen.<br />
Es findet eine extreme Bevorzugung des materiellen Lebensstandards gegenüber einem immateriellen<br />
Lebensstandard statt, weil letzterer viel weniger greifbar und konkret ist: Bildung,<br />
Sport, eigene handwerkliche oder künstlerische Betätigung, Teilnahme an Kultur hinterlassen<br />
nur „schwache Spuren”. Man selbst und andere können diese „Erfolge” nicht sehen,<br />
die „Rückkopplung” oder auch „Bespiegelung” ist viel schwieriger. Einen Mercedes sieht<br />
und erkennt jeder, einen wachen Geist hingegen nimmt man nur durch sozialen Kontakt<br />
wahr und wenn man selbst einen solchen besitzt. „Materielle Effizienz” ist direkte Voraussetzung<br />
für die Steigerung des Statuskonsums, während „soziale Effizienz” (hervorragende Leh-<br />
40
er, exzellente Therapeuten, umsichtiges Pflegepersonal, ausgleichende Vorgesetzte, ...) viel<br />
indirektere, schlechter messbare Früchte trägt und durch eine Steigerung der materiellen<br />
Effizienz scheinbar kompensiert werden kann. Zudem kann materielle Effizienz allein, im stillen<br />
Kämmerlein, entwickelt werden und kommt damit der „individuellen Wachstumsstrategie”<br />
entgegen, während soziale Effizienz nur in einem geeigneten Umfeld wächst und somit der<br />
eigene „Erfolg” schlechter abgrenzbar ist. Demzufolge führt der materielle Konsum zu einer<br />
völlig einseitigen Bevorzugung und überhöhten Bezahlung der technisch und wirtschaftlich<br />
ausgerichteten Berufe und im Gegenzug zu einer Geringschätzung der sozialen Berufe.<br />
<strong>Die</strong> entscheidende Frage ist: Wieviel Technik brauchen wir, um zufrieden zu sein? Wie finden<br />
wir dieses Maß? Und von wem wird das wie entschieden? Oder anders gesprochen: Wie<br />
kommen wir in Zukunft ohne Verbote, Reglementierungen und diese ganzen lästigen moralischen<br />
Appelle aus? Meine Überzeugung ist: Wenn man an den richtigen Stellschrauben<br />
dreht, dann legt man das Mobiltelefon einfach weg oder lässt den Fernseher aus, weil es<br />
uninteressant geworden ist. Dann blühen lokaler Handel und lokales Handwerk, weil sie wirtschaftlicher<br />
sind. Ohne Moral und Verbot.<br />
2.8 Wider die Vernunft<br />
2.8.1 Unter Wert<br />
Im Ergebnis landen wir in einer Wachstumsgesellschaft, in der die Unvernunft zur Regel<br />
wird. Nicht die Gier von Konzernen treibt uns in den Ruin, sondern die kollektive Unvernunft<br />
von Millionen von Individuen. Das derzeitige System des Kapitalismus schwächt mit einer<br />
Kombination von grenzenlosen wirtschaftlichen Anreizen die positiven Fähigkeiten des Menschen<br />
und verstärkt die negativen. Es schwächt Vernunft und Maßhalten, statt dessen verstärkt<br />
es Unvernunft und Wettbewerb, mit dem Ziel eines unverantwortlichen Wirtschaftswachstums.<br />
Der Mensch ist nicht schlecht – er wird schlechter gemacht, <strong>als</strong> er sein könnte.<br />
Wirtschaft und Menschen sind unvernünftig, weil ihnen zu wenig Gelegenheit für vernünftiges<br />
Handeln eingeräumt wird. Der Kapitalismus schürt über ständige Produktivitätssteigerung<br />
und die „Vergeldlichung” der Grundbedürfnisse, insbesondere des Wohnens, unsere<br />
Existenzangst. Er nährt über die Glorifizierung von Geld, Macht, Karriere und Erfolg unsere<br />
Eitelkeit. In der Standesgesellschaft wurde man in die Eitelkeit hineingeboren oder nicht,<br />
heute kann jeder die Stufe der Eitelkeit erreichen. Das weckt Energie. <strong>Die</strong> Anreize, der Botschaft<br />
des freien Marktes zu folgen, sind so überwältigend, dass nur wenige widerstehen<br />
können. Es ist schlicht zu viel verlangt, sich angesichts der Möglichkeiten und Verlockungen<br />
in irgendeiner Weise zurückzuhalten.<br />
Reichtum ist attraktiv durch Ungleichheit und Machtgefälle. Fressen, Saufen, Ficken, Knechten<br />
und Protzen <strong>als</strong> Motive wirtschaftlichen Handelns sind zwar offiziell nicht gesellschaftsfähig,<br />
tatsächlich aber systemisch erwünschte Verhaltensweisen. <strong>Die</strong> Hierarchien, Belohnungsmechanismen<br />
und Vermarktungswege der Wachstumsgesellschaft fördern genau diese<br />
Handlungsweisen, im Großen wie im Kleinen. <strong>Die</strong> Idee der Leistungsgesellschaft „Wer mehr<br />
leistet, bekommt auch mehr” wurde pervertiert in die Idee der Wettbewerbsgesellschaft<br />
„Wirtschaft ist Kampf, und es gibt Gewinner und Verlierer”.<br />
Unvernunft ist eine der Grundlagen von Werbung. Werbung nennt sich gerne hochtrabend<br />
(und verschleiernd) „Wirtschaftskommunikation”. Was aber hier stattfindet, ist kein nüchterner<br />
Informationsaustausch, sondern die bewusste, einseitige Lenkung mit allen Mitteln der<br />
psychologischen Kriegsführung.<br />
Durch die Förderung der Unvernunft ist Wirtschaftswachstum demokratiegefährdend. Vernunft<br />
ist das Leitbild der Demokratie, der rationale Diskurs ihre Essenz. Wir leben in einer<br />
Kultur, die permanent das Unvernünftige und den Egoismus betont, und wundern uns, dass<br />
in Politik und Wirtschaft keine vernünftigen Entscheidungen getroffen werden.<br />
41
2.8.2 <strong>Die</strong> Banalität des Wachstums<br />
Das Eindreschen auf die oberste Ebene, auf Regierungen und Konzerne, Börsen und Banken,<br />
ist in globalisierungskritischen Kreisen sehr populär – und zu einfach. <strong>Die</strong> Streitaxt der gerechten<br />
Empörung ist zu grobschlächtig. Institutionen sind nicht das Problem, sie sind Teil<br />
der Gesellschaft. Jede Gesellschaft hat die Regierungen und Konzerne, Börsen und Banken,<br />
die sie verdient. Das gleichgerichtete Handeln von Millionen einzelnen Menschen ist das<br />
Problem. Wir alle werden durch das kapitalistische System ein Stück weit zu Spekulanten und<br />
Zockern erzogen, die sich meistens im Kleinen erproben. Millionen Konsumenten, Häuslebauer,<br />
Kontoinhaber, Vorsorgesparer, Autofahrer, Touristen, Schnäppchenjäger, Verlegenheitskäufer,<br />
... sind diejenigen, die die Richtung der Wirtschaft bestimmen. Immer wieder<br />
wird die Gier von Führungspersönlichkeiten oder ganzen Konzernen angeprangert. Gier ist<br />
jedoch ein absolut systemkonformes Verhalten, diese prominenten Gierigen nutzen lediglich<br />
größere Gelegenheiten <strong>als</strong> die anderen. Man muss daher das System hinterfragen, nicht einzelne<br />
Beteiligte. <strong>Die</strong>se Fokussierung auf die „unheilige Allianz von Kapital und Staat” darf<br />
nicht ausblenden, dass der Wettbewerb breit in der Bevölkerung angelegt ist. Natürlich gibt<br />
es Gier. Aber das System will das so. Gier fördert das Wachstum.<br />
Solange das Mantra: „Nimm keine Rücksicht, mache Profit!” in Summe den materiellen<br />
Wohlstand mehrt, akzeptiert man seine asoziale Komponente <strong>als</strong> unvermeidlichen Seiteneffekt:<br />
„Der Mensch ist halt so!” <strong>Die</strong> meisten Menschen sind aber weder besonders gierig noch<br />
besonders ignorant, sondern „ganz normal”. Sie versuchen, ihre knappe Zeit auf das zu verwenden,<br />
was ihnen wichtig ist, und übernehmen dabei ganz selbstverständlich die gesellschaftlich<br />
akzeptierten Spielregeln. Und wenn Produktivität und Profit die wichtigsten gesellschaftlichen<br />
Spielregeln sind, dann werden eben diese übernommen, denn dafür gibt es Lob<br />
und Anerkennung. Wir tun dies aus Überzeugung, Gedankenlosigkeit oder Unsicherheit heraus<br />
– und immer wieder schlicht aus realer oder gefühlter Zeitnot.<br />
Natürlich ist der Mensch mündig – wenn man ihn lässt. Dazu braucht er Ruhe, Information<br />
und vor allem die fehlende Versuchung. Daran wird er aber auf allen Kanälen gehindert.<br />
Marktwirtschaft wird eigentlich <strong>als</strong> „selbstregulierend” gelobt. Genau diese Eigenschaft hat<br />
sie derzeit im größeren Rahmen verloren: Globalisierung, Immobilienwirtschaft, Umweltschutz<br />
sind negative Beispiele für den Verlust dieser Selbstregulation. <strong>Die</strong> derzeitige Wirtschaftsform<br />
findet kein stabiles Gleichgewicht mehr, weil die Bedingungen des zugrundeliegenden<br />
Modells nicht mehr erfüllt werden. Wir leben nicht in einer Marktwirtschaft, sondern<br />
in einer durch Subventionen, Werbung und Lobbyismus verzerrten „Gerangelwirtschaft”.<br />
2.8.3 Entfesselung<br />
<strong>Die</strong> Ideologie der Entfesselung wird Neoliberalismus genannt. Sie basiert auf der Idee einer<br />
Marktwirtschaft ohne Grenzen, denn so der Glaubenssatz: Wohlstand ist das Ergebnis vieler<br />
Egoismen, <strong>als</strong>o muss man dem Egoismus möglichst freien Raum geben und alle Grenzen<br />
niederreißen. Und zwar auf der Hersteller- wie der Konsumentenseite. Und zwar in Bezug auf<br />
jede Grenze: Staatsgrenze, gesetzliche Grenze, moralische Grenze. Der Mensch benötigt jedoch<br />
Grenzen, die ihm ermöglichen, einen Ausgleich zwischen seinen kurzfristigen und seinen<br />
langfristigen Interessen zu finden.<br />
Der Neoliberalismus wird von jenen propagiert, die von ihm profitieren. Er wird von jenen<br />
akzeptiert, die in ihn die letzte Hoffnung setzen. Denn die ganze Idee gewinnt ihren besonderen<br />
Charme erst durch die Tatsache, dass immer weniger auserwählt sind, dem modernen<br />
Adelsstand anzugehören. <strong>Die</strong> große Masse der weniger gut Ausgebildeten, weniger Leistungsfähigen,<br />
weniger Reichen ist für die passive Rolle vorgesehen. Somit ist Neoliberalismus<br />
nicht die Idee der Freiheit, sondern die Idee „des freien Fuchses im freien Hühnerstall”. Es<br />
ist eine Ideologie des Stärkeren. Es ist eine Ideologie der Eitelkeit, und jede Wachstumskritik<br />
ist eine Kränkung.<br />
42
<strong>Die</strong> neoliberale Bewegung strebt bei der Überwindung der Grenzen nicht nur ihre eigene<br />
Entfesselung von den Beschränkungen staatlicher Bevormundung an, sondern die Entfesselung<br />
der „ganz normalen” Menschen von Vernunft, Moral und Gemeinsinn, denn sie sind diejenigen,<br />
die ihre Produkte kaufen sollen. Nur durch die Verschiebung oder das Aufgeben der<br />
moralischen Leitplanken in der breiten Bevölkerung kann es Konsumexzesse geben, und das<br />
ist gut für das Wachstum. Mit diesen Maßnahmen soll versucht werden, das Wachstum dynamisch<br />
stabil zu halten, wobei das ständig schwieriger und aufwendiger wird, mit immer<br />
dramatischeren Folgen für Menschen und Umwelt.<br />
Der Neoliberalismus braucht und fördert den zügellosen Individualismus, denn nur der Individualist<br />
verzichtet auf soziale Bindung und Verantwortung. Das Ergebnis sind zunehmende<br />
Ignoranz und Aggression: Ignoranz der Gewinner <strong>als</strong> aggressives Zurschaustellen der eigenen<br />
Macht, Ignoranz der Verlierer <strong>als</strong> aggressive Reaktion auf Überforderung und Frustration.<br />
43
Kapitel 3: Sackgassen<br />
3.1 Sackgasse Produktivität<br />
Es gibt keine gute oder schlechte Produktivität. Und es gibt kein absolutes Maß dafür. Wohl<br />
aber gibt es menschlichere und unmenschlichere Formen der Produktivitätssteigerung: Eine<br />
Nähmaschine steigert in hohem Maße die Produktivität, ist auch nicht ganz unaufwendig<br />
herzustellen, aber einmal hergestellt, verbraucht sie wenig und kann viel Zufriedenheit und<br />
schöne Produkte hervorbringen. Sie definiert einen menschlichen und kreativen Beruf. Da<br />
finde ich den Schweißroboter weitaus fantasieloser.<br />
„Produktivitätssteigerung spart Geld.” Grundsätzlich ist das richtig, aber die Frage ist: Wessen<br />
Geld spart es, und wie sieht das gesamtgesellschaftliche Kosten-Nutzen-Verhältnis aus?<br />
Und hier sind die Indizien überwältigend, dass der gesamtgesellschaftliche Nutzen von Produktivitätssteigerung<br />
schon seit langem negativ ist. Denn ein großer Teil der Produktivitätserfolge<br />
fließt lediglich ins System zurück, ohne die Lebensqualität zu steigern, und große<br />
Kostenanteile werden mehr oder weniger ungefragt von der Gesellschaft übernommen. Ein<br />
Großteil der Anstrengungen wird einfach nur dafür verwendet, diese geradezu luxuriöse<br />
Wirtschaftsinfrastruktur aufrecht zu erhalten.<br />
3.1.1 Sie ist zu teuer<br />
Abnehmender Grenznutzen<br />
Dabei werden die Spielräume immer kleiner. <strong>Die</strong> Füllung kleiner Produktivitätslücken ist sehr<br />
aufwendig, die Ökonomen sprechen vom „geringen Grenznutzen”. Ist eine schlichte Arbeitsteilung<br />
(ich mach das, und du machst das) noch vergleichsweise preiswert zu haben, so wird<br />
die Sache immer schwieriger, je weiter man das verfeinert. Dabei schaukeln sich die beteiligten<br />
Akteure gegenseitig hoch. Jedes Schließen einer Lücke öffnet neue oder lässt zumindest<br />
andere in den Blickpunkt rücken. Und weil das alles teuer ist, steigt der Kostendruck und<br />
damit auch der Rationalisierungsdruck weiter – der übliche Teufelskreis.<br />
Um nur ein Beispiel zu nennen: Kostenrechnung ist zur Wissenschaft geworden. Da die Konkurrenz<br />
nicht schläft, müssen alle Maßnahmen eines Unternehmens zur Verbesserung der<br />
Produktivität nicht nur im Nachhinein, sondern schon im Vorfeld auf ihren Nutzen hin überprüfbar<br />
sein. Dazu müssen Zahlen gesammelt, ausgewertet, analysiert werden. Ganz neue<br />
Instrumente werden zu diesem Zweck erfunden. Je höher der Wettbewerb ist, desto empfindlicher<br />
hängen Erfolg und Misserfolg davon ab, dass man sich keinen Fehltritt leistet. Also<br />
muss die Kostenrechnung perfekt sein – und Perfektion ist teuer, das wusste schon Pareto.<br />
Auffangen der Arbeitslosen<br />
Unsere Sozi<strong>als</strong>ysteme subventionieren die Produktivitätssteigerungen: Mit der Finanzierung<br />
von Arbeitslosen und dem gesamten Niedriglohnsektor subventionieren wir die hochproduktiven<br />
Arbeitsplätze im Inland – und die billigen Arbeitsplätze im Ausland. Es wird in der<br />
nächsten Zeit zu einem weiteren hohen Anstieg der arbeitenden Weltbevölkerung kommen.<br />
Wir akzeptieren, dass hier nicht mehr alle gebraucht werden, und bezahlen ihren Lebensunterhalt<br />
aus Gemeinschaftsmitteln, nämlich Sozialbeiträgen und Steuern.<br />
Aufwendige Infrastruktur<br />
<strong>Die</strong> Infrastruktur für moderne Technik ist sehr aufwendig: Es reicht nicht, ein Auto zu bauen.<br />
Es müssen zusätzlich Autobahnen gebaut, Stromleitungen verlegt, Ampeln und Verkehrsschilder<br />
errichtet werden, damit das Auto fahren kann. Auch das Internet besteht nicht in<br />
erster Linie aus dem heimischen PC, sondern aus riesigen Kabelnetzen, Serverfarmen, Rundum-die-Uhr-Servicepersonal<br />
und vielem anderen mehr. Massenproduktion benötigt wegen<br />
der hohen Investitionskosten eine permanente Dreischicht-Auslastung und eine geeignete<br />
„Rund-um-die-Uhr”-Infrastruktur, die sich ihrerseits nur lohnt, wenn sie genutzt wird.<br />
44
Ein Max-Planck-Institut allein nützt noch nicht viel. Wer Hochtechnologie haben möchte, benötigt<br />
viele Universitäten und Forschungseinrichtungen, aufwendige Messapparaturen, Reinräume,<br />
Sequenzierer, Elektronensynchrotrone, Hochleistungsrechner, Satelliten, GPS, Suchmaschinen,<br />
Datenbanken, Fachbibliotheken, ... Und damit entsprechend hochproduktive und<br />
spezialisierte Zulieferer. Alle diese Leute werden erwarten, dass sie abends mit dem Elektroauto<br />
in ihr Passivhaus fahren dürfen, um dort ihre multimediale Welt genießen zu können.<br />
Hochqualifizierte Forscher reisen zu Kongressen, Workshops und Diskussionsveranstaltungen<br />
rund um die Welt.<br />
Ebenso ist ein modernes Unternehmen alleine nicht viel wert. Wer hochproduktive Unternehmen<br />
haben möchte, benötigt viele davon, die sich gegenseitig das liefern, was sie brauchen:<br />
Roboter, Fertigungsstraßen, CNC-Maschinen, Computer, Software, Mobilfunktechnik,<br />
Digitalkameras, Pneumatik, Hydraulik, ... Hier reisen die Ingenieure, Berater und Verkäufer<br />
durch die Welt, zu Firmen, Meetings, Präsentationen, Wartung, Maschinenausfällen.<br />
Indirekte Tätigkeiten<br />
Es müssen sehr viele Tätigkeiten finanziert werden, die nur noch sehr indirekt zur Wirtschaftsleistung<br />
beitragen, wenn überhaupt. Weil Wirtschaft, Technik, Politik so komplex geworden<br />
sind, benötigen wir viele hochbezahlte Experten, die im wesentlichen denken und<br />
reden und somit von allen anderen ernährt und versorgt werden müssen. Alle Wirtschaftsinstitute<br />
und Regierungsberater leben von der Komplexität der globalen Wirtschaftswunderwelt.<br />
Wissenschaftler treiben mit viel Aufwand die Grenzen des Unerforschten immer weiter<br />
hinaus. Firmen finanzieren Berater mit üppigen Tagessätzen, die ihnen erklären, wie sie ihren<br />
Laden besser organisieren. Verkäufer erhalten fette Provisionen dafür, dass sie anderen<br />
Verkäufern zuvorkommen. Marketingstrategen überlegen sich, wie sie neue Produkte in den<br />
Markt drücken können. Ingenieure erklären in tagelangen Schulungen die Maschinen, die sie<br />
konstruiert haben.<br />
Wirtschaftliche Blindleistungen<br />
<strong>Die</strong> unproduktivsten Tätigkeiten sind diejenigen, die wirtschaftliche Blindleistungen erzeugen.<br />
Eine wirtschaftliche Blindleistung liegt vor, wenn einem Entgelt ein unangemessen niedriger<br />
realwirtschaftlicher Wert gegenübersteht. Dazu gehören neben der klassischen Aktien-<br />
Spekulation vor allem zwei Bereiche: Immobilien und Marketing.<br />
• Überhöhte Mieten und Immobilienpreise sind eine volkswirtschaftliche Verschwendung<br />
ersten Ranges, weil die realwirtschaftliche Leistung (Bau bzw. Unterhalt einer<br />
Immobilie) häufig nur einen Bruchteil des Preises ausmacht. Der Rest ist Blindleistung,<br />
Geld ohne Gegenleistung. Für die Steigerung der Attraktivität von Immobilien<br />
sind fast immer andere verantwortlich <strong>als</strong> diejenigen, die das Geld dafür einstreichen.<br />
• Marketing bewirkt im wesentlichen ein Verschieben von Kaufentscheidungen von links<br />
nach rechts, von Anbieter A zu Anbieter B oder von Produkt A zu Produkt B. <strong>Die</strong><br />
Summe der produzierten Güter bleibt gleich, die Gesellschaft wird nicht reicher, sondern<br />
ärmer, weil sie die Leute im Marketing über Produktpreise finanzieren muss.<br />
Lebenslanges Lernen<br />
Lebenslanges Lernen ist ein Schönreden der Tatsache, dass es heutzutage nicht mehr reicht,<br />
einen Beruf zu erlernen und auszuüben, sondern dass man diesen Anlauf gegebenenfalls<br />
mehrfach unternehmen muss, weil der erlernte Beruf gerade nicht gefragt oder inzwischen<br />
ausgestorben ist. Fortwährende Weiterbildung, erzwungen durch technischen Fortschritt, ist<br />
kein Wert an sich, sondern volkswirtschaftlicher Aufwand, der bezahlt werden muss. Je öfter<br />
wir die eine oder andere Schul- und Fortbildungsbank drücken, desto weniger arbeiten wir,<br />
das Verhältnis von Ausbildung zu Anwendung wird immer schlechter. Der positiv verbrämte<br />
Begriff des lebenslangen Lernens dient nur der Verschleierung der tatsächlichen Unproduktivität.<br />
45
Spezialwissen <strong>als</strong> riskante Investition<br />
Ausbildung findet heute immer mehr „on the job” statt, weil es für viele spezielle Bereiche<br />
gar keine allgemeine Ausbildung gibt. Firmenmitarbeiter häufen so im Laufe der Zeit viel<br />
Spezialwissen an – und verlassen dann die Firma. <strong>Die</strong> ganzen Ausbildungsinvestitionen sind<br />
dahin und woanders kaum anwendbar.<br />
Aus dem gleichen Grund – weil Spezialwissen nicht unproduktiv sein darf – ist es für hochspezialisierte<br />
Menschen unattraktiv, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Genauso wie eine teure<br />
Maschine am besten im Dreischichtbetrieb ausgelastet wird, wird auch ein teurer Mitarbeiter<br />
am besten möglichst hoch ausgelastet. Spezialwissen zwingt <strong>als</strong>o dazu, die eigene Produktivität<br />
hoch zu halten. Ich glaube deshalb auch nicht daran, dass uns eine generelle Arbeitszeitverkürzung<br />
allein maßgeblich helfen wird. Eine Arbeitszeitverkürzung verringert generell<br />
den „ökonomischen Wirkungsgrad” von Ausbildung und ist deshalb teurer.<br />
Verschrottung durch Fortschritt<br />
Der permanente Fortschritt entwertet funktionierende Technik und Infrastruktur, sie wird<br />
verschrottet und durch etwas Neues ersetzt. <strong>Die</strong> investierten Aufwendungen sind dahin. Vor<br />
allem im Bereich der Informationstechnologie müssen tadellos funktionierende Geräte weggeschmissen<br />
werden, weil sie zu langsam, zu groß, zu schwer, zu inkompatibel geworden<br />
sind. Oder einfach nur nicht mehr <strong>als</strong> Statussymbol taugen. Zum Teil wandert Neuware direkt<br />
aus den Lagern der Händler in den Müll, weil sie nicht rechtzeitig an den Mann und die<br />
Frau gebracht werden konnte.<br />
Hohe Sicherheitsaufwendungen<br />
Komplexe Technik erfordert erhöhte Sicherheitsaufwendungen gegen Versagen, Explosion,<br />
Ausfall, Eindringlinge und vielerlei mehr. Während es bei einer Schuhmacherwerkstatt noch<br />
reicht, sie abzuschließen und den Rollladen herunterzulassen, sieht das in einem Biotechnologie-Unternehmen<br />
schon anders aus, von einem Kernkraftwerk ganz zu schweigen.<br />
Das Internet lädt durch die Möglichkeit der Anonymität und Ungestörtheit besonders zu Destruktivität<br />
und Kriminalität ein. Ganze Wirtschaftszweige beschäftigen sich mittlerweile mit<br />
Sicherheit im Netz. Das alles erhöht zwar nominell das Bruttosozialprodukt, aber produktiv ist<br />
es eigentlich nicht.<br />
Hohe Mobilitätskosten<br />
Im Zuge der Arbeitsteilung werden Waren und Menschen immer weiter durch die Gegend<br />
geschickt. Abgesehen davon, dass die Preise dieser Mobilität nicht ehrlich sind, sondern subventioniert,<br />
ist auch das nicht umsonst zu haben. Container, Schiffe, LKW-Fahrer, Flugzeuge<br />
haben ihren Preis.<br />
Flexibilität kostet<br />
Zeitmangel ist ebenfalls nicht billig. Wer unter dem Zwang steht, schnell zu handeln und<br />
flexibel zu sein, verbringt viel Zeit mit immer wiederkehrender Planung, Abstimmung, Planungsänderung,<br />
Abstimmung, ...<br />
Verteilungskämpfe und Migration<br />
<strong>Die</strong> hochentwickelten Länder geben viel Geld dafür aus, ihre Grenzen gegenüber ärmeren<br />
Ländern abzuschotten. Viele Menschen werden von unserem Lebensmodell angelockt und<br />
versuchen, <strong>als</strong> sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge” ihr Glück bei uns zu finden. Meist können<br />
sie jedoch ihren Lebensunterhalt bei uns nicht selbst finanzieren und müssen von den Sozi<strong>als</strong>ystemen<br />
finanziert werden, bis man Wege gefunden hat, sie wieder loszuwerden. Das ist<br />
unmenschlich und teuer.<br />
3.1.2 Sie schadet der Umwelt<br />
Mehrverbrauch durch neue Produkte<br />
Kein Beamer konnte früher Energie und Rohstoffe verbrauchen, kein Handy und kein Ret-<br />
46
tungshubschrauber. Computer waren kein Thema, ebensowenig Heizpilze. All diese Produkte<br />
haben gemeinsam, dass sie andere Produkte bei höherem Energie- und Rohstoffverbrauch<br />
ersetzen oder aber einfach nur hinzukommen. Ob sie die wirtschaftliche Produktivität steigern<br />
oder die private, ist relativ egal – das geht beides Hand in Hand. <strong>Die</strong> millionenfache<br />
Suche nach Angebotslücken und Innovationen schafft und hält zwangsläufig einen Ressourcenverbrauch<br />
auf hohem Niveau.<br />
Mehrverbrauch durch leichte Verfügbarkeit<br />
Das „papierlose Büro” ist bis heute der Treppenwitz der Computerbranche. Internet und<br />
Computer sparen weder Papier noch andere Ressourcen, weil den tatsächlichen Einsparungen<br />
ein hoher Mehrverbrauch gegenübersteht, der durch die leichte Verfügbarkeit entsteht.<br />
Seitenrand stimmt nicht? Kein Problem, kann man ja noch mal ausdrucken. Hinzu kommt:<br />
Wieviel Papier ist denn verbraucht worden, bis ein System wie das Internet erst mal geplant<br />
und gebaut wurde? Sparen von Papier bedeutet doch heute nur, einen kleinen Teil der riesigen<br />
„Papierschuld” abzutragen, die vorher angehäuft worden ist.<br />
Mehrverbrauch durch Produktivitätssteigerung<br />
<strong>Die</strong> einfachen Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung sind schon lange ausgeschöpft. Nur<br />
noch selten gelingt es, die Produktivität dadurch zu steigern, dass das Werkzeug rechts liegt<br />
statt links. Sie lässt sich deutlich nur noch steigern, indem die Unzulänglichkeiten der Natur<br />
überwunden werden. <strong>Die</strong> Kraft des Menschen ist nun mal begrenzt, er bewegt sich langsam,<br />
er denkt langsam, seine Hände zittern, er braucht Pausen und einmal am Tag mehrere Stunden<br />
Schlaf.<br />
Deshalb ersetzt man entweder den Menschen ganz (Automaten oder Roboter) oder gibt ihm<br />
Werkzeuge an die Hand, die ihn besser machen: Schneller, stärker, präziser. In der Landwirtschaft<br />
verwendet man Kunstdünger, Gentechnologie, Züchtung von Hochleistungskühen,<br />
in der Fischerei Schleppnetze, schwimmende Fabriken und Aquakulturen, ... Auch hier wäre<br />
wieder eine endlose Liste möglich. Das alles erfordert einen immer höheren Energie- und<br />
Materialeinsatz und hinterlässt immer mehr Rückstände.<br />
Aber manchmal sparen ja Innovationen auch Energie und Material. Ganze Politikkonzepte<br />
beruhen auf dieser Idee („Green New Deal”). Wie ist es denn damit?<br />
Umlenken von Ressourcen durch „ökologische Innovationen”<br />
• „Leichtere Kunststoffe für weniger Spritverbrauch!”<br />
• „Das Dreiliter-Auto löst unsere Klimaprobleme!”<br />
• Alternativ: „Das Elektroauto löst unsere Klimaprobleme!”<br />
• „Drahtlose Kommunikation spart Kabel!”<br />
• „<strong>Die</strong> Digitalisierung der Filmbranche spart Unmengen an Filmmaterial!”<br />
• usw.<br />
Immer wieder liest man in der Zeitung, dieser oder jener Anbieter hoffe, mit seinem Produkt<br />
Energie zu sparen oder Müll zu vermeiden. Das verschleiert die wahren Gründe: Jeder Anbieter<br />
hofft, sein Produkt erfolgreich zu vermarkten, und wenn Öko gerade hip ist, dann versucht<br />
man es eben mit Öko-Produkten. Technische Innovation spart unter Wachstumsbedingungen<br />
keinerlei Ressourcen, weil die Ressourcen dadurch lediglich für andere Bereiche billig<br />
und verfügbar bleiben – und selbstverständlich genutzt werden. <strong>Die</strong> ökologische Innovation<br />
„verkommt” zur ganz normalen Produktivitätssteigerung, und die Ressourcen werden nicht<br />
gespart, sondern woanders verbraucht.<br />
Den „Ersten Hauptsatz der Wirtschaftsdynamik” könnte man in etwa so formulieren: „Jede<br />
technische Produktivitätssteigerung führt unter Wachstumsbedingungen unmittelbar oder<br />
mittelbar zu einem höheren Ressourcenverbrauch.”<br />
47
Mehrverbrauch durch „ökologische Innovationen” (Rebound-Effekte)<br />
Das Dreiliter-Auto wird keine Energie sparen, wenn die Mobilität immer größer wird. Der<br />
stromsparende Computer wird keine Energie sparen, wenn jeder einen benötigt, weil er sich<br />
sonst von der Gesellschaft abkoppelt. <strong>Die</strong> ausufernde Mengenkomponente macht die Ersparnis<br />
geringer <strong>als</strong> erhofft oder ganz zunichte oder – ganz fatal – führt sogar zu einem Mehrverbrauch.<br />
Tim Jackson führt <strong>als</strong> plastisches Beispiel an: „Wenn man etwa Geld, das man<br />
zurücklegen konnte, weil man Energiesparlampen benutzt, für einen billigen Kurzstreckenflug<br />
ausgibt, wird man einen solchen Effekt erzielen.” (Jackson 2009 S. 107)<br />
Indirekter Ressourcenverbrauch von „ökologischen Innovationen”<br />
oder: Warum der Green New Deal nicht funktionieren wird. Siehe dort.<br />
Export der Naturzerstörung<br />
Durch die unterschiedliche Naturschutzgesetzgebung in verschiedenen Ländern fällt es leicht,<br />
umweltschädliche Rohstofferschließung oder Produktionsprozesse in Länder mit geringerem<br />
Lebensstandard zu verlagern. <strong>Die</strong>se sind oft bereit, im Gegenzug für die Verbesserung der<br />
eigenen wirtschaftlichen Situation (bzw. die der Entscheider) die Umweltzerstörung auf sich<br />
zu nehmen (bzw. ihrer Bevölkerung aufzuladen. <strong>Die</strong> Entscheider sind davon selten betroffen).<br />
<strong>Die</strong>se „Lösung” hat den Charme der Anonymität der Betroffenen, das senkt die moralischen<br />
Hürden und ist meistens auch relativ billig.<br />
3.1.3 Sie macht die Systeme zu komplex<br />
Was haben die folgenden Themen gemeinsam?<br />
• Finanztransaktionen<br />
• Kernkraftwerke<br />
• Ökologisches Gleichgewicht<br />
Sie sind komplex. Sie sind so komplex, dass ein einzelner Mensch sie in ihrer Funktion, ihren<br />
Beeinflussungsmöglichkeiten, ihren Gefahren nicht mehr vollständig verstehen kann, obwohl<br />
sie grundsätzlich mit den Gesetzen der Logik erfassbar sind. <strong>Die</strong> Spezialisierung der Menschenwelt<br />
ist so weit getrieben worden, dass von einem einzelnen Menschen nur noch Teilbereiche<br />
verstanden werden können. Daraus ergeben sich Probleme.<br />
Uneinschätzbarkeit<br />
<strong>Die</strong> derzeitige Finanzkrise ist ein gutes Beispiel für völlige Uneinschätzbarkeit eines überkomplexen<br />
Systems: Keiner kann sagen, wer wem wieviel schuldet – es gibt ein unüberschaubares<br />
Geflecht aus Forderungen und Verbindlichkeiten rund um den Globus. Banken wissen<br />
nicht, wie stark sie faktisch in Griechenland engagiert sind, weil die „Beteiligungsketten” zu<br />
lang sind. Niemand weiß, was eine Insolvenz Griechenlands tatsächlich bedeuten würde.<br />
Analyse- und Steuerungsaufwand<br />
Wenn die Beeinflussungsmöglichkeiten und Reaktionen eines Systems nicht mehr klar sind,<br />
dann steigen der Analyse- und Steuerungsaufwand und das Risiko der Fehlentscheidung.<br />
Teure Experten müssen sich lange zusammensetzen und beraten, simulieren, rückversichern<br />
etc., bevor eine Entscheidung getroffen und durchgeführt werden kann. Ein Haufen Leute ist<br />
damit beschäftigt, Kennzahlen zu berechnen und Kurven zu malen, um herauszubekommen,<br />
was man tun soll.<br />
Instabilität<br />
Wenn es zu Fehlentscheidungen kommt oder ein technischer Ausfall im System vorliegt,<br />
kann häufig nicht mehr korrigierend eingegriffen werden – das System reagiert zu schnell, zu<br />
stark, zu global und verändert sich dabei fortwährend. Dabei kann es insgesamt instabil werden<br />
und sogar außer Kontrolle geraten. Es ist nicht mehr robust und fehlertolerant, und es<br />
ist häufig nicht mehr räumlich begrenzbar.<br />
48
3.1.4 Sie macht die Systeme zu groß<br />
Macht<br />
Größe bedeutet Macht. Globalisierte Großunternehmen oder große regionale Arbeitgeber<br />
haben einen langen wirtschaftlichen Atem und können daher in Ruhe Nationen oder Regionen<br />
mit dem erpresserischen Argument „Arbeitsplätze” gegeneinander ausspielen. Große<br />
Nationen können ihre wirtschaftliche und militärische Macht gegen kleinere einsetzen. FIFA<br />
und IOC setzen ihre Macht für die Selbstbereicherung ein. Eine demokratische Begrenzung<br />
all dieser wirtschaftlichen Macht ist nicht vorgesehen.<br />
In gleicher Weise gilt das auch für die Politik: Je größer die politischen Einheiten, desto monarchischer<br />
wird die Machtfülle der gewählten Vertreter, demokratische Legitimität hin oder<br />
her. Weltregierung, Globale Umwelträte – davor kann man nur warnen. Ein gefundenes<br />
Fressen für Einflussnahme, denn es ist viel leichter, fünf Personen zu beeinflussen <strong>als</strong> viele<br />
Regierungen. Demokratie bedeutet Beteiligung, und Beteiligung kann in diesem globalen<br />
Rahmen nicht mehr wirksam stattfinden. <strong>Die</strong> Machtfülle stellt ein reales Problem dar.<br />
Monokulturen<br />
Ein großer Arbeitgeber oder eine bedeutende Branche sind bezogen auf eine Region eine<br />
große Monokultur-Plantage: Man setzt alles auf eine Karte – und hat keinen Plan B. Wenn<br />
das Unternehmen oder die Branche dann schwächeln, ist der Schaden für die Region sofort<br />
sehr groß, weshalb auch die Versuchung groß ist, mit teuren Subventionen den Patienten zu<br />
stützen.<br />
<strong>Die</strong> Autoindustrie ist für Deutschland so eine Monokultur – Schädlinge werden rücksichtslos<br />
bekämpft, und zwar von allen Seiten: Politiker, Lobbyisten und alle, deren Arbeitsplatz davon<br />
abhängt, werden zu rabiaten Kämpfern ihrer Sache.<br />
Zu starke Vernetzung<br />
Ob Finanzkrise, EHEC oder Internet: <strong>Die</strong> Mobilität innerhalb des Systems ist nicht begrenzbar,<br />
die Probleme reisen schnell, daher breiten sich die Folgen von Fehlern unbeherrschbar<br />
aus.<br />
Destruktivität<br />
Je größer die technischen Systeme und ihre Vernetzung werden, desto mehr werden auch<br />
pathologische Allmachtsfantasien des Menschen gereizt, weil der Effekt größer wird: Eindringen,<br />
Stören, Zerstören oder mit der Beute abziehen. Finanzmärkte und Internet sind gleichermaßen<br />
betroffen: Allein schon die Größe des Kampfgebietes reizt zum Angriff und weckt<br />
einen destruktiven Sportsgeist.<br />
3.1.5 Sie erzeugt zuviel Arbeitsteilung<br />
Wir haben zu viel Arbeitsteilung. Dabei dominieren zwei Formen der beruflichen Spezialisierung:<br />
• <strong>Die</strong> unfreiwillige primitive <strong>als</strong> berufliche Resteverwerter der Gesellschaft. <strong>Die</strong>se Leute<br />
dürfen das machen, was ihnen die anderen übrig lassen: Pakete packen, Pakete ausfahren,<br />
an der Kasse sitzen, aufgebackene Brötchen oder Kaffee in Pappbechern verkaufen,<br />
putzen, Menschen pflegen. Schmalbandige Tätigkeiten, schlecht bezahlt und<br />
schlecht angesehen.<br />
• <strong>Die</strong> freiwillige hochspezialisierte, für die man sich erst durch mehrere Ausbildungsschichten<br />
hindurchfressen muss, um an den Breitopf zu kommen (Rifkin 1996 nennt<br />
sie treffend „Symbolanalytiker”).<br />
Sinnverlust<br />
Arbeitsteilung, bei denen die verbleibende Arbeit nur noch Teilschritte des Prozesses beinhaltet,<br />
führt zur Entfremdung von der Arbeit und zur Unzufriedenheit. Sie verliert ihren Sinn und<br />
49
wird zur „Maloche”. Montag ist grausam, Freitag der schönste Tag der Woche. Der Arbeitnehmer<br />
verlagert den Fokus auf Freizeit und Urlaub, bis hin zur inneren Kündigung.<br />
Ausfallrisiko<br />
Arbeitsteilung führt zu immer stärkerer Vernetzung und entsprechend größeren Abhängigkeiten:<br />
Bei Ausfall eines Gliedes in der Kette kommt es schneller zum Stillstand. Wenn ein Zulieferer<br />
der Automobil-Industrie mal patzt, ist man aufgrund fehlender Lagerpuffer schnell am<br />
Ende.<br />
Auslastungsrisiko<br />
Eine Spezialisierung eines Menschen oder eines Unternehmens ist wie eine ökologische Nische:<br />
Solange die Bedingungen sich nicht ändern, lässt es sich dort komfortabel leben. Aber<br />
bereits kleinere Änderungen der wirtschaftlichen Umwelt führen zu Auslastungsproblemen<br />
bis hin zum Untergang. Eine breite Qualifikation ist robuster.<br />
Erzeugung von Mobilität<br />
Fachliche Spezialisierung führt zwangsläufig zu mehr Mobilität. Je schmaler die Expertise,<br />
desto seltener gibt es in einer Region genug Bedarf für die Anwendung dieses Spezialwissens.<br />
Das Karriereportal Xing wirbt mit dem Spruch: „Den passenden Berater für ein Projekt<br />
finden”. Facharbeiter, Ingenieure, Berater und Verkäufer fahren und fliegen durch die Welt,<br />
um ihr Spezialwissen zur Anwendung zu bringen. Zu einem Spezialarzt fährt man durch die<br />
ganze Republik. Übrigens ist das auch privat der Fall: Je spezieller die Hobbies und Leidenschaften<br />
des Menschen werden, desto schwieriger wird es, lokal Gleichgesinnte zu finden.<br />
Der Kreis wird weiter, die Mobilität nimmt zu.<br />
<strong>Die</strong>nstleistungen <strong>als</strong> Teil des Problems<br />
Lange Zeit galt der <strong>Die</strong>nstleistungssektor <strong>als</strong> rettende Lösung. Man meinte folgende Entwicklung<br />
zu erkennen („Drei-Sektoren-Hypothese”), die vor allem mit dem Namen des französischen<br />
Ökonomen Jean Fourastié verbunden ist:<br />
• Durch die ständige Produktivitätssteigerung werden im primären Sektor (Erzeugung<br />
oder Gewinn von Rohstoffen, Landwirtschaft, Fischerei) immer weniger Menschen beschäftigt.<br />
• Sie finden aber Arbeit im sekundären Sektor (produzierendes Gewerbe, <strong>als</strong>o Verarbeitung<br />
der Erzeugnisse des primären Sektors: Handwerk, Industrie), weil die Nachfrage<br />
zunächst stark wächst. Durch die ständige Produktivitätssteigerung werden aber auch<br />
dort immer mehr Beschäftigte „freigesetzt”.<br />
• Übrig bleibt dann noch der „rohstofflose” Bereich, der tertiäre oder <strong>Die</strong>nstleistungssektor.<br />
Gottlob kann dieser aber unbegrenzt wachsen, denn (so die Theorie):<br />
• <strong>Die</strong>nstleistungen unterliegen keinem oder nur einem geringen Produktivitätsfortschritt.<br />
• Im Gegensatz zu stofflichen Produkten, deren Konsum einer Sättigung unterliegt<br />
(„Was soll man mit dem vierten Auto, wenn man nur eines fahren kann?”), kann man<br />
<strong>Die</strong>nstleistungen unbegrenzt konsumieren. <strong>Die</strong> <strong>Die</strong>nstleister müssen sich nur immer<br />
weiter spezialisieren und immer neue Annehmlichkeiten erfinden, dann klappt das<br />
schon.<br />
Herr Fourastié hatte offensichtlich keine Vorstellung vom Einfallsreichtum der Ingenieure und<br />
der Leistungsfähigkeit von Computern. Der <strong>Die</strong>nstleistungssektor ist nicht Teil der Lösung,<br />
sondern Teil des Problems. Zum einen beruht bereits der ganze Sektorenwandel auf einem<br />
unhaltbaren Einsatz von Rohstoffen und fossiler Energie, ist <strong>als</strong>o keine naturgegebene Entwicklung,<br />
sondern eine Eigenheit des Wirtschaftswachstums. Wir werden diese hohe Produktivität<br />
im ersten und zweiten Sektor nicht halten können.<br />
50
Aber selbst wenn dies möglich wäre – der <strong>Die</strong>nstleistungssektor bietet keinen Ausweg aus<br />
der Ressourcen- und Produktivitätsfalle: <strong>Die</strong>nstleistungen haben sehr wohl einen großen potentiellen<br />
Produktivitätszuwachs durch „Reduktion auf das Wesentliche” (und damit Verlust<br />
des Eigentlichen) sowie Mechanisierung oder Computerisierung. Typische Beispiele sind Reinigungs-<br />
und Hauswartdienste, aber letztlich gilt es für alle <strong>Die</strong>nstleistungen, auch <strong>Die</strong>nste<br />
am Menschen (beispielsweise wird an lernfähigen Pflegerobotern gearbeitet, die die Einnahme<br />
von Pillen überwachen und den Menschen daran erinnern sollen, das nur nebenbei).<br />
• Durch die inhaltliche Fokussierung lohnen sich die Investitionen in Mechanisierung<br />
bzw. Motorisierung. Was sich für den nebenberuflichen Hauswart eines Hauses nicht<br />
lohnt, lohnt sich für den Hauswarts-<strong>Die</strong>nstleister, der das in Vollzeit macht, und für<br />
einen Service-Konzern mit Hunderten von Angestellten allemal: Laubsauger statt Besen,<br />
Kehrmaschine statt Schrubber, Schredder statt Axt. Dadurch ist man natürlich<br />
schneller – aber auch lauter, verbraucht mehr Energie und Rohstoffe und benötigt<br />
gegebenenfalls eine höhere Qualifikation.<br />
• <strong>Die</strong> höhere Schnelligkeit muss – man hat ja investiert – nun auch zur Anwendung<br />
kommen, um sich gelohnt zu haben, das heißt mehr Mobilität: Mit dem Auto fährt<br />
man von Kunde zu Kunde und verrichtet dort in kurzer Zeit das vereinbarte Serviceprogramm.<br />
Speziell beim Hauswart wird dann auch der Verlust augenfällig: Hat er früher neben den Reinigungstätigkeiten<br />
auch noch das Haus gehütet und den sozialen Zusammenhalt gefördert<br />
(mit allen Konsequenzen ...), die Mülltonnen überwacht und somit auch der Verantwortungslosigkeit<br />
entgegengewirkt, fällt das beim Servicedienst weg: Er kommt einmal in der Woche<br />
für 45 Minuten. Das Ergebnis ist billiger, aber auch schlechter.<br />
Andere <strong>Die</strong>nstleistungen führen allein durch ihre Ausweitung zu mehr Ressourcenverbrauch:<br />
Läden, die länger geöffnet haben, müssen beleuchtet und geheizt werden, mehr Personal<br />
fährt durch die Gegend, mehr Werbung ist notwendig usw.<br />
Der zweite Punkt – der unbegrenzte Konsum von <strong>Die</strong>nstleistungen durch den Konsumenten<br />
– ist ebenfalls äußerst zweifelhaft. Es gibt nämlich Menschen, die gar keine Lust haben, unbegrenzt<br />
<strong>Die</strong>nstleistungen zu konsumieren und sich statt dessen lieber selbst vielfältig betätigen.<br />
Das macht nämlich zufrieden. Sie brauchen keine Gassi-Führer, Stilberater, Wohnungseinrichter<br />
und derlei mehr. Das ist eher ein Verlust an Lebensqualität <strong>als</strong> ein Gewinn<br />
und dient häufig nur der eitlen Selbstbespiegelung derer, die schon alles haben, außer Zeit.<br />
„Mehr <strong>Die</strong>nste statt mehr Waren”: Das Problem ist das Mehr. Egal was man anbietet: Keine<br />
Ware und keine <strong>Die</strong>nstleistung ist ohne Ressourcenverbrauch zu haben.<br />
3.1.6 Sie führt zu Verantwortungslosigkeit<br />
Es gibt im Wirtschaftsleben verschiedene Spielarten, Verantwortungslosigkeit hervorzurufen.<br />
Hinter allen steht der Versuch, die Produktivität zu steigern.<br />
Aufteilung von Verantwortung durch Arbeitsteilung<br />
Der Bioladen kauft Obst ein, welches von weit her importiert wird, und überlässt die Entscheidung<br />
dem „mündigen Kunden”, ob er das kauft oder nicht. Der Kunde hingegen verlässt<br />
sich auf die scheinbare Integrität seines Bioladens und greift unbekümmert ins Regal. Das<br />
Ergebnis geteilter Verantwortung ist leider nicht doppelte Verantwortung, sondern Verantwortungslosigkeit<br />
– jeder verlässt sich auf den anderen.<br />
<strong>Die</strong> ganze Globalisierung basiert auf diesem Muster: Ich importiere etwas und interessiere<br />
mich nicht dafür, wie es entstanden ist. Ich exportiere etwas und interessiere mich nicht<br />
dafür, wie es verwendet wird. Globalisierte Arbeitsteilung führt zu einer Aufteilung von Verantwortungsbereichen<br />
und damit zu Verantwortungslosigkeit. Je kleiner der Ausschnitt ist,<br />
51
den ich bearbeite, um so weniger muss ich mir Gedanken um das „vor mir” und „nach mir”<br />
machen.<br />
Aufteilung von Verantwortung durch „Verantwortungsdreiecke”<br />
Ein geniales System von Verantwortungsteilung plündert uns seit Jahrzehnten systematisch<br />
aus: Das System der gesetzlichen Krankenkassen. Es funktioniert so:<br />
• Der Patient zahlt seinen Krankenkassenbeitrag und ist damit praktisch vollkaskoversichert.<br />
Er kann mehr oder weniger alle Leistungen beanspruchen, die die moderne<br />
Medizin zu bieten hat, und hat damit an einer sparsamen Verwendung kein Interesse<br />
mehr. In der gesetzlichen Krankenkasse erfährt er noch nicht einmal, was seine Behandlung<br />
kostet, er bekommt direkt die medizinischen Leistungen („Sachleistungsprinzip”).<br />
• Der Arzt behandelt den Patienten und stellt die Rechnung an die Krankenkasse. Dank<br />
der „Einzelleistungsvergütung” erhält der Arzt umso mehr Geld, je aufwendiger er<br />
behandelt, und er kann dieses „aufwendiger” in weiten Grenzen frei gestalten. Er hat<br />
schon gar kein Interesse an Sparsamkeit, im Gegenteil: Viele Ärzte haben den „Blankoscheck”<br />
Krankenschein in der Vergangenheit für betrügerische Abrechnungen genutzt.<br />
Der einzige Mensch, der die Abrechnung hätte kontrollieren können, nämlich<br />
der Patient, ausgerechnet der bekam diese Abrechnung ja nie zu sehen.<br />
• <strong>Die</strong> Krankenkasse hat ebenfalls kein vitales Interesse an Sparsamkeit, denn es ist ja<br />
eigentlich nicht ihr Geld. Sie verwaltet nur das Geld ihrer Patienten.<br />
Somit ist jede Verantwortung völlig ausgehebelt. Zusätzlich zur immer größeren Leistungsfähigkeit<br />
der Medizin kommt auch noch dieser Effekt der fehlenden Verantwortung, und beides<br />
lässt die Kosten im Gesundheitssystem immer weiter steigen.<br />
Einführen von Maßzahlen<br />
Maßzahlen und scheinbare Objektivität ersetzen den Sinn. Zum Beispiel „Management by<br />
objectives”, zu deutsch „Führung durch Zielvereinbarungen”. Zusammen mit dem Arbeitnehmer<br />
werden möglichst objektive, am besten messbare Ziele vereinbart und eine Belohnung<br />
nachvollziehbar an die Erfüllung dieser Ziele gekoppelt. Wie der Arbeitnehmer diese<br />
Ziele erreicht, soll er selbst entscheiden. Auf diese Weise soll der Sportsgeist des Arbeitnehmers<br />
motiviert werden. Andere „Management by ...”-Methoden verwenden ebenfalls<br />
Maßzahlen.<br />
Maßzahlen haben die unangenehme Eigenschaft, sich zu verselbständigen und an die Stelle<br />
des eigentlichen Zieles zu treten, wenn der persönliche Erfolg oder Misserfolg mit dieser<br />
Maßzahl verknüpft ist. Maßzahlen fördern Verantwortungslosigkeit. Wer eine Maßzahl einführt,<br />
wird bekommen, was er verdient – nämlich dass das Erfüllen der Maßzahl im Zweifel<br />
vor verantwortungsvolles Handeln rückt. Profitcenter, Renditeziele, Umsatzziele etc. – alles<br />
die gleiche Absicht. Eine Maßzahl ist nichts anderes <strong>als</strong> ein Ablenken vom fehlenden Sinn.<br />
Und: Maßzahlen bedeuten Kontrolle. Kontrolle ist nicht gut, Vertrauen ist besser. Warum<br />
sollten Menschen nicht anständig arbeiten wollen, wenn sie den Sinn darin sehen? Vertrauen<br />
macht den Menschen besser, Kontrolle macht ihn schlechter.<br />
Anonymität<br />
Verantwortungslosigkeit und Anonymität hängen eng zusammen. Unmoralisches Verhalten<br />
fällt leichter, wenn das Opfer nicht bekannt ist – oder sogar völlig unklar ist, ob überhaupt<br />
jemand zu leiden hat. Je weniger Konsument und Produzent über die Prozesse wissen, desto<br />
leichter fallen Konsum und Produktion.<br />
Zwischenhändler und Globalisierung erhöhen zwar die Produktivität, aber auch die Anonymität<br />
und die Unübersichtlichkeit des Handels. Deswegen findet man auf fair gehandelten Produkten<br />
auch immer wieder wieder Hinweise auf konkrete Projekte oder Bilder von dankbaren<br />
Kleinbauern: Gutes zu tun fällt leichter, wenn keine Anonymität herrscht.<br />
52
Aktien sind nicht nur ein besonders effizienter Weg, um Anteile von Unternehmen zu handeln,<br />
sie eignen sich auch gut zur Spekulation, weil sie in der Regel anonym gehandelt werden.<br />
Der Anteilseigner tritt gegenüber dem Unternehmen nicht in Erscheinung.<br />
Ein besonderes Thema ist die Anonymität im Internet (siehe Computer, Internet und mobile<br />
Kommunikation).<br />
Druck<br />
Zeitdruck ist der vielleicht wichtigste Verbündete der Konsumindustrie. Einkaufen findet<br />
meist mit knapper Zeit statt, so dass man Angebote nur bedingt hinterfragen kann. Der<br />
Händler sortiert die Angebote vor, der Kunde wählt aus dem aus, was dort vorsortiert liegt.<br />
Deshalb ist es wichtig, zum einen von vornherein nur vertretbare Angebote zuzulassen (z. B.<br />
durch gesetzliche Regelungen), und zum anderen, sich beim Kauf Zeit zu lassen. Und beim<br />
Konsum auch.<br />
Ein Paradebeispiel für Verantwortungslosigkeit durch Zeitdruck ist in meinen Augen „Coffee<br />
to go”:<br />
• Unfair und unökologisch hergestellter Kaffee<br />
• wird unfair gehandelt,<br />
• von einer schlecht bezahlten Servicekraft abgefüllt<br />
• in einen Pappbecher, der sofort danach zu Müll wird.<br />
Und das alles, weil jemand sich nicht die Zeit nimmt, die Sache in Ruhe zu genießen und den<br />
wahren Preis zu bezahlen. Solche Anbieter sind nicht „genial” (DIE ZEIT, Ausgabe 42/2011),<br />
sondern eine Schande. Aber natürlich systemkonform.<br />
3.1.7 Sie führt uns in Versuchung<br />
Produktivitätssteigerung in einer Gesellschaft, die schon alles hat, ist eine schwierige Sache.<br />
<strong>Die</strong> permanente Steigerung des Ausstoßes muss ja irgendwo untergebracht werden. Der<br />
Konsum muss daher künstlich stimuliert werden: Niedriger Preis, Irreführung, Wecken hoher<br />
Erwartungen. Was verfügbar ist, wird konsumiert, selbst von jenen, die wissen, dass es eigentlich<br />
widersinnig ist. Jene bedürfen oft nur einer kleinen Überwindung, z. B. Zeitdruck<br />
oder Menge. Selbst der überzeugteste Öko schluckt, wenn er schnell mal Grillfleisch für 15<br />
Personen beim Neuland-Fleischer einkaufen soll – das kostet im Supermarkt nebenan nicht<br />
mal die Hälfte ... Es gibt Angebote, die man nicht ablehnen kann. Und daher darf es eben<br />
bestimmte Angebote gar nicht erst geben.<br />
Zu niedriger Preis<br />
Der Preis ist nicht der wahre Preis. Material, allem voran billiger Kunststoff, wird gewaltsam<br />
in den Markt gedrückt, und weder die wahren Rohstoffkosten, noch die wahren Herstellungskosten<br />
und schon gar nicht die wahren Entsorgungskosten spielen dabei eine Rolle.<br />
Solche Preise sind vielfältig subventioniert, die Ursachen sind immer die gleichen:<br />
• „Der Markt” ist nicht in der Lage, indirekte oder zukünftige Kosten wie Umweltverschmutzung,<br />
Landschaftszerstörung, Übernutzung, Tierquälerei, Sozialdumping oder<br />
zukünftigen Ressourcenmangel abzubilden, weil es keinen Marktteilnehmer gibt, der<br />
davon betroffen wäre. Umwelt, Landschaft und Tiere haben keine Stimme, rechtlosen<br />
Arbeitnehmern wird der Mund zugehalten und zukünftige Generationen leben noch<br />
nicht, obwohl sie alle von diesen Transaktionen betroffen sind. <strong>Die</strong>se „stimmlosen<br />
Marktteilnehmer” kommen nicht zu ihrem Recht, weil niemand sie vertritt (vgl. Binswanger<br />
2009 S. 207).<br />
• Der nationale und internationale Wettbewerb um Arbeitsplätze, verbunden mit einem<br />
aggressiven Lobbyismus, führt zu den verschiedensten Subventionen, seien es direkte<br />
Zahlungen oder indirekte Erleichterungen, die von der Gesellschaft in Form von Steu-<br />
53
ern aufgebracht werden müssen. Technologieförderung, Ansiedlungspolitik, Umsatzsteuerbefreiung<br />
und wie sie alle heißen.<br />
• Mengenrabatt ist weit verbreitet. Wer mehr verbraucht, wird mit niedrigeren Durchschnittspreisen<br />
belohnt, so dass es sich nicht lohnt zu sparen. Betriebswirtschaftlich<br />
gesehen ist das sinnvoll: Solange der Umsatz höher ist <strong>als</strong> die direkten Kosten, kann<br />
der Unternehmer damit Fixkosten decken, und mit höherem Umsatz eben mehr <strong>als</strong><br />
mit niedrigerem. Je mehr ein Kunde auf einmal abnimmt, desto niedriger sind die sogenannten<br />
Transaktionskosten (Verhandlung, Verkauf, Verpackung, Versand), da ist<br />
dann Raum für Rabatte. Ressourcensparend ist es nicht. Progressive Verbrauchstarife<br />
werden das Problem nicht lösen.<br />
Werbung<br />
Werbung ist das Gegenteil von rationaler Kommunikation. Für Menschen, die schon alles<br />
haben, muss man zu anderen Mitteln greifen. Der Mensch ist nicht mehr eigentliches Ziel des<br />
Konsums, sondern dient nur noch <strong>als</strong> „Zwischenwirt des Wachstumsvirus”. Was der Mensch<br />
von sich aus nachfragt, ist unwesentlich geworden: Er wird von den Anbietern zur Nachfrage<br />
getrieben. Es ist primär die Suche der Anbieter nach neuen Betätigungsfeldern, die den Konsum<br />
bestimmt. Es geht im Grunde genommen auch nicht mehr um Konsum, sondern nur<br />
noch um den Kauf. Ob das gekaufte Gut auch konsumiert wird, ist herzlich uninteressant<br />
geworden.<br />
Jugend ist eine Eigenschaft und kein Verdienst. <strong>Die</strong> gesellschaftlichen Tabuthemen Krankheit,<br />
Alter, Sterben und Tod werden von der Werbung vermeidend instrumentalisiert, indem<br />
in der Werbung vorwiegend junge, schöne Menschen und Tiere gezeigt werden. Alter wird<br />
selten gezeigt, und wenn, dann auch nur stilisiert, um positive Aspekte wie Lebenserfahrung,<br />
Lebensleistung, Beständigkeit und Generationenabfolge abzubilden.<br />
Werbung manipuliert, aber weniger in dem Sinne, dass sie konkrete Produkte und Marken<br />
bewirbt, sondern indem sie konsequent ein bestimmtes Bild vermittelt. Denn unser Alltag ist<br />
banal – bröselig, staubig und fettig. Dinge, die benutzt werden, bekommen Gebrauchsspuren.<br />
<strong>Die</strong> Menschen sehen so und so aus. Das ist weder gut noch schlecht, sondern unvermeidlich.<br />
Es ist so. Werbung hingegen erzeugt Bilder von Sauberkeit, Neuheit, Jugend, Frische,<br />
Makellosigkeit. Ein Fehlen von Kalkrändern, Krümeln, Klecksen, Fusseln, Haaren, Obstfliegen,<br />
Falten und Altersflecken. Man muss sich nur mal die Werbung für Einbauküchen anschauen<br />
– ein steriler Operationssaal für edle Lebensmittel. Wenn Werbung selten mal Bilder<br />
vom Dreck zeigt, dann kunstvoll drapierten Dreck (drei Farbtupfer auf der Malerkleidung<br />
oder ein entzückendes Kindermäulchen voller Ketchup) oder solchen Dreck, der unterschwellig<br />
eine Werbebotschaft vermittelt, wie Schlamm auf einem Mountainbike.<br />
Es gibt nur einen einzigen Weg, dieses saubere Bild der Werbung im Alltag zu erreichen:<br />
Wegwerfen und neu kaufen. Nur neue Produkte können diesen maßlosen Anspruch erfüllen,<br />
alles andere scheitert nach spätestens einer Saison.<br />
Werbung fördert die soziale Spaltung: „<strong>Die</strong> Werbung nutzt die starken Reaktionen der Menschen<br />
auf soziale Vergleiche, um ihnen Dinge zu verkaufen, die sie in den Augen anderer<br />
besser erscheinen lassen. [...] Auslöser vieler Straftaten sind Ehrverlust und Erniedrigung,<br />
das Gefühl, nicht geachtet zu werden. Indem die Werbung diese Ängste vor Minderwertigkeit<br />
gezielt anspricht, kann sie durchaus auch zum Anstieg der Gewalt in einer Gesellschaft beitragen.”<br />
(Pickett/Wilkinson 2009 S. 55f.)<br />
Unser eigenes Aussehen ist zur Werbung geworden: Wir werben permanent um uns selbst.<br />
Make-Up, Kleidung, Auftreten werden bereits von Jugendlichen kalkuliert nach ihrer Außenwirkung<br />
eingesetzt. Soziale Kontakte sind zu Märkten geworden, auf denen mit der Währung<br />
Sympathie und Zuwendung über die Ware abgestimmt wird. Der Wettbewerb ist hart, und<br />
viele sind auf der Suche nach einer Steigerung ihres Marktwertes.<br />
54
Heutzutage soll alles leicht sein, mühelos. In erster Linie deshalb, um den Menschen herumzukriegen,<br />
eine Ware zu kaufen oder Leistung in Anspruch zu nehmen. Komplizierte Themen<br />
wie Internetzugang, Computernutzung oder Altersvorsorge werden heruntergespielt, Materialpflege<br />
ist dem Kunden nicht zumutbar, verantwortungsvolle Entsorgung steht bestenfalls<br />
im Kleingedruckten. Alles ist einfach und mundgerecht und muss auch so sein, denn viele<br />
Menschen sind technische Analphabeten. Durch die sogenannte Convenience-Industrie wird<br />
das immer schlimmer. Sie verstärkt den Glauben, dass Technik einfach sei, Pflege unnötig<br />
und Ressourcenverbrauch kein Thema.<br />
Professioneller Sport hat nur noch wenig mit Sport zu tun. Eine Sportart ist interessant, wenn<br />
sie Vermarktungspotenziale bietet – man lasse sich das Wort „Vermarktung” mal auf der<br />
Zunge zergehen. Dinge muss man nur dann vermarkten, wenn sie mit dem Markt eigentlich<br />
nichts zu tun haben.<br />
Zeitungen und Zeitschriften sind durch die Abhängigkeit von ihren Werbekunden in ihrer<br />
Objektivität beeinträchtigt – oder manipulieren durch Anzeigen, die optisch vom redaktionellen<br />
Teil kaum zu unterscheiden sind.<br />
3.1.8 Sie ist hässlich<br />
<strong>Die</strong> Welt wird verschandelt, weil Schnelligkeit und Billigkeit dominierend sind. Der Geist von<br />
Pareto zieht durch unsere Städte und Dörfer und hinterlässt eine Ödnis der Zweckmäßigkeit.<br />
Im Einzelhandel bietet er Produkte zweifelhafter Herkunft aus schlechtem Material an. Ästhetische<br />
Bauweisen, Handwerk und ehrliche Materialien sind zum unbezahlbaren Luxus geworden.<br />
<strong>Die</strong> Dinge werden nicht mehr anständig zuende gebracht, statt dessen wird übertüncht<br />
und verblendet.<br />
Baulich<br />
Öde Vorstädte, hässliche Gewerbegebiete, geklonte Fußgängerzonen, riesige Shopping Malls,<br />
Bankenviertel, die in den Himmel ragen. Grellbunte Baumärkte, Supermärkte, Getränkemärkte,<br />
Tierfuttermärkte, Möbelmärkte, Pflanzenmärkte, Fast-Food-Stationen. Alle mit überdimensionierten<br />
Parkplätzen. Parkhäuser, mit Stahlträgern billig hochgezogen. Autohändler in<br />
Glaspalästen. O2-Arenen. Autobahnen mit Autobahndreiecken und Autobahnkreuzen und<br />
Autobahnraststätten. Hausfassaden <strong>als</strong> Werbeplakate oder mit Satellitenschüsseln. Dazwischen<br />
breite Straßen mit bewundernswert komplizierten Ampelanlagen und akkuraten Linienführungen.<br />
Beton, Asphalt, Pflasterverbundsteine in rot und grau. Nachts alles von leuchtenden<br />
Firmennamen und blinkenden Werbetafeln erhellt.<br />
<strong>Die</strong> Bauwirtschaft wird durch Produktivitätszwang und die Erfordernisse des Konsums zur<br />
Schaffung besonders hässlicher und leider auch dauerhafter Objekte veranlasst.<br />
Optisch<br />
Werbetafeln pflastern den öffentlichen Raum. Werbung ist ein Missbrauch der Allmende „Öffentlicher<br />
Raum”. Jede Fläche, an der sich ein Auge länger <strong>als</strong> einen Wimpernschlag aufhalten<br />
kann, wird zur Werbefläche:<br />
• Veranstaltungs- und Verkehrstickets<br />
• Tankstellenzapfhähne<br />
• Tüten und Taschen<br />
• U-Bahnen, S-Bahnen, Busse und Züge. Innen und außen.<br />
• Pissoirs und Klodeckel. Habe ich nicht mal das Recht, ohne Werbung zu pinkeln?<br />
<strong>Die</strong> Produkte sind fad. Überall erhält man das Gleiche, mittlerweile sogar international. Alles<br />
ist normiert, effizient, vertraut.<br />
55
Überall Barcodes, eindimensional, zweidimensional. Auf jeder Paketsendung mittlerweile fast<br />
im Dutzend zu haben. Manche Getränkeverpackungen sind auf einer Seite nur noch Barcode.<br />
Geht schneller an der Kasse.<br />
Das Straßenbild wird von Autos beherrscht – fahrend, wartend, parkend.<br />
Akustisch<br />
Der Lärm von Motorrollern, Motorrädern, Autos. Das Piepsen von Computerkassen, Bimmeln<br />
von Mobiltelefonen, Grölen von Party-Touristen. Laubsauger, Kehrmaschinen, Rasenmäher,<br />
Mähdrescher, Trecker. Motorboote. Kilometerweit links und rechts einer Autobahn das Sausen<br />
des Verkehrs. Fluglärm, Zuglärm.<br />
Materiell<br />
Einwegverpackungen, Kaffeebecher, PET-Flaschen, Warmhalteboxen. Alles ist mittlerweile<br />
eingeschweißt. Folien <strong>als</strong> Spanngurte, Folien <strong>als</strong> Abdeckung, Folien <strong>als</strong> Unterlage. Plastikmöbel<br />
in jedem Baumarkt. Pressspan mit Kieferoptik. Laminat mit Buchenoptik. Styropor-Stuck.<br />
Alles Plastik. Kein echtes Material mehr, nur noch gepresste Krümel, gestanzte Lieblosigkeit<br />
und verschweißte Unwartbarkeit. Man kann nichts mehr reparieren, weil man an nichts mehr<br />
herankommt und keine Ersatzteile mehr erhält – oder nur zu utopischen Preisen. Da ist ein<br />
niedriger Preis dann auf einmal hinderlich.<br />
3.1.9 Sie ist menschenfeindlich<br />
Produktivitätssteigerung ist kein Wert an sich, sondern soll die Lebensqualität erhöhen. Aber<br />
das ist jetzt vorbei. Nachdem wir auf der Suche nach einer immer höheren materiellen Lebensqualität<br />
die Produktivität und damit den Konsum immer weiter gesteigert haben, stellen<br />
wir fest, dass die immaterielle Lebensqualität immer stärker darunter leidet.<br />
Offensiv dominiert defensiv<br />
Das persönliche Optimum der beiden Lebensqualitäten ist sehr verschieden, der eine will<br />
mehr Konsum, der andere weniger. Das Problem ist, dass die Konsumfreudigen ganz klar die<br />
weniger Konsumfreudigen dominieren, weil Konsum nicht nur privat stattfindet: Autos, Flugzeuge,<br />
mobile Kommunikation, Restaurants, Laubsauger, iPods, Bierflaschen und Werbung<br />
besetzen den öffentlichen Raum und vermüllen ihn optisch und akustisch. Wer es weniger<br />
laut, weniger grell, weniger groß, weniger dreckig möchte, hat keine Chance – er wird nicht<br />
gefragt und hat in dieser Hinsicht auch keine Rechte.<br />
Der Straßenverkehr ist ein Feld der Aggression, weil die Bedürfnisse zu unterschiedlich sind.<br />
<strong>Die</strong> einen verwenden möglichst produktive Technik, die anderen menschliche Technik. Aber<br />
die einen erhalten mehr Raum, und auch hier dominieren wieder die Stärkeren. <strong>Die</strong> Ampeln<br />
wurden nicht aufgestellt, um die Schwächeren zu schützen, sondern um den Stärkeren freie<br />
Fahrt zu gewährleisten. Mittlerweile muss man dauernd gegen irgendetwas Widerstand leisten,<br />
weil die Schnellen und Starken wieder irgendetwas wollen. Und die Sparsamen bezahlen<br />
den Konsum der Prasser über die öffentliche Infrastruktur mit.<br />
Wirtschaft <strong>als</strong> Krieg<br />
Produktivitätssteigerung macht die Marktwirtschaft selbst zu einem Schlachtfeld: Menschen<br />
werden zu Kostenfaktoren, Firmen zu Gegnern, Liquidität zur Waffe, der Markt zum strategischen<br />
Feld. <strong>Die</strong> Sprache wird unmenschlich. Berater und Vorstände teilen sich die Verantwortung<br />
auf, so dass keiner sie mehr hat, und fusionieren, zerschlagen, bauen Personal ab und<br />
glänzende Renditen auf – und haben schon lange vergessen, dass die Wirtschaft dem Menschen<br />
dienen soll. Mitarbeiter werden bedroht, erpresst, bespitzelt und leisten aus Angst um<br />
den Arbeitsplatz keinen Widerstand.<br />
Schon heute sind viele Menschen mit den Bedingungen in der sogenannten freien Wirtschaft<br />
überfordert: Arbeitsprozesse und Computerprogramme werden immer komplexer, und die<br />
Auslastung hochproduktiver Arbeitsplätze erfordert immer mehr Flexibilität. Immer weniger<br />
56
Menschen sind dem gewachsen, und diese wenigen werden mit immer höheren Gehältern<br />
belohnt, aber auch entsprechend „versklavt”. Man sieht keine Möglichkeit mehr, den Anforderungen<br />
etwas entgegenzusetzen, weil man seinen Arbeitsplatz nicht verlieren will.<br />
Der Jugend wird keine Perspektive geboten: Sie werden nicht mehr alle gebraucht, und man<br />
kann es sich leisten, einen Teil von ihnen aus dem System fallen zu lassen. Auf viele Ausbildungsplätze<br />
braucht man sich ohne Abitur gar nicht mehr zu bewerben, und es wird immer<br />
unsicherer, welche Berufe überhaupt noch in mehr <strong>als</strong> zehn oder zwanzig Jahre existieren<br />
werden. Berufe werden von jungen Leuten danach beurteilt, ob man viel Geld verdienen<br />
kann, und nicht danach, ob einen das interessiert. Immer wieder kommt es zu Jugendunruhen,<br />
speziell in besonders hässlichen und lebensfeindlich gestalteten Vierteln, die dann mit<br />
Gegengewalt oder ein bisschen Jugendarbeit beantwortet werden. In Südeuropa beträgt die<br />
Jugendarbeitslosigkeit teilweise 30 und 40 % – eine ganze Generation wird marginalisiert.<br />
Den älteren Arbeitnehmern wird keine Perspektive geboten: Im Handwerk bedeutet zunehmendes<br />
Alter ein Plus an Erfahrung. In der beschleunigten Welt sind die zunehmende Langsamkeit<br />
und das schnell veraltende Wissen Minuspunkte. Ältere Menschen sind nicht schlechter<br />
im Beruf, aber sie machen nicht mehr alles mit. <strong>Die</strong> Beschleunigung der Welt erfordert<br />
die immer weiter fortschreitende Verjüngung, weil der Lernprozess für den Beruf bereits im<br />
Kleinkindalter beginnt („Digital Natives”). <strong>Die</strong> Digital Natives von heute werden sich noch<br />
umschauen, wenn die nächste Phase der Produktivitätssteigerung sie wiederum alt aussehen<br />
lässt.<br />
Wir haben das Prinzip der Industrie, dass es billiger ist, mit Ausschuss zu produzieren, auf<br />
die Arbeitskraft übertragen. Zumal die Gemeinschaft freundlicherweise die Kosten trägt.<br />
Privatleben <strong>als</strong> Wirtschaft<br />
Das Privatleben wird ökonomisiert – auch hier herrscht ein Zwang zur Produktivitätssteigerung.<br />
„In Gesellschaften mit einer hohen Arbeitsproduktivität gelten Langsamkeit und eine entspannte<br />
Lebensgestaltung <strong>als</strong> sozial inakzeptabel, und die Intensität des Arbeitslebens überträgt<br />
sich auf das Leben zu Hause.” (Studie von Lindner, zitiert nach Inge Røpke,<br />
Seidl/Zahrnt 2010 S. 110) Ungeduldiges Warten ist Teil unseres Lebens geworden: An der<br />
Ampel, beim Arzt, an der Supermarktkasse. Wir bemängeln die fehlende Effizienz anderer<br />
oder des ganzen Systems.<br />
Fast Food und Fertiggerichte ersetzen das eigene Kochen, Fernsehen die Kultur. Statt gepflegt<br />
und repariert wird weggeworfen und neu gekauft. Auch weil viele Menschen technische<br />
Analphabeten sind und nicht einmal wissen, wie sie ihren Fahrradreifen flicken können,<br />
geschweige denn etwas Komplizierteres.<br />
Erziehung dient <strong>als</strong> Fitmacher für den globalen Wettbewerb, und damit kann nicht früh genug<br />
angefangen werden. Eine Mutter auf Deutschland-Radio zum Thema zweisprachige Kindergärten:<br />
„In dieser Zeit lernt man so mühelos. Es wäre doch schade, wenn diese Zeit verspielt<br />
würde!” Verspielt und ziellos ist nicht mehr drin, das kann man später immer noch machen.<br />
Schulen sind die effizienten Versorgungseinrichtungen für die Wirtschaft. Zwölf Jahre<br />
statt dreizehn, aber bitte keine Abstriche am Programm. Kultur hat zunehmend nur noch<br />
Berechtigung, wenn sie marktfähig ist, sich selbst tragen kann.<br />
Mobilität zerstört die regionalen sozialen Strukturen des Menschen. Man lebt im Speckgürtel<br />
der Stadt und fährt zur Arbeit hinein und auch wieder heraus. Individualität geht verloren:<br />
Nachdem das Auto schon seit langem die kleinen Lebensmittelläden vernichtet hat, verschwinden<br />
dank des Internet kleine Hersteller, kleine Läden, kleine Verlage, kleine Zeitungen.<br />
Schulkinder kommen aus allen möglichen Teilen der Stadt oder der Region. Auf dem<br />
Land wurden die kleinen Schulen geschlossen und in größeren Einheiten konzentriert. Landflucht<br />
– die Dörfer altern und leeren sich.<br />
57
Das System ist unruhig: Im Kapitalismus findet eine ständige Verdichtung, Bereinigung, Umschichtung<br />
statt, die alle immer wieder zum Umdenken zwingt. Krankheiten nehmen zu: Aggression,<br />
Depression, AHDS, Neurodermitis, Allergien, Burnout, ...<br />
3.1.10 Sie ist demokratiefeindlich<br />
Wirtschaftliche Macht ist größer <strong>als</strong> demokratische Macht<br />
Das Privatwirtschaftliche ist politisch geworden. Wir akzeptieren, dass im privatwirtschaftlichen<br />
Bereich mittlerweile Strukturen (nicht nur Konzerne) entstanden sind, die größer sind<br />
<strong>als</strong> die demokratischen Institutionen, und deren Machtausübung sich nicht nur jeder demokratischen<br />
Kontrolle entzieht, sondern sogar gegen die Demokratie wendet. Parallel zum öffentlichen<br />
Sektor hat sich ein viel größerer privater Sektor entwickelt, der nicht demokratisch<br />
kontrolliert wird, aber ein viel größeres Machtpotential hat. Das ist in einer Demokratie, deren<br />
Ziel Machtbegrenzung ist, nicht akzeptabel.<br />
Der Staat wird somit in die Defensive gedrängt. <strong>Die</strong> Frage der wirtschaftlichen Existenz des<br />
einzelnen Menschen ist so beherrschend geworden, dass man von staatlichen Entscheidungen<br />
mittlerweile weniger betroffen ist <strong>als</strong> von Unternehmensentscheidungen. Das Argument<br />
„Arbeitsplätze” beendet auch im Parlament jeden Ansatz einer Diskussion. <strong>Die</strong> staatlichen<br />
Institutionen haben faktisch keine Gestaltungsmacht mehr, weil das Thema Wachstum sakrosankt<br />
und absolut dominant ist.<br />
Dem Staat werden zudem zu viele Leistungen abverlangt. Insbesondere muss er die finanziellen<br />
Folgen der Arbeitslosigkeit tragen. <strong>Die</strong> Globalisierung schwächt den Staat aber auch<br />
dadurch, dass er immer mehr und immer schneller Analyse-, Abstimmungs- und Statistikleistungen<br />
erbringen soll, immer neue Bundesämter und -institute, bei immer schlechterer Finanzierung.<br />
Der Staat soll bereits heute das leisten, worum sich die Privatwirtschaft nicht zu<br />
kümmern braucht: Sparsames Wirtschaften, kein Gewinn, ökologisches und soziales Handeln.<br />
Das Autoritäre der Wirtschaft wird zum Maß für die Demokratie<br />
Der demokratischen Gesellschaft wird nicht mehr zugetraut, dass sie die Probleme lösen<br />
kann: Zu langsam, zu wenig effizient, zu weich. <strong>Die</strong> demokratischen Institutionen hinken der<br />
Wirtschaft hinterher. Der Druck des Marktes ist so hoch, dass normale parlamentarische Prozesse<br />
zu langsam sind. Doch das liegt eher daran, dass die Schnelligkeit, Effizienz und Härte<br />
der Wirtschaft, die auf demokratische Prozesse keine Rücksicht nehmen muss, mittlerweile<br />
das Maß aller Dinge geworden ist. Der Ruf nach „unabhängigen” Experten aus der Wirtschaft<br />
wird lauter, was letztlich eine Entdemokratisierung bedeutet. Wie früher, <strong>als</strong> die Stimmen der<br />
Besitzenden und Leistungsstarken mehr wert waren <strong>als</strong> die der Besitzlosen.<br />
Aufgrund ihrer Schwächung erhält die Demokratie immer mehr höfische oder autoritäre Elemente.<br />
Wir suchen im Politiker mehr und mehr den weisen und gütigen Monarchen, dessen<br />
privates Hofleben unser etwas banales Leben über die Presse mit Glanz und Gloria versorgt,<br />
oder den Politiker mit Ellbogenmentalität, der sich durchsetzen kann. Beides ist nicht im Sinne<br />
der Demokratie.<br />
Korrumpierung von Politikern<br />
Missverhältnisse im Politikbetrieb: Bereits angesichts von eher unbedeutenden Möglichkeiten,<br />
dem eigenen Wahlkreis wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen, bremsen Politiker große politische<br />
Projekte. Korruption blüht sowohl innerhalb der Wirtschaft <strong>als</strong> auch für politische Zwecke:<br />
Bestechung, Lobbyismus sowie Wechsel aus der Politik in die Wirtschaft nehmen den<br />
gewählten Repräsentanten und Parteipolitikern ihre Kritikfähigkeit. Interessenkonflikte werden<br />
gar nicht mehr <strong>als</strong> solche wahrgenommen, weil die beruflichen Ziele an die privaten angeglichen<br />
werden.<br />
Beraterkratie<br />
Weil man <strong>als</strong> Politiker vieles nicht mehr so richtig versteht, benötigt man Berater, die sich<br />
58
mehr und tiefer damit beschäftigen. Das ist sozusagen die Produktivitätssteigerung von Politikern.<br />
Man ist diesen Beratern ziemlich ausgeliefert, denn man muss ihnen vertrauen – man<br />
kann ja nicht so richtig überprüfen, was sie einem erzählen. <strong>Die</strong>se Berater können Eigeninteressen<br />
haben, auf die eine oder andere Art voreingenommen sein und vieles andere mehr,<br />
was einer guten Politikberatung hinderlich ist.<br />
Herabwürdigung des öffentlichen <strong>Die</strong>nstes<br />
Wieso eigentlich kann der Staat keine „anständigen” Gehälter wie die Industrie zahlen? Weil<br />
er keinen Profit machen darf. Sobald er Profit macht, muss er die Steuern senken. Deshalb<br />
bleiben die Gehälter der Beamten und des öffentlichen <strong>Die</strong>nstes immer auf niedrigerem Niveau.<br />
<strong>Die</strong> Frage muss eigentlich auch umgekehrt lauten: Wieso kann die Industrie „unanständige”<br />
Gehälter zahlen?<br />
Wenn das Ungleichgewicht zwischen staatlicher und privatwirtschaftlicher Entlohnung zu<br />
groß wird, verliert die Gemeinschaft doppelt: <strong>Die</strong> gut Qualifizierten wandern ab in die Privatwirtschaft,<br />
und in den staatlichen Institutionen lauert das Gespenst der Korruption. Uns geht<br />
es in Deutschland dabei noch vergleichsweise gut. In anderen Ländern ist Korruption eine<br />
nationale Seuche, die die Menschen entmutigt und entwürdigt. Korruption ist Mord an der<br />
Demokratie, und daran sollte sich auch ihre Beurteilung messen.<br />
3.1.11 Sie macht die Gesetze zu kompliziert<br />
Je verfeinerter das Leben, je höher die Arbeitsteilung, je größer die politischen Einheiten<br />
werden (EU, Globalisierung), desto unterschiedlicher sind die Interessen, Anforderungen und<br />
Notwendigkeiten. Zu einer produktiven Gesellschaft gehört auch eine akzeptierte Ordnung,<br />
bestehend aus Gesetzen und Verordnungen sowie Institutionen, die sie umsetzen und überwachen.<br />
All das wird immer komplizierter. <strong>Die</strong>se Kompliziertheit ist eine direkte Folge der<br />
Spezialisierung und Arbeitsteilung. Ein großer Teil unserer Gesetze sind zudem Inseln der<br />
Vernunft, mit denen versucht wird, der unvermeidlichen Auswüchse Herr zu werden.<br />
Aufwand<br />
Das bedeutet einen immer höheren Verwaltungsaufwand für alles und alle: Unternehmen,<br />
Politik, Sozialversicherung, Bürger. Man muss viel Zeit aufwenden, um sich damit zu beschäftigen.<br />
Es gibt ganze Klassen von Berufen, die von dieser Kompliziertheit leben: Steuerberater,<br />
Rechtsanwälte, Verwaltungsangestellte, ...<br />
Gerechtigkeit<br />
Darunter leidet die Gerechtigkeit, denn viel Zeit können nur die aufwenden, die sich das leisten<br />
können. Ein Steuerberater ist teuer, und viele andere Berufe sind das auch. Wer viel Zeit<br />
oder viel Geld hat, ist im Vorteil. Fragen Sie mal einen Kleinbetrieb oder Einzelunternehmer<br />
mit geringem Umsatz, wie das Verhältnis ist.<br />
Lobbyismus<br />
Kompliziertheit ist die Lebensberechtigung von Lobbyisten. Kein Parlamentarier benötigt den<br />
Rat und die Argumente von Lobbyisten, wenn er sich selbst ein Bild machen kann. Weil aber<br />
kein normaler Mensch die Dinge mehr in endlicher Zeit begreifen kann, wird der „kostenlose”<br />
oder sogar mit Geschenken garnierte Rat von Lobbyisten dankbar angenommen. Einfachheit<br />
hingegen macht unabhängig.<br />
Politikabstinenz<br />
Allenthalben wird beklagt, dass die Menschen unpolitischer geworden sind. Abgesehen davon,<br />
dass Zeit ein immer knapperes Gut ist: Politische Teilnahme ist auch deshalb so unpopulär,<br />
weil die Welt so kompliziert geworden ist. Man denkt: „Das verstehe ich sowieso nicht”<br />
– und oft hat man recht. Mir geht es ja selbst so.<br />
59
3.1.12 Sie spaltet Regionen und Nationen<br />
„Verantwortungsschranke”<br />
Eine Nationengrenze bildet eine „Verantwortungsschranke”:<br />
• Einfuhr von Gütern, die nicht nach den eigenen Grundsätzen hergestellt wurden: Naturverwüstung,<br />
Rohstoff- und Energieverschwendung, Ausbeutung von Erwachsenen<br />
und Kindern, Verletzung von Menschenrechten – Globalisierung wählt jeweils dasjenige<br />
Land mit den niedrigsten Standards <strong>als</strong> Produktionsstandort.<br />
• Ausfuhr von Gütern, die im Ausland entgegen den eigenen Grundsätzen verwendet<br />
werden: Rüstungsexporte, Waffenhandel, gefährliche Chemikalien.<br />
• Ausfuhr von Müll, den man im eigenen Land nicht haben will.<br />
• Ausfuhr von Geld zur Steuervermeidung.<br />
Solange unterschiedliche Regeln für Güter und Geld diesseits und jenseits der Grenze gelten,<br />
passiert das Gleiche wie bei einem Unternehmer, der bezüglich verschiedener Produkte eine<br />
Mischkalkulation fährt, bei der weniger ertragreiche Produkte von den ertragreichen „subventioniert”<br />
werden: Es findet sich früher oder später eine Nation, die genau in diese Lücke geht<br />
und so etwas „anbietet”, und dort geht dann auch die Globalisierung hin – Nationen <strong>als</strong><br />
Marktführer ihres eigenen Untergangs, bis auf die Steueroasen.<br />
Ruinöser Wettbewerb um Arbeitsplätze<br />
Der Kampf um Arbeitsplätze führt zu einem ruinösen Wettbewerb von Regionen und Nationen.<br />
Ansiedlungspolitik, Subventionen, Markterleichterungen – viele Namen, ein Ziel: Bitte<br />
hier und nicht dort. Was von den einen stolz <strong>als</strong> Arbeitsplatzgewinn verkündet wird, bedeutet<br />
den Arbeitsplatzverlust oder Stagnation woanders. In Berlin freuten sich im Sommer 2011<br />
Wirtschaftssenator Wolf und der Regierende Bürgermeister Wowereit darüber, dass ein bedeutender<br />
Internethändler hier ein Kundendienstzentrum aufbauen und langfristig 350 Arbeitsplätze<br />
schaffen will – und vergessen dabei, dass ein bedeutender Internethändler Tausende<br />
von Arbeitsplätzen im Einzelhandel vernichtet. <strong>Die</strong> Steigerung der Produktivität ist<br />
seine Existenzberechtigung.<br />
In Verbindung mit dem Wettbewerb der Nationen führt dies zur kontinuierlichen Absenkung<br />
der Standards, zum Export von Ausbeutung und Naturverwüstung. <strong>Die</strong> Regionen und Nationen<br />
kämpfen einen verzweifelten und aussichtslosen Kampf.<br />
Der Verlust bleibt national<br />
<strong>Die</strong> Wirtschaft ist schon weiter <strong>als</strong> die Nationen, indem sie den Nationenbegriff überwunden<br />
hat. Profit ist nicht an die Nation gebunden. <strong>Die</strong> Nationen hinken hinterher. Sie müssen den<br />
solidarischen Anteil übernehmen, denn der lässt sich immer nur auf einen überschaubaren<br />
Bereich begrenzen.<br />
„Wirtschaftsflüchtlinge”<br />
<strong>Die</strong> Nation ist der Bereich des finanziellen Austausches durch Wirtschaftsleistung und Transfer.<br />
Sie definiert den räumlichen Bereich, in dem der Hauptteil der wirtschaftlichen und alle<br />
sozialen Netze gespannt sind. Viele Menschen werden von unserem Lebensmodell angelockt<br />
und versuchen, <strong>als</strong> sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge” ihr Glück bei uns zu finden. <strong>Die</strong> Abgrenzung<br />
zu politischen Flüchtlingen mit Anspruch auf Asyl ist schwierig, und weil der Kuchen<br />
immer weniger gern geteilt wird, gilt zunächst der Verdacht auf wirtschaftliche Gründe.<br />
Ganze Nationen geraten unter Generalverdacht.<br />
Chauvinismus<br />
Der Wettbewerb fördert den Chauvinismus, <strong>als</strong>o den Glauben an die natürliche Überlegenheit<br />
der eigenen Nation. Der Stolz auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportindustrie<br />
trägt chauvinistische Züge. Leistungssport ist immer weniger völkerverbindend, sondern zur<br />
chauvinistischen Leistungsschau der Nationen geworden.<br />
60
3.1.13 Sie löst keines der großen Probleme<br />
Viele Länder haben nicht so schöne Verhältnisse wie wir: Hunger, Durst, Kampf, Flucht und<br />
Vertreibung, Analphabetentum, Unterdrückung, Rechtlosigkeit, Arbeitslosigkeit und Slums<br />
haben ihre Ursache praktisch immer im Kampf um Macht. Macht bedeutet Geld, und beim<br />
Geld geht es ganz häufig um das Geld der hochproduktiven Industrieländer, die auf der Suche<br />
nach Rohstoffen, billigen Arbeitskräften, Drogen und dem Export von Naturzerstörung<br />
mit ihrem Geld alles und jeden korrumpieren.<br />
Der Hunger in der Welt hat seine Ursache jedenfalls nicht im angeblich so dringend fehlenden<br />
Gen-Mais.<br />
3.2 Institutionelle Wachstumstreiber<br />
<strong>Die</strong> permanente Produktivitätssteigerung wird maßgeblich durch den privaten Konsum in<br />
Gang gehalten, aber auch durch sozi<strong>als</strong>taatliche Institutionen, die in ihrer Finanzierungsstruktur<br />
eigentlich auf Vollbeschäftigung angewiesen sind. Teilweise sind sie sogar selbst<br />
einem grenzenlosen Wachstum unterworfen.<br />
<strong>Die</strong> Gesellschaft insgesamt ist sehr erpressbar geworden: Existenzangst, Angst vor sozialer<br />
Ausgrenzung, Angst vor Alter, Krankheit und Tod. All unsere sozialen Sicherungssysteme<br />
haben die Angst nicht überwinden können, nur das Niveau ist höher geworden.<br />
3.2.1 Altersvorsorge<br />
Praktisch alle Industrieländer kennen Systeme für eine staatlich organisierte Altersvorsorge,<br />
und fast überall funktioniert sie nach einem Umlageverfahren: <strong>Die</strong> aktuellen Arbeitnehmer<br />
zahlen die Renten der aktuellen Rentner. Es wird kein Geld angespart, diesbezügliche historische<br />
Versuche sind gescheitert.<br />
Es gibt im Rentensystem eine Altersgrenze. <strong>Die</strong> reguläre Rente erhält man erst ab diesem<br />
Alter, dann aber garantiert bis zum Tod. Es gibt Varianten wie Frühverrentung, Berufsunfähigkeitsrente,<br />
Altersteilzeit, aber den Löwenanteil macht die reguläre Rente aus. Ihre Höhe<br />
hängt von einem komplizierten Berechnungssystem ab, sie soll die Höhe und Dauer der Einzahlungen<br />
des Einzelnen während seines Erwerbslebens und so eine gewisse Beitragsgerechtigkeit<br />
widerspiegeln: Wer viel zahlt, erhält auch viel.<br />
Der sogenannte demografische Wandel droht das System kollabieren zu lassen: <strong>Die</strong> Lebenserwartung<br />
nimmt zu, die nachrückenden geburtenschwachen Jahrgänge stehen einer immer<br />
größeren Zahl von Rentnern gegenüber. Um der drohenden Unfinanzierbarkeit des Systems<br />
entgegenzuwirken, wird staatlicherseits die private Altersvorsorge massiv gefördert. <strong>Die</strong>s war<br />
mitentscheidend für den modernen Aktienboom und die Erweckung einer massenhaften<br />
Renditesuche. Rendite wurde „in”, weil es ganz neue Sparanreize gab. Private Altersvorsorge<br />
wird zum Wachstumstreiber und zu einer gigantischen Leistungsverpflichtung der künftigen<br />
Generationen, denn gespartes Geld ist Leistungshoffnung. Es ist gar keine Abkehr vom Umlageverfahren<br />
– es ist das Gleiche, nur zeitversetzt: <strong>Die</strong> von Ihnen <strong>als</strong> Sparer einst erbrachte<br />
Arbeitsleistung ist längst in der Vergangenheit von jemandem konsumiert worden. Sie haben<br />
„nur” Geld in der Hand. <strong>Die</strong> künftigen Generationen müssen für Ihre fälligen Lebensversicherungen<br />
etwas leisten, denn denen tragen Sie dann Ihr Geld in den Laden.<br />
3.2.2 Arbeitslosigkeit<br />
Wer arbeitslos wird, erhält unter bestimmten Bedingungen für eine bestimmte Zeit Arbeitslosengeld,<br />
genauer: Arbeitslosengeld I. Danach oder wenn gar keine Arbeitslosigkeit vorliegt,<br />
nennt man das Arbeitslosengeld II oder umgangssprachlich „Hartz IV” (benannt nach dem<br />
Hartz-Konzept). <strong>Die</strong> ursprüngliche Konzeption von Arbeitslosengeld war, die relativ kurze<br />
Zeitspanne zwischen dem Verlust der einen Arbeitsstelle bis zum Antritt der Arbeit an einer<br />
61
neuen Arbeitsstelle zu überbrücken. In einer Phase der Vollbeschäftigung klappt das auch<br />
problemlos und hat dann den Charakter einer zeitweiligen Lohnfortzahlung. Werte unter 2 %<br />
gelten dabei <strong>als</strong> Vollbeschäftigung, geringere Werte sind wegen der ganz normalen Wechsel<br />
von Arbeitsstellen praktisch kaum möglich.<br />
In einer hochproduktiven Gesellschaft ist das schwieriger geworden. Angefangen mit den<br />
Ölkrisen, hat sich die Arbeitslosenquote in Sprüngen immer weiter nach oben entwickelt.<br />
Ölkrisen und Wiedervereinigung haben dabei jedoch nur die Anlässe geliefert, die tiefere<br />
Ursache liegt im Produktivitätsgewinn der Wirtschaft. Zu den offiziell gemeldeten Arbeitslosen<br />
kommen noch eine „Stille Reserve in Maßnahmen” und eine „Stille Reserve im engeren<br />
Sinne”, was derzeit (Oktober 2011) knapp vier Millionen Menschen ohne Arbeit ergibt (Zahlen<br />
der Bundesagentur für Arbeit). Nimmt man prekäre Arbeitsverhältnisse hinzu, ist die Zahl<br />
noch viel höher.<br />
Bei allem Optimismus wegen leicht sinkender Arbeitslosenzahlen führt kein Weg an der Feststellung<br />
vorbei, dass es in Deutschland und anderswo eine feste Sockelarbeitslosigkeit gibt.<br />
Geringqualifizierte und ältere Arbeitnehmer sind von Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit<br />
besonders betroffen. Früher haben solche Menschen immer noch irgendwo einen Job<br />
gefunden, mittlerweile jedoch ist der Pool der in der Wirtschaft benötigten Geringqualifizierten<br />
und Älteren kleiner geworden, und ein Teil bleibt mehr oder weniger dauerhaft draußen.<br />
Ein Teil der Jobs ist in andere Länder abgewandert, aber auch dort gibt es zum Teil horrende<br />
Arbeitslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen. Für die derzeitige Wirtschaft werden einfach<br />
nicht mehr alle gebraucht bzw. das Mehrprodukt derjenigen, die gegen Geld arbeiten, reicht<br />
dann doch nicht, um die wunderbare Welt der <strong>Die</strong>nstleistungen zu finanzieren, von der viele<br />
geträumt haben.<br />
Arbeitslosigkeit ist eine unmittelbare Konsequenz der immerwährenden Steigerung der Produktivität,<br />
und wer das Wachstum akzeptiert, der akzeptiert auch, dass diese Menschen in<br />
unserem Arbeitssystem keinen Platz mehr haben, weil sie zu dumm, zu alt oder aus anderen<br />
Gründen nicht mehr leistungsfähig genug erscheinen. <strong>Die</strong> gesellschaftliche Finanzierung von<br />
Arbeitslosigkeit ist eine gigantische volkswirtschaftliche Verschwendung und letztlich – wie so<br />
oft – eine Sozialisierung der Kosten der Produktivitätssteigerung. <strong>Die</strong> Gewinne verbleiben bei<br />
den hochproduktiv Arbeitenden.<br />
3.2.3 Steuersystem<br />
„Der deutsche Staat finanziert sich zu über 60 Prozent über Steuern und Abgaben, die den<br />
Faktor Arbeit belasten. Umweltsteuern hingegen leisten nur einen geringen Beitrag zu den<br />
Staatsfinanzen. Ihr Anteil ist in den vergangenen Jahren sogar weiter auf 5,5 Prozent zurück<br />
gegangen. Das deutsche Steuer- und Abgabensystem setzt damit massive Anreize zum Abbau<br />
von Arbeitsplätzen. <strong>Die</strong> Anreize zur Vermeidung von Umweltbelastung sind dagegen<br />
vergleichsweise gering.” (Forum ökologisch-soziale Marktwirtschaft, Diskussionspapier<br />
01/2011)<br />
Nicht nur, dass Umweltbelastung nicht steuerlich belastet wird, sie wird zum großen Teil<br />
noch öffentlich subventioniert: „Gleichzeitig werden in Deutschland nach Berechnungen des<br />
Umweltbundesamtes immer noch umweltschädliche Subventionen in Höhe von deutlich mehr<br />
<strong>als</strong> 40 Mrd. Euro pro Jahr gewährt.” (Forum ökologisch-soziale Marktwirtschaft, Gutachten im<br />
Auftrag von Greenpeace 05/2011)<br />
Das FÖS nennt in diesem Greenpeace-Gutachten im einzelnen:<br />
• Subventionierung der Atomenergie durch die stark begrenzte Haftung für nukleare<br />
Unfälle, die Regelungen bezüglich der Entsorgungsrückstellungen, die hohe jahrzehntelange<br />
Forschungsförderung, die Ausnahme von der Energiebesteuerung und indirekt<br />
durch den CO2-Emissionshandel: Während Kohlekraftwerke zertifikatspflichtig<br />
62
sind, gibt es keine analoge Belastung für die spezifischen Risiken und Kosten der Atomenergie.<br />
• Energie- und Stromsteuer-Ermäßigungen: Unternehmen, vor allem des produzierenden<br />
Gewerbes, haben im Rahmen der Energie- und Strombesteuerung Anspruch auf<br />
umfangreiche Sonderregelungen.<br />
• <strong>Die</strong>nst- und Firmenwagenprivileg<br />
• Nichtbesteuerung von Kerosin und die Mehrwertsteuerbefreiung internationaler Flüge<br />
• Steuerliche Begünstigung von <strong>Die</strong>selkraftstoff<br />
Das deutsche Steuersystem ist damit ein einziger Anreiz, die Arbeitsproduktivität noch weiter<br />
zu steigern.<br />
3.2.4 Gesundheitssystem<br />
Zu diesem Thema hat Walter Krämer 1989 das meiste schon gesagt. Es ist sonnenklar, dass<br />
die moderne Medizin nur teurer werden kann, denn sie kennt ebenso wie die moderne Wirtschaft<br />
kein Maß. Solange wir sterblich sind, wird jede geheilte Krankheit, jedes gerettete<br />
Menschenleben nur eine weitere Krankheit, einen weiteren Unfall ermöglichen, die wieder<br />
der Behandlung bedürfen, bis wir am Ende endlich abtreten dürfen. Auch diesen Kampf kann<br />
man nicht gewinnen. Wir können zwar die Lebenserwartung immer weiter erhöhen, aber der<br />
Preis dafür steigt exponentiell an, denn die Zeiten billigen Medizinfortschrittes sind schon<br />
lange vorbei. „Wir müssen uns entscheiden, ob wir dem Leben Jahre oder den Jahren Leben<br />
geben.” (Krämer 1989 S. 252)<br />
Wir versuchen, den Schrecken des Todes und der Hilflosigkeit aus unserem Leben zu bannen:<br />
• Etwa 100 Rettungshubschrauber gibt es in Deutschland. Ein Rettungshubschrauber<br />
vom Typ BK 117 kostet mit kompletter Ausrüstung etwa vier Millionen Euro, eine<br />
Einsatzminute wird den Krankenkassen zu 45 Euro in Rechnung gestellt<br />
(www.christoph-1.de/faq.html, 14.10.2011).<br />
• Wer in München U-Bahn fährt, kann sich sicher fühlen, zumindest was den plötzlichen<br />
Herztod angeht: Sogenannte Defibrillatoren hängen in mehreren Dutzend U-<br />
Bahnhöfen. Mit ihnen kann jeder Laie bei einem plötzlichen Herzversagen Elektroschocks<br />
verabreichen, was nachweislich schon zehn Leben gerettet hat (Müncher<br />
Merkur, 23.11.2009). Ein Defibrillator kostet etwa 1.000 Euro, das Programm wird<br />
ausgeweitet.<br />
• usw.<br />
Echter Schrecken und Hilflosigkeit sehen allerdings anders aus: Auschwitz und Srebrenica<br />
sind die Orte, deren Erwähnung uns bleich werden lassen sollte, nicht die Autobahnabfahrt<br />
oder der Münchner U-Bahnhof.<br />
<strong>Die</strong> medizinischen Leistungen haben sich zu einem großen Teil in eine Richtung entwickelt,<br />
wo entweder der Konsumcharakter dominiert, an „Details” gearbeitet wird oder aber die letzten<br />
Lebensmonate verlängert werden. Selten gelingt einmal ein „Durchbruch”, und wenn,<br />
dann kostet er viel Geld – und macht nur Platz für die nächste Krankheit, die des Durchbruches<br />
bedarf. In den 50er Jahren wurde der „Medizinkonsum” schlicht und ergreifend dadurch<br />
gedeckelt, dass für den Patienten „wenig zu holen war”: Der Leistungskatalog kannte die<br />
meisten der Wunderdinge nicht, die heute die Budgets belasten.<br />
Prävention erscheint vielen <strong>als</strong> kostensparender Königsweg. Doch das kann nur dann viel<br />
Geld sparen, wenn man einerseits während des „prallen Lebens” Krankheiten verhindert und<br />
dadurch die Lebensfreude erhöht, am Lebensende aber nicht auf Teufel komm raus behandelt.<br />
Sonst passiert das gleiche wie bei ökologischen Innovationen: Das gesparte Geld wird<br />
lediglich für eine andere medizinische Leistung ausgegeben, und die Kosten der Prävention<br />
63
sind dazugekommen. In der Schweiz wird ein Viertel aller Gesundheitskosten für die jeweils<br />
letzten zwölf Monate der Menschen aufgewendet (Gasche/Guggenbühl 2010 S. 73). Das Dilemma<br />
ist: Man weiß nicht, wann sie beginnen.<br />
Durch die Versicherungsbeiträge muss immer mehr Technik finanziert werden. Wenn dabei<br />
die Beiträge nicht mehr weiter steigen sollen, muss dafür beim Personal gespart werden –<br />
weniger Leute, weniger Zeit, mehr Zeitarbeit und Flexibilisierung. Letztlich sind auch alle<br />
sogenannten „Pflegekräfte” ein Teil der allgemeinen Produktivitätssteigerung. Sie haben sich<br />
auf die Pflege von Menschen spezialisiert und ermöglichen damit allen anderen, sich auf die<br />
„wichtigen Dinge” wie Autos, iPhones und Fertigpizza zu konzentrieren. Und damit auch die<br />
unangenehmen Bilder von Alter, Krankheit und Tod aus ihrem Leben zu drängen.<br />
Wie man es auch dreht und wendet: Wer den Menschen die Garantie gibt, dass alle notwendigen<br />
medizinischen Leistungen finanziert werden, erzeugt ein Kostenfass ohne Boden. Und<br />
eine Wachstumsbranche ohne Maß. Aus diesem Dilemma gibt es prinzipiell keinen Ausweg,<br />
genausowenig wie aus dem Wachstumsdilemma. Es ist nie genug.<br />
3.3 Ungleichheit<br />
Neben all den anderen Krisen erleben wir zum Glück auch eine „Krise der Ungleichheit”.<br />
Ungleichheit wird in vielen Bereichen mehr und mehr in Frage gestellt und zum Teil schon<br />
seit einigen Jahren erfolgreich überwunden:<br />
• Kate Pickett und Richard Wilkinson weisen in einer bahnbrechenden Studie (Pickett/Wilkinson<br />
2009) aktuell und global nach, dass in Gesellschaften mit größerer<br />
materieller Gleichheit fast alles für alle besser ist, auch für die Wohlhabenden.<br />
• Im Straßenverkehr wurde erkannt, dass die Trennung der Verkehrsarten („autogerechte<br />
Stadt”) die Konflikte nicht entschärft, sondern verschärft. <strong>Die</strong> Zahl der schweren<br />
Verkehrsunfälle kann gesenkt werden, indem Straßenräume geschaffen werden,<br />
die auf Abgrenzungen zwischen den Verkehrsarten verzichten und die völlige<br />
Gleichberechtigung von Verkehrsteilnehmern vorsehen, wobei die Vorfahrtregel<br />
„Rechts vor links” weiter gilt („Shared Space” oder „Gemeinschaftsstraße”).<br />
• <strong>Die</strong> getrennte Unterrichtung von Kindern mit körperlichen oder geistigen Behinderungen<br />
in Sonderschulen wird mehr und mehr aufgehoben zugunsten eines gemeinsamen<br />
Unterrichts mit nichtbehinderten Kindern (Integrationsklassen).<br />
• Der Verelendung anderer Länder durch billigen Import von Produkten und Drogen,<br />
Export von Naturzerstörung, Korruption und Waffen wird in kleinem Rahmen durch<br />
Fairen Handel entgegengearbeitet.<br />
• <strong>Die</strong> soziale Akzeptanz für Lesben, Schwule und Transgender im Alltag ist – bei allen<br />
Rückschlägen – steigend.<br />
<strong>Die</strong>se Entwicklungen reihen sich ein in historische Erfolge der Überwindung von Ungleichheit<br />
und Ungerechtigkeit:<br />
• Abschaffung der Sklaverei<br />
• Abschaffung von Adelsprivilegien<br />
• Gleichberechtigung für Frauen<br />
Hier werden wegen der Bedeutung für die aktuelle Diskussion die Fakten der Studie von Kate<br />
Pickett und Richard Wilkinson zusammengefasst. Beide forschen zu Epidemiologie und Gesundheitswesen<br />
an zwei britischen Universitäten. Epidemiologie ist die Analyse der Ursachen<br />
von Gesundheit und Krankheit in bestimmten Bevölkerungsgruppen (Populationen). Ausgangspunkt<br />
ihrer Untersuchungen war die Frage nach „Ungleichverteilungen im Gesundheitsbereich”:<br />
Wie folgen bestimmte gesundheitliche Probleme und die Lebenserwartung der<br />
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsschicht? Daraus entstand schließlich ein<br />
64
ganz anderes Projekt, nämlich die Suche nach den gesellschaftlichen Konsequenzen von Einkommensungleichheit.<br />
Pickett und Wilkinson untersuchten folgende Kategorien von sozialen Aspekten und gesundheitlichen<br />
Problemen (Pickett/Wilkinson 2009 S. 33):<br />
• Niveau des Vertrauens<br />
• Psychische Erkrankungen sowie Alkohol- und Drogensucht<br />
• Lebenserwartung und Säuglingssterblichkeit<br />
• Fettleibigkeit<br />
• Schulische Leistungen der Kinder<br />
• Teenager-Schwangerschaften<br />
• Selbstmorde<br />
• Zahl der Gefängnisstrafen<br />
• Soziale Mobilität (Durchlässigkeit der gesellschaftlichen Schichten)<br />
Untersucht wurden die 25 reichsten Länder der Erde, um die Effekte von allgemeiner Armut<br />
eines Großteils der Bevölkerung ausschließen zu können. Es sollten Länder mit einer vergleichbar<br />
hohen Lebenserwartung verglichen werden, in denen <strong>als</strong>o die Höhe des durchschnittlichen<br />
Einkommens keinen Effekt mehr auf die Lebenserwartung hat.<br />
An dem einen Ende der Skala der Ungleichheit liegen Länder wie Japan und alle skandinavischen<br />
Länder, am anderen Ende Australien, England, Portugal, die USA und Singapur. Der<br />
Einkommensunterschied zwischen den reichsten 20 % und den ärmsten 20 % reicht vom<br />
Faktor 3,5 (Japan) bis knapp 10 (Singapur). (Pickett/Wilkinson 2009 S. 31)<br />
<strong>Die</strong> Einförmigkeit der Ergebnisse ist erschütternd. Alle genannten Kategorien sind deutlich<br />
mit der Einkommensverteilung in der Form korreliert, dass mehr Gleichheit zu einem besseren<br />
Zustand der Gesellschaft führt, in der alle zufriedener sind, oben und unten. Das Ergebnis<br />
ist eine schallende Ohrfeige für den Neoliberalismus.<br />
3.4 Computer, Internet und mobile Kommunikation<br />
Das Internet ist eine Goldgrube und das Füllhorn des 21. Jahrhunderts? Goldgrube ist richtig,<br />
an das Füllhorn glaube ich jedoch nicht. Computer, Internet und mobile Kommunikation<br />
werden sich <strong>als</strong> gigantische ökologische und soziale Sackgasse erweisen. Warum sehe ich<br />
das so schwarz?<br />
3.4.1 Produktivitätssteigerung<br />
In der Industrie ...<br />
An die Produktivitätssteigerung durch die Computerisierung der Wirtschaft haben wir uns<br />
schon vollständig gewöhnt in den wenigen Jahrzehnten. Jeremy Rifkin hat in „Das Ende der<br />
Arbeit” diesen ganzen Prozess sehr gut beschrieben, so dass ich mich hier auf einen ganz<br />
kleinen Ausschnitt der Stahlproduktion beschränke:<br />
„Beim herkömmlichen Kaltwalzen wird dickeres Blech verschiedenen Bearbeitungsstufen unterzogen<br />
und in dünneres Stahlblech verwandelt [...] <strong>Die</strong> japanischen Stahlunternehmen<br />
haben alle diese aufeinanderfolgenden Stufen zu einem einzigen Ablauf zusammengefügt<br />
und damit die Stahlherstellung revolutioniert. [...] <strong>Die</strong> Herstellungsdauer wurde von zwölf<br />
Tagen auf eine Stunde reduziert. [...] <strong>Die</strong> wenigen Arbeitskräfte in diesen Werken sind hochqualifiziert<br />
und in Chemie, Metallurgie und Informatik ausgebildet. Dank der computerisierten<br />
Abläufe wird für eine solche Anlage nur ein Zwölftel der Arbeitskräfte gebraucht, die für die<br />
großen integrierten Walzwerke alten Typs nötig waren. [...] Nach Angabe der ILO [Anm.<br />
Internationale Arbeitsorganisation, eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen] ist in<br />
den Ländern der OECD von 1974 bis 1989 der Ausstoß der Stahlindustrie nur um sechs Pro-<br />
65
zent gefallen, während die Zahl der Arbeitsplätze sich um mehr <strong>als</strong> die Hälfte, in Zahlen ausgedrückt<br />
um mehr <strong>als</strong> eine Million, verringert hat.” (Rifkin 1996 S. 103f.)<br />
Das Internet hat bereits die nächste Runde eingeläutet, die mobile Kommunikation wird das<br />
noch mal weitertreiben, und dann sind hoffentlich die Kollegen von der Künstlichen Intelligenz<br />
so weit, dass wir uns um Arbeit nicht mehr kümmern müssen ...<br />
... und im Privaten<br />
Computer und Internet sind nicht deshalb im Privaten erfolgreich, weil sie interessante neue<br />
Dinge ermöglichen, sondern weil sie die Produktivität noch einmal unermesslich steigern:<br />
• Mit jedem banalen Laserdrucker kann man heute Briefe, Visitenkarten und Texte drucken,<br />
die einer Druckerei zur Ehre gereichen würden.<br />
• Google ist nicht primär ein interessantes Fenster zur Welt, sondern dient der Erhöhung<br />
der Schnelligkeit.<br />
• Facebook ist nicht vor allem ein lebendiges soziales Netzwerk, sondern dient der Erhöhung<br />
der persönlichen Effizienz.<br />
• E-Books sind nicht in erster Linie praktisch, sondern machen nach und nach den teuren<br />
Buchhandel überflüssig.<br />
• Mobiltelefone ersparen uns mühselige Absprachen und Planung, ermöglichen Spontaneität<br />
– und wir können damit unsere Kinder überwachen. In der gesteigerten Form<br />
des Smartphone haben wir unseren mobilen Computer immer dabei und im wahrsten<br />
Sinne des Wortes eine permanente Online-Existenz. Wir können jede Zeitlücke produktiv<br />
nutzen, in langweiligen Besprechungen ebenso wie während irgendwelcher<br />
Fahrten.<br />
Der Gebrauch moderner Kommunikationstechnik im Privaten fördert indirekt den Druck am<br />
Arbeitsplatz, denn unserem Arbeitgeber oder Auftraggeber gefällt so etwas auch: Verfügbarkeit,<br />
Beschleunigung, Verzicht auf vernünftige Planung (z. B. Routenplanung, Springereinsätze).<br />
Produktivitätssteigernde Technologien in einer Wachstumsgesellschaft lassen sich nicht<br />
auf ihre netten Aspekte beschränken. Überspitzt gesagt: Wer mobile Kommunikation gut<br />
findet, findet auch mehr Druck am Arbeitsplatz gut, die Globalisierung, die Verlagerung von<br />
Unternehmen ins Ausland, die industrielle Landwirtschaft, ...<br />
3.4.2 Zerstörung des regionalen und lokalen Handels<br />
Das Internet zerstört den lokalen Handel. Eine „friedliche Koexistenz von Tradition und Moderne”<br />
wird es nicht geben. <strong>Die</strong> kleinen Läden können praktisch nur noch mit Nischenprodukten<br />
oder Produkten des täglichen Bedarfs mithalten. Mitunter nutzen sie auch eine spezielle<br />
„Konsumenten-Ballung”, wie hier in Berlin-Kreuzberg, wo viele Touristen herumlaufen.<br />
Aber alles, was man den klassischen Fachhandel nennt, stirbt aus, und statt dessen ziehen –<br />
zumindest hier bei uns – Fast-Food-Läden, Internet-Shops, Spätkaufläden, Restaurants und<br />
Kneipen ein. Anderswo zieht was anderes ein, oder eben nichts. Ich frage mich, wie lange es<br />
Karstadt am Hermannplatz noch geben wird.<br />
Ich nutze hier gerne die <strong>Die</strong>nste einer sogenannten Bahnagentur, <strong>als</strong>o eines auf Bahnreisen<br />
spezialisierten Reisebüros. <strong>Die</strong> Deutsche Bahn hat im Laufe der Zeit die Fahrkartenprovisionen<br />
immer weiter gekürzt und statt dessen ihren Online-Fahrkartenkauf immer weiter ausgebaut.<br />
Mittlerweile sind sogar die Fahrkartenpreise im Internet niedriger. <strong>Die</strong> Tage der<br />
Bahnagentur sind gezählt.<br />
ebay und andere Internet-Auktionshäuser fand ich zunächst eine geniale Idee. Auf diesem<br />
Wege wurde ein moderner Markt für gebrauchte Waren geschaffen, die sonst zum größten<br />
Teil weggeworfen würden. Selbst in einer großen Stadt wie Berlin findet sich nicht immer ein<br />
Abnehmer für irgendwelches spezielles Zeug, von kleineren Ortschaften ganz zu schweigen.<br />
66
Meine Euphorie hat aber deutlich nachgelassen, <strong>als</strong> ich feststellte, dass immer mehr gewerbliche<br />
Händler ebay nutzen.<br />
Volkswirtschaftlich ist das vordergründig alles richtig: Innovation verdrängt das Alte und<br />
schafft Neues mit mehr Produktivität, so dass die freigewordene Produktivität anderswo genutzt<br />
werden kann. Aber es gibt ja gar keine Bereiche mehr, wo man diese Produktivität nutzen<br />
kann! Man hat ja schon alles. Der lokale Handel ist doch auch ein Teil unserer sozialen<br />
Kultur. Und so finden die Läden keine Mieter mehr, die Leute keine Arbeit mehr, und die<br />
Viertel veröden. <strong>Die</strong> vordergründige volkswirtschaftliche Rechnung ist f<strong>als</strong>ch.<br />
3.4.3 Preisdruck<br />
Erst die Konzentration auf wenige große Anbieter und dann das Internet schafften tatsächlich,<br />
wovon die Marktwirtschaftler immer nur träumten: <strong>Die</strong> absolute Markttransparenz. Jeder<br />
kann heute alles zum günstigsten Preis kaufen. Früher war man gar nicht in der Lage, in<br />
endlicher Zeit alle Preise zu erfahren, und Versand war teurer. Absolute Preistransparenz<br />
weckt jedoch die Schnäppchengier der Konsumenten und begünstigt immer geringere Margen.<br />
Das erhöht den Kostendruck der Anbieter, die damit ihrerseits ihre Produktivität steigern<br />
müssen. Ein weiterer Teufelskreis.<br />
3.4.4 Mobilität<br />
Das Internet fördert die Mobilität. Je internationaler die Kontakte, desto mehr nimmt auch<br />
das Reisen zu. Je mehr im Internet bestellt wird, desto mehr Ware wird auf den motorisierten<br />
Weg gebracht, in immer kleineren Päckchen. Nespresso-Tabs, Fachbücher, Babywäsche,<br />
...<br />
3.4.5 Ressourcenverbrauch<br />
Bereits heute verbraucht allein das Internet etwa genauso viel Energie wie der weltweite<br />
Flugverkehr (laut Freiburger Ökoinstitut in einem Artikel der Welt), Tendenz stark steigend.<br />
Mobile Computing, die „Cloud” mit ihren globalen Rechenzentren und die generelle Zunahme<br />
von digitalen Aktivitäten und digitalen Nutzern werden hauptsächlich zu diesem Anstieg beitragen.<br />
3.4.6 Anonymität und Identität<br />
Das Internet funktioniert <strong>als</strong> großes Nachschlagewerk prima, aber es hat ein Problem <strong>als</strong><br />
soziales und wirtschaftliches Medium, weil es kein Konzept für Anonymität versus Identität<br />
hat. Anonymität führt zur Verantwortungslosigkeit, Identität zur Speicherung von Profilen,<br />
und an diesen Problemen könnte es zerbrechen. „»Vielleicht«, meint Internetexperte Deibert<br />
pessimistisch, »werden wir eines Tages auf die 1990er und 2000er Jahre zurückschauen <strong>als</strong><br />
jene kurze Ära, in der wir frei kommunizieren und von überall her unsere Informationen beschaffen<br />
konnten.«” (DIE ZEIT, „<strong>Die</strong> Lauschfabrikanten”, 13.10.2011)<br />
Anonymität ist ein Problem<br />
Betrug, Kinderpornografie, Mobbing, Spam, Vorspiegelung f<strong>als</strong>cher Identität, Spionagesoftware,<br />
Viren, Hacker, Facebook-Parties ... Moderne Techniken des Internet laden geradezu<br />
zur Destruktivität ein, weil zwei wichtige klassische Barrieren fehlen: Aufwand und menschliche<br />
Plausibilitätsprüfungen. Dem wird versucht, mit immer mehr Technik Herr zu werden.<br />
Identität ist ein Problem<br />
Gezielte Werbung, Bewegungsprofile, peinliche Enthüllungen alter Partyfotos beim Bewerbungsgespräch,<br />
Zensur und Überwachung in China ... Es gibt kein Geheimnis, und es gibt<br />
kein Vergessen. Das Internet vergisst nicht. <strong>Die</strong> Menschheit hat aber ein Recht darauf zu<br />
vergessen.<br />
67
Das Internet ist groß und schnell. <strong>Die</strong> Mechanismen der Gesellschaft, unerwünschte Tätigkeiten<br />
zu sanktionieren, können schon aufgrund der schieren Größe und Schnelligkeit dort nicht<br />
mithalten, das heißt, es entstehen rechtsfreie Räume. Wieviel Aufwand wollen wir denn in<br />
die Verfolgung dieser Dinge stecken, wo doch all unsere Verfolgungskräfte schon in anderen<br />
Bereichen gebunden sind? Das Problem ist jedoch nicht nur praktischer, sondern prinzipieller<br />
Natur. Man könnte sagen: Das Internet ist für menschliche Dimensionen zu groß und zu<br />
schnell. Im „normalen” Leben stellen die Langsamkeit und die räumliche Entfernung natürliche<br />
Hürden für Destruktivität und Kriminalität dar. Im Internet ist das nicht mehr der Fall.<br />
Das Internet wird <strong>als</strong> Unterstützer im Kampf gegen diktatorische Regime gefeiert. Das ist es<br />
auch, aber es sollte nicht dazu führen, über seinen Charakter <strong>als</strong> Arbeitsplatzvernichter,<br />
rechtsfreier Raum und Ressourcenfriedhof hinwegzusehen. <strong>Die</strong> Frage ist daher, ob sich<br />
diktatorische Regime nicht auch einfacher abschaffen lassen.<br />
3.5 Widersprüchliche Botschaften<br />
Jedes Gesellschaftsmodell ist offiziell oder auch inoffiziell mit bestimmten Botschaften verknüpft,<br />
die seine Leitbilder transportieren. In der Regel sind es viele, und manche von ihnen<br />
widersprechen einander. Das ist normal. Es gehört zum Wesen des Menschen, dass er sich<br />
entscheiden oder aber eine Balance halten muss. Balancieren ist schwierig, und häufig muss<br />
man durch ausgefeilte Mechanismen für die ständige Wiederherstellung dieser Balance sorgen.<br />
<strong>Die</strong> beiden wichtigsten Botschaften in Bezug auf das Wirtschaftsleben lauten:<br />
• <strong>Die</strong> Botschaft der freien Marktwirtschaft<br />
Denke unternehmerisch. Maximiere Deinen Gewinn. Verbinde Dein persönliches<br />
Wachstum mit dem Wachstum der Wirtschaft. Bleibe wettbewerbsfähig. Suche Gelegenheiten<br />
zum Investieren. Steigere den Umsatz. Senke die Kosten. Sei nie zufrieden<br />
mit dem Erreichten.<br />
• <strong>Die</strong> Botschaft der Mäßigung<br />
Mäßige Dich. Handle vernünftig. Wirtschafte nachhaltig. Schütze die Umwelt. Senke<br />
den Ressourcenverbrauch. Teile Deinen Reichtum. Nimm Rücksicht auf die Schwächeren.<br />
Achte Deine Mitarbeiter. Geld ist nicht alles. Sei zufrieden mit dem, was Du<br />
hast.<br />
Beide Botschaften verfolgen gegensätzliche Ziele. Und beide Botschaften sind zutiefst<br />
menschlich. <strong>Die</strong> eine spricht eher unsere individuellen Interessen an, die andere eher die<br />
gemeinschaftlichen. Das Problem ist: <strong>Die</strong> Botschaft der freien Marktwirtschaft ist viel lauter<br />
<strong>als</strong> die der Mäßigung. Wir haben 1001 Maßnahmen getroffen, um der Botschaft der freien<br />
Marktwirtschaft Gehör zu verschaffen, aber nur eine Handvoll für die Botschaft der Mäßigung.<br />
Und wir verhelfen der Botschaft der freien Marktwirtschaft über viele übergeordnete<br />
Prinzipien Geltung, der Botschaft der Mäßigung jedoch vorwiegend über nachgelagerte<br />
Gesetze und Verordnungen. Das führt zu einem geradezu grotesken Ungleichgewicht im<br />
Wirtschaftsleben zugunsten des hemmungslosen Konsums und zulasten der Nachhaltigkeit.<br />
Es gibt noch andere „Paare von widersprüchlichen Botschaften“:<br />
• Botschaft der hohen Lebenserwartung versus Botschaft der Kostensenkung im Gesundheitswesen.<br />
• Botschaft der Bequemlichkeit und des unbeschwerten Konsums versus Botschaft der<br />
Müllvermeidung und der Nachhaltigkeit.<br />
• Botschaft der hohen Warenqualität versus Pareto-Prinzip und Schnäppchenjägertum.<br />
• Botschaft der umfassenden Bildung versus Botschaft der Arbeitsteilung, Spezialisierung<br />
und Kernkompetenzen.<br />
• Botschaft der hohen Produktivität versus Botschaft der Senkung der Arbeitslosigkeit.<br />
68
• Botschaft der Völkerverständigung versus wirtschaftlicher und sportlicher Chauvinismus.<br />
• Botschaft der Werbung versus Bild vom mündigen Verbraucher.<br />
• Botschaft der Verantwortung versus Botschaft der Arbeitsteilung.<br />
Wir kommen nicht umhin, auf einen „vernünftigen“ Ausgleich zwischen den jeweiligen einander<br />
widersprechenden Zielen hinzuarbeiten. Unser Problem ist, dass wir in der Regel alles<br />
wollen: Das Omelett und das Ei. Menschen sind Meister im Ausblenden von Konsequenzen<br />
und Ignorieren von Grenzen:<br />
• Wir wollen eine hohe Lebenserwartung und ein preiswertes Gesundheitswesen.<br />
• Wir wollen ein bequemes und dabei nachhaltiges Leben führen.<br />
• Wir wollen gute Produkte und einen niedrigen Preis.<br />
• Wir möchten umfassend gebildet sein und eine hoch arbeitsteilige, produktive Wirtschaft<br />
haben.<br />
• Wir wünschen den Frieden in der Welt und eine wirtschaftliche Vormachtstellung<br />
Deutschlands.<br />
• ...<br />
Politische Bauernfänger und naive Technologiegläubige versprechen genau diese Widersprüchlichkeiten<br />
<strong>als</strong> machbar. Und aus diesem Grund sind vernünftige gesellschaftliche Prinzipien<br />
so wichtig: Sie nehmen der Diskussion die Schärfe und tragen dazu bei, vernunftbetont<br />
zu diskutieren. Sie verhindern, dass die eigenen Interessen in der Diskussion zu stark in<br />
den Vordergrund rücken.<br />
69
Kapitel 4: Scheinlösungen<br />
4.1 Inseln der Vernunft<br />
Eine „Insel der Vernunft” ist der Versuch, innerhalb eines unvernünftigen Systems eine vernünftige<br />
Korrektur vorzunehmen, ohne dabei das System infrage zu stellen:<br />
• Man hofft, mit einer Korrektur die Wohltaten erhalten und die Probleme loswerden zu<br />
können (Omelett und Ei).<br />
• Man fühlt sich provoziert und möchte jemanden für seine Unvernunft strafen.<br />
• Man meint, das Ei des Kolumbus gefunden zu haben, und wird gegenüber dem eigentlichen<br />
Problem unkritisch.<br />
• Man möchte aktiv vom eigentlichen Problem ablenken.<br />
Inseln der Vernunft sind „systemfremd”, das bedeutet, dass sie gegen die eigentliche Energie<br />
des Systems gerichtet sind. Es ist ein Schwimmen gegen den Strom – eine grandiose<br />
Energieverschwendung. Letztlich ist es ein „Herumdoktern an Symptomen”. Und meistens<br />
mit horrenden finanziellen und gesellschaftlichen Kosten verbunden. Wichtig sind manche<br />
dieser Inseln für die langsame Bewusstseinsbildung. Sie legen den Finger in die Wunden<br />
unseres Gesellschaftssystems. Aber man sollte sie nicht mit einer Lösung verwechseln.<br />
Hier sind nur einige Beispiele:<br />
Sozialismus<br />
Der Sozialismus ist eine der größten Inseln der Vernunft, die in den vergangenen Jahrzehnten<br />
errichtet wurden. Er ist jedoch nicht am schlechten Menschen gescheitert, wie viele<br />
glauben, sondern daran, dass er für die gleiche Wachstumsstrategie die wesentlich schlechteren<br />
Rezepte angeboten hat <strong>als</strong> der Kapitalismus. Insofern ist die Aussage richtig, dass der<br />
Sozialismus gegen den Kapitalismus verloren habe, denn beide waren am gleichen unsinnigen<br />
Wettrennen beteiligt. Es ist nicht eine gute Idee, die schlecht durchgeführt wurde, sondern<br />
es ist Unsinn, Nichtwachstums-Ideale mit einer Wachstumsideologie zu verbinden. Deshalb<br />
musste im Sozialismus dauernd an die Vernunft appelliert werden – genauso wie heute<br />
im Kapitalismus. Mittlerweile ist der Mensch sogar für den Kapitalismus zu schlecht ...<br />
Mindestlohn<br />
Geht völlig an den Prinzipien des Marktes vorbei und wird deshalb in einer Marktwirtschaft<br />
erfolglos bleiben. <strong>Die</strong> eigentliche Frage ist ja, warum es Stellen gibt, die übergut entlohnt<br />
werden, und warum es Verzweifelte gibt, die jeden Lohn akzeptieren müssen. <strong>Die</strong> Forderung<br />
nach einem Mindestlohn verdeckt das eigentliche Problem: Es gibt einen Arbeitskraftüberschuss<br />
aufgrund einer übermäßigen Produktivitätssteigerung, und angesichts dieses Überangebotes<br />
von Arbeitskräften niedriger Qualifikation geht der Preis nach unten. Daran wird ein<br />
Mindestlohn nicht das geringste ändern, und er wird genau das bewirken, was seine Kritiker<br />
schon jetzt prophezeien: <strong>Die</strong> Abwanderung der Arbeitsplätze in andere Länder.<br />
Beschäftigungsquoten für ältere Arbeitnehmer (Rente mit 67)<br />
Ein gerade (Januar 2012) ganz aktuelles Thema: <strong>Die</strong> Rente mit 67 soll die Rentenkasse entlasten,<br />
indem der Rentenbezug um zwei Jahre hinausgeschoben wird und gleichzeitig die<br />
Beitragszahler zwei Jahre länger einzahlen. Dagegen wenden Sozialpolitiker ein, dass für<br />
ältere Arbeitnehmer gar nicht genug Arbeitsplätze zur Verfügung stehen – die Rente mit 67<br />
verlängere für viele Arbeitnehmer nur die Arbeitslosigkeit vor der Rente und führe somit faktisch<br />
zu einer Rentenkürzung. Der „Ausweg” lautet: Es müsse Beschäftigungsquoten für Arbeitnehmer<br />
über 60 geben ... und auf wessen Kosten geht das? Richtig, auf Kosten der Arbeitnehmer<br />
unter 60, die dann statt dessen arbeitslos werden. Dadurch wird nicht ein einziger<br />
Arbeitsplatz, sondern nur eine Existenzberechtigung für Verwaltungsbeamte geschaffen.<br />
70
Alternative Entlohnungsmodelle<br />
In einem Interview habe ich vor einer Weile mal die Idee gehört, man solle Arbeit nach ihrer<br />
Belastung bezahlen – ein völlig marktfremdes Konzept. Arbeit wird danach bezahlt, wie dringend<br />
sie erledigt werden muss und wie schwierig es ist, jemanden zu finden, der sie vernünftig<br />
ausführt. Daran wird sich nichts ändern, das ist marktwirtschaftlich sinnvoll. Solange<br />
die ungeheure Nachfrage nach technischen und betriebswirtschaftlichen Berufen anhält und<br />
damit auch gewisse Exzesse der Entlohnung, wird sich daran nichts ändern.<br />
Zeitarbeit beschimpfen<br />
Der ganze Bereich der Zeitarbeit hat mal <strong>als</strong> „Lückenfüller” angefangen: Auftragsspitzen abfangen,<br />
Fehlzeiten überbrücken, besondere Qualifikationen für eine Weile zur Verfügung<br />
stellen. Heute steht allerdings die Überwindung des deutschen Arbeits- und Tarifrechts im<br />
Vordergrund, weshalb die Kritik nicht müde wird, auf die Zeitarbeit einzudreschen. Zeitarbeit<br />
ist jedoch absolut systemkonform: Sie spart Geld, macht flexibel, erhöht die Produktivität. So<br />
vernünftig es scheint, Zeitarbeit einzuschränken: Es ist die f<strong>als</strong>che Baustelle. Eigentlicher<br />
Wachstumstreiber für Zeitarbeit ist das schlechte Zusammenpassen von globalisierten Erfordernissen<br />
mit den deutschen Arbeitsschutzgesetzen. Aber anstatt sich Gedanken zu machen<br />
über den Sinn und Zweck der Globalisierung, hackt man auf der Zeitarbeit herum – und den<br />
deutschen Arbeitsschutzgesetzen.<br />
Bio-Handel<br />
Im Grunde ist auch der ganze Bio-Handel eine Insel der Vernunft – wobei ich sehr dankbar<br />
bin, dass es sie gibt. <strong>Die</strong>se Insel ist mittlerweile ziemlich groß und maßgeblich an einem Bewusstseinswandel<br />
beteiligt. Aber der Bio-Handel kämpft mit genau der Wettbewerbsverzerrung,<br />
die sich in einem feindlichen Umfeld von Aldi, Lidl & Co. zwangsläufig ergibt.<br />
Progressive Verbrauchstarife<br />
Es wird diskutiert, ob Verbrauchstarife z. B. für Strom, Gas, Wasser so gestaltet werden,<br />
dass der Preis pro Einheit mit steigendem Verbrauch ebenfalls steigt, wie die Einkommensteuer.<br />
Derzeit ist es meist umgekehrt: Wer mehr verbraucht, wird mit sinkenden Preisen „belohnt”.<br />
Betriebswirtschaftlich gesehen ist das sinnvoll: Solange der Umsatz höher ist <strong>als</strong> die<br />
direkten Kosten, kann der Unternehmer damit Fixkosten decken, und mit höherem Umsatz<br />
eben mehr <strong>als</strong> mit niedrigerem. Je mehr ein Kunde auf einmal abnimmt, desto niedriger sind<br />
die sogenannten Transaktionskosten (Verhandlung, Verkauf, Verpackung, Versand), da ist<br />
dann Raum für Rabatte. Wir werden diese betriebswirtschaftliche Logik nicht umkehren können,<br />
und die Idee der progressiven Verbrauchstarife wird nur für solche Güter funktionieren,<br />
die wir von einem einzigen Lieferanten beziehen. Für Bananen, Autos, Benzin und Schokolade<br />
wird es schwierig, wenn wir nicht das „gute, alte System” der Bezugsscheine wieder einführen<br />
wollen. <strong>Die</strong>sen verwaltungstechnischen Aufwand möchte ich dann mal gerne sehen.<br />
Hinter dieser Idee steckt doch hauptsächlich die moralische Straf-Keule.<br />
Dopingfreier Sport<br />
Doping ist die konsequente Anwendung der Produktivitätssteigerung und des Marktgedankens<br />
auf den Sport. Warum soll man in einer unfairen Wettbewerbsgesellschaft, die die Umwelt<br />
ruiniert, nicht auch seine Leistung mit unfairen Mitteln steigern, die den Körper ruinieren?<br />
<strong>Die</strong> Forderung nach dopingfreiem Leistungssport ist ehrenhaft, in einer von Werbung<br />
durchseuchten Wettbewerbsgesellschaft aber durch und durch systemfremd und naiv. Wer<br />
wirklich an dopingfreiem Sport interessiert ist, sollte sich Gedanken über den Zusammenhang<br />
zwischen Doping und hohen Werbeeinnahmen sowie entgrenzten Sportlereinkommen<br />
machen.<br />
Werbung mit „ganz normalen Menschen” anstelle künstlicher Klone<br />
<strong>Die</strong> Kosmetikfirma Dove bewarb in einer vielbeachteten Kampagne ihre Produkte mit „ganz<br />
normalen Frauen” anstelle von genormten Models. Das wurde allenthalben <strong>als</strong> „sympathisch”<br />
gewertet, <strong>als</strong> Erfolg der Vernunft. Es ist das genaue Gegenteil, nämlich die aktive Ablenkung<br />
vom eigentlichen Problem, mit dem angenehmen Nebeneffekt der Werbewirksamkeit. Wer-<br />
71
ung muss mit unverbrauchter Schönheit werben, weil nur das den nötigen Leidensdruck<br />
erzeugt und alles entwertet, was „Gebrauchsspuren” trägt.<br />
Downcycling<br />
Bereits die Verringerung von Umweltschäden wird <strong>als</strong> Erfolg verbucht. Alte LKW-Planen zu<br />
Handtaschen oder PET-Flaschen zu Fleecejacken. Recyclingquoten von 70, 80, 90 % bedeuten<br />
jedoch 30, 20, 10 % Restmüll, und spätestens nach einer weiteren Gebrauchsrunde werden<br />
die Dinge dann doch zu Müll – Problemverschiebung in die Zukunft.<br />
Mülltrennung<br />
Ein hilfloser Reparaturversuch einer überbordenden Materi<strong>als</strong>chlacht. <strong>Die</strong> Weltproduktion von<br />
Kunststoffen beträgt heute 270 Millionen Tonnen pro Jahr, davon werden in Europa 46 %<br />
recycled, der Rest angeblich deponiert (www.plasticseurope.de). Selbst wenn nur 1 % in die<br />
Umwelt gerät, so sind das 2,7 Millionen Tonnen pro Jahr. Viele Menschen fühlen sich von<br />
Mülltrennung inhaltlich überfordert oder gegängelt, und gerade in Mietshäusern kann man<br />
gut sehen, wie sich das in den Mülltonnen auswirkt.<br />
Grüne Informationstechnologie etc.<br />
Grüne Wachstumsbranchen – ohne Deckelung des Ressourcenverbrauchs werden solche<br />
Ansätze nur Ressourcen freimachen für die Verschwendung an anderer Stelle.<br />
Sanfter Urlaub<br />
Auf den Kanaren vielleicht? Solche Angebote gibt es. Und nicht geflogen? Ökologisch korrekt<br />
mit dem Ruderboot hingepaddelt? Ob das der Urlaub der Zukunft wird ...<br />
4.2 Green New Deal<br />
Unter einem Green New Deal versteht man (in Anlehnung an das Konjunkturprogramm der<br />
US-Regierung von Franklin D. Roosevelt in den 1930er Jahren) ein konzentriertes sozialökologisches<br />
Investitionsprogramm. Mit Hilfe von „grünen Investitionen” und flankierenden<br />
Maßnahmen sollen mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden:<br />
• Reduzierung der CO2-Emissionen („max. 2 °C Klimaerwärmung”)<br />
• Reduzierung des Verbrauchs sonstiger Rohstoffe<br />
• Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft durch innovative Entwicklungen<br />
(„Effizienzrevolution”)<br />
• Verbesserte soziale Gerechtigkeit durch steuerliche Umverteilung, steuerliche Entlastung<br />
des Faktors Arbeit und somit Schaffung neuer Arbeitsplätze<br />
Praktisch dabei ist: Wachstum und Profit müssen nicht in Frage gestellt, sondern „nur umgelenkt”<br />
werden. An konkreten Maßnahmen werden vorgeschlagen:<br />
• Ausbau erneuerbarer Energien, insbesondere Solar- und Windenergie, inklusive der<br />
entsprechenden Netztechnik<br />
• Investitionen in Klimaschutz, insbesondere die energetische Gebäudesanierung, aber<br />
auch Reduzierung der Prozessenergien in der Wirtschaft<br />
• Reduzierung der Abhängigkeit von Erdöl <strong>als</strong> Ausgangsprodukt insbesondere in der<br />
chemischen Industrie<br />
• Förderung von Forschung und Entwicklung umweltschonender Technologien<br />
• Ökologische Steuerreform, die die Arbeit steuerlich entlastet und Ressourcenverbrauch<br />
steuerlich belastet, Abbau direkter und indirekter klimaschädlicher Subventionen<br />
wie beispielsweise Steuerbefreiungen im Flugverkehr<br />
• Steuererhöhungen zur Gegenfinanzierung, insbesondere höherer Einkommen, Vermögen,<br />
Erbschaften<br />
<strong>Die</strong> Sache klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Es könnte so einfach sein, oder?<br />
72
Der Green New Deal steht eigentlich stellvertretend für alle Ansätze, sich anhand von Hochtechnologie<br />
am eigenen Schopf aus dem Umweltsumpf zu ziehen und dabei gleichzeitig viele<br />
Arbeitsplätze zu schaffen. Ich glaube nicht daran, dass es eine Lösung ist. Auch ein Green<br />
New Deal verdünnt die Konzentration, ohne das Gift aus dem System hinauszubekommen:<br />
• Im Kern ist das eine Unterscheidung zwischen „guter” und „schlechter” Wirtschaft,<br />
auch Rosinenpicken genannt: Bioläden und Wärmedämmung sind gut, Rüstungsindustrie<br />
und Zeitarbeit sind schlecht. Der Versuch, ideologische Festlegungen dieser<br />
Art in Wirtschaftspolitik umzusetzen, führt zu intellektuellen Verrenkungen, ganz unangenehmen<br />
Appellen an die Moral des Einzelnen und unglaublich komplizierten (und<br />
umstrittenen) Gesetzen und Verordnungen, die von einer Regierung erlassen und von<br />
der nächsten wieder kassiert werden. Für den Ressourcenverbrauch ist eine solche<br />
Unterscheidung unerheblich, und politisch gesehen ist sie autoritär. Durch die Festlegung<br />
auf konkrete Maßnahmen sollen alle auf einen bestimmten Weg verpflichtet<br />
werden, wo die Aufgabe der Gemeinschaft lediglich wäre, das Ziel zu definieren. Wollen<br />
denn alle so viel erneuerbare Energien? Vielleicht wollen viel mehr Menschen ein<br />
einfaches Leben mit weniger elektrischem Strom führen? Nach solchen Alternativen<br />
wird ja gar nicht gefragt! Der Green New Deal entspricht dem alten technokratischen<br />
Bild einer staatlichen Steuerung. Er bedeutet Macht. Er nährt die Eitelkeit. Erneut<br />
wird vorgegeben, was gebraucht wird, von jenen, die es besser wissen. <strong>Die</strong> Immobilienkrise<br />
in den USA wurde auch durch ein Bündel staatlicher Fördermaßnahmen ausgelöst,<br />
eine volkswirtschaftliche Verführung zu mehr Eigenheim.<br />
• <strong>Die</strong> ganze Idee basiert nach wie vor auf den Konzepten von Investitionen und damit<br />
Profit, Wachstum und damit Verbrauch, Wettbewerbsfähigkeit und damit Produktivitätssteigerung.<br />
Letztlich ist es eine „Halbinsel der Vernunft” innerhalb des gleichen<br />
unvernünftigen Systems, die moralinsauren Appelle bezüglich der Beschränkung des<br />
Konsums bleiben, während die Angebotswelt immer noch recht bunt ist.<br />
• Der Green New Deal ist geplant <strong>als</strong> eine „Sofortmaßnahme”, um Zeit zu gewinnen,<br />
damit noch bessere Ideen entwickelt werden können (Ralf Fücks, Heinrich-Böll-<br />
Stiftung, 25.10.2011 auf einer FÖS-Tagung). Es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass<br />
diese Zeit nie gewonnen wird, weil weitere Krisen sich wiederum in den Vordergrund<br />
drängen.<br />
• Der Ressourcen- und Energieverbrauch auch einer ökologisch gebremsten Wachstumswirtschaft<br />
wird immer noch hoch sein. Wie viele Solarzellen und Windräder will<br />
man denn bauen, um den heutigen Lebensstandard, Forschungsstandard, Industriestandard<br />
zu halten? Und woraus? Auf welchen Flächen? Wo sind denn die Berge von<br />
zunehmend schwer erhältlichen Substanzen, die man für Hochleistungsbatterien benötigt?<br />
Auf diese ökologischen Seiteneffekte weist bereits Binswanger hin: „<strong>Die</strong> Sonneneinstrahlung<br />
ist auf biologische – und nicht auf technische – Nutzung programmiert.”<br />
(Binswanger 2009 S. 172)<br />
• Es ist wahrscheinlich, dass von der Politik formulierte Reduktionsziele im Laufe des<br />
Prozesses von der Wirtschaftsseite wieder unter Beschuss genommen werden. „Wir<br />
wissen genau, dass staatliche Umweltpolitik schwach bleibt, oft sogar nur symbolisch,<br />
und sie sich vor allem selten mit mächtigen Interessen anlegt. An Wachstum und<br />
Wettbewerbsfähigkeit orientierte Wirtschaftpolitik ist im Zweifelsfall allemal stärker.”<br />
(Ulrich Brand, Impulsreferat am 25.10.2011 auf einer FÖS-Tagung).<br />
• Eine Solarzelle wird nicht vom Schlosser gebaut, das Elektroauto nicht vom Elektriker,<br />
intelligente Materialien nicht vom Schreiner. <strong>Die</strong> ganze Idee, sich anhand von Hochtechnologie<br />
am eigenen Schopf aus dem Umweltsumpf zu ziehen und dabei gleichzeitig<br />
viele Arbeitsplätze zu schaffen, krankt an der Tatsache, dass für Hochtechnologie<br />
auch eine hochtechnologische Infrastruktur notwendig ist, und die kostet Geld, Material<br />
und Energie. Viel Geld, Material und Energie. Hierfür gilt alles, was weiter oben<br />
unter Sackgasse Produktivität > Teuer > Aufwendige Infrastruktur aufgeführt ist.<br />
73
Forschung und Entwicklung, Marketing, Technologietransfer, aufwendige Fertigungssteuerung<br />
und Vertriebssteuerung sind nicht Teil der Lösung, sie sind Teil des Problems.<br />
Kurz: Wer Elektroautos in dieser Qualität, in dieser Menge und zu diesem Preis haben will,<br />
der wird auch den ganzen Rest an Umweltschädigung, Werbung, Hässlichkeit, Komplexität<br />
usw. nehmen müssen. Ersetzen Sie „Elektroautos” durch jedes andere Produkt der modernen<br />
Industrie, Medizin oder Digitaltechnik: Der Satz bleibt immer richtig. Es funktioniert nur so.<br />
Alles andere funktioniert von vornherein nicht oder wird so teuer, dass man es bleiben lässt.<br />
Spitzenbildung, Spitzenforschung, Spitzentechnologie ist immer die Spitze eines riesigen Eisbergs<br />
einer hochproduktiven Mittelmäßigkeit, die der Spitze zuarbeitet und die Ressourcen in<br />
einer atemberaubenden Geschwindigkeit fressen wird. Sonst kann die Mitte nicht so produktiv<br />
sein – das aber ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns eine solche Spitze leisten können.<br />
Eine Spitze ohne Basis gibt es nicht.<br />
„Tatsächliche, wirklich klimaschutzrelevante CO2-Reduktionen hat es in den letzten 30 Jahren<br />
nur einmal gegeben: nicht ausgelöst dadurch, dass der Anteil erneuerbarer Energien im Energiemix<br />
erhöht wurde; nicht ausgelöst durch neue Emissionshandelssysteme; sondern<br />
ausgelöst durch den Zusammenbruch der wachstumsfixierten, staatskapitalistischen Wirtschaften<br />
des Ostblocks.” (analyse & kritik 20.02.2009)<br />
4.3 Großtechnische Lösungen<br />
Einige suchen ihr Heil in Großprojekten. Mit modernsten Technologien von gigantischen<br />
Ausmaßen und/oder gigantischer Komplexität sollen die umweltschädlichen Aspekte der Energiegewinnung<br />
überwunden werden. Das sind jedoch alles keine Lösungen, sondern eher<br />
verzweifelte Versuche, die notwendigen Eingeständnisse hinauszuzögern.<br />
• Es kann nicht darum gehen, für einen Zeithorizont von nur einigen Hundert oder<br />
Tausend Jahren eine Lösung zu finden. Das reicht nicht.<br />
• Es kann auch nicht darum gehen, durch eine Großtechnologie die momentanen industriellen<br />
Verhältnisse zu zementieren oder sogar noch zu steigern.<br />
• Es gelten auch hier praktisch alle Kritikpunkte, die für den Green New Deal gelten.<br />
Wir haben viel mehr <strong>als</strong> nur ein Energieproblem, und wir brauchen keine Ablenkungsmanöver.<br />
Alle diese Projekte werden staatlicherseits mit Milliardenbeträgen gefördert. Kleine, dezentrale,<br />
flexible erneuerbare Energien sind eine viel bessere Lösung, jenseits der Großmanns-Sucht.<br />
Hier eine kurze Beschreibung einiger derzeit aktueller Projekte:<br />
4.3.1 Desertec<br />
www.desertec.org<br />
Ein Projekt zur Stromerzeugung aus Sonnen- und Windenergie. Dabei sollen riesige Windkraftanlagen-Felder,<br />
Sonnenwärmekraftwerke und Solarzellen-Felder in von der Sonne begünstigten<br />
Ecken der Welt errichtet werden, die idealerweise auch noch dünn oder gar nicht<br />
besiedelt sind. Für Sonnenenergie eignen sich Wüsten wie die Sahara gut, für Windenergie<br />
sind Marokko und Gegenden am Roten Meer im Gespräch. Neben der Versorgung der Erzeuger-Regionen<br />
sollen auch erhebliche Stromanteile nach Europa geleitet werden, was der eigentliche<br />
Hintergrund des Projektes ist. Der Finanzierungsbedarf wird auf mehrere 100 Milliarden<br />
EUR geschätzt. An den Vorarbeiten zum Projekt sind viele namhafte Energieversorger<br />
beteiligt, das Projekt genießt eine vergleichsweise breite Unterstützung.<br />
<strong>Die</strong>ses Projekt hat immerhin den Charme, tatsächlich eine nicht versiegende Energiequelle zu<br />
nutzen, nämlich die Sonne.<br />
74
4.3.2 Kernfusion<br />
<strong>Die</strong> Kernfusion ist sozusagen das Gegenstück zur aktuellen Kernenergie: Statt Spaltung eines<br />
Atomkerns sollen zwei Atomkerne zu einem „fusioniert”, <strong>als</strong>o verschmolzen werden. <strong>Die</strong> dabei<br />
freiwerdende Energie ist bezogen auf die Ausgangsmaterialien erheblich höher <strong>als</strong> bei der<br />
Kernspaltung, und der wichtigste Punkt ist: Es ist keine Kettenreaktion, die außer Kontrolle<br />
geraten kann. Eher ist das Gegenteil der Fall: Man schafft es nur mit Mühe, die Substanzen<br />
zur Reaktion zu bringen und zu halten. Es ist ein bisschen so, <strong>als</strong> wolle man mit den hohlen<br />
Händen Luft verflüssigen.<br />
Als Ausgangsmaterialien sollen schwere Isotope des Wasserstoffs dienen, sozusagen die<br />
„Großen Brüder” des normalen Wasserstoffs. Radioaktivität ist auch hier ein Thema, allerdings<br />
in geringem Umfang, da „nur” innere Bauteile des Reaktorgebäudes durch den Neutronenbeschuss<br />
radioaktiv werden. <strong>Die</strong> Ausgangsstoffe und auch die Endprodukte sind entweder<br />
nicht radioaktiv oder vergleichweise leicht zu beherrschen.<br />
<strong>Die</strong> technischen Schwierigkeiten sind immens. Ein alter Witz besagt, dass seit Beginn der<br />
Forschungen vor 40 Jahren kontinuierlich behauptet wird, die Kernfusion stehe „spätestens<br />
in 50 Jahren zur Verfügung”. <strong>Die</strong>se „ewigen 50 Jahre” werden auch spöttisch <strong>als</strong> „Fusionskonstante”<br />
bezeichnet. Und selbst wenn es gelänge, alle Schwierigkeiten zu überwinden,<br />
würde die Perspektive doch wieder nur einige Tausend Jahre betragen, dann wäre nämlich<br />
einer der Ausgangsstoffe alle. Aber bis dahin hätten ja die klugen Ingenieure wieder eine<br />
andere Idee ...<br />
4.3.3 CCS<br />
CCS steht für „CO2-Abscheidung und -Speicherung” (engl. Carbon Dioxide Capture and Storage,<br />
kurz CCS). Das ist ein klassisches „Unter-den-Teppich-kehren”-Projekt. Da die<br />
Verbrennung fossiler Brennstoffe wie Öl, Kohle und Gas viel CO2 produziert und CO2 der wesentlich<br />
verantwortliche Stoff der Klimaerwärmung ist (Treibhausgas), soll das CO2 „einfach”<br />
wie Abfall behandelt und deponiert werden, anstatt in die Atmosphäre zu gelangen. Als Deponien<br />
stellt man sich poröse unterirdische Gesteinsschichten oder die Tiefsee vor.<br />
<strong>Die</strong> dazu nötigen Techniken sind fast allesamt unerforscht, es gibt viele kritische Ungewissheiten.<br />
CCS ändert nichts an der Tatsache, dass weiterhin fossile Brennstoffe gesucht und<br />
gefördert werden müssen, mit all den großen und kleinen Umweltkatastrophen der Suche<br />
und Förderung. Man ist zudem darauf angewiesen, dass das CO2 unendlich lange in seiner<br />
Deponie bleibt – das Vorhersagen von Zukunft ist aber erfahrungsgemäß schwierig.<br />
4.4 Cradle to cradle<br />
4.4.1 Das Konzept<br />
Das „Cradle to cradle”-Konzept stammt von Michael Braungart. Er ist Chemiker, Designer<br />
und Umweltberater – und ein höchst effektiver Vermarkter seiner eigenen Person<br />
(www.braungart.com). <strong>Die</strong> Wirksamkeit seines Konzeptes hat er in diversen Industrieprojekten<br />
zu demonstrieren versucht, ein bekannteres davon sind die kompostierbaren Sitzbezüge<br />
im neuen Airbus A380, was allerdings den Flieger insgesamt noch nicht „cradle to cradle”<br />
macht ... Seine Umtriebigkeit, seine Konsumfreundlichkeit und die scheinbare Inkonsequenz<br />
seiner Projekte machen ihn der Ökobewegung höchst suspekt. Aber gemäß dem alten<br />
Grundsatz „<strong>Die</strong> Qualität eines Argumentes hängt nicht davon ab, wer es verwendet” verdient<br />
das „Cradle to cradle”-Konzept eine vorurteilsfreie Betrachtung.<br />
„Cradle to cradle” bedeutet „Von der Wiege zur Wiege” und damit die Abkehr des alten Produktgedankens<br />
„Von der Wiege zur Bahre”. Ein materielles Produkt soll sich – wie alles Natürliche<br />
auf der Welt – nahtlos in einen Stoffkreislauf einfügen und nicht am Ende <strong>als</strong> Müll<br />
75
enden. Braungarts Königsbegriff ist „Ökoeffektivität”, er grenzt ihn scharf von „Ökoeffizienz”<br />
ab. Letzterer bezeichnet die heute allgemein übliche Tendenz, mit viel Mühe technische Prozesse<br />
so zu gestalten, dass die Natur möglichst wenig geschädigt wird – für Braungart ein<br />
verfehlter Ansatz, weil er auf einem „schlechten Gewissen” beruht. Auch ein solches Produkt<br />
kann man immer noch nicht guten Gewissens genießen, denn die Umweltschädigung ist ja<br />
immer noch da, wenn auch geringer. Ökoeffektivität hingegen bedeutet für ihn, dass das<br />
Produkt nicht nur umweltneutral, sondern nützlich ist: Je mehr davon verbraucht wird, desto<br />
besser für die Natur. Braungart dreht <strong>als</strong>o den Spieß völlig um, sein Standard-Beispiel ist die<br />
Ameise: „Menschen sind die einzigen Lebewesen, die Müll machen. Wenn wir so intelligent<br />
wären wie die Ameisen, dann hätten wir kein Überbevölkerungsproblem. <strong>Die</strong> Biomasse der<br />
Ameisen ist etwa vier Mal größer <strong>als</strong> die der Menschen. Der Kalorienverbrauch aller Ameisen<br />
entspricht dem von etwa dreißig Milliarden Menschen.” (Interview in der FAZ vom<br />
20.01.2009)<br />
<strong>Die</strong> Loslösung vom schlechten Gewissen ist ein ganz zentraler Punkt in seinem Konzept: „Das<br />
Problem ist, dass in Deutschland das Umweltthema moralisch aufgeladen und Schuldmanagement<br />
betrieben wird, vor allem von den Grünen und Umweltorganisationen, deren Mitglieder<br />
sich <strong>als</strong> Gutmenschen stilisieren. <strong>Die</strong> Deutschen wachen auf und denken sich: Ich bin zu<br />
hundert Prozent Schwein, und mein Ziel ist es, nur zu neunzig Prozent Schwein zu sein. Besser<br />
wäre, mich gäbe es nicht.” (Interview in der FAZ vom 20.01.2009) Es geht <strong>als</strong>o um die<br />
Abkehr von unproduktiven moralischen Appellen.<br />
„Cradle to cradle”-Produkte werden in zwei geschlossenen Kreisläufen so intelligent hergestellt,<br />
dass sie<br />
• entweder schadstofffrei in die Natur zurückkehren<br />
• oder <strong>als</strong> Rohstoff neu genutzt werden können (100 %-Recycling)<br />
In Braungarts Worten: „Materialien von Produkten, die für biologische Kreisläufe optimiert<br />
sind, dienen <strong>als</strong> biologische Nährstoffe, und können bedenkenlos in die Umwelt gelangen.<br />
Materialien von Produkten, die für geschlossene technische Kreisläufe konzipiert sind, dienen<br />
<strong>als</strong> technische Nährstoffe (z.B. Metalle und verschiedene Polymere). <strong>Die</strong>se Materialien sollen<br />
nicht in biologische Kreisläufe geraten.” (www.braungart.com > Cradle to Cradle-Vision)<br />
Recycling ist für Braungart nur <strong>als</strong> „Upcycling” zulässig: Es darf keine Verschlechterung der<br />
Ausgangsstoffe stattfinden. Das heute übliche „Downcycling” (Parkbänke aus alten Getränkeflaschen<br />
und ähnliches) ist nicht akzeptabel, weil Downcycling bestenfalls über einige Stufen<br />
läuft und dann doch in Müll endet.<br />
<strong>Die</strong> Gewinnung von weiteren nichterneuerbaren Rohstoffen wird auf der Webseite nicht explizit<br />
erwähnt, vermutlich stören sie nicht weiter in diesem Konzept, weil sie ja a) unter diesen<br />
Bedingungen gewonnen werden müssen und b) entweder abbaubar oder vollständig<br />
recyclebar sind. Möglicherweise nimmt Braungart in seinen Büchern dazu Stellung.<br />
Braungart möchte (wie viele andere Autoren auch) den Nutzen anstelle des Besitzes in den<br />
Vordergrund stellen: Man möchte eigentlich nur fernsehen und nicht einen Kasten voller<br />
Giftmüll kaufen und später entsorgen müssen. Das führt zur Produktverantwortung des Herstellers<br />
über die gesamte Produktlebensdauer und zu Mietmodellen.<br />
4.4.2 Kritik<br />
Ich will mich hier nicht in aller Tiefe mit dem „Cradle to cradle”-Konzept befassen. Das Problem<br />
mit den Sitzbezügen im Airbus A380 illustriert bereits ganz gut das Dilemma: Wird man<br />
alle diese schönen Wohltaten der Industrie auf diese Weise herstellen können? Den A380 mit<br />
Bio-<strong>Die</strong>sel betanken und nach Ende der Lebensdauer komplett demontieren und wiederverwenden<br />
oder kompostieren können? Meiner Ansicht nach sprechen folgende Punkte dagegen:<br />
76
• Wir besitzen leider nicht die Ökoeffektivität der Ameisen und sind nicht in der Lage,<br />
iPhones und Flugzeuge mit Zuckerkrümeln oder püriertem Grünfutter zu betreiben.<br />
Bislang sieht es nicht so aus, <strong>als</strong> könnte man einen Gelatine-Akku oder eine Holz-<br />
Turbine bauen, d. h. für moderne Technologie benötigt man Materialien hoher Festigkeit<br />
und Leichtigkeit, Elektronik, elektrische Energie und (vor allem in Turbinen) die<br />
unerreichte Energiedichte von Kohlenwasserstoffen. Moderne Technologie ist zu<br />
schnell, zu kraftvoll, zu komplex. <strong>Die</strong> belebte Natur hat solche Materialien nicht im<br />
Programm, d. h. es bleibt bei den meisten modernen Produkten nur Upcycling <strong>als</strong> Option,<br />
nicht die Kompostierung.<br />
• Upcycling für moderne Technologie ist sehr aufwendig, insbesondere wenn viele Substanzen<br />
auf engem Raum miteinander vermischt sind, wie bei Elektronik. Grundsätzlich<br />
ist es denkbar. Der Punkt ist eher: Es ist schlicht zu aufwendig. Es wird HiTech-<br />
Produkte so teuer machen, dass man die Lust verliert, sie zu nutzen. Es benötigt Arbeitszeit<br />
und vor allem Energie, und gerade letztere wird mit der Energiewende allem<br />
Erwarten nach nicht billiger, sondern teurer.<br />
Anmerkung: Einwände von Kritikern, die Entmischung von Substanzen beim „Upcycling”<br />
widerspreche dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, halte ich für nicht<br />
stichhaltig, denn die Erde ist kein geschlossenes Energiesystem. Wir erhalten ständig<br />
Energie von der Sonne, die wir durchaus dazu nutzen könnten, vermischte Substanzen<br />
wieder fein säuberlich zu trennen. <strong>Die</strong> Erde ist ja auch nicht trennscharf: Silizium,<br />
Metalle und Erdöl liegen nicht in Reinstform herum, sondern werden <strong>als</strong> Sand, Erz<br />
oder schmutzige Brühe gefördert und dann zu fast reinen Substanzen raffiniert.<br />
• Viel moderne Technologie basiert mittlerweile auf Herstellungsverfahren, die in Teilen<br />
der Natur abgeschaut sind, und genau dieses „in Teilen” ist das Problem: Es sind „intelligente”<br />
Verbundwerkstoffe aus verschiedensten Materialien, die ineinander verschmolzen,<br />
verklebt, verpresst sind und sich nur mit viel Mühe wieder auseinanderfieseln<br />
lassen. <strong>Die</strong> Umweltbewegung ist daran nicht unschuldig: Der Wunsch nach „Ökoeffizienz”<br />
führte zur Suche nach leichteren und gleichzeitig stabileren Materialien,<br />
meistens mit dem Ziel, Gewicht und damit Treibstoff zu sparen. Während sich <strong>als</strong>o<br />
eine Ju52 oder ein 2CV noch mit einem Satz Schraubenschlüssel vollständig demontieren<br />
lassen, ist das mit einem A380 oder einem modernen Benz nicht mehr der Fall.<br />
Auf solche Produkte muss man dann entweder verzichten – oder man baut wieder<br />
nach altem Schema, denn Bio-<strong>Die</strong>sel darf man dann ja wieder zum Wohle der Natur<br />
verschwenden ...<br />
• Bei allen nichterneuerbaren Rohstoffen besteht eher das Problem der „übergroßen<br />
Verdünnung” <strong>als</strong> der Nicht-Recyclingfähigkeit: Metalle korrodieren und bröseln in die<br />
Gegend, Reifen haben Abrieb, der sich fein verteilt, beim Erhitzen gehen viele Substanzen<br />
zumindest teilweise in die Atmosphäre über und schlagen sich dann irgendwo<br />
nieder usw. Für Schadstoffe kennen wir dieses Problem schon heute: Feinverteilter<br />
Giftstaub ist ein viel größeres Problem <strong>als</strong> ein Klumpen Gift. Bildlich gesprochen: Ein<br />
hauchdünn über die Erde verteilter Film von Rohstoffen lässt sich nicht wirtschaftlich<br />
recyclen. Und solange wir keine Ameisen finden, die wir dressieren, solche Materialien<br />
zu fressen und in ihrem Ameisenhaufen solange anzureichern, bis wir den ausheben<br />
können, wird sich daran wohl nichts ändern.<br />
Wir haben <strong>als</strong>o weiterhin ein Energie- und ein Rohstoffproblem:<br />
• Wenn man einen A380 mit Bio-<strong>Die</strong>sel betanken möchte, braucht man viel Acker dafür.<br />
Das wird dann wohl eine recht exklusive Geschichte. Auch das Elektroauto frisst<br />
auf diese Weise Fläche. Es erscheint mir keine realistische (und auch unattraktive)<br />
Vorstellung, die Erdoberfläche für solche Zwecke mit Windrädern und Solarzellen zu<br />
pflastern. Ich bin überzeugt, dass wir die Prioritäten anders setzen werden.<br />
• Um die Kompostierbarkeit fast aller Produkte der Technischen, Digitalen und Kunststoff-Revolution<br />
ist es schlecht bestellt. Außer den Konzept-Papieren sehe ich derzeit<br />
77
nicht viel. Beim Thema Kunststoff erleben wir möglicherweise noch erfreuliche Überraschungen,<br />
doch derzeit habe ich Zweifel, ob kompostierbare Kunststoffe auch die<br />
Anforderungen an Haltbarkeit erfüllen werden, die wir an höherwertige Produkte <strong>als</strong><br />
Jogurtbecher stellen. Und für das Thema Recycling wird man die ganze Sache doch<br />
arg reduzieren müssen, wenn man der Mengen Herr werden möchte.<br />
Und: Der Ansatz „Cradle to cradle für hochinnovative Technikprodukte” löst nicht eines der<br />
unter dem Stichwort Sackgasse Produktivität genannten Probleme.<br />
4.4.3 Verdienste<br />
„Cradle to cradle” ist in jedem Falle eine sehr wichtige Bereicherung der Diskussion. <strong>Die</strong> Verringerung<br />
der Umweltschäden durch Ökoeffizienz führt uns in der Tat überhaupt nicht weiter,<br />
sondern bindet im Gegenteil Kraft und Energie. Das „Null-Schaden”-Konzept ist ein wirklich<br />
zukunftsorientierter Ansatz.<br />
Den Punkt mit dem schlechten Gewissen halte ich für den interessantesten in seinem Konzept,<br />
denn das ist tatsächlich so: Es macht keine Freude, Dinge mit schlechtem Gewissen zu<br />
tun. Es ist der Feind jeder Zufriedenheit. Man will kein Problem mit heimischen oder auch<br />
exotischen Genüssen haben, sondern sie guten Gewissens genießen können. Was auf dem<br />
Markt zu haben ist, muss „moralisch einwandfrei” sein. Es kann doch nicht sein, dass man<br />
immer wieder vor dem Regal steht und überlegt, ob man das guten Gewissens kaufen kann<br />
oder nicht, allein gelassen ohne jede brauchbare Information zum Produkt. Es kann teuer<br />
sein, es kann schwierig zu bekommen sein, alles kein Problem. Aber wir haben eine Marktwirtschaft,<br />
und in einer anständigen (sic!) Marktwirtschaft sollte allein der Preis darüber entscheiden,<br />
ob ich etwas kaufe oder nicht. Es geht nicht um „Je schädlicher, desto teurer”,<br />
sondern nur um „Nicht schädlich”.<br />
<strong>Die</strong> Ironie der Geschichte ist: Wir haben das alles schon mal gehabt – in der „guten, alten<br />
Zeit”. <strong>Die</strong> Materialien waren weniger haltbar, wurden gut gepflegt und am Ende ihrer<br />
Gebrauchsdauer demontiert oder konnten verrotten. Gerade Kunststoffe, synthetisches<br />
Gummi, synthetische Öle und Elektronik haben das Müllproblem erst richtig geschaffen.<br />
78
Kapitel 5: Fazit<br />
5.1 Stand der Dinge<br />
5.1.1 Zusammenfassung<br />
Wie sind wir hier gelandet?<br />
• Durch mehrere „Technische Revolutionen“ vermochte der Mensch seine natürlichen<br />
Grenzen der Muskelkraft und der Denkkraft zu überwinden und an Maschinen zu übertragen.<br />
Kunststoffe ermöglichen eine Überwindung der Beschränkungen von traditionellen<br />
Materialien. Dadurch wurde im Laufe der Zeit zwar eine gewaltige Steigerung<br />
des materiellen Lebensstandards erreicht, aber auch ein ebenso gewaltiges Ressourcen-<br />
und Müllproblem geschaffen.<br />
• Wir besitzen ein kapitalistisches Wirtschaftssystem und ein demokratisches Gesellschaftssystem.<br />
• Seit mehreren hundert Jahren ist der Anstieg der Bevölkerung und damit die Verfügung<br />
über Arbeitskräfte eine wesentliche Voraussetzung dafür gewesen, dass die<br />
Wirtschaft überhaupt so rasant wachsen konnte. Eine wesentliche ideologische Rolle<br />
dabei spielt die Katholische Kirche mit ihrem Dogma „Seid fruchtbar und mehret<br />
Euch“.<br />
• Unser Geldsystem besitzt eine eingebaute Wachstumsdynamik aufgrund der unbegrenzten<br />
Kreditvergabe durch die Banken (Geldschöpfung). Ein Anwachsen der<br />
Geldmenge erfolgt durch Gewinn und ist gleichzeitig ein Anwachsen der Leistungsverpflichtung<br />
dieser und kommender Generationen.<br />
• Der Mensch besitzt ein hohes persönliches Potential, das sich je nach Umfeld in verschiedene<br />
Richtungen entwickeln kann. Im Alltag lässt er sich durch Moral und gesellschaftlich<br />
akzeptierte Bilder leiten. Für ein Gleichgewicht von persönlichen und<br />
gemeinschaftlichen Interessen benötigt er jedoch unterstützende Strukturen wie Gesetze<br />
und Institutionen. Über seinen Sozi<strong>als</strong>tatus versichert sich der Mensch der Akzeptanz<br />
durch die Gemeinschaft und kann dadurch seine Existenzangst mindern.<br />
Konsum und wirtschaftlicher Erfolg sind ein wesentlicher, aber auch immer wieder zu<br />
erneuernder Teil dieses Sozi<strong>als</strong>tatus. Es findet eine extreme Bevorzugung des materiellen<br />
Lebensstandards gegenüber einem immateriellen Lebensstandard statt, weil<br />
letzterer viel schwieriger in Sozi<strong>als</strong>tatus umzusetzen ist. <strong>Die</strong> permanente Forderung<br />
nach Erneuerung des Sozi<strong>als</strong>tatus führt zu einem Statuswettbewerb. <strong>Die</strong> Marktwirtschaft<br />
verbindet dabei geschickt das individuelle Wachstum des Einzelnen mit dem<br />
Wachstum der Wirtschaft.<br />
• Wirtschaftliches Handeln wird durch ein ganzes Bündel an erleichternden Maßnahmen<br />
geradezu grotesk durch die Gesellschaft gefördert. Über unbegrenzten Gewinn, Haftungsbeschränkung,<br />
Machtkonzentration durch Beteiligung, Subventionen, niedrige<br />
Ressourcenpreise, Patente und die Aufweichung von Grundrechten wird dafür gesorgt,<br />
dass keine Gelegenheit ausgelassen wird und es zu einem galoppierenden wirtschaftlichen<br />
Wettbewerb kommt. Millionenfach wird aktiv nach Produktlücken gesucht,<br />
die man noch füllen könnte. Dafür wendet die Gesellschaft nicht nur erhebliche<br />
finanzielle Mittel auf, sondern geht auch erhebliche Risiken ein. Das Bild des Leistungsträgers<br />
ist dabei übertrieben positiv besetzt und fördert dessen Eitelkeit.<br />
• <strong>Die</strong> Produktivitätssteigerung der Wirtschaft findet ihre Entsprechung im Privaten <strong>als</strong><br />
Steigerung des Lebensstandards, vor allem durch solche Produkte, die die private<br />
Produktivität steigern.<br />
79
• Das Ergebnis: Der Kapitalismus schwächt systematisch Vernunft und Maßhalten, statt<br />
dessen verstärkt er Unvernunft und Wettbewerb, mit dem Ziel eines unverantwortlichen<br />
Wirtschaftswachstums. <strong>Die</strong> Anreize, der Botschaft des freien Marktes zu folgen,<br />
sind so überwältigend, dass nur wenige widerstehen können. <strong>Die</strong> Fokussierung des<br />
Blicks auf spektakuläre Einzelfälle („Gier“) und eine „unheilige Allianz von Kapital und<br />
Staat“ blendet aus, dass dieser Wettbewerb breit in der Bevölkerung angelegt ist.<br />
Über eine immer weitere Entfesselung der Produktivkräfte (Neoliberalismus) wird versucht,<br />
das System dynamisch stabil zu halten, mit dem Ergebnis, dass das Scheitern<br />
immer wahrscheinlicher wird.<br />
Warum geht es so nicht weiter?<br />
• Der gesamtgesellschaftliche Nutzen der Steigerung der Arbeitsproduktivität ist seit<br />
langem negativ, und ihre Folgen bedrohen das soziale Leben des Menschen. Produktivitätsfortschritte<br />
werden aufgefressen durch Systemeffekte und gesellschaftliche<br />
Verluste. <strong>Die</strong> gesamte Idee der Förderung des Unternehmergeistes beruht auf der<br />
Externalisierung interner Kosten, der Übernahme von Risiken durch die Gemeinschaft<br />
und auf der Verfügbarkeit einer geradezu luxuriösen, öffentlich finanzierten Infrastruktur.<br />
• Staatliche Institutionen, die in ihrer Finanzierungsstruktur auf Vollbeschäftigung angewiesen<br />
sind, heizen das Wachstum aufgrund verschiedener Abhängigkeiten weiter<br />
an. Teilweise sind sie sogar selbst einem grenzenlosen Wachstum unterworfen, wie<br />
beispielsweise das Gesundheitssystem.<br />
• Kate Pickett und Richard Wilkinson weisen in einer Studie nach, dass Einkommensungleichheit<br />
in einer Gesellschaft praktisch alle sozialen Probleme verschärft und das<br />
Leben für die unteren wie die oberen Schichten gleichermaßen unerfreulicher macht.<br />
• Den derzeit größten Beitrag zur Produktivitätssteigerung leisten Computer, Internet<br />
und mobile Kommunikation. Sie läuten ständig neue Runden in der Beschleunigung<br />
ein. <strong>Die</strong> diesen Techniken innewohnenden Konflikte sind teilweise prinzipiell nicht lösbar,<br />
sie sind alle praktisch kaum lösbar.<br />
• <strong>Die</strong> beiden wichtigsten Botschaften in Bezug auf das Wirtschaftsleben, die Botschaft<br />
der freien Marktwirtschaft und die Botschaft der Mäßigung, verfolgen gegensätzliche<br />
Ziele. Das Problem ist: <strong>Die</strong> Botschaft der freien Marktwirtschaft ist viel lauter <strong>als</strong> die<br />
der Mäßigung. Und wir verhelfen der Botschaft der freien Marktwirtschaft über viele<br />
übergeordnete Prinzipien Geltung, der Botschaft der Mäßigung jedoch vorwiegend<br />
über nachgelagerte Gesetze und Verordnungen. Das führt zu einem geradezu grotesken<br />
Ungleichgewicht im Wirtschaftsleben zugunsten des hemmungslosen Konsums<br />
und zulasten der Nachhaltigkeit. Es gibt noch eine ganze Reihe anderer „Paare von<br />
widersprüchlichen Botschaften“.<br />
• <strong>Die</strong> politische Energie richtet sich auf Scheinlösungen, die die gröbsten Exzesse zu<br />
mildern oder zu beseitigen suchen, um den materiellen Wohlstand halten zu können,<br />
ohne am Kern des Problems anzusetzen. Sie gehören letztlich alle in die Rubrik des<br />
„Rosinenpickens“. <strong>Die</strong> verführerischste Scheinlösung wird derzeit <strong>als</strong> Green New Deal<br />
diskutiert, einer technokratischen, im Kern undemokratischen und weiterhin auf<br />
Wachstum basierenden „ökologischen Effizienzrevolution“. Das „Cradle-to-cradle“-<br />
Konzept von Michael Braungart wird ebenfalls nicht geeignet sein, den erreichten materiellen<br />
Wohlstand zu halten, zeigt aber deutlich die notwendige Veränderung der<br />
Denkstrukturen auf.<br />
5.1.2 Dilemma der Diskussion<br />
Wir haben Angst. Wir haben Angst vor dem „Weiter so”, und wir haben Angst vor dem „Ganz<br />
anders machen”. Deshalb versuchen wir, „etwas anders weiter so” zu machen. In unserem<br />
Bemühen, den sogenannten „Wohlstand” zu halten, verordnen wir uns selbst Denkverbote,<br />
80
wie sie sich unter anderem in den Sätzen der Resignation widerspiegeln. Aber die Ausrichtung<br />
am Wünschenswerten bedeutet eine intellektuelle Kapitulation vor den Problemen. Es<br />
muss vielmehr um eine Ausrichtung am langfristig Machbaren gehen.<br />
Mit der Änderung der Umwelt und der Gesellschaft ändern sich auch die Konzepte. <strong>Die</strong> alten<br />
Römer, die mittelalterlichen Mönche, sogar noch unsere Großeltern konnten sich vieles von<br />
dem nicht vorstellen, was wir heute selbstverständlich finden, und genauso werden unsere<br />
Konzepte späteren Generationen teilweise lächerlich vorkommen. „Vielleicht werden sich<br />
kommende Generationen mit Verwunderung an eine relativ kurze Phase in der Geschichte<br />
der Menschheit erinnern, in der ständiges Wirtschaftswachstum für möglich und nötig gehalten<br />
wurde.” (Bundespräsident a. D. Horst Köhler im Geleitwort zu Seidl/Zahrnt 2010)<br />
<strong>Die</strong> Welt ist sehr voll und sehr schnell geworden. Das Geld ist sehr viel geworden. Das<br />
drängt andauernd Probleme, die sich aus dieser Verdichtung ergeben, in den Vordergrund.<br />
Unter diesen Umständen kann man nicht klar denken, man ist dauernd mit existentiellen<br />
Fragen und Krisenmanagement beschäftigt, national und international. Es ist wie in der<br />
Gruppendynamik: Wir haben eine Störung des Prozesses, und diese Störung überlagert alles<br />
andere, sie zieht die Energie ab. Solange wir die Störung nicht beseitigen, ist kein konstruktiver<br />
und rationaler Dialog möglich. <strong>Die</strong>se Störung hat die Überschrift „Menschenbild”, und die<br />
Frage lautet: Wo wollen wir <strong>als</strong> Menschen hin? Und nicht: Wie wollen wir hin? Wohin denn?<br />
Wer nicht weiß, wohin er will, dem helfen keine Methoden. Wir haben kein Erkenntnisproblem,<br />
wir haben auch kein Handlungsproblem, sondern wir haben ein Selbstverständnisproblem.<br />
<strong>Die</strong> aktuelle Diskussion ist zu methodenlastig. Wir diskutieren über die Folgerungen aus<br />
Prinzipien, die wir noch gar nicht definiert haben.<br />
Wie sehen neue Wohnformen aus? Wie sehen neue Mobilitätskonzepte aus? Wie sieht eine<br />
neue Industriegesellschaft aus? Müssen wir die Arbeitszeit allgemein reduzieren? <strong>Die</strong>se Fragen<br />
haben weder Staat noch Einzelne für alle zu beantworten! Wir dürfen keinerlei gesellschaftliche<br />
Diskussion darüber führen, wie das praktische Leben neu organisiert werden soll.<br />
Aspekte der Organisation des praktischen Lebens sind einzig und allein von den Beteiligten<br />
zu entscheiden, die dafür einen Ordnungsrahmen benötigen. <strong>Die</strong>ser Ordnungsrahmen für die<br />
wirtschaftliche und gesellschaftliche Logik kann nur durch ein möglichst weit oben angesiedeltes<br />
Prinzip definiert werden, auf welches sich die Gemeinschaft in einem demokratischen<br />
Prozess einigen muss. Im Grundgesetz steht nichts von Wohnformen, Mobilität, Industrie<br />
und Arbeitszeit. Im Grundgesetz stehen Prinzipien wie „<strong>Die</strong> Würde des Menschen ist unantastbar”,<br />
„freie Entfaltung seiner Persönlichkeit”, „Eigentum verpflichtet”. <strong>Die</strong> konkrete Auslegung<br />
steht dort nicht, und das ist auch richtig so. Bereits die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht<br />
immer öfter die Politik korrigieren muss, unterstreicht die schweren Meinungsverschiedenheiten<br />
in Deutschland – und die Tatsache, dass unser Grundgesetz der<br />
Lebenswirklichkeit nicht mehr gerecht wird. Wir müssen dort offensichtlich etwas anderes<br />
hineinschreiben.<br />
Ein weiterer Grund, warum das Modell der zentralen Steuerung (oder Gängelung) diese Debatte<br />
so beherrscht, ist meines Erachtens: Das „gesellschaftliche Gedächtnis” reicht nur 50<br />
bis 60 Jahre zurück. Es beschränkt sich – Geschichtsschreibung hin oder her – im wesentlichen<br />
auf das, was man selbst erlebt hat. Und was haben wir in dieser Zeit erlebt? <strong>Die</strong> soziale<br />
Marktwirtschaft ist genau das: Ein Kapitalismus mit von oben verordneten, ausgleichenden<br />
Zügen. Mit dieser Definition von „guter” und „schlechter” Wirtschaft haben wir ja eine ganze<br />
Weile subjektiv ganz gut gelebt.<br />
Zulässig und notwendig ist eine gesellschaftliche Diskussion darüber, wo ein Weg möglicherweise<br />
hinführen könnte. <strong>Die</strong> Entwicklung von schönen oder auch schaurigen Bildern ist<br />
wichtig für den demokratischen Prozess, der zu den Prinzipien des Grundgesetzes führt. Ich<br />
glaube, dass jeder Mensch ein inneres Bild vom Sinn des Lebens hat, und wenn es darin besteht,<br />
dass im Leben kein Sinn zu sehen ist, ist das auch gut. Auch eine völlig indifferente<br />
Haltung hierzu ist zulässig. Nur so können wir das Individuum respektieren. Aber diskutieren<br />
81
müssen wir. Und zwar zuerst über die Prinzipien. Und dann schauen wir, welchen Ordnungsrahmen<br />
wir darüber hinaus benötigen. Und ich behaupte: Wenn die Prinzipien gut sind, dann<br />
wird der Ordnungsrahmen klein. Weil Vernunft zur Regel wird.<br />
5.1.3 Dilemma der Parteien<br />
Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 18.09.2011 hatten Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen<br />
deutlich weniger Stimmen erhalten <strong>als</strong> erhofft. Ein erheblicher Teil wanderte zu den „Piraten”.<br />
Was ist dort passiert? Einig sind sich die meisten, dass die Piraten keinen inhaltlichen<br />
Erfolg errungen haben, sondern (noch) <strong>als</strong> Protestpartei zu sehen sind, die mit ihren Forderungen<br />
nach „mehr Demokratie” und ähnlichem den Flair des Frischen, Unverbrauchten, Ehrlichen<br />
haben. Frisch, unverbraucht und ehrlich sind Eigenschaften, keine Verdienste. Wie<br />
konnte es passieren, dass Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen diese Eigenschaften nicht mehr zugeschrieben<br />
werden, wo sie doch einst genauso angefangen hatten?<br />
Sehr auffällig fand ich bei Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen einen bestimmten schriftlichen Entwurf für<br />
den Green New Deal. Das war eine einzige Jubelarie auf sie selbst, die ach so vernünftig<br />
seien, und auf die Wirtschaft, die sich ach so tatkräftig nach Impulsen aus der Politik sehne,<br />
um endlich mit grünem Wachstum mehr Vernunft entwickeln zu dürfen. Und eine endlose<br />
Kette von Seitenhieben auf die anderen Parteien. Ein Entwurf voller Eitelkeit. Ich war auch<br />
einmal bei der FDP, bei der Tagung des Berliner „Arbeitskreises Grundsatz- und Perspektivfragen”.<br />
Das fand ich richtig gruselig. Wenn Eitelkeit eine Partei <strong>als</strong> Heimat hat, dann diese.<br />
Meines Erachtens sieht eine allgemeine Typologisierung der Parteien derzeit so aus:<br />
• <strong>Die</strong> FDP und die Grünen sind die Parteien der Eitelkeit.<br />
• <strong>Die</strong> Linken sind die Partei der Ängstlichen.<br />
• <strong>Die</strong> Piraten sind die Partei der Coolen.<br />
• SPD und CDU sind die Parteien des großen Rests.<br />
Bei der FDP kommt die Eitelkeit aus ihrem inneren Selbstverständnis <strong>als</strong> Partei der Leistungsträger,<br />
das kennt man seit langem und wundert sich nicht. <strong>Die</strong> Grünen (und ich nehme<br />
Bündnis 90 da mal aus – außerhalb des Parteiapparates gab es in der DDR wenig Gelegenheiten,<br />
Eitelkeit zu kultivieren) sind die Partei der Besserwisser geworden. Sie haben eine<br />
bemerkenswerte Entwicklung von belachten Spinnern zu einer respektablen, staatstragenden<br />
Partei durchgemacht, die jetzt sogar einen Ministerpräsidenten stellt. Sie haben das Thema<br />
Ökologie in der Politik fest verankert und den Ausstieg aus der Kernenergie erfochten. In<br />
ihrem Selbstverständnis haben sie der Politik die Vernunft gebracht. Das speist ein Sendungsbewusstsein.<br />
Wer grün wählen will, aber keine Eitelkeit mag, hat einen Konflikt.<br />
Natürlich haben alle Parteien ihre Eitlen. Das ist in einer hierarchischen Parteistruktur, einer<br />
Mediendemokratie und unter den Bedingungen der Marktwirtschaft überhaupt nicht vermeidbar.<br />
Dennoch finde ich das Sendungsbewusstsein einiger Grüner bemerkenswert.<br />
Alle Parteien machen zudem den Fehler, dass sie ihre Wähler immer mehr auf die Stimme<br />
reduzieren, die sie von ihnen erhalten können. Daher wird in einer Art vorauseilendem Gehorsam<br />
das eigene Programm auf die vermeintliche Erwartung und „Zumutungsfähigkeit” der<br />
Wähler abgestimmt: „Das kann man dem Wähler nicht zumuten!” ist ein gängiges Argument<br />
für die Verweichlichung von Standpunkten. Darin ähneln die Parteien dem Unternehmer, der<br />
über Marktforschung versucht herauszubekommen, was die Kunden wünschen. Das Ergebnis<br />
ist eine Angleichung der gegenseitigen Erwartungen und Nivellierung des Profils: <strong>Die</strong> Partei<br />
erwartet eine Stimme („die da unten wählen ja doch nur, was ihnen Vorteile bringt”), und<br />
der Wähler sieht sich nur noch <strong>als</strong> Stimmgeber („die da oben machen ja doch nur, was ihnen<br />
Vorteile bringt”). Eitelkeit verhindert gute Politik, falls diese gute Politik unpopulär ist, denn<br />
dafür erhält man alles mögliche, aber keine Bestätigung. Deswegen ist populäre Politik so<br />
verbreitet.<br />
82
Alle, die ihr Programm durch Befragungen nach „dem Markt” ausrichten, geraten in diese<br />
Falle. Private Fernsehsender, die primär auf die Einschaltquote reagieren, haben das gleiche<br />
Problem der Verflachung, nur dass es dort keiner <strong>als</strong> Problem wahrnimmt. Jeder, der kein<br />
eigenes, definiertes Profil hat, landet dort. <strong>Die</strong> Parteien haben ihre Arbeit nach marktwirtschaftlichen<br />
Gesichtspunkten organisiert. Pragmatische Politik greift lediglich dem<br />
Mainstream voraus, auf Dauer ist sie für jede Partei tödlich, weil die Parteien dadurch austauschbar<br />
werden.<br />
Es gibt große Innovatoren der Wirtschaft wie Steve Jobs, die Gebrüder Albrecht und wie sie<br />
alle heißen, die unsere Konsumgewohnheiten nachhaltig verändert haben. Ich glaube nicht,<br />
dass sie jem<strong>als</strong> Marktforschung betrieben haben, <strong>als</strong> sie ihre großen Ideen hatten, für die es<br />
noch gar keinen Markt gab. <strong>Die</strong> hatten eine Vision! Und sind damit nicht zum Arzt gegangen,<br />
sondern haben sie umgesetzt und durch Konsequenz überzeugt. Das würde ich mir auch von<br />
den Parteien wünschen. <strong>Die</strong> derzeitige Verunsicherung ruft geradezu nach politischen Innovationen!<br />
Aber alle ziehen ihr vertrautes Programm durch, und nicht eine Partei hat das<br />
Thema „Wachstum” aus ihrem Programm herausgenommen. Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen haben<br />
es <strong>als</strong> Green New Deal sogar explizit neu hineingenommen.<br />
Für eine unpopuläre Politik findet man keine Mehrheit? Kommt drauf an. Wenn man natürlich<br />
nur fragt: „Wollen Sie gerne verzichten?”, wird man in der Tat keine Mehrheit finden. Man<br />
muss daher die Frage anders stellen, d. h. man muss eine Alternative finden, die so interessant<br />
erscheint, dass zumindest die Diskussion möglich wird. Dabei wird Konsequenz und Beteiligung<br />
im Vordergrund stehen müssen. Und nicht Eitelkeit.<br />
5.2 Ziele eines Umbaus<br />
„Alle Anstrengungen haben sich gelohnt: im Jahr 2060 ist der Große Übergang<br />
gelungen. <strong>Die</strong> Menschen haben sich die Vision von einem selbstbestimmten<br />
Leben in einer kulturell reichen, inklusiven und ökologisch gesunden Welt erfüllt.<br />
Sie leben in einer vernetzten und gerechten Welt.<br />
<strong>Die</strong> zwischenmenschliche Solidarität ist so groß wie nie, ebenso der gegenseitige<br />
Respekt vor verschiedenen Lebensweisen. <strong>Die</strong> Welt ist friedlicher geworden,<br />
auch weil immer mehr Menschen der bittersten Armut entkommen sind<br />
und noch viel mehr Menschen ein lebenswürdiges Einkommen verdienen.<br />
Sowohl auf politischer <strong>als</strong> auch auf wirtschaftlicher Ebene haben soziale und<br />
ökologische Ziele oberste Priorität. <strong>Die</strong> Menschenrechte werden überall eingehalten.<br />
<strong>Die</strong> Natur hat die Möglichkeit bekommen aufzuatmen, sie wird nicht mehr über<br />
Gebühr strapaziert. Es ist selbstverständlich darauf zu achten, nachfolgenden<br />
Generationen eine intakte Umwelt und ausreichende Ressourcen zum<br />
Leben zu hinterlassen.<br />
<strong>Die</strong> beschriebene Welt ist nicht das Paradies, sondern wird immer noch von<br />
Menschen mit all ihren Schwächen bevölkert. <strong>Die</strong> Lebenslust und das Gefühl,<br />
in einer schützenswerten Welt zu leben, überwiegen diese Schwächen. Der<br />
Große Übergang liefert Ideale und Ziele, an denen die Menschen ihre Entscheidungen<br />
zur Gestaltung einer besseren Zukunft ausrichten können.”<br />
Zitiert nach: „Der Große Übergang – Der Weg zu einer gerechten, freien und<br />
nachhaltigen Welt”. Folge 1 der Publikationsreihe „Schöne Aussichten” des<br />
Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt.<br />
5.2.1 Einfachheit<br />
Wir sollten auch das „Undenkbare” denken und eine neue Ära nicht mit einer erneuten<br />
Selbsttäuschung beginnen. Je länger die Sucht und je höher die Dosis, desto schwerer wird<br />
83
der Entzug. Da die natürlichen Grenzen des Menschen und der Erde „erfolgreich” überwunden<br />
sind, werden wir uns ab jetzt bis ans Ende aller Zeiten die Grenzen selbst setzen müssen.<br />
Das Wirtschaftsmodell soll einfach sein. Eine Wirtschaft, die sich nur noch mit höherer Mathematik<br />
verstehen lässt, kann nicht im Sinne des Menschen sein. Einfach bedeutet: Es soll<br />
robust, fehlertolerant und leicht verständlich sein. Es soll mit Hilfe von Selbstregulierung und<br />
weitgehend ohne zentrale Steuerung funktionieren. Der unvermeidbare Anteil zentraler<br />
Steuerung soll sich auf allgemeine, in gleicher Weise für alle geltende Prinzipien beschränken.<br />
Das ist, was wir unter einem Gesellschaftsvertrag verstehen.<br />
Das Einzige, worauf wir uns sicher verlassen können, sind die Gesetze der Logik und der<br />
Naturwissenschaften. Das, worauf wir uns sicherlich nicht verlassen können, sind die<br />
menschlichen Fähigkeiten und Eigenschaften. Das Gleichgewicht des Menschen ist labil und<br />
muss ständig neu stabilisiert werden. Es kommt permanent zu Konflikten zwischen<br />
individuellen und gemeinschaftlichen Interessen. Das Wirtschaftsmodell soll dem Rechnung<br />
tragen. Nur ein Konzept, welches die Widersprüchlichkeiten der menschlichen Existenz<br />
berücksichtigt, wird meines Erachtens Erfolg haben.<br />
Es geht hier nicht um eine generelle Fortschrittskritik, sondern um „Waffengleichheit” für<br />
verschiedene Wirtschaftsformen, <strong>als</strong>o ein Ende der einseitigen Förderung einer ressourcenintensiven<br />
und zunehmend menschenfeindlichen Wachstumsgesellschaft.<br />
5.2.2 Humanismus<br />
Fortschritt soll die Menschheit erwachsen werden lassen. <strong>Die</strong> Förderung der freien Entfaltung<br />
des Menschen sollte Ziel werden. Statt dessen fördern wir Trivialisierung, Wettbewerb, Aggression<br />
und Destruktivität.<br />
Das Bild vom pausenlos innovativen Menschen sollte hinterfragt werden. Wenn wir weg von<br />
bestimmten Leitbildern:<br />
• Unternehmer<br />
• Leistungsträger<br />
• Reichtum<br />
• Wettbewerb<br />
• Effizienz<br />
• Pareto-Prinzip<br />
• Kernkompetenzen<br />
und hin zu bestimmten anderen Leitbildern:<br />
• Ästhetik<br />
• Bildung<br />
• Unabhängigkeit<br />
• Reife<br />
gehen, könnte das unser Leben viel einfacher und reicher gestalten. Ich finde es nicht akzeptabel,<br />
dass die Suche der Starken, Lauten, Umtriebigen, Schnellen nach Erleichterung viele<br />
andere in die Unzufriedenheit treibt. Wettbewerb in allen Bereichen des Lebens untergräbt<br />
das Vertrauen in die Zukunft und verhindert eine solidarische Gesellschaft.<br />
5.2.3 Liberale Grundhaltung<br />
Ein neues Gesellschaftsmodell soll weiterhin die bewährten menschlichen Prinzipien<br />
• Freiheit des Einzelnen<br />
84
• Demokratie<br />
• Marktwirtschaft<br />
• „Leistung soll sich lohnen”<br />
• Zurückhaltung des Staates<br />
berücksichtigen. Das heißt nicht, dass es keine Grenzen gibt. Aber im praktischen täglichen<br />
Leben sollen diese Grundsätze verwirklicht sein.<br />
Aufgabe des Staates neben der Bereitstellung der öffentlichen Güter ist es, den demokratisch<br />
beschlossenen Prinzipien Geltung zu verschaffen und dafür die Voraussetzungen zu gewährleisten.<br />
Auf welchen Wegen diese Ziele erreicht werden, sollte der Freiheit des Einzelnen<br />
überlassen bleiben. <strong>Die</strong> Beeinflussung dieser Wege sollte auf das absolut notwendige Minimum<br />
begrenzt bleiben und praktisch unterstützende, möglichst marktwirtschaftliche Maßnahmen<br />
anstelle von Gängelung und Verboten bevorzugen. Das wird gelingen, wenn die<br />
Prinzipien klug gewählt sind. Derzeit sind sie es nicht.<br />
<strong>Die</strong> beliebte Unterscheidung zwischen „guter” und „schlechter” Wirtschaft, auch Rosinenpicken<br />
genannt, basiert auf der Hoffnung, dass man Vernunft in die Wirtschaft einziehen lassen<br />
könne, indem man das eine fördert und das andere bremst. Der Staat hat privatwirtschaftlich<br />
nichts zu fördern oder zu bremsen. Wenn einzelne privatwirtschaftliche Unternehmungen<br />
„aus Vernunftgründen” subventioniert oder sanktioniert werden müssen, ist bereits<br />
etwas schiefgegangen, und eine sofortige Suche nach den eigentlichen Ursachen sollte beginnen.<br />
5.2.4 Ungleichheit begrenzen<br />
Es gibt starke Argumente für das Streben des Menschen nach Gleichheit und Belege dafür,<br />
dass mehr Gleichheit die Gesellschaft insgesamt glücklicher und gesünder macht. Derzeit hat<br />
die Umverteilungsdiskussion etwas Gönnerhaftes: Na gut, wir geben was ab. Vielleicht aber<br />
hat der Begriff von Reichtum seinen anfeuernden Zweck einfach historisch erfüllt? Ein<br />
„Reichtumsverbot” würde unter anderem dazu führen, dass wieder mehr Leute für ihre Existenz<br />
arbeiten müssen. „Und essen sollst Du Dein Brot im Schweiße Deines Angesichts” ist ein<br />
altes Gebot. Der gewinnorientierte Investor hingegen ist ein krankes Konzept. <strong>Die</strong> sogenannen<br />
„mächtigen Gegner” von gesellschaftlichem Fortschritt sind im wesentlichen immer die<br />
gleichen: Eigentümer von viel Kapital.<br />
<strong>Die</strong> westliche Welt soll ihre Attraktivität <strong>als</strong> wirtschaftliches Einwanderungsland verlieren. <strong>Die</strong><br />
Aufrechterhaltung des internationalen Gefälles ist menschenverachtend und wiederum nur<br />
ein Nähren unserer Eitelkeit. Es geht nicht um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft:<br />
Es geht weder um Wettbewerb noch um Deutschland, sondern um die Zufriedenheit<br />
aller Menschen dieser Welt. <strong>Die</strong> übermäßige Exportorientierung der deutschen Wirtschaft ist<br />
ein ständiger Verstoß gegen das Gebot des außenwirtschaftlichen Gleichgewichtes.<br />
5.2.5 Naturverbrauch begrenzen<br />
Eine ökologische Kreislaufwirtschaft auf heutigem Niveau klingt nicht sehr realistisch. Wir<br />
haben kein Recht, nur die nächsten 20, 50, 100 Jahre zu planen. Wir sollten ein Konzept für<br />
viele 10.000 Jahre entwickeln, tendenziell ein Konzept für die Ewigkeit. Eine unendliche Perspektive<br />
hat meiner Meinung nach grundsätzlich Vorrang vor den Wohltaten der modernen<br />
Welt. Hätten die alten Römer das Potential gehabt, die Welt so zu beschädigen wie wir heute,<br />
dann hätten wir schon seit 2.000 Jahren ein Problem.<br />
Solange wir unser Gesellschaftsmodell an unseren Wünschen ausrichten, wird es schwierig<br />
bleiben. Sobald wir anfangen, es am dauerhaft Machbaren auszurichten, könnte es einfacher<br />
werden. Der Sportsgeist des Menschen soll vom Konsum und insbesondere von Hochtechnologie<br />
weggebracht werden. Nicht HiTech, sondern LowTech ist die Lösung, wenn man Ener-<br />
85
gie und Material einsparen möchte. HiTech erfordert im Hintergrund eine so gefräßige Infrastruktur,<br />
dass Ressourceneinsparung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Schnelligkeit<br />
verbraucht mehr Ressourcen <strong>als</strong> Langsamkeit, Maschinenkraft mehr <strong>als</strong> Muskelkraft, ein<br />
Spezialist mehr <strong>als</strong> ein Generalist, Größe mehr <strong>als</strong> Kleinheit, Global mehr <strong>als</strong> Regional.<br />
<strong>Die</strong> Verzichtsdebatte ist eigentlich nur eine Verteilungsdebatte. Wenn alle verzichten müssen,<br />
ist das ein viel kleineres Thema. Wenn aber der Verzicht nur durch einen moralischen Appell<br />
motiviert ist und man parallel all die anderen weiter schlemmen und rülpsen sieht, dann hat<br />
man darauf verständlicherweise keine Lust.<br />
5.2.6 Kooperation<br />
Immer wieder wird angeführt, Kooperation <strong>als</strong> wirtschaftliches Prinzip sei dem Egoismus unterlegen,<br />
das zeige die historische Entwicklung. Dabei werden jedoch Ursache und Wirkung<br />
vertauscht. Seit Jahr und Tag wird ein System des Egoismus massiv propagiert und subventioniert,<br />
während Kooperation genauso massiv benachteiligt wird, um dann zu behaupten:<br />
„Seht her, Kooperation funktioniert nicht!” In diesem Vergleich kann Kooperation nur<br />
schlechter abschneiden. <strong>Die</strong> wirkliche Macht und Kraft der Kooperation im modernen wirtschaftlichen<br />
Alltag haben wir bisher nur in Ansätzen erfahren dürfen. Kooperation hat nichts<br />
mit Planwirtschaft zu tun, aber viel mit Genossenschaften und Beteiligung – und generell mit<br />
einer Begrenzung der egoistischen Versuchung.<br />
Tatsächlich ist es (wie immer ...) ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen individuellen<br />
und gemeinschaftlichen Interessen, was am zufriedensten macht. Egoismus ist nicht<br />
schlecht, braucht aber Grenzen. Kooperation funktioniert nur in einem kleinen, lokalen Rahmen,<br />
sie benötigt sozialen Austausch, Beteiligung – und eine Gelegenheit. <strong>Die</strong>se Gelegenheit<br />
erhält sie nur bei Begrenzung der egoistischen Konkurrenz und bei mehr Regionalität.<br />
5.2.7 LowTech und Regionalität<br />
LowTech und Regionalität statt HiTech und Globalisierung – beides ist dem Menschen, der<br />
Natur und ihrer beider begrenzten Fähigkeiten angemessener.<br />
• LowTech ist billiger, man muss dafür weniger arbeiten und verbraucht weniger Material.<br />
• LowTech lässt sich aufgrund eines weniger differenzierten Designs leichter langlebig<br />
gestalten und reparieren.<br />
• LowTech schafft mehr regionale Arbeitsplätze mit breiterer Qualifikation<br />
• LowTech benötigt weniger aufwendige Infrastruktur<br />
• LowTech lässt sich häufiger reparieren oder aufarbeiten, d. h. unter Zuhilfenahme<br />
wenig neuer Materialien wird das Produkt wieder auf Vordermann gebracht.<br />
• LowTech lässt sich regional reparieren oder aufarbeiten, weil dazu keine exotischen<br />
Materialien, Maschinen oder Qualifikationen notwendig sind.<br />
• Regionalität verringert Anonymität und erhöht dadurch das Verantwortungsbewusstsein.<br />
• Regionalität verringert Mobilität.<br />
• LowTech und Regionalität entmachten Lobbyisten, weil die Prozesse wieder verständlich<br />
werden und zu jenen gelangen, die sie betreffen.<br />
• LowTech und Regionalität ermöglichen Kooperation, weil Kooperation sozialen Austausch<br />
und Beteiligung erfordert.<br />
86
5.2.8 Arbeit für alle<br />
Es gibt keinen vernünftigen Plan zur Lösung der sozialen Probleme, die durch die ständige<br />
Produktivitätssteigerung verursacht werden. Nicht die Aussicht auf ein gutes Leben inspiriert<br />
den Menschen, sondern die Aussicht auf ein sinnvolles Leben. Sinnvolle Arbeit ist Teil der<br />
menschlichen Würde, und die Würde des Menschen ist unantastbar. Arbeit ist ein Menschenrecht.<br />
Ziel ist nicht eine generelle deutliche Reduzierung der Arbeitszeit, denn sinnvolle Arbeit<br />
kann sehr zufrieden machen. Letztlich soll auf breiter Front die Arbeitsproduktivität wieder<br />
auf ein menschliches Maß und einen verträglichen, erneuerbaren Ressourcenverbrauch<br />
gesenkt werden.<br />
Es soll mehr Entscheidungsfreiheit herrschen, was und wie viel der Einzelne arbeitet. Zudem<br />
sollen die Strukturen der Wirtschaft so gestaltet sein, dass Sinn wächst und Unsinn<br />
schrumpft. Wirtschaftlicher Erfolg ist nicht gleichbedeutend mit Wachstum. Wir haben zuviel<br />
Wirtschaft und zuwenig Arbeit.<br />
5.2.9 Eigentumsreform<br />
Mit welchem Recht stellt eigentlich jemand einen Zaun um ein Grundstück und sagt: Meins!<br />
<strong>Die</strong>ses Grundstück hat nie jemand produziert, bestenfalls den Wald gerodet und es urbar<br />
gemacht. Kein Mensch hat je einen Liter Erdöl oder ein Kilo Steinkohle erschafffen, sondern<br />
bestenfalls aufwendig gefördert. Kaum ein Investor hat je dafür gesorgt, dass bestimmte<br />
Stadtteile attraktiver werden und dort die Mieten steigen.<br />
Vielleicht hat der eine oder andere von Ihnen das Theater um den Wandlitzsee nördlich von<br />
Berlin mitbekommen. Der wurde von der Treuhand verkauft, und die Gemeinde hat zu wenig<br />
geboten. Statt dessen kam ein westdeutscher Wirtschaftsanwalt zum Zuge, der im Anschluss<br />
begann, den Anliegern des Sees zu „verkaufen”, was sie eigentlich schon besaßen: Einen<br />
Zugang zum See. Er hatte nichts dagegen, eine eher zufällig erworbene Rechtsposition für<br />
seine Zwecke auszunutzen und Gewinn ohne Gegenleistung zu erzielen. Damit wird fast idealtypisch<br />
das Dilemma des sogenannten Immobilien„marktes” illustriert, dem eine wesentliche<br />
Eigenschaft der freien Marktwirtschaft fehlt, nämlich der „freie Marktzugang der Anbieter”.<br />
Und ironischerweise erhöht das alles auch noch das Bruttosozialprodukt, unsere Messgröße<br />
für Wohlstand.<br />
Wir finanzieren über einen perversen Eigentumsbegriff unermesslich viele leistungslose Einkommen.<br />
Leistung muss sich wieder lohnen? Ich warte seit Jahren auf den empörten Aufschrei<br />
einer gewissen „liberalen” Partei, dass damit endlich Schluss gemacht werde. Unser<br />
gesellschaftlicher Reichtum versickert nicht in dunklen Kanälen, sondern in der offenen Finanzierung<br />
von Leuten, die sich zurücklehnen. Weil sie mehr oder weniger zufällig in eine<br />
komfortable Rechtsposition gerutscht sind, die ihnen das ermöglicht.<br />
5.2.10 Nachfrage statt Angebot<br />
Es geht nicht mehr um das ungebremste Wirtschaften mit dem Ziel einer unendlichen Gütermenge,<br />
sondern es geht darum, einen Ausgleich zu finden zwischen jenen, die mit weniger<br />
leben wollen und jenen, die mit mehr leben oder aus anderen Gründen wirtschaftlich<br />
initiativ werden wollen.<br />
Wir sollten wieder zu einem Primat der Nachfrage kommen und weg vom derzeitigen Angebotsdenken.<br />
Der Verführung sind Grenzen zu setzen, die Menschen sollen primär selbst auf<br />
die Idee kommen, was ihnen fehlt. <strong>Die</strong> Idee der riskanten Investition ist eine bizarre Karikatur<br />
des Nachfragebegriffes. Angebote sind nicht schlecht an sich, müssen aber nicht „unnötig”<br />
gefördert werden. Was dieses „unnötig” im Einzelnen bedeutet, ist das Ergebnis einer<br />
gesellschaftlichen Diskussion über folgende Punkte:<br />
87
• <strong>Die</strong> verschiedenen Mechanismen des Antriebs der Wirtschaft: Unbegrenzter Gewinn,<br />
Haftungsbeschränkung, Machtkonzentration durch Beteiligung, Subventionen, niedrige<br />
Ressourcenpreise, Patente, Aufweichung der Grundrechte.<br />
• Welche Kosten eines Unternehmers möchte die Gesellschaft subventionieren, indem<br />
sie über den Abzug von den Erlösen gewinnmindernd und damit steuersenkend wirken?<br />
Gehören Ausgaben für Werbung dazu? Gehören Kreditzinsen dazu? Oder sind<br />
das möglicherweise „private” Ausgaben des Unternehmers? Derzeit ist es einzig und<br />
allein in die Entscheidung des Unternehmers gestellt, wo er Kosten erzeugt, mit wenigen<br />
Ausnahmen (beispielsweise Parteispenden). In der privaten Steuererklärung<br />
sieht das aus guten Gründen ganz anders aus.<br />
• Meritorische und demeritorische Güter: Welchen Konsum wollen wir subventionieren,<br />
und welchen bestrafen? Oder überlassen wir das nicht besser den Menschen selbst?<br />
Wer Sinn stiftet, braucht keine Drogenpolitik. Sind unterschiedliche Umsatzsteuersätze<br />
wirklich sinnvoll? Oder ist der volle Satz schlicht und einfach so hoch, weil wir damit<br />
zu viel Unsinn finanzieren müssen?<br />
5.2.11 Spannung erhalten<br />
Wir tendieren dazu, das Leben immer sicherer und berechenbarer zu machen. „Sicherer” in<br />
Verbindung mit Produktivitätssteigerung und Wettbewerb führt jedoch im Ergebnis nicht zu<br />
mehr Sicherheit, sondern zu einer Existenzangst auf höherem Niveau, zu Anspruchsdenken<br />
und Rechthaberei. Wir sollten wieder mehr Unsicherheiten ins Leben bringen, sonst wird es<br />
zu teuer, auch für die nachfolgenden Generationen. Das Sozialversicherungssystem sollte<br />
mehr den Charakter einer existentiellen Risikoversicherung <strong>als</strong> den eines Rundum-sorglos-<br />
Paketes erhalten, den es im Fortschrittsglauben und den Verteilungskämpfen der Nachkriegszeit<br />
erhalten hat.<br />
Es werden derzeit verschiedene Modelle diskutiert, den Lohn von Sozialabgaben zu entlasten.<br />
<strong>Die</strong> hauptsächliche Entlastung könnte aber dadurch erfolgen, dass Sozialabgaben nicht<br />
mehr benötigt werden:<br />
• Krankenversicherung soll preiswerter werden durch Eigenbeteiligung und Rationierung.<br />
Es gibt keine Vollkasko-Versicherung mehr.<br />
• Rentenversicherung soll preiswerter werden durch Beteiligung der Rentner am Arbeitsleben.<br />
Produktives Alter macht zufriedener.<br />
• Pflegeversicherung soll preiswerter werden durch Senkung der Lebenserwartung.<br />
Kürzer, aber besser leben.<br />
• Arbeitslosenversicherung soll preiswerter werden durch Vollbeschäftigung. Sinnvolle<br />
Arbeit ist Teil der Menschenwürde.<br />
5.2.12 Bevölkerungswachstum umkehren<br />
Ein heikler Punkt, aber unerlässlich. Eine Weltbevölkerung, die sich nur mit industrialisierter<br />
Landwirtschaft, Kunstdünger aus bergmännisch gewonnenen Rohstoffen und – in den Entwicklungsländern<br />
– durch Almosen der Industrieländer ernähren lässt, ist auf die Dauer untragbar.<br />
<strong>Die</strong> wichtigsten Punkte zum Gegensteuern, auch in den Industrieländern:<br />
• Ein Umdenken in der Katholischen Kirche bezüglich des Dogmas „Seid fruchtbar und<br />
mehret Euch”<br />
• Bildung<br />
• Bekämpfung der Armut<br />
• Verhütungskampagnen<br />
• Umbau der Sozi<strong>als</strong>ysteme, um den Rentendruck von den Arbeitnehmern zu nehmen<br />
88
• Übergang zu einer zeitweisen Ein-Kind-Politik durch Abschaffung sonstiger Anreize<br />
(z. B. kein Kindergeld ab dem zweiten Kind)<br />
89
Kapitel 6: Alternative<br />
6.1 Eine liberale Antwort<br />
Wie verankert man die neuen gesellschaftlichen Erfordernisse in einem liberalen Gesellschaftsmodell?<br />
6.1.1 Liberalismus und seine Grenzen<br />
Der Liberalismus ist eine alte philosophische und politische Bewegung. Im Zentrum steht der<br />
einzelne Mensch, das berühmte Individuum, mit seinen Interessen, Wünschen, Sehnsüchten,<br />
Abneigungen, Ängsten, ... Grundlage des Liberalismus ist die Idee der Selbstverwirklichung<br />
und Selbstentfaltung, dass <strong>als</strong>o der Einzelne selbst am besten weiß, was gut und was<br />
schlecht für ihn ist, und dass er niemanden – weder natürliche Personen noch staatliche Institutionen<br />
– benötigt, die ihm Vorschriften machen oder ihn gar in Unfreiheit halten. Der<br />
Liberalismus tritt für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft<br />
ein, und diese Ausgewogenheit besteht darin, dass im Zweifel der Einzelne Vorrang<br />
haben sollte. Seine Grenzen findet der Einzelne in der Freiheit der anderen, die er nicht einschränken<br />
darf, und es ist danach die einzige Aufgabe des Staates (der „juristischen Person<br />
Gemeinschaft”), diese wechselseitige Freiheit zu gewährleisten.<br />
Daraus lassen sich die wichtigsten Elemente einer liberalen Staats- und Wirtschaftsverfassung<br />
ableiten:<br />
• Politik<br />
Demokratie, Gewaltenteilung, Pluralismus, Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit,<br />
Schutz von Minderheiten<br />
• Ökonomie<br />
Privateigentum <strong>als</strong> Voraussetzung für Verantwortung, Freie Marktwirtschaft, wirtschaftlicher<br />
Wettbewerb <strong>als</strong> Voraussetzung für allgemeinen Wohlstand<br />
• Soziales<br />
Grundsätzliche Selbstverantwortung für das eigene Auskommen, Prinzip der Leistungsgerechtigkeit,<br />
keine Idee des sozialen Ausgleichs (außer Almosen)<br />
• Recht<br />
Gleichheit vor dem Gesetz<br />
Der Liberalismus ist eine Idee, von der grundsätzlich diejenigen am meisten profitieren, die<br />
mit diesen Anforderungen gut umgehen können, sprich: <strong>Die</strong>jenigen, die in jeder Hinsicht frei<br />
sind, zu tun und zu lassen, was sie wollen, sofern sich ihnen Gelegenheiten bieten. Das wirft<br />
unmittelbar zwei wesentliche Fragen auf:<br />
• Was passiert mit denjenigen, die aus persönlichen Gründen diese Freiheiten nicht<br />
nutzen können, weil sie beispielsweise in ihrer körperlichen, geistigen oder sozialen<br />
Entwicklung benachteiligt sind, <strong>als</strong>o schlechtere Chancen hatten und haben?<br />
<strong>Die</strong> Antwort war und ist die Idee der öffentlichen Fürsorge. Das soll hier aber nicht<br />
vertieft werden, weil dieser Punkt nichts für die Wachstumsdebatte beiträgt.<br />
• Was passiert mit denjenigen, die aus gesellschaftlich tolerierten Gründen diese Freiheiten<br />
nicht nutzen können, weil beispielsweise ihr Beruf wegrationalisiert wurde, ihre<br />
Existenzgrundlage der Globalisierung zum Opfer fiel, ihre Wohnung wegen einer<br />
Mieterhöhung nicht mehr zu halten ist?<br />
In einem rein liberalen System gibt es hierauf keine Antwort außer: „<strong>Die</strong> müssen sich<br />
halt anstrengen oder bescheiden werden!” Der Zustand dieser Menschen ist praktisch<br />
konstitutiv für die Idee der Wettbewerbsgesellschaft – ohne Verlierer keine Gewinner,<br />
und ohne Gewinner kein „Wohlstand für alle”, wie bescheiden er für die Verlierer<br />
90
auch ausfallen mag, es könnte ihnen ja immer noch schlechter gehen.<br />
<strong>Die</strong> erweiterte Antwort, die in der Bundesrepublik gewählt wurde, war die Soziale<br />
Marktwirtschaft. Von den Gewinnern wurde mehr verlangt <strong>als</strong> nur Almosen. Es wurde<br />
ein institutionalisiertes soziales Netz eingezogen, das von den großen und kleinen<br />
Gewinnern finanziert wurde. Solange die Zahl der Menschen, die durch wirtschaftliche<br />
Umbrüche in dieses Netz fielen, überschaubar war, funktionierte das leidlich gut, <strong>als</strong><br />
Mischform zwischen Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft.<br />
Es wurden mit der Zeit aber immer mehr. Das liberale Modell funktioniert in diesem<br />
Punkt nicht mehr, weil – wie beschrieben – das gesellschaftlich subventionierte Wirtschaftswachstum<br />
mit seiner ständigen Steigerung der Produktivität zu einer zunehmenden<br />
Zahl von Verlierern, zu einem Zerfall des sozialen Systems und zu einer<br />
Überlastung des Staates, sprich: der Gemeinschaft führt.<br />
Wie wir gesehen haben, sind Maßlosigkeit und fehlende Grenzen der wesentliche Aspekt der<br />
Wachstumsdiskussion. Unbegrenzte wirtschaftliche Macht und unbegrenzter Naturverbrauch<br />
führen das System des Wirtschaftsliberalismus in den Ruin, weil die widersprüchlichen Botschaften<br />
des Gesellschaftsmodells in einem völligen Ungleichgewicht zueinander stehen. Sie<br />
erzeugen eine im wahrsten Sinne des Wortes unmenschliche Dynamik.<br />
<strong>Die</strong> entscheidende Frage ist jetzt:<br />
Wie setzt man wirksam akzeptierte Grenzen, um der Maßlosigkeit des<br />
Menschen zu begegnen, ohne die Idee der individuellen und wirtschaftlichen<br />
Freiheit insgesamt zu gefährden?<br />
Wie entschärft man das Problem der widersprüchlichen Botschaften, ohne<br />
in einem undurchsichtigen System aus kleinteiliger Gängelung, dirigistischen<br />
Maßnahmen und willkürlicher Bestrafung zu enden, welches pausenlos<br />
Widerstand provozieren wird?<br />
6.1.2 Das Menschenbild im Grundgesetz<br />
„Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen<br />
Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum -<br />
Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit<br />
der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten.<br />
Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15,<br />
19 und 20 GG. <strong>Die</strong>s heißt aber: der Einzelne muß sich diejenigen Schranken<br />
seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und<br />
Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen<br />
Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß dabei die<br />
Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt.”<br />
(Aus dem Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichtes vom<br />
20. Juli 1954 in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden verschiedener<br />
Firmen gegen das Bundesgesetz über die Investitionshilfe der gewerblichen<br />
Wirtschaft vom 7. Januar 1952. <strong>Die</strong> Antragsteller hatten unter anderem<br />
geltend gemacht, in ihrer unternehmerischen Freiheit unzumutbar eingeschränkt<br />
worden zu sein.)<br />
Über allem steht das Menschenbild. Das Menschenbild ist eine innere Haltung und Überzeugung<br />
davon, „wie der Mensch funktioniert”, insbesondere wie seine Motivation funktioniert,<br />
sein Eintreten für eigene Interessen und die Interessen der Gemeinschaft. Das kann sich<br />
dann in Sätzen äußern wie „Der Mensch an sich ist gut” oder „Der Mensch an sich ist gierig”<br />
oder ähnlichem. Mehr oder weniger explizit äußert sich das Menschenbild in den Prinzipien<br />
des Grundgesetzes, wie zum Beispiel<br />
91
• Grundrechte<br />
Dort finden sich zahlreiche Artikel, die die Individualität des Menschen betonen, sein<br />
Recht darauf, in Ruhe gelassen zu werden, aber auch Bereiche, wo sich die Gemeinschaft<br />
Einschränkungen dieser Freiheiten vorbehält, weil sie bereits schlechte Erfahrungen<br />
mit zu viel Individualität gemacht hat: Schulaufsicht des Staates, Sozialbindung<br />
des Eigentums, Enteignung.<br />
• Prinzip der Gewaltenteilung<br />
Das Wort findet sich so nicht im Grundgesetz, sondern die Organisation der „Staatsgewalt”<br />
wird einfach in dieser Form beschrieben. Dahinter steckt die besonders<br />
schlechte Erfahrung, die die Gemeinschaft im 20. Jahrhundert mit zu großer<br />
Machtfülle gemacht hat: <strong>Die</strong> Gewaltenteilung ist eine Konkretisierung des Prinzips der<br />
Machtbegrenzung der gewählten Repräsentanten.<br />
• Gewährleistung der Unabhängigkeit<br />
Immunität, Zeugnisverweigerungsrecht, Anspruch auf Diäten, Nebenberufsverbot für<br />
Regierungsmitglieder und ähnliche Passagen sollen die innere Unabhängigkeit der<br />
Repräsentanten sicherstellen, weil man weiß, dass der Mensch sowohl unter Druck<br />
gesetzt werden kann <strong>als</strong> auch korrumpierbar ist.<br />
Aufbauend auf diesen Prinzipien werden die Dinge dann nach und nach konkreter, teilweise<br />
bereits im Grundgesetz selbst, spätestens aber dann in den Bundesgesetzen, den Landesgesetzen<br />
bis hinunter zu Rechtsverordnungen, die dann bereits der Exekutive zuzurechnen<br />
sind. Anschließend könnte man die Kette der Exekutive noch weiter denken bis zum<br />
Bescheid der Kommunalverwaltung. All diesen folgenden Stufen gemeinsam ist, dass sie<br />
das Menschenbild nicht mehr neu thematisieren. Der einzige Ort dafür ist das Grundgesetz.<br />
Und wie man sieht, findet auch heute schon der Wirtschaftsliberalismus in den Gesetzen<br />
seine Grenzen. Ein liberales Gesellschaftsmodell lässt sich mit Grenzen ohne weiteres vereinbaren,<br />
wenn diese Grenzen nicht willkürlich sind. Nicht willkürlich sind sie, wenn sie sachlich<br />
begründet werden können und dem Gemeinwohl dienen.<br />
6.1.3 Prinzipien im Gleichgewicht<br />
Im Konflikt zwischen der Freiheit des Einzelnen und der Freiheit anderer besteht die „größte<br />
Freiheit in Summe” dann, wenn möglichst allgemeine, für alle gleiche Prinzipien festgeschrieben<br />
werden. <strong>Die</strong> Kombination von „möglichst allgemein” und „für alle gleich” ist dabei<br />
entscheidend: Je konkreter ein Gesetz bestimmte Zielvorgaben formuliert und je mehr Ausnahmen<br />
zugelassen werden, desto mehr leidet die Akzeptanz, desto größer werden die Widerstände,<br />
desto größer wird auch die Fantasie, das Gesetz zu torpedieren, entweder durch<br />
widerrechtliche Umgehung oder durch Versuche, eine Gesetzesänderung oder -ausnahme zu<br />
erreichen. Denn jeder weiß, dass das Gesetz auch anders hätte lauten können. Das Gesetz<br />
wird zum Spielball widerstreitender Interessen, es wird durchlöchert, ausgehöhlt, missachtet.<br />
Es wird eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Lobbyisten und Rechtsanwälte.<br />
Um ein Gleichgewicht zwischen den zwei widerstrebenden gesellschaftlichen Botschaften zu<br />
erreichen, sie <strong>als</strong>o „gleichlaut” zu machen, müssen wir sie auch gesetzlich in gleicher Weise<br />
verankern. Der Grundsatz von der persönlichen Entfaltung im Grundgesetz muss ein ebenbürtiges<br />
Gegengewicht in der Festsetzung von Grenzen bekommen – im Grundgesetz. Auf<br />
diese Weise verankern wir dort unser erweitertes Bild vom Menschen, welcher einer Begrenzung<br />
in der Maßlosigkeit bedarf. Das ist die konsequente Ausgestaltung des liberalen Menschenbildes,<br />
nach dem die Freiheit des Einzelnen ihre Grenzen in der Freiheit der anderen<br />
findet.<br />
Im nächsten Abschnitt werden wir diese Grenzen auf der Basis liberaler Grundsätze formulieren.<br />
92
6.2 Humanistische Marktwirtschaft<br />
6.2.1 Echte Marktwirtschaft geht anders<br />
Marktwirtschaft ist die Umsetzung des liberalen Prinzips der Freiheit des Einzelnen im Bereich<br />
des Wirtschaftslebens. Dass das nicht richtig funktioniert, sehen wir. Aber das Grundprinzip<br />
ist trotzdem richtig: Der Staat (<strong>als</strong>o die Gemeinschaft) hat sich rauszuhalten aus dem Leben<br />
des Einzelnen, wo immer das möglich ist. Der Staat hat sich insbesondere rauszuhalten bei<br />
der Transformation eines neoliberal entfesselten Kapitalismus zu einer humanistischen<br />
Marktwirtschaft. Ich möchte nicht, dass mir jemand vorschreibt, dass meine Mobilität Elektromobilität<br />
zu sein hat, weil nichts anderes mehr staatlich gefördert wird. Ebensowenig<br />
möchte ich vorgeschrieben bekommen, ob ich auf dem Land oder in der Stadt zu wohnen<br />
habe, Soja oder Schweinefleisch zu essen habe, mein Haus zu dämmen habe usw. Was<br />
spricht denn dagegen, meine einfache Hütte mit dem Holz meiner Bäume zu heizen, obwohl<br />
sie ungedämmt ist? Erneuerbar ist erneuerbar, meine Bäume sind nicht hässlich, und aus<br />
dem Rest möge man sich bitte heraushalten.<br />
Denn das eigentliche Problem liegt woanders. Wir sollten nicht die Ziele mit den Wegen<br />
dorthin verwechseln. Aus gutem Grund überlassen wir dies den sogenannten Kräften des<br />
Marktes, was man besser nennen würde: Den Wünschen der Menschen. Der Begriff des<br />
Marktes ist durch einen f<strong>als</strong>ch verstandenen Wirtschaftsliberalismus verhunzt worden. Man<br />
kann ihn <strong>als</strong> humanistische Marktwirtschaft rehabilitieren, indem man ihn auf eine Vernunft-<br />
Diät setzt.<br />
Wir brauchen die Marktwirtschaft genauso wie die Demokratie. Niemand wird sagen, geschweige<br />
denn vorgeben können, wohin die Reise geht, wie sich diese Wirtschaft entwickeln<br />
wird. Wir wären schlecht beraten, wenn wir die Prinzipien der Marktwirtschaft aufgeben würden,<br />
denn sie sind pure Demokratie. Der Markt ist eine menschliche Erfindung, in jedem Sinne.<br />
Das Problem des Marktes war, dass man das Naheliegende nie gewagt hat: Mäßigung<br />
bei Geld, Macht und Ressourcenverbrauch, Begrenzung der Eitelkeit, Befreiung von Angst.<br />
<strong>Die</strong> Transformation dieser Wirtschaft wird meines Erachtens nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten<br />
funktionieren oder gar nicht. In einer Übergangsphase wird unökologisches<br />
Verhalten immer teurer werden, Größe auch. Kleiner, individueller und menschlicher gewinnt<br />
immer mehr Raum und Kraft. Der Markt wird gar nicht mehr anders können, <strong>als</strong> sich<br />
menschlich und nachhaltig zu verhalten, und dafür benötigt man im wesentlichen folgende<br />
Prinzipien, die sich allesamt „ganz einfach” aus der Forderung nach Demokratie und Marktwirtschaft<br />
ergeben. Jedes dieser Prinzipien gehört derzeit in die Kategorie der „Undenkbarkeit”.<br />
Aber vielleicht könnten sie gerade deshalb zum Umdenken führen.<br />
• Vermögensbegrenzung <strong>als</strong> wirtschaftliche Machtbegrenzung<br />
Reichtum verdirbt den Charakter. Das wussten wir schon immer, nur wussten wir<br />
nicht, wie wir damit umgehen sollen, wo doch scheinbar nur die Möglichkeit des<br />
Reichtums auch die Herrlichkeiten der materiellen Welt zu garantieren schien, nicht<br />
nur im Zeitalter der Technik, sondern insbesondere in feudalen Gesellschaften. Hier<br />
folgt ein ganz klarer logischer Nachweis, dass wer Demokratie und Marktwirtschaft<br />
will, auch die finanzielle Macht begrenzen muss, und zwar absolut begrenzen muss.<br />
• Eigentumsreform<br />
Binswanger stellt klar, dass Eigentum und nicht Knappheit „das konstituierende Element<br />
der Preisbildung und damit des Marktes” ist. „Knappheit allein schafft keinen<br />
Markt. Es muss jemand da sein, der das Gut oder die Nutzung eines Gutes auf dem<br />
Markt anbieten und dafür einen Preis verlangen kann. [...] Erst Eigentum schafft <strong>als</strong>o<br />
den Markt.” (Binswanger 2009 S. 180f.) Oder ein vom Eigentum abgeleitetes Recht<br />
wie Pacht oder Konzession. Wer sich mit Vermögens- und Machtbegrenzung befasst,<br />
muss auch Stellung nehmen zur Eigentumsfrage. Denn Leistung soll sich wieder loh-<br />
93
nen. Leistungslose Einkommen einfach nur auf der Basis von Eigentum gehören einer<br />
feudalen Vergangenheit an.<br />
• Nachhaltigkeitspostulat<br />
Wir haben genug Rohstoffe aus der Erde geholt. Mehr geht nicht. Und mit dem, was<br />
wir haben, müssen wir sorgsam umgehen. Demokratie bedeutet eben auch die Berücksichtigung<br />
der zukünftigen Generationen. <strong>Die</strong> Begriffe des Mülls und des Rückstands<br />
gehören abgeschafft.<br />
• Vertretung der Stimmlosen<br />
Zukünftige Generationen haben bei uns keine Stimme. Sie aus unserer demokratischen<br />
Gesellschaft auszuschließen ist autoritär. Wir brauchen dafür eine demokratische<br />
Lösung. Man könnte auch sagen: Alle Lebewesen, die wir ungefragt in unser<br />
System einbinden und die sich selbst nicht vertreten können, brauchen einen Vertreter.<br />
Ob man Fleisch, Milch und Eier essen mag oder nicht, ist das eine. Wir sind nun<br />
mal auch ein Teil der Nahrungskette. Wer aber Tiere hält, muss auch ihnen eine<br />
„Teilhabe am guten Leben” ermöglichen, <strong>als</strong>o eine artgerechte Haltung. Wer ist <strong>als</strong><br />
demokratischer Vertreter der Stimmlosen geeignet?<br />
Mit diesen Prinzipien vermeidet man, bei einer Transformation des Kapitalismus in die autoritäre<br />
Falle der Zwangsbeglückung und Zwangsbeschränkung zu laufen. So könnte man die<br />
ewigen moralischen Appelle loswerden. So könnte Vernunft zum Natürlichen werden.<br />
6.2.2 Eine humanistische Kritik der Begriffe Demokratie und Marktwirtschaft<br />
Mit der folgenden Gegenüberstellung kann man begründen, dass Demokratie und freie<br />
Marktwirtschaft „eigentlich” das Gleiche sind. <strong>Die</strong>se Idee ist weder neu noch originell, sie<br />
wird gerne benutzt, um Kritiker der Marktwirtschaft zu beruhigen, indem man den Markt <strong>als</strong><br />
„andere Demokratie” darstellt und somit aus der Schusslinie nimmt:<br />
Worum geht's: In der Demokratie Auf dem Markt<br />
Wettstreit der Ideen: Politische Konzepte Produkte<br />
Aktive: Parteien und Unabhängige<br />
Kandidaten<br />
Unternehmer<br />
Passive: Wähler Konsumenten<br />
„Abstimmungsmittel”: Stimmabgabe Kauf<br />
Faktisch passiert das Gegenteil: <strong>Die</strong> Demokratie wird zum „anderen Markt”: Politik <strong>als</strong> Produkt,<br />
Werbung, Unvernunft, Verantwortungslosigkeit, Glorifizierung einzelner Akteure. Das<br />
kann nicht der Sinn der Sache sein. <strong>Die</strong> Demokratie übernimmt mehr und mehr die Maßlosigkeit<br />
der Marktwirtschaft.<br />
<strong>Die</strong>se Gegenüberstellung hat nämlich einen Haken: Aufgabe der Demokratie ist es nicht, den<br />
Wähler mit politischen Konzepten zu versorgen. Hier werden nicht Demokratie und Marktwirtschaft<br />
verglichen, sondern Parteiengezänk und Marktwirtschaft, und die sind in der Tat<br />
sehr ähnlich strukturiert. <strong>Die</strong> Parteien ringen im Wettbewerb um ihren „Kunden”, den Wähler.<br />
Und verflachen dabei zusehends. Wie der Markt. <strong>Die</strong> Parteien sind entstanden aus der<br />
politischen Konfrontation, und an diesem Erbe tragen sie bis heute.<br />
Wir vergleichen daher lieber etwas anderes. Demokratie und Marktwirtschaft sind das Gleiche.<br />
Es sind die beiden Seiten der Medaille „Leben in Gemeinschaft”. <strong>Die</strong> eine Seite betrifft<br />
die öffentlichen Güter (Allmende), die andere das Privateigentum. <strong>Die</strong> strikte Trennung in<br />
eine machtbegrenzte Demokratie und eine freie Marktwirtschaft ist eine von interessierter<br />
94
Seite vorgenommene, künstliche Teilung, mit dem Ziel, die unbegrenzte Freiheit der Marktwirtschaft<br />
mit unbegrenzten Gewinnen und einem hohen Eitelkeitspotential zu bewahren.<br />
<strong>Die</strong>se Trennung aufzuheben, könnte alles viel einfacher machen. In der Politik waren wir<br />
schon mutiger und haben die Macht der Repräsentanten demokratisch begrenzt. Notwendige<br />
Voraussetzung war die Erfahrung der politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Das<br />
müssen wir jetzt in der Marktwirtschaft nachholen. Notwendige Voraussetzung dafür ist die<br />
Erfahrung der finanziellen, ökologischen und sozialen Krisen des 21. Jahrhunderts. Ohne das<br />
geht es anscheinend nicht. Aber wir sind auf dem Wege ...<br />
Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass sich beide Konzepte <strong>als</strong> Teil des gleichen Bemühens<br />
sehen: Ein gutes Leben für den Einzelnen und die Gemeinschaft, von der der Einzelne ein<br />
Teil ist. Zu einem guten Leben gehören Güter. Wie wir in Geld und Markt gesehen hatten,<br />
sind das individuelle (mit Geld bewertbare) Güter und öffentliche Güter. Der Markt ist für die<br />
Bereitstellung der individuellen Güter zuständig, der Staat – <strong>als</strong>o die Gemeinschaft – für die<br />
Bereitstellung der öffentlichen Güter. Das sind einfach zwei verschiedene Güterbereiche in<br />
dem Demokratie-Modell „Gerechte Beteiligung des Einzelnen am Leben der Gemeinschaft”:<br />
• „Stimmdemokratie” ist das Konzept, im Bereich der öffentlichen Güter den gemeinschaftlichen<br />
Interessen des Menschen Geltung zu verschaffen. <strong>Die</strong> öffentlichen Güter<br />
müssen dabei die Grenze der Grundrechte des Einzelnen beachten, aber innerhalb<br />
dieser Grenzen ist die Gemeinschaft frei in ihrer Entscheidung.<br />
<strong>Die</strong> gerechte Beteiligung des Einzelnen am Entscheidungsprozess erfolgt über seine<br />
Stimme.<br />
• „Gelddemokratie” ist das Konzept, im Bereich der individuellen Güter den individuellen<br />
Interessen des Menschen Geltung zu verschaffen. <strong>Die</strong> individuellen Güter müssen<br />
dabei die Grenze der Grundrechte der Gemeinschaft beachten, aber innerhalb dieser<br />
Grenzen sind die Einzelnen frei in ihrer Entscheidung.<br />
<strong>Die</strong> gerechte Beteiligung des Einzelnen am Entscheidungsprozess erfolgt über sein<br />
erarbeitetes Geld.<br />
Das Konzept der politischen Demokratie = Stimmdemokratie kennen wir ja nun schon ein<br />
bisschen länger. Es gibt derzeit kein besseres Verfahren, im Bereich der öffentlichen Güter<br />
die gerechte Beteiligung des Einzelnen am Entscheidungsprozess sicherzustellen.<br />
Marktwirtschaft = Gelddemokratie ist im Kern eben ein demokratisches Konzept: Es gibt derzeit<br />
kein besseres Verfahren, im Bereich der individuellen Güter die gerechte Beteiligung des<br />
Einzelnen am Entscheidungsprozess sicherzustellen. Da individuelle Güter niemanden<br />
benachteiligen, gibt es keinerlei Recht, den Beteiligten da reinzureden. Zwei Handelspartner<br />
finden sich und verhandeln über den Preis, jemand erkennt eine Marktlücke und investiert in<br />
eine Produktion usw. Der ordnungspolitische Rahmen wird lediglich über diejenigen Qualitäten<br />
der Güter gelegt, die die Gemeinschaft betreffen, wie Rohstoffe, Müll etc. Aber das ist<br />
auch jetzt nicht anders, nur noch zu wenig nachhaltig. Man kann es auch noch kürzer formulieren:<br />
Marktwirtschaft ist die Demokratie der Warenwelt.<br />
Somit wird deutlich, wie untrennbar Demokratie und Marktwirtschaft miteinander verbunden<br />
sind. Sie bilden „ein Demokratie-Paar auf zwei sich ergänzenden Märkten”.<br />
95
6.2.3 Machtbegrenzung<br />
Hier die Symmetrie von Demokratie und Marktwirtschaft in der Gegenüberstellung:<br />
Worum geht's: Repräsentative Demokratie<br />
Freie Marktwirtschaft<br />
Abstimmung über: Öffentliche Güter Mit Geld bewertbare Güter<br />
des individuellen Bedarfs<br />
Vision: Gutes Leben der Gemeinschaft<br />
Eigentum: Öffentlich Privat<br />
Beteiligte: Wahlberechtigte Personen<br />
Gutes materielles Leben<br />
Grundsatz der Stimmkraft: Gleichheit Individuelle Leistungsfähigkeit<br />
„Einheit” der Stimmkraft: Stimme Geld<br />
Grenze: Grundrechte des Einzelnen Grundrechte der Gemeinschaft<br />
Exekutive/Handeln: Bundesregierung Personen selbst<br />
Legislative/Moral: Bundestag und Bundesrat Personen selbst<br />
Judikative/Gewissen: Unabhängige Gerichte Personen selbst<br />
Der entscheidende Punkt ist: Während in der Marktwirtschaft keine anderen Organe <strong>als</strong> die<br />
Beteiligten benötigt werden, da sie für sich sprechen und handeln können, müssen wir in der<br />
Demokratie dem Staat, <strong>als</strong>o der „juristischen Person Gemeinschaft”, Organe geben, um<br />
Handlungsfähigkeit zu erreichen. So kommen wir beispielsweise zur repräsentativen Demokratie<br />
mit ihren Institutionen (wobei wir weiter unten sehen werden, warum wir nicht zufällig<br />
gerade zur repräsentativen Demokratie kommen). Wichtige Prinzipien dabei sind Machtbegrenzung<br />
und Begrenzung der Versuchung, das führt zu den Regeln der Verfassung mit<br />
der Gewaltenteilung <strong>als</strong> System von „Checks and Balances”. Wir teilen die Macht des Staates<br />
in verschiedene Bereiche auf, nämlich Exekutive, Legislative und Judikative, und zwar aus<br />
dem einfachen Grund, weil die Repräsentanten Menschen sind. Menschen sind fehlbar, sie<br />
neigen zur Unvernunft und zum Interessenkonflikt. <strong>Die</strong> Gewaltenteilung ist der Versuch, es<br />
den menschlichen Repräsentanten zu erleichtern, die Konflikte zwischen Amt und persönlichen<br />
Interessen zu überwinden, insbesondere die Versuchung „absolute Macht” auszuschalten.<br />
Wir versuchen, den Repräsentanten die Vernunft zu ermöglichen.<br />
Im Individuum fallen alle „Repräsentanten” in ein und derselben Person zusammen: Es gibt<br />
keine Repräsentanten, weil außer den Individuen niemand weiter betroffen scheint. <strong>Die</strong>se<br />
können sich selbst vertreten, und wie wir sehen, ist eine Gewaltenteilung nicht im Ansatz<br />
vorhanden. Das bedeutet: Der Mensch ist im Markt sich selbst und seiner Vernunft oder Unvernunft<br />
ausgeliefert. Er kann in der Warenwelt die absolute Macht erringen. Aber Geld ist<br />
keine reine Privatangelegenheit: Geld ist Leistungserwartung an die Gemeinschaft. <strong>Die</strong> Gemeinschaft<br />
ist betroffen, die Grundrechte der Gemeinschaft sind in wichtigen Fragen nicht<br />
gewährleistet.<br />
Beim Individuum ist die Gewaltenteilung ganz offensichtlich nicht möglich, aber glücklicherweise<br />
auch nicht nötig: Es gibt für die Macht ein Maß, denn Geld lässt sich bemessen. Wir<br />
müssen daher das mit Geld bewertbare Vermögen absolut begrenzen <strong>als</strong> Begrenzung der<br />
Leistungserwartung gegenüber der Gemeinschaft. Es gibt keinen Grund für die Unbegrenztheit<br />
dieser Leistungserwartung, bei allem Verdienst des Einzelnen. Es ist zu gefährlich, das<br />
96
erleben wir gerade. Es führt uns in die Diktatur des Mammons, so wie der autoritäre Staat in<br />
die Diktatur des Einzelnen führt.<br />
Absolute Begrenzung bedeutet: Es gibt eine Obergrenze für privates Vermögen, die zu überschreiten<br />
niemand das Recht hat. Es gibt eine Kappung. <strong>Die</strong> Höhe dieser Obergrenze ist Teil<br />
des demokratischen Entscheidungsprozesses.<br />
Exkurs 1: Höhe Null der Reichtumsobergrenze an Produktionsmitteln ist der Kommunismus.<br />
Letztlich ist der Kommunismus die Verabschiedung von der Individualität<br />
wirtschaftlichen Handelns. <strong>Die</strong> „reine Form” des Kommunismus konnten wir dabei<br />
noch gar nicht erleben, weil den realen Formen immer noch die Idee der Wachstumsgesellschaft<br />
zugrunde lag. <strong>Die</strong> Planwirtschaft trat ja nur deshalb auf den Plan,<br />
weil die immer bessere Versorgung der Menschen mit materiellen Gütern Ziel der Angelegenheit<br />
war. Planwirtschaft war sozusagen der misstrauische Beschleunigungsversuch<br />
einer Verteilung von Gütern, weil man nicht auf das Spiel von Angebot und<br />
Nachfrage im Rahmen von Kooperation warten wollte und weil man sowieso besser<br />
wusste, was der Mensch benötigt. Planwirtschaft war die forcierte Zwangskooperation<br />
auf nationaler Ebene. <strong>Die</strong> Idee der Planwirtschaft wurde somit auch maßgeblich<br />
durch die Konkurrenz der Systeme geboren: Es musste schnell gehen, weil der Beweis<br />
der Überlegenheit des Kommunismus erbracht werden sollte.<br />
Exkurs 2: <strong>Die</strong> Idee der Herrschaftslosigkeit ist die Anarchie. Es gibt gar keine „juristische<br />
Person Gemeinschaft” und damit auch keine Ausübung von Macht. Freie Kooperation<br />
regelt den Austausch von Gütern. Jeder ist zurückgeworfen auf die eigene Vernunft,<br />
auch im Umgang mit der Natur und den Rückständen seines eigenen Wirtschaftens.<br />
Im Zusammenleben der Nationen auf der Welt haben wir die Anarchie<br />
teilweise verwirklicht: Es gibt keine Weltregierung. Nach dem vorher Gesagten zum<br />
Thema Vernunft wissen wir, dass das eine schwierige Sache ist. Anarchie ist der praktischen<br />
Wirklichkeit des Gehirns mit seiner unendlichen Flexibilität und der Fähigkeit<br />
zum Konstruktivismus, die beide unsere Vernunft zu vernebeln vermögen, nicht angemessen.<br />
Dem Liberalismus steht die Anarchie aber viel näher <strong>als</strong> der Kommunismus.<br />
Überspitzt könnte man sagen: Kommunismus ist ein autoritäres, gegen die Idee des<br />
Unternehmers gerichtetes Konzept, in welchem Ideen des Wegnehmens und der Bevormundung<br />
eine wesentliche Rolle spielen. Anarchie ist ein hilfloses Konzept, welches<br />
aus der Ratlosigkeit im Umgang mit dem Spannungsfeld zwischen Individualismus<br />
und Gemeinschaft resultiert. Und der Liberalismus ist solange ein arrogantes<br />
Konzept, wie er nur der politischen Macht Grenzen setzt, der wirtschaftlichen Macht<br />
jedoch nicht.<br />
Und damit wissen wir wieder, was wir eigentlich schon die ganze Zeit in der Tiefe unserer<br />
Seele wissen: Reichtum verdient Grenzen. Demokratie und humanistische Marktwirtschaft<br />
sind der Lebenswirklichkeit des Menschen angemessen. Sie respektieren die Eigenschaften<br />
seines Gehirns, seine Unvollkommenheit. Sie sind menschlich.<br />
Vermutlich wird es eine Weile dauern, bis wir das ganze Ausmaß der Vorteile dieser Auffassung<br />
begreifen werden. Mit der Beendigung der sozialen Marktwirtschaft und ihrem Ersatz<br />
durch eine humanistische Marktwirtschaft können wir zudem das Gönnerhafte des sozialen<br />
Ausgleichs beenden und den Weg freimachen für die wirkliche Entfaltung des Menschen.<br />
Achtung des Individuums und seiner Grenzen, Achtung der Gemeinschaft und ihrer Grenzen,<br />
Glaube an die Vernunft des Menschen – Demokratie und Marktwirtschaft sind die einzigen<br />
Systeme, die Gebrauch machen können von der Lernfähigkeit des Menschen.<br />
Es gibt noch viele weitere Begründungen, warum wir diesen Weg der finanziellen Machtbegrenzung<br />
gehen sollten:<br />
97
• <strong>Die</strong> Ergebnisse der Studie von Kate Pickett und Richard Wilkinson, in der sie nachweisen,<br />
dass eine größere Gleichheit innerhalb einer Gesellschaft für alle Mitglieder der<br />
Gesellschaft besser ist. „Es gibt nur wenig, was auf funktionierende Demokratien und<br />
Märkte derart zersetzend wirkt wie Korruption und ungezügelte Gier.”<br />
(Pickett/Wilkinson 2009 S. 330f.)<br />
• Eine Vermögensobergrenze verbindet den Gedanken der Gleichheit mit den Gedanken<br />
der Freiheit: Im Kleinen hat man alle Freiheit, im Maßlosen wird man gebremst –<br />
ohne dass es eine absolute Grenze gibt, denn je breiter die Zustimmung ist, desto<br />
größer kann der Anteil der „Mitaktionäre” sein. Eine Vermögensobergrenze bedeutet<br />
nicht das Ende großer Investitionen, sie bedeutet das Ende großer Investitionen Einzelner.<br />
• Politische Macht wurde und wird immer auch benutzt, um Geld zu scheffeln oder sich<br />
zumindest finanzielle Vorteile und lukrative Kontakte zu verschaffen, in Diktaturen wie<br />
in der Demokratie. Indem wir generell die finanzielle Macht begrenzen, festigen wir<br />
auch die repräsentative Demokratie.<br />
• Allmähliche Reduzierung der Geldmenge und damit der gesamtgesellschaftlichen<br />
Leistungserwartung und -verpflichtung. Das eröffnet mehr Spielraum für andere Formen<br />
der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Betätigung, die nicht mit Geld bewertet<br />
werden, aber zum Wohlstand beitragen.<br />
• Das eigene Seelenheil. <strong>Die</strong> Begrenzung der Versuchung. Nur durch das verordnete<br />
Maß werden wir unsere Maßlosigkeit überwinden und damit die Eitelkeit im Zaum halten<br />
können. Zugleich wird die Welt durch den geminderten wirtschaftlichen Druck<br />
von ihrer Existenzangst erleichtert. Wir brauchen keine maßlosen Innovationen, die<br />
maßlosen Gewinn bringen.<br />
• Grundsätzlich sollte auch das Vermögen von Unternehmen nicht unbegrenzt wachsen<br />
dürfen. Immer größer ist nicht natürlich. <strong>Die</strong> Größe eines Unternehmens bedeutet<br />
wirtschaftliche Macht, die kleinere Formen der Wirtschaft bedroht. Deshalb erscheinen<br />
eine progressive Kapitalertragsteuer sowie eine Vermögensteuer auch für Unternehmen<br />
angemessen. Vielleicht sogar auch hier eine Vermögensobergrenze.<br />
6.2.4 Eigentum<br />
Mit der Argumentation der Vermögensbegrenzung kann man natürlich auch noch weitergehen<br />
und das Privateigentum insgesamt in Frage stellen, indem man auch für Sachen, Unternehmen<br />
oder Grundstücke demokratische Formen der Beteiligung fordert, selbst bis dahin,<br />
dass die Gemeinschaft entscheidet, wie viele Tassen der einzelne besitzen darf. Das heißt: Es<br />
gibt keine theoretische Untergrenze für die Obergrenze des Vermögens. <strong>Die</strong>se Grenze müssen<br />
wir schon selbst ziehen, und wir haben dabei das sichere Gefühl, dass diese Grenze nicht<br />
„Null” lauten sollte. Warum?<br />
Leistung soll sich lohnen<br />
Binswanger sagt es so: „<strong>Die</strong> wichtigste Begründung für das individuelle Eigentum ist die eindeutige<br />
Festlegung der Verantwortung. Wenn – wie Aristoteles darlegt – alles allen gehört<br />
und alle ‚durcheinandergreifen‘, fällt der Ertrag anderen zu <strong>als</strong> demjenigen, der den Aufwand<br />
hatte, und Ertrag und Aufwand können einander nicht mehr zugerechnet werden. Sehr<br />
schnell wird sich dann die Tendenz durchsetzen, auf Kosten anderer den eigenen Aufwand<br />
zu minimieren. Eine große Unwirtschaftlichkeit und Vergeudung wäre die Folge.” (Binswanger<br />
2009 S. 194)<br />
Das ist die Idee der Leistungsgesellschaft. Wer sät, soll auch ernten. Auch diese Idee ist aus<br />
der Einsicht in die menschliche Unvollkommenheit geboren, wie Binswanger darlegt: Angesichts<br />
einer Gelegenheit werden wir schwach. Wir geraten in den Konflikt zwischen unserem<br />
individuellen Interesse am Ertrag und der höheren Einsicht in den fremden Aufwand. Das<br />
Eigentum ist die mit Macht ausgestattete Institution, die diesen Konflikt zu überwinden hilft.<br />
98
Allerdings – und dieser Punkt ist ganz wesentlich – ist hier nur die Rede vom Ertrag, der dem<br />
Aufwand entspricht. Von einem leistungslosen Einkommen aus Eigentum ist hier nicht die<br />
Rede.<br />
<strong>Die</strong> Abgrenzung einer individuellen Leistung von der Gemeinschaftsleistung und ihre Bewertung<br />
ist der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Eigentumsdiskussion. Es gibt für die Erbringung<br />
jedweder Leistung nur zwei Quellen:<br />
• Quelle individueller Leistungen sind die körperliche Tätigkeit und die Denktätigkeit eines<br />
Menschen, und dazu zählen auch alle sozialen und medizinischen Berufe.<br />
• Quelle gemeinschaftlicher Leistungen sind zum einen individuelle Leistungen, die<br />
einstm<strong>als</strong> für die Gemeinschaft erbracht wurden, z. B. Mitarbeit an einem öffentlichen<br />
Projekt, oder ihr geschenkt wurden. Zum anderen alle natürlichen Ressourcen, denn<br />
warum sollte jemand auf diese einen Eigentumsanspruch haben? Dazu gehören natürlich<br />
auch Grundstücke ohne besondere Ressourcen, z. B. Acker- oder Bauland, oder<br />
Wasser. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum jemand einen absoluten, exklusiven<br />
Anspruch auf einen Teil der Welt haben soll, den er nicht geschaffen hat.<br />
Das Verpachten eines Ackers, der seit langem urbar gemacht ist, ist keine besondere<br />
Leistung mehr.<br />
<strong>Die</strong> Idee des privaten Eigentums an natürlichen Ressourcen und Land stammt aus einer Zeit,<br />
<strong>als</strong> Ressourcen einerseits praktisch unbegrenzt vorlagen und andererseits der Arbeitsaufwand<br />
für ihre Gewinnung im Vordergrund stand. Bergwerksarbeit mit der Spitzhacke ist eine<br />
Schufterei, ebenso ein Stück Urwald urbar zu machen, einen Baum mit der Axt zu fällen und<br />
aus dem Wald ins Dorf zu befördern. Der Materialwert aller praktisch wichtigen Materialien<br />
wurde kaum von Seltenheit bestimmt, sondern fast ausschließlich von der Mühe der Gewinnung,<br />
und die war in der Regel hoch. Und so erscheint es logisch, dass wer säen will und<br />
vorher den Wald roden muss, auch über lange Zeit das Recht zum Ernten hat. Sozusagen<br />
ewig. Das ist Eigentum.<br />
<strong>Die</strong> Probleme mit dem Eigentum kommen erst in die Welt, wenn<br />
• das Eigentum missbraucht wird, <strong>als</strong>o mit den Rechten anderer Individuen oder den<br />
Rechten der Gemeinschaft in Konflikt gerät. Binswanger weist zu Recht darauf hin,<br />
dass dies ein ganz wesentliches Problem des klassischen absoluten Eigentumsbegriffes<br />
ist (Binswanger 2009 S. 181ff.) .<br />
• das Eigentum nicht selbst konsumiert, sondern verkauft wird, <strong>als</strong>o ein Preis dafür gefunden<br />
werden muss. Individuen treffen aufeinander, und die Marktmechanismen aus<br />
Angebot und Nachfrage beginnen zu greifen.<br />
Missbrauch von Eigentum<br />
Heute kann man sein Mietshaus gegen den Willen der Mieter verkommen lassen. <strong>Die</strong> Mieter<br />
wären sogar bereit, eine angemessene Mieterhöhung zu zahlen. Aber der Eigentümer hat<br />
keine Lust. Und es gibt keinen praktikablen Weg, ihn zu zwingen. <strong>Die</strong> Hürden für Enteignung<br />
hängen fürchterlich hoch, das ist nicht gangbar. Hier müssen Mechanismen der Kommunikation<br />
und des Ausgleichs geschaffen werden. Es kann nicht sein, dass „öffentlich wirksames”<br />
Eigentum von Lustlosigkeit oder überzogenen wirtschaftlichen Interessen bestimmt wird.<br />
Ein Teil des Missbrauchs von Dingen oder einem Gebäude oder anderen individuellen Leistungen<br />
findet schon heute seine Schranken im Ordnungsrecht (Umweltrecht etc.). Ein anderer<br />
Eigentumsmissbrauch beruht auf Ressourcenmissbrauch (Übernutzung), und diese Frage<br />
handeln wir unter dem Punkt „Vermögensobergrenze für gemeinschaftliche Leistungen” ab.<br />
Es wird gar kein Eigentum an Ressourcen mehr geben.<br />
Verkauf von Eigentum<br />
Um dieses Problem richtig zu verstehen, benötigt es einen kleinen Exkurs über Marktmechanismen.<br />
Angenommen, ein Gerücht spräche sich herum, dass Milch unsterblich mache. Ein<br />
99
Liter pro Tag genüge, heißt es. <strong>Die</strong> Folge wäre ein Ansturm auf Milch. Wenn das Angebot<br />
nicht reicht, steigt der Milchpreis. <strong>Die</strong> Milchproduzenten reiben sich die Hände, denn sie leben<br />
jetzt in Saus und Braus, ihre Kosten haben sich ja nicht verändert. Und dann? Bleibt der<br />
Preis da? Wenn es Menschen gibt, die das Gefühl haben, sie würden jetzt besser „in Milch<br />
machen” anstelle dessen, was sie bisher gemacht haben, und in die Milchproduktion einsteigen,<br />
dann würde der Preis wieder fallen, sobald die Angebotsmenge gestiegen ist. Er würde<br />
so weit fallen, dass subjektiv die ganzen Milchanbieter davon leben können. Würde er tiefer<br />
fallen, stiegen einige wieder aus. Würde man immer noch üppig davon leben können, würden<br />
weitere einsteigen. Sowas spricht sich ja rum. Das ist das Schöne am Markt: Er reguliert<br />
sich im Idealfall über das subjektive Einkommensempfinden selbst. Das Einkommen landet<br />
im Idealfall immer bei einem existenzsichernden Niveau, das natürlich vom Gesamtniveau<br />
des gesellschaftlichen Wohlstandes abhängt. Wenn sich das Gerücht dann <strong>als</strong> Ente erweist,<br />
geht die ganze Geschichte retour, und man landet nach einiger Zeit wieder da, wo man hergekommen<br />
war.<br />
<strong>Die</strong> Krux dabei ist immer der „freie Marktzugang für Anbieter”, sprich: Alle Neulinge, die in<br />
die Milchproduktion einsteigen wollten, konnten dies tun. Sie haben im Idealfall die völlige<br />
Freiheit, es zu tun oder zu lassen, genauso wie auch die Nachfrager die völlige Freiheit haben,<br />
Milch zu kaufen oder es zu lassen. Was wäre passiert, wenn das nicht möglich gewesen<br />
wäre, weil beispielsweise zuwenig Ackerland vorhanden ist? Der Preis wäre hoch geblieben,<br />
und die Milchproduzenten hätten weiter in Saus und Braus gelebt. Und was wäre mit dem<br />
Preis für Ackerland passiert? Genau, der wäre auch gestiegen. Und hätte da irgendeine eigene<br />
Leistung der Milchproduzenten oder Landbesitzer dahintergestanden? Nein. <strong>Die</strong> Folge<br />
dieser nicht behebbaren Angebotsknappheit sind leistungslose Einkommen, solange sich<br />
Nachfrager finden, die das in Ordung finden (es wird ja keiner gezwungen, Milch zu kaufen).<br />
Grundsätzlich haben wir mit so etwas überhaupt kein Problem, wenn das knappe Angebot im<br />
wesentlichen auf individueller Leistung beruht und wir darauf nicht angewiesen sind. Wir<br />
lassen es dann bleiben. Es ist uns zu teuer. Wir fühlen uns nicht mehr so wohl, wenn wir<br />
darauf angewiesen sind. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn es weit und breit nur einen<br />
Bäcker gibt, der überteuert sein Brot verkauft. Und wenn wir dann auch noch das Gefühl<br />
haben, dass das knappe Angebot wesentlich auf gemeinschaftlicher Leistung beruht, die uns<br />
auf individuelle Rechnung verkauft wird, dann fühlen wir uns massiv betrogen. Der Immobilienmarkt<br />
in nachgefragten Gegenden ist ein klarer Fall von Angebotsknappheit mit einem<br />
hohen Anteil von gemeinschaftlicher Leistung. Eine Immobilie steht nämlich auf einem<br />
Grundstück, was keiner hergestellt hat, und genau die Grundstücke sind auch die Ursache<br />
des knappen Angebotes. <strong>Die</strong> lassen sich nämlich nicht vermehren. Es kann nicht einfach jeder<br />
kommen und weitere Immobilien auf den Markt werfen. Wissen Sie, wie hoch die Ladenmieten<br />
an den Champs-Élysées in Paris sind? Um die 7.000 EUR. Pro Quadratmeter. Pro<br />
Monat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass tatsächlich eine realwirtschaftliche Leistung in<br />
dieser Höhe dahinter steht. Leistung muss sich wieder lohnen ...<br />
Wenn der Restaurant- oder Ladenbesitzer gut verdient, warum muss der Immobilienbesitzer<br />
etwas davon abbekommen? Der hat damit nichts zu tun, der Ausgleich dafür muss an anderer<br />
Stelle erfolgen. Das ist ansonsten ein leistungsloses Einkommen, ebenso wenn der Stadtteil<br />
hip wird. Das hat der Immobilienbesitzer in aller Regel nicht verursacht. <strong>Die</strong> Antwort der<br />
klassischen Marktanhänger lautet: „So ist es halt. Anders lassen sich diese Zuteilungsprobleme<br />
nicht lösen. Man ist durch die Investition ja auch ein Risiko eingegangen.” Ganz so einfach<br />
sollten wir es uns aber nicht machen. Denn dass das nicht richtig funktioniert, sieht man<br />
ja.<br />
<strong>Die</strong> Idee des Risikoentgeltes wird unter dem Aspekt der Vermögensobergrenze ohnehin ganz<br />
anders zu betrachten sein, weil große Investitionen in Zukunft nicht mehr von wenigen getätigt<br />
werden können: <strong>Die</strong> haben schlicht zu wenig Vermögen. Es braucht viele für eine große<br />
100
Investition, was das Ausfallrisiko verringert, da ein größeres Interesse vorab gegeben sein<br />
muss. <strong>Die</strong> Idee der großen, riskanten Investition weniger Investoren hat ausgedient.<br />
Leistungsvarianten<br />
<strong>Die</strong> Aufgabe besteht jetzt <strong>als</strong>o darin zu bestimmen, wie wir für die verschiedenen Leistungsvarianten<br />
zu einem Verkaufspreis im Falle des Verkaufs und zu einer Vermögensobergrenze<br />
für die Kappung kommen.<br />
1. Wenn überwiegend individuelle Leistungen vorliegen, ist die Sache einfach: Der Markt<br />
ist optimal, individueller Handel ist möglich.<br />
2. Wenn überwiegend gemeinschaftliche Leistungen vorliegen, ist es auch einfach: <strong>Die</strong><br />
Art der Verteilung wird demokratisch beschlossen, eventuelle Einnahmen gehören der<br />
Gemeinschaft.<br />
3. Wenn eine Mischung vorliegt, ist es schwieriger. Aber nicht unmöglich. Wo sich gemeinschaftliche<br />
Leistungen und individuelle Leistungen mischen, kommt man nicht<br />
umhin, sie auseinanderzudividieren. Es gibt gar nicht so viele Bereiche, wo sich das<br />
mischt. Der wichtigste sind bereits die Immobilien mit einem gemeinschaftlichen<br />
Grundstück und einer individuellen Bauleistung. Reine Grundstücke oder natürliche<br />
Ressourcen wie Wald fallen unter den zweiten Punkt.<br />
1. Vermögensobergrenze für individuelle Leistungen<br />
Für den Verkauf individueller Leistungen, beispielsweise Sachen oder ganzer Unternehmen,<br />
gibt es einen Markt, der den Verkaufspreis bestimmt. Damit hat die Gemeinschaft<br />
nichts zu tun.<br />
Für die Kappung müssen wir entscheiden, ab welchem Vermögen das Handeln des<br />
Einzelnen so stark in das Leben der Gemeinschaft eingreifen kann, dass wir seine<br />
Macht begrenzen müssen. Für die Tassen ist das bisher wenig plausibel, aber auch<br />
für „gesellschaftlich relevantes Eigentum” wie ein Unternehmen hatten wir bisher keine<br />
Grenze vorgesehen, weil es einerseits schon bisher Machtbegrenzungen gegeben<br />
hat und andererseits Macht auch etwas Positives haben kann:<br />
• Es gibt Unternehmensformen, die von vornherein gemeinschaftlich organisiert<br />
sind, beispielsweise Genossenschaften.<br />
• Es hat immer auch Unternehmer gegeben, die freiwillig Formen der Mitbestimmung<br />
und Beteiligung eingeführt haben („Inseln der Vernunft” ...)<br />
• In der Tatsache, dass es von Einzelnen geführte, <strong>als</strong>o „undemokratische” Unternehmen<br />
gibt, respektieren wir die Fähigkeit des einzelnen Menschen zur<br />
Vision. Es gibt Menschen, die haben eine bestimmte Vorstellung von der Zukunft<br />
und besitzen die Kraft, andere dafür zu begeistern und zu führen, hier in<br />
Form eines Produktes. Sie sind bereit, Verantwortung zu tragen. Dafür müssen<br />
sie auch entscheiden dürfen.<br />
Mit der Höhe der absoluten Vermögensobergrenze bestimmen wir indirekt die<br />
Größe und damit auch die Vernunft oder Vermessenheit der möglichen Visionen Einzelner<br />
in der Marktwirtschaft. Tatsächlich ist es auch schon heute so, dass viele große<br />
Kapitalgesellschaften nicht einem Menschen allein gehören, weil dafür die Vision<br />
„nicht ausreicht”. Über die Beteiligung anderer wird die Vision geteilt und weiter befördert,<br />
aber auch potentiell geschwächt. Der Visionär gibt Gestaltungsmacht ab –<br />
und muss fortan hart daran arbeiten, dass er weiterhin <strong>als</strong> der alleinige „Führer auf<br />
dem rechten Wege” angesehen wird. Im Bereich der Informationstechnologie ist das<br />
sehr schön zu beobachten: Steve Jobs pflegte und Bill Gates pflegt auf diese Weise<br />
seine Eitelkeit ... Sobald sie sterben, ist es erst mal Essig mit der Vision, deshalb sind<br />
auch „Kronprinzen” oder „Kronprinzessinnen” so wichtig: Sie sind die Erben der Vision<br />
und sollen sie möglichst „unverfälscht” weiterführen. Unverfälscht deshalb, weil ja nur<br />
101
der ursprüngliche Visionär weiß, wie es richtig geht. Vermessene Visionen sind <strong>als</strong>o<br />
wieder mal nur Ausdruck der eigenen Eitelkeit.<br />
2. Vermögensobergrenze für gemeinschaftliche Leistungen<br />
Binswanger schlägt für den zweiten Punkt die Rückkehr zur Gewährung eines Nutzungsrechts<br />
anstelle des absoluten Eigentums vor, <strong>als</strong>o die Erteilung einer Konzession<br />
(Binswanger 2009 S. 185f.). Das würde insbesondere auch alle Grundstücke betreffen,<br />
hierfür gibt es bereits die Möglichkeit des Erbbaurechts. Man braucht Grundstücke<br />
<strong>als</strong>o gar nicht in die Vermögensobergrenze miteinzubeziehen, weil es kein Eigentum<br />
daran mehr gibt. Und keinen Verkauf. Gesellschaftliches Eigentum an Grund und<br />
Boden in Verbindung mit der Erteilung von zeitlich begrenzten Nutzungsrechten führt<br />
dazu, dass dass in regelmäßigen Abständen die Kontrolle an die Gemeinschaft zurückfällt<br />
und somit der Spekulation die Grundlage entzogen wird. Über die Konzessionsgebühr<br />
werden die noch unerschlossenen Ressourcen praktisch an den Konzessionär<br />
verkauft, der sie wiederum nach der Gewinnung <strong>als</strong> individuelle Leistung auf<br />
dem Markt verkauft, es gibt <strong>als</strong>o einen Marktpreis. So funktioniert das ja schon heute.<br />
Nichterneuerbare Ressourcen, die auf diese Weise neu gefördert werden, wird es<br />
aufgrund des Nachhaltigkeitspostulates gar nicht mehr geben. Das betrifft dann eher<br />
Wald, Grundstücke für Bau oder Landwirtschaft, Fischereirechte.<br />
3. Vermögensobergrenze für Mischleistungen<br />
Für den dritten Punkt bleibt nur das Auseinanderdividieren der beiden Anteile, diese<br />
Rechnung macht der Eigentümer ja schon heute auf (Gewinn- und Verlustrechnung).<br />
Dem Eigentümer der individuellen Leistung wird stets nur der eigene Aufwand <strong>als</strong><br />
Vermögen angerechnet. Beim Verkauf der Leistung (was bei Immobilien auch eine<br />
Vermietung sein kann) müssen wir die Marktgesetze außer Kraft setzen, der Preis<br />
wird auf Basis dieser Kosten berechnet. Persönliche Eigenleistungen müssen „vernünftig”<br />
bewertet werden. Bei Immobilien landet man dann bei der sogenannte Kostenmiete.<br />
Das ist sozusagen der Preis dafür, dass der Eigentümer auf einer gemeinschaftlichen<br />
Leistung aufbaut. Anders gesprochen: Bei Mischleistungen wird der Gewinn<br />
nach Berücksichtigung von Eigenleistungen abgeschöpft. Gibt keinen Gewinn.<br />
Punkt. Für Gewinn muss man sich andere Betätigungsfelder suchen.<br />
Das beste Modell für Immobilien ist ohnehin das der Genossenschaft. Vielleicht macht<br />
man das einfach zur Bedingung. Es würde uns viel ersparen.<br />
Erbschaftsteuer<br />
Aus diesen Überlegungen folgt auch sofort: Eine Erbschaftsteuer gehört nicht in dieses System.<br />
Vererbte Güter stellen kein leistungsloses Einkommen dar, auch wenn das derzeit gerne<br />
so dargestellt wird. Zwar hat der Erbe die Leistung nicht erbracht, aber die Gemeinschaft<br />
auch nicht. Es gibt keinen Grund, warum die Gemeinschaft vom Erbfall profitieren sollte.<br />
Historisch ist die Erbschaftsteuer zwar die älteste aller Steuern, aber ich glaube, historisch<br />
gab es auch noch nie eine absolute Obergrenze für Vermögen (man möge mich korrigieren).<br />
In einem System mit Vermögensobergrenze braucht man eine Erbschaftsteuer schlicht nicht.<br />
Man kann ohne weiteres darüber diskutieren, ob „Vererben” <strong>als</strong> natürlicher Vorgang anzusehen<br />
ist oder nur eine gesellschaftliche Konvention. Tatsächlich hat Vererben eine ganze Reihe<br />
von praktischen Aspekten, die man nicht ignorieren kann. <strong>Die</strong> Idee des Vererbens hat sich<br />
ja nicht willkürlich entwickelt. Zumindest die ganze Idee des Mittelstandes beruht wesentlich<br />
auf der Möglichkeit, Vermögen und Verantwortung über mehrere Generationen weiterzugeben,<br />
und das wird durch eine Vermögensobergrenze nicht grundsätzlich in Frage gestellt.<br />
<strong>Die</strong> Vermögensobergrenze hat den angenehmen Nebeneffekt, dass zum Lebensende hin das<br />
Anhäufen von Vermögen immer uninteressanter wird, denn nach dem Erbfall hat sich das<br />
Vermögen des Erben erhöht und wird gegebenenfalls wieder gekappt. Der Fokus auf Vermö-<br />
102
gen <strong>als</strong> die „Möglichkeit zu konsumieren” wird wieder stärker. Für eine Altersvorsorge sollte<br />
die Rolle des Vermögens eh sinken.<br />
Nichtkapitalisierbare Gemeinschaftsgüter<br />
Hinter diesem etwas sperrigen Begriff stehen öffentliche Güter wie Landschaftsbild, saubere<br />
Luft, sauberer Regen, saubere Flüsse, Frieden. Sie gehören nicht einem Einzelnen, jeder<br />
muss sie „konsumieren” können, man stört niemanden dabei, und niemand hat das Recht,<br />
einem diese Dinge „unvernünftig” zu verweigern. Es lässt sich kein Preis dafür festlegen,<br />
dennoch haben sie für die Gemeinschaft einen Wert. Man wird sie weiterhin mit dem Ordnungsrecht<br />
„bewerten” müssen, d. h. entscheiden, wie viel „Missbrauch” zulässig ist und was<br />
er kostet.<br />
6.2.5 Repräsentative Demokratie <strong>als</strong> Wunsch nach Vision<br />
<strong>Die</strong> Idee der unternehmerischen Vision begründet demzufolge auch noch etwas ganz anderes:<br />
<strong>Die</strong> repräsentative Demokratie ist ebenfalls ein Ausdruck dieser Vorstellung. Sie ist nicht<br />
lediglich eine praktische Arbeitsteilung, sondern die Gemeinschaft möchte auf diese Weise<br />
Personen an die Spitze befördern und mit einem gewissen Maß an Gestaltungsmacht ausstatten,<br />
die eine Vision umsetzen, der wir vertrauen. Menschen, die idealerweise über Demut,<br />
Selbstvertrauen und Vernunft verfügen. Weil unsere aktuelle Vision aber die Eitelkeit <strong>als</strong><br />
maßgeblichen Antrieb hat, spült unsere Demokratie immer wieder die Eitlen nach oben – mit<br />
bemerkenswerten Ausnahmen. Man kann nämlich persönlich eitel sein und dennoch eine<br />
uneitle politische Vision besitzen. Und umgekehrt. (Sie können jetzt grübeln, welche deutschen<br />
Bundeskanzler und -kanzlerinnen ich in welcher Kategorie sehe.)<br />
Der aktuelle Wunsch nach mehr direkter Demokratie spiegelt unser Misstrauen gegenüber<br />
einer repräsentativen Demokratie wider, in der die Vernunft der Eitelkeit und der Bereicherung<br />
gewichen ist. Wo ist denn heute der Wunsch nach direkter Demokratie am lautesten?<br />
Bei technischen Großprojekten und bei Privatisierungen öffentlicher Güter, wo sich wenige<br />
auf Kosten vieler bereichern, und damit sind wir sofort beim Kern der Sache. <strong>Die</strong> Einführung<br />
einer humanistischen Marktwirtschaft würde diese Probleme sofort lösen. Dennoch muss die<br />
Politik auch das Problem der Bürgerbeteiligung lösen, welches über das „Parteiengezänk”<br />
nicht richtig funktioniert. Direkte Demokratie wird nicht der Weg sein. „Je mehr direkte Entscheidungen<br />
durch das ganze Volk, um so unregierbarer das Land!” (Helmut Schmidt, zitiert<br />
nach wikiquote)<br />
6.2.6 Unendliche Zukunft<br />
Ziel ist ein Leben des Menschen im Gleichgewicht mit der Umwelt.<br />
Was an wirtschaftlicher und individueller Betätigung erlaubt sein soll und was nicht, ist ziemlich<br />
egal und vom gesellschaftlichen Konsens abhängig, solange bestimmte Grundsätze erfüllt<br />
sind und unverbrüchlich dauerhaft eingehalten werden. <strong>Die</strong> Grundsätze müssen so sein,<br />
dass sich das System „unendlich weit in die Zukunft” denken lässt. Wenn dann ein iPhone<br />
darin Platz findet – warum nicht? Ich halte das zwar für unwahrscheinlich, aber darauf<br />
kommt es jetzt nicht an, sondern:<br />
Nachhaltigkeitspostulat:<br />
1. 100 % Recycling oder 100 % Abbaubarkeit („Cradle to cradle”)<br />
2. Keine zusätzlichen nichterneuerbaren Rohstoffe verbrauchen<br />
3. Produktverantwortung des Herstellers über die gesamte Produktlebensdauer<br />
Alles andere ist gegenüber künftigen Generationen nicht zu verantworten und macht auch im<br />
Hier und Jetzt immer weniger Freude. Wer von den gleichen Rechten aller Menschen spricht,<br />
der muss auch die künftigen Generationen miteinbeziehen, und es ist nicht einzusehen, dass<br />
man ihnen etwas anderes hinterlassen sollte <strong>als</strong> man selbst vorgefunden hat. Wir schleppen<br />
103
jetzt schon eine gewaltige Hypothek mit uns mit, die wir langsam abzahlen müssen. Neue<br />
Hypotheken sind unzulässig. Keinen Müll hinterlassen. Ich sehe keinen Kompromiss.<br />
Dabei sollte jedem klar sein, dass die Punkte 1 und 2 des Nachhaltigkeitspostulates prinzipiell<br />
unerfüllbar ist: <strong>Die</strong> beiden Sätze sind theoretische Grenzfälle, wo wir aller Erwartung nach<br />
nie mehr hinkommen werden (wobei auch das festzustellen jetzt eigentlich nicht unsere Aufgabe<br />
ist). Man macht sich nur verrückt, wenn man jetzt an der Frage verzweifelt, ob die eigenen<br />
Zahnfüllungen nach dem Tod auch anständig recycled werden. Im Moment stehen<br />
andere, größere Aufgaben an. <strong>Die</strong> meisten Konsequenzen unseres Handelns werden wir<br />
selbst nicht mehr erleben, deshalb können wir getrost auch ein bisschen runterschrauben.<br />
Wenn wir soweit sind, können wir uns um die Zahnfüllungen immer noch Gedanken machen.<br />
Aber: <strong>Die</strong>se beiden Postulate müssen jeder vernünftigen Politik <strong>als</strong> Prinzip zugrunde liegen.<br />
Sie müssen eine Handlungsrichtlinie bilden, von der auf lange Sicht nicht abgewichen wird<br />
und auf die das aktuelle Handeln gerichtet ist. Man wird dabei die eine oder andere taktische<br />
Volte machen müssen, aber das Ziel ist klar. Das Problem einer verwässerten <strong>Version</strong> des<br />
Nachhaltigkeitspostulates ist ihre Beliebigkeit (jeder kann sie nach seinem Gusto interpretieren)<br />
bzw. dass sie wiederum zum Austricksen reizt. Es reicht nicht aus, nur Möglichkeiten<br />
anzubieten, den Ressourcenverbrauch zu senken. Wer den Verbrauch nichterneuerbarer<br />
Ressourcen senken möchte, der muss den Verbrauch direkt ins Visier nehmen, über absolute<br />
Obergrenzen, die nach und nach auf Null heruntergefahren werden.<br />
Der permanente Widerstand der Wirtschaft gegen eine schärfere Umweltgesetzgebung ist<br />
ohne weiteres verständlich, wenn man sich vor Augen hält, dass die hohe Produktivität praktisch<br />
ausschließlich auf der Verbrennung oder Verarbeitung von nichterneuerbaren Rohstoffen<br />
basiert. Somit sind die Botschaften der freien Marktwirtschaft und der Ressourcenschonung<br />
grundsätzlich unvereinbar. Eine prinzipielle Reduktion dieses Verbrauchs wird somit<br />
zwangsläufig eine Senkung der Produktivität zur Folge haben, und das Nachhaltigkeitspostulat<br />
ist daher der wichtigste einzelne Schritt in Richtung „Arbeit für alle”, LowTech und Regionalität.<br />
Binswanger stellt ein Dilemma bei den nichterneuerbaren Ressourcen fest: „Wozu sollen sie<br />
erhalten bleiben, wenn sie nicht genutzt werden?” (Binswanger 2009 S. 169) Er stellt daher<br />
für nichterneuerbare Rohstoffe ein anderes Nachhaltigkeitspostulat auf: „... die Nutzung der<br />
nichterneuerbaren Ressourcen dann <strong>als</strong> nachhaltig zu bezeichnen, wenn ihr Vorrat durch<br />
exponentielle Minderung des Verbrauchs nie vollständig verbraucht wird.” (Binswanger 2009<br />
S. 174, Hervorhebung im Original) Mit anderen Worten: Es würde reichen, wenn der<br />
Verbrauch langsam, aber schnell genug sinkt, so dass die Null-Linie nie erreicht wird.<br />
Ich mache mir diese Meinung nicht zueigen und formuliere das Nachhaltigkeitspostulat so<br />
streng wie dort oben. Keiner weiß, wie schnell „langsam, aber schnell genug” tatsächlich ist,<br />
weil man dazu die Menge der noch nicht geförderten Ressourcen kennen müsste. Außerdem<br />
ist das Fördern von Rohstoffen in der Regel kein Spaß für die Natur, sondern der Prozess <strong>als</strong><br />
solcher ist meistens ein schwerer Eingriff. <strong>Die</strong> Förderung von Ölsand oder Aufbereitung von<br />
Golderzen sind eine einzige Ökosauerei, um nur einige zu nennen. Wir sollten mit dem haushalten,<br />
was wir haben, das ist ja schon eine ganze Menge. Nicht Überfluss macht kreativ,<br />
sondern Beschränkung.<br />
6.2.7 Vertretung der Stimmlosen<br />
Binswanger schlägt für die treuhänderische Vertretung der „Anliegen der Zukünftigen” einen<br />
Ökologischen Rat vor, der <strong>als</strong> zusätzliche Institution in den demokratischen Entscheidungsprozess<br />
eingeführt wird. Er sei mit 24 anerkannten Sachverständigen für ökologische Fragen<br />
zu besetzen, wobei Binswanger auch konkrete Vorschläge für das Verfahren macht. (Binswanger<br />
2009 S. 209ff.)<br />
104
<strong>Die</strong>ses Konzept halte ich grundsätzlich für sinnvoll, gebe aber zu bedenken, dass es auch<br />
noch andere Stimmlose in unserer Demokratie gibt: <strong>Die</strong> Tiere, die Natur, die Menschen in<br />
anderen Nationen.<br />
6.3 Demut, Selbstvertrauen und Vernunft<br />
Eine Gesellschaft, die sich den Wettbewerb zum Ziel setzt, ist krank. Es gibt eine Therapie,<br />
die dagegen hilft:<br />
• Demut gegen die Eitelkeit<br />
• Selbstvertrauen gegen die Angst<br />
• Vernunft gegen die Maßlosigkeit<br />
Wobei jeder der drei Punkte auch gegen die anderen hilft. Es ist eine einfache und gute Medizin.<br />
Sie wird seit Jahrtausenden verabreicht. Ich kann Ihnen hier allerdings nur beschreiben,<br />
wie ich sie einnehme. Sie müssen Ihren eigenen Weg finden. Das Rezept aber, glaube<br />
ich, ist für alle Menschen gleich. Der folgende Text ist sehr persönlich, anders konnte ich ihn<br />
nicht kurz halten. Ich hatte das Gefühl, wenn ich anfange, allgemein über diese Themen zu<br />
schreiben, müsste ich viel weiter ausholen. Also kann ich nur von mir berichten.<br />
6.3.1 Demut<br />
Letztlich steht die Frage nach dem „Höheren” dahinter. Demut ist eine innere Haltung, mit<br />
der ich akzeptiere, dass es Dinge gibt, die für mich nicht erreichbar sind, obwohl ich sie erreichen<br />
wollen kann. Demut ist die Haltung des Gläubigen gegenüber Gott. Demut ist die<br />
Einsicht in die Notwendigkeiten. Mit Demut ist hier nicht die unterwürfige Haltung eines<br />
Knechtes gemeint, der sich einer äußeren Macht beugt, denn die Macht ist in uns selbst. Mit<br />
Demut erkennen wir die eigene Unvollkommenheit an.<br />
Ich bin „ontologischer Materialist”. Umgangssprachlich ist ein Materialist jemand, der sich<br />
dem materiellen Konsum hingibt, aber hier ist etwas anderes gemeint, nämlich eine philosophische<br />
Position. Ein ontologischer Materialist ist jemand, der nicht an Gott glaubt, sondern<br />
an die naturwissenschaftliche Erklärung der Welt. Es gibt außer Materie und den Naturgesetzen<br />
nichts. Nichts Höheres, keinen Gott und insbesondere keine außerkörperliche Seele, die<br />
nach dem Tod oder möglicherweise auch vorher schon existiert. Es gibt somit auch keinen<br />
höheren Sinn des Lebens. Der Materialismus ist eine Position, die sich auf das Leben im Hier<br />
und Jetzt fokussiert.<br />
Generationen von Denkern haben sich mit diesen Fragen befasst. <strong>Die</strong>ses Spiel mit der eigenen<br />
Erkenntnis gehört zum Menschen wie Demokratie und Marktwirtschaft. Der Mensch ist<br />
permanent dabei, sich seiner selbst zu vergewissern, um einerseits Sinn zu erreichen und<br />
andererseits eine logische Begründung, warum er in der Welt ist und so anders <strong>als</strong> die Tiere.<br />
Und um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, weil er seine Welt nachhaltig verändert.<br />
Ich stelle in meinen Überlegungen das menschliche Gehirn in den Vordergrund. Ich bin fest<br />
davon überzeugt (man könnte auch sagen: ich glaube), dass es nichts weiter braucht <strong>als</strong><br />
dieses unglaubliche Bündel von Neuronen und Synapsen, befeuert von einer komplexen Biochemie<br />
und einem Energiekreislauf aus Kohlehydraten, Proteinen und Fett, um damit die<br />
Vielfalt der menschlichen Erscheinungen zu erklären. Was wissen wir denn darüber? Mittlerweile<br />
beeindruckend viel und doch herzlich wenig, aber dieses wenige reicht mir aus, um für<br />
mich zu erklären: Reicht völlig. Ich glaube, dass die Art der „Verschaltung” des Gehirns in<br />
Verbindung mit zufälligen (stochastischen) Ereignissen, wie sie die Physik beschreibt, sowie<br />
Unstetigkeiten, wie sie die Chaostheorie beschreibt, völlig ausreicht für ein unglaubliches<br />
Spektrum an menschlichen Fähigkeiten und Defekten. Deshalb bin ich auch überzeugt, dass<br />
die Kollegen von der Künstlichen Intelligenz eines Tages „Erfolg” haben werden in dem Bemühen,<br />
ein künstliches, denkendes Objekt zu erschaffen, wenn man ihnen nicht vorher in<br />
105
den Arm fällt. Glücklicherweise wird ihnen das Arbeiten in einer einfacheren Welt schon rein<br />
technisch sehr schwerfallen, und meine Hoffnung ist, dass sie mit der Zunahme von Demut,<br />
Selbstvertrauen und Vernunft einfach das Interesse daran verlieren. Denn „In-den-Armfallen”<br />
ist eine heikle Sache in einer freiheitlichen Gesellschaft.<br />
Ein materialistischer Ansatz ist mir der einfachste. Er befreit mir mein Leben von dem im Hier<br />
und Jetzt sinnlosen Gedanken an das Danach. Man könnte kritisieren, dass er mich auch von<br />
meiner Verantwortung im Hier und Jetzt befreit. Was hindert mich am Schlemmen und Rülpsen,<br />
und nach mir die Sintflut? <strong>Die</strong>se Verantwortung sollte ich aber aus anderen Gründen<br />
spüren <strong>als</strong> aufgrund des Glaubens an ein jüngstes Gericht oder ein Höllenfeuer. Im Hier und<br />
Jetzt macht verantwortungsvolles Handeln zufriedener, denn es erzeugt Sinn und Gemeinschaftsgefühl.<br />
Ich sehe Sinn nicht <strong>als</strong> Objekt oder Ziel, sondern <strong>als</strong> einen Kreislauf: Er wird<br />
durch Handeln erzeugt und erzeugt seinerseits sinnvolles Handeln. Er ist ein psychischer Zustand<br />
des Wohlbefindens, hervorgerufen durch biochemische Reaktionen.<br />
Das ist keine Banalisierung des Menschen und auch nicht seine Erhöhung. Ist denn die Vorstellung<br />
von einem höheren Gott frei von Maßlosigkeit? <strong>Die</strong> Idee von der Unsterblichkeit der<br />
Seele frei von Eitelkeit? Wir finden viele Bilder für das, was wir Demut nennen. Materialismus<br />
ist für mich Respekt vor dem unglaublichsten aller Organe: Dem Gehirn, eingebettet in und<br />
verbunden mit einem Körper, der eingebettet ist in und verbunden mit der Welt. Es ist für<br />
mich ein Bild für Demut.<br />
6.3.2 Selbstvertrauen<br />
Ich bin sehr dankbar, dass ich einerseits eine unbeschwerte Kindheit genießen konnte, in<br />
einem Umfeld der Zuwendung und Freiheit (siehe Widmung), und dass ich andererseits das<br />
Glück hatte, in meinem Leben Menschen zu begegnen, die mir neue geistige und körperliche<br />
Welten aufgezeigt haben, und ich frei genug war, diese Anregungen aufzunehmen.<br />
Als Jugendlicher war ich ein ziemlicher Eigenbrötler, beschäftigt mit Büchern, die mir vor<br />
allem mein Vater in großer Zahl und Qualität verschaffte (den trivialeren Rest holte ich mir in<br />
der Bücherei), und beschäftigt mit Basteln und Handwerk, wo mir meine Mutter große Freiheiten<br />
gab, ihren Werkzeug- und Rohstoffbestand zu plündern. Ich fühlte mich auf dem<br />
Gymnasium in meiner Klasse nicht sehr wohl, weil ich dort Außenseiter war, und fand daher<br />
meine Welt eher im Inneren <strong>als</strong> im Äußeren. Glücklicherweise trieben mich meine Eltern zum<br />
Sport, unglücklicherweise auch zur Gitarre, was keine Leidenschaft wurde.<br />
Erst mit dem Übergang auf die Universität blühte ich sozusagen auch im Außen auf. Im Physikstudium<br />
fand ich ein Gegenüber in vielen geistreichen und fantasievollen Menschen. Ich<br />
arbeitete <strong>als</strong> Tutor mit jüngeren Studenten und in den Gremien der Hochschulpolitik mit.<br />
Mein Freund Wolfgang inspirierte mich zum Psychodrama, wo ich über zwölf Jahre lang an<br />
einer Selbsterfahrungsgruppe bei Elisabeth Kaiser teilnahm, der Pilch überredete mich zu<br />
Aikido, und Anna führte mich in die Welt der Körperarbeit und Bewegungskunst sowie zum<br />
Tanzen und zum Taketina. Ich fand zum Fahrtensegeln. Heute mache ich fast alle diese Dinge<br />
nicht mehr, aber dafür einiges andere. Es waren Teilnahmen an den Welten anderer und<br />
Reisen in die eigene Seele und Körperlichkeit. Erfahrung von Möglichkeiten und Grenzen. Ich<br />
bin auch vielen weniger Glücklichen begegnet, die eine persönliche Hypothek mit sich tragen<br />
und langsam abzahlen.<br />
Nach dem Physikstudium eierte ich eine Weile herum. Mich hatte zwar das Studium sehr<br />
interessiert, aber die Betriebsamkeit und „selbstgefällige Mittelmäßigkeit” des Forschungsbetriebes<br />
schreckten mich ab. Ich unterrichtete an Krankenpflegeschulen, übersetzte ein Physiklehrbuch<br />
und ließ mich dann doch zu einer Promotionsstelle breitschlagen. Es war dam<strong>als</strong><br />
für Physiker nicht einfach auf dem Arbeitsmarkt, schon gar nicht für solche, die nicht wussten,<br />
was sie wollen. Das Unterfangen brach ich nach einigen Monaten der Unzufriedenheit<br />
und mit schweren Akneschüben wieder ab und wandte mich nach einer Weile dann der Wirt-<br />
106
schaft zu. In einem Architekturbüro konnte ich <strong>als</strong> freier Mitarbeiter für Wärmedämmung<br />
während dieser Zeit die Finanzierung sichern. Ich hatte eine preiswerte Wohnung (!) sowie<br />
ein paar Ersparnisse und brauchte nicht viel. Während eines Aufbaustudiums war ich fasziniert<br />
von der Wirtschaftsinformatik (schuld war das „Agricola”-Projekt von Prof. Walter ...),<br />
schrieb darüber in einer Firma meine Diplomarbeit und blieb dann in dieser Firma gleich<br />
„hängen”.<br />
Im Nachhinein wird mir der Weg klarer: Das Physikstudium hatte ich gewählt, weil ich mich<br />
dort inhaltlich am wenigsten beschränken musste. <strong>Die</strong> Wirtschaftsinformatik hatte ich gewählt,<br />
weil ich das Gefühl hatte, dort in Bezug auf Wirtschaft das fortsetzen zu können, was<br />
mich im Physikstudium seinerzeit fasziniert hatte: <strong>Die</strong> Suche nach Strukturen, Modellen und<br />
Symmetrien. Wir haben alle etwas, was wir suchen.<br />
Das über die Jahrzehnte so geschaffene Gefühl der eigenen Fähigkeiten und Grenzen nennt<br />
man Selbstvertrauen. Es ist ein schwankendes Gebilde und abhängig vom Gebiet, auf das es<br />
bezogen wird. Während Demut eher später im Leben reift und man Kinder damit nicht zu<br />
früh belästigen darf, kann und muss man mit Selbstvertrauen in der ersten Minute des Lebens<br />
beginnen. Ich wünsche jedem Menschen, dass er wie ich die Möglichkeit hat, ohne<br />
massiven Druck von außen gefördert und inspiriert zu werden, ohne auf eine bestimmte Rolle<br />
oder Richtung festgelegt zu werden. Das richtet sich insbesondere an Eltern, die sich unkritisch<br />
„am Markt orientieren”. Es gibt den traurigen Witz eines Menschen, der einer Mutter<br />
oder einem Vater mit zwei Kindern begegnet und nach dem Alter fragt: „<strong>Die</strong> Juristin ist drei,<br />
und der Arzt wird fünf.” So erwirbt man kein Selbstvertrauen, so wird man zum Spiegelbild<br />
der elterlichen Eitelkeiten. Oder Ängste.<br />
Ein Klima des Wettbewerbs, in dem die Berufsorientierung im Kleinkindalter beginnt, ein<br />
dreigliedriges Schulsystem in erster Linie dem Aussieben dient, mit einem Federstreich dreizehn<br />
Jahre bis zum Abitur auf zwölf verdichtet werden, die Hürde „Assessment Center” den<br />
Zugang zu den Ausbildungen beschränkt und die Hochschulen ihre Aufgabe darin sehen, mit<br />
einem technokratischen und verdichteten Bachelor- und Master-System den Menschen auf<br />
den Markt zu dressieren, verhindert Demut, schwächt das Selbstvertrauen, nährt die Eitelkeit<br />
und schürt die Angst. In einem solchen System ist eine Selbstgestaltung gar nicht mehr<br />
möglich. Es ist nicht unsere Bestimmung, fremde Aufgaben zu erfüllen, sondern die eigene<br />
Aufgabe zu finden.<br />
6.3.3 Vernunft<br />
Das Wort Vernunft hat in unserer Gesellschaft der Ingenieure und Techniker nicht immer<br />
einen guten Klang, denn immer wieder wird damit Technikgläubigkeit, Produktivitätssteigerung<br />
und kühle Moderne verbunden und dem eine spirituelle, „natürliche” Welt der Erdverbundenheit<br />
und des Aberglaubens gegenübergestellt. Ich kann damit nicht viel anfangen,<br />
mit Technikgläubigkeit und Produktivitätssteigerung allerdings auch nicht.<br />
Wie ich eingangs formuliert habe, ist Vernunft die Fähigkeit, eine Situation unabhängig von<br />
den eigenen Befindlichkeiten (Interessen, Sehnsüchte, Ängste) zu betrachten. Es ist eine<br />
„nüchterne” Betrachtungsweise, und das Gegenteil von nüchtern ist nicht emotional, sondern<br />
benebelt. Emotionalität ist ein Gegenpol von Vernunft, ein integraler Teil des Ganzen, und<br />
Unvernunft ist die Abwesenheit von Vernunft. Vernunft ist ein aktives Sortieren und Strukturieren<br />
unserer Bilder von der äußeren Welt in unserem Gehirn, das mehr oder weniger bewusste<br />
Beiseiteräumen von Eitelkeit und Angst. Unvernunft ist ein aktives oder passives Belassen<br />
des geistigen Durcheinanders im Gehirn.<br />
Vernunft ist auch abhängig vom gesellschaftlichen Kontext, vom Zeithorizont, vom gemeinsamen<br />
Ziel. Es können Konflikte auftreten, wo jede Entscheidung vernünftig ist, aber keine<br />
optimal. So ist das Leben.<br />
107
Nun besitzt der Mensch nicht nur die Fähigkeit zur Vernunft, sondern auch zum Konstruktivismus:<br />
Er „baut” sich buchstäblich seine Welt. Unser Gehirn nimmt sich aus den realen Reizen<br />
dieser Welt und den inneren Bildern das, was es zu brauchen meint. <strong>Die</strong> Konstruktivisten<br />
(siehe Abschnitt Menschliche Vernunft) gehen sogar davon aus, dass das, was wir <strong>als</strong> reale<br />
Sinneseindrücke wahrnehmen, eine perfide Mischung aus äußerer Physik und innerem Bildervorrat<br />
ist, die wir gar nicht entmischen können. Mutmaßlich ist das eine „Strategie” des<br />
Gehirns zur Bewältigung von Komplexität. Da landet man gleich wieder bei der Demut ...<br />
Jedenfalls ist es für uns sehr schwer, selbst zu entscheiden, wo denn nun eigentlich der<br />
nüchterne Weg durch die Gehirnwindungen entlangführt. Wir produzieren uns auch unseren<br />
eigenen Nebel.<br />
Es gibt keinen Königsweg. Demut, Selbstvertrauen und Wissen stärken die Fähigkeit zur Vernunft.<br />
Eitelkeit, Angst und Unwissen schwächen sie. Der einzige Weg zur Vernunft besteht in<br />
der Verfestigung des „geistigen Baugrundes” und einer guten Übung in ihrem Gebrauch.<br />
Bei dieser Übung hilft es, andere miteinzubeziehen, die nach Möglichkeit einen freieren Blick<br />
haben <strong>als</strong> man selbst. Alle, die in psycho-sozialen Berufen arbeiten, wo das innere Erleben<br />
die Arbeit störend überlagern kann, kennen die Einrichtung der Supervision. Supervision ist<br />
eine Form der „begleiteten Reflexion” über Sachverhalte, Situationen, Verhalten. Man versucht<br />
dabei, das „Tappen im eigenen Nebel” zu vermeiden, Hinweise von außen zu erhalten<br />
und Lernerfolge durch Denken, Fühlen und Handeln zu erzielen. Es ist eine Form der Bildung.<br />
<strong>Die</strong> zwölf Jahre Psychodrama waren meine persönliche Supervision, später habe ich<br />
das noch bei anderen Therapeuten zu bestimmten Anlässen fortgesetzt. Es ist Humanismus<br />
in seiner schönsten Form :-)<br />
Wir sollten Demut, Selbstvertrauen und Vernunft fördern. Bei jungen Menschen und Erwachsenen.<br />
Solange wir nicht aufhören, uns Ersatzreligionen wie Geld, Erfolg und Ansehen zu<br />
schaffen, werden wir <strong>als</strong> Gesellschaft keine Heilung erhalten.<br />
Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren<br />
Sind Schlüssel aller Kreaturen<br />
Wenn die so singen, oder küssen,<br />
Mehr <strong>als</strong> die Tiefgelehrten wissen,<br />
Wenn sich die Welt ins freye Leben<br />
Und in die Welt wird zurück begeben,<br />
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten<br />
Zu ächter Klarheit wieder gatten,<br />
Und man in Mährchen und Gedichten<br />
Erkennt die wahren Weltgeschichten,<br />
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort<br />
Das ganze verkehrte Wesen fort.<br />
6.4 Verfall und Tod<br />
Novalis<br />
Verfall und Tod sind große Tabus unserer auf Eitelkeit und Angst basierenden Gesellschaft.<br />
<strong>Die</strong>se Erkenntnis ist weder neu noch originell. Dennoch sollten wir auch hier das Thema noch<br />
einmal wälzen. Und uns überlegen, wie wir dieser Quelle der Unzufriedenheit entkommen<br />
können.<br />
Das Thema ist deshalb maßgeblich, weil man in einer LowTech-Gesellschaft erheblich weniger<br />
Aufwand für die Medizin wird treiben können. Wir werden auf viele Errungenschaften der<br />
modernen Medizin nicht verzichten müssen. Aber insbesondere die Alterskrankheiten werden<br />
wir uns so nicht mehr leisten können. <strong>Die</strong> Lebenserwartung wird aller Erwartung nach sin-<br />
108
ken. Gleichzeitig wird die Gesellschaft insgesamt im Schnitt gesünder sein, das ist ein unvermeidlicher,<br />
scheinbar paradoxer Nebeneffekt, weil die Schwerkranken seltener werden,<br />
wenn sie früher und schneller sterben.<br />
Das Thema ist zu groß, um es hier ausführlich zu behandeln. Ansprechen sollten wir es, es<br />
wird ein wesentliches Hindernis im Diskussionsprozess um eine neue Gesellschaftsordnung<br />
werden. Vielleicht sogar das Hindernis. Erneut verweise ich für die Literatur auf Krämer<br />
1989. Er hat, wenn auch vielleicht mit ein wenig zu viel Verve (Eitelkeit?), das Thema ausgiebig<br />
behandelt.<br />
6.4.1 Gesundheit und Kosten<br />
Man kann Gesundheit <strong>als</strong> idealisiertes Ziel definieren, wie die Weltgesundheitsorganisation<br />
das macht, <strong>als</strong> imaginäre 100 %-Linie, die es zu erreichen gilt, die aber natürlich nie erreicht<br />
werden kann: „Ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens.”<br />
Damit sind wir alle krank, wie schon Walter Krämer richtig bemerkte. Jeder kleine<br />
Splitter im Fuß und jedes düstere Grübeln macht uns zum Patienten. Für die praktische Gesundheitsversorgung<br />
ist dieser Grundsatz fatal, denn er löst eine Welle der Anspruchsberechtigung<br />
aus. <strong>Die</strong> Unfinanzierbarkeit unseres Gesundheitssystems beruht auch auf dieser unrealistischen,<br />
maßlosen Vorstellung.<br />
Maßlosigkeit ist genau unser Thema, und deshalb sollten wir versuchen, andere Definitionen<br />
von Gesundheit zu finden. Verschiedene Denker und Autoren greifen auf eher praktische<br />
Konsequenzen zurück und definieren Gesundheit grob gesagt <strong>als</strong> Fähigkeit, selbstbestimmt<br />
zu handeln. Aber was ist selbstbestimmt? Walter Krämer diskutiert das Thema in aller Breite,<br />
um letztlich zu dem Schluss zu kommen: Es ist nicht definierbar. Er sieht das Wort „krank”<br />
vor allem <strong>als</strong> „Waffe im sozialpolitischen Verteilungskampf” und schlägt vor, es für die Zwecke<br />
der Sozialpolitik durch einen „politischen Begriff” zu ersetzen, nämlich „anspruchsberechtigt”<br />
(Krämer 1989 S. 190). Ansprüche könne man gewähren oder verweigern und habe damit<br />
die moralische Dimension stark zurückgedrängt. Dem kann ich mich nur anschließen. Es<br />
gibt noch viele andere Begriffe, die mehr vernebeln <strong>als</strong> erhellen.<br />
Ich habe eine schwere Krankheit über einen längeren Zeitraum weder selbst erlebt noch in<br />
meinem persönlichen Umfeld begleitet, fühle mich <strong>als</strong>o nicht berufen, in epischer Breite über<br />
dieses Thema zu schreiben. Das einzige, was ich dazu sagen kann, ist: Wir werden es nicht<br />
los. Was wir auch anstellen werden, wir werden Krankheit und Tod nicht besiegen, und es<br />
kann auch nicht in unserem Interesse liegen, dies zu tun. Der Tod ist nichts Schlimmes. Wer<br />
Maßlosigkeit sät, wird Enttäuschung ernten. Auch heute stecken wir nicht all unser Geld ins<br />
Gesundheitssystem, sondern nur einen Teil, der sich aber beispielsweise in den Niederlanden<br />
auf immerhin bis zu 280.000 EUR pro Menschenleben summiert (Gesamtkostenerwartung für<br />
einen im Jahre 2003 20-jährigen, schlanken Nichtraucher, Preise von 2003, plosmedicine.org<br />
2008). Prävention hiflt übrigens nur für die Zufriedenheit, nicht bei der Kostensenkung: Gesund<br />
lebende Menschen verursachen die höchsten Gesamtkosten, weil sie am ältesten werden<br />
und im Alter die höchsten Krankheitskosten anfallen. <strong>Die</strong> gesamtwirtschaftliche Rechnung<br />
mag noch mal anders aussehen, aber von Prävention sollte sich bitte keiner zuviel erhoffen.<br />
280.000 EUR. Das ist nicht schlecht, oder? In diesem Betrag ist alles drin: Krankenkassenbeiträge,<br />
Steuergelder für Krankenhäuser und Rettungsdienste usw. <strong>Die</strong> meisten Menschen zahlen<br />
ein Sechstel ihres Gehaltes an Krankenkassenbeitrag. Ein Sechstel! Haben Sie wirklich<br />
das Gefühl, dafür eine angemessene Gegenleistung, gemessen in Lebenszufriedenheit, zu<br />
erhalten?<br />
Angenommen, Sie könnten sich entscheiden, fünf Jahre früher zu sterben und sich dafür –<br />
sagen wir – ein Drittel dieses Beitrages auszahlen zu lassen. Sie hätten die Möglichkeit, ein<br />
viel besseres Leben zu führen. Das Dumme ist nur: <strong>Die</strong> Zukunft ist ungewiss. Wir nehmen<br />
109
nicht allein an der Lotterie teil, sondern nur <strong>als</strong> statistische Gesamtheit. Durch eine gesellschaftliche<br />
Entscheidung für weniger Gesundheitsausgaben wird kein konkreter Mensch zu<br />
Krankheit und Tod verurteilt, sondern die Sterbewahrscheinlichkeit erhöht sich. Vielleicht<br />
können Sie die gut 90.000 EUR genüsslich bis zum 90. Lebensjahr verjubeln. Oder dafür weniger<br />
arbeiten. Vielleicht leiden Sie aber ab 48 Jahren an einer Krankheit, die anderenfalls<br />
noch behandelt worden wäre, gegen die aber nun keine Medikamente mehr hergestellt werden<br />
oder die wenigen Therapieplätze aufgegeben wurden. Oder sterben mit 0 Jahren während<br />
einer komplizierten Geburt. Für mich ist die Antwort dennoch klar: Ich wäre sofort dabei.<br />
Ich fände das vernünftig.<br />
Ich würde auch einer Verringerung meines Krankenkassenbeitrages zustimmen, wenn ich<br />
dafür auf die Rettung per Hubschrauber verzichten müsste. Leichter würde es mir fallen,<br />
wenn ich wüsste, dass alle darauf verzichten. Ganz würde ich allerdings nicht auf die Krankenversicherung<br />
verzichten wollen, selbst wenn ich dann den ganzen Beitrag verjubeln könnte<br />
– das wäre es mir nicht wert.<br />
Bitte denken Sie nicht, nur weil heute so viel Geld für Gesundheit ausgegeben wird, würde<br />
alles finanziert, was gesundheitlich notwendig ist. Das ist prinzipiell unmöglich, denn man<br />
kann immer noch mehr machen. Es wurde schon immer und wird auch heute rationiert, d. h.<br />
medizinisch sinnvolle Leistungen unterbleiben, obwohl sie möglich wären. Man spricht nur<br />
nicht gern darüber, weil es ethisch bedenklich ist. In diese ethische Zwickmühle treiben wir<br />
selbst unsere Medizinerinnen und Mediziner, weil unser gemeinsamer Anspruch auf „Alles” zu<br />
hoch ist. Alles geht nie, und wer es verspricht, lügt. Und deshalb bleiben Therapiemöglichkeiten<br />
unerwähnt oder werden <strong>als</strong> „medizinisch nicht sinnvoll” bezeichnet. Das ist auch nicht<br />
schlimm, denn häufig würden alle bei vernünftiger Betrachtung dem zustimmen. Auch der<br />
Kranke. Das Bild des zufrieden Entschlafenen ist keine Erfindung der Bestattungsindustrie,<br />
sondern eine Lebenserfahrung.<br />
6.4.2 Verfall<br />
Das eigentliche Hindernis bei der ganzen Geschichte ist nach wie vor unsere Haltung zu<br />
Krankheit, Alter, Sterben und Tod, kurz: Zum Verfall. Verfall ist nicht so lustig wie Aufbau,<br />
Jugend, Saft und Kraft. Es schränkt die Möglichkeiten ein, es macht weniger Freude, es<br />
macht einsam. Es ist das Gegenteil von Bestätigung, es ist eine Zurückweisung. Man nennt<br />
es auch Kränkung.<br />
Menschen, die Demut, Selbstvertrauen und Vernunft besitzen, sind weniger anfällig dafür.<br />
Und denen, die nicht so viel davon haben, müssen wir mehr beistehen. Dafür brauchen wir<br />
weniger Geld <strong>als</strong> Zeit und Muße. Wir benötigen dafür eine weniger geschäftige, regionalere<br />
und kleinere Wirtschaft. Durch die Arbeitsteilung mit dem medizinischen Personal haben wir<br />
die Pflege erfolgreich ausgelagert, aber durch Reduktion auf das Wesentliche verliert sie viel<br />
vom Eigentlichen. Das medizinische Personal kann dafür wenig, auch wenn die eine oder<br />
andere Gedankenlosigkeit bereits heute zu vermeiden wäre. Aber es steht unter dem gleichen<br />
oder sogar noch höheren wirtschaftlichen Druck wie Sie. Denen macht das auch keinen<br />
Spaß. Verbünden wir uns <strong>als</strong>o mit den medizinischen Berufen, indem wir den Gesundheitsbereich<br />
finanziell verkleinern, aber menschlich gesehen vergrößern. Viel weniger Technik und<br />
Medikamente, dafür in Maßen mehr Personal.<br />
Wir sollten stärker unterscheiden zwischen Krankheiten oder Defekten, die uns den größten<br />
Teil des Lebens plagen, und solchen, die unser Ende begleiten. Nur erstere sollte man angehen,<br />
und das dürfte vergleichsweise preiswert zu haben sein. Es geht um schnellere Tode<br />
statt langer Pflege. Mehr Leben und weniger Sterben.<br />
6.4.3 Tod<br />
Am Ende steht der Tod.<br />
110
Als Kind habe ich mich vor dem Tod gefürchtet. Es war mir so unvorstellbar, was danach<br />
kommen sollte. Ich suchte nach Bildern.<br />
Mittlerweile gehe ich mit dem Thema ganz entspannt um. Ich denke oft daran. Manchmal<br />
stelle ich mir vor, wie meine letzten Lebensminuten aussehen könnten. Wie fast alle Menschen<br />
wünsche ich mir, dabei nicht allein zu sein. Aber es ängstigt mich nicht. Mich ängstigt<br />
auch nicht der Gedanke, dass es übermorgen sein könnte. Es ist mir egal, denn ich versäume<br />
dadurch nichts. Ich bin meine Angst vor dem Tod losgeworden durch folgende Vorstellungen:<br />
• Eine hohe Lebenserwartung ist kein Wert an sich. Wertvoll ist nur das im Moment gelebte<br />
Leben, dafür ist es grundsätzlich egal, wie lange es währt.<br />
• Der Vorgang des Sterbens wird mehr oder weniger sein wie Einschlafen. Hoffe ich.<br />
Spielt aber auch nicht so die große Rolle, denn es wird ein kurzer Zeitraum meines<br />
Lebens sein. Bisher hat es noch jeder überstanden.<br />
• Da ich nicht an ein Leben nach dem Tod glaube, bin ich mir sicher, dass ich von alldem<br />
nichts mehr mitbekommen werde. Ich stelle mir vor, es wird mir schwarz vor<br />
Augen werden, aber die Schwärze wird sich schnell in ein Nichts auflösen. Ich sitze<br />
danach nicht in einem dunklen Verlies und nehme wahr, wie das Leben weiterströmt<br />
und ich nicht dran teilhaben kann. Ich brauche auch nicht den großen Plänen nachzutrauern,<br />
die ich nicht mehr verwirklichen kann. Ich werde einfach nicht mehr sein, so<br />
wie ich vor meiner Geburt noch nicht war.<br />
Zugegeben: Als warmer, denkender Mensch ist dieser Zustand schwer vorstellbar.<br />
Aber im Schlaf bekomme ich auch nicht viel mit. Vielleicht schlafen wir nur, um täglich<br />
einmal sterben zu können?<br />
Mein Verhältnis zum Tod entspricht dem des griechischen Philosophen Epikur. <strong>Die</strong>se Gedanken<br />
möchte ich niemandem aufdrängen, sondern nur ein Beispiel geben, wie man auch damit<br />
umgehen kann. Und weil niemand weiß, was kommt, kann ich mir auch nicht sicher sein,<br />
dass ich diese Entspanntheit bis zum Ende durchhalte. Ich bin aber fest entschlossen, mir<br />
das aktive Leben auch in den letzten Jahren und Tagen nicht durch die Gedanken vergällen<br />
zu lassen. Krankheiten und Gebrechen sind das eine, das wird mühsam genug werden. Soll<br />
ich mir aber auch noch den Geist damit verdüstern? Wenn ich jetzt zufrieden bin, kann ich<br />
auch akzeptieren, dass der Tod neben mir steht. Oder neben meinem Kind.<br />
Ehrlich gesagt, die Vorstellung, unsterblich zu sein, finde ich wirklich schauerlich. Das ganze<br />
Theater auf ewig mitmachen? Immer alles verschieben können? Haben Sie schon einmal<br />
überlegt, dass erst Knappheit und Mühe den Dingen ihren Wert geben? Mit dem Leben ist es<br />
auch so. Nur die Aussicht – und ich meine das wörtlich – auf ein Ende gibt mir Energie, all<br />
diese Dinge voranzutreiben, und ich freue mich daran. Wer glaubt, in den letzten fünf Lebensjahren<br />
etwas Wesentliches zu versäumen, der hat möglicherweise in all den Jahren davor<br />
etwas Wesentliches versäumt.<br />
Und ich behalte mir selbstverständlich das Recht vor, im Zweifel selbst den Schierlingsbecher<br />
zu erheben und zu sagen: „Das war's. Ich danke Euch.” Der Freitod ist ein Menschenrecht.<br />
Wir haben nicht das Recht, einem Menschen diesen Schritt zu verweigern oder zu erschweren.<br />
Niemand kann gezwungen werden, dazu beizutragen, das ist ebenso klar. Aber es gibt<br />
ein Recht auf Beistand. Dass Deutsche mühsam in die Schweiz reisen müssen, um dieses<br />
Recht in Anspruch zu nehmen, finde ich entwürdigend.<br />
6.5 Was macht uns zufrieden?<br />
Der Sinn des Lebens? Geboren werden, ein Leben in größtmöglicher Zufriedenheit bei möglichst<br />
wenig Unfug – und ein Abgang. Das ist alles. Ich zumindest kann damit gut leben, und<br />
es schränkt meine Lebensfreude nicht ein. Schon gar nicht der Abgang, aber der war ja ein<br />
111
eigenes Kapitel wert. Man kann das, was nun folgt, <strong>als</strong> nostalgisches Geheule eines Romantikers<br />
verunglimpfen. Man kann es aber auch die Suche nach Lebensqualität nennen.<br />
<strong>Die</strong> genannten Prinzipien ergeben möglicherweise die „4. Kränkung der Menschheit”: Zurückweisung<br />
in die natürlichen Schranken, Feststellung der Unvollkommenheit des handelnden<br />
Menschen, der sich vor sich selbst schützen und selbst beschränken muss. Und demzufolge<br />
ist die Aufgabe, die vor uns liegt, in erster Linie eine große Psychotherapie. Ich meine<br />
das auch ganz praktisch: Es geht um den sogenannten Bewusstseinswandel. Wir sollen in<br />
kurzer Zeit vieles genau anders herum machen <strong>als</strong> in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten.<br />
Das wird nicht ganz einfach sein und viele benötigen, die tapfer vorangehen, während<br />
der Nachbar noch weiter schlemmt und rülpst.<br />
Das Bild vom Menschen <strong>als</strong> Krone der Schöpfung, welches wir selbst durch unser Handeln <strong>als</strong><br />
Karikatur entlarvt haben, stürzt vom eitel errichteten Sockel und hinterlässt uns im wahrsten<br />
Sinne des Wortes in Bestürzung. Für Kleinmut ist dennoch kein Anlass: Über den Humanismus<br />
haben wir die Möglichkeit, wieder ein menschlicheres Bild unserer selbst zu etablieren,<br />
in einer Welt mit menschlichen Dimensionen, einigermaßen im Gleichgewicht mit der Umgebung.<br />
Eigentlich möchten wir eins sein mit der Natur. Das ist die conditio humana.<br />
Gedankenexperiment: Man lasse einen „ganz normalen” modernen Menschen vom Himmel<br />
herab in eine gebildete, tolerante, aber agrarisch und handwerklich lebende Gesellschaft<br />
fallen. Würde dieser Mensch an Depressionen eingehen, weil er all die Nettigkeiten der Vergangenheit<br />
nicht mehr hat? Nein, würde er nicht. Er würde sich anpassen und mitmachen<br />
und wäre möglicherweise glücklicher <strong>als</strong> vorher. Können Sie sich das auch umgekehrt vorstellen?<br />
Es ist hauptsächlich unser Umfeld, welches uns an der Selbstverwirklichung hindert,<br />
und wir wiederum hindern unser Umfeld, indem wir mitmachen.<br />
Zufriedenheit ist die Übereinstimmung von Soll und Ist. Man kann versuchen, das Ist zu steigern<br />
oder das Soll zu senken. Für beides gibt es historische Beispiele: „<strong>Die</strong> alte Zeit der einfachen<br />
Bedürfnisse ist keine nostalgische Legende. <strong>Die</strong> Einsicht, dass die Zufriedenheit mit<br />
dem, was man hat und was man ist, das sicherste Glück beschert, war nicht nur eine alte,<br />
von Buddha bis zu Schopenhauer reichende Philosophenweisheit, sondern auch eine Alltagsweisheit<br />
der kleinen Leute.” (Joachim Radkau in Seidl/Zahrnt 2010, S. 39)<br />
Aus der guten, alten Zeit können wir eine Menge Anregungen erhalten, denn die besaßen<br />
das Nachhaltigkeitsprinzip, wenn man mal von den wenigen Ressourcen absieht, die sie<br />
wirklich dauerhaft entnommen haben. Ein großer Teil des damaligen Unglücks hatte seine<br />
Ursache in Ungleichverteilung, Kriegen und Unwissen, z. B. dem Fehlen elementarer medizinischer<br />
oder hygienischer Kenntnisse. Für ein einfacheres Leben brauchen wir heute nicht<br />
mehr in lichtlosen, verräucherten Katen zu sitzen. Da sind wir schon viel weiter.<br />
6.5.1 Grundbedürfnisse<br />
<strong>Die</strong> Allgemeine Erklärung der Menschenrechte kann <strong>als</strong> Indikator für die Grundbedürfnisse<br />
des Menschen dienen (Artikel 25):<br />
„Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit<br />
und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche<br />
Versorgung und notwendige soziale Leistungen gewährleistet sowie das Recht<br />
auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im<br />
Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete<br />
Umstände.”<br />
<strong>Die</strong> Frage ist: Wie sieht eine Gesellschaft aus, die diese Grundbedürfnisse auf möglichst einfache<br />
Weise sicherstellt? Welche Berufe muss sie haben? <strong>Die</strong> Antwort ist einfach, sie ist seit<br />
Jahrhunderten im Grunde die gleiche:<br />
• Landwirtschaft<br />
112
• Handwerk<br />
• Soziale und medizinische Berufe<br />
Kurz: Etwas zu erschaffen, zu erhalten und sozial zu sein, für das eigene Überleben und das<br />
Überleben der Gemeinschaft.<br />
6.5.2 Humanismus der Arbeit<br />
Derzeit lautet das Credo der Wachstumsgläubigen: Man darf nie nachlassen und mit dem<br />
Erreichten nie zufrieden sein, sonst fällt man gegen die Konkurrenz zurück. „Wer aufhört,<br />
besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein!” Das ist die absolute Perversion eines zutiefst<br />
menschlichen Zieles: Mit guter Arbeit Zufriedenheit zu erreichen. Aber warum kann denn<br />
Arbeit eigentlich zufrieden machen?<br />
• Sie erzeugt Unabhängigkeit.<br />
• Sie schafft über Kommunikation und wirtschaftlichen Austausch eine soziale Bindung<br />
und Sinn.<br />
• Sie ist Teil unseres Wechselspiels von Spannung und Entspannung. Auch deshalb ist<br />
das Beenden von Projekten so wichtig und die „ewige Unbeendetheit“ der Wachstumsideologie<br />
so schädlich.<br />
• Sie schafft Erfolgserlebnisse und damit Selbstvertrauen.<br />
• Sie gibt unseren Tagen und unserem Leben Struktur.<br />
Zu allen Zeiten der Welt hat er und bis ans Ende aller Tage wird der Mensch so viel arbeiten,<br />
dass er zufrieden ist. Das ist meines Erachtens praktisch eine Tautologie, <strong>als</strong>o ein Satz, der<br />
immer wahr ist, zumindest für einen Menschen, der Demut und Vernunft besitzt. Wir müssen<br />
in erster Linie unsere Grundbedürfnisse befriedigen. Aber kann denn der Mensch überhaupt<br />
der „Fron” entrinnen? Oder wird er nicht eher immer einen Teil des Lebens <strong>als</strong> lästig oder<br />
schwer oder unangenehm empfinden? Wonach suchen wir denn, wenn wir die Produktivität<br />
steigern? Offen gesagt, wir suchen Vielfältigkeit. Wenn man täglich zwölf Stunden ackern<br />
muss (im wahrsten Sinne des Wortes), ist das Leben weniger reich <strong>als</strong> wenn man nur sechs<br />
Stunden ackern muss und statt dessen auch noch andere schöne Dinge tun kann.<br />
6.5.3 Kultur und Produktivität<br />
Andere schöne Dinge. Fernsehen zum Beispiel? Oder Facebook ...? Das hängt von ihrer Bildung<br />
ab, und damit meine ich nicht ihren Schulabschluss, sondern ihre Qualitäten <strong>als</strong> ganzheitlicher<br />
Mensch. Mich langweilt Fernsehen, Facebook kenne ich gar nicht. Mich interessieren<br />
derzeit Kochen und meine eigene Konservenproduktion, ich lerne seit drei Jahren mühsam<br />
und mit Unterbrechungen Polnisch, ich gehe Rudern und ins Fitness-Studio, weil ich<br />
einen schwachen Rücken habe. Ich fahre mit dem Fahrrad auch die weitesten Strecken in<br />
Berlin. Manchmal gehen meine Frau und ich ins Kino oder ins Theater oder in eine Ausstellung.<br />
Ich treffe selten Freunde, zuwenig Zeit ;-)<br />
Worin besteht der Unterschied zu Fernsehen und Facebook?<br />
• Ich habe an diesen „produktivitätssteigernden, fremdbestimmten Kulturtechniken”<br />
kein Interesse, weil sie mich dem Eigentlichen entfremden. Sie sind Ersatz für das<br />
Echte. Das Fernsehen liefert mir nur vorgefertigte Bilder von der Welt. Facebook sind<br />
nicht meine Freunde, sondern nur Bilder davon. Radio hingegen ermuntert mich, eigene<br />
Bilder zu produzieren. Deutschlandfunk und Deutschlandradio gehören zu den<br />
wenigen Sendern, die noch Material dafür liefern.<br />
• <strong>Die</strong> meiste moderne Technik ist hässlich. Viel Kunststoff, unehrliches Material, furniert<br />
und verblendet. Dahinter alles nicht zuende gebracht. Es gibt Ausnahmen, die sind<br />
aber teuer. Je einfacher, desto teurer ... Und alles ist gleich. Absolut identisch. Wie<br />
uninteressant. Eine optische Monokultur.<br />
113
• Ich habe wenig Interesse an Bequemlichkeit. Etwas unbequemer ist oft wirtschaftlicher<br />
und interessanter, mundgerecht meistens zu teuer und banal. Wer unbequem<br />
lebt, kann Geld sparen und Zufriedenheit ernten.<br />
• Ich mag das Denken. Körperliche Passivität lähmt auch den Geist. Meistens sitzen Sie<br />
vor dem Fernseher. Ihr Kopf sitzt mit, allen bunten Bildern zum Trotz. Bitte vergessen<br />
Sie nicht: Ihr Gehirn schwimmt nicht in einem Reagenzglas, sondern in ihrem Körper.<br />
Ihr Körper ist Teil ihres Denkens, und umgekehrt. Geistige Aktivität und körperliche<br />
Aktivität gehen Hand in Hand. Alles nicht neu.<br />
• Ich schätze Sinnlichkeit. Wann haben Sie das letzte Mal Ihre Hand in sonnenwarme<br />
Ackererde versenkt? Den Geruch von frischgeschnittenem Holz geatmet? Das Knarren<br />
einer Holztreppe gehört? Auf Facebook? Ich denke nicht. Wir entkörperlichen unsere<br />
Welt. Manche machen <strong>als</strong> Ersatz Drachenfliegen oder Tauchen in Ägypten. Oder<br />
Fahrtensegeln. Aber es geht auch einfacher: Auf dem Fahrrad haben Sie Wind, Wetter<br />
und körperliche Betätigung. Keine Grenze zwischen Ihnen und dem Regen. Was<br />
ist denn daran schlimm? Kaufen Sie sich einen anständigen Regenumhang, und los<br />
geht's.<br />
• Ich liebe Unabhängigkeit. Das gibt mir Selbstvertrauen. Kann sogar Geld sparen, das<br />
bedeutet noch mehr Unabhängigkeit. Je weniger Geld Sie brauchen, desto mehr<br />
Selbstvertrauen können Sie erwerben. Viel Geld kann jeder.<br />
• Selbst machen stärkt die Vernunft. Sie können hinter die Dinge schauen und sich ein<br />
eigenes Urteil bilden. Sie erwerben Wissen. Reparieren bildet und spart Geld. Moderne<br />
Technik kann man immer schwieriger selbst reparieren. Wann haben Sie das letzte<br />
Mal Ihren Computer repariert? Eben.<br />
Wir haben auch deshalb keine Kultur des gewerblichen Verleihens mehr, weil viele<br />
mit vielen Dingen nicht richtig umgehen können. Ausleihen spart Ressourcen und bereichert<br />
die eigene Welt für einen Moment. Oft reicht das völlig.<br />
Ich bin ein Verfechter der „Selbstdurchführung elementarer Kulturtechniken”. Ich mag es<br />
nicht, wenn mir banale Dinge vorgekaut serviert werden, wo es mir ohne weiteres möglich<br />
ist, mit wenig Aufwand durch eigenes Denken und Handeln ein gutes Ergebnis zu erreichen.<br />
Ich habe solche Diskussionen immer wieder mit meinen Segelfreunden: Wenn Navigation<br />
das tägliche Brot des Seglers ist, dann ist das elektronische Navigationssystem GPS im Vergleich<br />
die Tiefkühlpizza - billig, bequem, macht satt. Kann man machen. Ich aber sehe nicht<br />
den Gewinn, sondern den Verlust. Das können Sie anders sehen. Unabhängigkeit ist ein tiefes<br />
inneres Bedürfnis, ein Überlebenstrieb. Wer sich von anderen abhängig macht, stirbt,<br />
wenn diese nicht mehr da sind. Das ist zum Glück heute nicht mehr ganz so, aber das Bedürfnis<br />
bleibt.<br />
Und ich mache durchaus Unterschiede: Das tägliche Kochen gehört für mich zu den elementaren<br />
Kulturtechniken, weil es ein elementares Bedürfnis befriedigt und dabei einfach ist.<br />
Sich eine Hose zu nähen oder ein Möbel zu bauen, erfordert viel mehr Spezialwissen und<br />
spezielles Handwerkszeug. Hier finde ich eine Arbeitsteilung mit anderen Handwerkern naheliegend,<br />
zumal dadurch ganz neue Kulturbereiche geschaffen werden. Meine Schneiderin<br />
wirkt zufrieden. Aber das tägliche Kochen, Stadtplan lesen an andere abgeben? Welchen<br />
Kulturbeitrag leistet GPS? Ich finde: Keinen. Es ist ein reines Instrument zur Produktivitätssteigerung<br />
und Rationalisierung. Total langweilig.<br />
Unser Kopf ist letztlich auch in dieser Hinsicht ein Spiegelbild der Welt: <strong>Die</strong> Mischung<br />
macht's. Sobald Sie Monokultur haben, wird es schwierig. Ein lebendiges Dorf oder ein<br />
Stadtkiez sind interesssant, weil die Mischung stimmt. Eine Hochhaussiedlung hat zu wenig<br />
Mischung, und auch deshalb kracht es dauernd, beispielsweise in den Vorstädten von Paris.<br />
So ein Umfeld macht aggressiv und traurig. Eine vielfältige Arbeit ist interessanter <strong>als</strong> ein<br />
monotoner Job. Mischen, nicht Entmischen. Im Kopf, in der Arbeit, in der Welt.<br />
114
6.5.4 Ein Lob des Handwerks<br />
Lieber weniger und teurer, dafür besser: Handwerk gehört zum Weltkulturerbe. Wir verlieren<br />
es, wenn es nur noch unter wirtschaftlichen Aspekten betrachtet wird, nicht mehr unter kulturellen.<br />
Ganz früher war das Wissen breit, nicht tief. Im Zuge der fortschreitenden Arbeitsteilung<br />
wurde das Wissen tiefer, blieb aber in der Breite der Bevölkerung verankert. Heute<br />
verflacht das Wissen wieder, und nur noch wenige Spezialisten horten es in Firmen. Das<br />
handwerkliche Wissen geht verloren. <strong>Die</strong> Kreativität im Beruf wird von der Breite weg auf<br />
Maschinen verlagert und auf diejenigen, die diese Maschinen erstellen und programmieren,<br />
sowie auf die Berufe der „Symbolanalytiker”. Für die „einfachen” Berufe bleiben nur noch<br />
mechanische Wiederholungen.<br />
Im traditionellen Handwerk lohnt es sich nicht, billige Materialien zu verarbeiten, weil der<br />
Materialanteil des Endproduktes geringer und der Lohnanteil höher ist. Es kostet nicht viel<br />
mehr, anständiges Material zu verwenden und sich und anderen damit Freude zu bereiten.<br />
Handwerk ist regionaler Umsatz. Sie bereichern im wahrsten Sinne die Region, wenn Sie<br />
regionale Handwerker beauftragen.<br />
Peter hat sich vor einiger Zeit einen neuen Dachstuhl auf sein Haus setzen lassen, anstelle<br />
des maroden alten. Meine Frau und ich waren erschüttert, <strong>als</strong> wir es gesehen haben. Und<br />
Peter hat uns erzählt, wie es abgelaufen ist:<br />
• Der Zimmermann kam mit einem Notebook, und Peter konnte zwischen verschiedenen<br />
Gaubenvarianten wählen.<br />
• Ein Aufmaß wurde gemacht.<br />
• Der Zimmermann verschwand und kam nach einigen Wochen mit einem großen<br />
Lastwagen wieder. Auf diesem lagen alle notwendigen Hölzer, computergesteuert fertig<br />
zugeschnitten.<br />
• In kürzester Zeit wurde der neue Dachstuhl aufgebaut. Aber wie: Statt traditioneller<br />
Holzverbindungen nur noch mit Blechen gelascht. Überall Spaxschrauben hineingebohrt.<br />
Gehrungen etwas schief und überstehend. Vieles nicht so richtig proportioniert.<br />
<strong>Die</strong> Handwerker haben sicherlich in ihrem Sinne gute Arbeit gemacht. Der Dachstuhl ist<br />
preiswert, stabil und erfüllt seinen Zweck. Er ist zweckmäßig. Es ist ein Tiefkühlpizza-<br />
Dachstuhl.<br />
Wie zufrieden können die einzelnen Beteiligten mit dieser Arbeit wirklich sein?<br />
• <strong>Die</strong> Arbeiter im Sägewerk, die weder Peter noch das Haus jem<strong>als</strong> gesehen haben,<br />
sondern höchst effizient Balken für Balken sägen. Tagein, tagaus. Immer nur sägen.<br />
Nie sehen, wofür und für wen. Monotone Arbeit.<br />
• <strong>Die</strong> Zimmerleute, die ihn aufgebaut haben. Den Zeitdruck im Nacken, denn Zeit ist<br />
Geld. <strong>Die</strong> den Charakter des schönen Materi<strong>als</strong> nicht achten können, sondern die<br />
Spax-Schraube quer hindurch jagen. Für Überstände und saubere Abschlüsse ist kein<br />
Budget vorhanden.<br />
• Alle, die die Arbeit jetzt anschauen müssen. Nichts wirklich Schlimmes. Bisschen billig<br />
halt. Wirklich nichts Schlimmes? Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, aber ich spüre<br />
hier geradezu körperlich einen herben Verlust. Für mich ist es etwas Schlimmes. Ästhetik<br />
ist wichtig!<br />
Produktivitätssteigerung durch Arbeitsteilung ist dort gerechtfertigt, wo neue Kulturbereiche<br />
erschlossen werden, wo die Beschäftigung mit der Natur oder mit dem Menschen tiefere und<br />
bessere Erkenntnisse ermöglicht. Sie ist dort nicht gerechtfertigt, wo das Wissen des Einzelnen<br />
zu stark beschnitten wird und der Blick für Anfang und Ende oder die beteiligten Menschen<br />
verloren geht. Der Einzelne darf nie Objekt werden, er muss immer Subjekt bleiben.<br />
Und: Schöne Dinge haben eine Seele, zumindest für uns Menschen. Das Leben wird durch<br />
115
schöne Dinge reicher. Durch unser Handeln sind wir in der Lage, Dinge für uns zu beseelen –<br />
oder auch nicht.<br />
6.5.5 Romantische Bilder untersuchen<br />
Es lohnt sich, die Anziehungskraft „romantischer Bilder” nicht abzutun, sondern genauer zu<br />
untersuchen: Was ist es, was uns da anzieht? <strong>Die</strong> Sehnsucht nach dem Ursprünglichen: das<br />
kleine Bergdorf, die Cantina, die Folklore, die Natur, Handarbeit und Antiquitäten, ... Was<br />
reizt uns an diesen Bildern?<br />
• Wir lieben Umständlichkeit und Langsamkeit, weil wir instinktiv spüren, dass das der<br />
wahre Luxus ist: „Verschwendung” von Zeit.<br />
• Wir schätzen ehrliches Material und ehrliche Arbeit.<br />
• In kleinen Orten spüren wir noch die Ganzheit der Wirtschaft mit ihren Verflechtungen.<br />
Lokale Berufe bedeuten soziale Kontakte – und soziale Kontrolle.<br />
• Wir möchten eigentlich Eins sein mit der Natur.<br />
Zum Thema „Soziale Kontrolle”: Zu Recht frösteln wir aber, wenn wir an die geistige Enge<br />
von kleinen Orten heute und noch mehr früher denken. Und das ist, denke ich, eine spannende<br />
gesellschaftliche Aufgabe: Wie kann man diese geistige Enge vermeiden? Wie können<br />
sich Geist und Bildung auch in kleinem Rahmen freisetzen? Soziale Kontrolle ist auch etwas<br />
Gutes, sie ist ein Teil der notwendigen, persönlichen Supervision, erfordert aber geistreiche<br />
Partner.<br />
6.5.6 Künste mit dem Körper<br />
Was kann man noch machen, wenn man die Persönlichkeitsentwicklung von der wirtschaftlichen<br />
Entwicklung ein Stück weit entkoppeln möchte? Wird eine Wirtschaft, die auf LowTech<br />
und Regionalität setzt, nicht todlangweilig? Wie soll man denn daran wachsen?<br />
Alles, was einseitig ist, wird todlangweilig. Und für persönliches Wachstum gibt es kaum eine<br />
Grenze, wenn man sich auf sich selbst besinnt und die genialen Möglichkeiten des Gehirns<br />
und des Körpers selbst in Rechnung stellt, insbesondere im Zusammenspiel mit anderen. <strong>Die</strong><br />
„Künste mit dem Körper” jenseits des Leistungssportes sind in unserer westlichen Kultur<br />
noch sehr entwicklungsfähig. Es gibt kaum etwas, was zufriedener macht, <strong>als</strong> die eigenen<br />
körperlichen Fähigkeiten zu entwickeln, und zwar jene, die nicht hauptsächlich mit Kraft,<br />
Schnelligkeit und Wettbewerb zu tun haben, sondern mit Sensibilität, Entspannung, Tiefe,<br />
Geschmeidigkeit – und Kooperation. Es gibt interessantere Dinge, <strong>als</strong> besser zu sein <strong>als</strong> andere.<br />
Einige Anregungen, bereits bekannte und weniger bekannte:<br />
• Alle Bereiche der Instrumentalmusik<br />
• Musik ohne Instrumente: Klassischer Gesang und Chor, A capella, Jodeln, Obertonsingen,<br />
Vocal Percussion<br />
• Tanz, Taketina<br />
• Kampfkünste<br />
• Bewegungskünste<br />
6.6 Systemumbau<br />
Ich habe <strong>als</strong> Softwareentwickler noch etwas Wichtiges gelernt: Nichts bleibt stehen. Insbesondere<br />
betriebswirtschaftliche Software nicht. Abläufe ändern sich, vor allem im Bereich der<br />
Zeitarbeit praktisch jährlich. Was im IT-Bereich dann aus Zeit- und Geldmangel meistens<br />
passiert, ist folgendes: Man baut an. Wie bei einem zu klein gewordenen Haus. Es werden<br />
Anbauten, Garagen, Balkone, Terrassen, Unterführungen, Abstützungen und vieles mehr<br />
116
hinzugefügt. Alles erfüllt seinen Zweck. Vieles ist ein bisschen schief. Man kommt in die Garage<br />
nur durchs Badezimmer. Und irgendwann werden sogar weitere Anbauten schwierig.<br />
<strong>Die</strong> Struktur ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Was tun? Hinsetzen und neu machen? Bezahlt<br />
keiner. Also weiterwurschteln. Bis es nicht mehr weitergeht. Es treten immer mehr<br />
Probleme auf, je mehr man programmiert.<br />
Erkennen Sie unsere Gesetze und Verordnungen wieder?<br />
<strong>Die</strong> Lösung heißt: Ständiger Umbau im Kleinen. <strong>Die</strong> Softwareentwickler nennen das „permanentes<br />
Refactoring”. Wo immer man erkennt, dass eine Grundlage nicht richtig ist, muss<br />
man das Programm dort ändern und dafür sorgen, dass die Grundlage richtig wird. Auch im<br />
laufenden Betrieb. Auch wenn es aufwendig ist. Es hilft nichts. Beim Haus funktioniert es<br />
nicht so gut, weil die Statik etwas anderes ist <strong>als</strong> ein Softwareprogramm. Aber eine Gesellschaft<br />
ist eher wie ein Softwareprogramm organisiert <strong>als</strong> wie ein Haus. Man kann die Gesellschaft<br />
ständig im Kleinen umbauen anstatt immer nur anzubauen. Das ist einfacher und<br />
letztlich billiger, denn es vermeidet den sogenannten Reformstau.<br />
6.6.1 Sozialversicherung<br />
Grundsätze<br />
Unsere Sozialversicherung ist organisiert nach zwei Thesen:<br />
• „Niemand soll aufgrund von Dingen, für die er nichts kann, schlechter dastehen im<br />
Leben <strong>als</strong> andere.” (Das Zitat wird John Rawls zugeschrieben, habe aber bisher keinen<br />
Quellennachweis)<br />
• „Wer hart gearbeitet hat, soll seine verdiente Rente genießen”<br />
Das klingt zunächst nobel und gerecht und lässt sich auch gut mit den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit<br />
vereinbaren: Wer etwas dafür kann, dass es ihm schlechter geht, bekommt<br />
keine Unterstützung. Jeder ist seines Glückes Schmied. Ehre dem Alter. In der Praxis<br />
ergeben sich allerdings Schwierigkeiten:<br />
• Das Gesundheitssystem wird unfinanzierbar.<br />
• Über die „richtige” Höhe des Arbeitslosengeldes II (Hartz IV) streitet man lange und<br />
immer wieder erfolglos, dabei übersehend, dass diese Menschen eigentlich kein Arbeitslosengeld<br />
II wollen, sondern eine geeignete und sinnvolle Arbeit.<br />
• <strong>Die</strong> Rentenbelastung droht die jüngere Generation in Zukunft zu überfordern.<br />
• <strong>Die</strong> Pflegeversicherung muss ihre Leistungen immer mehr ausdehnen, weil die Menschen<br />
immer älter werden.<br />
<strong>Die</strong> obige Definition hat zwei Schwachstellen, die der gesellschaftlichen Interpretation bedürfen:<br />
• Was heißt „schlechter”?<br />
• Was heißt „nichts kann”?<br />
• Und mit Blick auf das Gesundheitssystem drängt sich eine andere Frage auf, nämlich<br />
ob ein System gerechtfertigt ist, „das alle schechterstellt, nur weil alle gleichmäßig<br />
darunter leiden.” (Krämer 1989 S. 193, Hervorhebung von mir). In welchem Umfang<br />
soll das Sozi<strong>als</strong>ystem der Umverteilung dienen? Ist das in Zukunft nicht eher Aufgabe<br />
eines Steuersystems mit einer Vermögensbegrenzung?<br />
<strong>Die</strong> obige These fußt auf zu optimistischen Annahmen über den Menschen, nämlich<br />
• Leid lasse sich klar definieren und damit auch der Umfang der notwendigen Leistung,<br />
und<br />
• die Menschen nähmen nur so viel Leistung in Anspruch, wie nötig ist, um das Leid zu<br />
lindern.<br />
117
Was jedoch passiert, ist: Viele Menschen nehmen so viel Leistung in Anspruch wie sie können,<br />
zumal wenn Anonymität des Gebers gewährleistet ist. In der gesetzlichen Krankenversicherung<br />
lässt sich das leicht beobachten, wenn der Patient sich freut, welchen Aufwand der<br />
Doktor für ihn treibt: Er muss es ja nicht zahlen, er muss diese empfangenen Leistungen vor<br />
niemandem rechtfertigen, und er schädigt noch nicht mal einen konkreten Menschen, sondern<br />
nur sehr abstrakt die Gemeinschaft der Beitragszahler. Und was heißt überhaupt „schädigen”:<br />
Der Arzt wird doch wohl nur solche Leistungen erbringen, die ihm <strong>als</strong> Patienten nützen!<br />
Dafür ist er doch da. Dass der Arzt aufgrund der sogenannten „Einzelleistungsvergütung”<br />
ein erhebliches finanzielles Eigeninteresse an einer aufwendigen Behandlung hat,<br />
kommt ihm gar nicht in den Sinn.<br />
Es gibt zwei Wege aus dieser Falle:<br />
• Ein Unbeteiligter wacht über die sparsame Inanspruchnahme der Leistungen (aufwendig).<br />
• <strong>Die</strong> Beteiligten müssen selbst Anreize erhalten, die Leistungen sparsam in Anspruch<br />
zu nehmen (unpopulär).<br />
<strong>Die</strong> Sozialversicherung sollte im Sinne einer Risiko-Absicherung neu organisiert werden:<br />
„Niemand soll aufgrund von Dingen, für die er nichts kann, in existentielle Not geraten.” Für<br />
Umverteilung sollten andere Mechanismen <strong>als</strong> das Sozi<strong>als</strong>ystem greifen. Das Sozi<strong>als</strong>ystem<br />
sollte wie eine Haftpflichtversicherung den existentiellen Ernstfall abdecken. Mehr nicht. Auf<br />
der anderen Seite müssen dann aber auch realistische Voraussetzungen geschaffen werden,<br />
möglichst kein Sozialfall zu werden: Arbeit für alle durch eine Senkung der Arbeitsproduktivität<br />
hatten wir ja bereits beleuchtet.<br />
Ganz wichtig: Das Märchen vom Arbeitgeberbeitrag abschaffen. Der sogenannte Arbeitgeberbeitrag<br />
ist eine ganz üble sozialpolitische Vernebelung, eine sprachliche Illusion: „Man<br />
muß sich daher geradezu wundern, daß noch kein findiger Sozialpolitiker auf die Idee gekommen<br />
ist, auch diese anderen Abzüge in ‚Arbeitgeberbeiträge’ umzutaufen. Mit einem<br />
Schlag wäre damit unsere ganze soziale Sicherung für den Bürger plötzlich kostenlos. Niemand<br />
müßte mehr für seine Krankenkasse oder Rente zahlen. Sozialleistungen fielen wie<br />
Manna vom Himmel, das Paradies auf Erden wäre eröffnet.” (Krämer 1989 S. 191) Arbeitgeberbeiträge<br />
sind nichts anderes <strong>als</strong> ganz normaler Lohn. Das Märchen, dass diese Leistungen<br />
vom Arbeitgeber zusätzlich bezahlt würden, ist ganz offensichtlicher Unsinn. All diese Zahlungen<br />
kommen dem Arbeitnehmer in vollem Umfang zugute, sie sind sein Lohn, der wie<br />
seine „Arbeitnehmeranteile” vor Auszahlung abgeführt wird. Fragen Sie doch mal den Arbeitgeber,<br />
wieviel ihn sein Arbeitnehmer kostet. Kein Arbeitgeber rechnet den sogenannten Arbeitgeberbeitrag<br />
separat in seiner Finanzbuchhaltung.<br />
Altersvorsorge<br />
<strong>Die</strong> Altersvorsorge krankt generell an der festen Regelaltersgrenze, und zwar nach unten und<br />
nach oben. Zahlreiche Menschen gehen aus verschiedensten Gründen früher in Rente, und<br />
zahlreiche Menschen, die noch arbeiten könnten (und wollten, wenn auch nicht immer Vollzeit)<br />
werden zwangsweise aus dem Arbeitsleben verabschiedet. <strong>Die</strong> Rentenwirklichkeit spiegelt<br />
<strong>als</strong>o auch schon seit langem nicht das Idealbild des zufriedenen Senioren wider, der<br />
nach erfülltem Arbeitsleben mit 67 von seinen Kollegen verabschiedet wird. Eine feste Altersgrenze<br />
wird zum einen der Individualität des Menschen nicht gerecht, und zum anderen<br />
können wir sie zunehmend nicht bezahlen.<br />
Wer arbeitet gerne über eine Altersgrenze hinaus?<br />
• Körperlich nicht zu anstrengende Arbeit<br />
• Erfahrung und/oder Netzwerke sind von hoher Bedeutung<br />
<strong>Die</strong> Frage sollte lauten: Wie muss man Arbeit gestalten, damit man nicht auf einmal damit<br />
aufhören will?<br />
118
Rente sollte nach „Arbeitsfähigkeit” ausgezahlt werden, damit würde auch der Fokus von der<br />
Arbeit <strong>als</strong> „Fron” genommen, die man ab 67 hinter sich lässt. Wer weiterarbeitet, könnte ja<br />
durchaus wie bisher auch einen höheren Zugangsfaktor „erwerben”. Da kann man sicher<br />
noch einiges an Ideen entwickeln.<br />
Krankenversicherung<br />
Eine Reform des Gesundheitssystems müsste mehrere Komponenten enthalten:<br />
• Rationierung: „Es werden sinnvolle und erfolgversprechende Diagnosen und Therapien<br />
aus Kostengründen unterbleiben.” (Krämer 1989 S. 245)<br />
Es geht <strong>als</strong>o um das Ausschließen von heute möglichen (und wünschenswerten) Leistungen<br />
aus dem Leistungskatalog, und zwar nicht nur dem Leistungskatalog der<br />
Krankenkassen, sondern generell: Es geht nicht, dass man sich diese Leistungen<br />
dann einfach mit Geld zukaufen kann.<br />
• „Eine fühlbare Direktbeteiligung der Patienten an den Krankheitskosten.” (Krämer<br />
1989 S. 243)<br />
• Das System gilt für alle ohne Wenn und Aber, ohne die Möglichkeit des Ausweichens<br />
in die Private Krankenversicherung. <strong>Die</strong> Bezeichnung des jetzigen Systems der Gesetzlichen<br />
Krankenversicherung <strong>als</strong> „Solidarsystem” wird den Tatsachen nicht gerecht.<br />
Ein reformiertes Gesundheitssystem muss den Kranken gegenüber dem Gesunden benachteiligen,<br />
wenn wir irgendeine Chance haben wollen, Vernunft in die Ausgaben zu bekommen.<br />
Durch ein gutes Modell werden aber sowohl Gesunde <strong>als</strong> auch Kranke in Zukunft weniger<br />
zahlen, wenn auch die Gesunden stärker profitieren werden.<br />
Rationierung<br />
„<strong>Die</strong> Explosion des Machbaren in der Medizin zwingt uns zum Sparen auch an der Gesundheit,<br />
unserem höchsten Gut. <strong>Die</strong>ser Zwang ist auch durch eine Vervielfachung unserer Gesundheitsausgaben<br />
nicht grundsätzlich aus der Welt zu schaffen. Er wird die Menschheit von<br />
nun an bis zum Ende ihrer Geschichte begleiten. <strong>Die</strong> Frage ist <strong>als</strong>o nicht, ob, sondern wie<br />
und wie viel gespart werden soll. In diesem Kapitel haben wir gesehen, dass eine humane<br />
Antwort auf diese Frage möglich ist.” (Krämer 1989 S. 93)<br />
Mit diesen Worten endet das Kapitel „Sparen auch am höchsten Gut” des Buches von Walter<br />
Krämer. <strong>Die</strong> „humane Antwort” lautet: Medizinische Leistungen einschränken, aber so, dass<br />
zum Zeitpunkt dieser Entscheidung keine konkreten Menschen betroffen sind. Und die Einschränkung<br />
der Leistungen an „unpersönliche” Kriterien wie z. B. das Alter knüpfen. Damit<br />
verschiebt man die Entscheidung von der individuellen auf die statistische Ebene: Kein konkreter<br />
Mensch wird zum Leiden und Sterben verurteilt, sondern für alle steigt die statistische<br />
Wahrscheinlichkeit ein klein wenig an.<br />
Rationierung bedeutet konkret: Bestimmte Medikamente wird es nicht mehr geben, bestimmte<br />
Behandlungszentren oder Krankenhaus-Abteilungen werden geschlossen oder verkleinert.<br />
Sogenannte „Hochleistungsmedizin” wird es nicht mehr geben können. Durch die<br />
abnehmende Wirtschaftsleistung einer nachhaltigen Wirtschaft wird sich einiges von selbst<br />
ergeben.<br />
Für und Wider von Organtransplantationen: Jetzt soll man zu einem Standpunkt gezwungen<br />
werden. Man hat aber das Recht auf einen indifferenten Standpunkt. Wir leben in einer freiheitlichen<br />
Gesellschaft, wenn ich daran mal erinnern darf.<br />
Direktbeteiligung<br />
Ich selbst bin schon jetzt dabei, weil ich privat versichert bin. Durch einen Tarif mit hoher<br />
Direktbeteiligung und Beitragsrückerstattung bei Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen bin<br />
ich mittlerweile dort gelandet, dass sich das Einreichen von Rechnungen erst bei etwa 3.500<br />
EUR im Jahr lohnt. Mit anderen Worten: Wenn ich demnächst zum Zahnarzt gehe und dort<br />
119
nach vielen Jahren mal wieder etwas Größeres machen lassen muss, dann kostet mich das<br />
viel Geld aus eigener Tasche. <strong>Die</strong>ses Geld muss ich vom Ersparten nehmen und kann es<br />
nicht für etwas anderes ausgeben. Bitter? Andererseits weiß ich, dass ich durch meinen Tarif<br />
etwa 300 EUR pro Monat gegenüber der gesetzlichen „Vollkasko” spare, die mir zudem im<br />
Falle der Zähne sowieso die kalte Schulter zeigen würde. Das ist ein vernünftiges Modell. Ich<br />
würde liebend gerne wieder in die Gesetzliche Krankenkasse zurückkehren, falls die mir auch<br />
so viel Vernunft bietet. Als ich vor zehn Jahren in die Private Krankenversicherung gewechselt<br />
bin, fiel mir ein Stein vom Herzen, dass ich diesem verschwendungssüchtigen gesetzlichen<br />
System entkommen war, welches schon lange kein Solidarsystem mehr ist, sondern<br />
eine kollektive Wachstumsgesellschaft.<br />
Im Buch „Postwachstumsgesellschaft” macht Hans-Peter Studer erneut einen ebenso praktikablen<br />
wie intelligent angelegten Vorschlag, der unserem Wunsch nach Vernunft einfach und<br />
transparent entgegenkommt und der von ihm bereits 2003 vorgeschlagen wurde: „Noch<br />
stärker gefördert werden könnte der eigenverantwortliche Umgang sowohl mit Krankheit <strong>als</strong><br />
auch Gesundheit, wenn die Prämie der Versicherten gesplittet würde. <strong>Die</strong> eine Hälfte, der<br />
Solidaritätsanteil, würde wie bisher in den Risikotopf aller Versicherten fließen, die andere<br />
Hälfte jedoch auf ein persönliches, zweckgebundenes Gesundheitskonto des oder der Versicherten.<br />
Daraus müsste er oder sie vorerst anfallende Behandlungskosten begleichen. Erst<br />
wenn auf dem persönlichen Gesundheitskonto kein Geld mehr vorhanden wäre, käme der<br />
Risikotopf aller zum Tragen und würde die Behandlungskosten abzüglich einer Kostenselbstbeteiligung<br />
decken. Bleibt ein Versicherter während längerer Zeit einigermaßen gesund,<br />
wächst der Sparbetrag auf seinem Gesundheitskonto und führt dazu, dass sich der Prämienanteil,<br />
den er auf sein eigenes Konto bezahlen muss, schrittweise bis auf Null reduziert.”<br />
(Seidl/Zahrnt 2010 S. 68f.)<br />
Der Patient erhält <strong>als</strong>o gegenüber dem Arzt die „Kundensouveränität” zurück und hat ein<br />
Interesse, die zu erbringenden Leistungen zu hinterfragen. Und durch gesundheitsförderndes<br />
Verhalten kann man durch Reduktion des Sparbeitrages Geld sparen. Das sind die gleichen<br />
Effekte wie bei mir und meiner privaten Krankenversicherung.<br />
Auch die Leistungserbringer erhalten einen Anreiz, Kosten zu sparen, indem der Fokus nicht<br />
auf Krankheitskosten, sondern die Wiederherstellung der Gesundheit gelegt wird, so dass sie<br />
„bestrebt sind, statt einer maximalen eine optimale Medizin zu praktizieren”. (Seidl/Zahrnt<br />
2010 S. 70) Kurz gesagt handelt es sich um eine Einmalzahlung je Krankheitsfall, abgestuft<br />
nach Alter und Diagnose, so dass der Ertrag für die Ärzte um so höher ist, je weniger Aufwand<br />
sie haben. Um dem Risiko einer Unterversorgung entgegenzuwirken, wird dieses Konzept<br />
eingebettet in eine ganze Reihe von flankierenden Maßnahmen, kurz: Es wird Vernunft<br />
erzeugt.<br />
Kinder<br />
Immer noch bedeuten Kinder ein Armutsrisiko, und zwar aus dem einfachen Grund, weil<br />
Versorgung und Erziehung grundsätzlich in die Verantwortung der Eltern gelegt sind. Das<br />
bedeutet Zeit- und Geldaufwand, und zwar über einen relativ langen Zeitraum. Man könnte<br />
überlegen, ob die Gemeinschaft nicht für die finanziellen Kosten zumindest des ersten Kindes<br />
komplett aufkommt, wenn Bedürftigkeit besteht, und zwar auf einer spürbar höheren Basis<br />
<strong>als</strong> des heute üblichen sogenannten Existenzminimums. Ein Kind soll ein „Gehalt” von der<br />
Gemeinschaft erhalten, welches diesen Namen verdient. Höhere Kinderzahlen könnten statt<br />
dessen aus der Förderung mehr oder weniger herausfallen. Sozusagen eine scharfe Progression<br />
nach unten. Damit könnte man deutliche Signale setzen, dass einerseits Kinder gesellschaftlich<br />
erwünscht sind, aber ein Bevölkerungswachstum nicht.<br />
120
6.6.2 Ressourcen<br />
Erneuerbare Energien<br />
Wenn keine nicht erneuerbaren Ressourcen mehr verbraucht werden dürfen, dann müssen<br />
wir entscheiden, wie viel erneuerbare Energie wir verbrauchen wollen. Derzeit besteht die<br />
Gefahr, dass wir uns über einen Green New Deal oder großtechnische Lösungen die Landschaft<br />
bis zum Anschlag mit Windrädern, Solarzellen und Überlandleitungen vollstopfen, die<br />
Schönheit alter Häuser wegdämmen und die Straßen weiterhin mit Individualverkehr<br />
verstopfen, dieses Mal mit Elektromobilen. Felder für den Anbau von Bio-<strong>Die</strong>sel, wohin das<br />
Auge reicht. Alles CO2-neutral. Auch hier gibt es kein Maß. <strong>Die</strong> Welt kann sozusagen auch<br />
mit erneuerbaren Energien zugrunde gerichtet werden, wenn man <strong>als</strong> Welt auch seine optische<br />
Umwelt miteinbezieht. Wo wollen wir hin?<br />
Nur über ein politisches, d. h. gesellschaftliches Maß werden wir hier Einigkeit erzielen können,<br />
indem auch für erneuerbare Energien eine Obergrenze definiert wird. Das halte ich<br />
langfristig für den kritischsten Aspekt der ganzen Angelegenheit. Wir werden vermutlich relativ<br />
groß anfangen müssen, um überhaupt eine Transformation des Kapitalismus in eine humanistische<br />
Marktwirtschaft hinzubekommen, ohne dass uns alles um die Ohren fliegt. Und<br />
dann müssen wir schauen, dass wir uns langsam weiter von der Droge Energie entwöhnen.<br />
Selbstverständlich kann man ein hochmodernes Krankenhaus nur mit Windenergie versorgen,<br />
das ist lediglich eine Frage der Anzahl der Windräder, der Leitungsnetze und der Speicherung.<br />
Nur diese Energie fehlt uns dann an anderer Stelle, wo wir sie auch gerne hätten.<br />
Zum Beispiel für das Internet ...<br />
Kreislaufwirtschaft<br />
Eine Kreislaufwirtschaft, in der der Produzent die Verantwortung für die gesamte Lebensdauer<br />
seines Produktes hat, funktioniert nicht mit gutem Willen allein. Sie muss unterstützt werden<br />
durch:<br />
• Rücknahmeverordnungen, die auch den Handel miteinbeziehen<br />
• Pfandregelungen: Warum gilt für Verpackungen nicht, was für Schrauben gilt: Normung?<br />
Viele Menschen sind überfordert, ihren Müll „richtig” zu trennen. <strong>Die</strong> Struktur<br />
muss insgesamt wieder einfacher werden, und das wird nicht gelingen, wenn wir a)<br />
jedem Unternehmer seinen Sonderweg erlauben und b) versuchen, jede noch so<br />
kleine Produktivitätslücke zu schließen. Der Wurf muss größer werden. <strong>Die</strong> Bierversorgung<br />
funktioniert seit Jahren trotz Pfandflasche gut. Warum nicht auch Pfand auf<br />
Konservendosen und alles andere? Das finden Sie zu aufwendig? Bitte lösen Sie sich<br />
vom alten Effizienzdenken. Am wenigsten Müll produziert man, wenn man nicht konsumiert.<br />
<strong>Die</strong> Rückgabe von Waren, Verpackungen etc. wird in Zukunft der Preis für<br />
den Konsum sein.<br />
• „Zweiteilung des Resteaufkommens” in recyclebar und kompostierbar – sonst nichts,<br />
entsprechend dem „Cradle-to-cradle”-Konzept.<br />
Vom Forum für ökologisch-soziale Marktwirtschaft FÖS liegt seit langem ein Konzept für eine<br />
ökologische Steuerreform vor, das schnell umgesetzt werden kann, um den Ressourcenverbrauch<br />
zu verringern.<br />
Eine Konsequenz wird sein: Mieten statt Kaufen wird populärer werden sowie die gemeinschaftliche<br />
Nutzung von Geräten z. B. in Mehrfamilienhäusern. Der Nutzen wird anstelle des<br />
Besitzes in den Vordergrund rücken.<br />
121
6.6.3 Privatwirtschaft<br />
Unternehmensverfassung<br />
Hier halte ich zwei Überlegungen für maßgeblich:<br />
• <strong>Die</strong> geradezu groteske Förderung wirtschaftlicher Aktivität abbauen und somit der<br />
Nachfrage wieder Vorrang einräumen. In Verbindung mit einer Vermögensbegrenzung<br />
ergibt die Haftungsbeschränkung für Kapitalgesellschaften nicht mehr viel Sinn<br />
und sollte abgeschafft werden. Schuldenfreiheit eines Unternehmens könnte eine<br />
Voraussetzung für Ausschüttungen sein.<br />
• Welche wirtschaftlich bedingten Ausgaben eines Unternehmens möchte eine Gesellschaft<br />
steuerlich anerkennen und damit fördern? Zinsen für Kredite? Werbung? Wir<br />
haben derzeit zwei völlig unterschiedliche Philosophien für die Besteuerung der privaten<br />
und der wirtschaftlichen „Lebenshaltungskosten”. Während wir bei der privaten<br />
Einkommensermittlung nur bestimmte Kosten anerkennen, gestehen wir bei der Gewinnermittlung<br />
von Unternehmen diesen völlig frei zu, für welchen Sinn und Unsinn<br />
sie Geld ausgeben. Dahinter steckt natürlich die Idee, dass die Ausgaben eines Unternehmens<br />
kein Selbstzweck sind, sondern ganz am Ende der Kette die materielle<br />
Lebensqualität fördern. Im Rahmen der wirtschaftlichen Freiheit sollen die Ausgaben<br />
daher nicht beeinflusst werden, weil die Unternehmen schon dafür sorgen, dass der<br />
Konsum maximiert wird. <strong>Die</strong>se Kosten haben aber nicht alle die gleiche Bedeutung für<br />
die Gesellschaft. Werbung und Zinsen könnten sozusagen zu den privaten Lebenshaltungskosten<br />
eines Unternehmers gehören.<br />
Weitere Punkte (Brainstorming):<br />
• Beteiligungen von Unternehmen an Unternehmen ausschließen<br />
• Industrielle Landwirtschaft: Düngeeinsatz begrenzen, Flächen begrenzen, Tierhaltung<br />
begrenzen, Tierflächen vorschreiben, Person<strong>als</strong>chlüssel vorschreiben<br />
• Industrieller Fischfang: Netzgrößen und Fangmethoden begrenzen, Quoten<br />
• Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes beenden: Werbung im öffentlichen<br />
Raum sollte massiv eingeschränkt werden, auch im öffentlichen Raum des Internet.<br />
Investitionen<br />
Sie haben Angst, dass keine Investitionen mehr getätigt werden, weil das Risiko nicht mehr<br />
ausreichend „entlohnt” wird? Um so besser. Wieder Zeit und Geld gespart. Wollen wir nicht<br />
genau das? Wir möchten doch weniger Angebotshektik und mehr Nachfrageorientierung.<br />
Erstens ist die Möglichkeit des Gewinns nicht abgeschafft. Es gibt nur eine Vermögensobergrenze.<br />
Zweitens wird eine Nachfrage immer noch eine große Investition auslösen, aber nur<br />
wenn sich genug Mitinvestoren finden. <strong>Die</strong> amerikanischen Eisenbahnen wurden von unzähligen<br />
Kleinanlegern mitfinanziert. Volkswirtschaftlich sind Investitionen, die von den Interessen<br />
Einzelner vorangetrieben werden, äußerst fragwürdig. Derzeit sind alle Unternehmer<br />
panisch auf der Suche nach „neuen Märkten”, um das System am Laufen zu halten. Wenn<br />
dieser Zwang für alle wegfällt, dann kann die echte Nachfrage wieder das Tempo bestimmen.<br />
Damit verbreitert man automatisch auch die gesellschaftliche Basis und Akzeptanz.<br />
Eigentum bekommt auf einmal einen ganz anderen Stellenwert, weil man viel eher bei einem<br />
quasigemeinschaftlichen Eigentum landet, einfach durch die Zahl der Beteiligten. Genossenschaften<br />
funktionieren weltweit erfolgreich nach diesem Prinzip.<br />
Ich glaube, wir sollten noch mal den Sinn der Investition in Erinnerung rufen. Momentan<br />
wird das Ganze noch zu stark vom alten Produktivitäts- und Arbeitsplatzgedanken beherrscht.<br />
Eine Investition soll das Leben verbessern. Sie muss in Zukunft die vereinbarten<br />
Prinzipien erfüllen, insbesondere das Nachhaltigkeitsprinzip. Welche gigantischen Investitionen<br />
brauchen wir denn noch, wenn alles wieder kleiner werden soll? Wir benötigen regionale<br />
122
Produktion, regionalen Handel und regionalen Konsum. Ich glaube, die größten Investitionen,<br />
die uns noch bevorstehen, sind der Abbau von irgendwelchen Industrieruinen, die nicht<br />
mehr benötigt werden und welche die Landschaft verschandeln oder vergiften, und die Entmüllung<br />
unserer Umwelt.<br />
Marktabschottungen aufheben<br />
Alle rufen immer nach einheitlichen Qualitätsstandards – im Handwerk, in der Pflege, in der<br />
Medizin, kurz: In allen freien Berufen. Und immer zum Wohle des Kunden, des Patienten,<br />
des Klienten. Verlängerung der Ausbildung, Beschränkung von Ausbildungsplätzen, Numerus<br />
clausus, Praktika, Erwerb von Erfahrung vor Berufsbeginn, Zulassungsordnungen ... Es gibt<br />
nichts, was nicht gefordert wird, um die Qualität zu verbessern.<br />
Wohlgemerkt: Vor dem Markteintritt. Dem Nachwuchs des eigenen Berufes soll der Zugang<br />
nicht erleichtert, sondern erschwert werden. Jeder zusätzliche Umweg vor der Niederlassung<br />
oder der Eröffnung des eigenen Betriebes ist willkommen, weil er die Einkommen derer<br />
schützt, die schon im Boot sitzen. (vgl. Krämer 1989, S. 202ff.)<br />
Anhand von zwei Indizien kann man leicht überprüfen, ob wirklich Qualitätsverbesserungen<br />
die Motivation der rührigen Aktivitäten sind:<br />
• Von wem kommt die Forderung? Kommt sie vom Kunden, vom Patienten, vom Klienten?<br />
Mahnt die Verbraucherschutzzentrale, eine Patientenvereinigung oder andere<br />
unabhängige Interessengruppen? Oder sind es die Anbieter selbst mit ihren vielfältigen<br />
Berufsverbänden, die man früher Zünfte nannte, und ihren Standeszeitschriften:<br />
<strong>Die</strong> Handwerkskammern, die Verbände der Pflegeberufe, das Ärzteblatt, die Anwaltskammer?<br />
Wenn der Ruf von der „f<strong>als</strong>chen” Seite des Marktes kommt, ist großes Misstrauen angebracht.<br />
• Wen betrifft die Forderung? Betrifft sie die, die reinwollen, oder auch die, die schon<br />
drinsitzen? Unser ganzes Ausbildungssystem ist geprägt von einer bestimmten Philosophie:<br />
Hohe Hürden am Anfang, danach die Freuden der Ebene. Lebenslanges Praktizieren<br />
mit freiwilliger Fortbildung, von wenigen Ausnahmen abgesehen. <strong>Die</strong> regelmäßige<br />
Rückkopplung des eigenen Tuns (Supervision) ist ein wichtiger Beitrag zur<br />
Vernunftbildung. Mit regelmäßiger Fortbildung ist es nicht anders, was die Qualität<br />
der Berufsarbeit angeht.<br />
Wenn <strong>als</strong>o der Ruf nur die betrifft, die reinwollen, kann man fast sicher sein, dass<br />
hier das Portemonnaie und nicht die Qualität geschützt werden soll.<br />
In einer echten Marktwirtschaft sollte das nichts zu suchen haben. Es gibt „gefahrgeneigte”<br />
Berufe, bei denen das sinnvoll ist. Ob und in welchem Umfang es sinnvoll ist, ist eine schwierige<br />
Frage. Man kann diese Frage aber ganz leicht beantworten: Man mutet denen, die im<br />
Boot sitzen, regelmäßig eine ähnliche Fortbildungshürde zu wie denen, die reinwollen. Dann<br />
wird sich das schnell auf ein vernünftiges Maß einpendeln.<br />
6.6.4 Staatswesen<br />
Allgemein<br />
• Alle Einkünfte von Inhabern öffentlicher Ämter offen legen. Transparenz ist gut gegen<br />
Korruption und Vetternwirtschaft.<br />
Bereits Korrumpierbarkeit ist eine Vertragsverletzung. Man darf Amtsträger nicht nur<br />
mit anderen moralischen Maßstäben messen <strong>als</strong> andere, man muss es sogar. Zwischen<br />
Amtsträger und Gesellschaft wird ein impliziter Vertrag geschlossen. Dessen<br />
wichtigste Bedingung lautet: <strong>Die</strong> Gesellschaft stattet den Amtsträger mit einem gewissen<br />
Maß an Gestaltungsmacht aus. Sie zahlt ihm ein Gehalt und belohnt ihn mit<br />
hoher Anerkennung. Im Gegenzug vertraut sie darauf, dass der Amtsträger dieses<br />
123
Amt mit Vernunft ausübt. Vernunft ist dabei die Fähigkeit zur Nüchternheit, <strong>als</strong>o Situationen<br />
unabhängig von den eigenen Interessen, Sehnsüchten, Ängsten zu betrachten.<br />
<strong>Die</strong>se Neutralität ist sozusagen Einstellungsvoraussetzung. Um diese Bedingung<br />
zu erfüllen, muss der Amtsträger jede Situation vermeiden, die zu Interessenskonflikten<br />
führen kann.<br />
• Supervision <strong>als</strong> Pflicht für Regierungen und Behörden. Sie ist preiswert und effektiv,<br />
macht die Menschen und damit auch die Politik und die Arbeit besser.<br />
• Der Anspruch auf überregionale Einheitlichkeit (europäisches Steuersystem u. ä.)<br />
führt zu immer komplizierteren Strukturen der Politik, des Rechts, des sozialen Ausgleichs.<br />
Und nun setzen wir gar zum Sprung in die Welt an. Ich fürchte, das wird<br />
nichts. Je größer die Institution, desto größer die Macht der Repräsentanten, demokratische<br />
Legitimation hin oder her. Das neue Gesellschaftsmodell erfordert mehr Regionalität,<br />
auch für die Regierungen. Subsidiarität (Entscheidungsgewalt auf die niedrigstmögliche<br />
Ebene) muss noch mal anders durchdekliniert werden.<br />
Politische Beteiligung<br />
Ich vermute, dass die Bedeutung der Parteien nachlassen wird, weil deren Konzept zu sehr<br />
auf Wettbewerb beruht. <strong>Die</strong> sind zu selbstbezogen. Aber vielleicht schaffen sie es ja, sich<br />
anders auszurichten. Was man sich statt dessen vorstellen könnte:<br />
Ich habe im Herbst 2011 an zwei Tagungen teilgenommen. Das waren eintägige, themenbezogene<br />
Veranstaltungen, nämlich „<strong>Die</strong> grüne Schuldenkonferenz” und eine FÖS-Tagung zum<br />
Thema „Politik und Marktwirtschaft”. <strong>Die</strong>se Veranstaltungen waren nach dem gleichen<br />
Schema gestrickt: Erst einführende Vorträge („Impulsreferate”), dann Arbeit in Schwerpunkt-<br />
Workshops und schließlich eine abschließende Podiumsdiskussion. Sie waren leider zu podiumslastig,<br />
d. h. die Beteiligung der eigentlichen Teilnehmer <strong>als</strong> „breiter Masse” kam zu kurz.<br />
Aber sie waren außerordentlich gut geeignet, um einen inhaltlichen Überblick über das Thema<br />
zu erhalten, und ich denke, vor allem die Podiumsteilnehmer, von denen ja viele Akteure<br />
des politischen Gestaltungsprozesses sind, erfahren auf diese Weise eine gute Rückkopplung.<br />
Solche „Politik-Kongresse” <strong>als</strong> regelmäßige regionale Veranstaltungen könnte ich mir gut<br />
vorstellen: An jedem ersten Mittwoch im Monat geht es in die Stadthalle, und dort findet ein<br />
solcher Kongress statt. Wir müssen uns irgendetwas Intelligentes überlegen, um alle mit ins<br />
Boot zu bekommen. Ich denke da weniger an formale Beteiligung, sondern inhaltliche Diskussion,<br />
Rückkopplung und Bewusstseinswandel. Formale Wahlen gibt es ja weiterhin, aber<br />
diese dienen nicht der Informationsverbreitung und -beschaffung, sondern der politischen<br />
Legitimation. Derzeit ist die informelle Beteiligung unterrepräsentiert. Aber es sind ja auch<br />
alle immer so beschäftigt ...<br />
Politik weckt Widerstand, wenn sie von oben kommt und man sich nicht beteiligt fühlt. Eitelkeit<br />
von Politikern verhindert jedoch Beteiligung, weil sie es ja selbst am besten wissen –<br />
durch Beteiligung könnte es nur schlechter werden. Dagegen hilft eine solche Rückkopplung<br />
mit der Basis, die aber nicht die Parteibasis sein darf, die einen ja prinzipiell unterstützt. <strong>Die</strong><br />
muss zu loyal sein.<br />
6.6.5 Bildung<br />
Was ist Bildung heute?<br />
„Eine Biographie, die äußerst starken Selbstgestaltungserwartungen unterliegt und ein hohes<br />
Maß an Zukunftsorientierung voraussetzt, entsteht <strong>als</strong> mentale Formation <strong>als</strong>o erst im Zuge<br />
der Etablierung moderner Gesellschaften, obwohl wir sie heute für «natürlich» halten. [...]<br />
<strong>Die</strong> Erfindung der Schule <strong>als</strong> Erziehungs- und Bildungsinstitution für alle Mitglieder einer Gesellschaft<br />
ist ebenfalls an die Entwicklung der frühindustrialisierten Länder gebunden, wobei<br />
neben der Vermittlung von Wissen vor allem ihre erzieherische und disziplinierende Funktion<br />
im Vordergrund stand. Im schulischen Regime wurden jene Tugenden eingeübt, die – wie<br />
124
Pünktlichkeit, Reinlichkeit, Sorgfalt, Ordnung etc. – einen Sozialcharakter prägten, der innerhalb<br />
der Synchronisierungserfordernisse hoch arbeitsteiliger Gesellschaft funktionsfähig ist.<br />
Ein nicht gering zu veranschlagender Effekt der Verschulung der frühindustrialisierten Länder<br />
ist auch die Einübung von Konkurrenz und Wettbewerb sowie die Messung der individuellen<br />
Leistungen über Notensysteme. <strong>Die</strong>ser Prozess der Verschulung hält noch heute an: Nicht<br />
nur, dass die Einschulungsquoten und Alphabetisierungsraten <strong>als</strong> zentrale Kennzeichen von<br />
«Entwicklung» gelten (Osterhammel 2009, S. 1131), auch die Durchstrukturierung aller Aspekte<br />
von Lernen und Bildung durch messbare Leistungskriterien hält – seit «Bologna» und<br />
«G 8» mehr denn je – unvermindert an.” (Welzer 2011)<br />
Was könnte Bildung sein?<br />
Das Ziel ist eine Bildungs-Gesellschaft, die die persönliche Entwicklung und größtmögliche<br />
Unabhängigkeit des Einzelnen zum Ziel hat. Ein Mensch, der unabhängig zufrieden leben<br />
kann, kann in der Gemeinschaft den größten Beitrag leisten. <strong>Die</strong> isolierte Ausbildung auf ein<br />
Arbeitsleben hin, wie sie heute stattfindet, wird der Komplexität des Gehirns nicht gerecht.<br />
Insbesondere fehlen die Bindung des Menschen an die Natur, handwerkliche Fähigkeiten,<br />
eine ästhetische und eine soziale Bildung. Wenn Zufriedenheit sich im Kopf abspielt, dann<br />
müssen wir diesem doch die sorgfältigste Pflege angedeihen lassen. Das Kosten-Nutzen-<br />
Verhältnis von Ausbildung sollte völlig neu gedacht werden. Je umfassender jemand ausgebildet<br />
ist, desto weniger wahrscheinlich ist seine Arbeitslosigkeit.<br />
Das ganze derzeitige Theater um Schulsysteme dreht sich doch vorwiegend um die Angst,<br />
das eigene Kind könnte unzureichend gefördert werden. Unzureichend bedeutet für die einen:<br />
für den globalen Wettbewerb, für die anderen: für ein zufriedenes Leben. Kein Wunder,<br />
dass man nicht zum Konsens kommt. Wettbewerb bereitet den Boden für Eitelkeit und die<br />
Akzeptanz von Macht, Kooperation bereitet den Boden für die Akzeptanz der Unterschiedlichkeit<br />
der Menschen.<br />
Es ist nun mal so, dass wir sterblich sind und jedem neugeborenen Menschen wieder und<br />
wieder unsere Grundsätze und einen Teil unser Erfahrungen mitgeben wollen und müssen.<br />
Letztlich lernt der Mensch ausschließlich durch Erfahrung und nicht durch „Lernen”. Es ist ein<br />
weitverbreiteter Irrtum, dass man einfach etwas lernen könne. Ein Lernprozess führt nur<br />
dann zum Erfolg, wenn der Lernstoff innerlich oder äußerlich erfahren wird, <strong>als</strong>o geistig oder<br />
manuell nachvollzogen wird (wobei Hand und Hirn eine äußerst enge Verbindung besitzen).<br />
Eine Handwerksmeisterin kann ihrem Lehrling noch so oft erklären, wie bestimmte Schritte<br />
gemacht werden müssen: Solange diese Schritte nicht wieder und wieder selbst ausgeführt<br />
wurden und das eigene Gehirn dieses Wissen in seine Struktur eingebaut hat, solange sind<br />
die Erklärungen wirkungslos. Sie können nur dazu beitragen, nicht alle Fehlversuche dieses<br />
Handwerks der letzten Jahrtausende erneut probieren zu müssen. Aber unser Gehirn muss<br />
alles, was es wissen soll, in einem Lernprozess selbst generieren, eine echte Abkürzung ist<br />
nicht möglich.<br />
Praktische Fähigkeiten: Der moderne Mensch ist in wesentlichen Bereichen der täglichen<br />
Technik so ungebildet. Wie funktioniert ein Boiler, ein Klosett, was ist das Prinzip von Dichtungen<br />
und Sicherungen, wie pflegt und repariert man ein Fahrrad?<br />
Raus in die Welt: <strong>Die</strong> Idee der Schule, dass die Kinder an einem Ort konzentriert werden, ist<br />
besonders in der Pubertät sehr hinderlich. <strong>Die</strong> wollen und sollen was erleben.<br />
Den privaten Elterneinfluss reduzieren, Eltern an der Schule miterziehen lassen und miterziehen.<br />
Erziehung ist nicht allein Familienaufgabe. Dort geht zu viel schief. Und es betrifft nicht<br />
nur die Kinder. Wir sollten weg vom sozialtherapeutischen Reparaturbetrieb. Kinder sollen<br />
nicht sozial isoliert aufwachsen. <strong>Die</strong> Gemeinschaft soll die Entwicklung eines jeden Kindes<br />
mitverfolgen können. <strong>Die</strong> Idee vom „absoluten Eigentum” der Eltern am Kind hinterfragen.<br />
Eltern sind nicht automatisch auch die besten Erzieher für ihr Kind.<br />
125
Bildung endet nicht mit der Schule: Mal das Modell der skandinavischen Volkshochschulen<br />
anschauen, wo jungen Erwachsenen eine fachliche, persönliche und soziale Weiterbildung<br />
angeboten wird. Das ist „persönliche Supervision”.<br />
126
Epilog<br />
Was können Sie selbst tun?<br />
Hier ist ein bunter Strauß von Möglichkeiten. Lassen sie sich nicht erschlagen: Kein Mensch<br />
kann alles machen. Das wäre maßlos. Einiges benötigt nur ein anderes Denken, anderes<br />
benötigt richtig Zeit. Suchen Sie sich die Dinge raus, die zu Ihnen passen. Es ist egal, ob Sie<br />
viel oder wenig machen. Aber fangen Sie an.<br />
• Je mehr Menschen an all das hier glauben, desto wahrscheinlicher wird es Wirklichkeit.<br />
Deshalb bitte ich Sie, das zu Ihrer Überzeugung zu machen.<br />
• Pioniere haben es immer schwer. Werden Sie Pionier! Wenn Sie darauf warten, bis<br />
der Nachbar, die Kollegin, der Sportskamerad, die Tante umdenken, werden Sie die<br />
Zukunft nicht erleben. Erst wenn sich genügend Leute freiwillig entgegen dem<br />
Mainstream sozial, ökologisch, solidarisch verhalten, wird eine politische Bewegung<br />
daraus. Leute, die vorangehen, sind ganz wichtig.<br />
• Wir leben in einer Demokratie, und die Reichen sind in der Minderheit. Geben Sie ihnen<br />
und uns eine Chance auf Vernunft.<br />
• Reduzieren Sie Ihre Arbeitszeit, wenn Sie irgendwie die Möglichkeit dazu haben. Wir<br />
brauchen alle gemeinsam mehr Zeit für das normale Leben.<br />
• Werden Sie moralische Instanz, aber nicht, indem Sie sagen: „Lass dies, mach das!”,<br />
sondern indem Sie verkünden: „Ich lasse dies, ich mache das!”<br />
• Kaufen Sie Bio-Lebensmittel und regionale Produkte. Lieber regional <strong>als</strong> bio, wenn<br />
sich beides nicht vereinbaren lässt.<br />
• Zahlen Sie Steuern. Wenn Ihnen jemand einen Verkauf ohne Rechnung anbietet, lehnen<br />
Sie ab. Setzen Sie sich lieber dafür ein, dass die Umsatzsteuer weniger wird. Finanzieren<br />
Sie keine Schwarzarbeit. Setzen Sie sich lieber dafür ein, dass Steuern und<br />
Abgaben auf Arbeit weniger werden.<br />
• Hamstern Sie nicht. Hamstern ist ein unsolidarischer Akt. Wie soll das alles in Zukunft<br />
funktionieren, wenn Sie aus der Solidarität ausscheren?<br />
• Machen Sie keine Internet-Käufe, speziell jetzt in der Weihnachtszeit. Stärken Sie den<br />
regionalen Handel.<br />
• Haben Sie Angst um Ihre Ersparnisse? Momentan sollten Sie eher Angst um die Verwendung<br />
Ihrer Steuergelder haben. Sie finanzieren damit unglaublich viel Blödsinn,<br />
und der ist es, der letztlich Ihre Ersparnisse gefährdet.<br />
• Richten Sie sich innerlich auf Verteilung und Solidarität ein. Niemand soll vor die<br />
Hunde kommen.<br />
• Machen Sie sich stark für die Begrenzung von Einkommen aus Immobilien. Leistungslose<br />
Einkommen haben ausgedient.<br />
• Sie haben mit Ihrem Konsum die Wahl, ob Sie eigene und fremde Eitelkeiten oder<br />
etwas anderes finanzieren.<br />
• Nutzen Sie keine Gelegenheiten aus, wo Sie gegen die Vernunft auf einem Recht bestehen<br />
könnten. Klären Sie statt dessen, was Sie und Ihr Gegenüber zufrieden macht,<br />
und finden Sie einen Kompromiss.<br />
• Bestechen Sie nicht. Nutzen Sie Ihr Amt oder Ihre Position nicht aus. Korruption ist<br />
ein Mord an der Demokratie.<br />
• Jagen Sie diese unfähige Regierung aus dem Amt! Auf demokratischem Wege natürlich!<br />
• Verzichten Sie auf Fernreisen, insbesondere auf das Fliegen.<br />
• Verlieren Sie die Existenzangst. Keiner muss hier bei uns verhungern oder erfrieren.<br />
127
• Bewegen Sie sich. Treiben Sie Sport. Lassen Sie sich von ungewöhnlichen Dingen inspirieren,<br />
es gibt mehr <strong>als</strong> nur Standardtanz und Judo.<br />
• Kaufen Sie sich ein anständiges Fahrrad und lassen Sie es sich von einem Spezialisten<br />
auf Ihre Körpermaße und Fahrgewohnheiten anpassen. Ein Fahrrad bietet mehr Einstellmöglichkeiten<br />
<strong>als</strong> nur die Sattelhöhe, und es soll zu einer integralen Erweiterung<br />
Ihres Körpers werden.<br />
• Reduzieren Sie Ihren Besitz auf das, was Sie wirklich mögen. Um Besitz muss man<br />
sich kümmern – man kann viel Zeit sparen, indem man weniger hat.<br />
• Massenprodukte sind mitunter Gift für die Seele. Wenn Sie Zweifel haben: Kaufen Sie<br />
es nicht. Leben Sie lieber länger aus Kartons oder mit unpraktischen Lösungen. Irgendwann<br />
wissen Sie, was sie brauchen.<br />
• Werden Sie anspruchsvoll. Werden Sie bei Ihrem Konsum wählerisch.<br />
• Meiden Sie Versuchungen.<br />
• Überlegen Sie, was Sie für vernünftig halten, und dann arbeiten Sie daran, dass es<br />
Wirklichkeit wird.<br />
• Betrachten Sie Ihre Mitmenschen durch eine rosarote Brille, nehmen Sie das Beste<br />
von ihnen an. In vielen Ehen klappt das sehr gut.<br />
• Verzichten Sie auf Fernsehen, hören Sie lieber Radio. Das ist bekömmlicher.<br />
• Lenken Sie sich nicht ab. Konfrontieren Sie sich mit Ihrer eigenen Langweiligkeit.<br />
Werden Sie interessant.<br />
• Bilden Sie sich. Lernen Sie Sprachen, Kochen, Nähen. Zeit haben Sie ja jetzt, denn<br />
Sie haben ja bereits Ihre Arbeitszeit reduziert ;-)<br />
• Lernen Sie singen. Suchen Sie sich einen Chor. Neulich gab es im Radio ein Feature<br />
über die Verbindung von Jodeln und Neuer Musik.<br />
• Kochen Sie selbst. Kochen Sie mit anderen. Vermeiden Sie Fast Food. Einfaches Essen<br />
ist lecker und geht schneller <strong>als</strong> Sie denken. Grütze, Bulgur, Reis, Kartoffeln,<br />
Linsen, Bohnen ... ernähren seit Jahrtausenden die Welt und ergeben mit ein<br />
bisschen Gemüse oder <strong>als</strong> Eintopf ein gutes Essen. Ein morgendlicher Grieß- oder Haferbrei<br />
macht warm, zufrieden und satt.<br />
• Reduzieren Sie Ihren Fleischkonsum. Kaufen Sie nur Fleisch aus artgerechter Tierhaltung.<br />
Für sich und andere.<br />
• Verzichten Sie auf exotische Früchte und Gemüse.<br />
• Betrachten Sie den Staat nicht <strong>als</strong> Gegner, sondern <strong>als</strong> Genossenschaft, und sich<br />
selbst <strong>als</strong> Genossen, mit Rechten und Pflichten.<br />
• Beschäftigen Sie die Handwerker. Kaufen Sie in kleinen Läden.<br />
• Werden Sie sensibel – für sich und andere.<br />
• Schaffen Sie Ihr Handy ab.<br />
• <strong>Die</strong> größte Gefahr für Ihren Wohlstand besteht in Ihrem Wohlstand. Je mehr<br />
Wohlstand sie haben, desto größer ist die Gefahr, dass Sie ihn verlieren.<br />
• Werden Sie selbst handwerklich tätig.<br />
• Legen Sie nicht zu großen Wert auf Kleidung, Styling, Makeup, sondern leben Sie so,<br />
dass Sie ohne Kleidung, Styling, Makeup gut aussehen.<br />
• Denken Sie über den Sinn von Hygiene nach. Ein täglicher Handtuchwechsel ist ebenso<br />
wenig notwendig wie der tägliche Wäschewechsel. <strong>Die</strong> Idee des „Schweins”, das<br />
seine Wäsche nicht täglich wechselt, ist nachweislich durch die Werbung in die Welt<br />
gekommen.<br />
• Ermöglichen Sie Ihren kleineren Kindern eine echte Kindheit, ohne die Attribute der<br />
Erwachsenenwelt.<br />
• Ermuntern Sie Ihre größeren Kinder, ihre kulturellen und intellektuellen Fähigkeiten<br />
nicht nach dem Markt auszurichten.<br />
128
• Beenden Sie Ihre Karriere, leisten Sie lieber anständige Arbeit.<br />
• Vermeiden Sie den Kauf von Neuwaren. Kaufen Sie gebraucht. Nehmen Sie an<br />
Tauschringen teil.<br />
Schlusswort<br />
„Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!” ist vielleicht gar nicht so<br />
weit weg. Es hat dann aber nichts mit Sozialismus oder Kommunismus zu tun, sondern mit<br />
einem liberalen Humanismus.<br />
Was wissen wir denn? Aus dem, was wir zu erfahren meinen und dem, was wir denken,<br />
bauen wir uns eine innere Welt, deren Gedanken wir dann mühsam mit anderen zu teilen<br />
versuchen. Aus unserer eigenen Unvollkommenheit schließen wir auf die Unvollkommenheiten<br />
anderer. Aber wir kennen nie mehr <strong>als</strong> uns selbst.<br />
<strong>Die</strong> Menschheit erfindet sich immer wieder neu. Das Kind, das trotzt. Das Mädchen oder der<br />
Junge, die sich auflehnen gegen die Eltern. Wir beginnen aufgrund neuerer Gehirn-<br />
Forschung erst langsam zu verstehen, was sich während der Pubertät für eine unglaubliche<br />
„neurobiologische Revolution” im Gehirn ereignet. Nicht nur der Körper verändert sich, auch<br />
das Gehirn programmiert sich einmal völlig um. Deshalb sind Jugendliche oft so „weggetreten”<br />
oder launisch. Seien Sie nachsichtig: <strong>Die</strong> leisten gerade harte Arbeit. Der Kopf raucht.<br />
Sie arbeiten daran, ihren Beitrag für die Welt leisten zu können. Sie können nichts dafür,<br />
dass die Natur diesen Weg gewählt hat. Das Gehirn <strong>als</strong> völlig selbstbezogenes Organ muss<br />
sich mit jedem Menschen einmal neu erschaffen, Vererbung hin oder her.<br />
<strong>Die</strong> Kinder sind unsere Hoffnung. Indem wir ihnen das richtige Maß an Freiheit und Grenzen<br />
geben, ihnen helfen, Selbstvertrauen zu entwickeln und Wissen zu erwerben, indem wir ihre<br />
Vernunft fördern und sie langsam auch an den Gedanken der Demut gewöhnen, bilden wir<br />
auch uns selbst. Und indem wir jedem Kind zutrauen, dass es am Ende am besten weiß, was<br />
gut für es ist, respektieren wir seine Individualität.<br />
129
Literaturhinweise<br />
<strong>Die</strong>se Liste enthält Bücher, auf die ich im Text verweise, sowie weitere, die mir jetzt oder vor<br />
längerer Zeit geholfen haben, Dinge zu verstehen<br />
Binswanger 2009 Hans Christoph Binswanger: Vorwärts zur Mäßigung – Perspektiven<br />
einer nachhaltigen Wirtschaft<br />
Murmann Verlag 2009<br />
Autor wie Buch zählen zu den Klassikern der Wachstumskritik.<br />
Binswanger gehört zu den ersten namhaften Ökonomen, die sich<br />
wissenschaftlich mit Ressourcen und Wirtschaftswachstum befasst<br />
haben. Er hat entscheidend dazu beigetragen, Begriffe wie<br />
„Wachstumszwang” oder „Geldschöpfung” einer breiteren Leserschaft<br />
verständlich zu machen.<br />
Deutsch 1994 Christian Deutsch: Abschied vom Wegwerfprinzip. <strong>Die</strong> Wende zur<br />
Langlebigkeit in der industriellen Produktion.<br />
Schäffer-Poeschel Verlag 1994<br />
Aus heutiger Sicht zu optimistisch, aber dafür kann er ja nichts:<br />
Christian Deutsch gibt einen umfassenden Überblick über die Risiken<br />
der Kurzlebigkeit und die Vorteile der Langlebigkeit von Produkten.<br />
Mieten statt Kaufen, die Konzentration auf den Nutzen<br />
anstelle des Besitzes sowie – ganz wichtig! – die Ästhetik von Produkten<br />
nehmen breiten Raum ein. Er beschreibt die logische Konsequenz<br />
der Vernunft, wenn Ressourcen begrenzt und teuer werden.<br />
Fromm 1976 Erich Fromm: Haben oder Sein<br />
Deutscher Taschenbuch-Verlag 1976 (amerikanische Originalausgabe<br />
2009)<br />
Erich Fromm ist einer der bekanntesten Vertreter der Humanistischen<br />
Psychologie. In diesem Buch behandelt er die zentrale Frage<br />
der modernen menschlichen Existenz in einer materialistisch orientierten<br />
Welt.<br />
Fromm 1980 Erich Fromm: Ihr werdet sein wie Gott – Eine radikale Interpretation<br />
des Alten Testaments und seiner Tradition<br />
Rowohlt Taschenbuch Verlag 1980 (amerikanische Originalausgabe<br />
1966)<br />
„<strong>Die</strong> Bibel ist für mich ein außergewöhnliches Buch, das viele<br />
Normen und Prinzipien ausdrückt, die ihre Gültigkeit über die Jahrtausende<br />
bewahrt haben. Sie ist ein Buch, das für die Menschen<br />
eine Vision ausgesprochen hat, die noch immer gilt und ihrer Verwirklichung<br />
harrt.” Anhand dieses Buches kann man (erneut) lernen,<br />
dass nichts in der Postwachstumsdebatte wirklich neu ist und<br />
dass die Suche des Menschen nach Freiheit gerade in der heutigen<br />
Zeit neu belebt werden kann.<br />
130
Gasche/Guggenbühl 2010 Urs Gasche und Hanspeter Guggenbühl: Schluss mit dem Wachstumswahn.<br />
Plädoyer für eine Umkehr<br />
Rüegger Verlag 2010<br />
Ein Plädoyer ist es in der Tat, welches die beiden Schweizer Autoren<br />
erneut halten, nachdem sie 2004 eine erste Analyse unter dem<br />
Titel „Das Geschwätz vom Wachstum” veröffentlichten. In relativ<br />
kompakter Form liefern sie einen ganzen Haufen von Argumenten<br />
gegen den Wachstumswahn, die sich ohne weiteres von der<br />
Schweiz auf andere Länder übertragen lassen, und eine Fülle von<br />
praktischen politischen Vorschlägen. Sauer aufgestoßen ist mir das<br />
unkritische Bejubeln der Produktivitätssteigerung, die die Autoren<br />
<strong>als</strong> Mittel für Arbeitszeitverkürzung und <strong>als</strong> Voraussetzung für den<br />
„Genuss des technischen Fortschritts” sehen.<br />
Huber 2011 Joseph Huber: Monetäre Modernisierung – Zur Zukunft der Geldordnung<br />
Metropolis-Verlag 2011<br />
Joseph Huber hat 1998 erstm<strong>als</strong> das Konzept des Vollgeldes publiziert<br />
und seitdem weiterentwickelt. Nach seiner Ansicht müssen<br />
Geldschöpfung und Kreditvergabe getrennt werden, weil Geld ordnungspolitische<br />
Relevanz besitzt und nicht einfach den Banken<br />
überlassen werden darf. Daher soll Geld ausschließlich durch eine<br />
unabhängige Institution geschaffen werden, die sich <strong>als</strong> „Monetative”<br />
in das System der demokratischen Gewaltenteilung einfügt.<br />
Das Konzept des Vollgeldes ist einfach und elegant, es vermeidet<br />
verschiedene Widersprüche des momentanen Geldsystems, des<br />
fraktionalen Reservebanking. Es ist ein Konzept der Mäßigung im<br />
Geldsystem. Zudem kann durch den Wechsel zum Vollgeld die<br />
Seigniorage „nachgeholt” werden, <strong>als</strong>o das Recht des Staates,<br />
Geld durch Staatsausgaben in Umlauf zu bringen. Damit könnte<br />
ein beträchtlicher Teil der Staatsschulden rückgezahlt werden.<br />
Jackson 2011 Tim Jackson: Wohlstand ohne Wachstum – Leben und Wirtschaften<br />
in einer endlichen Welt<br />
Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung<br />
oekom Verlag 2011 (englische Originalausgabe 2009)<br />
Tim Jackson ist einerseits Professor für Nachhaltige Entwicklung<br />
an der englischen Universität Surrey und andererseits Wirtschaftsbeauftragter<br />
der „Kommission für nachhaltige Entwicklung”, die<br />
von der britischen Regierung eingerichtet wurde. Mit diesem Buch<br />
wurde er zum bedeutendsten englischen Wachstumskritiker.<br />
In diesem gut lesbaren, faktenreichen und reich mit Quellenangaben<br />
versehenen Buch geht er ausführlich auf Themen wie<br />
Wohlstandsdefinition, den „Mythos Entkopplung” sowie die ökonomische<br />
Psychologie des Menschen ein. Besonders aufschlussreich<br />
waren für mich die Abschnitte über den „sozialen Wert der<br />
materiellen Dinge”.<br />
131
Knolle 2010 Helmut Knolle: Und erlöse uns von dem Wachstum. Eine historische<br />
und ökonomische Kritik der Wachstumsideologie.<br />
Pahl-Rugenstein Verlag 2010<br />
Knolle betrachtet beispielhaft drei politische Gebilde mit einer besonders<br />
ausgeprägten Wachstumsdynamik (Römisches Reich,<br />
Deutsches Reich und die USA) und liefert äußerst interessante<br />
Aspekte zu Bevölkerungswachstum, Wachstumsbegrenzung und<br />
Nationalismus. <strong>Die</strong> Analyse der modernen Wachstumsgesellschaft<br />
finde ich bei anderen Autoren allerdings überzeugender.<br />
Krämer 1989 Walter Krämer: <strong>Die</strong> Krankheit des Gesundheitswesens – <strong>Die</strong> Fortschrittsfalle<br />
der modernen Medizin<br />
S. Fischer Verlag 1989<br />
Der Gesundheitsökonom Walter Krämer hat sich einen etwas zweifelhaften<br />
Ruf <strong>als</strong> Polemiker und Besserwisser erworben. Dennoch<br />
ist er ein großer Lehrer, und ich halte sein Buch über das Gesundheitswesen<br />
für eines der besten, die je zu dem Thema geschrieben<br />
worden sind. In diesem Buch habe ich mehr über Marktwirtschaft<br />
und Gerangelwirtschaft, Statistik und natürlich das Gesundheitssystem<br />
gelernt <strong>als</strong> irgendwo sonst. Wer etwas über Vernunft<br />
und ihre Abwesenheit, Maßlosigkeit, Eitelkeit und Angst erfahren<br />
will, muss dieses Buch lesen. Seine Polemiken machen das Buch<br />
zudem recht rasant ...<br />
Er beschreibt die Erfolge der modernen Medizin und entschleiert<br />
die verschlungenen Wege des staatlich organisierten Medizinbetriebes,<br />
die zu einer beispiellosen finanziellen Verschwendung führen.<br />
Außerdem klärt er diverse Missverständnisse der Medizinstatistik<br />
auf. Schon vor über 20 Jahren hat er alle wesentlichen Probleme<br />
benannt und Lösungen vorgeschlagen. Kaum eines dieser<br />
Probleme wurde seitdem gelöst, das Buch ist <strong>als</strong>o immer noch<br />
hochaktuell – aber seit langem vergriffen.<br />
Postman 1988 Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode<br />
Fischer Taschenbuch 1988<br />
„Problematisch am Fernsehen ist nicht, daß es uns unterhaltsame<br />
Themen präsentiert, problematisch ist, daß es jedes Thema <strong>als</strong><br />
Unterhaltung präsentiert.”<br />
Der „Grand Old Man” des Kulturpessimismus beschreibt eindringlich,<br />
wie die Amerikaner das Zeitalter des langsamen, gedruckten<br />
Wortes beenden und sich zunehmend der Trivialität zuwenden,<br />
vornehmlich in Gestalt des Fernsehens. Ein absoluter Klassiker des<br />
Themas, unbedingt empfehlenswert für alle, die an einen rationalen<br />
Diskurs glauben, der durch die Medialisierung der Welt gefährdet<br />
ist.<br />
Postman 1987 Neil Postman: Das Verschwinden der Kindheit<br />
Fischer Taschenbuch 1987<br />
Neil Postman lehrt uns, dass die Idee der Kindheit eine erkämpfte<br />
kulturelle Errungenschaft ist, die im Zeitalter der Trivialität (siehe<br />
Postman 1988) wieder am Verschwinden ist. Welches Kind kann<br />
denn heute noch eine Kindheit erleben wie ich (siehe Widmung),<br />
132
denn heute noch eine Kindheit erleben wie ich (siehe Widmung),<br />
ohne die Attribute der Erwachsenenwelt? Gerade im Zeitalter des<br />
Internet, das für Kinder und Jugendliche praktisch frei zugänglich<br />
ist, sind seine Thesen wieder besonders lesenswert.<br />
Pickett/Wilkinson 2009 Kate Pickett und Richard Wilkinson: Gleichheit ist Glück. Warum<br />
gerechte Gesellschaften für alle besser sind<br />
Verlag Tolkemitt bei Zweitausendeins 2009 (englische Originalausgabe<br />
2009)<br />
Es handelt sich um eine bahnbrechende Arbeit zum Thema Verteilungsgerechtigkeit.<br />
<strong>Die</strong> Autoren weisen anhand jahrzehntelanger<br />
Forschungsarbeit nach, dass ab einem bestimmten, relativ niedrigen<br />
Einkommensniveau die Verteilung des Einkommens stärkeren<br />
Einfluss auf fast alle Wohlbefindens- und Glücksindikatoren einer<br />
Gesellschaft hat <strong>als</strong> die absolute Höhe. Es handelt sich um starke<br />
Argumente gegen Reichtum und das Gesetz des Dschungels.<br />
133
Rifkin 1996 Jeremy Rifkin: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft<br />
Campus Verlag 1996 (amerikanische Originalausgabe 1995)<br />
Auch ein Klassiker, der immer wieder zitiert wird. Rifkin beschreibt<br />
drastisch die Folgen von Digitaler Revolution und Schlanker Produktion,<br />
die durch den ungeheuren Produktivitätszuwachs immer<br />
mehr Menschen arbeitslos macht. <strong>Die</strong> von ihm vorgeschlagenen<br />
Alternativen „Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit” oder „Schöneres<br />
Leben mit mehr Freizeit” sind heute gängiges Argumentarium<br />
der Postwachstumsdebatte.<br />
Seidl/Zahrnt 2010 Irmi Seidl und Angelika Zahrnt (Hg.): Postwachstumsgesellschaft –<br />
Konzepte für die Zukunft<br />
Metropolis Verlag 2010<br />
Ein sehr schöner Beitrag zur wachstumskritischen Debatte, denn<br />
Irmi Seidl und Angelika Zahrnt versammeln eine Vielzahl von<br />
Fachbeiträgen verschiedener Experten zum Thema Postwachstum<br />
und lassen auch Stimmen aus dem Ausland zu Wort kommen, wie<br />
dort der Stand der Debatte ist. Zum Buch gibt es auch einen Blog.<br />
Zwei Beiträge empfinde ich allerdings <strong>als</strong> recht konventionell und<br />
wenig überzeugend: Norbert Reuter (Arbeitsmarkt) und Bernd<br />
Meyer (Ressourceneffizienz).<br />
Simon 1996 Hermann Simon: <strong>Die</strong> heimlichen Gewinner (Hidden Champions) –<br />
<strong>Die</strong> Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktführer<br />
Campus Verlag 1996<br />
Eine Forschungsarbeit eines Betriebswirtschaftlers, der sich mit<br />
(meist mittelständischen) Unternehmen befasst, die einerseits<br />
Spitzenleistungen erbringen und in ihren (Spezial-)Märkten unangefochtene<br />
Marktführer sind, die andererseits aber kaum jemand<br />
kennt. Er kommt zu dem Schluss, dass das Streben nach Marktführerschaft<br />
an sich bereits hohe Energien freisetzt und die nötige<br />
Fokussierung auf den Erfolg bewirkt.<br />
Unfreiwillig stützt er damit meine Thesen, dass sich Teile der Wirtschaft<br />
völlig vom Sinn abgekoppelt haben und nur noch der Umverteilung<br />
dienen, und dass andererseits eine Menge Leute ihre<br />
psychischen Defizite („Nummer 1 sein, sonst nichts!“) über den<br />
Umweg der Ökonomie kompensieren.<br />
Trivers 2011 Robert Trivers: Deceit and Self-Deception – Fooling yourself the<br />
better to fool others<br />
(etwa: „Täuschung und Selbst-Täuschung – Sich selbst reinlegen,<br />
um andere besser reinzulegen”)<br />
Penguin Books 2011<br />
Eine allgemeine Theorie über die evolutionären Ursachen des<br />
Selbstbetrugs, vorgelegt von einem der großen amerikanischen<br />
Sozialbiologen. Nach seinen Ergebnissen sind Menschen, die sich<br />
selbst betrügen, evolutionär im Vorteil, weil es ihnen leichter fällt,<br />
andere zu betrügen.<br />
134
Welzer 2011 Harald Welzer: Mentale Infrastrukturen – Wie das Wachstum in<br />
die Welt und in die Seelen kam<br />
Heinrich-Böll-Stiftung: Schriften zur Ökologie, Band 14<br />
Abrufbar <strong>als</strong> <strong>pdf</strong> unter www.boell.de > Publikationen<br />
Literatur zum Konstruktivismus:<br />
Ein exzellenter (kurzer) Aufsatz über die Entwicklung von Wachstum<br />
<strong>als</strong> „geistige Idee”. Wachstum ist nicht nur politische und<br />
wirtschaftliche Realität, sondern auch ein Teil unseres Selbstbildes<br />
und unserer Erziehung. Das war aber beileibe nicht immer so, und<br />
Harald Welzer beschreibt den gesellschaftlichen Weg dorthin.<br />
Es gibt ein Referat von mir zu diesem Thema, welches auf wenigen Seiten die wichtigsten<br />
Ideen und Konsequenzen des Konstruktivismus beleuchtet (in der Internet-<strong>Version</strong> unter<br />
Download).<br />
Als verständliche Einführung hat Paul Watzlawick ein Buch selbst geschrieben: „Wie wirklich<br />
ist die Wirklichkeit?” (Piper) und eines <strong>als</strong> Herausgeber zusammengestellt mit Beiträgen<br />
mehrerer Konstruktivisten: „<strong>Die</strong> erfundene Wirklichkeit” (Piper).<br />
Wenn Sie sich für dieses Thema wirklich interessieren, dann empfehle ich Ihnen von Siegfried<br />
J. Schmidt die beiden Suhrkamp Taschenbücher unter dem Stichwort „Der Diskurs des<br />
Radikalen Konstruktivismus”. <strong>Die</strong>se Sammelbände geben gute einführende Übersichten mit<br />
Beiträgen aller namhaften Konstruktivisten und weiteren Literaturhinweisen. <strong>Die</strong> Sprache ist<br />
allerdings sehr wissenschaftlich.<br />
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