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Die ausführliche Version als pdf - Futur III

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ANDREAS SIEMONEIT<br />

<strong>Futur</strong> <strong>III</strong><br />

Unterwegs zu einer Politischen Theorie der Nachhaltigkeit<br />

Langversion der Webseite www.futur-<strong>III</strong>.de<br />

<strong>Version</strong> 3.3 vom 18.03.2013


Vorwort ...................................................................................................................3<br />

Widmung ...................................................................................................................5<br />

Über <strong>Futur</strong> <strong>III</strong> und den Autor ..........................................................................................6<br />

Der Autor und sein Standpunkt.....................................................................................6<br />

<strong>Futur</strong> <strong>III</strong> .....................................................................................................................6<br />

Kapitel 1: Einleitung ....................................................................................................8<br />

1.1 Intro .................................................................................................................8<br />

1.2 Ausgangspunkt ................................................................................................11<br />

1.3 Überblick über das Buch....................................................................................13<br />

Kapitel 2: Ursachen ...................................................................................................15<br />

2.1 Technische Revolutionen...................................................................................15<br />

2.2 Bevölkerungswachstum.....................................................................................17<br />

2.3 Geld und Markt ................................................................................................19<br />

2.4 Menschliche Vernunft........................................................................................24<br />

2.5 Antrieb des Menschen.......................................................................................29<br />

2.6 Antrieb der Wirtschaft.......................................................................................34<br />

2.7 Produktivitätssteigerung....................................................................................38<br />

2.8 Wider die Vernunft ...........................................................................................41<br />

Kapitel 3: Sackgassen................................................................................................44<br />

3.1 Sackgasse Produktivität ....................................................................................44<br />

3.2 Institutionelle Wachstumstreiber........................................................................61<br />

3.3 Ungleichheit.....................................................................................................64<br />

3.4 Computer, Internet und mobile Kommunikation ..................................................65<br />

3.5 Widersprüchliche Botschaften............................................................................68<br />

Kapitel 4: Scheinlösungen ..........................................................................................70<br />

4.1 Inseln der Vernunft ..........................................................................................70<br />

4.2 Green New Deal ...............................................................................................72<br />

4.3 Großtechnische Lösungen .................................................................................74<br />

4.4 Cradle to cradle................................................................................................75<br />

Kapitel 5: Fazit..........................................................................................................79<br />

5.1 Stand der Dinge ...............................................................................................79<br />

5.2 Ziele eines Umbaus ..........................................................................................83<br />

Kapitel 6: Alternative .................................................................................................90<br />

6.1 Eine liberale Antwort.........................................................................................90<br />

6.2 Humanistische Marktwirtschaft ..........................................................................93<br />

6.3 Demut, Selbstvertrauen und Vernunft .............................................................. 105<br />

6.4 Verfall und Tod .............................................................................................. 108<br />

6.5 Was macht uns zufrieden? .............................................................................. 111<br />

6.6 Systemumbau ................................................................................................ 116<br />

Epilog ............................................................................................................... 127<br />

Was können Sie selbst tun?...................................................................................... 127<br />

Schlusswort ............................................................................................................ 129<br />

Literaturhinweise........................................................................................................ 130<br />

2


Vorwort<br />

<strong>Die</strong> Welt der Wirtschaft dreht sich immer schneller: Ein entfesselter Finanzmarkt, Investoren,<br />

die Grundstücke und Rohstoffe hamstern, steigender Ressourcenverbrauch, Millionen Arbeitslose<br />

und ein ruinöser Wettbewerb der Nationen sind nur einige Stichwörter der Negativspirale.<br />

Warum sind die bewährten liberalen Prinzipien<br />

• Freiheit des Einzelnen<br />

• Demokratie<br />

• Marktwirtschaft<br />

• Gerechtigkeit<br />

• „Leistung soll sich lohnen”<br />

• Zurückhaltung des Staates<br />

anscheinend nicht in der Lage, unsere ökologischen und sozialen Grundlagen zu bewahren?<br />

Ist das nur unsere „angeborene Gier”? Demokratie und Marktwirtschaft werden <strong>als</strong> Konzepte<br />

von verschiedenen Seiten zunehmend in Frage gestellt – kann man sie noch einmal „rehabilitieren“?<br />

Selbstverständlich. Es ist eigentlich ganz einfach. Mit genau diesen liberalen Prinzipien kann<br />

man nämlich auch zu einem Gesellschaftsmodell kommen, in dem Vernunft und Mäßigung<br />

auf einmal zum Natürlichen werden. Es ist liberal, denn es würdigt die Freiheit des Einzelnen.<br />

Es ist humanistisch, denn es berücksichtigt die menschlichen Konflikte zwischen kurzfristigen<br />

und langfristigen Interessen. Es ist der Versuch herauszufinden, was Demokratie so edel und<br />

Marktwirtschaft so unwiderstehlich macht, und ob man das nicht noch einmal anders kombinieren<br />

kann.<br />

Es gibt zwei gegensätzliche gesellschaftliche Botschaften:<br />

• <strong>Die</strong> Botschaft der freien Marktwirtschaft<br />

Denke unternehmerisch. Maximiere Deinen Gewinn. Verbinde Dein persönliches<br />

Wachstum mit dem Wachstum der Wirtschaft. Bleibe wettbewerbsfähig. Suche Gelegenheiten<br />

zum Investieren. Steigere den Umsatz. Senke die Kosten. Sei nie zufrieden<br />

mit dem Erreichten.<br />

• <strong>Die</strong> Botschaft der Mäßigung<br />

Mäßige Dich. Handle vernünftig. Wirtschafte nachhaltig. Schütze die Umwelt. Senke<br />

den Ressourcenverbrauch. Teile Deinen Reichtum. Nimm Rücksicht auf die Schwächeren.<br />

Geld ist nicht alles. Sei zufrieden mit dem, was Du hast.<br />

Das Problem ist: <strong>Die</strong> Botschaft der freien Marktwirtschaft ist viel lauter <strong>als</strong> die der Mäßigung.<br />

Wir haben 1001 Maßnahmen getroffen, um der Botschaft der freien Marktwirtschaft Gehör<br />

zu verschaffen, aber nur eine Handvoll für die Botschaft der Mäßigung. Und wir verschaffen<br />

der Botschaft der freien Marktwirtschaft über viele übergeordnete Prinzipien Geltung, der<br />

Botschaft der Mäßigung jedoch vorwiegend über nachgelagerte Gesetze und Verordnungen.<br />

Das führt zu einem grotesken Ungleichgewicht:<br />

• Wir sind in einer Spirale aus Produktion und Konsum gelandet, weil unser Wirtschaftssystem<br />

das Unternehmertum geradezu entfesselt und die Konsumenten zum<br />

Konsum drängt. Gewinne werden privatisiert und Kosten vergesellschaftet. Das ist<br />

nicht gottgegeben, sondern durch verschiedene Prinzipien so gestaltet.<br />

• Ebenso ist eine ständige Steigerung der Produktivität nicht „natürlich”, sondern basiert<br />

praktisch ausschließlich auf der ungehemmten Ausbeutung der natürlichen Ressourcen.<br />

Der Gesamteffekt von Produktivitätssteigerung und Arbeitsteilung ist schon<br />

seit langem für die Gesellschaft insgesamt negativ.<br />

3


• Viele derzeit diskutierte „Lösungen” versuchen, nur die wildesten Auswüchse zu begrenzen,<br />

ohne die Frage nach den tieferen Gründen zu stellen. <strong>Die</strong> Wirtschaft soll<br />

zum Maßhalten gezwungen werden. Das führt zu einem undurchschaubaren Geflecht<br />

von Vorschriften sowie ganz unangenehmen moralischen Appellen.<br />

Es wird daher nicht reichen, Plädoyers für neue Leitbilder zu halten, neue Formen der Arbeit<br />

zu diskutieren oder den Gestaltungswillen der Politik einzufordern, solange überwältigende<br />

Anreize und praktische Subventionen im Gesellschaftsmodell existieren, die zu Reichtum,<br />

Machtkampf, Wettbewerb und Ressourcenverschwendung auffordern – kurz: Zu Maßlosigkeit<br />

und Unvernunft. <strong>Die</strong> Idee der Leistungsgesellschaft „Wer mehr leistet, bekommt auch mehr”<br />

wurde pervertiert in die Idee der Wettbewerbsgesellschaft „Wirtschaft ist Kampf, und es gibt<br />

Gewinner und Verlierer”. Der Mensch könnte viel vernünftiger sein, wenn man ihm nur eine<br />

Chance geben würde.<br />

Wie kann man die Systemfrage stellen, ohne liberale Prinzipien aufzugeben? Millionen von<br />

Menschen mit unterschiedlichsten Interessen kann man nicht dazu bringen, an einem Strang<br />

zu ziehen. Statt dessen darf man die Kräfte bestimmter Stränge nicht zu stark werden lassen.<br />

Das Stichwort zur Sicherung der Freiheit lautet „Machtbegrenzung”, und die Aufgabe<br />

lautet, das in der Wirtschaft ohne Willkür zu realisieren. Es geht nicht darum, nachhaltiges<br />

Verhalten zu fördern, sondern nicht nachhaltiges zu bremsen. <strong>Die</strong> unfaire Konkurrenz ist<br />

zu groß.<br />

<strong>Die</strong> notwendigen Prinzipien der Umgestaltung umfassen im wesentlichen folgende Punkte,<br />

die allesamt fest auf einer liberalen Grundlage stehen:<br />

• Marktwirtschaft und Demokratie sind das Gleiche. Es sind die beiden Seiten der Medaille<br />

„Leben in Gemeinschaft”. Nur mit Marktwirtschaft kann man die wirtschaftliche<br />

Freiheit des Einzelnen realisieren, aber sie darf nicht grenzenlos sein. In der Politik<br />

waren wir schon mutiger und haben die Macht der Repräsentanten demokratisch begrenzt.<br />

Notwendige Voraussetzung war die Erfahrung der politischen Katastrophen<br />

des 20. Jahrhunderts. Das müssen wir jetzt in der Marktwirtschaft nachholen, um<br />

nicht vollends in eine ökologische und soziale Katastrophe des 21. Jahrhunderts abzugleiten.<br />

Machtbegrenzung bedeutet in der Marktwirtschaft eine absolute Obergrenze<br />

für Vermögen.<br />

• Aus dem Grundsatz „Leistung soll sich lohnen” kann man ableiten, dass leistungslose<br />

Einkommen, die einfach nur aufgrund von Eigentum erzielt werden, nicht zulässig<br />

sind. Einkommen dürfen nur aufgrund einer eigenhändig erbrachten Leistung erzielt<br />

werden. Kein Grundstück wurde je von Menschen erschaffen, kein nichterneuerbarer<br />

Rohstoff je von Menschen produziert. <strong>Die</strong>ses „Menschheitserbe” darf demzufolge<br />

nicht den Marktgesetzen unterliegen. Damit erhält man einen veränderten Eigentumsbegriff.<br />

• Demokratie bedeutet auch die Berücksichtigung der zukünftigen Generationen, und<br />

zwar nicht nur der nächsten 50 Jahre. Wir haben genug Rohstoffe aus der Erde geholt,<br />

und mit dem, was wir haben, müssen wir sorgsam umgehen. Das führt zu einem<br />

absoluten Nachhaltigkeitspostulat: 100 % Recycling oder 100 % Abbaubarkeit<br />

(„Cradle to cradle”), keine zusätzlichen nichterneuerbaren Rohstoffe verbrauchen,<br />

Produktverantwortung des Herstellers über die gesamte Produktlebensdauer (umfassende<br />

Rücknahmepflicht).<br />

Auf dieser Basis könnte man zu einer neuen Gesellschaftsordnung kommen, die gutes Leben<br />

nicht primär über den Konsum definiert. Angebotsdenken würde ersetzt durch Nachfrageorientierung.<br />

<strong>Die</strong> konkrete Ausgestaltung könnte wieder getrost den Kräften des Marktes überlassen<br />

werden, der dann sozusagen auf eine Vernunft-Diät gesetzt ist. Es könnte die Bewahrung<br />

von Demokratie und Marktwirtschaft sein – eine humanistische Marktwirtschaft.<br />

4


Widmung<br />

Das Buch „<strong>Futur</strong> <strong>III</strong>” möchte ich der Fotografin Ingeborg Ullrich und dem Filmemacher Hans-<br />

Georg Ullrich widmen, die beide seit langem in Berlin leben.<br />

Ich habe einen großen Teil meiner Kindheit in ihrem Haus verbracht, nachdem ich im Kindergarten<br />

ihren Sohn Volker kennengelernt hatte, der zum engsten Freund dieser Zeit wurde.<br />

Ihnen danke ich für die Zuwendung und Großzügigkeit, die ich in dieser Zeit erleben<br />

durfte, und für die Freiheiten, die Volker, ich und viele andere Kinder dam<strong>als</strong> in Haus und<br />

Garten und anderswo genießen konnten. Wir lebten eine Kindheit, in der es erlaubt war, sich<br />

nicht mit den Fragen der frühkindlichen Förderung, Handys, iPods und Mehrsprachigkeit zu<br />

beschäftigen, sondern mit Schlamm, Kletterbäumen, Höhlen, Dachböden, Verkleiden und<br />

ganz normalem Spielzeug. Wir durften auf die Symbole der Erwachsenenwelt verzichten.<br />

Ingeborg und Hans-Georg haben sich in ihrer beruflichen Arbeit sehr viel mit dem Alltag der<br />

Menschen beschäftigt, weil sie wissen wollen, wie es wirklich ist, und vor allem auch, wie es<br />

jenseits des Hype ist. Sie wussten immer, dass die Wahrheit vor allem in der Einfachheit<br />

liegt. Sie haben uns Kindern einen Humanismus praktisch vorgelebt und uns ihre Werte unaufgeregt,<br />

im Zweifel aber konsequent vermittelt.<br />

Anfang der 1970er Jahre war dieser Kindergarten, in dem ich Volker kennengelernt hatte, im<br />

Berliner Bezirk Schmargendorf gegründet worden, von Eltern und Erzieherinnen, die mit den<br />

staatlichen und kirchlichen Kindergärten unzufrieden waren. Sie waren vom studentischen<br />

Aufbruch der 68er geprägt und voller Optimismus. Der Kindergarten wurde „ZOP 4” genannt,<br />

was viele für eine politische Abkürzung hielten – es war aber einfach die Abkürzung von<br />

„Zoppoter Str. 4”. Er zog später um in die Barstraße am Fehrbelliner Platz und wurde erst vor<br />

einigen Jahren aufgelöst und mit anderen Einrichtungen zusammengelegt.<br />

Auch dam<strong>als</strong> herrschte viel Verwirrung um den richtigen Weg, ähnlich wie heute, und viele<br />

hatten politische Extrempositionen. Es gab aber auch eine Menge Leute, die die Idee des<br />

Humanismus in ihrem Alltag ganz praktisch neu belebten, indem sie umsetzten, wovon sie<br />

innerlich überzeugt waren, und versuchten, ihren Kindern davon etwas mitzugeben.<br />

Für mein Leben bedeutet es ein großes Glück, in dieser Zeit von all diesen Menschen geprägt<br />

worden zu sein.<br />

5


Über <strong>Futur</strong> <strong>III</strong> und den Autor<br />

Der Autor und sein Standpunkt<br />

Geboren 1967 in Köln. Aufgewachsen in Berlin (siehe Widmung), dort Grundschule und humanistisches<br />

Gymnasium, anschließend Studium zum Diplom-Physiker an der TU Berlin. Danach<br />

eine Weile auf Sinnsuche, die mit dem Entschluss zu einem Aufbaustudium endete,<br />

nämlich Wirtschaftsingenieurwesen an der Beuth-Hochschule für Technik (dam<strong>als</strong> noch TFH<br />

Berlin). Während dieses Aufbaustudiums fasziniert von der Wirtschaftsinformatik. Seit dem<br />

Diplom 1998 auf diesem Feld tätig, erst angestellt, dann <strong>als</strong> „angestellter Gesellschafter”.<br />

Zunächst eher breitbandig im Bereich Warenwirtschaft tätig, seit 2005 praktisch ausschließlich<br />

fokussiert auf Software für den Bereich der Zeitarbeit – einem gesellschaftlichen Brennpunkt<br />

und „Labor” für die Diskussion um den Wert der Arbeit und die Bedeutung der Produktivität<br />

bzw. ihrer Steigerung.<br />

<strong>Die</strong> Idee zu diesem Text entstand, <strong>als</strong> ich eine zunehmende Distanz zu meiner eigenen Erwerbsarbeit<br />

aufbaute. Ich habe keine Lust mehr, <strong>als</strong> Softwareentwickler an der vordersten<br />

Front der Beschleunigung mitzuarbeiten. Oder um mit Harald Welzer zu sprechen: Ich habe<br />

keine Lust mehr, niem<strong>als</strong> fertig zu sein.<br />

Meine Vision ist die einer radikal einfacheren Welt, die wieder menschliche Dimensionen erhält.<br />

Vielleicht bin ich einfach in der f<strong>als</strong>chen Zeit geboren – gefühlt hätte ich lieber vor 100<br />

oder 150 Jahren gelebt. <strong>Die</strong> „gute, alte Zeit” (die so gut oft nicht war) war materiell erheblich<br />

verträglicher, aber gesellschaftlich und vom Wissen her ziemlich rückständig. In der heutigen<br />

Moderne (die so gut auch nicht ist) sind wir im Wissen viel, gesellschaftlich nur in manchem<br />

weiter, dabei aber materiell zutiefst rückständig, indem wir die Erde vergewaltigen. Wir<br />

sollten versuchen, das Beste aus beiden Welten zusammenzubringen – und die gute, alte<br />

Zeit dient <strong>als</strong> Beweis dafür, dass es zumindest technisch funktionieren kann. Denn es hat<br />

schon mal funktioniert. Wir müssen ja nicht alle Fehler von dam<strong>als</strong> wiederholen.<br />

Ich selbst mache bei einem Gutteil der modernen Wunderdinge einfach nicht mehr mit:<br />

• Kein Handy und schon gar kein Smartphone<br />

• Kein Auto<br />

• Keine Flugreisen<br />

• Kein Fernsehen<br />

• Keine Vollzeitstelle<br />

• Kein Fast Food<br />

Ich konnte bisher keine Verringerung der Zufriedenheit feststellen, im Gegenteil. Auf den<br />

Computer verzichte ich nicht, weil ich mich nicht ganz aus dieser Gesellschaft katapultieren<br />

möchte.<br />

<strong>Futur</strong> <strong>III</strong><br />

Warum „<strong>Futur</strong> <strong>III</strong>”? Eigentlich war es zunächst „<strong>Futur</strong> II”, unter diesem Namen ging es am<br />

31.10.2011 online. Das ist einerseits ein Wortspiel: Es geht um eine grundlegende Alternative<br />

zu vorherrschenden Zukunftsmodellen. Andererseits ist <strong>Futur</strong> II eine grammatische Form,<br />

die die Vergangenheit aus der Perspektive der Zukunft beschreibt: „Ich werde dies und jenes<br />

gemacht haben”. Im Sinne eines (kritischen) Rückblicks aus der Zukunft passte das ganz<br />

gut. Seit März 2011 war das für mich der Arbeitstitel meines „Sudelbuches”, eines Notizheftes<br />

für Gedanken und Beobachtungen.<br />

Erst später bekam ich mit, dass Harald Welzer den Begriff des <strong>Futur</strong> II in genau diesem Sinne<br />

bereits in wachstumskritischen Debatten verwendet hatte. Ich habe das Buch zunächst<br />

6


trotzdem so benannt. Als dann aber klar wurde, dass Harald Welzer diesen Begriff „weiter<br />

ausbauen” möchte zur Stiftung „<strong>Futur</strong> 2”, habe ich mich entschieden, die Namen zu entzerren,<br />

mein Buch <strong>Futur</strong> <strong>III</strong> zu nennen und die Domain zu wechseln. <strong>Futur</strong> <strong>III</strong> ist eine grammatische<br />

Form, die es nicht gibt, sie ist sozusagen undenkbar – und das passt ganz gut zu den<br />

hier gemachten Vorschlägen. Auch davon erscheint vieles in der aktuellen Debatte undenkbar.<br />

Warum ein Internet-Buch? <strong>Die</strong>se Entscheidung fiel mir schwer, denn ich halte das Internet<br />

mittlerweile nicht mehr für das Füllhorn des 21. Jahrhunderts, sondern für einen weiteren<br />

Schritt in Richtung Abgrund. Im Detail nehme ich dazu im Abschnitt Computer, Internet und<br />

mobile Kommunikation Stellung. Ich sehe aber auch, wie langsam sich die Diskussion über<br />

Wachstum verbreitet, und möchte hier bewusst beschleunigen.<br />

Außerdem habe ich bereits gute Erfahrungen mit einem Internet-Buch gemacht. Der eine<br />

oder andere wird vielleicht mein Nautisches Lexikon kennen. Optische und strukturelle Ähnlichkeiten<br />

sind überhaupt gar nicht zufällig. Ein Internet-Buch hat den Vorteil, dass man<br />

leicht neue „Auflagen” erstellen kann. Man kann es ändern, kürzen, erweitern und damit<br />

dem Fortgang der Diskussion anpassen. Es ist ja nicht so, dass das Internet keine Vorteile<br />

hätte. Aber der Preis ist zu hoch.<br />

7


Kapitel 1: Einleitung<br />

1.1 Intro<br />

1.1.1 Immer schneller<br />

<strong>Die</strong> Welt der Wirtschaft dreht sich immer schneller:<br />

• Arbeitsplätze sind immer unsicherer geworden,<br />

• an ein Millionenheer von Arbeitslosen – mal mehr, mal weniger – haben wir uns<br />

schon lange gewöhnt,<br />

• die Finanzkrise kostet Hunderte von Milliarden Euro,<br />

• Griechenland ist finanziell nicht zu retten,<br />

• die Hypo Real Estate verrechnet sich mal eben um 55.000.000.000 EUR,<br />

• Investoren versuchen, sich Land, Wasser und Rohstoffe zu sichern,<br />

• Zeitarbeit boomt, prekäre Arbeitsverhältnisse und Mini-Existenzen nehmen zu,<br />

• der Wirtschaftsteil der Zeitung liest sich wie Kriegberichterstattung,<br />

• im Pazifik schwimmt ein Müllstrudel von der Größe Westeuropas,<br />

• Schulden erdrücken die Staaten,<br />

• CO2 soll unter der Erdoberfläche gebunkert werden,<br />

• mit dem Atommüll weiß man immer noch nicht so recht, wohin,<br />

• Pendler fahren immer weiter zu ihrem Arbeitsplatz,<br />

• Konzerne ziehen mit ihren Fabriken heimatlos von Land zu Land,<br />

• mit dem Drohwort „Arbeitsplätze” kann man alle und jeden erpressen,<br />

• China stellt uns alles Mögliche billig her und ängstigt uns gleichzeitig mit seiner wirtschaftlichen<br />

Macht,<br />

• nachhaltige Mittelständler werden gelobt, sind aber auch irgendwie zu Exoten geworden,<br />

• Bioäpfel kommen aus Argentinien und Pangasiusfilet von der vietnamesischen Fischfarm,<br />

• Öl- und Rohstoffunternehmen durchwühlen die Oberflächen von Erde und Meeresgrund<br />

und Ewigem Eis,<br />

• an der Börse schwirrt vielfach mehr Kapital durch die Gegend <strong>als</strong> es Wirtschaftsleistung<br />

gibt,<br />

• jährlich werden in Deutschland 10 Mio. t Lebensmittel weggeworfen,<br />

• Smartphones können immer mehr,<br />

• der Einzelne kann immer weniger,<br />

• nur eine Weltregierung wird es richten,<br />

• Nationen und Regionen konkurrieren um die großen Arbeitgeber,<br />

• Fast Food und Fertiggerichte lösen das Kochen ab,<br />

• Wegwerfen ist in,<br />

• ohne Handy ist man out,<br />

• ab 45 hat man auf dem Arbeitsmarkt nichts mehr zu melden,<br />

• qualifizierte Arbeitskräfte werden Mangelware,<br />

• Fliegen ist billiger <strong>als</strong> Taxi zu fahren,<br />

• Aggressivität scheint zuzunehmen,<br />

• Mitmenschlichkeit scheint abzunehmen,<br />

8


• die Krankenversicherung wird immer teurer,<br />

• die Miete auch,<br />

• die Rente immer weniger,<br />

• die Ungleichheit immer krasser,<br />

• die Welt immer voller,<br />

• ...<br />

<strong>Die</strong> Liste könnte noch endlos weitergehen. Wo soll das alles enden? Wenn Ihnen eine Nachricht<br />

begegnet, wo Sie denken: „Was für ein Irrsinn!”, dann haben Sie vermutlich recht. Ihr<br />

spontanes Gefühl wird meistens richtig liegen: Es ist Irrsinn. Viele Menschen beschäftigen<br />

diese Themen, aber überall herrscht Ratlosigkeit – was soll und kann man tun? Nachdenklichkeit<br />

und Änderungsbereitschaft sind vielerorts zu spüren, aber ebenso weit verbreitet sind<br />

Resignation und ein Gefühl der Machtlosigkeit. Auch Ignoranz.<br />

Wir haben ein Zuviel an wirtschaftlichem Handeln, nicht ein Zuwenig. Wir haben zu viel Produktion,<br />

zu viel Handel, zu viel <strong>Die</strong>nstleistung, zu viel Konsum, zu viel Mobilität. Der Mensch<br />

hat hier alles, was er braucht – deshalb findet der Rüstungswettlauf der modernen Wirtschaft<br />

im wesentlichen in unsinnigen Bereichen statt, die sich im Grunde nur selbst am<br />

Wachsen halten. Aber wie kann man das stoppen? Wieviel Verzicht müssen wir üben? Und<br />

was ist mit den Arbeitsplätzen??? Auf die eine oder andere Weise haben die meisten von uns<br />

ihre Existenz mit dem Wirtschaftswachstum verknüpft. Ein individueller Ausstieg erscheint<br />

trotz Unbehagen unmöglich. Stillstand ist Rückschritt. Viele wissen, dass es so nicht weiter<br />

geht, aber keiner hat Lust, der Erste zu sein, deshalb wird weitergemacht – jeder sein eigener<br />

Lobbyist. Wie Ödipus im antiken Drama sind wir dabei, unsere eigene Tragödie durch<br />

unser eigenes Handeln zu vollenden.<br />

Schaffen wir es, den Gordischen Knoten zu zerschlagen, der uns an diese Wirtschaftsform<br />

fesselt? Wir stecken immer mehr Geld und Energie in die Steuerung eines Systems, bei dem<br />

wir andererseits aufgrund des Wachstumsdogmas bewusst zulassen, dass es unsteuerbar<br />

wird. Das ist widersprüchlich. „Wachstum unter Kontrolle” ist der Hauptwiderspruch, alles<br />

andere sind keine Nebenwidersprüche, sondern Folgewidersprüche.<br />

1.1.2 Dreifach-Krise<br />

Derzeit sind drei Krisen zu unterscheiden, die inhaltlich zwar zusammenhängen, aber einander<br />

nicht ursächlich bedingen. Sie haben jedoch eine gemeinsame Wurzel: Der Wunsch nach<br />

Produktivitätssteigerung und nach mehr Profit.<br />

• eine Ressourcenkrise, die zur Umweltkrise führt<br />

Sie resultiert aus der Begrenztheit der materiellen Ressourcen dieser Erde und ihrer<br />

beginnenden spürbaren Verknappung, sowie aus den Belastungen der Natur mit den<br />

Rückständen des menschlichen Wirtschaftens. Als Lösung wird „Nachhaltiges Wachstum”,<br />

wahlweise auch „Ökologisches Wachstum” oder „Intelligentes Wachstum” genannt.<br />

Ressourcenschonung mit Hilfe von intelligenter Technologie, aber weiterhin<br />

unter der Überschrift: „Wohlstand für alle!” Man möchte die schlechten Seiten des<br />

Kapitalismus vermeiden und die guten Seiten der Marktwirtschaft bewahren. Ökologie<br />

und Ökonomie widersprechen sich nicht? Das ist richtig, aber Ökologie und materieller<br />

Wohlstand für alle widersprechen sich.<br />

• eine Beschäftigungskrise, die zur sozialen und politischen Krise führt<br />

Sie resultiert aus der permanenten Steigerung der Produktivität, deren Gewinne zunehmend<br />

ungleich verteilt werden und die zur Freisetzung von Arbeitskräften führt.<br />

Beides führt zu einer Konzentration von Macht auf der Unternehmerseite und einer<br />

zunehmenden Erpressbarkeit der Gesellschaft, die in all ihren Strukturen und Institutionen<br />

auf eine gleichmäßig verteilte Erwerbsarbeit angewiesen ist. Mittlerweile ist die<br />

Produktivität insbesondere durch die Computerisierung so hoch geworden, dass nur<br />

9


noch ein Teil der Menschen im erwerbsfähigen Alter überhaupt benötigt wird oder<br />

den Anforderungen gewachsen ist, und hier konzentriert sich die Auswahl der Arbeitgeber<br />

zunehmend auf die Leistungsfähigsten dieser Gruppe, die gut Ausgebildeten<br />

zwischen 20 und 45. Der Rest verrichtet Hilfsjobs oder fällt ganz aus dem System des<br />

Erwerbslebens. Gleichzeitig wird ein Mangel an Arbeitnehmern prognostiziert, die die<br />

heute benötigten hohen Qualifikationen besitzen. Und bereit sind, sich dem Stress<br />

auszusetzen. Aber wer hat da schon die Wahl?<br />

• eine Finanzkrise, die ebenfalls zur sozialen und politischen Krise führt<br />

Massive Förderung von Eigenheimen, eine kreditfreudige Geldpolitik und das Verpacken<br />

von Immobilienkrediten in undurchsichtigen „Bündelungen” waren die Basis der<br />

Bankenkrise von 2008, die im Kollaps der Lehman Brothers Bank gipfelte. Doch auch<br />

in Europa wurden reichlich Kredite vergeben, an Staaten, von denen man stets dachte,<br />

dass sie nie insolvent werden könnten, schon gar nicht in einem System des Euro.<br />

Ziel war stets ein Wachstum.<br />

„<strong>Die</strong> Wurzeln der Wirtschaftskrise liegen erheblich tiefer <strong>als</strong> im leichtsinnigen Verhalten<br />

eines Landes im Bankensektor oder in der Abhängigkeit eines anderen Landes<br />

vom Export. Ein Teil der Ursache ist der gemeinsame Versuch aller Beteiligten, mehr<br />

Kredite zu gewähren, um so die Wirtschaft weltweit expandieren zu lassen. [...] Es<br />

waren eben jene Maßnahmen, mit denen das Wachstum der Wirtschaft stimuliert<br />

werden sollte, das am Ende zu ihrem Niedergang führte. Der Markt wurde durch das<br />

Wachstum selbst zerstört.” (Jackson 2011 S. 50f., Hervorhebung von mir)<br />

1.1.3 Sätze der Resignation<br />

Seufzend werden folgende und ähnliche „Wahrheiten” <strong>als</strong> gottgegeben hingenommen:<br />

• <strong>Die</strong> Welt wird immer schneller und komplexer.<br />

• <strong>Die</strong> Mobilität von Arbeitnehmern, Waren und Kapital wird weiter zunehmen.<br />

• Lebenslanges Lernen ist unumgänglich.<br />

• Lebensläufe mit Brüchen werden häufiger werden.<br />

• Nur Wachstum liefert Wohlstand für alle.<br />

• Der Mensch will nun mal alles immer bequemer haben.<br />

• Der Mensch ist schlecht.<br />

• Geld regiert die Welt.<br />

• <strong>Die</strong> Weltbevölkerung wird weiter wachsen.<br />

• Immer mehr Menschen werden in Städten leben.<br />

• Ich kann mir die Anforderungen meiner Kunden nicht aussuchen.<br />

• ...<br />

Aus heutiger Sicht erscheinen einem diese Konsequenzen in der Tat <strong>als</strong> unausweichlich. Hier<br />

noch eine Auswahl von Sätzen, die ebenfalls mal <strong>als</strong> ewige gesellschaftliche Wahrheiten galten:<br />

• Es gibt eine natürliche Aufteilung in Adlige und „normale” Menschen<br />

• Der König ist ein Herrscher von Gottes Gnaden.<br />

• <strong>Die</strong> Frau ist dem Manne untertan.<br />

• Rassentrennung ist gottgewollt.<br />

Solche Sätze werden von jenen formuliert, die entweder resigniert haben oder davon profitieren.<br />

Dabei wird vergessen oder aber übergangen, dass es die Menschen sind, welche ihr<br />

Zusammenleben gestalten, und dass wir lediglich in einer Phase leben, in der diese Gestaltung<br />

in den Hintergrund getreten ist, weil andere Dinge sich in den Vordergrund gedrängelt<br />

haben. Das kann man auch ändern. Nicht einfach und nicht von Heute auf Morgen.<br />

10


Aber genau darum geht es hier: Um die Rückgewinnung der Gestaltungshoheit in einem demokratischen<br />

Prozess. Warum soll man sich an das alles gewöhnen müssen?<br />

1.2 Ausgangspunkt<br />

Ausgangspunkt dieses ganzen Buches waren folgende eigene Zweifel:<br />

• In fast allen Diskussionen, Interviews und Artikeln zum Thema Wachstum und<br />

Wachstumskritik, die ich erlebt oder gelesen habe, ging es entweder sehr allgemein<br />

moralisch zu („Das Leben müsste wieder langsamer werden”, „Wenn der Einzelne<br />

sich nur ein bisschen zusammenreißen würde”, „Man muss die Gier begrenzen” ...)<br />

oder sehr konkret technisch (Elektroautos, neue Mobilitätskonzepte, CO2-<br />

Reduzierung, ...). Insbesondere das Moralische fand ich zunehmend interessant. Ich<br />

dachte mir, es kann doch nicht sein, dass man die Vernunft des Menschen dermaßen<br />

streng und vor allem detailliert steuern muss. Das ist ja gar keine Vernunft (denn die<br />

käme aus uns selbst), das ist Bevormundung.<br />

• Eine zunehmende Abneigung gegen den modernen Hype inklusive meiner eigenen<br />

Arbeit machte sich in mir breit und das sichere Gefühl, dass weder „normales” noch<br />

nachhaltiges Wachstum uns auch nur einen Deut weiterbringen werden. <strong>Die</strong> mit dem<br />

ganzen Wachstum verbundene Eitelkeit der Gewinner ist mir sehr unangenehm.<br />

• Zu kurz gedacht sind mir auch diese ganzen Sätze der Resignation mit dem Tenor<br />

„Das kann man nicht ändern, das ist nun mal so”, wie sie insbesondere geäußert<br />

werden, wenn es um die Themen Geld, Macht und Produktivität (!) geht. Mein Leitbild<br />

ist das des Humanismus, nach dem der Mensch das Potential hat, seine schöpferischen<br />

Kräfte voll entfalten zu können, und dieses Schöpferische beschränkt sich<br />

nun wahrlich nicht auf die Wirtschaft. Der Mensch hat die Fähigkeit zur Vernunft und<br />

zur Liebe. Er hat ein Interesse an seinen Mitmenschen, besitzt Mitgefühl und Altruismus.<br />

Das erlebt man ja täglich. Der Mensch „ist” nicht, er wird in erster Linie gemacht.<br />

Wodurch?<br />

Ich arbeite <strong>als</strong> Softwareentwickler für betriebswirtschaftliche Software, <strong>als</strong>o Programme, die<br />

Unternehmen verwenden, um sich selbst zu verwalten: Finanzbuchhaltung, Lagerverwaltung,<br />

Einkauf und Verkauf, Produktion usw. Das ist eine interessante und schwierige Tätigkeit, weil<br />

man versuchen muss, in der betrieblichen Wirklichkeit das Wesentliche und die Ausnahmen<br />

zu erkennen. Das Wesentliche will man vereinfachen, die Ausnahmen beschränken. So sieht<br />

Produktivitätssteigerung aus. Daraus wird ein logisches Modell entwickelt und dieses dann<br />

programmiert. Was betriebswirtschaftliche Software für mich interessanter macht <strong>als</strong> technische<br />

Software, ist die Tatsache, dass betriebliche Wirklichkeit oft viel bizarrer ist <strong>als</strong> technische<br />

Wirklichkeit. Menschlicher eben.<br />

Meine Erfahrung war: Wann immer es bei der Programmierung kompliziert und komplizierter<br />

wurde, stimmte etwas mit dem logischen Modell nicht. Man hätte dann natürlich noch weiter<br />

programmieren und versuchen können, die Wirklichkeit ins Modell zu pressen, aber es wurde<br />

zunehmend unproduktiv und nervenzehrend. Besser war es dann, sich noch mal in Ruhe<br />

dem Modell zuzuwenden und zu schauen, ob man nicht eine bessere Abbildung der Wirklichkeit<br />

findet. Häufig ist mir das gelungen, und siehe da: <strong>Die</strong> Programmierung wurde einfacher,<br />

klarer, kürzer und allein schon durch ihre Struktur auch fehlerärmer. Ich konnte einfach nicht<br />

mehr so viel f<strong>als</strong>ch machen, weil der Weg viel klarer vor mir lag. Meistens sparte ich sogar<br />

am Ende viel Zeit dadurch, mir zwischendurch die Ruhe genommen zu haben.<br />

Schauen Sie sich bitte mal unsere ganzen Gesetze an. Ich habe den Eindruck, dass sie kompliziert<br />

sind und immer komplizierter werden, und dass ein großer Teil von ihnen nur dazu da<br />

ist, die „unvernünftige” Energie von Menschen zu bremsen und sie in „vernünftige” Bahnen<br />

zu lenken. Das ist doch viel zu kompliziert. Es kann nicht sein, dass es so kompliziert sein<br />

muss. Menschliche Energie ist etwas Tolles. Es kann nicht in erster Linie darum gehen, Ener-<br />

11


gie zu bremsen. <strong>Die</strong> Marktwirtschaft kennt ein sehr einfaches Prinzip, um die Energie des<br />

Einzelnen zu wecken, nämlich den Eigennutz. Wo ist das einfache Prinzip des Menschen, um<br />

die Energie des Einzelnen zu wecken, Vernunft zu entwickeln? Eigentlich mag in einer freiheitlichen<br />

Gesellschaft niemand Restriktionen <strong>als</strong> Maßnahmen gegen den Neoliberalismus gut<br />

finden. Jedes Verbot ist immer auch das Eingeständnis eines gesellschaftlichen Scheiterns.<br />

Aber es fallen einem derzeit keine bessere Lösungen <strong>als</strong> Verbote und Einschränkungen ein,<br />

weil man auf der anderen Seite die (tatsächlichen oder vermeintlichen) Wohltaten dieser<br />

Entwicklung nicht gefährden will.<br />

Wir brauchen wenige Prinzipien statt vieler Gesetze. Das ist die Forderung nach der Freiheit<br />

des Einzelnen. Wir pressen die wirtschaftliche Wirklichkeit in ein Modell der Vernunft, wo sie<br />

derzeit nicht hineinpasst. Wenn wir weiterhin versuchen, Vernunft von oben gleichsam zu<br />

verordnen, obwohl eine andere Botschaft die Energie in eine andere Richtung treibt, werden<br />

wir scheitern. Es weckt Widerstand, und eine destruktive Energie des Lückensuchens und<br />

Überwindens treibt ihre Blüten, um der Botschaft der Marktwirtschaft zu folgen.<br />

<strong>Die</strong> Suche umfasst <strong>als</strong>o folgende Punkte:<br />

• Nach den offensichtlich vorhandenen starken Antrieben für unser „unvernünftiges”<br />

Handeln <strong>als</strong> Individuen, aber auch <strong>als</strong> Wirtschaftsteilnehmer. Welche Elemente benötigt<br />

eine „Theorie des Wachstums”? Vieles fehlt mir in der aktuellen Diskussion, und<br />

außerdem frage ich mich, wo diese Antriebe herkommen. Vererbte Gene scheinen mir<br />

ein reichlich schwaches Argument zu sein.<br />

• Nach Argumenten, warum ich es für völlig aussichtslos halte, das Wachstum – genauer:<br />

die Produktivitätssteigerung – auch nur einen Moment länger voranzutreiben.<br />

• Nach den widersprüchlichen Botschaften, die offensichtlich im aktuellen Gesellschaftsmodell<br />

versteckt sind. Wenn Vernunft so offensichtlich ignoriert wird, muss ein<br />

psychologisches Moment dahinterstecken.<br />

• Nach einfachen Prinzipien, welche <strong>als</strong> Grundlage eines neuen Gesellschaftsmodells<br />

dienen können, so dass das Vernünftige zum Natürlichen wird. Wie sieht eine freiheitliche<br />

Gesellschaft aus, die die Individualität des Menschen respektiert, aber ihre Existenzgrundlagen<br />

nicht zerstört?<br />

Für diese Suche ist eines ganz wichtig: Man muss den Dingen vorurteilsfrei und vor allem<br />

angstfrei auf den Grund gehen. Wer aus Angst vor „zu großer” Veränderung das Undenkbare<br />

nicht denkt, kommt nicht weiter. Vernunft ist die Fähigkeit, eine Situation unabhängig von<br />

den eigenen Befindlichkeiten (Interessen, Sehnsüchte, Ängste) zu betrachten. Wer sich<br />

selbst betrügt, betrügt den einzigen Menschen auf der Welt, dem er voll und ganz vertrauen<br />

könnte.<br />

Selbst Wachstumskritiker wie Hans Christoph Binswanger schreiben eher beiläufig Sätze wie<br />

„Selbstverständlich können wir nicht mehr zur ‚alten Zeit‘ zurückkehren.” oder „Das Ziel muss<br />

sein, den Reichtum zu halten, indem man auf seine exzessive Steigerung verzichtet. Um dieses<br />

Ziel zu erreichen, muss die globale Wachstumsrate so weit gesenkt werden, dass ...”<br />

Reichtum. Gesenkt. Also immer noch ganz schön groß.<br />

12


1.3 Überblick über das Buch<br />

Das Buch folgt diesem „inhaltlichen Spannungsbogen”:<br />

• Wie sind wir hier gelandet? („Theorie des Wachstums”)<br />

Welches sind die technischen und menschlichen Voraussetzungen für die bisherige<br />

Entwicklung gewesen? Welche Begriffe sind dabei wichtig? Begriffe prägen das Denken,<br />

deshalb sind sie sorgfältig zu beschreiben und auch zu hinterfragen. Ein Schlüssel<br />

ist das Wesen von Geld <strong>als</strong> Hoffnung und Verpflichtung, aber auch „typisch<br />

menschliche Eigenschaften” wie Eitelkeit, Angst und Sportsgeist spielen eine große<br />

Rolle.<br />

• Warum wird uns weitere Produktivitätssteigerung mehr schaden <strong>als</strong> nutzen?<br />

Der „Kern des Problems” ist meines Erachtens nicht das Wirtschaftswachstum selbst,<br />

sondern Wirtschaftswachstum ist die Folge der immer weiteren Produktivitätssteigerung.<br />

Ich versuche den Nachweis zu führen, dass eine weitere Steigerung der Arbeitsproduktivität<br />

per Saldo negative Effekte hat, und beschreibe einige „institutionelle<br />

Wachstumstreiber”. Eine eigene Betrachtung verdient der Bereich rund um die Informationstechnologie,<br />

mit dem Internet <strong>als</strong> dem vermeintlichen Füllhorn des 21.<br />

Jahrhunderts.<br />

• Warum können „Nachhaltiges Wachstum” und diverse andere Vorschläge<br />

nicht die Lösung sein, sondern bestenfalls Zwischenschritte?<br />

<strong>Die</strong> aktuelle Debatte ist geprägt von Vorschlägen, die ich <strong>als</strong> „Scheinlösungen” bezeichne.<br />

Sie sind nicht alle schlecht, aber sie sind keine echten Lösungen. Einen Teil<br />

davon kann man meines Erachtens relativ schnell abhandeln, die sogenannten „Inseln<br />

der Vernunft” oder die großtechnischen Lösungen. Etwas länger halte ich mich<br />

beim Green New Deal auf. Hier versuche ich den Nachweis zu führen, dass es ebenfalls<br />

nicht weiterführt, wenn wir versuchen, uns auf die sogenannte Ressourcenproduktivität<br />

zu konzentrieren, <strong>als</strong>o „statt Menschen Kilowattstunden arbeitslos zu machen”.<br />

Das „Cradle to cradle”-Konzept von Michael Braungart hingegen enthält zumindest<br />

das unverzichtbare „Umdenken”.<br />

• So geht es <strong>als</strong>o nicht<br />

Zusammenfassung des erreichten „Zwischenstandes” und Erläuterung der derzeitigen<br />

Debatte. In zwei Exkursen ein paar Gedanken zum „Parteien-Dilemma” und die Darstellung<br />

einiger widersprüchlicher Botschaften unseres derzeitigen Gesellschaftsmodells.<br />

Dann werden aufgrund der bisher gesammelten Feststellungen die Ziele eines<br />

Umbaus formuliert: Was könnte man erreichen wollen? Wie könnte die Vision aussehen?<br />

• Eine humanistische Kritik der Begriffe Demokratie und Marktwirtschaft<br />

In der politischen Diskussion werden Demokratie und Marktwirtschaft immer <strong>als</strong> getrennte<br />

Sphären betrachtet, die zwar gut zusammenpassen, sich aber nicht gegenseitig<br />

ins Handwerk pfuschen sollen. Demokratie und Marktwirtschaft sind jedoch das<br />

Gleiche. Sie sind die zwei Seiten der Medaille „Leben in Gemeinschaft”, des Spannungsfeldes,<br />

in dem sich der Mensch <strong>als</strong> Individuum und <strong>als</strong> Teil der Gemeinschaft<br />

befindet. <strong>Die</strong> eine Seite betrifft die Öffentlichen Güter, die andere das Privateigentum.<br />

Es geht um die Aufhebung des unproduktiven Nebeneinander zwischen Demokratie<br />

und Marktwirtschaft mit Hilfe einer Symmetrieüberlegung.<br />

Als Ergebnis erhalten wir Prinzipien und Maßnahmen, die wir konkret politisch umsetzen<br />

können und die der Wirtschaft zu einem Wandel verhelfen könnten, in einem<br />

System einer „Humanistischen Marktwirtschaft”.<br />

• Was macht uns zufrieden? Wovor haben wir Angst?<br />

Ein Ergebnis dieser Umsetzung wird ein materieller Rückbau sein, was zunächst<br />

schwer vorstellbar ist. Es lohnt sich daher, tiefer in „das Wesen des Menschen” einzu-<br />

13


tauchen: Worin besteht der Sinn von Arbeit? Was macht uns zufrieden? Wo liegt das<br />

rechte Maß? Welche Rolle spielen Alter, Krankheit, Sterben und Tod in unserem Leben?<br />

Können wir einen Umgang mit Existenzangst und Eitelkeit finden?<br />

• Was kann man ganz konkret tun?<br />

<strong>Die</strong> Theorie ist das eine, doch musste sich noch jede Theorie an der Praxis messen<br />

lassen. Wir stehen vor einem ökologischen, finanziellen und sozialen Scherbenhaufen,<br />

den wir jetzt nach und nach zusammenkehren müssen. Auf dem Weg zum Humanismus<br />

müssen wir aufpassen, dass unsere Gesellschaft nicht zerrissen wird von den widerstreitenden<br />

Interessen.<br />

Von den hier vorgetragenen Ideen ist kaum eine neu. Fast alles ist in der einen oder anderen<br />

Form schon mal gedacht worden, vor langer Zeit oder erst vor kurzem. <strong>Die</strong> ganze Bibel ist<br />

voll davon ... Wenn ich es wusste, habe ich den Urheber oder die Quelle genannt, aber ich<br />

habe nicht für alles nach einem Urheber gesucht. Achtung: Der Text ist keine Forschungsarbeit,<br />

sondern eine qualitative Überzeugungstat. Betrachten Sie ihn <strong>als</strong><br />

Indiziensammlung, und ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse.<br />

„Il semble que la perfection soit atteinte non quand il n'y a plus rien à ajouter, mais quand il<br />

n'y a plus rien à retrancher.”<br />

Es scheint, Vollkommenheit ist erreicht – nicht, wenn sich nichts mehr hinzufügen, sondern<br />

wenn sich nichts mehr weglassen lässt.<br />

Antoine de Saint-Exupéry „Terre des Hommes” (1939)<br />

14


Kapitel 2: Ursachen<br />

2.1 Technische Revolutionen<br />

Grob kann man die Technischen Revolutionen unterscheiden in Revolutionen der Energie,<br />

des Materi<strong>als</strong> und der Technologie, wobei jeweils die eine Revolution nur im Vordergrund<br />

stand, die anderen Revolutionen waren im Hintergrund stets mit dabei.<br />

„Erst die Nutzung fossiler Energien – Kohle, Erdöl, Erdgas – erlaubte jene ungeheueren Produktivitätssteigerungen,<br />

die ein rasantes Wirtschaftswachstum ermöglichten. [...] die Durchschlagskraft<br />

dieser Verwandlung speist sich auch aus den interdependenten Entwicklungsprozessen<br />

im Handel, im Wissen, in der Technologie und nicht zuletzt in der Nationenbildung.”<br />

(Welzer 2011)<br />

2.1.1 Revolution der Energie<br />

Kraft und Geschwindigkeit des Menschen sind begrenzt. Schon immer hat er nach Überwindungen<br />

dieser Grenzen gesucht. <strong>Die</strong> Pyramiden wurden gebaut, indem Tausende von Menschen<br />

gezwungen wurden, ihre Kraft zu bündeln. Tiere wurden und werden eingesetzt, um<br />

Dinge zu transportieren und Feldarbeit zu erledigen. Aber erst die in fossilen Rohstoffen gebundenen,<br />

riesigen Mengen an Energie haben tatsächlich die technische Revolution in Gang<br />

gesetzt – die Überwindung der naturgegebenen Grenzen. Kraftvolle Betätigung wurde durch<br />

Maschinen übernommen.<br />

<strong>Die</strong> Nutzung dieser Ressourcen entspricht einer Vervielfachung der Weltbevölkerung. So<br />

könnte man auch sagen: Auf der Welt hantieren derzeit nicht sieben Milliarden Menschen,<br />

sondern Hunderte, wenn nicht tausende von Milliarden – gerechnet in „normalen Menschenkräften”.<br />

Und das dient beileibe nicht nur der Erhöhung der menschlichen Kraft, sondern immer öfter<br />

einfach nur der Beschleunigung. In einem durchschnittlichen Garten wird heutzutage fast<br />

alles mit Motorkraft bewältigt – Kettensägen, Heckenscheren, Rasenmäher, Laubsauger,<br />

Grascutter, … Und übertragen gilt das für praktisch alle Bereiche der Wirtschaft.<br />

Eine „Teil-Revolution” ereignete sich mit der Umwandlung von fossiler in die leicht zu handhabende,<br />

„edle” Elektro-Energie, die zum ausgehenden 19. Jahrhundert begann. Elektromotoren,<br />

elektrische Beleuchtung und nicht zuletzt die Kommunikation per Telegraf und Telefon<br />

waren die Folge.<br />

<strong>Die</strong> Überreste dieser Energie belasten <strong>als</strong> Treibhausgas CO2 zunehmend unsere Atmosphäre.<br />

<strong>Die</strong> resultierende Klimaerwärmung ist eine existentielle Bedrohung der Menschheit und ihres<br />

sozialen Zusammenhaltes.<br />

2.1.2 Revolution des Materi<strong>als</strong><br />

„... der Siegeszug der Kunststoffe begann so richtig erst in den fünfziger Jahren des 20.<br />

Jahrhunderts. 1950 wurde weltweit gerade einmal eine Million Tonnen Kunststoff hergestellt,<br />

1976 waren es über 20 Millionen Tonnen, 1989 schon 100 Millionen Tonnen, und 2002 wurde<br />

die Marke von 200 Millionen Tonnen übersprungen. Dem Volumen nach gerechnet hat<br />

der leichte Kunststoff den Traditionswerkstoff Stahl schon in den 80er Jahren überholt.”<br />

(www.plasticseurope.de, 23.10.2011)<br />

Heute (2011) stehen wir bei über 270 Millionen Tonnen. Hier Auszüge aus zwei sehr lesenswerten<br />

Artikeln der „Berliner Zeitung” vom 18.08.2011:<br />

Kunststoffe sind Alleskönner:<br />

15


„Sie sind leicht, bruchfest und elastisch, sie trotzen hohen und niedrigen Temperaturen, sind<br />

wiederverwendbar und lassen sich am Ende recyceln. Nach Angaben des Verbandes der<br />

Kunststofferzeuger Plastics Europe liegt die Verwertungsquote in Deutschland bei 97 Prozent.<br />

Wird der Verbrauch in Zukunft sinken? Im Gegenteil: Er wird zunehmen, vor allem bei<br />

High-Tech-Produkten. Kunststoffe sind leichter, vielseitiger und stabiler <strong>als</strong> herkömmliche<br />

Werkstoffe wie Stahl oder Aluminium. Leichtere Automobile und Flugzeuge brauchen weniger<br />

Treibstoff. Beim Klimaschutz geht es kaum ohne Kunststoffe: So bestehen Wärmedämmplatten<br />

für Gebäude vor allem aus Polystyrol und Polyurethan. Und Faserkunststoffe<br />

geben den Rotoren von Windrädern die erforderliche Stabilität.” (Berliner Zeitung: „<strong>Die</strong> Alleskönner”<br />

18.08.2011)<br />

Man beachte den subtilen Hinweis auf die „umweltfreundliche Seite” dieser Materialien, der<br />

sicherlich von Plastics Europe kommt. <strong>Die</strong> Kehrseite der Alleskönner sieht unter anderem so<br />

aus:<br />

„Auf offener See finden sich nach aktueller Schätzung bis zu eine Million Plastikpartikel pro<br />

Quadratkilometer. Europas Badewanne enthält damit ebenso viel Schrott wie der Große Pazifische<br />

Müllstrudel, ein gigantischer Teppich von der Größe Westeuropas, der zwischen den<br />

Küsten Kaliforniens und Japans im Nordpazifik im Uhrzeigersinn rotiert. In den 1990er-<br />

Jahren entdeckt, wurde dieser Great Pacific Garbage Patch zum Symbol menschlicher Umweltsünden.”<br />

(Berliner Zeitung: „Endstation Ozean” 18.08.2011)<br />

<strong>Die</strong> relativ schlechte Haltbarkeit natürlicher Materialien ist demzufolge auch ein Segen. <strong>Die</strong>se<br />

Materialien scheren einfach nicht aus der automatischen Recyclingkette aus. Bei Kunststoffen<br />

hingegen sind hohe Recycling- oder Verwertungsquoten angesichts der absoluten Mengen<br />

eine Beschönigung: Was bedeutet zum einen Verwertung? Häufig am Ende nur Verbrennung.<br />

Und 97 % Verwertung bedeuten 3 % nicht verwertet, das sind viele Millionen Tonnen.<br />

Und mit diesen 97 % können nur hochorganisierte Staaten wie Deutschland aufwarten, in<br />

anderen Ländern liegt die Quote unter 50 %, und man kann sich ausmalen, wo das Zeug<br />

überall hinwandert – praktisch unverrottbar, ein Fluch an Stabilität.<br />

2.1.3 Digitale Revolution<br />

Was kann der Computer, was der Mensch nicht kann? Grundsätzlich nichts. Er kann es nur<br />

schneller und zuverlässiger <strong>als</strong> der Mensch. Er ist unfassbar viel schneller, er macht keine<br />

Fehler, er braucht keine Pause und keinen Schlaf, kaum Wartung, er streikt nicht und stellt<br />

keine Lohnforderungen. Kommt Ihnen das bekannt vor? Genau, das ist das Vokabular der<br />

Produktivitätssteigerung. Ein Computer ist letztlich eine ganz normale Maschine und wird aus<br />

den gleichen Gründen eingesetzt. Das Mystische, was den Computer umgibt, resultiert aus<br />

der Tatsache, dass man weder sehen kann, was er macht, noch können die meisten es gedanklich<br />

richtig fassen, weil der Computer „anders denkt” <strong>als</strong> der Mensch, genauer: Während<br />

ein Mensch assoziativ (in Zusammenhängen) denken kann, rattert ein Computer eine rein<br />

logische Prozesskette herunter. Er kann jedoch auf diese Weise eine Menge von Aufgaben<br />

übernehmen, für die der Mensch sein Gehirn benötigt. Vielleicht kann er irgendwann sogar<br />

„richtig” denken, die Forscher der Künstlichen Intelligenz setzen jedenfalls ihren ganzen Ehrgeiz<br />

daran ...<br />

Computer, Internet und mobile Kommunikation basieren alle auf dem gleichen Grundmechanismus:<br />

Alltägliche Prozesse werden in einer mittlerweile fast unendlichen Kette der Aufteilung<br />

in logische Prozesse „heruntergebrochen”, <strong>als</strong>o letztlich in Ja/Nein-Entscheidungen überführt.<br />

Bereits die einfachste Rechenaufgabe 1 + 1 wird erst in das sogenannte binäre<br />

Zahlensystem übersetzt, dann in einer Folge von „binären Operationen” zum Ergebnis geführt,<br />

welches dann für uns verständlich <strong>als</strong> 2 dargestellt wird. Dass das gleiche Grundprinzip<br />

auch dem Abruf von E-Mails zugrundeliegt, ist nicht mehr so leicht ersichtlich, denn die Kette<br />

des „Herunterbrechens” umfasst mittlerweile Millionen und Milliarden von Schritten. Da ein<br />

Schritt aber mittlerweile weniger <strong>als</strong> eine Milliardstel Sekunde dauert, geht das auch gefühlt<br />

16


sehr schnell. Damit Menschen den Programmierprozess überhaupt bewältigen können, besitzen<br />

die IT-Systeme selbst eine umfangreiche innere Arbeitsteilung, ein hochkomplexes<br />

Schichtenmodell. Aber letztlich ist es immer Ja/Nein. Quintillionen von einfachsten Entscheidungen.<br />

Elektronenröhren (die Dinger, die in alten Dampfradios so hübsch glühen) waren die ersten<br />

einigermaßen effektiven „elektrischen Ja/Nein-Entscheider”, aber für den Einsatz in komplexeren<br />

Strukturen immer noch zu groß, zu langsam, zu energieaufwendig. Erst die Erfindung<br />

des Transistors ermöglichte es, die Schnelligkeit und Leichtigkeit von Elektronen wirklich effektiv<br />

zu nutzen, und in der Folge führte die ganze Mikroelektronik erneut zu einem sagenhaften<br />

Innovationsschub. Zunächst einfache Steuerungen, später immer neue Generationen<br />

von Großrechnern, dann der breite Durchbruch mit dem Personalcomputer. Das Denken und<br />

die Kommunikation wurde durch Maschinen übernommen. Heute steht die Mobilität der<br />

Computer bzw. ihrer Leistungen im Fokus. <strong>Die</strong> Welt wird ein großes Funknetz.<br />

Erneut kam es zu einer „Vervielfachung der Weltbevölkerung”. Millionen von Klein- und<br />

Kleinst-„Gehirnen” speichern und transportieren Informationen, rechnen, regeln, steuern ...<br />

Ebenso kam es zu einem erneuten Anstieg des Ressourcenverbrauchs. Allein das Internet<br />

verbraucht heute (2011) etwa ebensoviel Energie wie der weltweite Flugverkehr.<br />

2.2 Bevölkerungswachstum<br />

Angesichts der derzeitigen Betonung der technologischen Ursachen des Weltwirtschaftswachstums<br />

und der aktuellen Arbeitslosigkeit gerät die Rolle des Bevölkerungsanstiegs etwas<br />

aus dem Blick. Aber bereits seit mehreren hundert Jahren ist der Anstieg der Bevölkerung<br />

und damit die Verfügung über Arbeitskräfte eine wesentliche Voraussetzung dafür gewesen,<br />

dass die Wirtschaft überhaupt so rasant wachsen konnte – und eine Voraussetzung für die<br />

damit verbundenen exorbitanten Gewinne der Unternehmer, die buchstäblich von der bitteren<br />

Armut der meisten Werktätigen finanziert wurden.<br />

„Adam Smith, der berühmte Ahnherr der modernen Nationalökonomie, war schon fast 50<br />

Jahre alt, <strong>als</strong> er mit seiner Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums<br />

der Nationen begann. Er war ledig geblieben und hatte mit aller Wahrscheinlichkeit auch<br />

keine unehelichen Kinder. Aber er wusste sehr gut, dass die Industrielle Revolution, die dam<strong>als</strong><br />

in England und Schottland schon begonnen hatte, sich nur entfalten konnte, wenn die<br />

Arbeiter sich vermehrten.” (Knolle 2010 S. 9, Hervorhebung im Original)<br />

„Ähnlich wie Adam Smith, aber mit schmerzhafter Deutlichkeit, hat David Ricardo den Zusammenhang<br />

zwischen Lohn und Reproduktionsverhalten der Arbeiter und Arbeiterinnen<br />

formuliert. [...] <strong>Die</strong>ser Lohntheorie liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Arbeiterfamilien<br />

die Produktionsstätten einer Ware sind, der Ware Arbeitskraft. Wenn aber die Arbeitskraft<br />

eine Ware ist, dann unterliegt sie dem gleichen ökonomischen Gesetz wie alle anderen Waren:<br />

steigt der Marktpreis über den ‚natürlichen Preis‘, dann wird mehr produziert. Wenn <strong>als</strong>o<br />

der Lohn steigt, dann kann ein Arbeiterhaushalt mehr Kinder ernähren, und mit einigen Jahren<br />

Verzögerung nimmt die Menge der Ware Arbeitskraft zu. <strong>Die</strong>ser Mechanismus wäre jedoch<br />

blockiert, wenn die Arbeiterinnen die Zahl der Geburten beschränken würden. Damit<br />

wird verständlich, dass die Bourgeoisie im Frühkapitalismus ein vitales Interesse daran hatte,<br />

die Arbeiterfrauen an der Geburtenkontrolle zu hindern.” (Knolle 2010 S. 27)<br />

Damit haben wir auch schon die beiden wichtigsten Zutaten auf der Unternehmerseite: Den<br />

ausdrücklichen, wirtschaftlich begründeten Wunsch nach einer Zunahme der Bevölkerung,<br />

verbunden mit einer starken Motivation, eine wie auch immer geartete Geburtenkontrolle<br />

auszuhebeln. Auf der Unternehmerseite verbanden sich somit weltliche und kirchliche Macht:<br />

Seit Jahrhunderten sucht die katholische Kirche die Nähe zu Macht und Geld und war bereits<br />

im Mittelalter ein großes Finanzimperium. Mit ihrem Dogma „Seid fruchtbar und mehret<br />

Euch” ist die katholische Kirche ein indirekter Wachstumstreiber.<br />

17


Besonders wirksam wird dieses Gebot in Verbindung mit dem Verweis auf die angebliche<br />

Natürlichkeit und historische Zwangsläufigkeit hoher Geburtenraten:<br />

„<strong>Die</strong> heute herrschende Richtung der Nationalökonomie betrachtet die menschliche Arbeitskraft<br />

<strong>als</strong> gegebene Ressource, deren Erneuerung das Thema einer anderen Wissenschaft ist,<br />

der Demographie. <strong>Die</strong> Demographen ihrerseits erklären das beschleunigte Wachstum der<br />

Weltbevölkerung seit dem 18. Jahrhundert ohne Bezugnahme auf die Ökonomie mit der<br />

‚Theorie des demographischen Übergangs‘. Nach dieser Theorie herrschte von der Frühzeit<br />

der Menschheit bis zum Beginn der Neuzeit überall ein Zustand mit hoher Geburtenrate und<br />

hoher Sterblichkeit. Später hätten Hygiene und medizinischer Fortschritt die Sterblichkeit<br />

gesenkt, während die Geburtenrate hoch blieb. <strong>Die</strong>se beiden Faktoren hätten ein schnelles<br />

Wachstum verursacht, das erst zum Stillstand kam, <strong>als</strong> die modernen Mittel der Empfängnisverhütung<br />

auf den Markt kamen und angewendet wurden. Ein direkter Einfluss ökonomischer<br />

Interessen auf die demographische Entwicklung wird <strong>als</strong>o geleugnet.<br />

Nachfolgend werden ethnologische, epidemiologische und medizinhistorische Forschungen<br />

aus dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts herangezogen, um die Theorie des demographischen<br />

Übergangs zu widerlegen. <strong>Die</strong> Auswertung des vielfältigen Materi<strong>als</strong> wird zu folgenden<br />

Schlüssen führen: In den urzeitlichen menschlichen Gesellschaften waren Geburtenrate<br />

und Sterblichkeit tief. Erst nach dem Übergang zu Ackerbau und Viehzucht stieg die Geburtenrate<br />

an, aber neue Infektionskrankheiten führten zu erhöhter Sterblichkeit. Das nur langsame<br />

Wachstum der Weltbevölkerung bis 1500 war jedoch nicht nur den Infektionskrankheiten<br />

geschuldet, sondern auch dem Festhalten an traditionellen Methoden der Geburtenkontrolle.<br />

Das starke Bevölkerungswachstum, das nach 1750 im christlich geprägten Europa einsetzte,<br />

war die Folge der von Kirche und Staat vorangetriebenen Verdrängung der Geburtenkontrolle.”<br />

(Knolle 2010 S. 9f.)<br />

Es ist eigentlich auch schwer verständlich, warum sich in urzeitlichen Gesellschaften die<br />

Frauen beim Kinderkriegen so viel ungeschickter <strong>als</strong> die Tiere hätten anstellen sollen. Tiere<br />

hatten und haben keine hohen Sterblichkeitsraten. Eine Geburt ist ein natürlicher Vorgang<br />

und keine Krankheit. Infektionskrankheiten wie Pocken oder Pest hielten mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

aufgrund der Tierzucht beim Menschen Einzug. Erst die Sesshaftigkeit ermöglichte<br />

eine wirksame Übertragung.<br />

„Vor 70 Jahren [d. h. 1936, A.S.] erschien ein Werk des Medizinhistorikers Norman Himes,<br />

das die Geschichte der Empfängnisverhütung im interkulturellen Vergleich darstellt. Es bietet<br />

eine Übersicht über die Techniken und die moralische Bewertung der Kontrazeption in allen<br />

Hochkulturen von der Antike bis zur Gegenwart. Anhand von zahlreichen Zitaten aus altägyptischen,<br />

indischen, chinesischen und arabischen Quellen bewies Himes, dass die Empfängnisverhütung<br />

in allen Hochkulturen der Alten Welt verbreitet war und moralisch gebilligt wurde.<br />

Einzige Ausnahme: das christliche Abendland. Hier wurde bis weit ins 20. Jahrhundert hinein<br />

an der Ablehnung der Geburtenkontrolle festgehalten.” (Knolle 2010 S. 15)<br />

<strong>Die</strong> Ursachen für Kinderreichtum sind somit dam<strong>als</strong> wie heute die gleichen, und sie sind keine<br />

Zwangsläufigkeit:<br />

• Patriarchale Strukturen und Männlichkeitswahn<br />

• Fehlende Kenntnis von Verhütungsmethoden<br />

• Ein wirtschaftliches Interesse an Armut und Kinderreichtum<br />

Mit diesen Erkenntnissen sollte man auch humanistisch akzeptable Auswege finden aus der<br />

Zwangsläufigkeit von „<strong>Die</strong> Weltbevölkerung wächst nun mal.” Wer das Leben schützen<br />

möchte, sollte überlegen, ob die Ablehnung der Verhütung und die Kriminalisierung des<br />

Schwangerschaftsabbruches wirklich die richtigen Baustellen sind.<br />

18


2.3 Geld und Markt<br />

2.3.1 Geld, Schulden und Kredit<br />

<strong>Die</strong> folgenden Absätze sollen keine Theorie des Geldes darstellen, sondern in einfachen Worten<br />

die Rolle von Geld <strong>als</strong> „Leistungshoffnung und -verpflichtung” verdeutlichen und den<br />

Weg, wie diese Hoffnung mit der Zeit immer abstrakter wurde.<br />

Geld und Schulden<br />

Geld ist total praktisch: Wurde einst Leistung gegen Leistung getauscht, reicht es<br />

heute aus, wenn einer eine Leistung anbietet und der andere Geld. Geld ist die Verschiebung<br />

der sofortigen Gegenleistung in die Zukunft, und zwar von einem beliebigen<br />

Leistungserbringer. Es muss nicht einmal der ursprüngliche Tauschpartner sein.<br />

Geld macht <strong>als</strong>o alles viel einfacher. Es stellt die Hoffnung dar, dass es irgendwann<br />

jemanden geben wird, der einem dafür eine Gegenleistung erbringt. Schulden (sozusagen<br />

negatives Geld) sind hingegen die Verpflichtung, irgendwann selbst eine Leistung<br />

zu erbringen. Schulden des einen sind die Forderungen des anderen.<br />

In dem Moment, wo Geld ins System eingeführt wird, ändert sich etwas ganz Fundamentales:<br />

<strong>Die</strong> Hoffnung kommt ins Spiel. Geld erhöht die Flexibilität, bringt aber Ungewissheit.<br />

Man weiß nie zu 100 %, ob man für sein Geld jem<strong>als</strong> irgendwo eine Gegenleistung<br />

erhalten wird. Das ist beim Tausch anders. Das bloße Vorhandensein von<br />

Geld ist <strong>als</strong>o eine gesamtgesellschaftliche Leistungshoffnung bzw. Leistungsverpflichtung:<br />

<strong>Die</strong> Gesellschaft insgesamt ist in Höhe des umlaufenden Geldes verschuldet. In<br />

der Geldmenge, die in Umlauf ist, drückt sich die Hoffnung aller aus, dass alle diese<br />

Leistungen irgendwie irgendwann erbracht werden. Erst Geld ermöglicht wirksames<br />

Sparen, denn wie soll man wirtschaftliche Leistung sonst „speichern”? Es bleiben<br />

dann nur noch die unhandlichen Sachwerte, und das ist eher Horten <strong>als</strong> Sparen. Sparen<br />

von Geld ist <strong>als</strong>o das Aufbewahren von „realistischer Hoffnung”.<br />

Golddeckung<br />

Lange Zeit wurde Geld dadurch knapp gehalten, dass die Zentralbanken nur soviel<br />

Geld in Umlauf brachten, wie durch die sogenannten Goldreserven gedeckt waren.<br />

Bargeld war eigentlich nur ein Stellvertreter der realen Goldstücke im Keller der Zentralbank.<br />

Obwohl man Gold nicht essen kann, hat Gold doch eine so hohe Anziehungskraft,<br />

dass alle das Gefühl hatten: Egal, was passiert, im Zweifel kann ich bei<br />

der Zentralbank immer Gold für mein Geld bekommen. Mein Geld kann nicht wertlos<br />

werden, selbst wenn sich niemand findet, der mir eine Gegenleistung dafür erbringt.<br />

Reduzierung der Golddeckung<br />

Weil alles so gut lief, wurde im Laufe der Zeit die Golddeckung der Zentralbanken<br />

immer weiter reduziert, d. h. nur ein Teil des Bargeldes war durch Goldreserven abgedeckt.<br />

Dahinter steckte die Erfahrung, dass es nur sehr wenige sind, die zur Zentralbank<br />

kommen und ihr Bargeld gegen Gold eintauschen. <strong>Die</strong> meisten „glauben”<br />

dem Bargeld, <strong>als</strong>o konnte mehr Schmiermittel ins Getriebe gegeben werden <strong>als</strong> Gold<br />

vorhanden war. Mittlerweile ist die Golddeckung ganz aufgehoben. <strong>Die</strong> Zentralbanken<br />

besitzen zwar immer noch Gold, aber nicht mehr dafür.<br />

Kredit<br />

Nun ist knappes Geld ein Wirtschaftshemmnis. Wer gerade kein Geld hat, aber wirtschaften<br />

will, muss sich wie früher Tauschpartner suchen, was so dermaßen unpraktisch<br />

ist, dass es faktisch keiner macht. Im Dorf geht das noch, aber nicht in einem<br />

größeren Rahmen. Geld ist das Schmiermittel des wirtschaftlichen Getriebes. So<br />

kommt man zu dem Wunsch, erst Geld zu bekommen und mit dessen Hilfe dann die<br />

19


wirtschaftliche Gegenleistung zu erbringen: Das nennt man Kredit. Einem Kredit liegt<br />

der Glaube zugrunde, dass der Kreditnehmer diese Gegenleistung erbringen wird. Es<br />

ist ein Hoffnungsvorschuss.<br />

Buchgeld<br />

Jemand kam auf die Idee, dass auch Bargeld noch lästig ist und es doch viel einfacher<br />

ist, das Bargeld zu ergänzen durch „Buchgeld”. Buchgeld oder Giralgeld ist das<br />

Geld, was bei den Banken auf den „Girokonten” liegt: Bargeld wird ersetzt durch einen<br />

Eintrag in einem Büchlein. Alle haben dabei das sichere Gefühl, dass sie mit diesem<br />

Büchlein jederzeit zur Bank gehen können und dann sofort Bargeld zurückerhalten.<br />

Überweisungen<br />

<strong>Die</strong> Banken gingen sogar noch einen Schritt weiter: Sie sagten nämlich denen, die<br />

Kredite haben oder Geld abheben wollten, dass sie das Bargeld gar nicht brauchen,<br />

falls sie es ohnehin jemand anderem geben müssen, sie könnten es statt dessen „überweisen”,<br />

falls der auch ein Büchlein hat. Eine Überweisung ist eine bloße Mitteilung<br />

der Banken untereinander, dass der Geldpegel in einem Büchlein sinkt und in einem<br />

anderen steigt. Aber wer darf Bargeld durch Buchgeld ersetzen, <strong>als</strong>o Giralgeld im<br />

wahrsten Sinne des Wortes schöpfen? <strong>Die</strong> Banken dürfen das, indem sie Kredite vergeben,<br />

und das ist in gewisser Weise schon sensationell.<br />

Geldschöpfung durch die Banken<br />

Konnte einst eine Bank nur das Geld verleihen, welches vorher bei ihr eingezahlt (gespart)<br />

worden war, so ist das heute völlig anders: <strong>Die</strong> Ersparnisse bei einer Bank haben<br />

mit ihrer Fähigkeit, Kredite zu vergeben, kaum noch etwas zu tun. Eine Bank darf<br />

statt dessen solange Kredite vergeben, wie sie selbst wiederum bei der Zentralbank<br />

Kredit aufnehmen darf. <strong>Die</strong>sen Zentralbankkredit an die Bank nennt man Reserve.<br />

<strong>Die</strong>se Reserve muss nur einen Bruchteil (lat. Fraktion) der Kundenkredite und bestimmter<br />

Ersparnisse bei der Bank betragen (sog. Mindestreserve), und die Reserve<br />

dient auch nicht dazu, das Kreditgebaren der Bank unter Kontrolle zu halten, sondern<br />

ihre Fähigkeit zur Teilnahme am Zahlungsverkehr sicherzustellen. <strong>Die</strong> Bank muss<br />

praktisch niemandem Rechenschaft ablegen, warum sie wieviel Kredit vergibt. Solange<br />

die Bank der Meinung ist, dass die von ihr vergebenen Kredite sinnvolle<br />

(= rentable) Vorhaben finanzieren, kann sie relativ ungestört schalten und walten.<br />

Das nennt man „fraktionales Reservebanking”. <strong>Die</strong> Bank erzeugt <strong>als</strong>o Giralgeld buchstäblich<br />

aus dem Nichts, indem sie einem Kunden sagt, dass er Kredit erhalte.<br />

Refinanzierung<br />

Erst wenn die Reserve einer Bank „aufgebraucht” ist, muss die Bank zur Zentralbank<br />

gehen und um mehr Zentralbankkredit betteln. <strong>Die</strong> Zentralbank gibt der Bank diesen<br />

Kredit nur gegen entsprechende Sicherheiten, d. h. die Bank muss bei der Zentralbank<br />

beispielsweise Wertpapiere hinterlegen. Und sie muss Zinsen zahlen, den „Leitzins”.<br />

Über den Leitzins versucht die Zentralbank, die „Kreditfreudigkeit” der Banken<br />

zu steuern. Überspitzt kann man auch sagen: 1 EUR sicheres Wertpapier reicht einer<br />

Bank, um über die Refinanzierung bis zu 99 EUR unsichere Kredite zu vergeben.<br />

Denn die Qualität des 1 EUR überprüft die Zentralbank, die der anderen 99 EUR nur<br />

die Bank. <strong>Die</strong> hat aber ein Eigeninteresse an einer möglichst hohen Kreditvergabe,<br />

denn damit verdient sie Geld. Das ist einer der Hauptkritikpunkte des modernen Kreditwesens<br />

und hat zu einer Forderung nach Vollgeld (Konzept von Joseph Huber)<br />

geführt, wo die Geldschöpfung durch die Banken nicht mehr stattfindet.<br />

20


Geldvernichtung<br />

Geld kann auf drei verschiedenen Wegen wieder verschwinden (danke, Michael):<br />

Durch Abbezahlen eines Kredites (das Gegenteil der Geldschöpfung), durch Konkurs<br />

(Streichung von Schulden und Forderungen in gleicher Höhe) und durch Inflation<br />

(nomineller Erhalt, aber realer Wertverlust = Reduzierung der mit einem Geldbetrag<br />

verbundenen Hoffnung).<br />

Das alles ist nicht unlauter, denn schließlich ist Geld so oder so „nur” Hoffnung auf zukünftige<br />

Leistungserbringung. Welche Form das Geld hat, ist egal. Statt zu sagen: „<strong>Die</strong> Geldmenge<br />

wächst”, kann man auch sagen: „<strong>Die</strong> Hoffnung auf zukünftige Leistungserbringung wächst”,<br />

und da Kredite ja nicht einfach so, sondern (eigentlich) nur nach strenger Prüfung und gegen<br />

Sicherheiten vergeben werden, entspricht der umlaufenden Bargeld- und Buchgeldmenge<br />

auch irgendwo ein realer Wert in der Welt. <strong>Die</strong> Kreditmenge ist letztlich begrenzt durch<br />

die akzeptierten Sicherheiten.<br />

<strong>Die</strong> Firma FlowTex ist das berühmteste deutsche Beispiel für Betrug, wo Unternehmer immer<br />

die gleichen teuren Maschinen mit jeweils „anderen” gefälschten Seriennummern <strong>als</strong> Sicherheit<br />

für neue Kredite angegeben haben. Aber das sind eher Ausnahmen.<br />

<strong>Die</strong> Leistungsverpflichtung des Kreditnehmers gegenüber seiner Bank verteilt sich über das<br />

Geld im ganzen System, indem der Kreditnehmer die Leistungen anderer Firmen in Anspruch<br />

nimmt. Mit immer mehr Krediten pumpen die Banken immer mehr Leistungshoffnung und<br />

-verpflichtung in das System. <strong>Die</strong> mit dieser Hoffnung hergestellten, immer größeren Waren-<br />

und <strong>Die</strong>nstleistungsmengen nennen sich Wirtschaftswachstum. Wenn zuviel Hoffnung im<br />

System kursiert, weil Banken zu wenig Sicherheiten für ihre Kredite akzeptiert, <strong>als</strong>o Geld<br />

buchstäblich „für Nichts” geschaffen haben, neigen die Geldanleger zur Spekulation, d. h.<br />

Geschäfte werden ohne gute wirtschaftliche Grundlage gemacht, weil sich Gelegenheiten<br />

bieten, und es steigt die Bereitschaft, höhere Preise zu zahlen. Inflationsgefahr droht. Aufgabe<br />

der Zentralbanken ist es dann, Hoffnung abzuziehen, <strong>als</strong>o die Geldmenge nach und<br />

nach zu reduzieren, indem sie den Leitzins erhöhen. Allerdings greift dieses Instrument<br />

kaum. Geeigneter wäre eine direkte Beeinflussung der Geldmenge. Tatsächlich erhöhen die<br />

Zentralbanken die Geldmenge permanent und reduzieren sie praktisch nie.<br />

Ein Kredit ist somit ein Mittel für mehr Wachstum und seine Beschleunigung: Man möchte<br />

eine Leistung früher in Anspruch nehmen <strong>als</strong> aufgrund des eigenen Ersparten möglich ist,<br />

mit dem Ziel, früher ein bestimmtes Ziel zu erreichen.<br />

Folgende Punkte führten dann zu unserer Finanzkrise:<br />

• Staatsanleihen gelten (galten) <strong>als</strong> sehr sichere Kredite. Mit einer Staatsanleihe <strong>als</strong> Sicherheit<br />

bekommt man immer Zentralbankgeld. Der Besitz einer Staatsanleihe ist für<br />

Banken <strong>als</strong>o eine Basis, mit der sie Kredite decken können. Eine hohe Staatsverschuldung<br />

ist somit per se wachstumsfördernd. Und Staatsanleihen werden (wurden) eher<br />

unkritisch gekauft, weil sich niemand vorstellen kann (konnte), dass ein Staat pleite<br />

gehen kann.<br />

• Sicherheiten können sich <strong>als</strong> wertlos entpuppen. <strong>Die</strong>s ist insbesondere bei amerikanischen<br />

Immobilien der Fall gewesen. Solange alle an die Wertsteigerung der Immobilien<br />

glaubten, wurden immer neue Kredite vergeben. Irgendwann wurde deutlich,<br />

dass der Gegenwert einer Immobilie eigentlich nur in einem Haufen Sand, Stein und<br />

Holz besteht, und Millionen von Amerikanern wurde deutlich, dass sie statt einer<br />

wertvollen Immobilie einen Haufen Luft gekauft hatten. Es fand ein irreparabler Hoffnungsverlust<br />

statt.<br />

• „Moderne Finanzprodukte” sind abstrakt gebündelte Hoffnungen, die mitunter zu<br />

noch abstrakteren Hoffnungen weitergebündelt oder auch wieder geteilt wurden.<br />

Rein theoretisch nichts Schlimmes, denn Hoffnung bleibt Hoffnung. Nur konnte man<br />

häufig nicht mehr erkennen, was denn konkret hinter dieser oder jener Hoffnung<br />

21


steckt. Denn letztlich steht hinter jedem Kredit eine Sicherheit, die aber auch fragwürdig<br />

sein kann. Moderne Finanzprodukte machen es schwer, den realen wirtschaftlichen<br />

Wert dahinter zu erkennen, und alle haben es ja eilig (und manchmal läuft einem<br />

ob der vielen Hoffnung das Wasser im Munde zusammen) und prüfen deshalb<br />

nicht lange.<br />

<strong>Die</strong> ganze uferlose Geldschöpfung hat dann am Ende vor allem jenen genutzt, die im Finanzsektor<br />

engagiert waren. Denn von den ganzen Hoffnungen haben sie sich immer einen Teil<br />

<strong>als</strong> üppiges Gehalt, Provision und Bonus abgezweigt. Ungerechtfertigt große Hoffnung kann<br />

man auch Gier nennen. Aber Gier kommt auch am Anfang der Kette ins System, z. B. über<br />

den Traum von einem Häuschen, das man sich eigentlich nicht leisten kann, oder über die<br />

Erwartung einer überdurchschnittlich profitablen Geldanlage oder über jedes unangemessen<br />

hohe Gehalt.<br />

2.3.2 Risiko und Zins<br />

Wirtschaftliche Betätigung ist immer mit Investitionen verbunden, selbst wenn man nur einen<br />

Acker bestellt: Man muss erst Arbeit in die Sache stecken, um später die Früchte zu ernten.<br />

Oftm<strong>als</strong> kommt man ohne die Arbeit anderer nicht aus und muss sie daher dazu bewegen,<br />

mitzumachen, indem sie entweder direkt mitarbeiten oder „Mittel” geben, <strong>als</strong>o Geld<br />

oder Werkzeuge zur Verfügung stellen. Das ist ein Vertrauensvorschuss in das Gelingen der<br />

Sache, <strong>als</strong>o ein Kredit. In der modernen Wirtschaft mit ihrer stark differenzierten Arbeitsteilung<br />

sieht es so aus, dass ein Unternehmer praktisch permanent verschuldet ist, weil er aus<br />

allen Ecken Leistungen bezieht und sie erst später bezahlt.<br />

Nun sind nicht alle Unternehmungen erfolgreich, manche scheitern, bevor die Früchte den<br />

Arbeitseinsatz angemessen belohnen. Investitionen in eine solche Unternehmung sind <strong>als</strong>o<br />

mit einem Risiko behaftet. Was macht man, wenn man dennoch breite wirtschaftliche Betätigung<br />

haben möchte? Man verteilt das Risiko, indem jeder nur so viel Risiko schultert, dass er<br />

mit dem Verlust im Zweifel leben kann. Genossenschaften, Versicherungen, Banken, Kapitalgesellschaften<br />

sind alle letztlich aus der Verteilung von Risiko auf die Schultern vieler entstanden:<br />

• Bei Genossenschaften wird das Risiko in Form von Genossenschaftsanteilen plus<br />

Nachschusspflicht auf alle Genossen umgelegt.<br />

• Bei Versicherungen wird das Risiko in Form von Prämien auf alle Versicherten umgelegt.<br />

• Bei Krediten wird das Risiko auf alle Kreditnehmer in Form von Zinsen umgelegt.<br />

• Bei Kapitalgesellschaften wird das Risiko des Stammkapit<strong>als</strong> in Form von Gesellschaftsanteilen<br />

auf alle Gesellschafter umgelegt und das Risiko der Insolvenz auf die<br />

Kunden, die Lieferanten und die übrige Bevölkerung ...<br />

In dieser Form des Risikoentgeltes ist Zins allgemein <strong>als</strong> ethisch zulässig anerkannt, und<br />

wenn man sich darauf beschränken würde, wäre das ziemlich preiswert zu haben. Aber da<br />

gibt es auch noch die Knappheit, wenn <strong>als</strong>o Kapital zur Ware wird.<br />

2.3.3 Markt, Marktwirtschaft und Kapitalismus<br />

Markt<br />

Der (ideale) Markt ist der reale oder abstrakte Ort, an dem Angebot und Nachfrage zusammentreffen.<br />

Es gibt ein privates Eigentum an Produktionsmitteln und damit Entscheidungsfreiheit<br />

über ihre Verwendung (oder auch ihre Nichtverwendung) zur Produktion von Gütern.<br />

Gehandelt werden individuelle Güter zu einem frei ausgehandelten Preis. Aufgrund der Steuerungsfunktion<br />

über den Preis ist der Markt selbstregulierend, d. h. Angebot und Nachfrage<br />

kommen immer bei einem bestimmten Preis zu einem Gleichgewicht. Es herrscht freier<br />

Marktzugang für Anbieter und Nachfrager und eine vollkommene Preistransparenz: Man weiß<br />

22


ei jedem Anbieter, zu welchem Preis er anbietet. Wie man leicht einsieht, ist der ideale<br />

Markt ein theoretischer Grenzfall ... Aber unter dem Gesichtspunkt einer Verteilung von<br />

knappen, mit Geld bewertbaren Gütern ist der Markt optimal.<br />

(Reine) Marktwirtschaft<br />

Öffentliche Güter nennt man solche Güter, die jeder nutzen kann und wo die Nutzung andere<br />

Nutzer nicht beeinträchtigt. Dazu gehören z. B. „Frieden” oder „Leuchtturm”. „Straßen”,<br />

„Schulen” oder „Büchereien” gehören strenggenommen nur solange dazu, wie der Zugang<br />

weiterer Nutzer die bisherigen nicht beeinträchtigt. Praktisch sieht es meistens so aus, dass<br />

bei zu starker Nutzung öffentlicher Güter diese vermehrt werden (weiterer Straßenbau etc.).<br />

Erweitert man die Menge aller Märkte einer Gesellschaft um die öffentlichen Güter und deren<br />

Angebot (was wo in welcher Menge über eine politische Entscheidung), dann erhält man<br />

eine Marktwirtschaft. Sie kennt zudem meritorische Güter, deren Verwendung die Gesellschaft<br />

fördern möchte (z. B. Bücher: niedriger Umsatzsteuersatz, Buchpreisbindung), und<br />

demeritorische Güter, deren Verwendung sie einschränken möchte (z. B. harte Drogen: Verkaufsverbot,<br />

Strafverfolgung).<br />

In einer Marktwirtschaft gibt es einen Kapitalmarkt, der über den Allokationsmechanismus<br />

des Zinses Kredite gewähren kann. Unter Kapital versteht man im wesentlichen „freies Geld”,<br />

welches für Investitionen verwendet werden kann. Seinen Besitzer nennt man Investor. Da<br />

Kapital a) knapp und b) bei der Investition durch Verlust gefährdet ist, hat auch Kapital einen<br />

Preis für denjenigen, der Kapital sucht, den Zins. Der Zins mehrt das Kapital, und in dem<br />

Anteil, der das Risikoentgelt übersteigt, handelt es sich um ein leistungsloses Einkommen<br />

des Investors. Das Risikoentgelt im Vorfeld zu bestimmen, ist allerdings auch eine schwierige<br />

Sache ... Nachher ist man immer klüger.<br />

<strong>Die</strong> Marktwirtschaft ist eine Form der Leistungsgesellschaft, in der die Leistung des Einzelnen<br />

über sein Einkommen entscheidet. Dafür ist der Eigentumsbegriff essentiell, denn die eigene<br />

Leistung kann nur dann vor dem Zugriff anderer geschützt werden, wenn ein Rechtsinstrument<br />

diesen Schutz gewährleistet.<br />

Kapitalismus <strong>als</strong> Machtkonzept<br />

Der Begriff des Kapitalismus ist schwer umstritten, insbesondere seine Abgrenzung vom Begriff<br />

der Marktwirtschaft. <strong>Die</strong> Positionen reichen bis hin zur völligen Gleichsetzung. In meinen<br />

Augen sind Kapitalismus und Marktwirtschaft nicht das Gleiche, sondern der Kapitalismus<br />

enthält Elemente, die der Idee der Marktwirtschaft fremd sind, insbesondere wenn man diese<br />

mit demokratischen Prinzipien kombiniert:<br />

• Geld bedeutet Macht, und Kapitalismus bedeutet die unkontrollierte Machtausübung<br />

über das Medium Kapital. Im Kontext einer Demokratie ist das völlig inakzeptabel.<br />

Auch die Geldschöpfung durch die Banken über Kredit würde ich <strong>als</strong> Widerspruch zu<br />

den Prinzipien der Marktwirtschaft ansehen, da es sich um eine nichtlegitimierte<br />

Machtposition handelt.<br />

• Kapitalistisches Eigentum an Grund und Boden sowie an natürlichen Rohstoffen widerspricht<br />

dem Leistungsgedanken.<br />

Soziale Marktwirtschaft<br />

<strong>Die</strong> soziale Marktwirtschaft ist eigentlich ein Kapitalismus mit ausgleichenden Zügen. Sie<br />

kennt ausgleichende Umverteilungsmechanismen, um einen „sozialen Fortschritt” zu gewährleisten.<br />

Da aber andererseits der Gewinn nach oben offen ist, ist auch die Ungleichheit in der<br />

sozialen Marktwirtschaft nicht begrenzt, sondern nur eine Armutsgrenze nach unten definiert,<br />

deren Unterschreitung die Gesellschaft nicht akzeptieren will.<br />

23


2.4 Menschliche Vernunft<br />

Über das Wesen des Menschen kann man natürlich unendlich diskutieren. Man kann aber für<br />

die Zwecke dieser Diskussion ohne weiteres einige wesentliche Punkte herausgreifen, die das<br />

Verhältnis des Menschen zur Vernunft betreffen. Immer wieder staunt man, wie unvernünftig<br />

Menschen sein können, und dieses Staunen ist oft wechselseitig: Man kann sich diesen<br />

„Vorwurf” gegenseitig machen. Vernunft scheint <strong>als</strong>o kein geistiger Zustand zu sein, auf<br />

dessen Eigenschaften sich Menschen in einfacher Weise einigen können. Dennoch kann man<br />

angeben, was Vernunft bedeutet, und es gibt plausible Theorien, warum manche Leute ihre<br />

Unvernunft dennoch für Vernunft halten.<br />

2.4.1 Vernunft und Impuls<br />

Zufriedenheit entsteht im Kopf. Unzufriedenheit auch.<br />

Der Mensch an sich „ist” nicht gut oder schlecht, sondern ein Wesen mit erstaunlich vielen<br />

Möglichkeiten – im Guten wie im Schlechten. Das ist mit den Eigenschaften des Gehirns verknüpft.<br />

Flexibilität<br />

<strong>Die</strong> geistige Biegsamkeit <strong>als</strong> größte „Leistung” des Gehirns ist gleichzeitig seine Achilles-<br />

Ferse. Das Gehirn ist so flexibel gebaut, dass es immer auch Gefahr läuft, sich in Richtungen<br />

zu entwickeln, wo der Mensch sich vorwiegend selbst im Wege steht. Das führt zu verschiedenen<br />

psychischen Krankheiten und Defekten. Intelligenz einerseits sowie Vernunft, Gewissen<br />

und Moral andererseits sind völlig unabhängigen Bereichen des Gehirns zugeordnet, es<br />

gibt nur sehr schwache Zusammenhänge. Intelligenz ist teilweise angeboren, teilweise während<br />

Kindheit und Jugend erworben. Vernunft, Gewissen und Moral sind hingegen ausschließliche<br />

Produkte der Sozialisation des Menschen, <strong>als</strong>o angewiesen auf das Aufwachsen<br />

in einem intakten Umfeld. <strong>Die</strong> moderne Hirnforschung lässt uns immer besser verstehen, wie<br />

sehr das Gehirn „sich selbst seine Welt konstruiert” und somit Vernunft eine höchst individuelle<br />

Angelegenheit ist. Insbesondere der bekannte Gehirnforscher Gerhard Roth hat hierzu in<br />

den letzten Jahrzehnten viel veröffentlicht.<br />

Archaische Verhaltensmuster<br />

Obwohl sich unser Lebensumfeld seit der Steinzeit grundlegend gewandelt hat und – zumindest<br />

in der westlich geprägten Welt – die Grundbedürfnisse der meisten Menschen ausreichend<br />

und sicher befriedigt werden, sind verschiedene archaische Verhaltensmuster immer<br />

noch vorherrschend <strong>als</strong> Handlungsimpulse. <strong>Die</strong> Entwicklung des Gehirns hat mit der Entwicklung<br />

der Welt nicht Schritt gehalten, die alten Teile des Gehirns sind immer noch mächtiger<br />

<strong>als</strong> notwendig. Das führt dazu, das allzu häufig Fressen, Saufen, Ficken, Knechten und Protzen<br />

die wesentlichen Antriebe des Menschen sind. Mit Freibier und einem Buffet lässt sich<br />

fast jeder ködern, der VW-Konzern hat seinem Betriebsrat nicht Bildungsreisen, sondern<br />

Lustreisen spendiert, Machtspiele sind fester Bestandteil des Kapitalismus, und Statussymbole<br />

haben immer noch und immer wieder Hochkonjunktur. <strong>Die</strong> Entwicklung der Technik, das<br />

Zeitalter der Aufklärung, die modernen Naturwissenschaften – sie alle haben an der Weitergeltung<br />

der archaischen Verhaltensmuster wenig geändert. <strong>Die</strong> Evolution ist zu langsam für<br />

die schnelle Veränderung unserer Umwelt.<br />

Kritik und Kränkung<br />

Kritik ist die Hinterfragung eines Sachverhaltes. Umgangssprachlich meinen wir damit die<br />

Bewertung der Handlungen oder Äußerungen von anderen Menschen. Auf eine negative<br />

(missbilligende) Kritik durch andere reagieren viele Menschen nicht mit einem erfreuten Interesse,<br />

sondern mit einem verletzten Selbstwertgefühl: Wir fühlen uns zurückgewiesen. <strong>Die</strong><br />

negative Kritik an einer unserer Handlungen oder Äußerungen wird <strong>als</strong> Zurückweisung der<br />

eigenen Person überinterpretiert. Wir fühlen uns <strong>als</strong> Person zurückgewiesen, obwohl meistens<br />

lediglich etwas, was wir getan oder geäußert haben, Ziel der Kritik ist. Eine Zurückwei-<br />

24


sung <strong>als</strong> Person ist etwas sehr Schwerwiegendes, und somit reagieren wir häufig mit schwerem<br />

Geschütz: Wir verteidigen uns, geben Contra oder werden sogar aggressiv, obwohl eine<br />

unvoreingenommene Diskussion über die Kritik meistens weiter führen würde.<br />

Kränkungen können ihre Ursache insbesondere auch in Erlebnissen während Kindheit und<br />

Jugend haben, wenn Personen, zu denen wir ein nahes Verhältnis haben (müssen), uns direkt<br />

oder indirekt zurückweisen. In dieser sehr formbaren Zeit erfahrene Kränkungen wirken<br />

mitunter ein ganzes Leben lang.<br />

Vernunft (Rationalität)<br />

Vernunft ist die Fähigkeit, eine Situation unabhängig von den eigenen Befindlichkeiten (Interessen,<br />

Sehnsüchte, Ängste) zu betrachten, <strong>als</strong>o das Ich wegzulassen und die Sache „nüchtern”<br />

zu betrachten. Sie ist die fehlende Lust am Selbstbetrug und beinhaltet unter anderem<br />

die Fähigkeit, einen Prozess „unendlich weit in die Zukunft” zu denken, wo er einen schon<br />

lange nicht mehr betreffen wird.<br />

Unvernunft (Irrationalität)<br />

Unvernunft ist nicht das Gegenteil von Vernunft, sondern ihre Abwesenheit: Wer eine Situation<br />

nur mit den eigenen Interessen, Sehnsüchten und Ängsten betrachten kann, handelt<br />

unvernünftig.<br />

Gefühl (Emotionalität)<br />

Der Gegenpol von Vernunft ist Gefühl, nämlich die Einbindung des Ich in die Welt, die Betonung<br />

des persönlichen Befindens. Der Begriff „Pol” betont, dass immer beide Anteile vorhanden<br />

sind.<br />

<strong>Die</strong> Balance zwischen diesen verschiedenen Anteilen ist delikat und offensichtlich schwer zu<br />

halten. Sie ist im Gehirn nicht automatisch angelegt, sondern eine Übung, die erlernt werden<br />

muss, und es ist die derzeitige Tragik des Menschen, dass das Hauptaugenmerk dieses<br />

„Trainings” (auch Erziehung und Bildung genannt) eben nicht auf einer Meisterschaft in dieser<br />

Kunst liegt, sondern auf einem effizienten Fitmachen für den globalisierten Wettbewerb,<br />

was uns weiter weg vom Ziel führt.<br />

Rationalisierung<br />

Rationalisierung (im psychischen, nicht im wirtschaftlichen Sinne) ist der Versuch, eine Situation,<br />

die sehr wohl mit den eigenen Befindlichkeiten zu tun hat, künstlich „vernünftig” zu<br />

erklären, <strong>als</strong>o vom Ich abzutrennen und so zu tun, <strong>als</strong> hätte das mit einem selbst nichts zu<br />

tun. Vernünftig-logische Handlungsmotive werden <strong>als</strong> alleinige Beweggründe für Handlungen<br />

angegeben oder vorgeschoben. Gefühlshafte Anteile an Entscheidungen werden ignoriert<br />

oder unterbewertet (siehe Wikipedia, ich hab's nicht besser formulieren können).<br />

Technikgläubigkeit (Technophilie) ist eine besondere Form von Rationalisierung. Es ist die<br />

Glorifizierung der technischen Welt und ein Herunterspielen der Bedeutung der emotionalen<br />

und sozialen Welt.<br />

2.4.2 Konstruktivismus<br />

Grundsätzlich steht das Gehirn unter einem „Zwang”, ein Gedankensystem zu entwickeln,<br />

welches in sich stimmig ist, wo das Eine sinnvoll in das Andere greift, wo die Stellung der<br />

Dinge in der Welt sinnvoll definiert ist, wo Anfang und Ende einen Platz haben. Fehlende<br />

Stimmigkeit macht unser Gehirn krank, in einem ganz realen Sinne. Wenn die Stimmigkeit<br />

nicht durch die tatsächlichen Verhältnisse gegeben ist oder den eigenen Interessen zu stark<br />

widerspricht, dann greift das Gehirn „korrigierend” ein und baut sich seine eigene Welt: Es<br />

blendet störende Aspekte aus (Verdrängung, Verleugnung) und nimmt förderliche Aspekte<br />

auf (Wunschdenken, Aberglaube), und zwar so lange, bis das Bild wieder stimmt. Man nennt<br />

das Konstruktivismus. Wir benötigen eine logische Begründung für die innere Welt. Auch hier<br />

gibt es verschiedene Grade der Krankhaftigkeit.<br />

25


Es gibt eine ganze erkenntnistheorische Strömung, die sich mit diesem Thema befasst. Unter<br />

dem Namen „Radikaler Konstruktivismus” haben namhafte Neurobiologen, Physiker, Philosophen<br />

und andere Wissenschaftler eine Theorie begründet, wonach eine objektive Wirklichkeit<br />

nicht existiert, sondern der Mensch sich seine Wirklichkeit selbst konstruiert, und zwar nicht<br />

nur bezogen auf die Interpretation der sozialen Welt („Wirklichkeit zweiter Ordnung”), sondern<br />

sogar bezogen auf alle physikalischen Sinneseindrücke („Wirklichkeit erster Ordnung”).<br />

Nach Ansicht der Konstruktivisten gibt es dabei keinen Grund, einen grundsätzlichen Unterschied<br />

zwischen den Wirklichkeiten erster und zweiter Ordnung zu machen. Der Unterschied<br />

ist lediglich graduell.<br />

<strong>Die</strong> tiefere Ursache ist demnach das „Bestreben” des Gehirns, mit technischer und sozialer<br />

Komplexität angemessen umzugehen, <strong>als</strong>o durch „Reduktion auf das Wesentliche” das jeweils<br />

Entscheidende schnell in den Fokus des menschlichen Handelns zu bringen. Was dieses<br />

Entscheidende gerade ist, ist von unendlich vielen Faktoren abhängig, von aktuellen Bedingungen<br />

ebenso wie von unserer ganzen Lebenserfahrung und -prägung. Nur so können wir<br />

einen Zustand der Lähmung angesichts von zuviel Information vermeiden und gerade auch<br />

in kritischen Situationen schnell reagieren.<br />

In der Wirklichkeit erster Ordnung entspricht dem beispielsweise auch die Erfahrung, dass<br />

heftige Träume absolut „realistische” Sinneserfahrungen vermitteln, die in der realen Welt<br />

keine Entsprechung haben. <strong>Die</strong> Konstruktivisten gehen davon aus, dass auch die „objektiven”<br />

Sinneseindrücke im Gehirn bereits eine Mischung aus realen physischen Signalen der<br />

Umwelt und selbsterzeugten Signalen aus dem „inneren Vorrat” des Gehirns sind. <strong>Die</strong> Anteile<br />

dieser Mischung bestimmen wir teils selbst, teils werden sie durch die Dynamik des Geschehens<br />

bestimmt. Durch die Fokussierung unserer Aufmerksamkeit, Ausschalten äußerer Störungen<br />

(„stilles Kämmerlein” oder andere Zonen der Ruhe) können wir Bedingungen schaffen,<br />

die einem höheren Anteil „objektiver” Sinneseindrücke förderlich sind. Stress, Unaufmerksamkeit<br />

und Ablenkung fordern unser Gehirn hingegen auf, nur die notwendigsten der<br />

„objektiven” Signale zu berücksichtigen, um Platz zu schaffen für die Bearbeitung dessen,<br />

was sich gerade in den Fokus drängt.<br />

Eine besondere Variante des Konstruktivismus ist das „Rosinenpicken”: Aus einer vollständigen<br />

Einheit (dem Kuchen) werden die Teile herausgepickt, die den größten persönlichen<br />

Nutzen versprechen (die Rosinen). Angewendet auf das menschliche Verhalten bedeutet das,<br />

dass wir oft nur die nützlichen Aspekte einer Sache in den Vordergrund stellen und den „unschönen<br />

Rest” ignorieren, der aber zwangsläufig dazugehört. In der Politik werden Konzepte<br />

wie „Wachstum” oder „Soziale Gerechtigkeit” gepriesen, indem ihre Vorteile herausgestellt<br />

werden. Der Rattenschwanz an lästigen Konsequenzen wird schamhaft verschwiegen. Im<br />

Privaten ist es meistens unser Konsum, der dieser Versuchung erliegt: Wir greifen im Supermarkt<br />

beherzt zum billigen Schnitzel und ignorieren dabei die Leiden der Tiere in der Massentierhaltung.<br />

Das Phänomen des Rosinenpickens ist damit ein fester Bestandteil der modernen<br />

Wirtschaftsverfassung. Wie kommt es zu dieser Verdrängung?<br />

2.4.3 Täuschung und Selbst-Täuschung<br />

In seinem gerade erst erschienenen Buch „Deceit and Self-Deception” („Täuschung und<br />

Selbst-Täuschung”) hat der amerikanische Sozialbiologe Robert Trivers eine allgemeine Theorie<br />

über die evolutionären Ursachen des Selbstbetrugs vorgelegt. Nach seinen Ergebnissen<br />

sind (waren) Menschen, die sich selbst betrügen, evolutionär im Vorteil, weil es ihnen leichter<br />

fällt, andere zu betrügen, um sich ungerechtfertigte Vorteile zu verschaffen. Betrug fällt<br />

leichter, wenn der Betrüger sich nicht verstellen muss – wer den Unsinn glaubt, den er anderen<br />

vorsätzlich serviert, vermeidet verräterische Hinweise wie Anspannung, Widersprüche<br />

etc., wie sie fast zwangsläufig bei bewusstem Betrug auftreten. Zudem kann sich das Gehirn<br />

von aufwendiger Denkarbeit entlasten, die mit der mentalen Anspannung eines Betruges<br />

einhergeht, es arbeitet <strong>als</strong>o effizienter und trägt somit ebenfalls zu einer geringeren Entde-<br />

26


ckungswahrscheinlichkeit bei. Und bei Entdeckung kann man sich obendrein besser entlasten,<br />

weil man ja nicht bewusst betrogen habe: Das Unterbewusstsein war schuld.<br />

Damit wird verständlich, warum Selbstbetrug so „populär” ist: Er ist evolutionär bedingt, ebenso<br />

wie unser heute unsinniger Appetit auf Fett, Zucker und Salz. Ein weiteres Beispiel für<br />

die schlechte Anpassung von Körper und Geist an die schnelle Veränderung unserer Umwelt<br />

durch uns selbst.<br />

2.4.4 Moral und Verantwortung<br />

Moral<br />

Moral bezeichnet die akzeptierten Handlungsprinzipien der Gemeinschaft. Sie ist die „innere<br />

Landkarte” des sozialen Menschen. Nur bei wenigen Menschen ist diese Landkarte so klar<br />

gezeichnet, dass sie sich ohne äußere Hilfe sicher auf diesem unwegsamen Terrain bewegen<br />

können, alle anderen benötigen immer wieder Wegweiser oder müssen jemanden nach dem<br />

Weg fragen. Hierbei spielen Autoritäten eine tragende Rolle.<br />

Moral ist keine zeitliche Konstante, sondern eine momentane Übereinkunft des gesellschaftlich<br />

Akzeptierten. Und sie ist meist kein schmaler Pfad, sondern ein mehr oder weniger breiter<br />

Weg mit ausgefransten Kanten. Moralische Entrüstung steigert sich langsam mit der Entfernung<br />

von der Mittellinie. Gesellschaft und Individuen sind in einer ständigen Abstimmung<br />

über die „moralischen Leitplanken”, manchmal öffentlich, beispielsweise im Parlament oder<br />

bei einer Sitzblockade, häufiger jedoch durch private Diskussionen mit Freunden und Fremden,<br />

oder durch privates Handeln, beispielsweise ob jemand sein Vermögen zur Ökobank<br />

bringt oder damit an der Börse zockt.<br />

<strong>Die</strong>jenigen, die weit oben in der sozialen Anerkennung stehen, vermögen besonders wirkungsvoll<br />

moralische Leitplanken zu definieren oder niederzuwalzen. Moral hat zudem viel<br />

mit Gewöhnung zu tun – und mit dem Aussterben der älteren Generation, denn moralische<br />

Vorstellungen werden stark von der Kindheit und der Tradition geprägt.<br />

Moral ist auch eine „denk-ökonomische Strategie”. Man muss im Alltag individuelle Entscheidungssituationen<br />

auf das notwendige Maß reduzieren, man möchte nicht dauernd alles mit<br />

sich und anderen ausdiskutieren. Dafür bleiben immer noch genügend Gelegenheiten. Deshalb<br />

gibt man sich selbst Leitlinien, die man bewusst oder unbewusst anwendet, und beschränkt<br />

das große Nachdenken auf die wirklich wichtigen Fälle. Routine spielt in der Praxis<br />

des Alltags die größere Rolle.<br />

Eine Gesellschaft, gerade wenn sie keine Zwangsbeglückung will, muss sich auf ihre Leitlinien<br />

verständigen. Individualismus ohne Gemeinschaftssinn ist asozial.<br />

Verantwortung<br />

Verantwortung zu übernehmen, bedeutet, eine Angelegenheit zur eigenen zu erklären. Verantwortungslosigkeit<br />

bedeutet, seine eigenen Angelegenheiten ungefragt anderen zu überlassen.<br />

Es hat sich noch nie bewährt, wenn Menschen Verantwortung übernehmen für Dinge, die<br />

eigentlich ihrem Ziel widersprechen, wenn sozusagen der Bock zum Gärtner gemacht wird:<br />

• Geschwindigkeitsbegrenzungen im Straßenverkehr: Eigentlich will man schnell<br />

vorankommen.<br />

• Selbstverpflichtung von Unternehmen zum ökologischen oder sozialen Handeln: Eigentlich<br />

wollen sie ungehindert ihre Produkte verkaufen. Das „gute Handeln” wird auf<br />

diese Weise zum Teil des Produktes und abhängig von der Marktakzeptanz. <strong>Die</strong> Kunden<br />

befinden sich jedoch ebenfalls in dem unauflösbaren Konflikt zwischen gut und<br />

billig.<br />

• Appelle an Mediziner und Patienten, Kosten im Gesundheitssystem zu sparen: <strong>Die</strong><br />

Mediziner wollen ihre Brötchen verdienen, und Patienten wollen gut behandelt wer-<br />

27


den und haben mit dem Beitrag bereits (fast) alles bezahlt. Beide haben an einer Verringerung<br />

der Leistungen kein Interesse.<br />

• Mülltrennung im Haushalt: Wird <strong>als</strong> Zeitverschwendung und Gängelung empfunden<br />

und ist zu kompliziert. Kein Platz für die vielen Eimer.<br />

Der Interessenkonflikt ist zu groß, damit kann man nicht sinnvoll umgehen. Kurz und knapp<br />

kann man sagen: Moral und Verantwortung sind gut, brauchen aber Gelegenheit. <strong>Die</strong> Versuchung<br />

muss in Schach gehalten werden.<br />

Es gibt verschiedene Wege, verantwortungsvolles Handeln zu fördern:<br />

Sinn und Einbindung<br />

Das ist der einfachste oder schwierigste Weg, je nach Sichtweise. Wer den Sinn in einer Sache<br />

sieht und eingebunden wird, macht sie zur eigenen Sache, dazu benötigt man keine anderen<br />

Mittel. Sie darf einen jedoch nicht überfordern, jeder Mensch hat seine Grenzen.<br />

Doch selbst die sinnvollste Sache kann mit den individuellen Interessen in Konflikt geraten.<br />

Man sieht zwar einerseits das große Ganze, hat aber auch die Gelegenheit, sich persönliche<br />

Vorteile zu verschaffen. Man nennt das auch Versuchung.<br />

Unter dem Stichwort „Tragik der Allmende” wird in den Wirtschaftswissenschaften das Problem<br />

diskutiert, dass gemeinschaftlicher Besitz von Raubbau bedroht ist, wenn jeder Beteiligte<br />

„einfach so” auf ihn zugreifen kann und nicht an der persönlichen Gewinnmaximierung gehindert<br />

wird. Wer wartet, verliert. Das klassische Beispiel ist die Allmende, <strong>als</strong>o das von allen<br />

gemeinsam genutzte Weideland, das in kurzer Zeit übernutzt wird, wenn jeder „einfach so”<br />

sein Vieh darauf treiben kann. <strong>Die</strong> ersten auf der Weide bekommen das fetteste Gras, die<br />

anderen haben das Nachsehen. <strong>Die</strong> persönlichen (kurzfristigen) Interessen gewinnen Oberhand<br />

über die gemeinsamen (langfristigen).<br />

Eine „Lösung” des Problems lautet: Privatwirtschaft mit Profitmaximierung anstelle von gemeinschaftlichem<br />

Besitz. <strong>Die</strong> gemeinsamen und individuellen Interessen werden sozusagen<br />

im Unternehmer „fusioniert”. Da der Unternehmer den Profit maximieren möchte, bringt ihm<br />

die langfristige Nutzung mehr <strong>als</strong> die kurzfristige, und alles wird gut – gerne mit dem Unterton:<br />

„Seht her, der Markt kann es doch besser!” Abgesehen davon, dass das meistens gar<br />

nicht richtig funktioniert, gibt es auch eine andere Lösung:<br />

Unabhängige, mit Macht ausgestattete Institutionen<br />

In Übereinkunft der Beteiligten wird eine unabhängige Institution gebildet, die definierte<br />

Machtbefugnisse erhält und mit der Verwaltung des gemeinschaftlichen Besitzes beauftragt<br />

wird. Es wird <strong>als</strong>o eine Struktur installiert, in der Menschen ihre persönlichen Interessen überwinden<br />

können. <strong>Die</strong> gemeinsamen und individuellen Interessen werden entkoppelt, die<br />

individuellen gebremst. Unabhängigkeit und damit Vernunft – das ist die Idee der Genossenschaften:<br />

Gemeinsamer Besitz wird von einer unabhängigen juristischen Person und ihren<br />

Organen verwaltet. Das kann dann zu anderen Versuchungen wie Korruption und Vetternwirtschaft<br />

führen, aber auch dessen kann man Herr werden, mehr dazu weiter unten.<br />

Strafe<br />

Androhung von Strafe für Verantwortungslosigkeit ist ein beliebter, weil vordergründig billiger<br />

Weg. Man muss zunächst nichts machen außer der lauten Verkündung. Erst wenn der<br />

Mensch versagt, muss man die Strafe vollstrecken.<br />

<strong>Die</strong> Wirklichkeit zeigt, dass das Kosten-Nutzen-Verhältnis so gut nicht ist. Zum Verkünden<br />

muss man das Vergehen klar definieren. Um zu strafen, muss man das Vergehen erst einmal<br />

bemerken, dann muss man es beweisen, und dann muss man auch noch strafen. Je nachdem,<br />

wie groß die Energie des Verantwortungslosen ist, ist das aufwendig bis unmöglich.<br />

Steuerhinterziehung, Schwarzfahren, Geschwindigkeitsüberschreitungen, Schwarzarbeit, illegale<br />

Drogen sind gesellschaftliche Lachnummern der Gerechtigkeit. Ein volkswirtschaftlicher<br />

28


Ressourcenfriedhof erster Güte, wenn man sich vor Augen hält, wie viele Menschen ihr Geld<br />

damit verdienen, diese Delikte zu verfolgen.<br />

Kosten<br />

Wer die Folgen eigenen Handelns im Geldbeutel spürt, handelt verantwortungsbewusster,<br />

und auf dieser Erkenntnis basieren viele gesellschaftliche Steuerungssysteme. <strong>Die</strong>se Beliebtheit<br />

hat mehrere Ursachen:<br />

• Geld ist objektiv und einfach. Einen realen Euro kann man nur einmal ausgeben. Das<br />

versteht jeder.<br />

• Es erfordert keine weitere Kommunikation oder Verfolgung. Das Problem ist erfolgreich<br />

an den Einzelnen abgegeben.<br />

• Es ist flexibel: Eine Ökosteuer beispielsweise kann man erhöhen oder senken und so<br />

den Effekt steuern.<br />

Das Problem wird <strong>als</strong>o „marktwirtschaftlich handelbar” gemacht, man nennt es „marktwirtschaftliche<br />

Steuerung”. Der Nachteil ist: Es lässt sich nur dort anwenden, wo man etwas mit<br />

Geld bewerten kann. Und das sind beileibe nicht alle Felder.<br />

Fazit<br />

Sinn und Einbindung ist der einfachste und schönste Weg. Macht zufrieden.<br />

2.5 Antrieb des Menschen<br />

Aus diesen Quellen schöpft der einzelne Mensch seine Energie für Wirtschaft und Wettbewerb.<br />

2.5.1 Leitbilder und Merksätze<br />

Jeder Mensch hat innere Bilder von dem, was zum Ziel führt und was nicht. Sie sind die positiv<br />

formulierte Ergänzung der moralischen Leitplanken, die die Grenzen setzen. Ähnlich wie<br />

diese führen Leitbilder durch die unübersichtliche Welt, und das tun sie dann am besten,<br />

wenn sie einfach und prägnant sind. Einige unserer Leitbilder sind sehr stark mit Produktivität<br />

verknüpft, und zwar sowohl im Wirtschafts- wie auch im Privatleben:<br />

Pareto-Prinzip (80/20-Regel)<br />

Wirtschaft und Privatleben sind durchsetzt – man könnte auch sagen: durchseucht – vom<br />

Geist des sogenannten Pareto-Prinzips. Es lautet in etwa: „Konzentriere Dich auf das<br />

Wesentliche. Belasse es bei demjenigen Aufwand, der das Ergebnis einigermaßen<br />

sicherstellt. Sei nicht perfekt, das ist zu teuer, lass den Rest bleiben und nutze die gewonne<br />

Zeit für etwas anderes.” Quantitativ formuliert besagt es, dass mit 20 % des Aufwandes<br />

häufig bereits 80 % des Ergebnisses erreicht werden, deshalb nennt man es auch 80/20-<br />

Regel.<br />

<strong>Die</strong>se Haltung führt durch Reduktion auf das Wesentliche immer mehr zum Verlust des Eigentlichen:<br />

<strong>Die</strong> Dinge werden nicht mehr anständig zuende gebracht. Es reicht, dass es<br />

funktioniert, Versäubern der Kanten ist nicht nötig. Zum unwesentlichen Rest gehören oft<br />

genug die Ästhetik, die Verantwortung, der Müll, der Umweltschutz, der Tierschutz und die<br />

künftigen Generationen. Erfahrene Menschen haben in der Regel ein gutes Gespür dafür,<br />

wann sie fertig sind und wie weit sie dafür gehen müssen. Aber man lässt sie nicht mehr.<br />

Kernkompetenzen<br />

Ein anderes Leitbild sind die sogenannten Kernkompetenzen. „Mach nur das, was Du am<br />

besten kannst, und versuche darin noch besser zu werden.” Alles andere lass andere machen,<br />

die das besser können und ebenfalls versuchen, darin noch besser zu werden. Es lohnt<br />

sich nicht, seine Mittelmäßigkeiten zu überwinden, man soll an seinen Stärken arbeiten. Am<br />

Ende sind alle in allem besser.<br />

<strong>Die</strong>s ist ein Antrieb für immer stärkere Arbeitsteilung und Wettbewerb.<br />

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Verwaltungsaufwand lenkt ab vom Eigentlichen<br />

Was muss heutzutage nicht alles verwaltet werden! Termine, Steuererklärungen, Meldungen<br />

bei der Sozialversicherung, Statistiken, das eigene Bankkonto, ... Dabei hätte man doch<br />

Wichtigeres zu tun, möchte sich den eigentlichen Aufgaben zuwenden. <strong>Die</strong> Komplexität des<br />

modernen Lebens bedarf nun mal auch einer komplexen Steuerung, Abstimmung mit anderen,<br />

Planung. In Verbindung mit der Idee der Kernkompetenzen sind das dann häufig Tätigkeiten,<br />

die <strong>als</strong> unwürdig und ablenkend empfunden werden. Mindern die eigene Produktivität.<br />

Müssen ausgelagert oder beseitigt werden.<br />

Neben stärkerer Arbeitsteilung hat das vor allem eine umfassende Computerisierung zur Folge,<br />

denn Verwaltung kann ein Computer gut. Das ist eine seiner Kernkompetenzen.<br />

2.5.2 Der soziale Wert der Dinge<br />

Der Wirtschaftswissenschaftler Tim Jackson hat mit „Wohlstand ohne Wachstum” ein mittlerweile<br />

klassisches Buch zum Thema geschrieben. Darin hat er hervorragend verständlich<br />

beschrieben, warum materieller Konsum für uns so wichtig ist, auch wenn wir schon alles<br />

haben. Da ich es selbst nicht besser formulieren kann, mögen er und Sie mir verzeihen,<br />

wenn ich ihn etwas <strong>ausführliche</strong>r zitiere. Natürlich ist auch das nicht neu, aber häufig hilft<br />

uns ja schon eine neue Beschreibung in einem neuen Zusammenhang. <strong>Die</strong> kursiven Hervorhebungen<br />

sind von mir.<br />

„<strong>Die</strong> Lösung des Rätsels ist, dass wir dazu neigen, materielle Dinge mit gesellschaftlicher und<br />

psychologischer Bedeutung aufzuladen. <strong>Die</strong>s wird inzwischen durch zahlreiche Belege aus<br />

der Konsumforschung und der Anthropologie gestützt – eine verheerende Erkenntnis. Konsumgüter<br />

liefern eine Symbolsprache, in der wir unablässig miteinander kommunizieren, und<br />

zwar nicht einfach bloß über die Dinge selber, sondern darüber, was uns wirklich wichtig ist:<br />

Familie, Freundschaft, Zugehörigkeit, Gemeinschaft, Identität, sozialer Status, Sinn und Ziel<br />

im Leben.<br />

Ganz wesentlich dabei: Eben diese gesellschaftliche Konversation ermöglicht die Teilhabe am<br />

gesellschaftlichen Leben. Mit anderen Worten: Der Wohlstand selbst beruht darauf. [...] Man<br />

ist versucht anzunehmen, dass es sich hier um ein vorwiegend westliches (und vergleichsweise<br />

modernes) Phänomen handelt. Belks [Anm. ein Konsumforscher] Studie, aber auch<br />

zahlreiche weitere legen eine andere Deutung nahe. Dem Konsumenten, so die Anthropologin<br />

Mary Douglas, geht es ganz allgemein darum, »an der Erschaffung einer sozialen Welt<br />

mitzuwirken und darin einen glaubwürdigen Platz zu finden«. In jeder Gesellschaft, über die<br />

es Aufzeichnungen gibt, konnten Anthropologen die symbolische Rolle materieller Güter<br />

nachweisen.” (Jackson 2011, S. 67f., Hervorhebungen von mir)<br />

Da wir nun <strong>als</strong>o „dummerweise” Dinge benötigen, um uns über unseren sozialen Wert zu<br />

verständigen, ist klar, dass wir auch ein entsprechendes Einkommen haben müssen, um diese<br />

Dinge zu kaufen. Warum aber reichen uns heute nicht immer noch Muschelschalen oder<br />

bronzene Haarspangen? Weil wir danach streben, in der sozialen Rangordnung der Gesellschaft<br />

weit oben zu stehen. Ein hoher sozialer Status ist statistisch nachweislich mit mehr<br />

Zufriedenheit, besserer Gesundheit, längerer Lebenserwartung verbunden. Man könnte auch<br />

sagen: Je weiter oben man steht, desto geringer ist die Angst, zuwenig zu haben (und umso<br />

größer die Angst vor dem Absturz). Letztlich ist ein Teil unseres Konsums <strong>als</strong>o angstgetrieben.<br />

Ein fetter Mercedes verschafft unter diesem Blickwinkel nicht Zufriedenheit, sondern<br />

Erleichterung und Gewissheit darüber, noch dabeizusein.<br />

Das Problem ist: <strong>Die</strong>ser Statuswettbewerb hört nie auf. „Wenn man die Gesellschaft <strong>als</strong> Ganzes<br />

betrachtet, ist <strong>als</strong>o das Wachstum bei den Einkommen – und der damit verbundene Materialverbrauch<br />

– möglicherweise ein ‚Nullsummenspiel‘. <strong>Die</strong> Bevölkerung wird insgesamt<br />

reicher. Einige Leute werden wohlhabender <strong>als</strong> andere, und vielleicht verschieben sich die<br />

gesellschaftlichen Positionen. Aber insgesamt bringt der Statuswettbewerb wenig oder nichts<br />

für das Niveau des Wohlbefindens in einem Land. Das ist eines der Argumente, mit denen<br />

30


man das Paradox der Lebenszufriedenheit erklärt hat.” (Jackson 2011, S. 70, Hervorhebung<br />

von mir)<br />

Es gibt noch einen weiteren Aspekt: Wir binden uns auch seelisch an Dinge. Wir haben Lieblingsdinge,<br />

die für uns mit tiefen Emotionen verbunden sind, und wir haben praktische Dinge,<br />

die wir nie, nie, nie missen möchten. Es käme uns nicht in den Sinn, sie <strong>als</strong> bloßen Besitz<br />

zu bezeichnen. Bindungen an Dinge können aber auch viel flüchtiger sein, wenn nämlich der<br />

Neuigkeitswert eine wesentliche Rolle spielt: „Viele der neuesten Geräte und Modeartikel sind<br />

anfangs nur den Reichen zugänglich. Neue Produkte sind von Natur aus teuer, weil sie in<br />

kleiner Stückzahl produziert werden. Vielleicht werden sie sogar gezielt zu besonders hohen<br />

Preisen auf den Markt gebracht, um diejenigen anzulocken, die für soziale Abgrenzung zu<br />

zahlen in der Lage sind. Auf die Abgrenzung erfolgt die Nachahmung. Der soziale Vergleich –<br />

nämlich das haben zu wollen, was andere haben – erhöht die Nachfrage nach erfolgreichen<br />

Produkten rasant und ermöglicht die Massenproduktion.” (Jackson 2011, S. 111)<br />

<strong>Die</strong> beliebtesten Produkte überhaupt, mit dem größten Hype und der stärksten Bindung, sind<br />

dann jene, die alle folgenden Bedingungen erfüllen:<br />

• Sie sind neu<br />

• Sie sind teuer<br />

• Sie können zu einem Lieblingsding werden<br />

• Sie steigern massiv unsere persönliche Produktivität. Mehr zu diesem Punkt weiter<br />

unten in Produktivität und Lebensstandard<br />

Das iPhone erfüllt alle diese Bedingungen und ist deshalb buchstäblich zu einem Symbol des<br />

modernen Konsums geworden.<br />

2.5.3 Der soziale Wert des Geldes<br />

Auch wenn man den meisten Menschen ihr Einkommen oder ihr Vermögen nicht direkt ansehen<br />

kann, sondern nur indirekt über Kleidung, Auftreten und sichtbares Eigentum, so ist<br />

Geld doch für den Einzelnen bereits ein direkter, „innerer Sozi<strong>als</strong>tatus”, auch wenn es noch<br />

gar nicht ausgegeben wurde. Geld ist Leistungserwartung an die Gemeinschaft, und es<br />

drückt wirtschaftliche Macht aus, indem der Besitzer entscheiden kann, über welche Waren<br />

oder <strong>Die</strong>nstleistungen er die Arbeitsleistung anderer für sich nutzen kann und im wahrsten<br />

Sinne des Wortes im Wohlstand leben wird.<br />

Geld ist ein sehr einfacher Weg, um auf unpersönlichem Wege Anerkennung für Leistung<br />

auszudrücken bzw. anzusammeln. <strong>Die</strong> Messbarkeit und Vergleichbarkeit von Geldbeträgen<br />

vereinfachen auch den sozialen Bereich des Lebens. So wie die Markttheorie den Preis <strong>als</strong><br />

Ersatz für den Wert ansieht, so ist Geld ein Ersatz für soziale Anerkennung. Ein hohes Gehalt<br />

oder ein hoher Gewinn sind eine starke Motivation. Jede wirtschaftliche Nachfrage ist somit<br />

auch eine soziale Nachfrage.<br />

2.5.4 Sportsgeist und Wettbewerb<br />

<strong>Die</strong> Kernbotschaft unserer Gesellschaft ist so einfach, dass man sie heute nicht weiter erklären<br />

muss, und sie ist von durchschlagendem Erfolg: „Handle in Deinem eigenen Interesse!<br />

Maximiere Dein Glück und Dein Geld!” Unser Wohlstand ist das Ergebnis vieler Egoismen, die<br />

– weil alle in die gleiche Richtung gerichtet – zu einem beeindruckenden Gesamtergebnis<br />

führen, von dem jeder profitiert, auch die Armen (zumindest hierzulande). Dafür sorgt das<br />

System der staatlichen Umverteilung, welches den Reichen ein bisschen nimmt und den Armen<br />

gibt. Am Ende haben alle mehr.<br />

<strong>Die</strong> Marktwirtschaft ist deshalb so erfolgreich, weil sie es seit längerem schafft, die Energie<br />

des Einzelnen in Vorteile für ihn und die Gesellschaft zu transformieren. Sie verbindet geschickt<br />

das individuelle Wachstum mit dem Wachstum der Wirtschaft: Indem man auf eigene<br />

31


Rechnung arbeitet, arbeitet man gleichzeitig für das Ganze, wenn auch oft mit Härten und<br />

Vergeudung verbunden. Aber es geht schneller <strong>als</strong> über die Abstimmung mit den vielen anderen<br />

und besser <strong>als</strong> in einer Planwirtschaft. Man braucht sich dabei nicht verantwortlich zu<br />

fühlen, außer für sich selbst.<br />

Sportsgeist im Wirtschaftsleben<br />

Es ist dabei egal, ob man <strong>als</strong> Freiberufler oder Unternehmer die eigene Sache voranbringt,<br />

oder ob man sich <strong>als</strong> Mitarbeiter die Sache von jemand anderem zu eigen gemacht hat. Und<br />

letztlich lässt sich jeder packen, auch in dem blödesten Job findet man den Punkt, wo man<br />

sportlichen Ehrgeiz entwickeln kann, denn ohne Identifikation ist der Mensch praktisch handlungsunfähig.<br />

Wenn die Sache aber gut läuft, dann entwickelt der Mitarbeiter in seinem Bereich<br />

Unternehmergeist, denkt mit, ist initiativ und innovativ und stärkt somit seine eigene<br />

Zufriedenheit – und natürlich die Zufriedenheit derjenigen, für die er arbeitet.<br />

Stets gibt es zwei Anteile:<br />

• <strong>Die</strong> äußere Belohnung: Das Lob von Kollegen und Vorgesetzten, die Gehaltserhöhung,<br />

die Begeisterung der Kunden, die Anerkennung der Familie und der Freunde,<br />

...<br />

• Der sportliche Ehrgeiz aus sich selbst heraus, denn es gehört zu den Wesenszügen<br />

des Menschen, dass er ordentliche Arbeit leisten möchte. Es gibt eine hohe innere<br />

Bereitschaft, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen. Man möchte mit seiner<br />

Leistung zufrieden sein. Alles andere ist pathologisch.<br />

Gute Arbeitgeber und Auftraggeber wissen das, und sie tun alles dafür, damit sich diese Zufriedenheit<br />

einstellt, denn es gibt definitiv keinen größeren Leistungsanreiz. Niemand arbeitet<br />

besser <strong>als</strong> derjenige, der selbst mit seinen Ergebnissen zufrieden sein möchte.<br />

Ich halte das, was ich hier „Sportsgeist” nenne, für eine immens wichtige Voraussetzung des<br />

Wirtschaftswachstums. Es ist pure Energie. Sportsgeist und Wettbewerb sind der wirtschaftliche<br />

Antrieb schlechthin. Jeder spielt mit, und diese riesige Mannschaft bringt die Wirtschaft<br />

voran.<br />

Der Sportsgeist wird ständig weiter angestachelt, indem die Erwartungen hochgeschraubt<br />

werden. In dem Jubelheft einer internationalen Spedition las ich vor einiger Zeit einen Bericht<br />

über Messebauer, die stolz sind, eine Baumaschinenmesse in zwei Tagen aufbauen zu<br />

können. Und über die Logistiker, die sich zum Ziel setzen, dass jedes Ersatzteil innerhalb von<br />

24 Stunden überall auf der Welt verfügbar sein soll. Der sportliche Gegner sind die Konkurrenzfirmen.<br />

Ob es für die Menschen sinnvoll ist, dass es schnell geht, wird nicht hinterfragt,<br />

denn der Sinn wird innerhalb des Systems erzeugt. So glaubt auch noch jeder, einen Beitrag<br />

zum „großen Ganzen” zu leisten. Im System des Wettbewerbs und der gegenseitigen wirtschaftlichen<br />

Abhängigkeiten steigt das Niveau der zu erwartenden Leistung permanent weiter<br />

an. Reichten gestern noch vier Tage für den Messeaufbau, so sind es heute zwei und soll<br />

es morgen einer sein. Es gibt keine Grenze – was möglich ist, wird gemacht, und es wird<br />

versucht, es besser zu machen, <strong>als</strong> es eigentlich möglich ist. Und schon haben sich die Erwartungen<br />

wieder verschoben.<br />

Gänzlich unerträglich scheint es auch zu sein, nicht der erste zu sein, der eine bestimmte<br />

Idee hat, der eine Marktlücke bemerkt, der eine Spekulation wittert. Das triumphierende<br />

Gefühl der eigenen Glorie, wenn man vorn ist und die anderen hinter sich weiß, scheint einen<br />

starken Glanz zu haben.<br />

„Eine stationäre Wirtschaft ist [...] gänzlich undenkbar – sie wird sofort mit Stillstand in der<br />

Wohlstands- wie in der Persönlichkeitsentwicklung assoziiert.” (Welzer 2011 S. 24, Hervorhebung<br />

von mir) Das Ergebnis: „Eine prinzipiell unendliche Reihe von Produkten [...] Nichts<br />

ist jem<strong>als</strong> fertig, die Arbeit hört niem<strong>als</strong> auf.” (Welzer 2011 S. 20)<br />

32


Sportsgeist im Privatleben<br />

Und der Mensch stellt sich darauf ein: Sportsgeist ist auch im Privaten eine große Motivationsquelle.<br />

Schaffe ich die Ampel noch oder nicht? Kriege ich die S-Bahn? Komme ich mit<br />

dem Fahrrad den Hügel hoch? Wir suchen die Herausforderung im Großen wie im Kleinen.<br />

<strong>Die</strong> Überwindung von Hindernissen ist eine Überlebensstrategie, und wenn die beruhigte<br />

Natur um uns herum nicht mehr genug Überlebenshindernisse bietet, müssen wir uns selbst<br />

welche definieren.<br />

Auch die ganze Geiz-ist-geil-Debatte und das Schnäppchenjägertum lassen sich meines Erachtens<br />

wesentlich auf das Phänomen „Sportsgeist” zurückführen. Der Preis ist die sportliche<br />

Herausforderung, sozusagen die Messlatte, die es zu reißen gilt, und die Anbieter sind die<br />

Wettkämpfer, die wir herausfordern zum Zweikampf. Verstärkt wird dieses Phänomen durch<br />

die Anonymität großer Anbieter oder Internet-Anbieter, das senkt die moralischen Hürden.<br />

Unser Gewinn ist der Stolz, etwas billiger <strong>als</strong> alle anderen erworben zu haben – eine monetäre<br />

Goldmedaille, Ruhm und Ehre im Bekanntenkreis.<br />

Wer heute aufwächst, wächst in dem Bewusstsein auf, dass jeder seines Glückes Schmied ist<br />

und seine Biografie darauf auszurichten muss, wenn er denn an dem schönen Spiel teilnehmen<br />

möchte. Was in der Marktwirtschaft <strong>als</strong> Wettbewerb dazugehört, findet zwangsläufig<br />

seine Entsprechung im Privaten: Der Wettbewerb prägt mittlerweile alle Facetten des Lebens,<br />

und mit der Gestaltung der Biografie fangen ehrgeizige Eltern schon im Kleinkindalter<br />

an. Bis zum Eintritt in das Berufsleben ist ein unglaublicher Staffellauf von Qualifikationen zu<br />

absolvieren, und wer ins Ziel kommt, gehört zur neuen Kaste der „High Potenti<strong>als</strong>”. <strong>Die</strong> Wirtschaftsbiografie<br />

<strong>als</strong> Krone der Selbstverwirklichung.<br />

<strong>Die</strong> Unternehmen spielen für die derart in den „modernen Adelsstand” Erhobenen die Rolle<br />

des Ritterschlägers: Viel Geld und ein hohes Sozialprestige winken <strong>als</strong> Gegenleistung für<br />

Treue und hohe Arbeitsleistung ihrem Lehnsherren gegenüber – wobei es mit der Treue nur<br />

solange gut geht, bis sie das Königreich wechseln. Aber im Kern ist es immer das Gleiche:<br />

Wie kann man den Sportsgeist eines Menschen anstacheln? Ihn dazu bringen, ohne Peitsche<br />

Höchstleistungen zu vollbringen? Ihn zu Treue und Loyalität anhalten?<br />

Sportsgeist in höheren Sphären<br />

Eine besondere Variante scheint vor allem eine Domäne der Männer unter den Menschen zu<br />

sein: Wir wollen sein wie Gott. Hier ist der sportliche Gegner die Natur. Roboter werden immer<br />

ausgefeilter, die Künstliche Intelligenz wird weiterentwickelt (gerne auch beides kombiniert),<br />

die medizinischen Grenzen werden immer weiter hinausgeschoben. Mit der Gentechnologie<br />

wird in den Fortpflanzungsprozess direkt eingegriffen, was zuvor schon indirekt bei<br />

der Züchtung von landwirtschaftlichen Hochleistungstieren geschehen ist. Man möchte besser<br />

sein <strong>als</strong> die Natur, und man möchte diese Macht dann auch durch Patente abgesichert<br />

wissen.<br />

Grundsätzlich geht es bei Sportsgeist und Wettbewerb um positive Eigenschaften des Menschen.<br />

Sie werden allerdings zu einseitig auf das Feld Wirtschaft ausgerichtet und zu einseitig<br />

gegenüber Kooperation und Mäßigung gefördert. Es muss erlaubt sein, die Frage zu stellen:<br />

Wer befürwortet Wettbewerb, und auf wessen Kosten geht er? Das Konzept des Wettbewerbs<br />

und seine Ausweitung werden typischerweise von den Starken eingefordert, und<br />

schon allein das sollte Misstrauen wecken. Es besteht der Verdacht, dass das nichts anderes<br />

<strong>als</strong> eine Form von Lobbyismus in eigener Sache ist.<br />

2.5.5 Sportsgeist und Widerstand<br />

Verbote, Schranken und Grenzen haben vor allem einen Effekt: Sie wecken Widerstand bei<br />

jenen, die davon betroffen sind. Und zwar grundsätzlich, denn der Mensch ist (auch) Individualist,<br />

und ein Eingreifen in sein individuelles Handeln stellt zunächst mal eine Kränkung<br />

dar, egal ob das Verbot legitim ist oder nicht. Das individuelle Gerechtigkeitsempfinden ist<br />

33


verletzt, oder das Verbot macht die Sache erst interessant. Wer Kinder hat, kennt das. <strong>Die</strong><br />

Psychologen nennen das Phänomen „Reaktanz”.<br />

Je nach Schwere dieses Eingriffs sinnt der Mensch auf Abhilfe und überlegt, wie er das System<br />

austricksen kann. Das ist ein völlig normaler und gesunder Vorgang, eine Form von<br />

Sportsgeist und Spieltrieb. Jedes Kind macht das mit elterlichen Verboten. Es gibt sogar Gemeinschaften,<br />

die das kultiviert haben: Menschen, die sich treffen, um Schlösser zu knacken<br />

(Grundsatz: Knacke nie ein Schloss ohne Erlaubnis des Eigentümers). Oder der Hamburger<br />

Chaos Computer Club, der das Hacken von Computern zum Aufklären der Gesellschaft betreibt.<br />

Solche Ansätze sind jedoch selten. Häufiger überwiegen die Suche nach dem eigenen Vorteil<br />

oder die Destruktivität, und dabei werden Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Kreditkartenbetrug,<br />

Steuerhinterziehung, F<strong>als</strong>chparken: Immer ist auch die findige Suche nach der<br />

Lücke im System dabei. Das Entscheidende ist: Es weckt Energie. Viel Energie. Energie, die<br />

man besser auf etwas anderes richten könnte. Hacker und Computerviren sind einfach nur<br />

Beispiele für fehlgeleitete Kreativität.<br />

Jedenfalls muss sich jeder, der sich ein System mit Grenzen ausdenkt (z. B. der Gesetzgeber)<br />

mit diesem Effekt befassen, denn er tritt unweigerlich auf. Demokratisch beschlossene<br />

Verbote sind dann besonders problematisch, wenn sie im Widerspruch zu anderen offiziellen<br />

oder inoffiziellen Botschaften stehen: Widersprüche reizen besonders zum Widerstand. <strong>Die</strong><br />

Grenzen müssen wohlbegründet sein und auf die Fälle beschränkt bleiben, wo es sich lohnt,<br />

Grenzverletzungen zu verfolgen – und auf die Fälle, wo das überhaupt möglich ist. Beim<br />

Thema Internet werden wir noch einmal darauf zurückkommen.<br />

Das ist eine wesentliche praktische Begründung für den liberalen Grundsatz: Der Staat soll<br />

sich raushalten, wo immer es geht. Es weckt schlicht weniger Widerstand, und eigentlich<br />

möchte man Menschen mit ihrer Motivation nicht bremsen, sondern fördern.<br />

2.6 Antrieb der Wirtschaft<br />

Aus diesen Quellen schöpfen die Unternehmer ihre Energie für Wirtschaft und Wettbewerb.<br />

2.6.1 Unternehmer <strong>als</strong> Helden<br />

Wir haben uns daran gewöhnt, dass jeder, der wirtschaftlich etwas unternehmen will, nicht<br />

nur möglichst ungehindert agieren darf, sondern sogar unter allen Umständen gefördert<br />

wird. „Unternehmer” ist ein extrem positiv besetzter Begriff. Ihm werden alle Hürden aus<br />

dem Weg geräumt, er darf über eine Kapitalgesellschaft seine persönliche Haftung reduzieren,<br />

er bringt Menschen in Lohn und Brot, er verbessert unser Leben, sein Handeln ist ein<br />

leuchtendes Vorbild für alle anderen. Keine sich bietende Möglichkeit darf ausgelassen werden.<br />

Ein ähnlicher Mythos ist der des „Leistungsträgers”. Das ist Sozi<strong>als</strong>tatus pur.<br />

<strong>Die</strong>se Zuschreibungen nähren aufgrund der übertrieben positiven Bewertung durch die Gesellschaft<br />

die Eitelkeit. Eitelkeit ist eine Leuchtkraft, die durch äußere Bestätigung entsteht.<br />

Es besteht meines Erachtens außerdem der Verdacht, dass einige Leistungsträger ihre Motivation<br />

aus Kränkung beziehen und es irgendjemandem so richtig beweisen wollen: Ihrem<br />

Vater oder ihrer Mutter, „den” Männern oder „den” Frauen, dem ehemaligen Lehrer, den<br />

Mitschülern, dem Bruder, der Schwester, dem Konkurrenten, der Menschheit ... Anders lässt<br />

sich dieses Ausmaß an wirtschaftlicher Energie gar nicht erklären. Das Buch „<strong>Die</strong> heimlichen<br />

Gewinner” von Hermann Simon liefert dafür (unfreiwillig) einen Haufen Beispiele.<br />

Es muss die Frage erlaubt sein, welche wirtschaftlichen Unternehmungen wir <strong>als</strong> Gesellschaft<br />

haben wollen und welche nicht, wenn der Unternehmergeist uns gegen die Wand fährt. <strong>Die</strong><br />

Dominanz der Siegertypen muss ein Ende haben. Es wird immer Menschen geben, die mit<br />

Komplexität besser umgehen können, die einen besseren Riecher haben, kreativer sind,<br />

34


schneller sind. Aber diese dürfen nicht immer die anderen dominieren. <strong>Die</strong> Handlungsfreiheit<br />

für die Unternehmer schränkt mehr und mehr die Handlungsfreiheit der Individuen ein.<br />

2.6.2 Gewinn und Reichtum<br />

Zins für Kapital über das Risikoentgelt hinaus und Arbeitslohn über die „eigentliche” Arbeitsleistung<br />

hinaus sind leistungslose Einkommen. Mitunter bis hin zum Reichtum. Wie hoch der<br />

leistungslose Anteil in beiden Fällen tatsächlich ist, darüber gibt es einen heftigen gesellschaftlichen<br />

Streit, siehe die Renditeerwartungen von Kapitalgesellschaften oder Gehälter<br />

und Boni von Managern. Beim reinen Kapital ist es noch relativ einfach: Jeder, der von einer<br />

Geldanlage mehr erwartet <strong>als</strong> Rückzahlung plus einen angemessenen Risikoausgleich, erwirbt<br />

ethisch inakzeptables Geld ohne Gegenleistung. Wenn Herr Ackermann <strong>als</strong> Renditeerwartung<br />

für die Deutsche Bank 25 % für angemessen erklärt (welt-online, 24.05.2010) und<br />

bei der Begründung darauf verweist, dass im verarbeitenden Gewerbe eher noch höhere<br />

Renditen erzielt werden, dann ist wohl weder bei der Deutschen Bank noch im verarbeitenden<br />

Gewerbe alles in Ordnung. Ein Ausfallrisiko von jährlich 25 % für die gesamte Investition<br />

erscheint nicht ganz realistisch. <strong>Die</strong> Gegenleistung besteht in diesen Fällen wohl eher im erpresserischen<br />

Versprechen von Arbeitsplätzen. Was die Gesellschaft hier akzeptiert, ist ganz<br />

maßgeblich für die Schnelligkeit des Wachstums verantwortlich.<br />

Ein dauerhafter, in Summe über alle Unternehmen positiver Gewinn kommt, wie Binswanger<br />

anschaulich beschreibt, nur durch einen Anstieg der Geldmenge zustande (Binswanger 2009<br />

S. 17ff.). Das heißt: Durch einen Anstieg der Leistungshoffnung. Immer mehr Geld muss<br />

erwirtschaftet werden, um die immer höheren Leistungsverpflichtungen zu erfüllen. Letztlich<br />

sind <strong>als</strong>o Gewinn, Wirtschaftswachstum und Anstieg der Geldmenge direkt miteinander verknüpft.<br />

2.6.3 Haftungsbeschränkung<br />

<strong>Die</strong> mit Abstand wichtigste Rechtsform von großen Unternehmen ist die Kapitalgesellschaft.<br />

Eine Kapitalgesellschaft kann man sich etwa so vorstellen: Geldgeber geben einer Person<br />

Geld, damit sie damit etwas unternimmt. Wenn es gut geht, macht die Person Gewinn und<br />

kann den Geldgebern immer wieder etwas zurückgeben (Ausschüttungen). Wenn es schief<br />

geht, ist das Geld weg. Aber die Person hat kein Anrecht darauf, mehr Geld zu verlangen <strong>als</strong><br />

die Geldgeber von sich aus geben möchten. Und niemand, der mit der Person Geschäfte<br />

gemacht hat, kann von ihr mehr Geld verlangen <strong>als</strong> sie hat: Ihre Haftung ist beschränkt auf<br />

das, was sie hat. <strong>Die</strong>se Person ist nicht aus Fleisch und Blut, sondern nur eine Idee, eine<br />

„juristische Person”. Man nennt sie auch „Gesellschaft”, und die Geldgeber nennt man bei<br />

der Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) „Gesellschafter”, bei der Aktiengesellschaft<br />

(AG) „Aktionäre”.<br />

Kapitalgesellschaften haften <strong>als</strong>o nur mit dem Vermögen, welches sie selbst besitzen. Das<br />

Vermögen derer, die wiederum die Kapitalgesellschaft besitzen, ist vor jedem Zugriff geschützt<br />

– und damit auch vor Verantwortung. Das nennt man die Haftungsbeschränkung von<br />

Kapitalgesellschaften. Wenn eine Kapitalgesellschaft eine Pleite hinlegt, dann haben alle, die<br />

ihr Geld schulden oder andere Leistungen von ihr erwarten, das Nachsehen, es sei denn,<br />

man kann den Geschäftsführern bzw. dem Vorstand nachweisen, dass sie ihre Pflichten<br />

strafrechtlich relevant verletzt haben, dann hat man unter Umständen Anspruch auf Schadenersatz<br />

(dieses Risiko ist übrigens mit ein Grund für hohe Geschäftsführer- und Vorstandsbezüge).<br />

<strong>Die</strong> eigentlichen Geldgeber haften nie mit mehr <strong>als</strong> ihrem Anteil, den sie ja<br />

schon eingezahlt haben.<br />

Sinn dieser Haftungsbeschränkung ist die Erkenntnis, dass die allermeisten Firmengründungen<br />

mehr oder weniger Erfolgsgeschichten sind und dass man mehr Wirtschaft hat, wenn<br />

man das unternehmerische Handeln in diesem Punkt erleichtert. Wer eine Kapitalgesellschaft<br />

gründet, der investiert sowieso mindestens das sogenannte Stammkapital (die finanzielle<br />

35


Grundausstattung des Unternehmens), hat <strong>als</strong>o in der Regel ein Interesse am Erfolg. Man<br />

möchte Unternehmern einen Vertrauensvorschuss geben, sie ermuntern, ein gewisses Maß<br />

an Risiko einzugehen, ohne ihre gesamte finanzielle Zukunft aufs Spiel zu setzen. Und meistens<br />

klappt das auch ganz gut, und deshalb stehen GmbH und AG für beispielloses wirtschaftliches<br />

Wachstum. <strong>Die</strong> Haftungsbeschränkung ist eine der Hauptvoraussetzungen für<br />

die Bereitschaft zum Eingehen wirtschaftlicher Risiken. Das Stammkapital ist letztlich auch<br />

eine Form von Kredit der Geldgeber an die Gesellschaft.<br />

Für Bankkredite an GmbH's werden häufig dann doch die Gesellschafter zur Hinterlegung<br />

von Sicherheiten verpflichtet, den Banken ist das sonst zu heiß. Und größere Lieferanten<br />

schauen sich eine Kapitalgesellschaft auch genau an, bevor sie liefern, denn bei Insolvenz<br />

müssen sie den meist mageren Rest mit allen anderen teilen.<br />

Das Konstrukt gerät dann in eine Schieflage, wenn die Kapitalgesellschaft Risiken eingeht,<br />

die in keinem Verhältnis zu ihrer wirtschaftlichen Potenz stehen. Da eine Kapitalgesellschaft<br />

keinen unabhängigen Aufpasser hat, kann das ziemlich leicht passieren – der Geschäftsführer<br />

bzw. Vorstand muss sich nur gehörig selbst überschätzen oder genügend kriminelle Energie<br />

besitzen. Müllbeseitigungsfirmen, die illegal Müll entsorgen, Telefongesellschaften, die<br />

sich von ihren Kunden üppige Vorauszahlungen überweisen lassen, sind aktuelle Beispiele.<br />

Sie können Pleite gehen, ohne für die Folgen ihres Handelns geradestehen zu müssen. Sie<br />

können ganz offiziell verantwortungslos sein. Das Risiko tragen dann Lieferanten, die auf<br />

unbezahlten Rechnungen sitzen bleiben, Kunden, die keine Leistungen erhalten, und die soziale<br />

Gemeinschaft, die die Überreste beseitigen muss.<br />

Genossenschaften<br />

Viel ist derzeit die Rede von Genossenschaften <strong>als</strong> „nichtkapitalistische Alternative”. Manch<br />

einer kennt sie <strong>als</strong> Wohnungsbau-Genossenschaft, aber auch die Volksbanken und Raiffeisenbanken<br />

sind Genossenschaften. Als Beispiel nehme ich hier landwirtschaftliche Genossenschaften,<br />

wo sich Landwirte zusammengeschlossen haben, um Geräte gemeinsam zu nutzen,<br />

gemeinsam in größeren Mengen einzukaufen und auch zu verkaufen. Größere Mengen sind<br />

immer einfacher: Weniger Verwaltungsaufwand, mehr Marktmacht. Dazu legen alle Geld<br />

zusammen, die Genossenschaftsanteile. Sie bilden das Kapital. <strong>Die</strong> Genossenschaft erhält<br />

ebenfalls einen Vorstand. Und dann wirtschaftet die Genossenschaft: <strong>Die</strong> Nutzung der Geräte<br />

wird geplant und zugeteilt, im Genossenschaftsladen kann man preiswert einkaufen und seine<br />

produzierten Güter an die Genossenschaft verkaufen, die sie dann weiterverkauft. Der<br />

Gewinn der Genossenschaft ist eher zweitrangig und wird entweder investiert oder an die<br />

Genossen ausgezahlt. Der eigentliche Gewinn für die Genossen besteht im „Wirtschaften” mit<br />

der Genossenschaft.<br />

<strong>Die</strong> Haftung ist bei Genossenschaften flexibler: Sie kann begrenzt oder unbegrenzt sein, die<br />

Gestaltung der Satzung besitzt hier Freiheiten.<br />

2.6.4 Beteiligungen<br />

Eine sehr bedeutsame Eigenschaft von Kapitalgesellschaften ist ihre rechtliche Eigenständigkeit,<br />

unabhängig von den jeweiligen Eigentümern: Sie ist eine juristische Person. In dieser<br />

Eigenschaft kann sie in Teilen oder <strong>als</strong> Ganzes den Eigentümer wechseln. Eigentümer kann<br />

dabei auch eine andere Kapitalgesellschaft werden, man spricht von Beteiligungen. <strong>Die</strong> Wirtschaftswelt<br />

ist voll von Beteiligungen, z. T. bestehen riesige Beteiligungsgeflechte. Ein Teil<br />

dieses Geflechtes war mal <strong>als</strong> „Deutschland AG” bekannt: Große deutsche Banken, Versicherungen<br />

und Industrieunternehmen waren gegenseitig aneinander beteiligt, und in den Aufsichtsräten<br />

saßen immer wieder die gleichen Leute.<br />

Beteiligungen sind interessant, weil man damit Macht ausüben kann, denn gemäß den erworbenen<br />

Anteilen besitzt man Stimmrechte und kann die Geschicke des Unternehmens beeinflussen.<br />

Und Beteiligungen sind leicht wieder zu verkaufen, weil die Organisationsstruktur<br />

36


des Unternehmens nicht angetastet wird, im Gegensatz zu einer Fusion. Auf diese Weise<br />

können Beteiligungen mit wenig organisatorischem Aufwand zu großen Machtkonzentrationen<br />

führen: Viele rechtlich eigenständige Unternehmen stehen letztlich unter einer gemeinsamen<br />

Kontrolle.<br />

2.6.5 Subventionen<br />

Sie nennen sich Gründungszuschuss, Überbrückungsgeld, Ansiedlungspolitik, Steuererleichterung,<br />

Infrastrukturförderung, Stillegungsprämie, Garantiepreise und derlei mehr. Gemeint ist<br />

aber immer das Gleiche: Subventionen, <strong>als</strong>o bewusste, staatliche, finanzielle Förderungen<br />

privatwirtschaftlicher Tätigkeit, mit der Begründung, der reine Markt sei aus irgendeinem<br />

Grunde zu streng. Man ist der Meinung, mit einem Marktpreis, der auf einer normalen Kostenkalkulation<br />

beruht, kommt das Unternehmen nicht weiter.<br />

<strong>Die</strong> Gründe sind unglaublich vielfältig: Man möchte nicht, dass noch mehr Landwirte pleite<br />

gehen, man möchte junge Selbständige unterstützen oder die Umwelt schonen, man möchte<br />

nicht zu viel Ärger mit den Kohlekumpels, man möchte ein Unternehmen hier ansiedeln und<br />

nicht im anderen Bundesland, man möchte die Flugzeuglobby nicht vergrätzen oder einen<br />

Großverbraucher von Energie etwas entlasten ... In einer echten Marktwirtschaft sind Subventionen<br />

ein „Geht gar nicht”. Beispielsweise schufen Immobilienförderprogramme in den<br />

USA in Verbindung mit anderen staatlichen Maßnahmen einen regelrechten Eigenheim-Hype,<br />

der über komplexe Finanzprodukte dann 2008 die Bankenkrise auslöste.<br />

Subventionen fördern noch nicht einmal immer das Wachstum, sondern gegebenenfalls nur<br />

das Wachstum einer Region auf Kosten einer anderen. Subventionen der Bundesländer sind<br />

häufig nur eine Gegenmaßnahme für Subventionen anderer Bundesländer. Im Ergebnis ist<br />

das Geld dann zweimal weg.<br />

Bestimmte Lohnanteile werden durch staatliche Steuersubventionen finanziert: Steuerfreie<br />

Sonntags-, Nacht- und Feiertagszuschläge und Fahrtkostenerstattungen für Arbeitnehmer.<br />

Wenn die Erbringung einer wirtschaftlichen Leistung Nachtarbeit erfordert, dann hat sich das<br />

in einer echten Marktwirtschaft gefälligst im Preis niederzuschlagen. Wenn eine Produktion<br />

so umfangreich oder komplex ist, dass die Arbeitnehmer von weit her kommen müssen, um<br />

den Laden am Laufen zu halten, ebenso. <strong>Die</strong>se Kosten hätte <strong>als</strong>o eigentlich der Arbeitgeber<br />

zu übernehmen und auf den Preis umzulegen. Dass das nicht passiert, liegt an der gesellschaftlichen<br />

Erpressung mit den Arbeitsplätzen durch die Unternehmer, die sich geschickt mit<br />

den Arbeitnehmern verbünden, die solche Zuschläge erhalten und natürlich auch weiterhin<br />

nicht versteuern möchten. <strong>Die</strong> begreifen nämlich nicht, dass nicht sie davon profitieren, sondern<br />

der Arbeitgeber, der den höheren Lohn spart und ihn sich von der Gesellschaft bezahlen<br />

lässt.<br />

Subventionen sind in der Wirtschaft das, was Doping im Sport ist: Unerlaubte Leistungssteigerungen.<br />

In einer Zeit, wo die Gesellschaft mit dem Drohwort „Arbeitsplätze” erpressbar<br />

geworden ist, spielen Subventionen eine traurige Hauptrolle im Prozess des Wirtschaftswachstums.<br />

2.6.6 Ressourcen <strong>als</strong> normale Waren<br />

Nichterneuerbare Ressourcen stellen auf dieser Welt etwas Besonderes dar: Steinkohle, Erdöl,<br />

Metalle, Mineralien, ... Sie sind eigentlich ein Erbe der gesamten Menschheit, denn niemand<br />

hat sie geschaffen. Sie werden seit langem genutzt, aber erst seit etwa 250 Jahren hat<br />

dieser Verbrauch akut gefährliche Größenordnungen erreicht, mit dem Beginn der Technischen<br />

Revolution, dem Aufkommen von Kraftmaschinen auf der Basis von fossilen Brennstoffen,<br />

dem stark ansteigenden Stahlverbrauch und der Kunststoffproduktion. Zum einen werden<br />

die noch verfügbaren Ressourcen spürbar gemindert, zum anderen belasten uns die<br />

37


Rückstände insbesondere der Erdöl- und Kohlenutzung immer stärker, <strong>als</strong> CO2-Emissionen<br />

und Kunststoffmüll.<br />

Der Markt kann für solche „Waren” keinen brauchbaren Preis bilden, denn er besitzt keine<br />

Mechanismen, die die Begrenztheit dieser Ressourcen sowie ihre Stellung <strong>als</strong> „Welterbe” berücksichtigen.<br />

Somit kommt es zu einer Preisbildung, die lediglich den Aufwand der Gewinnung<br />

berücksichtigt sowie das Erpressungspotential der Förderländer (Stichwort OPEC). Eine<br />

aktive Verwaltung der absoluten Verbrauchsmengen gibt es bisher nur in Ansätzen, nämlich<br />

den Emissionshandel für CO2. <strong>Die</strong>ser wird sicherlich einmal mehr Wirksamkeit entfalten,<br />

greift aber insgesamt zu kurz, da er sich auf die fossilen Ressourcen und hier nur auf die<br />

Verbrennung beschränkt.<br />

Insgesamt stellt die Tatsache, dass es für nichterneuerbare Ressourcen keine generelle Kontingentierung<br />

gibt, eine starke Förderung entsprechender Wirtschaftszweige dar.<br />

2.6.7 Patente<br />

<strong>Die</strong> Möglichkeit der Patentierung basiert auf dem Grundsatz „Leistung soll sich lohnen”. Um<br />

zu verhindern, dass ein anderer die Früchte erntet, die der Erfinder mühsam gezogen hat,<br />

wird dem Erfinder für eine begrenzte Zeit (maximal 20 Jahre) ein Ausschließlichkeitsrecht für<br />

die gewerbliche Nutzung der patentierten Erfindung erteilt. Patente sind somit ein explizites<br />

Mittel zur Förderung von Innovationskraft und wirtschaftlicher Tätigkeit.<br />

Dabei sind die Patentgesetze stets eine Gratwanderung zwischen Förderung und Behinderung<br />

von Innovationen, denn ein zu starker Patentschutz kann dazu führen, dass die Erfindung<br />

durch den Erfinder nur unzureichend genutzt wird, ihre Nutzung aber vielen anderen<br />

verwehrt bleibt. Eine zweite kritische Stelle des Patentrechtes ist die Frage, was alles patentierbar<br />

ist. Insbesondere Patente im biomedizinischen Bereich stehen dabei im Zentrum der<br />

öffentlichen Diskussion, denn Profit auf der Basis von Gesundheitsleistungen führt schnell zu<br />

der Frage nach dem Preis von Leben und Tod. Aber auch andere „Patente auf Leben”, beispielsweise<br />

auf Saatgut im landwirtschaftlichen Bereich, geraten in die Kritik, da sie der Idee<br />

der ungehinderten biologischen Vermehrung widersprechen.<br />

2.6.8 Aufweichung der Grundrechte<br />

<strong>Die</strong> Grundrechte des Menschen werden abgewogen gegen Wirtschaftsinteressen, und diese<br />

Waage neigt sich mangels schwächerer Lobby auf der Seite der Grundrechte immer mehr<br />

der anderen Seite zu:<br />

• Grundrecht auf Arbeit<br />

• Grundrecht auf Schutz der natürlichen Umwelt<br />

• Grundrecht auf Schutz der Gesundheit<br />

• Schutz der Allmende „Öffentlicher Raum” vor Werbung, Lärm, optischer Vermüllung,<br />

Flächenmissbrauch<br />

2.7 Produktivitätssteigerung<br />

<strong>Die</strong> Kombination aus angstgetriebenem Konsum und Sportsgeist ist verheerend. Menschen<br />

und Wirtschaft überbieten sich mittlerweile in einer ständigen Erhöhung der Produktivität, die<br />

im Privaten „Lebensstandard” heißt.<br />

2.7.1 Der Schwung trägt weiter<br />

Früher, <strong>als</strong> das Leben noch hart war, lautete die Wahl: Frieren oder hungern. Manchmal<br />

musste man auch beides. <strong>Die</strong> Arbeitszeit reichte in Gegenden mit rauherem Klima oft nicht<br />

aus, um alle Grundbedürfnisse zu befriedigen. <strong>Die</strong> Werkzeuge waren einfach, Material war<br />

38


wertvoll, man war den Elementen ziemlich ausgeliefert. Wirtschaftswachstum war überlebenswichtig.<br />

Erst durch Verbesserung der Wirtschaftsweise war es im Laufe der Zeit möglich,<br />

auch in weniger lebensfreundlichen Gegenden <strong>als</strong> Afrika brauchbar Landwirtschaft zu betreiben,<br />

Menschen für die sozialen Berufe freizustellen, Bildung zu verbessern usw. Wachstumskritik<br />

war nicht aktuell – es ging um die verbesserte Befriedigung der Grundbedürfnisse. <strong>Die</strong><br />

„gute alte Zeit” war für die meisten eine Zeit des Mangels und der nicht enden wollenden,<br />

schweren Arbeit, verrichtet unter oft menschenunwürdigen Bedingungen (was allerdings<br />

durchaus nicht immer nötig gewesen wäre, es gab schon dam<strong>als</strong> Gewinner und Verlierer).<br />

Heute lautet die Wahl: Abwasch oder Spülmaschine. Festnetz oder Mobiltelefon. Es geht <strong>als</strong>o<br />

nicht mehr primär um existentielle Fragen. Trotzdem halten wir am Wachstum weiter fest,<br />

weil der Schwung der Entwicklung uns immer weiter trägt. Das Wachstum hat sich von seiner<br />

ursprünglichen Motivation gelöst und hält sich selbst in Gang, mit fatalen Folgen.<br />

2.7.2 Das Kernproblem<br />

Wenn auch noch recht verhalten, so gibt es doch mittlerweile eine Wachstumskritik. Sie wird<br />

auf hohem Niveau in kleineren Zirkeln geführt, erreicht aber in Deutschland langsam breitere<br />

Kreise (siehe auch Literaturliste). In der allgemeinen Politik ist sie jetzt gerade erst angekommen<br />

– Wachstumsbefürwortung ist für einen Politiker (noch) eine risikoarme Strategie,<br />

aber es gibt immerhin eine Enquete-Kommission des Bundestages zum Thema. Selbst Bündnis<br />

90/<strong>Die</strong> Grünen kommen um eine Wachstumsbefürwortung nicht herum, bei ihnen heißt<br />

es dann eleganter „Grüne Marktwirtschaft”. Man kann sich eine Wirtschaft ohne Wachstum<br />

nicht mehr so recht vorstellen.<br />

Allerdings geht diese Kritik meines Erachtens bei allem Verdienst doch leicht am Kern vorbei.<br />

Wachstum ist nicht die Ursache, Wachstum ist ein Ergebnis.<br />

Das Kernproblem heißt Produktivitätssteigerung. <strong>Die</strong>se ist – dank fehlender Beschränkung<br />

von materiellen Ressourcen – ursächlich für das Wachstum verantwortlich. Wenn es heißt,<br />

Staat und Wirtschaft hielten am Wachstum fest oder förderten es, so ist das nicht richtig: Sie<br />

halten an weiterer Produktivitätssteigerung fest oder fördern sie, und daraus ergibt sich weiteres<br />

Wachstum, weil die freigewordene Produktivkraft wieder im Wirtschaftsprozess eingesetzt<br />

wird. Eine Innovation steigert nicht das Wachstum, sie steigert die Produktivität.<br />

Das ist mehr <strong>als</strong> eine sprachliche Ungenauigkeit, denn während Wachstum mittlerweile nicht<br />

mehr heilig ist und Wachstumskritik ein hohes inhaltliches Niveau erreicht hat, wird Produktivitätskritik<br />

noch kaum betrieben, und wenn, dann eher fokussiert auf die sozialen Folgen.<br />

Wachstum wird angesehen <strong>als</strong> durch verschiedene f<strong>als</strong>che Weichenstellungen menschenverursacht<br />

und damit korrigierbar, während Produktivitätssteigerung <strong>als</strong> so „menschlich” angesehen<br />

wird, dass sie <strong>als</strong> gottgegeben hingenommen wird. Es wird über Wege weg vom<br />

Wachstum diskutiert, aber kaum über Wege weg von der Produktivitätssteigerung. Eine Verringerung<br />

der Produktivität wird allenfalls <strong>als</strong> Zufallsprodukt anderer Maßnahmen gesehen.<br />

Dabei ist es meines Erachtens die Produktivitätssteigerung, die wir global in den Blick nehmen<br />

müssen.<br />

2.7.3 Produktivität und Lebensstandard<br />

Was im Wirtschaftsbereich Produktivitätssteigerung heißt, wird im privaten Bereich Erhöhung<br />

des Lebensstandards genannt. Aber meistens ist es das gleiche: In kürzerer Zeit mehr erreichen.<br />

Mehr Dinge parallel machen können. Maschinen machen lassen. Bequemeres Leben.<br />

<strong>Die</strong> Welt zum Dorf machen. Wir steigern im wirtschaftlichen wie im privaten Bereich ständig<br />

unsere Produktivität, und Fortschritte auf der einen Seite wecken neue Ideen auf der anderen.<br />

Ein paar Beispiele:<br />

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• Auto statt Fahrrad<br />

• Waschmaschine statt Handwäsche<br />

• Spülmaschine statt Abwasch<br />

• E-Mail statt Brief<br />

• Wikipedia statt Lexikon<br />

• CD statt Tonband<br />

• amazon statt Karstadt<br />

• facebook und Twitter statt Kneipe<br />

• Single-Börse statt Zufall<br />

• Fliegen statt Bahnfahren<br />

• Mobiltelefon statt Festnetz<br />

• Kurztrip statt Schrebergarten<br />

• Fertiggerichte statt selbst kochen<br />

• Fernsehen statt Buch lesen<br />

• Wegschmeißen statt reparieren<br />

Ähnlich wie der Arbeitgeber ständig die Produktivität innerhalb des Betriebes steigert, weil er<br />

sonst den Kampf gegen die Konkurrenz verliert, ist auch der Arbeitnehmer gezwungen, ständig<br />

seine private Produktivität zu steigern. Sie ist nicht nur die Voraussetzung für eine Arbeitsstelle<br />

mit all ihren Nebenbedingungen wie hohe Qualifikation, Mobilität, Überstunden<br />

etc., sondern auch eine Voraussetzung für das soziale Leben, welches immer wieder die Vielfalt<br />

anstrebt. Überlegen Sie mal, was ihr soziales Umfeld mit Ihnen macht, wenn Sie beschließen,<br />

auf Auto, Computer und Mobiltelefon zu verzichten. Dem Wachstumszwang der<br />

Wirtschaft entspricht ein Wachstumszwang im Privaten. Wir sind zur Erhöhung unseres Lebensstandards<br />

verdammt. Der „Reiz des Neuen” liegt nicht nur im „sozialen Wert der Dinge”,<br />

sondern vor allem auch darin, ob das Neue geeignet ist, die persönliche Produktivität zu<br />

steigern. Vor allem solche Produkte haben Erfolg, die jene zu steigern vermögen. Private<br />

Produktivitätsgewinne werden mittlerweile kaum noch in mehr Zufriedenheit umgesetzt, beispielsweise<br />

in Form von mehr Muße oder mehr Teilnahme an Kultur, sondern häufig nur<br />

noch in die Fortsetzung der Suche nach mehr Produktivität oder mehr Konsum.<br />

Das sei auch all den Wachstumsgegnern ins Stammbuch geschrieben, die mit Mobiltelefonen<br />

und übers Internet, Billigflügen zu Kongressen und Fertigpizza versuchen, ihr Ziel zu erreichen:<br />

Passt auf, dass ihr nicht der Täuschung des Rosinenpickens erliegt. Wer konsequent<br />

gegen Wachstum und Globalisierung ist, sollte die obige Liste eher von rechts nach links lesen.<br />

Grundsätzlich gibt es keine gute und schlechte Technik: Mit einem Messer kann man Gemüse<br />

schneiden oder einen Menschen umbringen. Und mit einem Computer kann man Bücher<br />

schreiben oder Arbeitsplätze wegrationalisieren. Das heißt, weil Technik neutral ist, muss<br />

man sich um den Fortschritt keine Gedanken machen? Doch. Wesentliche Unterschiede zwischen<br />

dem Messer und dem Computer sind der direkte und indirekte Ressourcenverbrauch,<br />

die Komplexität der notwendigen Infrastruktur und die Auswirkungen auf den sozialen Menschen.<br />

Es findet eine extreme Bevorzugung des materiellen Lebensstandards gegenüber einem immateriellen<br />

Lebensstandard statt, weil letzterer viel weniger greifbar und konkret ist: Bildung,<br />

Sport, eigene handwerkliche oder künstlerische Betätigung, Teilnahme an Kultur hinterlassen<br />

nur „schwache Spuren”. Man selbst und andere können diese „Erfolge” nicht sehen,<br />

die „Rückkopplung” oder auch „Bespiegelung” ist viel schwieriger. Einen Mercedes sieht<br />

und erkennt jeder, einen wachen Geist hingegen nimmt man nur durch sozialen Kontakt<br />

wahr und wenn man selbst einen solchen besitzt. „Materielle Effizienz” ist direkte Voraussetzung<br />

für die Steigerung des Statuskonsums, während „soziale Effizienz” (hervorragende Leh-<br />

40


er, exzellente Therapeuten, umsichtiges Pflegepersonal, ausgleichende Vorgesetzte, ...) viel<br />

indirektere, schlechter messbare Früchte trägt und durch eine Steigerung der materiellen<br />

Effizienz scheinbar kompensiert werden kann. Zudem kann materielle Effizienz allein, im stillen<br />

Kämmerlein, entwickelt werden und kommt damit der „individuellen Wachstumsstrategie”<br />

entgegen, während soziale Effizienz nur in einem geeigneten Umfeld wächst und somit der<br />

eigene „Erfolg” schlechter abgrenzbar ist. Demzufolge führt der materielle Konsum zu einer<br />

völlig einseitigen Bevorzugung und überhöhten Bezahlung der technisch und wirtschaftlich<br />

ausgerichteten Berufe und im Gegenzug zu einer Geringschätzung der sozialen Berufe.<br />

<strong>Die</strong> entscheidende Frage ist: Wieviel Technik brauchen wir, um zufrieden zu sein? Wie finden<br />

wir dieses Maß? Und von wem wird das wie entschieden? Oder anders gesprochen: Wie<br />

kommen wir in Zukunft ohne Verbote, Reglementierungen und diese ganzen lästigen moralischen<br />

Appelle aus? Meine Überzeugung ist: Wenn man an den richtigen Stellschrauben<br />

dreht, dann legt man das Mobiltelefon einfach weg oder lässt den Fernseher aus, weil es<br />

uninteressant geworden ist. Dann blühen lokaler Handel und lokales Handwerk, weil sie wirtschaftlicher<br />

sind. Ohne Moral und Verbot.<br />

2.8 Wider die Vernunft<br />

2.8.1 Unter Wert<br />

Im Ergebnis landen wir in einer Wachstumsgesellschaft, in der die Unvernunft zur Regel<br />

wird. Nicht die Gier von Konzernen treibt uns in den Ruin, sondern die kollektive Unvernunft<br />

von Millionen von Individuen. Das derzeitige System des Kapitalismus schwächt mit einer<br />

Kombination von grenzenlosen wirtschaftlichen Anreizen die positiven Fähigkeiten des Menschen<br />

und verstärkt die negativen. Es schwächt Vernunft und Maßhalten, statt dessen verstärkt<br />

es Unvernunft und Wettbewerb, mit dem Ziel eines unverantwortlichen Wirtschaftswachstums.<br />

Der Mensch ist nicht schlecht – er wird schlechter gemacht, <strong>als</strong> er sein könnte.<br />

Wirtschaft und Menschen sind unvernünftig, weil ihnen zu wenig Gelegenheit für vernünftiges<br />

Handeln eingeräumt wird. Der Kapitalismus schürt über ständige Produktivitätssteigerung<br />

und die „Vergeldlichung” der Grundbedürfnisse, insbesondere des Wohnens, unsere<br />

Existenzangst. Er nährt über die Glorifizierung von Geld, Macht, Karriere und Erfolg unsere<br />

Eitelkeit. In der Standesgesellschaft wurde man in die Eitelkeit hineingeboren oder nicht,<br />

heute kann jeder die Stufe der Eitelkeit erreichen. Das weckt Energie. <strong>Die</strong> Anreize, der Botschaft<br />

des freien Marktes zu folgen, sind so überwältigend, dass nur wenige widerstehen<br />

können. Es ist schlicht zu viel verlangt, sich angesichts der Möglichkeiten und Verlockungen<br />

in irgendeiner Weise zurückzuhalten.<br />

Reichtum ist attraktiv durch Ungleichheit und Machtgefälle. Fressen, Saufen, Ficken, Knechten<br />

und Protzen <strong>als</strong> Motive wirtschaftlichen Handelns sind zwar offiziell nicht gesellschaftsfähig,<br />

tatsächlich aber systemisch erwünschte Verhaltensweisen. <strong>Die</strong> Hierarchien, Belohnungsmechanismen<br />

und Vermarktungswege der Wachstumsgesellschaft fördern genau diese<br />

Handlungsweisen, im Großen wie im Kleinen. <strong>Die</strong> Idee der Leistungsgesellschaft „Wer mehr<br />

leistet, bekommt auch mehr” wurde pervertiert in die Idee der Wettbewerbsgesellschaft<br />

„Wirtschaft ist Kampf, und es gibt Gewinner und Verlierer”.<br />

Unvernunft ist eine der Grundlagen von Werbung. Werbung nennt sich gerne hochtrabend<br />

(und verschleiernd) „Wirtschaftskommunikation”. Was aber hier stattfindet, ist kein nüchterner<br />

Informationsaustausch, sondern die bewusste, einseitige Lenkung mit allen Mitteln der<br />

psychologischen Kriegsführung.<br />

Durch die Förderung der Unvernunft ist Wirtschaftswachstum demokratiegefährdend. Vernunft<br />

ist das Leitbild der Demokratie, der rationale Diskurs ihre Essenz. Wir leben in einer<br />

Kultur, die permanent das Unvernünftige und den Egoismus betont, und wundern uns, dass<br />

in Politik und Wirtschaft keine vernünftigen Entscheidungen getroffen werden.<br />

41


2.8.2 <strong>Die</strong> Banalität des Wachstums<br />

Das Eindreschen auf die oberste Ebene, auf Regierungen und Konzerne, Börsen und Banken,<br />

ist in globalisierungskritischen Kreisen sehr populär – und zu einfach. <strong>Die</strong> Streitaxt der gerechten<br />

Empörung ist zu grobschlächtig. Institutionen sind nicht das Problem, sie sind Teil<br />

der Gesellschaft. Jede Gesellschaft hat die Regierungen und Konzerne, Börsen und Banken,<br />

die sie verdient. Das gleichgerichtete Handeln von Millionen einzelnen Menschen ist das<br />

Problem. Wir alle werden durch das kapitalistische System ein Stück weit zu Spekulanten und<br />

Zockern erzogen, die sich meistens im Kleinen erproben. Millionen Konsumenten, Häuslebauer,<br />

Kontoinhaber, Vorsorgesparer, Autofahrer, Touristen, Schnäppchenjäger, Verlegenheitskäufer,<br />

... sind diejenigen, die die Richtung der Wirtschaft bestimmen. Immer wieder<br />

wird die Gier von Führungspersönlichkeiten oder ganzen Konzernen angeprangert. Gier ist<br />

jedoch ein absolut systemkonformes Verhalten, diese prominenten Gierigen nutzen lediglich<br />

größere Gelegenheiten <strong>als</strong> die anderen. Man muss daher das System hinterfragen, nicht einzelne<br />

Beteiligte. <strong>Die</strong>se Fokussierung auf die „unheilige Allianz von Kapital und Staat” darf<br />

nicht ausblenden, dass der Wettbewerb breit in der Bevölkerung angelegt ist. Natürlich gibt<br />

es Gier. Aber das System will das so. Gier fördert das Wachstum.<br />

Solange das Mantra: „Nimm keine Rücksicht, mache Profit!” in Summe den materiellen<br />

Wohlstand mehrt, akzeptiert man seine asoziale Komponente <strong>als</strong> unvermeidlichen Seiteneffekt:<br />

„Der Mensch ist halt so!” <strong>Die</strong> meisten Menschen sind aber weder besonders gierig noch<br />

besonders ignorant, sondern „ganz normal”. Sie versuchen, ihre knappe Zeit auf das zu verwenden,<br />

was ihnen wichtig ist, und übernehmen dabei ganz selbstverständlich die gesellschaftlich<br />

akzeptierten Spielregeln. Und wenn Produktivität und Profit die wichtigsten gesellschaftlichen<br />

Spielregeln sind, dann werden eben diese übernommen, denn dafür gibt es Lob<br />

und Anerkennung. Wir tun dies aus Überzeugung, Gedankenlosigkeit oder Unsicherheit heraus<br />

– und immer wieder schlicht aus realer oder gefühlter Zeitnot.<br />

Natürlich ist der Mensch mündig – wenn man ihn lässt. Dazu braucht er Ruhe, Information<br />

und vor allem die fehlende Versuchung. Daran wird er aber auf allen Kanälen gehindert.<br />

Marktwirtschaft wird eigentlich <strong>als</strong> „selbstregulierend” gelobt. Genau diese Eigenschaft hat<br />

sie derzeit im größeren Rahmen verloren: Globalisierung, Immobilienwirtschaft, Umweltschutz<br />

sind negative Beispiele für den Verlust dieser Selbstregulation. <strong>Die</strong> derzeitige Wirtschaftsform<br />

findet kein stabiles Gleichgewicht mehr, weil die Bedingungen des zugrundeliegenden<br />

Modells nicht mehr erfüllt werden. Wir leben nicht in einer Marktwirtschaft, sondern<br />

in einer durch Subventionen, Werbung und Lobbyismus verzerrten „Gerangelwirtschaft”.<br />

2.8.3 Entfesselung<br />

<strong>Die</strong> Ideologie der Entfesselung wird Neoliberalismus genannt. Sie basiert auf der Idee einer<br />

Marktwirtschaft ohne Grenzen, denn so der Glaubenssatz: Wohlstand ist das Ergebnis vieler<br />

Egoismen, <strong>als</strong>o muss man dem Egoismus möglichst freien Raum geben und alle Grenzen<br />

niederreißen. Und zwar auf der Hersteller- wie der Konsumentenseite. Und zwar in Bezug auf<br />

jede Grenze: Staatsgrenze, gesetzliche Grenze, moralische Grenze. Der Mensch benötigt jedoch<br />

Grenzen, die ihm ermöglichen, einen Ausgleich zwischen seinen kurzfristigen und seinen<br />

langfristigen Interessen zu finden.<br />

Der Neoliberalismus wird von jenen propagiert, die von ihm profitieren. Er wird von jenen<br />

akzeptiert, die in ihn die letzte Hoffnung setzen. Denn die ganze Idee gewinnt ihren besonderen<br />

Charme erst durch die Tatsache, dass immer weniger auserwählt sind, dem modernen<br />

Adelsstand anzugehören. <strong>Die</strong> große Masse der weniger gut Ausgebildeten, weniger Leistungsfähigen,<br />

weniger Reichen ist für die passive Rolle vorgesehen. Somit ist Neoliberalismus<br />

nicht die Idee der Freiheit, sondern die Idee „des freien Fuchses im freien Hühnerstall”. Es<br />

ist eine Ideologie des Stärkeren. Es ist eine Ideologie der Eitelkeit, und jede Wachstumskritik<br />

ist eine Kränkung.<br />

42


<strong>Die</strong> neoliberale Bewegung strebt bei der Überwindung der Grenzen nicht nur ihre eigene<br />

Entfesselung von den Beschränkungen staatlicher Bevormundung an, sondern die Entfesselung<br />

der „ganz normalen” Menschen von Vernunft, Moral und Gemeinsinn, denn sie sind diejenigen,<br />

die ihre Produkte kaufen sollen. Nur durch die Verschiebung oder das Aufgeben der<br />

moralischen Leitplanken in der breiten Bevölkerung kann es Konsumexzesse geben, und das<br />

ist gut für das Wachstum. Mit diesen Maßnahmen soll versucht werden, das Wachstum dynamisch<br />

stabil zu halten, wobei das ständig schwieriger und aufwendiger wird, mit immer<br />

dramatischeren Folgen für Menschen und Umwelt.<br />

Der Neoliberalismus braucht und fördert den zügellosen Individualismus, denn nur der Individualist<br />

verzichtet auf soziale Bindung und Verantwortung. Das Ergebnis sind zunehmende<br />

Ignoranz und Aggression: Ignoranz der Gewinner <strong>als</strong> aggressives Zurschaustellen der eigenen<br />

Macht, Ignoranz der Verlierer <strong>als</strong> aggressive Reaktion auf Überforderung und Frustration.<br />

43


Kapitel 3: Sackgassen<br />

3.1 Sackgasse Produktivität<br />

Es gibt keine gute oder schlechte Produktivität. Und es gibt kein absolutes Maß dafür. Wohl<br />

aber gibt es menschlichere und unmenschlichere Formen der Produktivitätssteigerung: Eine<br />

Nähmaschine steigert in hohem Maße die Produktivität, ist auch nicht ganz unaufwendig<br />

herzustellen, aber einmal hergestellt, verbraucht sie wenig und kann viel Zufriedenheit und<br />

schöne Produkte hervorbringen. Sie definiert einen menschlichen und kreativen Beruf. Da<br />

finde ich den Schweißroboter weitaus fantasieloser.<br />

„Produktivitätssteigerung spart Geld.” Grundsätzlich ist das richtig, aber die Frage ist: Wessen<br />

Geld spart es, und wie sieht das gesamtgesellschaftliche Kosten-Nutzen-Verhältnis aus?<br />

Und hier sind die Indizien überwältigend, dass der gesamtgesellschaftliche Nutzen von Produktivitätssteigerung<br />

schon seit langem negativ ist. Denn ein großer Teil der Produktivitätserfolge<br />

fließt lediglich ins System zurück, ohne die Lebensqualität zu steigern, und große<br />

Kostenanteile werden mehr oder weniger ungefragt von der Gesellschaft übernommen. Ein<br />

Großteil der Anstrengungen wird einfach nur dafür verwendet, diese geradezu luxuriöse<br />

Wirtschaftsinfrastruktur aufrecht zu erhalten.<br />

3.1.1 Sie ist zu teuer<br />

Abnehmender Grenznutzen<br />

Dabei werden die Spielräume immer kleiner. <strong>Die</strong> Füllung kleiner Produktivitätslücken ist sehr<br />

aufwendig, die Ökonomen sprechen vom „geringen Grenznutzen”. Ist eine schlichte Arbeitsteilung<br />

(ich mach das, und du machst das) noch vergleichsweise preiswert zu haben, so wird<br />

die Sache immer schwieriger, je weiter man das verfeinert. Dabei schaukeln sich die beteiligten<br />

Akteure gegenseitig hoch. Jedes Schließen einer Lücke öffnet neue oder lässt zumindest<br />

andere in den Blickpunkt rücken. Und weil das alles teuer ist, steigt der Kostendruck und<br />

damit auch der Rationalisierungsdruck weiter – der übliche Teufelskreis.<br />

Um nur ein Beispiel zu nennen: Kostenrechnung ist zur Wissenschaft geworden. Da die Konkurrenz<br />

nicht schläft, müssen alle Maßnahmen eines Unternehmens zur Verbesserung der<br />

Produktivität nicht nur im Nachhinein, sondern schon im Vorfeld auf ihren Nutzen hin überprüfbar<br />

sein. Dazu müssen Zahlen gesammelt, ausgewertet, analysiert werden. Ganz neue<br />

Instrumente werden zu diesem Zweck erfunden. Je höher der Wettbewerb ist, desto empfindlicher<br />

hängen Erfolg und Misserfolg davon ab, dass man sich keinen Fehltritt leistet. Also<br />

muss die Kostenrechnung perfekt sein – und Perfektion ist teuer, das wusste schon Pareto.<br />

Auffangen der Arbeitslosen<br />

Unsere Sozi<strong>als</strong>ysteme subventionieren die Produktivitätssteigerungen: Mit der Finanzierung<br />

von Arbeitslosen und dem gesamten Niedriglohnsektor subventionieren wir die hochproduktiven<br />

Arbeitsplätze im Inland – und die billigen Arbeitsplätze im Ausland. Es wird in der<br />

nächsten Zeit zu einem weiteren hohen Anstieg der arbeitenden Weltbevölkerung kommen.<br />

Wir akzeptieren, dass hier nicht mehr alle gebraucht werden, und bezahlen ihren Lebensunterhalt<br />

aus Gemeinschaftsmitteln, nämlich Sozialbeiträgen und Steuern.<br />

Aufwendige Infrastruktur<br />

<strong>Die</strong> Infrastruktur für moderne Technik ist sehr aufwendig: Es reicht nicht, ein Auto zu bauen.<br />

Es müssen zusätzlich Autobahnen gebaut, Stromleitungen verlegt, Ampeln und Verkehrsschilder<br />

errichtet werden, damit das Auto fahren kann. Auch das Internet besteht nicht in<br />

erster Linie aus dem heimischen PC, sondern aus riesigen Kabelnetzen, Serverfarmen, Rundum-die-Uhr-Servicepersonal<br />

und vielem anderen mehr. Massenproduktion benötigt wegen<br />

der hohen Investitionskosten eine permanente Dreischicht-Auslastung und eine geeignete<br />

„Rund-um-die-Uhr”-Infrastruktur, die sich ihrerseits nur lohnt, wenn sie genutzt wird.<br />

44


Ein Max-Planck-Institut allein nützt noch nicht viel. Wer Hochtechnologie haben möchte, benötigt<br />

viele Universitäten und Forschungseinrichtungen, aufwendige Messapparaturen, Reinräume,<br />

Sequenzierer, Elektronensynchrotrone, Hochleistungsrechner, Satelliten, GPS, Suchmaschinen,<br />

Datenbanken, Fachbibliotheken, ... Und damit entsprechend hochproduktive und<br />

spezialisierte Zulieferer. Alle diese Leute werden erwarten, dass sie abends mit dem Elektroauto<br />

in ihr Passivhaus fahren dürfen, um dort ihre multimediale Welt genießen zu können.<br />

Hochqualifizierte Forscher reisen zu Kongressen, Workshops und Diskussionsveranstaltungen<br />

rund um die Welt.<br />

Ebenso ist ein modernes Unternehmen alleine nicht viel wert. Wer hochproduktive Unternehmen<br />

haben möchte, benötigt viele davon, die sich gegenseitig das liefern, was sie brauchen:<br />

Roboter, Fertigungsstraßen, CNC-Maschinen, Computer, Software, Mobilfunktechnik,<br />

Digitalkameras, Pneumatik, Hydraulik, ... Hier reisen die Ingenieure, Berater und Verkäufer<br />

durch die Welt, zu Firmen, Meetings, Präsentationen, Wartung, Maschinenausfällen.<br />

Indirekte Tätigkeiten<br />

Es müssen sehr viele Tätigkeiten finanziert werden, die nur noch sehr indirekt zur Wirtschaftsleistung<br />

beitragen, wenn überhaupt. Weil Wirtschaft, Technik, Politik so komplex geworden<br />

sind, benötigen wir viele hochbezahlte Experten, die im wesentlichen denken und<br />

reden und somit von allen anderen ernährt und versorgt werden müssen. Alle Wirtschaftsinstitute<br />

und Regierungsberater leben von der Komplexität der globalen Wirtschaftswunderwelt.<br />

Wissenschaftler treiben mit viel Aufwand die Grenzen des Unerforschten immer weiter<br />

hinaus. Firmen finanzieren Berater mit üppigen Tagessätzen, die ihnen erklären, wie sie ihren<br />

Laden besser organisieren. Verkäufer erhalten fette Provisionen dafür, dass sie anderen<br />

Verkäufern zuvorkommen. Marketingstrategen überlegen sich, wie sie neue Produkte in den<br />

Markt drücken können. Ingenieure erklären in tagelangen Schulungen die Maschinen, die sie<br />

konstruiert haben.<br />

Wirtschaftliche Blindleistungen<br />

<strong>Die</strong> unproduktivsten Tätigkeiten sind diejenigen, die wirtschaftliche Blindleistungen erzeugen.<br />

Eine wirtschaftliche Blindleistung liegt vor, wenn einem Entgelt ein unangemessen niedriger<br />

realwirtschaftlicher Wert gegenübersteht. Dazu gehören neben der klassischen Aktien-<br />

Spekulation vor allem zwei Bereiche: Immobilien und Marketing.<br />

• Überhöhte Mieten und Immobilienpreise sind eine volkswirtschaftliche Verschwendung<br />

ersten Ranges, weil die realwirtschaftliche Leistung (Bau bzw. Unterhalt einer<br />

Immobilie) häufig nur einen Bruchteil des Preises ausmacht. Der Rest ist Blindleistung,<br />

Geld ohne Gegenleistung. Für die Steigerung der Attraktivität von Immobilien<br />

sind fast immer andere verantwortlich <strong>als</strong> diejenigen, die das Geld dafür einstreichen.<br />

• Marketing bewirkt im wesentlichen ein Verschieben von Kaufentscheidungen von links<br />

nach rechts, von Anbieter A zu Anbieter B oder von Produkt A zu Produkt B. <strong>Die</strong><br />

Summe der produzierten Güter bleibt gleich, die Gesellschaft wird nicht reicher, sondern<br />

ärmer, weil sie die Leute im Marketing über Produktpreise finanzieren muss.<br />

Lebenslanges Lernen<br />

Lebenslanges Lernen ist ein Schönreden der Tatsache, dass es heutzutage nicht mehr reicht,<br />

einen Beruf zu erlernen und auszuüben, sondern dass man diesen Anlauf gegebenenfalls<br />

mehrfach unternehmen muss, weil der erlernte Beruf gerade nicht gefragt oder inzwischen<br />

ausgestorben ist. Fortwährende Weiterbildung, erzwungen durch technischen Fortschritt, ist<br />

kein Wert an sich, sondern volkswirtschaftlicher Aufwand, der bezahlt werden muss. Je öfter<br />

wir die eine oder andere Schul- und Fortbildungsbank drücken, desto weniger arbeiten wir,<br />

das Verhältnis von Ausbildung zu Anwendung wird immer schlechter. Der positiv verbrämte<br />

Begriff des lebenslangen Lernens dient nur der Verschleierung der tatsächlichen Unproduktivität.<br />

45


Spezialwissen <strong>als</strong> riskante Investition<br />

Ausbildung findet heute immer mehr „on the job” statt, weil es für viele spezielle Bereiche<br />

gar keine allgemeine Ausbildung gibt. Firmenmitarbeiter häufen so im Laufe der Zeit viel<br />

Spezialwissen an – und verlassen dann die Firma. <strong>Die</strong> ganzen Ausbildungsinvestitionen sind<br />

dahin und woanders kaum anwendbar.<br />

Aus dem gleichen Grund – weil Spezialwissen nicht unproduktiv sein darf – ist es für hochspezialisierte<br />

Menschen unattraktiv, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. Genauso wie eine teure<br />

Maschine am besten im Dreischichtbetrieb ausgelastet wird, wird auch ein teurer Mitarbeiter<br />

am besten möglichst hoch ausgelastet. Spezialwissen zwingt <strong>als</strong>o dazu, die eigene Produktivität<br />

hoch zu halten. Ich glaube deshalb auch nicht daran, dass uns eine generelle Arbeitszeitverkürzung<br />

allein maßgeblich helfen wird. Eine Arbeitszeitverkürzung verringert generell<br />

den „ökonomischen Wirkungsgrad” von Ausbildung und ist deshalb teurer.<br />

Verschrottung durch Fortschritt<br />

Der permanente Fortschritt entwertet funktionierende Technik und Infrastruktur, sie wird<br />

verschrottet und durch etwas Neues ersetzt. <strong>Die</strong> investierten Aufwendungen sind dahin. Vor<br />

allem im Bereich der Informationstechnologie müssen tadellos funktionierende Geräte weggeschmissen<br />

werden, weil sie zu langsam, zu groß, zu schwer, zu inkompatibel geworden<br />

sind. Oder einfach nur nicht mehr <strong>als</strong> Statussymbol taugen. Zum Teil wandert Neuware direkt<br />

aus den Lagern der Händler in den Müll, weil sie nicht rechtzeitig an den Mann und die<br />

Frau gebracht werden konnte.<br />

Hohe Sicherheitsaufwendungen<br />

Komplexe Technik erfordert erhöhte Sicherheitsaufwendungen gegen Versagen, Explosion,<br />

Ausfall, Eindringlinge und vielerlei mehr. Während es bei einer Schuhmacherwerkstatt noch<br />

reicht, sie abzuschließen und den Rollladen herunterzulassen, sieht das in einem Biotechnologie-Unternehmen<br />

schon anders aus, von einem Kernkraftwerk ganz zu schweigen.<br />

Das Internet lädt durch die Möglichkeit der Anonymität und Ungestörtheit besonders zu Destruktivität<br />

und Kriminalität ein. Ganze Wirtschaftszweige beschäftigen sich mittlerweile mit<br />

Sicherheit im Netz. Das alles erhöht zwar nominell das Bruttosozialprodukt, aber produktiv ist<br />

es eigentlich nicht.<br />

Hohe Mobilitätskosten<br />

Im Zuge der Arbeitsteilung werden Waren und Menschen immer weiter durch die Gegend<br />

geschickt. Abgesehen davon, dass die Preise dieser Mobilität nicht ehrlich sind, sondern subventioniert,<br />

ist auch das nicht umsonst zu haben. Container, Schiffe, LKW-Fahrer, Flugzeuge<br />

haben ihren Preis.<br />

Flexibilität kostet<br />

Zeitmangel ist ebenfalls nicht billig. Wer unter dem Zwang steht, schnell zu handeln und<br />

flexibel zu sein, verbringt viel Zeit mit immer wiederkehrender Planung, Abstimmung, Planungsänderung,<br />

Abstimmung, ...<br />

Verteilungskämpfe und Migration<br />

<strong>Die</strong> hochentwickelten Länder geben viel Geld dafür aus, ihre Grenzen gegenüber ärmeren<br />

Ländern abzuschotten. Viele Menschen werden von unserem Lebensmodell angelockt und<br />

versuchen, <strong>als</strong> sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge” ihr Glück bei uns zu finden. Meist können<br />

sie jedoch ihren Lebensunterhalt bei uns nicht selbst finanzieren und müssen von den Sozi<strong>als</strong>ystemen<br />

finanziert werden, bis man Wege gefunden hat, sie wieder loszuwerden. Das ist<br />

unmenschlich und teuer.<br />

3.1.2 Sie schadet der Umwelt<br />

Mehrverbrauch durch neue Produkte<br />

Kein Beamer konnte früher Energie und Rohstoffe verbrauchen, kein Handy und kein Ret-<br />

46


tungshubschrauber. Computer waren kein Thema, ebensowenig Heizpilze. All diese Produkte<br />

haben gemeinsam, dass sie andere Produkte bei höherem Energie- und Rohstoffverbrauch<br />

ersetzen oder aber einfach nur hinzukommen. Ob sie die wirtschaftliche Produktivität steigern<br />

oder die private, ist relativ egal – das geht beides Hand in Hand. <strong>Die</strong> millionenfache<br />

Suche nach Angebotslücken und Innovationen schafft und hält zwangsläufig einen Ressourcenverbrauch<br />

auf hohem Niveau.<br />

Mehrverbrauch durch leichte Verfügbarkeit<br />

Das „papierlose Büro” ist bis heute der Treppenwitz der Computerbranche. Internet und<br />

Computer sparen weder Papier noch andere Ressourcen, weil den tatsächlichen Einsparungen<br />

ein hoher Mehrverbrauch gegenübersteht, der durch die leichte Verfügbarkeit entsteht.<br />

Seitenrand stimmt nicht? Kein Problem, kann man ja noch mal ausdrucken. Hinzu kommt:<br />

Wieviel Papier ist denn verbraucht worden, bis ein System wie das Internet erst mal geplant<br />

und gebaut wurde? Sparen von Papier bedeutet doch heute nur, einen kleinen Teil der riesigen<br />

„Papierschuld” abzutragen, die vorher angehäuft worden ist.<br />

Mehrverbrauch durch Produktivitätssteigerung<br />

<strong>Die</strong> einfachen Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung sind schon lange ausgeschöpft. Nur<br />

noch selten gelingt es, die Produktivität dadurch zu steigern, dass das Werkzeug rechts liegt<br />

statt links. Sie lässt sich deutlich nur noch steigern, indem die Unzulänglichkeiten der Natur<br />

überwunden werden. <strong>Die</strong> Kraft des Menschen ist nun mal begrenzt, er bewegt sich langsam,<br />

er denkt langsam, seine Hände zittern, er braucht Pausen und einmal am Tag mehrere Stunden<br />

Schlaf.<br />

Deshalb ersetzt man entweder den Menschen ganz (Automaten oder Roboter) oder gibt ihm<br />

Werkzeuge an die Hand, die ihn besser machen: Schneller, stärker, präziser. In der Landwirtschaft<br />

verwendet man Kunstdünger, Gentechnologie, Züchtung von Hochleistungskühen,<br />

in der Fischerei Schleppnetze, schwimmende Fabriken und Aquakulturen, ... Auch hier wäre<br />

wieder eine endlose Liste möglich. Das alles erfordert einen immer höheren Energie- und<br />

Materialeinsatz und hinterlässt immer mehr Rückstände.<br />

Aber manchmal sparen ja Innovationen auch Energie und Material. Ganze Politikkonzepte<br />

beruhen auf dieser Idee („Green New Deal”). Wie ist es denn damit?<br />

Umlenken von Ressourcen durch „ökologische Innovationen”<br />

• „Leichtere Kunststoffe für weniger Spritverbrauch!”<br />

• „Das Dreiliter-Auto löst unsere Klimaprobleme!”<br />

• Alternativ: „Das Elektroauto löst unsere Klimaprobleme!”<br />

• „Drahtlose Kommunikation spart Kabel!”<br />

• „<strong>Die</strong> Digitalisierung der Filmbranche spart Unmengen an Filmmaterial!”<br />

• usw.<br />

Immer wieder liest man in der Zeitung, dieser oder jener Anbieter hoffe, mit seinem Produkt<br />

Energie zu sparen oder Müll zu vermeiden. Das verschleiert die wahren Gründe: Jeder Anbieter<br />

hofft, sein Produkt erfolgreich zu vermarkten, und wenn Öko gerade hip ist, dann versucht<br />

man es eben mit Öko-Produkten. Technische Innovation spart unter Wachstumsbedingungen<br />

keinerlei Ressourcen, weil die Ressourcen dadurch lediglich für andere Bereiche billig<br />

und verfügbar bleiben – und selbstverständlich genutzt werden. <strong>Die</strong> ökologische Innovation<br />

„verkommt” zur ganz normalen Produktivitätssteigerung, und die Ressourcen werden nicht<br />

gespart, sondern woanders verbraucht.<br />

Den „Ersten Hauptsatz der Wirtschaftsdynamik” könnte man in etwa so formulieren: „Jede<br />

technische Produktivitätssteigerung führt unter Wachstumsbedingungen unmittelbar oder<br />

mittelbar zu einem höheren Ressourcenverbrauch.”<br />

47


Mehrverbrauch durch „ökologische Innovationen” (Rebound-Effekte)<br />

Das Dreiliter-Auto wird keine Energie sparen, wenn die Mobilität immer größer wird. Der<br />

stromsparende Computer wird keine Energie sparen, wenn jeder einen benötigt, weil er sich<br />

sonst von der Gesellschaft abkoppelt. <strong>Die</strong> ausufernde Mengenkomponente macht die Ersparnis<br />

geringer <strong>als</strong> erhofft oder ganz zunichte oder – ganz fatal – führt sogar zu einem Mehrverbrauch.<br />

Tim Jackson führt <strong>als</strong> plastisches Beispiel an: „Wenn man etwa Geld, das man<br />

zurücklegen konnte, weil man Energiesparlampen benutzt, für einen billigen Kurzstreckenflug<br />

ausgibt, wird man einen solchen Effekt erzielen.” (Jackson 2009 S. 107)<br />

Indirekter Ressourcenverbrauch von „ökologischen Innovationen”<br />

oder: Warum der Green New Deal nicht funktionieren wird. Siehe dort.<br />

Export der Naturzerstörung<br />

Durch die unterschiedliche Naturschutzgesetzgebung in verschiedenen Ländern fällt es leicht,<br />

umweltschädliche Rohstofferschließung oder Produktionsprozesse in Länder mit geringerem<br />

Lebensstandard zu verlagern. <strong>Die</strong>se sind oft bereit, im Gegenzug für die Verbesserung der<br />

eigenen wirtschaftlichen Situation (bzw. die der Entscheider) die Umweltzerstörung auf sich<br />

zu nehmen (bzw. ihrer Bevölkerung aufzuladen. <strong>Die</strong> Entscheider sind davon selten betroffen).<br />

<strong>Die</strong>se „Lösung” hat den Charme der Anonymität der Betroffenen, das senkt die moralischen<br />

Hürden und ist meistens auch relativ billig.<br />

3.1.3 Sie macht die Systeme zu komplex<br />

Was haben die folgenden Themen gemeinsam?<br />

• Finanztransaktionen<br />

• Kernkraftwerke<br />

• Ökologisches Gleichgewicht<br />

Sie sind komplex. Sie sind so komplex, dass ein einzelner Mensch sie in ihrer Funktion, ihren<br />

Beeinflussungsmöglichkeiten, ihren Gefahren nicht mehr vollständig verstehen kann, obwohl<br />

sie grundsätzlich mit den Gesetzen der Logik erfassbar sind. <strong>Die</strong> Spezialisierung der Menschenwelt<br />

ist so weit getrieben worden, dass von einem einzelnen Menschen nur noch Teilbereiche<br />

verstanden werden können. Daraus ergeben sich Probleme.<br />

Uneinschätzbarkeit<br />

<strong>Die</strong> derzeitige Finanzkrise ist ein gutes Beispiel für völlige Uneinschätzbarkeit eines überkomplexen<br />

Systems: Keiner kann sagen, wer wem wieviel schuldet – es gibt ein unüberschaubares<br />

Geflecht aus Forderungen und Verbindlichkeiten rund um den Globus. Banken wissen<br />

nicht, wie stark sie faktisch in Griechenland engagiert sind, weil die „Beteiligungsketten” zu<br />

lang sind. Niemand weiß, was eine Insolvenz Griechenlands tatsächlich bedeuten würde.<br />

Analyse- und Steuerungsaufwand<br />

Wenn die Beeinflussungsmöglichkeiten und Reaktionen eines Systems nicht mehr klar sind,<br />

dann steigen der Analyse- und Steuerungsaufwand und das Risiko der Fehlentscheidung.<br />

Teure Experten müssen sich lange zusammensetzen und beraten, simulieren, rückversichern<br />

etc., bevor eine Entscheidung getroffen und durchgeführt werden kann. Ein Haufen Leute ist<br />

damit beschäftigt, Kennzahlen zu berechnen und Kurven zu malen, um herauszubekommen,<br />

was man tun soll.<br />

Instabilität<br />

Wenn es zu Fehlentscheidungen kommt oder ein technischer Ausfall im System vorliegt,<br />

kann häufig nicht mehr korrigierend eingegriffen werden – das System reagiert zu schnell, zu<br />

stark, zu global und verändert sich dabei fortwährend. Dabei kann es insgesamt instabil werden<br />

und sogar außer Kontrolle geraten. Es ist nicht mehr robust und fehlertolerant, und es<br />

ist häufig nicht mehr räumlich begrenzbar.<br />

48


3.1.4 Sie macht die Systeme zu groß<br />

Macht<br />

Größe bedeutet Macht. Globalisierte Großunternehmen oder große regionale Arbeitgeber<br />

haben einen langen wirtschaftlichen Atem und können daher in Ruhe Nationen oder Regionen<br />

mit dem erpresserischen Argument „Arbeitsplätze” gegeneinander ausspielen. Große<br />

Nationen können ihre wirtschaftliche und militärische Macht gegen kleinere einsetzen. FIFA<br />

und IOC setzen ihre Macht für die Selbstbereicherung ein. Eine demokratische Begrenzung<br />

all dieser wirtschaftlichen Macht ist nicht vorgesehen.<br />

In gleicher Weise gilt das auch für die Politik: Je größer die politischen Einheiten, desto monarchischer<br />

wird die Machtfülle der gewählten Vertreter, demokratische Legitimität hin oder<br />

her. Weltregierung, Globale Umwelträte – davor kann man nur warnen. Ein gefundenes<br />

Fressen für Einflussnahme, denn es ist viel leichter, fünf Personen zu beeinflussen <strong>als</strong> viele<br />

Regierungen. Demokratie bedeutet Beteiligung, und Beteiligung kann in diesem globalen<br />

Rahmen nicht mehr wirksam stattfinden. <strong>Die</strong> Machtfülle stellt ein reales Problem dar.<br />

Monokulturen<br />

Ein großer Arbeitgeber oder eine bedeutende Branche sind bezogen auf eine Region eine<br />

große Monokultur-Plantage: Man setzt alles auf eine Karte – und hat keinen Plan B. Wenn<br />

das Unternehmen oder die Branche dann schwächeln, ist der Schaden für die Region sofort<br />

sehr groß, weshalb auch die Versuchung groß ist, mit teuren Subventionen den Patienten zu<br />

stützen.<br />

<strong>Die</strong> Autoindustrie ist für Deutschland so eine Monokultur – Schädlinge werden rücksichtslos<br />

bekämpft, und zwar von allen Seiten: Politiker, Lobbyisten und alle, deren Arbeitsplatz davon<br />

abhängt, werden zu rabiaten Kämpfern ihrer Sache.<br />

Zu starke Vernetzung<br />

Ob Finanzkrise, EHEC oder Internet: <strong>Die</strong> Mobilität innerhalb des Systems ist nicht begrenzbar,<br />

die Probleme reisen schnell, daher breiten sich die Folgen von Fehlern unbeherrschbar<br />

aus.<br />

Destruktivität<br />

Je größer die technischen Systeme und ihre Vernetzung werden, desto mehr werden auch<br />

pathologische Allmachtsfantasien des Menschen gereizt, weil der Effekt größer wird: Eindringen,<br />

Stören, Zerstören oder mit der Beute abziehen. Finanzmärkte und Internet sind gleichermaßen<br />

betroffen: Allein schon die Größe des Kampfgebietes reizt zum Angriff und weckt<br />

einen destruktiven Sportsgeist.<br />

3.1.5 Sie erzeugt zuviel Arbeitsteilung<br />

Wir haben zu viel Arbeitsteilung. Dabei dominieren zwei Formen der beruflichen Spezialisierung:<br />

• <strong>Die</strong> unfreiwillige primitive <strong>als</strong> berufliche Resteverwerter der Gesellschaft. <strong>Die</strong>se Leute<br />

dürfen das machen, was ihnen die anderen übrig lassen: Pakete packen, Pakete ausfahren,<br />

an der Kasse sitzen, aufgebackene Brötchen oder Kaffee in Pappbechern verkaufen,<br />

putzen, Menschen pflegen. Schmalbandige Tätigkeiten, schlecht bezahlt und<br />

schlecht angesehen.<br />

• <strong>Die</strong> freiwillige hochspezialisierte, für die man sich erst durch mehrere Ausbildungsschichten<br />

hindurchfressen muss, um an den Breitopf zu kommen (Rifkin 1996 nennt<br />

sie treffend „Symbolanalytiker”).<br />

Sinnverlust<br />

Arbeitsteilung, bei denen die verbleibende Arbeit nur noch Teilschritte des Prozesses beinhaltet,<br />

führt zur Entfremdung von der Arbeit und zur Unzufriedenheit. Sie verliert ihren Sinn und<br />

49


wird zur „Maloche”. Montag ist grausam, Freitag der schönste Tag der Woche. Der Arbeitnehmer<br />

verlagert den Fokus auf Freizeit und Urlaub, bis hin zur inneren Kündigung.<br />

Ausfallrisiko<br />

Arbeitsteilung führt zu immer stärkerer Vernetzung und entsprechend größeren Abhängigkeiten:<br />

Bei Ausfall eines Gliedes in der Kette kommt es schneller zum Stillstand. Wenn ein Zulieferer<br />

der Automobil-Industrie mal patzt, ist man aufgrund fehlender Lagerpuffer schnell am<br />

Ende.<br />

Auslastungsrisiko<br />

Eine Spezialisierung eines Menschen oder eines Unternehmens ist wie eine ökologische Nische:<br />

Solange die Bedingungen sich nicht ändern, lässt es sich dort komfortabel leben. Aber<br />

bereits kleinere Änderungen der wirtschaftlichen Umwelt führen zu Auslastungsproblemen<br />

bis hin zum Untergang. Eine breite Qualifikation ist robuster.<br />

Erzeugung von Mobilität<br />

Fachliche Spezialisierung führt zwangsläufig zu mehr Mobilität. Je schmaler die Expertise,<br />

desto seltener gibt es in einer Region genug Bedarf für die Anwendung dieses Spezialwissens.<br />

Das Karriereportal Xing wirbt mit dem Spruch: „Den passenden Berater für ein Projekt<br />

finden”. Facharbeiter, Ingenieure, Berater und Verkäufer fahren und fliegen durch die Welt,<br />

um ihr Spezialwissen zur Anwendung zu bringen. Zu einem Spezialarzt fährt man durch die<br />

ganze Republik. Übrigens ist das auch privat der Fall: Je spezieller die Hobbies und Leidenschaften<br />

des Menschen werden, desto schwieriger wird es, lokal Gleichgesinnte zu finden.<br />

Der Kreis wird weiter, die Mobilität nimmt zu.<br />

<strong>Die</strong>nstleistungen <strong>als</strong> Teil des Problems<br />

Lange Zeit galt der <strong>Die</strong>nstleistungssektor <strong>als</strong> rettende Lösung. Man meinte folgende Entwicklung<br />

zu erkennen („Drei-Sektoren-Hypothese”), die vor allem mit dem Namen des französischen<br />

Ökonomen Jean Fourastié verbunden ist:<br />

• Durch die ständige Produktivitätssteigerung werden im primären Sektor (Erzeugung<br />

oder Gewinn von Rohstoffen, Landwirtschaft, Fischerei) immer weniger Menschen beschäftigt.<br />

• Sie finden aber Arbeit im sekundären Sektor (produzierendes Gewerbe, <strong>als</strong>o Verarbeitung<br />

der Erzeugnisse des primären Sektors: Handwerk, Industrie), weil die Nachfrage<br />

zunächst stark wächst. Durch die ständige Produktivitätssteigerung werden aber auch<br />

dort immer mehr Beschäftigte „freigesetzt”.<br />

• Übrig bleibt dann noch der „rohstofflose” Bereich, der tertiäre oder <strong>Die</strong>nstleistungssektor.<br />

Gottlob kann dieser aber unbegrenzt wachsen, denn (so die Theorie):<br />

• <strong>Die</strong>nstleistungen unterliegen keinem oder nur einem geringen Produktivitätsfortschritt.<br />

• Im Gegensatz zu stofflichen Produkten, deren Konsum einer Sättigung unterliegt<br />

(„Was soll man mit dem vierten Auto, wenn man nur eines fahren kann?”), kann man<br />

<strong>Die</strong>nstleistungen unbegrenzt konsumieren. <strong>Die</strong> <strong>Die</strong>nstleister müssen sich nur immer<br />

weiter spezialisieren und immer neue Annehmlichkeiten erfinden, dann klappt das<br />

schon.<br />

Herr Fourastié hatte offensichtlich keine Vorstellung vom Einfallsreichtum der Ingenieure und<br />

der Leistungsfähigkeit von Computern. Der <strong>Die</strong>nstleistungssektor ist nicht Teil der Lösung,<br />

sondern Teil des Problems. Zum einen beruht bereits der ganze Sektorenwandel auf einem<br />

unhaltbaren Einsatz von Rohstoffen und fossiler Energie, ist <strong>als</strong>o keine naturgegebene Entwicklung,<br />

sondern eine Eigenheit des Wirtschaftswachstums. Wir werden diese hohe Produktivität<br />

im ersten und zweiten Sektor nicht halten können.<br />

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Aber selbst wenn dies möglich wäre – der <strong>Die</strong>nstleistungssektor bietet keinen Ausweg aus<br />

der Ressourcen- und Produktivitätsfalle: <strong>Die</strong>nstleistungen haben sehr wohl einen großen potentiellen<br />

Produktivitätszuwachs durch „Reduktion auf das Wesentliche” (und damit Verlust<br />

des Eigentlichen) sowie Mechanisierung oder Computerisierung. Typische Beispiele sind Reinigungs-<br />

und Hauswartdienste, aber letztlich gilt es für alle <strong>Die</strong>nstleistungen, auch <strong>Die</strong>nste<br />

am Menschen (beispielsweise wird an lernfähigen Pflegerobotern gearbeitet, die die Einnahme<br />

von Pillen überwachen und den Menschen daran erinnern sollen, das nur nebenbei).<br />

• Durch die inhaltliche Fokussierung lohnen sich die Investitionen in Mechanisierung<br />

bzw. Motorisierung. Was sich für den nebenberuflichen Hauswart eines Hauses nicht<br />

lohnt, lohnt sich für den Hauswarts-<strong>Die</strong>nstleister, der das in Vollzeit macht, und für<br />

einen Service-Konzern mit Hunderten von Angestellten allemal: Laubsauger statt Besen,<br />

Kehrmaschine statt Schrubber, Schredder statt Axt. Dadurch ist man natürlich<br />

schneller – aber auch lauter, verbraucht mehr Energie und Rohstoffe und benötigt<br />

gegebenenfalls eine höhere Qualifikation.<br />

• <strong>Die</strong> höhere Schnelligkeit muss – man hat ja investiert – nun auch zur Anwendung<br />

kommen, um sich gelohnt zu haben, das heißt mehr Mobilität: Mit dem Auto fährt<br />

man von Kunde zu Kunde und verrichtet dort in kurzer Zeit das vereinbarte Serviceprogramm.<br />

Speziell beim Hauswart wird dann auch der Verlust augenfällig: Hat er früher neben den Reinigungstätigkeiten<br />

auch noch das Haus gehütet und den sozialen Zusammenhalt gefördert<br />

(mit allen Konsequenzen ...), die Mülltonnen überwacht und somit auch der Verantwortungslosigkeit<br />

entgegengewirkt, fällt das beim Servicedienst weg: Er kommt einmal in der Woche<br />

für 45 Minuten. Das Ergebnis ist billiger, aber auch schlechter.<br />

Andere <strong>Die</strong>nstleistungen führen allein durch ihre Ausweitung zu mehr Ressourcenverbrauch:<br />

Läden, die länger geöffnet haben, müssen beleuchtet und geheizt werden, mehr Personal<br />

fährt durch die Gegend, mehr Werbung ist notwendig usw.<br />

Der zweite Punkt – der unbegrenzte Konsum von <strong>Die</strong>nstleistungen durch den Konsumenten<br />

– ist ebenfalls äußerst zweifelhaft. Es gibt nämlich Menschen, die gar keine Lust haben, unbegrenzt<br />

<strong>Die</strong>nstleistungen zu konsumieren und sich statt dessen lieber selbst vielfältig betätigen.<br />

Das macht nämlich zufrieden. Sie brauchen keine Gassi-Führer, Stilberater, Wohnungseinrichter<br />

und derlei mehr. Das ist eher ein Verlust an Lebensqualität <strong>als</strong> ein Gewinn<br />

und dient häufig nur der eitlen Selbstbespiegelung derer, die schon alles haben, außer Zeit.<br />

„Mehr <strong>Die</strong>nste statt mehr Waren”: Das Problem ist das Mehr. Egal was man anbietet: Keine<br />

Ware und keine <strong>Die</strong>nstleistung ist ohne Ressourcenverbrauch zu haben.<br />

3.1.6 Sie führt zu Verantwortungslosigkeit<br />

Es gibt im Wirtschaftsleben verschiedene Spielarten, Verantwortungslosigkeit hervorzurufen.<br />

Hinter allen steht der Versuch, die Produktivität zu steigern.<br />

Aufteilung von Verantwortung durch Arbeitsteilung<br />

Der Bioladen kauft Obst ein, welches von weit her importiert wird, und überlässt die Entscheidung<br />

dem „mündigen Kunden”, ob er das kauft oder nicht. Der Kunde hingegen verlässt<br />

sich auf die scheinbare Integrität seines Bioladens und greift unbekümmert ins Regal. Das<br />

Ergebnis geteilter Verantwortung ist leider nicht doppelte Verantwortung, sondern Verantwortungslosigkeit<br />

– jeder verlässt sich auf den anderen.<br />

<strong>Die</strong> ganze Globalisierung basiert auf diesem Muster: Ich importiere etwas und interessiere<br />

mich nicht dafür, wie es entstanden ist. Ich exportiere etwas und interessiere mich nicht<br />

dafür, wie es verwendet wird. Globalisierte Arbeitsteilung führt zu einer Aufteilung von Verantwortungsbereichen<br />

und damit zu Verantwortungslosigkeit. Je kleiner der Ausschnitt ist,<br />

51


den ich bearbeite, um so weniger muss ich mir Gedanken um das „vor mir” und „nach mir”<br />

machen.<br />

Aufteilung von Verantwortung durch „Verantwortungsdreiecke”<br />

Ein geniales System von Verantwortungsteilung plündert uns seit Jahrzehnten systematisch<br />

aus: Das System der gesetzlichen Krankenkassen. Es funktioniert so:<br />

• Der Patient zahlt seinen Krankenkassenbeitrag und ist damit praktisch vollkaskoversichert.<br />

Er kann mehr oder weniger alle Leistungen beanspruchen, die die moderne<br />

Medizin zu bieten hat, und hat damit an einer sparsamen Verwendung kein Interesse<br />

mehr. In der gesetzlichen Krankenkasse erfährt er noch nicht einmal, was seine Behandlung<br />

kostet, er bekommt direkt die medizinischen Leistungen („Sachleistungsprinzip”).<br />

• Der Arzt behandelt den Patienten und stellt die Rechnung an die Krankenkasse. Dank<br />

der „Einzelleistungsvergütung” erhält der Arzt umso mehr Geld, je aufwendiger er<br />

behandelt, und er kann dieses „aufwendiger” in weiten Grenzen frei gestalten. Er hat<br />

schon gar kein Interesse an Sparsamkeit, im Gegenteil: Viele Ärzte haben den „Blankoscheck”<br />

Krankenschein in der Vergangenheit für betrügerische Abrechnungen genutzt.<br />

Der einzige Mensch, der die Abrechnung hätte kontrollieren können, nämlich<br />

der Patient, ausgerechnet der bekam diese Abrechnung ja nie zu sehen.<br />

• <strong>Die</strong> Krankenkasse hat ebenfalls kein vitales Interesse an Sparsamkeit, denn es ist ja<br />

eigentlich nicht ihr Geld. Sie verwaltet nur das Geld ihrer Patienten.<br />

Somit ist jede Verantwortung völlig ausgehebelt. Zusätzlich zur immer größeren Leistungsfähigkeit<br />

der Medizin kommt auch noch dieser Effekt der fehlenden Verantwortung, und beides<br />

lässt die Kosten im Gesundheitssystem immer weiter steigen.<br />

Einführen von Maßzahlen<br />

Maßzahlen und scheinbare Objektivität ersetzen den Sinn. Zum Beispiel „Management by<br />

objectives”, zu deutsch „Führung durch Zielvereinbarungen”. Zusammen mit dem Arbeitnehmer<br />

werden möglichst objektive, am besten messbare Ziele vereinbart und eine Belohnung<br />

nachvollziehbar an die Erfüllung dieser Ziele gekoppelt. Wie der Arbeitnehmer diese<br />

Ziele erreicht, soll er selbst entscheiden. Auf diese Weise soll der Sportsgeist des Arbeitnehmers<br />

motiviert werden. Andere „Management by ...”-Methoden verwenden ebenfalls<br />

Maßzahlen.<br />

Maßzahlen haben die unangenehme Eigenschaft, sich zu verselbständigen und an die Stelle<br />

des eigentlichen Zieles zu treten, wenn der persönliche Erfolg oder Misserfolg mit dieser<br />

Maßzahl verknüpft ist. Maßzahlen fördern Verantwortungslosigkeit. Wer eine Maßzahl einführt,<br />

wird bekommen, was er verdient – nämlich dass das Erfüllen der Maßzahl im Zweifel<br />

vor verantwortungsvolles Handeln rückt. Profitcenter, Renditeziele, Umsatzziele etc. – alles<br />

die gleiche Absicht. Eine Maßzahl ist nichts anderes <strong>als</strong> ein Ablenken vom fehlenden Sinn.<br />

Und: Maßzahlen bedeuten Kontrolle. Kontrolle ist nicht gut, Vertrauen ist besser. Warum<br />

sollten Menschen nicht anständig arbeiten wollen, wenn sie den Sinn darin sehen? Vertrauen<br />

macht den Menschen besser, Kontrolle macht ihn schlechter.<br />

Anonymität<br />

Verantwortungslosigkeit und Anonymität hängen eng zusammen. Unmoralisches Verhalten<br />

fällt leichter, wenn das Opfer nicht bekannt ist – oder sogar völlig unklar ist, ob überhaupt<br />

jemand zu leiden hat. Je weniger Konsument und Produzent über die Prozesse wissen, desto<br />

leichter fallen Konsum und Produktion.<br />

Zwischenhändler und Globalisierung erhöhen zwar die Produktivität, aber auch die Anonymität<br />

und die Unübersichtlichkeit des Handels. Deswegen findet man auf fair gehandelten Produkten<br />

auch immer wieder wieder Hinweise auf konkrete Projekte oder Bilder von dankbaren<br />

Kleinbauern: Gutes zu tun fällt leichter, wenn keine Anonymität herrscht.<br />

52


Aktien sind nicht nur ein besonders effizienter Weg, um Anteile von Unternehmen zu handeln,<br />

sie eignen sich auch gut zur Spekulation, weil sie in der Regel anonym gehandelt werden.<br />

Der Anteilseigner tritt gegenüber dem Unternehmen nicht in Erscheinung.<br />

Ein besonderes Thema ist die Anonymität im Internet (siehe Computer, Internet und mobile<br />

Kommunikation).<br />

Druck<br />

Zeitdruck ist der vielleicht wichtigste Verbündete der Konsumindustrie. Einkaufen findet<br />

meist mit knapper Zeit statt, so dass man Angebote nur bedingt hinterfragen kann. Der<br />

Händler sortiert die Angebote vor, der Kunde wählt aus dem aus, was dort vorsortiert liegt.<br />

Deshalb ist es wichtig, zum einen von vornherein nur vertretbare Angebote zuzulassen (z. B.<br />

durch gesetzliche Regelungen), und zum anderen, sich beim Kauf Zeit zu lassen. Und beim<br />

Konsum auch.<br />

Ein Paradebeispiel für Verantwortungslosigkeit durch Zeitdruck ist in meinen Augen „Coffee<br />

to go”:<br />

• Unfair und unökologisch hergestellter Kaffee<br />

• wird unfair gehandelt,<br />

• von einer schlecht bezahlten Servicekraft abgefüllt<br />

• in einen Pappbecher, der sofort danach zu Müll wird.<br />

Und das alles, weil jemand sich nicht die Zeit nimmt, die Sache in Ruhe zu genießen und den<br />

wahren Preis zu bezahlen. Solche Anbieter sind nicht „genial” (DIE ZEIT, Ausgabe 42/2011),<br />

sondern eine Schande. Aber natürlich systemkonform.<br />

3.1.7 Sie führt uns in Versuchung<br />

Produktivitätssteigerung in einer Gesellschaft, die schon alles hat, ist eine schwierige Sache.<br />

<strong>Die</strong> permanente Steigerung des Ausstoßes muss ja irgendwo untergebracht werden. Der<br />

Konsum muss daher künstlich stimuliert werden: Niedriger Preis, Irreführung, Wecken hoher<br />

Erwartungen. Was verfügbar ist, wird konsumiert, selbst von jenen, die wissen, dass es eigentlich<br />

widersinnig ist. Jene bedürfen oft nur einer kleinen Überwindung, z. B. Zeitdruck<br />

oder Menge. Selbst der überzeugteste Öko schluckt, wenn er schnell mal Grillfleisch für 15<br />

Personen beim Neuland-Fleischer einkaufen soll – das kostet im Supermarkt nebenan nicht<br />

mal die Hälfte ... Es gibt Angebote, die man nicht ablehnen kann. Und daher darf es eben<br />

bestimmte Angebote gar nicht erst geben.<br />

Zu niedriger Preis<br />

Der Preis ist nicht der wahre Preis. Material, allem voran billiger Kunststoff, wird gewaltsam<br />

in den Markt gedrückt, und weder die wahren Rohstoffkosten, noch die wahren Herstellungskosten<br />

und schon gar nicht die wahren Entsorgungskosten spielen dabei eine Rolle.<br />

Solche Preise sind vielfältig subventioniert, die Ursachen sind immer die gleichen:<br />

• „Der Markt” ist nicht in der Lage, indirekte oder zukünftige Kosten wie Umweltverschmutzung,<br />

Landschaftszerstörung, Übernutzung, Tierquälerei, Sozialdumping oder<br />

zukünftigen Ressourcenmangel abzubilden, weil es keinen Marktteilnehmer gibt, der<br />

davon betroffen wäre. Umwelt, Landschaft und Tiere haben keine Stimme, rechtlosen<br />

Arbeitnehmern wird der Mund zugehalten und zukünftige Generationen leben noch<br />

nicht, obwohl sie alle von diesen Transaktionen betroffen sind. <strong>Die</strong>se „stimmlosen<br />

Marktteilnehmer” kommen nicht zu ihrem Recht, weil niemand sie vertritt (vgl. Binswanger<br />

2009 S. 207).<br />

• Der nationale und internationale Wettbewerb um Arbeitsplätze, verbunden mit einem<br />

aggressiven Lobbyismus, führt zu den verschiedensten Subventionen, seien es direkte<br />

Zahlungen oder indirekte Erleichterungen, die von der Gesellschaft in Form von Steu-<br />

53


ern aufgebracht werden müssen. Technologieförderung, Ansiedlungspolitik, Umsatzsteuerbefreiung<br />

und wie sie alle heißen.<br />

• Mengenrabatt ist weit verbreitet. Wer mehr verbraucht, wird mit niedrigeren Durchschnittspreisen<br />

belohnt, so dass es sich nicht lohnt zu sparen. Betriebswirtschaftlich<br />

gesehen ist das sinnvoll: Solange der Umsatz höher ist <strong>als</strong> die direkten Kosten, kann<br />

der Unternehmer damit Fixkosten decken, und mit höherem Umsatz eben mehr <strong>als</strong><br />

mit niedrigerem. Je mehr ein Kunde auf einmal abnimmt, desto niedriger sind die sogenannten<br />

Transaktionskosten (Verhandlung, Verkauf, Verpackung, Versand), da ist<br />

dann Raum für Rabatte. Ressourcensparend ist es nicht. Progressive Verbrauchstarife<br />

werden das Problem nicht lösen.<br />

Werbung<br />

Werbung ist das Gegenteil von rationaler Kommunikation. Für Menschen, die schon alles<br />

haben, muss man zu anderen Mitteln greifen. Der Mensch ist nicht mehr eigentliches Ziel des<br />

Konsums, sondern dient nur noch <strong>als</strong> „Zwischenwirt des Wachstumsvirus”. Was der Mensch<br />

von sich aus nachfragt, ist unwesentlich geworden: Er wird von den Anbietern zur Nachfrage<br />

getrieben. Es ist primär die Suche der Anbieter nach neuen Betätigungsfeldern, die den Konsum<br />

bestimmt. Es geht im Grunde genommen auch nicht mehr um Konsum, sondern nur<br />

noch um den Kauf. Ob das gekaufte Gut auch konsumiert wird, ist herzlich uninteressant<br />

geworden.<br />

Jugend ist eine Eigenschaft und kein Verdienst. <strong>Die</strong> gesellschaftlichen Tabuthemen Krankheit,<br />

Alter, Sterben und Tod werden von der Werbung vermeidend instrumentalisiert, indem<br />

in der Werbung vorwiegend junge, schöne Menschen und Tiere gezeigt werden. Alter wird<br />

selten gezeigt, und wenn, dann auch nur stilisiert, um positive Aspekte wie Lebenserfahrung,<br />

Lebensleistung, Beständigkeit und Generationenabfolge abzubilden.<br />

Werbung manipuliert, aber weniger in dem Sinne, dass sie konkrete Produkte und Marken<br />

bewirbt, sondern indem sie konsequent ein bestimmtes Bild vermittelt. Denn unser Alltag ist<br />

banal – bröselig, staubig und fettig. Dinge, die benutzt werden, bekommen Gebrauchsspuren.<br />

<strong>Die</strong> Menschen sehen so und so aus. Das ist weder gut noch schlecht, sondern unvermeidlich.<br />

Es ist so. Werbung hingegen erzeugt Bilder von Sauberkeit, Neuheit, Jugend, Frische,<br />

Makellosigkeit. Ein Fehlen von Kalkrändern, Krümeln, Klecksen, Fusseln, Haaren, Obstfliegen,<br />

Falten und Altersflecken. Man muss sich nur mal die Werbung für Einbauküchen anschauen<br />

– ein steriler Operationssaal für edle Lebensmittel. Wenn Werbung selten mal Bilder<br />

vom Dreck zeigt, dann kunstvoll drapierten Dreck (drei Farbtupfer auf der Malerkleidung<br />

oder ein entzückendes Kindermäulchen voller Ketchup) oder solchen Dreck, der unterschwellig<br />

eine Werbebotschaft vermittelt, wie Schlamm auf einem Mountainbike.<br />

Es gibt nur einen einzigen Weg, dieses saubere Bild der Werbung im Alltag zu erreichen:<br />

Wegwerfen und neu kaufen. Nur neue Produkte können diesen maßlosen Anspruch erfüllen,<br />

alles andere scheitert nach spätestens einer Saison.<br />

Werbung fördert die soziale Spaltung: „<strong>Die</strong> Werbung nutzt die starken Reaktionen der Menschen<br />

auf soziale Vergleiche, um ihnen Dinge zu verkaufen, die sie in den Augen anderer<br />

besser erscheinen lassen. [...] Auslöser vieler Straftaten sind Ehrverlust und Erniedrigung,<br />

das Gefühl, nicht geachtet zu werden. Indem die Werbung diese Ängste vor Minderwertigkeit<br />

gezielt anspricht, kann sie durchaus auch zum Anstieg der Gewalt in einer Gesellschaft beitragen.”<br />

(Pickett/Wilkinson 2009 S. 55f.)<br />

Unser eigenes Aussehen ist zur Werbung geworden: Wir werben permanent um uns selbst.<br />

Make-Up, Kleidung, Auftreten werden bereits von Jugendlichen kalkuliert nach ihrer Außenwirkung<br />

eingesetzt. Soziale Kontakte sind zu Märkten geworden, auf denen mit der Währung<br />

Sympathie und Zuwendung über die Ware abgestimmt wird. Der Wettbewerb ist hart, und<br />

viele sind auf der Suche nach einer Steigerung ihres Marktwertes.<br />

54


Heutzutage soll alles leicht sein, mühelos. In erster Linie deshalb, um den Menschen herumzukriegen,<br />

eine Ware zu kaufen oder Leistung in Anspruch zu nehmen. Komplizierte Themen<br />

wie Internetzugang, Computernutzung oder Altersvorsorge werden heruntergespielt, Materialpflege<br />

ist dem Kunden nicht zumutbar, verantwortungsvolle Entsorgung steht bestenfalls<br />

im Kleingedruckten. Alles ist einfach und mundgerecht und muss auch so sein, denn viele<br />

Menschen sind technische Analphabeten. Durch die sogenannte Convenience-Industrie wird<br />

das immer schlimmer. Sie verstärkt den Glauben, dass Technik einfach sei, Pflege unnötig<br />

und Ressourcenverbrauch kein Thema.<br />

Professioneller Sport hat nur noch wenig mit Sport zu tun. Eine Sportart ist interessant, wenn<br />

sie Vermarktungspotenziale bietet – man lasse sich das Wort „Vermarktung” mal auf der<br />

Zunge zergehen. Dinge muss man nur dann vermarkten, wenn sie mit dem Markt eigentlich<br />

nichts zu tun haben.<br />

Zeitungen und Zeitschriften sind durch die Abhängigkeit von ihren Werbekunden in ihrer<br />

Objektivität beeinträchtigt – oder manipulieren durch Anzeigen, die optisch vom redaktionellen<br />

Teil kaum zu unterscheiden sind.<br />

3.1.8 Sie ist hässlich<br />

<strong>Die</strong> Welt wird verschandelt, weil Schnelligkeit und Billigkeit dominierend sind. Der Geist von<br />

Pareto zieht durch unsere Städte und Dörfer und hinterlässt eine Ödnis der Zweckmäßigkeit.<br />

Im Einzelhandel bietet er Produkte zweifelhafter Herkunft aus schlechtem Material an. Ästhetische<br />

Bauweisen, Handwerk und ehrliche Materialien sind zum unbezahlbaren Luxus geworden.<br />

<strong>Die</strong> Dinge werden nicht mehr anständig zuende gebracht, statt dessen wird übertüncht<br />

und verblendet.<br />

Baulich<br />

Öde Vorstädte, hässliche Gewerbegebiete, geklonte Fußgängerzonen, riesige Shopping Malls,<br />

Bankenviertel, die in den Himmel ragen. Grellbunte Baumärkte, Supermärkte, Getränkemärkte,<br />

Tierfuttermärkte, Möbelmärkte, Pflanzenmärkte, Fast-Food-Stationen. Alle mit überdimensionierten<br />

Parkplätzen. Parkhäuser, mit Stahlträgern billig hochgezogen. Autohändler in<br />

Glaspalästen. O2-Arenen. Autobahnen mit Autobahndreiecken und Autobahnkreuzen und<br />

Autobahnraststätten. Hausfassaden <strong>als</strong> Werbeplakate oder mit Satellitenschüsseln. Dazwischen<br />

breite Straßen mit bewundernswert komplizierten Ampelanlagen und akkuraten Linienführungen.<br />

Beton, Asphalt, Pflasterverbundsteine in rot und grau. Nachts alles von leuchtenden<br />

Firmennamen und blinkenden Werbetafeln erhellt.<br />

<strong>Die</strong> Bauwirtschaft wird durch Produktivitätszwang und die Erfordernisse des Konsums zur<br />

Schaffung besonders hässlicher und leider auch dauerhafter Objekte veranlasst.<br />

Optisch<br />

Werbetafeln pflastern den öffentlichen Raum. Werbung ist ein Missbrauch der Allmende „Öffentlicher<br />

Raum”. Jede Fläche, an der sich ein Auge länger <strong>als</strong> einen Wimpernschlag aufhalten<br />

kann, wird zur Werbefläche:<br />

• Veranstaltungs- und Verkehrstickets<br />

• Tankstellenzapfhähne<br />

• Tüten und Taschen<br />

• U-Bahnen, S-Bahnen, Busse und Züge. Innen und außen.<br />

• Pissoirs und Klodeckel. Habe ich nicht mal das Recht, ohne Werbung zu pinkeln?<br />

<strong>Die</strong> Produkte sind fad. Überall erhält man das Gleiche, mittlerweile sogar international. Alles<br />

ist normiert, effizient, vertraut.<br />

55


Überall Barcodes, eindimensional, zweidimensional. Auf jeder Paketsendung mittlerweile fast<br />

im Dutzend zu haben. Manche Getränkeverpackungen sind auf einer Seite nur noch Barcode.<br />

Geht schneller an der Kasse.<br />

Das Straßenbild wird von Autos beherrscht – fahrend, wartend, parkend.<br />

Akustisch<br />

Der Lärm von Motorrollern, Motorrädern, Autos. Das Piepsen von Computerkassen, Bimmeln<br />

von Mobiltelefonen, Grölen von Party-Touristen. Laubsauger, Kehrmaschinen, Rasenmäher,<br />

Mähdrescher, Trecker. Motorboote. Kilometerweit links und rechts einer Autobahn das Sausen<br />

des Verkehrs. Fluglärm, Zuglärm.<br />

Materiell<br />

Einwegverpackungen, Kaffeebecher, PET-Flaschen, Warmhalteboxen. Alles ist mittlerweile<br />

eingeschweißt. Folien <strong>als</strong> Spanngurte, Folien <strong>als</strong> Abdeckung, Folien <strong>als</strong> Unterlage. Plastikmöbel<br />

in jedem Baumarkt. Pressspan mit Kieferoptik. Laminat mit Buchenoptik. Styropor-Stuck.<br />

Alles Plastik. Kein echtes Material mehr, nur noch gepresste Krümel, gestanzte Lieblosigkeit<br />

und verschweißte Unwartbarkeit. Man kann nichts mehr reparieren, weil man an nichts mehr<br />

herankommt und keine Ersatzteile mehr erhält – oder nur zu utopischen Preisen. Da ist ein<br />

niedriger Preis dann auf einmal hinderlich.<br />

3.1.9 Sie ist menschenfeindlich<br />

Produktivitätssteigerung ist kein Wert an sich, sondern soll die Lebensqualität erhöhen. Aber<br />

das ist jetzt vorbei. Nachdem wir auf der Suche nach einer immer höheren materiellen Lebensqualität<br />

die Produktivität und damit den Konsum immer weiter gesteigert haben, stellen<br />

wir fest, dass die immaterielle Lebensqualität immer stärker darunter leidet.<br />

Offensiv dominiert defensiv<br />

Das persönliche Optimum der beiden Lebensqualitäten ist sehr verschieden, der eine will<br />

mehr Konsum, der andere weniger. Das Problem ist, dass die Konsumfreudigen ganz klar die<br />

weniger Konsumfreudigen dominieren, weil Konsum nicht nur privat stattfindet: Autos, Flugzeuge,<br />

mobile Kommunikation, Restaurants, Laubsauger, iPods, Bierflaschen und Werbung<br />

besetzen den öffentlichen Raum und vermüllen ihn optisch und akustisch. Wer es weniger<br />

laut, weniger grell, weniger groß, weniger dreckig möchte, hat keine Chance – er wird nicht<br />

gefragt und hat in dieser Hinsicht auch keine Rechte.<br />

Der Straßenverkehr ist ein Feld der Aggression, weil die Bedürfnisse zu unterschiedlich sind.<br />

<strong>Die</strong> einen verwenden möglichst produktive Technik, die anderen menschliche Technik. Aber<br />

die einen erhalten mehr Raum, und auch hier dominieren wieder die Stärkeren. <strong>Die</strong> Ampeln<br />

wurden nicht aufgestellt, um die Schwächeren zu schützen, sondern um den Stärkeren freie<br />

Fahrt zu gewährleisten. Mittlerweile muss man dauernd gegen irgendetwas Widerstand leisten,<br />

weil die Schnellen und Starken wieder irgendetwas wollen. Und die Sparsamen bezahlen<br />

den Konsum der Prasser über die öffentliche Infrastruktur mit.<br />

Wirtschaft <strong>als</strong> Krieg<br />

Produktivitätssteigerung macht die Marktwirtschaft selbst zu einem Schlachtfeld: Menschen<br />

werden zu Kostenfaktoren, Firmen zu Gegnern, Liquidität zur Waffe, der Markt zum strategischen<br />

Feld. <strong>Die</strong> Sprache wird unmenschlich. Berater und Vorstände teilen sich die Verantwortung<br />

auf, so dass keiner sie mehr hat, und fusionieren, zerschlagen, bauen Personal ab und<br />

glänzende Renditen auf – und haben schon lange vergessen, dass die Wirtschaft dem Menschen<br />

dienen soll. Mitarbeiter werden bedroht, erpresst, bespitzelt und leisten aus Angst um<br />

den Arbeitsplatz keinen Widerstand.<br />

Schon heute sind viele Menschen mit den Bedingungen in der sogenannten freien Wirtschaft<br />

überfordert: Arbeitsprozesse und Computerprogramme werden immer komplexer, und die<br />

Auslastung hochproduktiver Arbeitsplätze erfordert immer mehr Flexibilität. Immer weniger<br />

56


Menschen sind dem gewachsen, und diese wenigen werden mit immer höheren Gehältern<br />

belohnt, aber auch entsprechend „versklavt”. Man sieht keine Möglichkeit mehr, den Anforderungen<br />

etwas entgegenzusetzen, weil man seinen Arbeitsplatz nicht verlieren will.<br />

Der Jugend wird keine Perspektive geboten: Sie werden nicht mehr alle gebraucht, und man<br />

kann es sich leisten, einen Teil von ihnen aus dem System fallen zu lassen. Auf viele Ausbildungsplätze<br />

braucht man sich ohne Abitur gar nicht mehr zu bewerben, und es wird immer<br />

unsicherer, welche Berufe überhaupt noch in mehr <strong>als</strong> zehn oder zwanzig Jahre existieren<br />

werden. Berufe werden von jungen Leuten danach beurteilt, ob man viel Geld verdienen<br />

kann, und nicht danach, ob einen das interessiert. Immer wieder kommt es zu Jugendunruhen,<br />

speziell in besonders hässlichen und lebensfeindlich gestalteten Vierteln, die dann mit<br />

Gegengewalt oder ein bisschen Jugendarbeit beantwortet werden. In Südeuropa beträgt die<br />

Jugendarbeitslosigkeit teilweise 30 und 40 % – eine ganze Generation wird marginalisiert.<br />

Den älteren Arbeitnehmern wird keine Perspektive geboten: Im Handwerk bedeutet zunehmendes<br />

Alter ein Plus an Erfahrung. In der beschleunigten Welt sind die zunehmende Langsamkeit<br />

und das schnell veraltende Wissen Minuspunkte. Ältere Menschen sind nicht schlechter<br />

im Beruf, aber sie machen nicht mehr alles mit. <strong>Die</strong> Beschleunigung der Welt erfordert<br />

die immer weiter fortschreitende Verjüngung, weil der Lernprozess für den Beruf bereits im<br />

Kleinkindalter beginnt („Digital Natives”). <strong>Die</strong> Digital Natives von heute werden sich noch<br />

umschauen, wenn die nächste Phase der Produktivitätssteigerung sie wiederum alt aussehen<br />

lässt.<br />

Wir haben das Prinzip der Industrie, dass es billiger ist, mit Ausschuss zu produzieren, auf<br />

die Arbeitskraft übertragen. Zumal die Gemeinschaft freundlicherweise die Kosten trägt.<br />

Privatleben <strong>als</strong> Wirtschaft<br />

Das Privatleben wird ökonomisiert – auch hier herrscht ein Zwang zur Produktivitätssteigerung.<br />

„In Gesellschaften mit einer hohen Arbeitsproduktivität gelten Langsamkeit und eine entspannte<br />

Lebensgestaltung <strong>als</strong> sozial inakzeptabel, und die Intensität des Arbeitslebens überträgt<br />

sich auf das Leben zu Hause.” (Studie von Lindner, zitiert nach Inge Røpke,<br />

Seidl/Zahrnt 2010 S. 110) Ungeduldiges Warten ist Teil unseres Lebens geworden: An der<br />

Ampel, beim Arzt, an der Supermarktkasse. Wir bemängeln die fehlende Effizienz anderer<br />

oder des ganzen Systems.<br />

Fast Food und Fertiggerichte ersetzen das eigene Kochen, Fernsehen die Kultur. Statt gepflegt<br />

und repariert wird weggeworfen und neu gekauft. Auch weil viele Menschen technische<br />

Analphabeten sind und nicht einmal wissen, wie sie ihren Fahrradreifen flicken können,<br />

geschweige denn etwas Komplizierteres.<br />

Erziehung dient <strong>als</strong> Fitmacher für den globalen Wettbewerb, und damit kann nicht früh genug<br />

angefangen werden. Eine Mutter auf Deutschland-Radio zum Thema zweisprachige Kindergärten:<br />

„In dieser Zeit lernt man so mühelos. Es wäre doch schade, wenn diese Zeit verspielt<br />

würde!” Verspielt und ziellos ist nicht mehr drin, das kann man später immer noch machen.<br />

Schulen sind die effizienten Versorgungseinrichtungen für die Wirtschaft. Zwölf Jahre<br />

statt dreizehn, aber bitte keine Abstriche am Programm. Kultur hat zunehmend nur noch<br />

Berechtigung, wenn sie marktfähig ist, sich selbst tragen kann.<br />

Mobilität zerstört die regionalen sozialen Strukturen des Menschen. Man lebt im Speckgürtel<br />

der Stadt und fährt zur Arbeit hinein und auch wieder heraus. Individualität geht verloren:<br />

Nachdem das Auto schon seit langem die kleinen Lebensmittelläden vernichtet hat, verschwinden<br />

dank des Internet kleine Hersteller, kleine Läden, kleine Verlage, kleine Zeitungen.<br />

Schulkinder kommen aus allen möglichen Teilen der Stadt oder der Region. Auf dem<br />

Land wurden die kleinen Schulen geschlossen und in größeren Einheiten konzentriert. Landflucht<br />

– die Dörfer altern und leeren sich.<br />

57


Das System ist unruhig: Im Kapitalismus findet eine ständige Verdichtung, Bereinigung, Umschichtung<br />

statt, die alle immer wieder zum Umdenken zwingt. Krankheiten nehmen zu: Aggression,<br />

Depression, AHDS, Neurodermitis, Allergien, Burnout, ...<br />

3.1.10 Sie ist demokratiefeindlich<br />

Wirtschaftliche Macht ist größer <strong>als</strong> demokratische Macht<br />

Das Privatwirtschaftliche ist politisch geworden. Wir akzeptieren, dass im privatwirtschaftlichen<br />

Bereich mittlerweile Strukturen (nicht nur Konzerne) entstanden sind, die größer sind<br />

<strong>als</strong> die demokratischen Institutionen, und deren Machtausübung sich nicht nur jeder demokratischen<br />

Kontrolle entzieht, sondern sogar gegen die Demokratie wendet. Parallel zum öffentlichen<br />

Sektor hat sich ein viel größerer privater Sektor entwickelt, der nicht demokratisch<br />

kontrolliert wird, aber ein viel größeres Machtpotential hat. Das ist in einer Demokratie, deren<br />

Ziel Machtbegrenzung ist, nicht akzeptabel.<br />

Der Staat wird somit in die Defensive gedrängt. <strong>Die</strong> Frage der wirtschaftlichen Existenz des<br />

einzelnen Menschen ist so beherrschend geworden, dass man von staatlichen Entscheidungen<br />

mittlerweile weniger betroffen ist <strong>als</strong> von Unternehmensentscheidungen. Das Argument<br />

„Arbeitsplätze” beendet auch im Parlament jeden Ansatz einer Diskussion. <strong>Die</strong> staatlichen<br />

Institutionen haben faktisch keine Gestaltungsmacht mehr, weil das Thema Wachstum sakrosankt<br />

und absolut dominant ist.<br />

Dem Staat werden zudem zu viele Leistungen abverlangt. Insbesondere muss er die finanziellen<br />

Folgen der Arbeitslosigkeit tragen. <strong>Die</strong> Globalisierung schwächt den Staat aber auch<br />

dadurch, dass er immer mehr und immer schneller Analyse-, Abstimmungs- und Statistikleistungen<br />

erbringen soll, immer neue Bundesämter und -institute, bei immer schlechterer Finanzierung.<br />

Der Staat soll bereits heute das leisten, worum sich die Privatwirtschaft nicht zu<br />

kümmern braucht: Sparsames Wirtschaften, kein Gewinn, ökologisches und soziales Handeln.<br />

Das Autoritäre der Wirtschaft wird zum Maß für die Demokratie<br />

Der demokratischen Gesellschaft wird nicht mehr zugetraut, dass sie die Probleme lösen<br />

kann: Zu langsam, zu wenig effizient, zu weich. <strong>Die</strong> demokratischen Institutionen hinken der<br />

Wirtschaft hinterher. Der Druck des Marktes ist so hoch, dass normale parlamentarische Prozesse<br />

zu langsam sind. Doch das liegt eher daran, dass die Schnelligkeit, Effizienz und Härte<br />

der Wirtschaft, die auf demokratische Prozesse keine Rücksicht nehmen muss, mittlerweile<br />

das Maß aller Dinge geworden ist. Der Ruf nach „unabhängigen” Experten aus der Wirtschaft<br />

wird lauter, was letztlich eine Entdemokratisierung bedeutet. Wie früher, <strong>als</strong> die Stimmen der<br />

Besitzenden und Leistungsstarken mehr wert waren <strong>als</strong> die der Besitzlosen.<br />

Aufgrund ihrer Schwächung erhält die Demokratie immer mehr höfische oder autoritäre Elemente.<br />

Wir suchen im Politiker mehr und mehr den weisen und gütigen Monarchen, dessen<br />

privates Hofleben unser etwas banales Leben über die Presse mit Glanz und Gloria versorgt,<br />

oder den Politiker mit Ellbogenmentalität, der sich durchsetzen kann. Beides ist nicht im Sinne<br />

der Demokratie.<br />

Korrumpierung von Politikern<br />

Missverhältnisse im Politikbetrieb: Bereits angesichts von eher unbedeutenden Möglichkeiten,<br />

dem eigenen Wahlkreis wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen, bremsen Politiker große politische<br />

Projekte. Korruption blüht sowohl innerhalb der Wirtschaft <strong>als</strong> auch für politische Zwecke:<br />

Bestechung, Lobbyismus sowie Wechsel aus der Politik in die Wirtschaft nehmen den<br />

gewählten Repräsentanten und Parteipolitikern ihre Kritikfähigkeit. Interessenkonflikte werden<br />

gar nicht mehr <strong>als</strong> solche wahrgenommen, weil die beruflichen Ziele an die privaten angeglichen<br />

werden.<br />

Beraterkratie<br />

Weil man <strong>als</strong> Politiker vieles nicht mehr so richtig versteht, benötigt man Berater, die sich<br />

58


mehr und tiefer damit beschäftigen. Das ist sozusagen die Produktivitätssteigerung von Politikern.<br />

Man ist diesen Beratern ziemlich ausgeliefert, denn man muss ihnen vertrauen – man<br />

kann ja nicht so richtig überprüfen, was sie einem erzählen. <strong>Die</strong>se Berater können Eigeninteressen<br />

haben, auf die eine oder andere Art voreingenommen sein und vieles andere mehr,<br />

was einer guten Politikberatung hinderlich ist.<br />

Herabwürdigung des öffentlichen <strong>Die</strong>nstes<br />

Wieso eigentlich kann der Staat keine „anständigen” Gehälter wie die Industrie zahlen? Weil<br />

er keinen Profit machen darf. Sobald er Profit macht, muss er die Steuern senken. Deshalb<br />

bleiben die Gehälter der Beamten und des öffentlichen <strong>Die</strong>nstes immer auf niedrigerem Niveau.<br />

<strong>Die</strong> Frage muss eigentlich auch umgekehrt lauten: Wieso kann die Industrie „unanständige”<br />

Gehälter zahlen?<br />

Wenn das Ungleichgewicht zwischen staatlicher und privatwirtschaftlicher Entlohnung zu<br />

groß wird, verliert die Gemeinschaft doppelt: <strong>Die</strong> gut Qualifizierten wandern ab in die Privatwirtschaft,<br />

und in den staatlichen Institutionen lauert das Gespenst der Korruption. Uns geht<br />

es in Deutschland dabei noch vergleichsweise gut. In anderen Ländern ist Korruption eine<br />

nationale Seuche, die die Menschen entmutigt und entwürdigt. Korruption ist Mord an der<br />

Demokratie, und daran sollte sich auch ihre Beurteilung messen.<br />

3.1.11 Sie macht die Gesetze zu kompliziert<br />

Je verfeinerter das Leben, je höher die Arbeitsteilung, je größer die politischen Einheiten<br />

werden (EU, Globalisierung), desto unterschiedlicher sind die Interessen, Anforderungen und<br />

Notwendigkeiten. Zu einer produktiven Gesellschaft gehört auch eine akzeptierte Ordnung,<br />

bestehend aus Gesetzen und Verordnungen sowie Institutionen, die sie umsetzen und überwachen.<br />

All das wird immer komplizierter. <strong>Die</strong>se Kompliziertheit ist eine direkte Folge der<br />

Spezialisierung und Arbeitsteilung. Ein großer Teil unserer Gesetze sind zudem Inseln der<br />

Vernunft, mit denen versucht wird, der unvermeidlichen Auswüchse Herr zu werden.<br />

Aufwand<br />

Das bedeutet einen immer höheren Verwaltungsaufwand für alles und alle: Unternehmen,<br />

Politik, Sozialversicherung, Bürger. Man muss viel Zeit aufwenden, um sich damit zu beschäftigen.<br />

Es gibt ganze Klassen von Berufen, die von dieser Kompliziertheit leben: Steuerberater,<br />

Rechtsanwälte, Verwaltungsangestellte, ...<br />

Gerechtigkeit<br />

Darunter leidet die Gerechtigkeit, denn viel Zeit können nur die aufwenden, die sich das leisten<br />

können. Ein Steuerberater ist teuer, und viele andere Berufe sind das auch. Wer viel Zeit<br />

oder viel Geld hat, ist im Vorteil. Fragen Sie mal einen Kleinbetrieb oder Einzelunternehmer<br />

mit geringem Umsatz, wie das Verhältnis ist.<br />

Lobbyismus<br />

Kompliziertheit ist die Lebensberechtigung von Lobbyisten. Kein Parlamentarier benötigt den<br />

Rat und die Argumente von Lobbyisten, wenn er sich selbst ein Bild machen kann. Weil aber<br />

kein normaler Mensch die Dinge mehr in endlicher Zeit begreifen kann, wird der „kostenlose”<br />

oder sogar mit Geschenken garnierte Rat von Lobbyisten dankbar angenommen. Einfachheit<br />

hingegen macht unabhängig.<br />

Politikabstinenz<br />

Allenthalben wird beklagt, dass die Menschen unpolitischer geworden sind. Abgesehen davon,<br />

dass Zeit ein immer knapperes Gut ist: Politische Teilnahme ist auch deshalb so unpopulär,<br />

weil die Welt so kompliziert geworden ist. Man denkt: „Das verstehe ich sowieso nicht”<br />

– und oft hat man recht. Mir geht es ja selbst so.<br />

59


3.1.12 Sie spaltet Regionen und Nationen<br />

„Verantwortungsschranke”<br />

Eine Nationengrenze bildet eine „Verantwortungsschranke”:<br />

• Einfuhr von Gütern, die nicht nach den eigenen Grundsätzen hergestellt wurden: Naturverwüstung,<br />

Rohstoff- und Energieverschwendung, Ausbeutung von Erwachsenen<br />

und Kindern, Verletzung von Menschenrechten – Globalisierung wählt jeweils dasjenige<br />

Land mit den niedrigsten Standards <strong>als</strong> Produktionsstandort.<br />

• Ausfuhr von Gütern, die im Ausland entgegen den eigenen Grundsätzen verwendet<br />

werden: Rüstungsexporte, Waffenhandel, gefährliche Chemikalien.<br />

• Ausfuhr von Müll, den man im eigenen Land nicht haben will.<br />

• Ausfuhr von Geld zur Steuervermeidung.<br />

Solange unterschiedliche Regeln für Güter und Geld diesseits und jenseits der Grenze gelten,<br />

passiert das Gleiche wie bei einem Unternehmer, der bezüglich verschiedener Produkte eine<br />

Mischkalkulation fährt, bei der weniger ertragreiche Produkte von den ertragreichen „subventioniert”<br />

werden: Es findet sich früher oder später eine Nation, die genau in diese Lücke geht<br />

und so etwas „anbietet”, und dort geht dann auch die Globalisierung hin – Nationen <strong>als</strong><br />

Marktführer ihres eigenen Untergangs, bis auf die Steueroasen.<br />

Ruinöser Wettbewerb um Arbeitsplätze<br />

Der Kampf um Arbeitsplätze führt zu einem ruinösen Wettbewerb von Regionen und Nationen.<br />

Ansiedlungspolitik, Subventionen, Markterleichterungen – viele Namen, ein Ziel: Bitte<br />

hier und nicht dort. Was von den einen stolz <strong>als</strong> Arbeitsplatzgewinn verkündet wird, bedeutet<br />

den Arbeitsplatzverlust oder Stagnation woanders. In Berlin freuten sich im Sommer 2011<br />

Wirtschaftssenator Wolf und der Regierende Bürgermeister Wowereit darüber, dass ein bedeutender<br />

Internethändler hier ein Kundendienstzentrum aufbauen und langfristig 350 Arbeitsplätze<br />

schaffen will – und vergessen dabei, dass ein bedeutender Internethändler Tausende<br />

von Arbeitsplätzen im Einzelhandel vernichtet. <strong>Die</strong> Steigerung der Produktivität ist<br />

seine Existenzberechtigung.<br />

In Verbindung mit dem Wettbewerb der Nationen führt dies zur kontinuierlichen Absenkung<br />

der Standards, zum Export von Ausbeutung und Naturverwüstung. <strong>Die</strong> Regionen und Nationen<br />

kämpfen einen verzweifelten und aussichtslosen Kampf.<br />

Der Verlust bleibt national<br />

<strong>Die</strong> Wirtschaft ist schon weiter <strong>als</strong> die Nationen, indem sie den Nationenbegriff überwunden<br />

hat. Profit ist nicht an die Nation gebunden. <strong>Die</strong> Nationen hinken hinterher. Sie müssen den<br />

solidarischen Anteil übernehmen, denn der lässt sich immer nur auf einen überschaubaren<br />

Bereich begrenzen.<br />

„Wirtschaftsflüchtlinge”<br />

<strong>Die</strong> Nation ist der Bereich des finanziellen Austausches durch Wirtschaftsleistung und Transfer.<br />

Sie definiert den räumlichen Bereich, in dem der Hauptteil der wirtschaftlichen und alle<br />

sozialen Netze gespannt sind. Viele Menschen werden von unserem Lebensmodell angelockt<br />

und versuchen, <strong>als</strong> sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge” ihr Glück bei uns zu finden. <strong>Die</strong> Abgrenzung<br />

zu politischen Flüchtlingen mit Anspruch auf Asyl ist schwierig, und weil der Kuchen<br />

immer weniger gern geteilt wird, gilt zunächst der Verdacht auf wirtschaftliche Gründe.<br />

Ganze Nationen geraten unter Generalverdacht.<br />

Chauvinismus<br />

Der Wettbewerb fördert den Chauvinismus, <strong>als</strong>o den Glauben an die natürliche Überlegenheit<br />

der eigenen Nation. Der Stolz auf die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportindustrie<br />

trägt chauvinistische Züge. Leistungssport ist immer weniger völkerverbindend, sondern zur<br />

chauvinistischen Leistungsschau der Nationen geworden.<br />

60


3.1.13 Sie löst keines der großen Probleme<br />

Viele Länder haben nicht so schöne Verhältnisse wie wir: Hunger, Durst, Kampf, Flucht und<br />

Vertreibung, Analphabetentum, Unterdrückung, Rechtlosigkeit, Arbeitslosigkeit und Slums<br />

haben ihre Ursache praktisch immer im Kampf um Macht. Macht bedeutet Geld, und beim<br />

Geld geht es ganz häufig um das Geld der hochproduktiven Industrieländer, die auf der Suche<br />

nach Rohstoffen, billigen Arbeitskräften, Drogen und dem Export von Naturzerstörung<br />

mit ihrem Geld alles und jeden korrumpieren.<br />

Der Hunger in der Welt hat seine Ursache jedenfalls nicht im angeblich so dringend fehlenden<br />

Gen-Mais.<br />

3.2 Institutionelle Wachstumstreiber<br />

<strong>Die</strong> permanente Produktivitätssteigerung wird maßgeblich durch den privaten Konsum in<br />

Gang gehalten, aber auch durch sozi<strong>als</strong>taatliche Institutionen, die in ihrer Finanzierungsstruktur<br />

eigentlich auf Vollbeschäftigung angewiesen sind. Teilweise sind sie sogar selbst<br />

einem grenzenlosen Wachstum unterworfen.<br />

<strong>Die</strong> Gesellschaft insgesamt ist sehr erpressbar geworden: Existenzangst, Angst vor sozialer<br />

Ausgrenzung, Angst vor Alter, Krankheit und Tod. All unsere sozialen Sicherungssysteme<br />

haben die Angst nicht überwinden können, nur das Niveau ist höher geworden.<br />

3.2.1 Altersvorsorge<br />

Praktisch alle Industrieländer kennen Systeme für eine staatlich organisierte Altersvorsorge,<br />

und fast überall funktioniert sie nach einem Umlageverfahren: <strong>Die</strong> aktuellen Arbeitnehmer<br />

zahlen die Renten der aktuellen Rentner. Es wird kein Geld angespart, diesbezügliche historische<br />

Versuche sind gescheitert.<br />

Es gibt im Rentensystem eine Altersgrenze. <strong>Die</strong> reguläre Rente erhält man erst ab diesem<br />

Alter, dann aber garantiert bis zum Tod. Es gibt Varianten wie Frühverrentung, Berufsunfähigkeitsrente,<br />

Altersteilzeit, aber den Löwenanteil macht die reguläre Rente aus. Ihre Höhe<br />

hängt von einem komplizierten Berechnungssystem ab, sie soll die Höhe und Dauer der Einzahlungen<br />

des Einzelnen während seines Erwerbslebens und so eine gewisse Beitragsgerechtigkeit<br />

widerspiegeln: Wer viel zahlt, erhält auch viel.<br />

Der sogenannte demografische Wandel droht das System kollabieren zu lassen: <strong>Die</strong> Lebenserwartung<br />

nimmt zu, die nachrückenden geburtenschwachen Jahrgänge stehen einer immer<br />

größeren Zahl von Rentnern gegenüber. Um der drohenden Unfinanzierbarkeit des Systems<br />

entgegenzuwirken, wird staatlicherseits die private Altersvorsorge massiv gefördert. <strong>Die</strong>s war<br />

mitentscheidend für den modernen Aktienboom und die Erweckung einer massenhaften<br />

Renditesuche. Rendite wurde „in”, weil es ganz neue Sparanreize gab. Private Altersvorsorge<br />

wird zum Wachstumstreiber und zu einer gigantischen Leistungsverpflichtung der künftigen<br />

Generationen, denn gespartes Geld ist Leistungshoffnung. Es ist gar keine Abkehr vom Umlageverfahren<br />

– es ist das Gleiche, nur zeitversetzt: <strong>Die</strong> von Ihnen <strong>als</strong> Sparer einst erbrachte<br />

Arbeitsleistung ist längst in der Vergangenheit von jemandem konsumiert worden. Sie haben<br />

„nur” Geld in der Hand. <strong>Die</strong> künftigen Generationen müssen für Ihre fälligen Lebensversicherungen<br />

etwas leisten, denn denen tragen Sie dann Ihr Geld in den Laden.<br />

3.2.2 Arbeitslosigkeit<br />

Wer arbeitslos wird, erhält unter bestimmten Bedingungen für eine bestimmte Zeit Arbeitslosengeld,<br />

genauer: Arbeitslosengeld I. Danach oder wenn gar keine Arbeitslosigkeit vorliegt,<br />

nennt man das Arbeitslosengeld II oder umgangssprachlich „Hartz IV” (benannt nach dem<br />

Hartz-Konzept). <strong>Die</strong> ursprüngliche Konzeption von Arbeitslosengeld war, die relativ kurze<br />

Zeitspanne zwischen dem Verlust der einen Arbeitsstelle bis zum Antritt der Arbeit an einer<br />

61


neuen Arbeitsstelle zu überbrücken. In einer Phase der Vollbeschäftigung klappt das auch<br />

problemlos und hat dann den Charakter einer zeitweiligen Lohnfortzahlung. Werte unter 2 %<br />

gelten dabei <strong>als</strong> Vollbeschäftigung, geringere Werte sind wegen der ganz normalen Wechsel<br />

von Arbeitsstellen praktisch kaum möglich.<br />

In einer hochproduktiven Gesellschaft ist das schwieriger geworden. Angefangen mit den<br />

Ölkrisen, hat sich die Arbeitslosenquote in Sprüngen immer weiter nach oben entwickelt.<br />

Ölkrisen und Wiedervereinigung haben dabei jedoch nur die Anlässe geliefert, die tiefere<br />

Ursache liegt im Produktivitätsgewinn der Wirtschaft. Zu den offiziell gemeldeten Arbeitslosen<br />

kommen noch eine „Stille Reserve in Maßnahmen” und eine „Stille Reserve im engeren<br />

Sinne”, was derzeit (Oktober 2011) knapp vier Millionen Menschen ohne Arbeit ergibt (Zahlen<br />

der Bundesagentur für Arbeit). Nimmt man prekäre Arbeitsverhältnisse hinzu, ist die Zahl<br />

noch viel höher.<br />

Bei allem Optimismus wegen leicht sinkender Arbeitslosenzahlen führt kein Weg an der Feststellung<br />

vorbei, dass es in Deutschland und anderswo eine feste Sockelarbeitslosigkeit gibt.<br />

Geringqualifizierte und ältere Arbeitnehmer sind von Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit<br />

besonders betroffen. Früher haben solche Menschen immer noch irgendwo einen Job<br />

gefunden, mittlerweile jedoch ist der Pool der in der Wirtschaft benötigten Geringqualifizierten<br />

und Älteren kleiner geworden, und ein Teil bleibt mehr oder weniger dauerhaft draußen.<br />

Ein Teil der Jobs ist in andere Länder abgewandert, aber auch dort gibt es zum Teil horrende<br />

Arbeitslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen. Für die derzeitige Wirtschaft werden einfach<br />

nicht mehr alle gebraucht bzw. das Mehrprodukt derjenigen, die gegen Geld arbeiten, reicht<br />

dann doch nicht, um die wunderbare Welt der <strong>Die</strong>nstleistungen zu finanzieren, von der viele<br />

geträumt haben.<br />

Arbeitslosigkeit ist eine unmittelbare Konsequenz der immerwährenden Steigerung der Produktivität,<br />

und wer das Wachstum akzeptiert, der akzeptiert auch, dass diese Menschen in<br />

unserem Arbeitssystem keinen Platz mehr haben, weil sie zu dumm, zu alt oder aus anderen<br />

Gründen nicht mehr leistungsfähig genug erscheinen. <strong>Die</strong> gesellschaftliche Finanzierung von<br />

Arbeitslosigkeit ist eine gigantische volkswirtschaftliche Verschwendung und letztlich – wie so<br />

oft – eine Sozialisierung der Kosten der Produktivitätssteigerung. <strong>Die</strong> Gewinne verbleiben bei<br />

den hochproduktiv Arbeitenden.<br />

3.2.3 Steuersystem<br />

„Der deutsche Staat finanziert sich zu über 60 Prozent über Steuern und Abgaben, die den<br />

Faktor Arbeit belasten. Umweltsteuern hingegen leisten nur einen geringen Beitrag zu den<br />

Staatsfinanzen. Ihr Anteil ist in den vergangenen Jahren sogar weiter auf 5,5 Prozent zurück<br />

gegangen. Das deutsche Steuer- und Abgabensystem setzt damit massive Anreize zum Abbau<br />

von Arbeitsplätzen. <strong>Die</strong> Anreize zur Vermeidung von Umweltbelastung sind dagegen<br />

vergleichsweise gering.” (Forum ökologisch-soziale Marktwirtschaft, Diskussionspapier<br />

01/2011)<br />

Nicht nur, dass Umweltbelastung nicht steuerlich belastet wird, sie wird zum großen Teil<br />

noch öffentlich subventioniert: „Gleichzeitig werden in Deutschland nach Berechnungen des<br />

Umweltbundesamtes immer noch umweltschädliche Subventionen in Höhe von deutlich mehr<br />

<strong>als</strong> 40 Mrd. Euro pro Jahr gewährt.” (Forum ökologisch-soziale Marktwirtschaft, Gutachten im<br />

Auftrag von Greenpeace 05/2011)<br />

Das FÖS nennt in diesem Greenpeace-Gutachten im einzelnen:<br />

• Subventionierung der Atomenergie durch die stark begrenzte Haftung für nukleare<br />

Unfälle, die Regelungen bezüglich der Entsorgungsrückstellungen, die hohe jahrzehntelange<br />

Forschungsförderung, die Ausnahme von der Energiebesteuerung und indirekt<br />

durch den CO2-Emissionshandel: Während Kohlekraftwerke zertifikatspflichtig<br />

62


sind, gibt es keine analoge Belastung für die spezifischen Risiken und Kosten der Atomenergie.<br />

• Energie- und Stromsteuer-Ermäßigungen: Unternehmen, vor allem des produzierenden<br />

Gewerbes, haben im Rahmen der Energie- und Strombesteuerung Anspruch auf<br />

umfangreiche Sonderregelungen.<br />

• <strong>Die</strong>nst- und Firmenwagenprivileg<br />

• Nichtbesteuerung von Kerosin und die Mehrwertsteuerbefreiung internationaler Flüge<br />

• Steuerliche Begünstigung von <strong>Die</strong>selkraftstoff<br />

Das deutsche Steuersystem ist damit ein einziger Anreiz, die Arbeitsproduktivität noch weiter<br />

zu steigern.<br />

3.2.4 Gesundheitssystem<br />

Zu diesem Thema hat Walter Krämer 1989 das meiste schon gesagt. Es ist sonnenklar, dass<br />

die moderne Medizin nur teurer werden kann, denn sie kennt ebenso wie die moderne Wirtschaft<br />

kein Maß. Solange wir sterblich sind, wird jede geheilte Krankheit, jedes gerettete<br />

Menschenleben nur eine weitere Krankheit, einen weiteren Unfall ermöglichen, die wieder<br />

der Behandlung bedürfen, bis wir am Ende endlich abtreten dürfen. Auch diesen Kampf kann<br />

man nicht gewinnen. Wir können zwar die Lebenserwartung immer weiter erhöhen, aber der<br />

Preis dafür steigt exponentiell an, denn die Zeiten billigen Medizinfortschrittes sind schon<br />

lange vorbei. „Wir müssen uns entscheiden, ob wir dem Leben Jahre oder den Jahren Leben<br />

geben.” (Krämer 1989 S. 252)<br />

Wir versuchen, den Schrecken des Todes und der Hilflosigkeit aus unserem Leben zu bannen:<br />

• Etwa 100 Rettungshubschrauber gibt es in Deutschland. Ein Rettungshubschrauber<br />

vom Typ BK 117 kostet mit kompletter Ausrüstung etwa vier Millionen Euro, eine<br />

Einsatzminute wird den Krankenkassen zu 45 Euro in Rechnung gestellt<br />

(www.christoph-1.de/faq.html, 14.10.2011).<br />

• Wer in München U-Bahn fährt, kann sich sicher fühlen, zumindest was den plötzlichen<br />

Herztod angeht: Sogenannte Defibrillatoren hängen in mehreren Dutzend U-<br />

Bahnhöfen. Mit ihnen kann jeder Laie bei einem plötzlichen Herzversagen Elektroschocks<br />

verabreichen, was nachweislich schon zehn Leben gerettet hat (Müncher<br />

Merkur, 23.11.2009). Ein Defibrillator kostet etwa 1.000 Euro, das Programm wird<br />

ausgeweitet.<br />

• usw.<br />

Echter Schrecken und Hilflosigkeit sehen allerdings anders aus: Auschwitz und Srebrenica<br />

sind die Orte, deren Erwähnung uns bleich werden lassen sollte, nicht die Autobahnabfahrt<br />

oder der Münchner U-Bahnhof.<br />

<strong>Die</strong> medizinischen Leistungen haben sich zu einem großen Teil in eine Richtung entwickelt,<br />

wo entweder der Konsumcharakter dominiert, an „Details” gearbeitet wird oder aber die letzten<br />

Lebensmonate verlängert werden. Selten gelingt einmal ein „Durchbruch”, und wenn,<br />

dann kostet er viel Geld – und macht nur Platz für die nächste Krankheit, die des Durchbruches<br />

bedarf. In den 50er Jahren wurde der „Medizinkonsum” schlicht und ergreifend dadurch<br />

gedeckelt, dass für den Patienten „wenig zu holen war”: Der Leistungskatalog kannte die<br />

meisten der Wunderdinge nicht, die heute die Budgets belasten.<br />

Prävention erscheint vielen <strong>als</strong> kostensparender Königsweg. Doch das kann nur dann viel<br />

Geld sparen, wenn man einerseits während des „prallen Lebens” Krankheiten verhindert und<br />

dadurch die Lebensfreude erhöht, am Lebensende aber nicht auf Teufel komm raus behandelt.<br />

Sonst passiert das gleiche wie bei ökologischen Innovationen: Das gesparte Geld wird<br />

lediglich für eine andere medizinische Leistung ausgegeben, und die Kosten der Prävention<br />

63


sind dazugekommen. In der Schweiz wird ein Viertel aller Gesundheitskosten für die jeweils<br />

letzten zwölf Monate der Menschen aufgewendet (Gasche/Guggenbühl 2010 S. 73). Das Dilemma<br />

ist: Man weiß nicht, wann sie beginnen.<br />

Durch die Versicherungsbeiträge muss immer mehr Technik finanziert werden. Wenn dabei<br />

die Beiträge nicht mehr weiter steigen sollen, muss dafür beim Personal gespart werden –<br />

weniger Leute, weniger Zeit, mehr Zeitarbeit und Flexibilisierung. Letztlich sind auch alle<br />

sogenannten „Pflegekräfte” ein Teil der allgemeinen Produktivitätssteigerung. Sie haben sich<br />

auf die Pflege von Menschen spezialisiert und ermöglichen damit allen anderen, sich auf die<br />

„wichtigen Dinge” wie Autos, iPhones und Fertigpizza zu konzentrieren. Und damit auch die<br />

unangenehmen Bilder von Alter, Krankheit und Tod aus ihrem Leben zu drängen.<br />

Wie man es auch dreht und wendet: Wer den Menschen die Garantie gibt, dass alle notwendigen<br />

medizinischen Leistungen finanziert werden, erzeugt ein Kostenfass ohne Boden. Und<br />

eine Wachstumsbranche ohne Maß. Aus diesem Dilemma gibt es prinzipiell keinen Ausweg,<br />

genausowenig wie aus dem Wachstumsdilemma. Es ist nie genug.<br />

3.3 Ungleichheit<br />

Neben all den anderen Krisen erleben wir zum Glück auch eine „Krise der Ungleichheit”.<br />

Ungleichheit wird in vielen Bereichen mehr und mehr in Frage gestellt und zum Teil schon<br />

seit einigen Jahren erfolgreich überwunden:<br />

• Kate Pickett und Richard Wilkinson weisen in einer bahnbrechenden Studie (Pickett/Wilkinson<br />

2009) aktuell und global nach, dass in Gesellschaften mit größerer<br />

materieller Gleichheit fast alles für alle besser ist, auch für die Wohlhabenden.<br />

• Im Straßenverkehr wurde erkannt, dass die Trennung der Verkehrsarten („autogerechte<br />

Stadt”) die Konflikte nicht entschärft, sondern verschärft. <strong>Die</strong> Zahl der schweren<br />

Verkehrsunfälle kann gesenkt werden, indem Straßenräume geschaffen werden,<br />

die auf Abgrenzungen zwischen den Verkehrsarten verzichten und die völlige<br />

Gleichberechtigung von Verkehrsteilnehmern vorsehen, wobei die Vorfahrtregel<br />

„Rechts vor links” weiter gilt („Shared Space” oder „Gemeinschaftsstraße”).<br />

• <strong>Die</strong> getrennte Unterrichtung von Kindern mit körperlichen oder geistigen Behinderungen<br />

in Sonderschulen wird mehr und mehr aufgehoben zugunsten eines gemeinsamen<br />

Unterrichts mit nichtbehinderten Kindern (Integrationsklassen).<br />

• Der Verelendung anderer Länder durch billigen Import von Produkten und Drogen,<br />

Export von Naturzerstörung, Korruption und Waffen wird in kleinem Rahmen durch<br />

Fairen Handel entgegengearbeitet.<br />

• <strong>Die</strong> soziale Akzeptanz für Lesben, Schwule und Transgender im Alltag ist – bei allen<br />

Rückschlägen – steigend.<br />

<strong>Die</strong>se Entwicklungen reihen sich ein in historische Erfolge der Überwindung von Ungleichheit<br />

und Ungerechtigkeit:<br />

• Abschaffung der Sklaverei<br />

• Abschaffung von Adelsprivilegien<br />

• Gleichberechtigung für Frauen<br />

Hier werden wegen der Bedeutung für die aktuelle Diskussion die Fakten der Studie von Kate<br />

Pickett und Richard Wilkinson zusammengefasst. Beide forschen zu Epidemiologie und Gesundheitswesen<br />

an zwei britischen Universitäten. Epidemiologie ist die Analyse der Ursachen<br />

von Gesundheit und Krankheit in bestimmten Bevölkerungsgruppen (Populationen). Ausgangspunkt<br />

ihrer Untersuchungen war die Frage nach „Ungleichverteilungen im Gesundheitsbereich”:<br />

Wie folgen bestimmte gesundheitliche Probleme und die Lebenserwartung der<br />

Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bevölkerungsschicht? Daraus entstand schließlich ein<br />

64


ganz anderes Projekt, nämlich die Suche nach den gesellschaftlichen Konsequenzen von Einkommensungleichheit.<br />

Pickett und Wilkinson untersuchten folgende Kategorien von sozialen Aspekten und gesundheitlichen<br />

Problemen (Pickett/Wilkinson 2009 S. 33):<br />

• Niveau des Vertrauens<br />

• Psychische Erkrankungen sowie Alkohol- und Drogensucht<br />

• Lebenserwartung und Säuglingssterblichkeit<br />

• Fettleibigkeit<br />

• Schulische Leistungen der Kinder<br />

• Teenager-Schwangerschaften<br />

• Selbstmorde<br />

• Zahl der Gefängnisstrafen<br />

• Soziale Mobilität (Durchlässigkeit der gesellschaftlichen Schichten)<br />

Untersucht wurden die 25 reichsten Länder der Erde, um die Effekte von allgemeiner Armut<br />

eines Großteils der Bevölkerung ausschließen zu können. Es sollten Länder mit einer vergleichbar<br />

hohen Lebenserwartung verglichen werden, in denen <strong>als</strong>o die Höhe des durchschnittlichen<br />

Einkommens keinen Effekt mehr auf die Lebenserwartung hat.<br />

An dem einen Ende der Skala der Ungleichheit liegen Länder wie Japan und alle skandinavischen<br />

Länder, am anderen Ende Australien, England, Portugal, die USA und Singapur. Der<br />

Einkommensunterschied zwischen den reichsten 20 % und den ärmsten 20 % reicht vom<br />

Faktor 3,5 (Japan) bis knapp 10 (Singapur). (Pickett/Wilkinson 2009 S. 31)<br />

<strong>Die</strong> Einförmigkeit der Ergebnisse ist erschütternd. Alle genannten Kategorien sind deutlich<br />

mit der Einkommensverteilung in der Form korreliert, dass mehr Gleichheit zu einem besseren<br />

Zustand der Gesellschaft führt, in der alle zufriedener sind, oben und unten. Das Ergebnis<br />

ist eine schallende Ohrfeige für den Neoliberalismus.<br />

3.4 Computer, Internet und mobile Kommunikation<br />

Das Internet ist eine Goldgrube und das Füllhorn des 21. Jahrhunderts? Goldgrube ist richtig,<br />

an das Füllhorn glaube ich jedoch nicht. Computer, Internet und mobile Kommunikation<br />

werden sich <strong>als</strong> gigantische ökologische und soziale Sackgasse erweisen. Warum sehe ich<br />

das so schwarz?<br />

3.4.1 Produktivitätssteigerung<br />

In der Industrie ...<br />

An die Produktivitätssteigerung durch die Computerisierung der Wirtschaft haben wir uns<br />

schon vollständig gewöhnt in den wenigen Jahrzehnten. Jeremy Rifkin hat in „Das Ende der<br />

Arbeit” diesen ganzen Prozess sehr gut beschrieben, so dass ich mich hier auf einen ganz<br />

kleinen Ausschnitt der Stahlproduktion beschränke:<br />

„Beim herkömmlichen Kaltwalzen wird dickeres Blech verschiedenen Bearbeitungsstufen unterzogen<br />

und in dünneres Stahlblech verwandelt [...] <strong>Die</strong> japanischen Stahlunternehmen<br />

haben alle diese aufeinanderfolgenden Stufen zu einem einzigen Ablauf zusammengefügt<br />

und damit die Stahlherstellung revolutioniert. [...] <strong>Die</strong> Herstellungsdauer wurde von zwölf<br />

Tagen auf eine Stunde reduziert. [...] <strong>Die</strong> wenigen Arbeitskräfte in diesen Werken sind hochqualifiziert<br />

und in Chemie, Metallurgie und Informatik ausgebildet. Dank der computerisierten<br />

Abläufe wird für eine solche Anlage nur ein Zwölftel der Arbeitskräfte gebraucht, die für die<br />

großen integrierten Walzwerke alten Typs nötig waren. [...] Nach Angabe der ILO [Anm.<br />

Internationale Arbeitsorganisation, eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen] ist in<br />

den Ländern der OECD von 1974 bis 1989 der Ausstoß der Stahlindustrie nur um sechs Pro-<br />

65


zent gefallen, während die Zahl der Arbeitsplätze sich um mehr <strong>als</strong> die Hälfte, in Zahlen ausgedrückt<br />

um mehr <strong>als</strong> eine Million, verringert hat.” (Rifkin 1996 S. 103f.)<br />

Das Internet hat bereits die nächste Runde eingeläutet, die mobile Kommunikation wird das<br />

noch mal weitertreiben, und dann sind hoffentlich die Kollegen von der Künstlichen Intelligenz<br />

so weit, dass wir uns um Arbeit nicht mehr kümmern müssen ...<br />

... und im Privaten<br />

Computer und Internet sind nicht deshalb im Privaten erfolgreich, weil sie interessante neue<br />

Dinge ermöglichen, sondern weil sie die Produktivität noch einmal unermesslich steigern:<br />

• Mit jedem banalen Laserdrucker kann man heute Briefe, Visitenkarten und Texte drucken,<br />

die einer Druckerei zur Ehre gereichen würden.<br />

• Google ist nicht primär ein interessantes Fenster zur Welt, sondern dient der Erhöhung<br />

der Schnelligkeit.<br />

• Facebook ist nicht vor allem ein lebendiges soziales Netzwerk, sondern dient der Erhöhung<br />

der persönlichen Effizienz.<br />

• E-Books sind nicht in erster Linie praktisch, sondern machen nach und nach den teuren<br />

Buchhandel überflüssig.<br />

• Mobiltelefone ersparen uns mühselige Absprachen und Planung, ermöglichen Spontaneität<br />

– und wir können damit unsere Kinder überwachen. In der gesteigerten Form<br />

des Smartphone haben wir unseren mobilen Computer immer dabei und im wahrsten<br />

Sinne des Wortes eine permanente Online-Existenz. Wir können jede Zeitlücke produktiv<br />

nutzen, in langweiligen Besprechungen ebenso wie während irgendwelcher<br />

Fahrten.<br />

Der Gebrauch moderner Kommunikationstechnik im Privaten fördert indirekt den Druck am<br />

Arbeitsplatz, denn unserem Arbeitgeber oder Auftraggeber gefällt so etwas auch: Verfügbarkeit,<br />

Beschleunigung, Verzicht auf vernünftige Planung (z. B. Routenplanung, Springereinsätze).<br />

Produktivitätssteigernde Technologien in einer Wachstumsgesellschaft lassen sich nicht<br />

auf ihre netten Aspekte beschränken. Überspitzt gesagt: Wer mobile Kommunikation gut<br />

findet, findet auch mehr Druck am Arbeitsplatz gut, die Globalisierung, die Verlagerung von<br />

Unternehmen ins Ausland, die industrielle Landwirtschaft, ...<br />

3.4.2 Zerstörung des regionalen und lokalen Handels<br />

Das Internet zerstört den lokalen Handel. Eine „friedliche Koexistenz von Tradition und Moderne”<br />

wird es nicht geben. <strong>Die</strong> kleinen Läden können praktisch nur noch mit Nischenprodukten<br />

oder Produkten des täglichen Bedarfs mithalten. Mitunter nutzen sie auch eine spezielle<br />

„Konsumenten-Ballung”, wie hier in Berlin-Kreuzberg, wo viele Touristen herumlaufen.<br />

Aber alles, was man den klassischen Fachhandel nennt, stirbt aus, und statt dessen ziehen –<br />

zumindest hier bei uns – Fast-Food-Läden, Internet-Shops, Spätkaufläden, Restaurants und<br />

Kneipen ein. Anderswo zieht was anderes ein, oder eben nichts. Ich frage mich, wie lange es<br />

Karstadt am Hermannplatz noch geben wird.<br />

Ich nutze hier gerne die <strong>Die</strong>nste einer sogenannten Bahnagentur, <strong>als</strong>o eines auf Bahnreisen<br />

spezialisierten Reisebüros. <strong>Die</strong> Deutsche Bahn hat im Laufe der Zeit die Fahrkartenprovisionen<br />

immer weiter gekürzt und statt dessen ihren Online-Fahrkartenkauf immer weiter ausgebaut.<br />

Mittlerweile sind sogar die Fahrkartenpreise im Internet niedriger. <strong>Die</strong> Tage der<br />

Bahnagentur sind gezählt.<br />

ebay und andere Internet-Auktionshäuser fand ich zunächst eine geniale Idee. Auf diesem<br />

Wege wurde ein moderner Markt für gebrauchte Waren geschaffen, die sonst zum größten<br />

Teil weggeworfen würden. Selbst in einer großen Stadt wie Berlin findet sich nicht immer ein<br />

Abnehmer für irgendwelches spezielles Zeug, von kleineren Ortschaften ganz zu schweigen.<br />

66


Meine Euphorie hat aber deutlich nachgelassen, <strong>als</strong> ich feststellte, dass immer mehr gewerbliche<br />

Händler ebay nutzen.<br />

Volkswirtschaftlich ist das vordergründig alles richtig: Innovation verdrängt das Alte und<br />

schafft Neues mit mehr Produktivität, so dass die freigewordene Produktivität anderswo genutzt<br />

werden kann. Aber es gibt ja gar keine Bereiche mehr, wo man diese Produktivität nutzen<br />

kann! Man hat ja schon alles. Der lokale Handel ist doch auch ein Teil unserer sozialen<br />

Kultur. Und so finden die Läden keine Mieter mehr, die Leute keine Arbeit mehr, und die<br />

Viertel veröden. <strong>Die</strong> vordergründige volkswirtschaftliche Rechnung ist f<strong>als</strong>ch.<br />

3.4.3 Preisdruck<br />

Erst die Konzentration auf wenige große Anbieter und dann das Internet schafften tatsächlich,<br />

wovon die Marktwirtschaftler immer nur träumten: <strong>Die</strong> absolute Markttransparenz. Jeder<br />

kann heute alles zum günstigsten Preis kaufen. Früher war man gar nicht in der Lage, in<br />

endlicher Zeit alle Preise zu erfahren, und Versand war teurer. Absolute Preistransparenz<br />

weckt jedoch die Schnäppchengier der Konsumenten und begünstigt immer geringere Margen.<br />

Das erhöht den Kostendruck der Anbieter, die damit ihrerseits ihre Produktivität steigern<br />

müssen. Ein weiterer Teufelskreis.<br />

3.4.4 Mobilität<br />

Das Internet fördert die Mobilität. Je internationaler die Kontakte, desto mehr nimmt auch<br />

das Reisen zu. Je mehr im Internet bestellt wird, desto mehr Ware wird auf den motorisierten<br />

Weg gebracht, in immer kleineren Päckchen. Nespresso-Tabs, Fachbücher, Babywäsche,<br />

...<br />

3.4.5 Ressourcenverbrauch<br />

Bereits heute verbraucht allein das Internet etwa genauso viel Energie wie der weltweite<br />

Flugverkehr (laut Freiburger Ökoinstitut in einem Artikel der Welt), Tendenz stark steigend.<br />

Mobile Computing, die „Cloud” mit ihren globalen Rechenzentren und die generelle Zunahme<br />

von digitalen Aktivitäten und digitalen Nutzern werden hauptsächlich zu diesem Anstieg beitragen.<br />

3.4.6 Anonymität und Identität<br />

Das Internet funktioniert <strong>als</strong> großes Nachschlagewerk prima, aber es hat ein Problem <strong>als</strong><br />

soziales und wirtschaftliches Medium, weil es kein Konzept für Anonymität versus Identität<br />

hat. Anonymität führt zur Verantwortungslosigkeit, Identität zur Speicherung von Profilen,<br />

und an diesen Problemen könnte es zerbrechen. „»Vielleicht«, meint Internetexperte Deibert<br />

pessimistisch, »werden wir eines Tages auf die 1990er und 2000er Jahre zurückschauen <strong>als</strong><br />

jene kurze Ära, in der wir frei kommunizieren und von überall her unsere Informationen beschaffen<br />

konnten.«” (DIE ZEIT, „<strong>Die</strong> Lauschfabrikanten”, 13.10.2011)<br />

Anonymität ist ein Problem<br />

Betrug, Kinderpornografie, Mobbing, Spam, Vorspiegelung f<strong>als</strong>cher Identität, Spionagesoftware,<br />

Viren, Hacker, Facebook-Parties ... Moderne Techniken des Internet laden geradezu<br />

zur Destruktivität ein, weil zwei wichtige klassische Barrieren fehlen: Aufwand und menschliche<br />

Plausibilitätsprüfungen. Dem wird versucht, mit immer mehr Technik Herr zu werden.<br />

Identität ist ein Problem<br />

Gezielte Werbung, Bewegungsprofile, peinliche Enthüllungen alter Partyfotos beim Bewerbungsgespräch,<br />

Zensur und Überwachung in China ... Es gibt kein Geheimnis, und es gibt<br />

kein Vergessen. Das Internet vergisst nicht. <strong>Die</strong> Menschheit hat aber ein Recht darauf zu<br />

vergessen.<br />

67


Das Internet ist groß und schnell. <strong>Die</strong> Mechanismen der Gesellschaft, unerwünschte Tätigkeiten<br />

zu sanktionieren, können schon aufgrund der schieren Größe und Schnelligkeit dort nicht<br />

mithalten, das heißt, es entstehen rechtsfreie Räume. Wieviel Aufwand wollen wir denn in<br />

die Verfolgung dieser Dinge stecken, wo doch all unsere Verfolgungskräfte schon in anderen<br />

Bereichen gebunden sind? Das Problem ist jedoch nicht nur praktischer, sondern prinzipieller<br />

Natur. Man könnte sagen: Das Internet ist für menschliche Dimensionen zu groß und zu<br />

schnell. Im „normalen” Leben stellen die Langsamkeit und die räumliche Entfernung natürliche<br />

Hürden für Destruktivität und Kriminalität dar. Im Internet ist das nicht mehr der Fall.<br />

Das Internet wird <strong>als</strong> Unterstützer im Kampf gegen diktatorische Regime gefeiert. Das ist es<br />

auch, aber es sollte nicht dazu führen, über seinen Charakter <strong>als</strong> Arbeitsplatzvernichter,<br />

rechtsfreier Raum und Ressourcenfriedhof hinwegzusehen. <strong>Die</strong> Frage ist daher, ob sich<br />

diktatorische Regime nicht auch einfacher abschaffen lassen.<br />

3.5 Widersprüchliche Botschaften<br />

Jedes Gesellschaftsmodell ist offiziell oder auch inoffiziell mit bestimmten Botschaften verknüpft,<br />

die seine Leitbilder transportieren. In der Regel sind es viele, und manche von ihnen<br />

widersprechen einander. Das ist normal. Es gehört zum Wesen des Menschen, dass er sich<br />

entscheiden oder aber eine Balance halten muss. Balancieren ist schwierig, und häufig muss<br />

man durch ausgefeilte Mechanismen für die ständige Wiederherstellung dieser Balance sorgen.<br />

<strong>Die</strong> beiden wichtigsten Botschaften in Bezug auf das Wirtschaftsleben lauten:<br />

• <strong>Die</strong> Botschaft der freien Marktwirtschaft<br />

Denke unternehmerisch. Maximiere Deinen Gewinn. Verbinde Dein persönliches<br />

Wachstum mit dem Wachstum der Wirtschaft. Bleibe wettbewerbsfähig. Suche Gelegenheiten<br />

zum Investieren. Steigere den Umsatz. Senke die Kosten. Sei nie zufrieden<br />

mit dem Erreichten.<br />

• <strong>Die</strong> Botschaft der Mäßigung<br />

Mäßige Dich. Handle vernünftig. Wirtschafte nachhaltig. Schütze die Umwelt. Senke<br />

den Ressourcenverbrauch. Teile Deinen Reichtum. Nimm Rücksicht auf die Schwächeren.<br />

Achte Deine Mitarbeiter. Geld ist nicht alles. Sei zufrieden mit dem, was Du<br />

hast.<br />

Beide Botschaften verfolgen gegensätzliche Ziele. Und beide Botschaften sind zutiefst<br />

menschlich. <strong>Die</strong> eine spricht eher unsere individuellen Interessen an, die andere eher die<br />

gemeinschaftlichen. Das Problem ist: <strong>Die</strong> Botschaft der freien Marktwirtschaft ist viel lauter<br />

<strong>als</strong> die der Mäßigung. Wir haben 1001 Maßnahmen getroffen, um der Botschaft der freien<br />

Marktwirtschaft Gehör zu verschaffen, aber nur eine Handvoll für die Botschaft der Mäßigung.<br />

Und wir verhelfen der Botschaft der freien Marktwirtschaft über viele übergeordnete<br />

Prinzipien Geltung, der Botschaft der Mäßigung jedoch vorwiegend über nachgelagerte<br />

Gesetze und Verordnungen. Das führt zu einem geradezu grotesken Ungleichgewicht im<br />

Wirtschaftsleben zugunsten des hemmungslosen Konsums und zulasten der Nachhaltigkeit.<br />

Es gibt noch andere „Paare von widersprüchlichen Botschaften“:<br />

• Botschaft der hohen Lebenserwartung versus Botschaft der Kostensenkung im Gesundheitswesen.<br />

• Botschaft der Bequemlichkeit und des unbeschwerten Konsums versus Botschaft der<br />

Müllvermeidung und der Nachhaltigkeit.<br />

• Botschaft der hohen Warenqualität versus Pareto-Prinzip und Schnäppchenjägertum.<br />

• Botschaft der umfassenden Bildung versus Botschaft der Arbeitsteilung, Spezialisierung<br />

und Kernkompetenzen.<br />

• Botschaft der hohen Produktivität versus Botschaft der Senkung der Arbeitslosigkeit.<br />

68


• Botschaft der Völkerverständigung versus wirtschaftlicher und sportlicher Chauvinismus.<br />

• Botschaft der Werbung versus Bild vom mündigen Verbraucher.<br />

• Botschaft der Verantwortung versus Botschaft der Arbeitsteilung.<br />

Wir kommen nicht umhin, auf einen „vernünftigen“ Ausgleich zwischen den jeweiligen einander<br />

widersprechenden Zielen hinzuarbeiten. Unser Problem ist, dass wir in der Regel alles<br />

wollen: Das Omelett und das Ei. Menschen sind Meister im Ausblenden von Konsequenzen<br />

und Ignorieren von Grenzen:<br />

• Wir wollen eine hohe Lebenserwartung und ein preiswertes Gesundheitswesen.<br />

• Wir wollen ein bequemes und dabei nachhaltiges Leben führen.<br />

• Wir wollen gute Produkte und einen niedrigen Preis.<br />

• Wir möchten umfassend gebildet sein und eine hoch arbeitsteilige, produktive Wirtschaft<br />

haben.<br />

• Wir wünschen den Frieden in der Welt und eine wirtschaftliche Vormachtstellung<br />

Deutschlands.<br />

• ...<br />

Politische Bauernfänger und naive Technologiegläubige versprechen genau diese Widersprüchlichkeiten<br />

<strong>als</strong> machbar. Und aus diesem Grund sind vernünftige gesellschaftliche Prinzipien<br />

so wichtig: Sie nehmen der Diskussion die Schärfe und tragen dazu bei, vernunftbetont<br />

zu diskutieren. Sie verhindern, dass die eigenen Interessen in der Diskussion zu stark in<br />

den Vordergrund rücken.<br />

69


Kapitel 4: Scheinlösungen<br />

4.1 Inseln der Vernunft<br />

Eine „Insel der Vernunft” ist der Versuch, innerhalb eines unvernünftigen Systems eine vernünftige<br />

Korrektur vorzunehmen, ohne dabei das System infrage zu stellen:<br />

• Man hofft, mit einer Korrektur die Wohltaten erhalten und die Probleme loswerden zu<br />

können (Omelett und Ei).<br />

• Man fühlt sich provoziert und möchte jemanden für seine Unvernunft strafen.<br />

• Man meint, das Ei des Kolumbus gefunden zu haben, und wird gegenüber dem eigentlichen<br />

Problem unkritisch.<br />

• Man möchte aktiv vom eigentlichen Problem ablenken.<br />

Inseln der Vernunft sind „systemfremd”, das bedeutet, dass sie gegen die eigentliche Energie<br />

des Systems gerichtet sind. Es ist ein Schwimmen gegen den Strom – eine grandiose<br />

Energieverschwendung. Letztlich ist es ein „Herumdoktern an Symptomen”. Und meistens<br />

mit horrenden finanziellen und gesellschaftlichen Kosten verbunden. Wichtig sind manche<br />

dieser Inseln für die langsame Bewusstseinsbildung. Sie legen den Finger in die Wunden<br />

unseres Gesellschaftssystems. Aber man sollte sie nicht mit einer Lösung verwechseln.<br />

Hier sind nur einige Beispiele:<br />

Sozialismus<br />

Der Sozialismus ist eine der größten Inseln der Vernunft, die in den vergangenen Jahrzehnten<br />

errichtet wurden. Er ist jedoch nicht am schlechten Menschen gescheitert, wie viele<br />

glauben, sondern daran, dass er für die gleiche Wachstumsstrategie die wesentlich schlechteren<br />

Rezepte angeboten hat <strong>als</strong> der Kapitalismus. Insofern ist die Aussage richtig, dass der<br />

Sozialismus gegen den Kapitalismus verloren habe, denn beide waren am gleichen unsinnigen<br />

Wettrennen beteiligt. Es ist nicht eine gute Idee, die schlecht durchgeführt wurde, sondern<br />

es ist Unsinn, Nichtwachstums-Ideale mit einer Wachstumsideologie zu verbinden. Deshalb<br />

musste im Sozialismus dauernd an die Vernunft appelliert werden – genauso wie heute<br />

im Kapitalismus. Mittlerweile ist der Mensch sogar für den Kapitalismus zu schlecht ...<br />

Mindestlohn<br />

Geht völlig an den Prinzipien des Marktes vorbei und wird deshalb in einer Marktwirtschaft<br />

erfolglos bleiben. <strong>Die</strong> eigentliche Frage ist ja, warum es Stellen gibt, die übergut entlohnt<br />

werden, und warum es Verzweifelte gibt, die jeden Lohn akzeptieren müssen. <strong>Die</strong> Forderung<br />

nach einem Mindestlohn verdeckt das eigentliche Problem: Es gibt einen Arbeitskraftüberschuss<br />

aufgrund einer übermäßigen Produktivitätssteigerung, und angesichts dieses Überangebotes<br />

von Arbeitskräften niedriger Qualifikation geht der Preis nach unten. Daran wird ein<br />

Mindestlohn nicht das geringste ändern, und er wird genau das bewirken, was seine Kritiker<br />

schon jetzt prophezeien: <strong>Die</strong> Abwanderung der Arbeitsplätze in andere Länder.<br />

Beschäftigungsquoten für ältere Arbeitnehmer (Rente mit 67)<br />

Ein gerade (Januar 2012) ganz aktuelles Thema: <strong>Die</strong> Rente mit 67 soll die Rentenkasse entlasten,<br />

indem der Rentenbezug um zwei Jahre hinausgeschoben wird und gleichzeitig die<br />

Beitragszahler zwei Jahre länger einzahlen. Dagegen wenden Sozialpolitiker ein, dass für<br />

ältere Arbeitnehmer gar nicht genug Arbeitsplätze zur Verfügung stehen – die Rente mit 67<br />

verlängere für viele Arbeitnehmer nur die Arbeitslosigkeit vor der Rente und führe somit faktisch<br />

zu einer Rentenkürzung. Der „Ausweg” lautet: Es müsse Beschäftigungsquoten für Arbeitnehmer<br />

über 60 geben ... und auf wessen Kosten geht das? Richtig, auf Kosten der Arbeitnehmer<br />

unter 60, die dann statt dessen arbeitslos werden. Dadurch wird nicht ein einziger<br />

Arbeitsplatz, sondern nur eine Existenzberechtigung für Verwaltungsbeamte geschaffen.<br />

70


Alternative Entlohnungsmodelle<br />

In einem Interview habe ich vor einer Weile mal die Idee gehört, man solle Arbeit nach ihrer<br />

Belastung bezahlen – ein völlig marktfremdes Konzept. Arbeit wird danach bezahlt, wie dringend<br />

sie erledigt werden muss und wie schwierig es ist, jemanden zu finden, der sie vernünftig<br />

ausführt. Daran wird sich nichts ändern, das ist marktwirtschaftlich sinnvoll. Solange<br />

die ungeheure Nachfrage nach technischen und betriebswirtschaftlichen Berufen anhält und<br />

damit auch gewisse Exzesse der Entlohnung, wird sich daran nichts ändern.<br />

Zeitarbeit beschimpfen<br />

Der ganze Bereich der Zeitarbeit hat mal <strong>als</strong> „Lückenfüller” angefangen: Auftragsspitzen abfangen,<br />

Fehlzeiten überbrücken, besondere Qualifikationen für eine Weile zur Verfügung<br />

stellen. Heute steht allerdings die Überwindung des deutschen Arbeits- und Tarifrechts im<br />

Vordergrund, weshalb die Kritik nicht müde wird, auf die Zeitarbeit einzudreschen. Zeitarbeit<br />

ist jedoch absolut systemkonform: Sie spart Geld, macht flexibel, erhöht die Produktivität. So<br />

vernünftig es scheint, Zeitarbeit einzuschränken: Es ist die f<strong>als</strong>che Baustelle. Eigentlicher<br />

Wachstumstreiber für Zeitarbeit ist das schlechte Zusammenpassen von globalisierten Erfordernissen<br />

mit den deutschen Arbeitsschutzgesetzen. Aber anstatt sich Gedanken zu machen<br />

über den Sinn und Zweck der Globalisierung, hackt man auf der Zeitarbeit herum – und den<br />

deutschen Arbeitsschutzgesetzen.<br />

Bio-Handel<br />

Im Grunde ist auch der ganze Bio-Handel eine Insel der Vernunft – wobei ich sehr dankbar<br />

bin, dass es sie gibt. <strong>Die</strong>se Insel ist mittlerweile ziemlich groß und maßgeblich an einem Bewusstseinswandel<br />

beteiligt. Aber der Bio-Handel kämpft mit genau der Wettbewerbsverzerrung,<br />

die sich in einem feindlichen Umfeld von Aldi, Lidl & Co. zwangsläufig ergibt.<br />

Progressive Verbrauchstarife<br />

Es wird diskutiert, ob Verbrauchstarife z. B. für Strom, Gas, Wasser so gestaltet werden,<br />

dass der Preis pro Einheit mit steigendem Verbrauch ebenfalls steigt, wie die Einkommensteuer.<br />

Derzeit ist es meist umgekehrt: Wer mehr verbraucht, wird mit sinkenden Preisen „belohnt”.<br />

Betriebswirtschaftlich gesehen ist das sinnvoll: Solange der Umsatz höher ist <strong>als</strong> die<br />

direkten Kosten, kann der Unternehmer damit Fixkosten decken, und mit höherem Umsatz<br />

eben mehr <strong>als</strong> mit niedrigerem. Je mehr ein Kunde auf einmal abnimmt, desto niedriger sind<br />

die sogenannten Transaktionskosten (Verhandlung, Verkauf, Verpackung, Versand), da ist<br />

dann Raum für Rabatte. Wir werden diese betriebswirtschaftliche Logik nicht umkehren können,<br />

und die Idee der progressiven Verbrauchstarife wird nur für solche Güter funktionieren,<br />

die wir von einem einzigen Lieferanten beziehen. Für Bananen, Autos, Benzin und Schokolade<br />

wird es schwierig, wenn wir nicht das „gute, alte System” der Bezugsscheine wieder einführen<br />

wollen. <strong>Die</strong>sen verwaltungstechnischen Aufwand möchte ich dann mal gerne sehen.<br />

Hinter dieser Idee steckt doch hauptsächlich die moralische Straf-Keule.<br />

Dopingfreier Sport<br />

Doping ist die konsequente Anwendung der Produktivitätssteigerung und des Marktgedankens<br />

auf den Sport. Warum soll man in einer unfairen Wettbewerbsgesellschaft, die die Umwelt<br />

ruiniert, nicht auch seine Leistung mit unfairen Mitteln steigern, die den Körper ruinieren?<br />

<strong>Die</strong> Forderung nach dopingfreiem Leistungssport ist ehrenhaft, in einer von Werbung<br />

durchseuchten Wettbewerbsgesellschaft aber durch und durch systemfremd und naiv. Wer<br />

wirklich an dopingfreiem Sport interessiert ist, sollte sich Gedanken über den Zusammenhang<br />

zwischen Doping und hohen Werbeeinnahmen sowie entgrenzten Sportlereinkommen<br />

machen.<br />

Werbung mit „ganz normalen Menschen” anstelle künstlicher Klone<br />

<strong>Die</strong> Kosmetikfirma Dove bewarb in einer vielbeachteten Kampagne ihre Produkte mit „ganz<br />

normalen Frauen” anstelle von genormten Models. Das wurde allenthalben <strong>als</strong> „sympathisch”<br />

gewertet, <strong>als</strong> Erfolg der Vernunft. Es ist das genaue Gegenteil, nämlich die aktive Ablenkung<br />

vom eigentlichen Problem, mit dem angenehmen Nebeneffekt der Werbewirksamkeit. Wer-<br />

71


ung muss mit unverbrauchter Schönheit werben, weil nur das den nötigen Leidensdruck<br />

erzeugt und alles entwertet, was „Gebrauchsspuren” trägt.<br />

Downcycling<br />

Bereits die Verringerung von Umweltschäden wird <strong>als</strong> Erfolg verbucht. Alte LKW-Planen zu<br />

Handtaschen oder PET-Flaschen zu Fleecejacken. Recyclingquoten von 70, 80, 90 % bedeuten<br />

jedoch 30, 20, 10 % Restmüll, und spätestens nach einer weiteren Gebrauchsrunde werden<br />

die Dinge dann doch zu Müll – Problemverschiebung in die Zukunft.<br />

Mülltrennung<br />

Ein hilfloser Reparaturversuch einer überbordenden Materi<strong>als</strong>chlacht. <strong>Die</strong> Weltproduktion von<br />

Kunststoffen beträgt heute 270 Millionen Tonnen pro Jahr, davon werden in Europa 46 %<br />

recycled, der Rest angeblich deponiert (www.plasticseurope.de). Selbst wenn nur 1 % in die<br />

Umwelt gerät, so sind das 2,7 Millionen Tonnen pro Jahr. Viele Menschen fühlen sich von<br />

Mülltrennung inhaltlich überfordert oder gegängelt, und gerade in Mietshäusern kann man<br />

gut sehen, wie sich das in den Mülltonnen auswirkt.<br />

Grüne Informationstechnologie etc.<br />

Grüne Wachstumsbranchen – ohne Deckelung des Ressourcenverbrauchs werden solche<br />

Ansätze nur Ressourcen freimachen für die Verschwendung an anderer Stelle.<br />

Sanfter Urlaub<br />

Auf den Kanaren vielleicht? Solche Angebote gibt es. Und nicht geflogen? Ökologisch korrekt<br />

mit dem Ruderboot hingepaddelt? Ob das der Urlaub der Zukunft wird ...<br />

4.2 Green New Deal<br />

Unter einem Green New Deal versteht man (in Anlehnung an das Konjunkturprogramm der<br />

US-Regierung von Franklin D. Roosevelt in den 1930er Jahren) ein konzentriertes sozialökologisches<br />

Investitionsprogramm. Mit Hilfe von „grünen Investitionen” und flankierenden<br />

Maßnahmen sollen mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden:<br />

• Reduzierung der CO2-Emissionen („max. 2 °C Klimaerwärmung”)<br />

• Reduzierung des Verbrauchs sonstiger Rohstoffe<br />

• Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft durch innovative Entwicklungen<br />

(„Effizienzrevolution”)<br />

• Verbesserte soziale Gerechtigkeit durch steuerliche Umverteilung, steuerliche Entlastung<br />

des Faktors Arbeit und somit Schaffung neuer Arbeitsplätze<br />

Praktisch dabei ist: Wachstum und Profit müssen nicht in Frage gestellt, sondern „nur umgelenkt”<br />

werden. An konkreten Maßnahmen werden vorgeschlagen:<br />

• Ausbau erneuerbarer Energien, insbesondere Solar- und Windenergie, inklusive der<br />

entsprechenden Netztechnik<br />

• Investitionen in Klimaschutz, insbesondere die energetische Gebäudesanierung, aber<br />

auch Reduzierung der Prozessenergien in der Wirtschaft<br />

• Reduzierung der Abhängigkeit von Erdöl <strong>als</strong> Ausgangsprodukt insbesondere in der<br />

chemischen Industrie<br />

• Förderung von Forschung und Entwicklung umweltschonender Technologien<br />

• Ökologische Steuerreform, die die Arbeit steuerlich entlastet und Ressourcenverbrauch<br />

steuerlich belastet, Abbau direkter und indirekter klimaschädlicher Subventionen<br />

wie beispielsweise Steuerbefreiungen im Flugverkehr<br />

• Steuererhöhungen zur Gegenfinanzierung, insbesondere höherer Einkommen, Vermögen,<br />

Erbschaften<br />

<strong>Die</strong> Sache klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Es könnte so einfach sein, oder?<br />

72


Der Green New Deal steht eigentlich stellvertretend für alle Ansätze, sich anhand von Hochtechnologie<br />

am eigenen Schopf aus dem Umweltsumpf zu ziehen und dabei gleichzeitig viele<br />

Arbeitsplätze zu schaffen. Ich glaube nicht daran, dass es eine Lösung ist. Auch ein Green<br />

New Deal verdünnt die Konzentration, ohne das Gift aus dem System hinauszubekommen:<br />

• Im Kern ist das eine Unterscheidung zwischen „guter” und „schlechter” Wirtschaft,<br />

auch Rosinenpicken genannt: Bioläden und Wärmedämmung sind gut, Rüstungsindustrie<br />

und Zeitarbeit sind schlecht. Der Versuch, ideologische Festlegungen dieser<br />

Art in Wirtschaftspolitik umzusetzen, führt zu intellektuellen Verrenkungen, ganz unangenehmen<br />

Appellen an die Moral des Einzelnen und unglaublich komplizierten (und<br />

umstrittenen) Gesetzen und Verordnungen, die von einer Regierung erlassen und von<br />

der nächsten wieder kassiert werden. Für den Ressourcenverbrauch ist eine solche<br />

Unterscheidung unerheblich, und politisch gesehen ist sie autoritär. Durch die Festlegung<br />

auf konkrete Maßnahmen sollen alle auf einen bestimmten Weg verpflichtet<br />

werden, wo die Aufgabe der Gemeinschaft lediglich wäre, das Ziel zu definieren. Wollen<br />

denn alle so viel erneuerbare Energien? Vielleicht wollen viel mehr Menschen ein<br />

einfaches Leben mit weniger elektrischem Strom führen? Nach solchen Alternativen<br />

wird ja gar nicht gefragt! Der Green New Deal entspricht dem alten technokratischen<br />

Bild einer staatlichen Steuerung. Er bedeutet Macht. Er nährt die Eitelkeit. Erneut<br />

wird vorgegeben, was gebraucht wird, von jenen, die es besser wissen. <strong>Die</strong> Immobilienkrise<br />

in den USA wurde auch durch ein Bündel staatlicher Fördermaßnahmen ausgelöst,<br />

eine volkswirtschaftliche Verführung zu mehr Eigenheim.<br />

• <strong>Die</strong> ganze Idee basiert nach wie vor auf den Konzepten von Investitionen und damit<br />

Profit, Wachstum und damit Verbrauch, Wettbewerbsfähigkeit und damit Produktivitätssteigerung.<br />

Letztlich ist es eine „Halbinsel der Vernunft” innerhalb des gleichen<br />

unvernünftigen Systems, die moralinsauren Appelle bezüglich der Beschränkung des<br />

Konsums bleiben, während die Angebotswelt immer noch recht bunt ist.<br />

• Der Green New Deal ist geplant <strong>als</strong> eine „Sofortmaßnahme”, um Zeit zu gewinnen,<br />

damit noch bessere Ideen entwickelt werden können (Ralf Fücks, Heinrich-Böll-<br />

Stiftung, 25.10.2011 auf einer FÖS-Tagung). Es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass<br />

diese Zeit nie gewonnen wird, weil weitere Krisen sich wiederum in den Vordergrund<br />

drängen.<br />

• Der Ressourcen- und Energieverbrauch auch einer ökologisch gebremsten Wachstumswirtschaft<br />

wird immer noch hoch sein. Wie viele Solarzellen und Windräder will<br />

man denn bauen, um den heutigen Lebensstandard, Forschungsstandard, Industriestandard<br />

zu halten? Und woraus? Auf welchen Flächen? Wo sind denn die Berge von<br />

zunehmend schwer erhältlichen Substanzen, die man für Hochleistungsbatterien benötigt?<br />

Auf diese ökologischen Seiteneffekte weist bereits Binswanger hin: „<strong>Die</strong> Sonneneinstrahlung<br />

ist auf biologische – und nicht auf technische – Nutzung programmiert.”<br />

(Binswanger 2009 S. 172)<br />

• Es ist wahrscheinlich, dass von der Politik formulierte Reduktionsziele im Laufe des<br />

Prozesses von der Wirtschaftsseite wieder unter Beschuss genommen werden. „Wir<br />

wissen genau, dass staatliche Umweltpolitik schwach bleibt, oft sogar nur symbolisch,<br />

und sie sich vor allem selten mit mächtigen Interessen anlegt. An Wachstum und<br />

Wettbewerbsfähigkeit orientierte Wirtschaftpolitik ist im Zweifelsfall allemal stärker.”<br />

(Ulrich Brand, Impulsreferat am 25.10.2011 auf einer FÖS-Tagung).<br />

• Eine Solarzelle wird nicht vom Schlosser gebaut, das Elektroauto nicht vom Elektriker,<br />

intelligente Materialien nicht vom Schreiner. <strong>Die</strong> ganze Idee, sich anhand von Hochtechnologie<br />

am eigenen Schopf aus dem Umweltsumpf zu ziehen und dabei gleichzeitig<br />

viele Arbeitsplätze zu schaffen, krankt an der Tatsache, dass für Hochtechnologie<br />

auch eine hochtechnologische Infrastruktur notwendig ist, und die kostet Geld, Material<br />

und Energie. Viel Geld, Material und Energie. Hierfür gilt alles, was weiter oben<br />

unter Sackgasse Produktivität > Teuer > Aufwendige Infrastruktur aufgeführt ist.<br />

73


Forschung und Entwicklung, Marketing, Technologietransfer, aufwendige Fertigungssteuerung<br />

und Vertriebssteuerung sind nicht Teil der Lösung, sie sind Teil des Problems.<br />

Kurz: Wer Elektroautos in dieser Qualität, in dieser Menge und zu diesem Preis haben will,<br />

der wird auch den ganzen Rest an Umweltschädigung, Werbung, Hässlichkeit, Komplexität<br />

usw. nehmen müssen. Ersetzen Sie „Elektroautos” durch jedes andere Produkt der modernen<br />

Industrie, Medizin oder Digitaltechnik: Der Satz bleibt immer richtig. Es funktioniert nur so.<br />

Alles andere funktioniert von vornherein nicht oder wird so teuer, dass man es bleiben lässt.<br />

Spitzenbildung, Spitzenforschung, Spitzentechnologie ist immer die Spitze eines riesigen Eisbergs<br />

einer hochproduktiven Mittelmäßigkeit, die der Spitze zuarbeitet und die Ressourcen in<br />

einer atemberaubenden Geschwindigkeit fressen wird. Sonst kann die Mitte nicht so produktiv<br />

sein – das aber ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns eine solche Spitze leisten können.<br />

Eine Spitze ohne Basis gibt es nicht.<br />

„Tatsächliche, wirklich klimaschutzrelevante CO2-Reduktionen hat es in den letzten 30 Jahren<br />

nur einmal gegeben: nicht ausgelöst dadurch, dass der Anteil erneuerbarer Energien im Energiemix<br />

erhöht wurde; nicht ausgelöst durch neue Emissionshandelssysteme; sondern<br />

ausgelöst durch den Zusammenbruch der wachstumsfixierten, staatskapitalistischen Wirtschaften<br />

des Ostblocks.” (analyse & kritik 20.02.2009)<br />

4.3 Großtechnische Lösungen<br />

Einige suchen ihr Heil in Großprojekten. Mit modernsten Technologien von gigantischen<br />

Ausmaßen und/oder gigantischer Komplexität sollen die umweltschädlichen Aspekte der Energiegewinnung<br />

überwunden werden. Das sind jedoch alles keine Lösungen, sondern eher<br />

verzweifelte Versuche, die notwendigen Eingeständnisse hinauszuzögern.<br />

• Es kann nicht darum gehen, für einen Zeithorizont von nur einigen Hundert oder<br />

Tausend Jahren eine Lösung zu finden. Das reicht nicht.<br />

• Es kann auch nicht darum gehen, durch eine Großtechnologie die momentanen industriellen<br />

Verhältnisse zu zementieren oder sogar noch zu steigern.<br />

• Es gelten auch hier praktisch alle Kritikpunkte, die für den Green New Deal gelten.<br />

Wir haben viel mehr <strong>als</strong> nur ein Energieproblem, und wir brauchen keine Ablenkungsmanöver.<br />

Alle diese Projekte werden staatlicherseits mit Milliardenbeträgen gefördert. Kleine, dezentrale,<br />

flexible erneuerbare Energien sind eine viel bessere Lösung, jenseits der Großmanns-Sucht.<br />

Hier eine kurze Beschreibung einiger derzeit aktueller Projekte:<br />

4.3.1 Desertec<br />

www.desertec.org<br />

Ein Projekt zur Stromerzeugung aus Sonnen- und Windenergie. Dabei sollen riesige Windkraftanlagen-Felder,<br />

Sonnenwärmekraftwerke und Solarzellen-Felder in von der Sonne begünstigten<br />

Ecken der Welt errichtet werden, die idealerweise auch noch dünn oder gar nicht<br />

besiedelt sind. Für Sonnenenergie eignen sich Wüsten wie die Sahara gut, für Windenergie<br />

sind Marokko und Gegenden am Roten Meer im Gespräch. Neben der Versorgung der Erzeuger-Regionen<br />

sollen auch erhebliche Stromanteile nach Europa geleitet werden, was der eigentliche<br />

Hintergrund des Projektes ist. Der Finanzierungsbedarf wird auf mehrere 100 Milliarden<br />

EUR geschätzt. An den Vorarbeiten zum Projekt sind viele namhafte Energieversorger<br />

beteiligt, das Projekt genießt eine vergleichsweise breite Unterstützung.<br />

<strong>Die</strong>ses Projekt hat immerhin den Charme, tatsächlich eine nicht versiegende Energiequelle zu<br />

nutzen, nämlich die Sonne.<br />

74


4.3.2 Kernfusion<br />

<strong>Die</strong> Kernfusion ist sozusagen das Gegenstück zur aktuellen Kernenergie: Statt Spaltung eines<br />

Atomkerns sollen zwei Atomkerne zu einem „fusioniert”, <strong>als</strong>o verschmolzen werden. <strong>Die</strong> dabei<br />

freiwerdende Energie ist bezogen auf die Ausgangsmaterialien erheblich höher <strong>als</strong> bei der<br />

Kernspaltung, und der wichtigste Punkt ist: Es ist keine Kettenreaktion, die außer Kontrolle<br />

geraten kann. Eher ist das Gegenteil der Fall: Man schafft es nur mit Mühe, die Substanzen<br />

zur Reaktion zu bringen und zu halten. Es ist ein bisschen so, <strong>als</strong> wolle man mit den hohlen<br />

Händen Luft verflüssigen.<br />

Als Ausgangsmaterialien sollen schwere Isotope des Wasserstoffs dienen, sozusagen die<br />

„Großen Brüder” des normalen Wasserstoffs. Radioaktivität ist auch hier ein Thema, allerdings<br />

in geringem Umfang, da „nur” innere Bauteile des Reaktorgebäudes durch den Neutronenbeschuss<br />

radioaktiv werden. <strong>Die</strong> Ausgangsstoffe und auch die Endprodukte sind entweder<br />

nicht radioaktiv oder vergleichweise leicht zu beherrschen.<br />

<strong>Die</strong> technischen Schwierigkeiten sind immens. Ein alter Witz besagt, dass seit Beginn der<br />

Forschungen vor 40 Jahren kontinuierlich behauptet wird, die Kernfusion stehe „spätestens<br />

in 50 Jahren zur Verfügung”. <strong>Die</strong>se „ewigen 50 Jahre” werden auch spöttisch <strong>als</strong> „Fusionskonstante”<br />

bezeichnet. Und selbst wenn es gelänge, alle Schwierigkeiten zu überwinden,<br />

würde die Perspektive doch wieder nur einige Tausend Jahre betragen, dann wäre nämlich<br />

einer der Ausgangsstoffe alle. Aber bis dahin hätten ja die klugen Ingenieure wieder eine<br />

andere Idee ...<br />

4.3.3 CCS<br />

CCS steht für „CO2-Abscheidung und -Speicherung” (engl. Carbon Dioxide Capture and Storage,<br />

kurz CCS). Das ist ein klassisches „Unter-den-Teppich-kehren”-Projekt. Da die<br />

Verbrennung fossiler Brennstoffe wie Öl, Kohle und Gas viel CO2 produziert und CO2 der wesentlich<br />

verantwortliche Stoff der Klimaerwärmung ist (Treibhausgas), soll das CO2 „einfach”<br />

wie Abfall behandelt und deponiert werden, anstatt in die Atmosphäre zu gelangen. Als Deponien<br />

stellt man sich poröse unterirdische Gesteinsschichten oder die Tiefsee vor.<br />

<strong>Die</strong> dazu nötigen Techniken sind fast allesamt unerforscht, es gibt viele kritische Ungewissheiten.<br />

CCS ändert nichts an der Tatsache, dass weiterhin fossile Brennstoffe gesucht und<br />

gefördert werden müssen, mit all den großen und kleinen Umweltkatastrophen der Suche<br />

und Förderung. Man ist zudem darauf angewiesen, dass das CO2 unendlich lange in seiner<br />

Deponie bleibt – das Vorhersagen von Zukunft ist aber erfahrungsgemäß schwierig.<br />

4.4 Cradle to cradle<br />

4.4.1 Das Konzept<br />

Das „Cradle to cradle”-Konzept stammt von Michael Braungart. Er ist Chemiker, Designer<br />

und Umweltberater – und ein höchst effektiver Vermarkter seiner eigenen Person<br />

(www.braungart.com). <strong>Die</strong> Wirksamkeit seines Konzeptes hat er in diversen Industrieprojekten<br />

zu demonstrieren versucht, ein bekannteres davon sind die kompostierbaren Sitzbezüge<br />

im neuen Airbus A380, was allerdings den Flieger insgesamt noch nicht „cradle to cradle”<br />

macht ... Seine Umtriebigkeit, seine Konsumfreundlichkeit und die scheinbare Inkonsequenz<br />

seiner Projekte machen ihn der Ökobewegung höchst suspekt. Aber gemäß dem alten<br />

Grundsatz „<strong>Die</strong> Qualität eines Argumentes hängt nicht davon ab, wer es verwendet” verdient<br />

das „Cradle to cradle”-Konzept eine vorurteilsfreie Betrachtung.<br />

„Cradle to cradle” bedeutet „Von der Wiege zur Wiege” und damit die Abkehr des alten Produktgedankens<br />

„Von der Wiege zur Bahre”. Ein materielles Produkt soll sich – wie alles Natürliche<br />

auf der Welt – nahtlos in einen Stoffkreislauf einfügen und nicht am Ende <strong>als</strong> Müll<br />

75


enden. Braungarts Königsbegriff ist „Ökoeffektivität”, er grenzt ihn scharf von „Ökoeffizienz”<br />

ab. Letzterer bezeichnet die heute allgemein übliche Tendenz, mit viel Mühe technische Prozesse<br />

so zu gestalten, dass die Natur möglichst wenig geschädigt wird – für Braungart ein<br />

verfehlter Ansatz, weil er auf einem „schlechten Gewissen” beruht. Auch ein solches Produkt<br />

kann man immer noch nicht guten Gewissens genießen, denn die Umweltschädigung ist ja<br />

immer noch da, wenn auch geringer. Ökoeffektivität hingegen bedeutet für ihn, dass das<br />

Produkt nicht nur umweltneutral, sondern nützlich ist: Je mehr davon verbraucht wird, desto<br />

besser für die Natur. Braungart dreht <strong>als</strong>o den Spieß völlig um, sein Standard-Beispiel ist die<br />

Ameise: „Menschen sind die einzigen Lebewesen, die Müll machen. Wenn wir so intelligent<br />

wären wie die Ameisen, dann hätten wir kein Überbevölkerungsproblem. <strong>Die</strong> Biomasse der<br />

Ameisen ist etwa vier Mal größer <strong>als</strong> die der Menschen. Der Kalorienverbrauch aller Ameisen<br />

entspricht dem von etwa dreißig Milliarden Menschen.” (Interview in der FAZ vom<br />

20.01.2009)<br />

<strong>Die</strong> Loslösung vom schlechten Gewissen ist ein ganz zentraler Punkt in seinem Konzept: „Das<br />

Problem ist, dass in Deutschland das Umweltthema moralisch aufgeladen und Schuldmanagement<br />

betrieben wird, vor allem von den Grünen und Umweltorganisationen, deren Mitglieder<br />

sich <strong>als</strong> Gutmenschen stilisieren. <strong>Die</strong> Deutschen wachen auf und denken sich: Ich bin zu<br />

hundert Prozent Schwein, und mein Ziel ist es, nur zu neunzig Prozent Schwein zu sein. Besser<br />

wäre, mich gäbe es nicht.” (Interview in der FAZ vom 20.01.2009) Es geht <strong>als</strong>o um die<br />

Abkehr von unproduktiven moralischen Appellen.<br />

„Cradle to cradle”-Produkte werden in zwei geschlossenen Kreisläufen so intelligent hergestellt,<br />

dass sie<br />

• entweder schadstofffrei in die Natur zurückkehren<br />

• oder <strong>als</strong> Rohstoff neu genutzt werden können (100 %-Recycling)<br />

In Braungarts Worten: „Materialien von Produkten, die für biologische Kreisläufe optimiert<br />

sind, dienen <strong>als</strong> biologische Nährstoffe, und können bedenkenlos in die Umwelt gelangen.<br />

Materialien von Produkten, die für geschlossene technische Kreisläufe konzipiert sind, dienen<br />

<strong>als</strong> technische Nährstoffe (z.B. Metalle und verschiedene Polymere). <strong>Die</strong>se Materialien sollen<br />

nicht in biologische Kreisläufe geraten.” (www.braungart.com > Cradle to Cradle-Vision)<br />

Recycling ist für Braungart nur <strong>als</strong> „Upcycling” zulässig: Es darf keine Verschlechterung der<br />

Ausgangsstoffe stattfinden. Das heute übliche „Downcycling” (Parkbänke aus alten Getränkeflaschen<br />

und ähnliches) ist nicht akzeptabel, weil Downcycling bestenfalls über einige Stufen<br />

läuft und dann doch in Müll endet.<br />

<strong>Die</strong> Gewinnung von weiteren nichterneuerbaren Rohstoffen wird auf der Webseite nicht explizit<br />

erwähnt, vermutlich stören sie nicht weiter in diesem Konzept, weil sie ja a) unter diesen<br />

Bedingungen gewonnen werden müssen und b) entweder abbaubar oder vollständig<br />

recyclebar sind. Möglicherweise nimmt Braungart in seinen Büchern dazu Stellung.<br />

Braungart möchte (wie viele andere Autoren auch) den Nutzen anstelle des Besitzes in den<br />

Vordergrund stellen: Man möchte eigentlich nur fernsehen und nicht einen Kasten voller<br />

Giftmüll kaufen und später entsorgen müssen. Das führt zur Produktverantwortung des Herstellers<br />

über die gesamte Produktlebensdauer und zu Mietmodellen.<br />

4.4.2 Kritik<br />

Ich will mich hier nicht in aller Tiefe mit dem „Cradle to cradle”-Konzept befassen. Das Problem<br />

mit den Sitzbezügen im Airbus A380 illustriert bereits ganz gut das Dilemma: Wird man<br />

alle diese schönen Wohltaten der Industrie auf diese Weise herstellen können? Den A380 mit<br />

Bio-<strong>Die</strong>sel betanken und nach Ende der Lebensdauer komplett demontieren und wiederverwenden<br />

oder kompostieren können? Meiner Ansicht nach sprechen folgende Punkte dagegen:<br />

76


• Wir besitzen leider nicht die Ökoeffektivität der Ameisen und sind nicht in der Lage,<br />

iPhones und Flugzeuge mit Zuckerkrümeln oder püriertem Grünfutter zu betreiben.<br />

Bislang sieht es nicht so aus, <strong>als</strong> könnte man einen Gelatine-Akku oder eine Holz-<br />

Turbine bauen, d. h. für moderne Technologie benötigt man Materialien hoher Festigkeit<br />

und Leichtigkeit, Elektronik, elektrische Energie und (vor allem in Turbinen) die<br />

unerreichte Energiedichte von Kohlenwasserstoffen. Moderne Technologie ist zu<br />

schnell, zu kraftvoll, zu komplex. <strong>Die</strong> belebte Natur hat solche Materialien nicht im<br />

Programm, d. h. es bleibt bei den meisten modernen Produkten nur Upcycling <strong>als</strong> Option,<br />

nicht die Kompostierung.<br />

• Upcycling für moderne Technologie ist sehr aufwendig, insbesondere wenn viele Substanzen<br />

auf engem Raum miteinander vermischt sind, wie bei Elektronik. Grundsätzlich<br />

ist es denkbar. Der Punkt ist eher: Es ist schlicht zu aufwendig. Es wird HiTech-<br />

Produkte so teuer machen, dass man die Lust verliert, sie zu nutzen. Es benötigt Arbeitszeit<br />

und vor allem Energie, und gerade letztere wird mit der Energiewende allem<br />

Erwarten nach nicht billiger, sondern teurer.<br />

Anmerkung: Einwände von Kritikern, die Entmischung von Substanzen beim „Upcycling”<br />

widerspreche dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, halte ich für nicht<br />

stichhaltig, denn die Erde ist kein geschlossenes Energiesystem. Wir erhalten ständig<br />

Energie von der Sonne, die wir durchaus dazu nutzen könnten, vermischte Substanzen<br />

wieder fein säuberlich zu trennen. <strong>Die</strong> Erde ist ja auch nicht trennscharf: Silizium,<br />

Metalle und Erdöl liegen nicht in Reinstform herum, sondern werden <strong>als</strong> Sand, Erz<br />

oder schmutzige Brühe gefördert und dann zu fast reinen Substanzen raffiniert.<br />

• Viel moderne Technologie basiert mittlerweile auf Herstellungsverfahren, die in Teilen<br />

der Natur abgeschaut sind, und genau dieses „in Teilen” ist das Problem: Es sind „intelligente”<br />

Verbundwerkstoffe aus verschiedensten Materialien, die ineinander verschmolzen,<br />

verklebt, verpresst sind und sich nur mit viel Mühe wieder auseinanderfieseln<br />

lassen. <strong>Die</strong> Umweltbewegung ist daran nicht unschuldig: Der Wunsch nach „Ökoeffizienz”<br />

führte zur Suche nach leichteren und gleichzeitig stabileren Materialien,<br />

meistens mit dem Ziel, Gewicht und damit Treibstoff zu sparen. Während sich <strong>als</strong>o<br />

eine Ju52 oder ein 2CV noch mit einem Satz Schraubenschlüssel vollständig demontieren<br />

lassen, ist das mit einem A380 oder einem modernen Benz nicht mehr der Fall.<br />

Auf solche Produkte muss man dann entweder verzichten – oder man baut wieder<br />

nach altem Schema, denn Bio-<strong>Die</strong>sel darf man dann ja wieder zum Wohle der Natur<br />

verschwenden ...<br />

• Bei allen nichterneuerbaren Rohstoffen besteht eher das Problem der „übergroßen<br />

Verdünnung” <strong>als</strong> der Nicht-Recyclingfähigkeit: Metalle korrodieren und bröseln in die<br />

Gegend, Reifen haben Abrieb, der sich fein verteilt, beim Erhitzen gehen viele Substanzen<br />

zumindest teilweise in die Atmosphäre über und schlagen sich dann irgendwo<br />

nieder usw. Für Schadstoffe kennen wir dieses Problem schon heute: Feinverteilter<br />

Giftstaub ist ein viel größeres Problem <strong>als</strong> ein Klumpen Gift. Bildlich gesprochen: Ein<br />

hauchdünn über die Erde verteilter Film von Rohstoffen lässt sich nicht wirtschaftlich<br />

recyclen. Und solange wir keine Ameisen finden, die wir dressieren, solche Materialien<br />

zu fressen und in ihrem Ameisenhaufen solange anzureichern, bis wir den ausheben<br />

können, wird sich daran wohl nichts ändern.<br />

Wir haben <strong>als</strong>o weiterhin ein Energie- und ein Rohstoffproblem:<br />

• Wenn man einen A380 mit Bio-<strong>Die</strong>sel betanken möchte, braucht man viel Acker dafür.<br />

Das wird dann wohl eine recht exklusive Geschichte. Auch das Elektroauto frisst<br />

auf diese Weise Fläche. Es erscheint mir keine realistische (und auch unattraktive)<br />

Vorstellung, die Erdoberfläche für solche Zwecke mit Windrädern und Solarzellen zu<br />

pflastern. Ich bin überzeugt, dass wir die Prioritäten anders setzen werden.<br />

• Um die Kompostierbarkeit fast aller Produkte der Technischen, Digitalen und Kunststoff-Revolution<br />

ist es schlecht bestellt. Außer den Konzept-Papieren sehe ich derzeit<br />

77


nicht viel. Beim Thema Kunststoff erleben wir möglicherweise noch erfreuliche Überraschungen,<br />

doch derzeit habe ich Zweifel, ob kompostierbare Kunststoffe auch die<br />

Anforderungen an Haltbarkeit erfüllen werden, die wir an höherwertige Produkte <strong>als</strong><br />

Jogurtbecher stellen. Und für das Thema Recycling wird man die ganze Sache doch<br />

arg reduzieren müssen, wenn man der Mengen Herr werden möchte.<br />

Und: Der Ansatz „Cradle to cradle für hochinnovative Technikprodukte” löst nicht eines der<br />

unter dem Stichwort Sackgasse Produktivität genannten Probleme.<br />

4.4.3 Verdienste<br />

„Cradle to cradle” ist in jedem Falle eine sehr wichtige Bereicherung der Diskussion. <strong>Die</strong> Verringerung<br />

der Umweltschäden durch Ökoeffizienz führt uns in der Tat überhaupt nicht weiter,<br />

sondern bindet im Gegenteil Kraft und Energie. Das „Null-Schaden”-Konzept ist ein wirklich<br />

zukunftsorientierter Ansatz.<br />

Den Punkt mit dem schlechten Gewissen halte ich für den interessantesten in seinem Konzept,<br />

denn das ist tatsächlich so: Es macht keine Freude, Dinge mit schlechtem Gewissen zu<br />

tun. Es ist der Feind jeder Zufriedenheit. Man will kein Problem mit heimischen oder auch<br />

exotischen Genüssen haben, sondern sie guten Gewissens genießen können. Was auf dem<br />

Markt zu haben ist, muss „moralisch einwandfrei” sein. Es kann doch nicht sein, dass man<br />

immer wieder vor dem Regal steht und überlegt, ob man das guten Gewissens kaufen kann<br />

oder nicht, allein gelassen ohne jede brauchbare Information zum Produkt. Es kann teuer<br />

sein, es kann schwierig zu bekommen sein, alles kein Problem. Aber wir haben eine Marktwirtschaft,<br />

und in einer anständigen (sic!) Marktwirtschaft sollte allein der Preis darüber entscheiden,<br />

ob ich etwas kaufe oder nicht. Es geht nicht um „Je schädlicher, desto teurer”,<br />

sondern nur um „Nicht schädlich”.<br />

<strong>Die</strong> Ironie der Geschichte ist: Wir haben das alles schon mal gehabt – in der „guten, alten<br />

Zeit”. <strong>Die</strong> Materialien waren weniger haltbar, wurden gut gepflegt und am Ende ihrer<br />

Gebrauchsdauer demontiert oder konnten verrotten. Gerade Kunststoffe, synthetisches<br />

Gummi, synthetische Öle und Elektronik haben das Müllproblem erst richtig geschaffen.<br />

78


Kapitel 5: Fazit<br />

5.1 Stand der Dinge<br />

5.1.1 Zusammenfassung<br />

Wie sind wir hier gelandet?<br />

• Durch mehrere „Technische Revolutionen“ vermochte der Mensch seine natürlichen<br />

Grenzen der Muskelkraft und der Denkkraft zu überwinden und an Maschinen zu übertragen.<br />

Kunststoffe ermöglichen eine Überwindung der Beschränkungen von traditionellen<br />

Materialien. Dadurch wurde im Laufe der Zeit zwar eine gewaltige Steigerung<br />

des materiellen Lebensstandards erreicht, aber auch ein ebenso gewaltiges Ressourcen-<br />

und Müllproblem geschaffen.<br />

• Wir besitzen ein kapitalistisches Wirtschaftssystem und ein demokratisches Gesellschaftssystem.<br />

• Seit mehreren hundert Jahren ist der Anstieg der Bevölkerung und damit die Verfügung<br />

über Arbeitskräfte eine wesentliche Voraussetzung dafür gewesen, dass die<br />

Wirtschaft überhaupt so rasant wachsen konnte. Eine wesentliche ideologische Rolle<br />

dabei spielt die Katholische Kirche mit ihrem Dogma „Seid fruchtbar und mehret<br />

Euch“.<br />

• Unser Geldsystem besitzt eine eingebaute Wachstumsdynamik aufgrund der unbegrenzten<br />

Kreditvergabe durch die Banken (Geldschöpfung). Ein Anwachsen der<br />

Geldmenge erfolgt durch Gewinn und ist gleichzeitig ein Anwachsen der Leistungsverpflichtung<br />

dieser und kommender Generationen.<br />

• Der Mensch besitzt ein hohes persönliches Potential, das sich je nach Umfeld in verschiedene<br />

Richtungen entwickeln kann. Im Alltag lässt er sich durch Moral und gesellschaftlich<br />

akzeptierte Bilder leiten. Für ein Gleichgewicht von persönlichen und<br />

gemeinschaftlichen Interessen benötigt er jedoch unterstützende Strukturen wie Gesetze<br />

und Institutionen. Über seinen Sozi<strong>als</strong>tatus versichert sich der Mensch der Akzeptanz<br />

durch die Gemeinschaft und kann dadurch seine Existenzangst mindern.<br />

Konsum und wirtschaftlicher Erfolg sind ein wesentlicher, aber auch immer wieder zu<br />

erneuernder Teil dieses Sozi<strong>als</strong>tatus. Es findet eine extreme Bevorzugung des materiellen<br />

Lebensstandards gegenüber einem immateriellen Lebensstandard statt, weil<br />

letzterer viel schwieriger in Sozi<strong>als</strong>tatus umzusetzen ist. <strong>Die</strong> permanente Forderung<br />

nach Erneuerung des Sozi<strong>als</strong>tatus führt zu einem Statuswettbewerb. <strong>Die</strong> Marktwirtschaft<br />

verbindet dabei geschickt das individuelle Wachstum des Einzelnen mit dem<br />

Wachstum der Wirtschaft.<br />

• Wirtschaftliches Handeln wird durch ein ganzes Bündel an erleichternden Maßnahmen<br />

geradezu grotesk durch die Gesellschaft gefördert. Über unbegrenzten Gewinn, Haftungsbeschränkung,<br />

Machtkonzentration durch Beteiligung, Subventionen, niedrige<br />

Ressourcenpreise, Patente und die Aufweichung von Grundrechten wird dafür gesorgt,<br />

dass keine Gelegenheit ausgelassen wird und es zu einem galoppierenden wirtschaftlichen<br />

Wettbewerb kommt. Millionenfach wird aktiv nach Produktlücken gesucht,<br />

die man noch füllen könnte. Dafür wendet die Gesellschaft nicht nur erhebliche<br />

finanzielle Mittel auf, sondern geht auch erhebliche Risiken ein. Das Bild des Leistungsträgers<br />

ist dabei übertrieben positiv besetzt und fördert dessen Eitelkeit.<br />

• <strong>Die</strong> Produktivitätssteigerung der Wirtschaft findet ihre Entsprechung im Privaten <strong>als</strong><br />

Steigerung des Lebensstandards, vor allem durch solche Produkte, die die private<br />

Produktivität steigern.<br />

79


• Das Ergebnis: Der Kapitalismus schwächt systematisch Vernunft und Maßhalten, statt<br />

dessen verstärkt er Unvernunft und Wettbewerb, mit dem Ziel eines unverantwortlichen<br />

Wirtschaftswachstums. <strong>Die</strong> Anreize, der Botschaft des freien Marktes zu folgen,<br />

sind so überwältigend, dass nur wenige widerstehen können. <strong>Die</strong> Fokussierung des<br />

Blicks auf spektakuläre Einzelfälle („Gier“) und eine „unheilige Allianz von Kapital und<br />

Staat“ blendet aus, dass dieser Wettbewerb breit in der Bevölkerung angelegt ist.<br />

Über eine immer weitere Entfesselung der Produktivkräfte (Neoliberalismus) wird versucht,<br />

das System dynamisch stabil zu halten, mit dem Ergebnis, dass das Scheitern<br />

immer wahrscheinlicher wird.<br />

Warum geht es so nicht weiter?<br />

• Der gesamtgesellschaftliche Nutzen der Steigerung der Arbeitsproduktivität ist seit<br />

langem negativ, und ihre Folgen bedrohen das soziale Leben des Menschen. Produktivitätsfortschritte<br />

werden aufgefressen durch Systemeffekte und gesellschaftliche<br />

Verluste. <strong>Die</strong> gesamte Idee der Förderung des Unternehmergeistes beruht auf der<br />

Externalisierung interner Kosten, der Übernahme von Risiken durch die Gemeinschaft<br />

und auf der Verfügbarkeit einer geradezu luxuriösen, öffentlich finanzierten Infrastruktur.<br />

• Staatliche Institutionen, die in ihrer Finanzierungsstruktur auf Vollbeschäftigung angewiesen<br />

sind, heizen das Wachstum aufgrund verschiedener Abhängigkeiten weiter<br />

an. Teilweise sind sie sogar selbst einem grenzenlosen Wachstum unterworfen, wie<br />

beispielsweise das Gesundheitssystem.<br />

• Kate Pickett und Richard Wilkinson weisen in einer Studie nach, dass Einkommensungleichheit<br />

in einer Gesellschaft praktisch alle sozialen Probleme verschärft und das<br />

Leben für die unteren wie die oberen Schichten gleichermaßen unerfreulicher macht.<br />

• Den derzeit größten Beitrag zur Produktivitätssteigerung leisten Computer, Internet<br />

und mobile Kommunikation. Sie läuten ständig neue Runden in der Beschleunigung<br />

ein. <strong>Die</strong> diesen Techniken innewohnenden Konflikte sind teilweise prinzipiell nicht lösbar,<br />

sie sind alle praktisch kaum lösbar.<br />

• <strong>Die</strong> beiden wichtigsten Botschaften in Bezug auf das Wirtschaftsleben, die Botschaft<br />

der freien Marktwirtschaft und die Botschaft der Mäßigung, verfolgen gegensätzliche<br />

Ziele. Das Problem ist: <strong>Die</strong> Botschaft der freien Marktwirtschaft ist viel lauter <strong>als</strong> die<br />

der Mäßigung. Und wir verhelfen der Botschaft der freien Marktwirtschaft über viele<br />

übergeordnete Prinzipien Geltung, der Botschaft der Mäßigung jedoch vorwiegend<br />

über nachgelagerte Gesetze und Verordnungen. Das führt zu einem geradezu grotesken<br />

Ungleichgewicht im Wirtschaftsleben zugunsten des hemmungslosen Konsums<br />

und zulasten der Nachhaltigkeit. Es gibt noch eine ganze Reihe anderer „Paare von<br />

widersprüchlichen Botschaften“.<br />

• <strong>Die</strong> politische Energie richtet sich auf Scheinlösungen, die die gröbsten Exzesse zu<br />

mildern oder zu beseitigen suchen, um den materiellen Wohlstand halten zu können,<br />

ohne am Kern des Problems anzusetzen. Sie gehören letztlich alle in die Rubrik des<br />

„Rosinenpickens“. <strong>Die</strong> verführerischste Scheinlösung wird derzeit <strong>als</strong> Green New Deal<br />

diskutiert, einer technokratischen, im Kern undemokratischen und weiterhin auf<br />

Wachstum basierenden „ökologischen Effizienzrevolution“. Das „Cradle-to-cradle“-<br />

Konzept von Michael Braungart wird ebenfalls nicht geeignet sein, den erreichten materiellen<br />

Wohlstand zu halten, zeigt aber deutlich die notwendige Veränderung der<br />

Denkstrukturen auf.<br />

5.1.2 Dilemma der Diskussion<br />

Wir haben Angst. Wir haben Angst vor dem „Weiter so”, und wir haben Angst vor dem „Ganz<br />

anders machen”. Deshalb versuchen wir, „etwas anders weiter so” zu machen. In unserem<br />

Bemühen, den sogenannten „Wohlstand” zu halten, verordnen wir uns selbst Denkverbote,<br />

80


wie sie sich unter anderem in den Sätzen der Resignation widerspiegeln. Aber die Ausrichtung<br />

am Wünschenswerten bedeutet eine intellektuelle Kapitulation vor den Problemen. Es<br />

muss vielmehr um eine Ausrichtung am langfristig Machbaren gehen.<br />

Mit der Änderung der Umwelt und der Gesellschaft ändern sich auch die Konzepte. <strong>Die</strong> alten<br />

Römer, die mittelalterlichen Mönche, sogar noch unsere Großeltern konnten sich vieles von<br />

dem nicht vorstellen, was wir heute selbstverständlich finden, und genauso werden unsere<br />

Konzepte späteren Generationen teilweise lächerlich vorkommen. „Vielleicht werden sich<br />

kommende Generationen mit Verwunderung an eine relativ kurze Phase in der Geschichte<br />

der Menschheit erinnern, in der ständiges Wirtschaftswachstum für möglich und nötig gehalten<br />

wurde.” (Bundespräsident a. D. Horst Köhler im Geleitwort zu Seidl/Zahrnt 2010)<br />

<strong>Die</strong> Welt ist sehr voll und sehr schnell geworden. Das Geld ist sehr viel geworden. Das<br />

drängt andauernd Probleme, die sich aus dieser Verdichtung ergeben, in den Vordergrund.<br />

Unter diesen Umständen kann man nicht klar denken, man ist dauernd mit existentiellen<br />

Fragen und Krisenmanagement beschäftigt, national und international. Es ist wie in der<br />

Gruppendynamik: Wir haben eine Störung des Prozesses, und diese Störung überlagert alles<br />

andere, sie zieht die Energie ab. Solange wir die Störung nicht beseitigen, ist kein konstruktiver<br />

und rationaler Dialog möglich. <strong>Die</strong>se Störung hat die Überschrift „Menschenbild”, und die<br />

Frage lautet: Wo wollen wir <strong>als</strong> Menschen hin? Und nicht: Wie wollen wir hin? Wohin denn?<br />

Wer nicht weiß, wohin er will, dem helfen keine Methoden. Wir haben kein Erkenntnisproblem,<br />

wir haben auch kein Handlungsproblem, sondern wir haben ein Selbstverständnisproblem.<br />

<strong>Die</strong> aktuelle Diskussion ist zu methodenlastig. Wir diskutieren über die Folgerungen aus<br />

Prinzipien, die wir noch gar nicht definiert haben.<br />

Wie sehen neue Wohnformen aus? Wie sehen neue Mobilitätskonzepte aus? Wie sieht eine<br />

neue Industriegesellschaft aus? Müssen wir die Arbeitszeit allgemein reduzieren? <strong>Die</strong>se Fragen<br />

haben weder Staat noch Einzelne für alle zu beantworten! Wir dürfen keinerlei gesellschaftliche<br />

Diskussion darüber führen, wie das praktische Leben neu organisiert werden soll.<br />

Aspekte der Organisation des praktischen Lebens sind einzig und allein von den Beteiligten<br />

zu entscheiden, die dafür einen Ordnungsrahmen benötigen. <strong>Die</strong>ser Ordnungsrahmen für die<br />

wirtschaftliche und gesellschaftliche Logik kann nur durch ein möglichst weit oben angesiedeltes<br />

Prinzip definiert werden, auf welches sich die Gemeinschaft in einem demokratischen<br />

Prozess einigen muss. Im Grundgesetz steht nichts von Wohnformen, Mobilität, Industrie<br />

und Arbeitszeit. Im Grundgesetz stehen Prinzipien wie „<strong>Die</strong> Würde des Menschen ist unantastbar”,<br />

„freie Entfaltung seiner Persönlichkeit”, „Eigentum verpflichtet”. <strong>Die</strong> konkrete Auslegung<br />

steht dort nicht, und das ist auch richtig so. Bereits die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht<br />

immer öfter die Politik korrigieren muss, unterstreicht die schweren Meinungsverschiedenheiten<br />

in Deutschland – und die Tatsache, dass unser Grundgesetz der<br />

Lebenswirklichkeit nicht mehr gerecht wird. Wir müssen dort offensichtlich etwas anderes<br />

hineinschreiben.<br />

Ein weiterer Grund, warum das Modell der zentralen Steuerung (oder Gängelung) diese Debatte<br />

so beherrscht, ist meines Erachtens: Das „gesellschaftliche Gedächtnis” reicht nur 50<br />

bis 60 Jahre zurück. Es beschränkt sich – Geschichtsschreibung hin oder her – im wesentlichen<br />

auf das, was man selbst erlebt hat. Und was haben wir in dieser Zeit erlebt? <strong>Die</strong> soziale<br />

Marktwirtschaft ist genau das: Ein Kapitalismus mit von oben verordneten, ausgleichenden<br />

Zügen. Mit dieser Definition von „guter” und „schlechter” Wirtschaft haben wir ja eine ganze<br />

Weile subjektiv ganz gut gelebt.<br />

Zulässig und notwendig ist eine gesellschaftliche Diskussion darüber, wo ein Weg möglicherweise<br />

hinführen könnte. <strong>Die</strong> Entwicklung von schönen oder auch schaurigen Bildern ist<br />

wichtig für den demokratischen Prozess, der zu den Prinzipien des Grundgesetzes führt. Ich<br />

glaube, dass jeder Mensch ein inneres Bild vom Sinn des Lebens hat, und wenn es darin besteht,<br />

dass im Leben kein Sinn zu sehen ist, ist das auch gut. Auch eine völlig indifferente<br />

Haltung hierzu ist zulässig. Nur so können wir das Individuum respektieren. Aber diskutieren<br />

81


müssen wir. Und zwar zuerst über die Prinzipien. Und dann schauen wir, welchen Ordnungsrahmen<br />

wir darüber hinaus benötigen. Und ich behaupte: Wenn die Prinzipien gut sind, dann<br />

wird der Ordnungsrahmen klein. Weil Vernunft zur Regel wird.<br />

5.1.3 Dilemma der Parteien<br />

Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 18.09.2011 hatten Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen<br />

deutlich weniger Stimmen erhalten <strong>als</strong> erhofft. Ein erheblicher Teil wanderte zu den „Piraten”.<br />

Was ist dort passiert? Einig sind sich die meisten, dass die Piraten keinen inhaltlichen<br />

Erfolg errungen haben, sondern (noch) <strong>als</strong> Protestpartei zu sehen sind, die mit ihren Forderungen<br />

nach „mehr Demokratie” und ähnlichem den Flair des Frischen, Unverbrauchten, Ehrlichen<br />

haben. Frisch, unverbraucht und ehrlich sind Eigenschaften, keine Verdienste. Wie<br />

konnte es passieren, dass Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen diese Eigenschaften nicht mehr zugeschrieben<br />

werden, wo sie doch einst genauso angefangen hatten?<br />

Sehr auffällig fand ich bei Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen einen bestimmten schriftlichen Entwurf für<br />

den Green New Deal. Das war eine einzige Jubelarie auf sie selbst, die ach so vernünftig<br />

seien, und auf die Wirtschaft, die sich ach so tatkräftig nach Impulsen aus der Politik sehne,<br />

um endlich mit grünem Wachstum mehr Vernunft entwickeln zu dürfen. Und eine endlose<br />

Kette von Seitenhieben auf die anderen Parteien. Ein Entwurf voller Eitelkeit. Ich war auch<br />

einmal bei der FDP, bei der Tagung des Berliner „Arbeitskreises Grundsatz- und Perspektivfragen”.<br />

Das fand ich richtig gruselig. Wenn Eitelkeit eine Partei <strong>als</strong> Heimat hat, dann diese.<br />

Meines Erachtens sieht eine allgemeine Typologisierung der Parteien derzeit so aus:<br />

• <strong>Die</strong> FDP und die Grünen sind die Parteien der Eitelkeit.<br />

• <strong>Die</strong> Linken sind die Partei der Ängstlichen.<br />

• <strong>Die</strong> Piraten sind die Partei der Coolen.<br />

• SPD und CDU sind die Parteien des großen Rests.<br />

Bei der FDP kommt die Eitelkeit aus ihrem inneren Selbstverständnis <strong>als</strong> Partei der Leistungsträger,<br />

das kennt man seit langem und wundert sich nicht. <strong>Die</strong> Grünen (und ich nehme<br />

Bündnis 90 da mal aus – außerhalb des Parteiapparates gab es in der DDR wenig Gelegenheiten,<br />

Eitelkeit zu kultivieren) sind die Partei der Besserwisser geworden. Sie haben eine<br />

bemerkenswerte Entwicklung von belachten Spinnern zu einer respektablen, staatstragenden<br />

Partei durchgemacht, die jetzt sogar einen Ministerpräsidenten stellt. Sie haben das Thema<br />

Ökologie in der Politik fest verankert und den Ausstieg aus der Kernenergie erfochten. In<br />

ihrem Selbstverständnis haben sie der Politik die Vernunft gebracht. Das speist ein Sendungsbewusstsein.<br />

Wer grün wählen will, aber keine Eitelkeit mag, hat einen Konflikt.<br />

Natürlich haben alle Parteien ihre Eitlen. Das ist in einer hierarchischen Parteistruktur, einer<br />

Mediendemokratie und unter den Bedingungen der Marktwirtschaft überhaupt nicht vermeidbar.<br />

Dennoch finde ich das Sendungsbewusstsein einiger Grüner bemerkenswert.<br />

Alle Parteien machen zudem den Fehler, dass sie ihre Wähler immer mehr auf die Stimme<br />

reduzieren, die sie von ihnen erhalten können. Daher wird in einer Art vorauseilendem Gehorsam<br />

das eigene Programm auf die vermeintliche Erwartung und „Zumutungsfähigkeit” der<br />

Wähler abgestimmt: „Das kann man dem Wähler nicht zumuten!” ist ein gängiges Argument<br />

für die Verweichlichung von Standpunkten. Darin ähneln die Parteien dem Unternehmer, der<br />

über Marktforschung versucht herauszubekommen, was die Kunden wünschen. Das Ergebnis<br />

ist eine Angleichung der gegenseitigen Erwartungen und Nivellierung des Profils: <strong>Die</strong> Partei<br />

erwartet eine Stimme („die da unten wählen ja doch nur, was ihnen Vorteile bringt”), und<br />

der Wähler sieht sich nur noch <strong>als</strong> Stimmgeber („die da oben machen ja doch nur, was ihnen<br />

Vorteile bringt”). Eitelkeit verhindert gute Politik, falls diese gute Politik unpopulär ist, denn<br />

dafür erhält man alles mögliche, aber keine Bestätigung. Deswegen ist populäre Politik so<br />

verbreitet.<br />

82


Alle, die ihr Programm durch Befragungen nach „dem Markt” ausrichten, geraten in diese<br />

Falle. Private Fernsehsender, die primär auf die Einschaltquote reagieren, haben das gleiche<br />

Problem der Verflachung, nur dass es dort keiner <strong>als</strong> Problem wahrnimmt. Jeder, der kein<br />

eigenes, definiertes Profil hat, landet dort. <strong>Die</strong> Parteien haben ihre Arbeit nach marktwirtschaftlichen<br />

Gesichtspunkten organisiert. Pragmatische Politik greift lediglich dem<br />

Mainstream voraus, auf Dauer ist sie für jede Partei tödlich, weil die Parteien dadurch austauschbar<br />

werden.<br />

Es gibt große Innovatoren der Wirtschaft wie Steve Jobs, die Gebrüder Albrecht und wie sie<br />

alle heißen, die unsere Konsumgewohnheiten nachhaltig verändert haben. Ich glaube nicht,<br />

dass sie jem<strong>als</strong> Marktforschung betrieben haben, <strong>als</strong> sie ihre großen Ideen hatten, für die es<br />

noch gar keinen Markt gab. <strong>Die</strong> hatten eine Vision! Und sind damit nicht zum Arzt gegangen,<br />

sondern haben sie umgesetzt und durch Konsequenz überzeugt. Das würde ich mir auch von<br />

den Parteien wünschen. <strong>Die</strong> derzeitige Verunsicherung ruft geradezu nach politischen Innovationen!<br />

Aber alle ziehen ihr vertrautes Programm durch, und nicht eine Partei hat das<br />

Thema „Wachstum” aus ihrem Programm herausgenommen. Bündnis 90/<strong>Die</strong> Grünen haben<br />

es <strong>als</strong> Green New Deal sogar explizit neu hineingenommen.<br />

Für eine unpopuläre Politik findet man keine Mehrheit? Kommt drauf an. Wenn man natürlich<br />

nur fragt: „Wollen Sie gerne verzichten?”, wird man in der Tat keine Mehrheit finden. Man<br />

muss daher die Frage anders stellen, d. h. man muss eine Alternative finden, die so interessant<br />

erscheint, dass zumindest die Diskussion möglich wird. Dabei wird Konsequenz und Beteiligung<br />

im Vordergrund stehen müssen. Und nicht Eitelkeit.<br />

5.2 Ziele eines Umbaus<br />

„Alle Anstrengungen haben sich gelohnt: im Jahr 2060 ist der Große Übergang<br />

gelungen. <strong>Die</strong> Menschen haben sich die Vision von einem selbstbestimmten<br />

Leben in einer kulturell reichen, inklusiven und ökologisch gesunden Welt erfüllt.<br />

Sie leben in einer vernetzten und gerechten Welt.<br />

<strong>Die</strong> zwischenmenschliche Solidarität ist so groß wie nie, ebenso der gegenseitige<br />

Respekt vor verschiedenen Lebensweisen. <strong>Die</strong> Welt ist friedlicher geworden,<br />

auch weil immer mehr Menschen der bittersten Armut entkommen sind<br />

und noch viel mehr Menschen ein lebenswürdiges Einkommen verdienen.<br />

Sowohl auf politischer <strong>als</strong> auch auf wirtschaftlicher Ebene haben soziale und<br />

ökologische Ziele oberste Priorität. <strong>Die</strong> Menschenrechte werden überall eingehalten.<br />

<strong>Die</strong> Natur hat die Möglichkeit bekommen aufzuatmen, sie wird nicht mehr über<br />

Gebühr strapaziert. Es ist selbstverständlich darauf zu achten, nachfolgenden<br />

Generationen eine intakte Umwelt und ausreichende Ressourcen zum<br />

Leben zu hinterlassen.<br />

<strong>Die</strong> beschriebene Welt ist nicht das Paradies, sondern wird immer noch von<br />

Menschen mit all ihren Schwächen bevölkert. <strong>Die</strong> Lebenslust und das Gefühl,<br />

in einer schützenswerten Welt zu leben, überwiegen diese Schwächen. Der<br />

Große Übergang liefert Ideale und Ziele, an denen die Menschen ihre Entscheidungen<br />

zur Gestaltung einer besseren Zukunft ausrichten können.”<br />

Zitiert nach: „Der Große Übergang – Der Weg zu einer gerechten, freien und<br />

nachhaltigen Welt”. Folge 1 der Publikationsreihe „Schöne Aussichten” des<br />

Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt.<br />

5.2.1 Einfachheit<br />

Wir sollten auch das „Undenkbare” denken und eine neue Ära nicht mit einer erneuten<br />

Selbsttäuschung beginnen. Je länger die Sucht und je höher die Dosis, desto schwerer wird<br />

83


der Entzug. Da die natürlichen Grenzen des Menschen und der Erde „erfolgreich” überwunden<br />

sind, werden wir uns ab jetzt bis ans Ende aller Zeiten die Grenzen selbst setzen müssen.<br />

Das Wirtschaftsmodell soll einfach sein. Eine Wirtschaft, die sich nur noch mit höherer Mathematik<br />

verstehen lässt, kann nicht im Sinne des Menschen sein. Einfach bedeutet: Es soll<br />

robust, fehlertolerant und leicht verständlich sein. Es soll mit Hilfe von Selbstregulierung und<br />

weitgehend ohne zentrale Steuerung funktionieren. Der unvermeidbare Anteil zentraler<br />

Steuerung soll sich auf allgemeine, in gleicher Weise für alle geltende Prinzipien beschränken.<br />

Das ist, was wir unter einem Gesellschaftsvertrag verstehen.<br />

Das Einzige, worauf wir uns sicher verlassen können, sind die Gesetze der Logik und der<br />

Naturwissenschaften. Das, worauf wir uns sicherlich nicht verlassen können, sind die<br />

menschlichen Fähigkeiten und Eigenschaften. Das Gleichgewicht des Menschen ist labil und<br />

muss ständig neu stabilisiert werden. Es kommt permanent zu Konflikten zwischen<br />

individuellen und gemeinschaftlichen Interessen. Das Wirtschaftsmodell soll dem Rechnung<br />

tragen. Nur ein Konzept, welches die Widersprüchlichkeiten der menschlichen Existenz<br />

berücksichtigt, wird meines Erachtens Erfolg haben.<br />

Es geht hier nicht um eine generelle Fortschrittskritik, sondern um „Waffengleichheit” für<br />

verschiedene Wirtschaftsformen, <strong>als</strong>o ein Ende der einseitigen Förderung einer ressourcenintensiven<br />

und zunehmend menschenfeindlichen Wachstumsgesellschaft.<br />

5.2.2 Humanismus<br />

Fortschritt soll die Menschheit erwachsen werden lassen. <strong>Die</strong> Förderung der freien Entfaltung<br />

des Menschen sollte Ziel werden. Statt dessen fördern wir Trivialisierung, Wettbewerb, Aggression<br />

und Destruktivität.<br />

Das Bild vom pausenlos innovativen Menschen sollte hinterfragt werden. Wenn wir weg von<br />

bestimmten Leitbildern:<br />

• Unternehmer<br />

• Leistungsträger<br />

• Reichtum<br />

• Wettbewerb<br />

• Effizienz<br />

• Pareto-Prinzip<br />

• Kernkompetenzen<br />

und hin zu bestimmten anderen Leitbildern:<br />

• Ästhetik<br />

• Bildung<br />

• Unabhängigkeit<br />

• Reife<br />

gehen, könnte das unser Leben viel einfacher und reicher gestalten. Ich finde es nicht akzeptabel,<br />

dass die Suche der Starken, Lauten, Umtriebigen, Schnellen nach Erleichterung viele<br />

andere in die Unzufriedenheit treibt. Wettbewerb in allen Bereichen des Lebens untergräbt<br />

das Vertrauen in die Zukunft und verhindert eine solidarische Gesellschaft.<br />

5.2.3 Liberale Grundhaltung<br />

Ein neues Gesellschaftsmodell soll weiterhin die bewährten menschlichen Prinzipien<br />

• Freiheit des Einzelnen<br />

84


• Demokratie<br />

• Marktwirtschaft<br />

• „Leistung soll sich lohnen”<br />

• Zurückhaltung des Staates<br />

berücksichtigen. Das heißt nicht, dass es keine Grenzen gibt. Aber im praktischen täglichen<br />

Leben sollen diese Grundsätze verwirklicht sein.<br />

Aufgabe des Staates neben der Bereitstellung der öffentlichen Güter ist es, den demokratisch<br />

beschlossenen Prinzipien Geltung zu verschaffen und dafür die Voraussetzungen zu gewährleisten.<br />

Auf welchen Wegen diese Ziele erreicht werden, sollte der Freiheit des Einzelnen<br />

überlassen bleiben. <strong>Die</strong> Beeinflussung dieser Wege sollte auf das absolut notwendige Minimum<br />

begrenzt bleiben und praktisch unterstützende, möglichst marktwirtschaftliche Maßnahmen<br />

anstelle von Gängelung und Verboten bevorzugen. Das wird gelingen, wenn die<br />

Prinzipien klug gewählt sind. Derzeit sind sie es nicht.<br />

<strong>Die</strong> beliebte Unterscheidung zwischen „guter” und „schlechter” Wirtschaft, auch Rosinenpicken<br />

genannt, basiert auf der Hoffnung, dass man Vernunft in die Wirtschaft einziehen lassen<br />

könne, indem man das eine fördert und das andere bremst. Der Staat hat privatwirtschaftlich<br />

nichts zu fördern oder zu bremsen. Wenn einzelne privatwirtschaftliche Unternehmungen<br />

„aus Vernunftgründen” subventioniert oder sanktioniert werden müssen, ist bereits<br />

etwas schiefgegangen, und eine sofortige Suche nach den eigentlichen Ursachen sollte beginnen.<br />

5.2.4 Ungleichheit begrenzen<br />

Es gibt starke Argumente für das Streben des Menschen nach Gleichheit und Belege dafür,<br />

dass mehr Gleichheit die Gesellschaft insgesamt glücklicher und gesünder macht. Derzeit hat<br />

die Umverteilungsdiskussion etwas Gönnerhaftes: Na gut, wir geben was ab. Vielleicht aber<br />

hat der Begriff von Reichtum seinen anfeuernden Zweck einfach historisch erfüllt? Ein<br />

„Reichtumsverbot” würde unter anderem dazu führen, dass wieder mehr Leute für ihre Existenz<br />

arbeiten müssen. „Und essen sollst Du Dein Brot im Schweiße Deines Angesichts” ist ein<br />

altes Gebot. Der gewinnorientierte Investor hingegen ist ein krankes Konzept. <strong>Die</strong> sogenannen<br />

„mächtigen Gegner” von gesellschaftlichem Fortschritt sind im wesentlichen immer die<br />

gleichen: Eigentümer von viel Kapital.<br />

<strong>Die</strong> westliche Welt soll ihre Attraktivität <strong>als</strong> wirtschaftliches Einwanderungsland verlieren. <strong>Die</strong><br />

Aufrechterhaltung des internationalen Gefälles ist menschenverachtend und wiederum nur<br />

ein Nähren unserer Eitelkeit. Es geht nicht um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft:<br />

Es geht weder um Wettbewerb noch um Deutschland, sondern um die Zufriedenheit<br />

aller Menschen dieser Welt. <strong>Die</strong> übermäßige Exportorientierung der deutschen Wirtschaft ist<br />

ein ständiger Verstoß gegen das Gebot des außenwirtschaftlichen Gleichgewichtes.<br />

5.2.5 Naturverbrauch begrenzen<br />

Eine ökologische Kreislaufwirtschaft auf heutigem Niveau klingt nicht sehr realistisch. Wir<br />

haben kein Recht, nur die nächsten 20, 50, 100 Jahre zu planen. Wir sollten ein Konzept für<br />

viele 10.000 Jahre entwickeln, tendenziell ein Konzept für die Ewigkeit. Eine unendliche Perspektive<br />

hat meiner Meinung nach grundsätzlich Vorrang vor den Wohltaten der modernen<br />

Welt. Hätten die alten Römer das Potential gehabt, die Welt so zu beschädigen wie wir heute,<br />

dann hätten wir schon seit 2.000 Jahren ein Problem.<br />

Solange wir unser Gesellschaftsmodell an unseren Wünschen ausrichten, wird es schwierig<br />

bleiben. Sobald wir anfangen, es am dauerhaft Machbaren auszurichten, könnte es einfacher<br />

werden. Der Sportsgeist des Menschen soll vom Konsum und insbesondere von Hochtechnologie<br />

weggebracht werden. Nicht HiTech, sondern LowTech ist die Lösung, wenn man Ener-<br />

85


gie und Material einsparen möchte. HiTech erfordert im Hintergrund eine so gefräßige Infrastruktur,<br />

dass Ressourceneinsparung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Schnelligkeit<br />

verbraucht mehr Ressourcen <strong>als</strong> Langsamkeit, Maschinenkraft mehr <strong>als</strong> Muskelkraft, ein<br />

Spezialist mehr <strong>als</strong> ein Generalist, Größe mehr <strong>als</strong> Kleinheit, Global mehr <strong>als</strong> Regional.<br />

<strong>Die</strong> Verzichtsdebatte ist eigentlich nur eine Verteilungsdebatte. Wenn alle verzichten müssen,<br />

ist das ein viel kleineres Thema. Wenn aber der Verzicht nur durch einen moralischen Appell<br />

motiviert ist und man parallel all die anderen weiter schlemmen und rülpsen sieht, dann hat<br />

man darauf verständlicherweise keine Lust.<br />

5.2.6 Kooperation<br />

Immer wieder wird angeführt, Kooperation <strong>als</strong> wirtschaftliches Prinzip sei dem Egoismus unterlegen,<br />

das zeige die historische Entwicklung. Dabei werden jedoch Ursache und Wirkung<br />

vertauscht. Seit Jahr und Tag wird ein System des Egoismus massiv propagiert und subventioniert,<br />

während Kooperation genauso massiv benachteiligt wird, um dann zu behaupten:<br />

„Seht her, Kooperation funktioniert nicht!” In diesem Vergleich kann Kooperation nur<br />

schlechter abschneiden. <strong>Die</strong> wirkliche Macht und Kraft der Kooperation im modernen wirtschaftlichen<br />

Alltag haben wir bisher nur in Ansätzen erfahren dürfen. Kooperation hat nichts<br />

mit Planwirtschaft zu tun, aber viel mit Genossenschaften und Beteiligung – und generell mit<br />

einer Begrenzung der egoistischen Versuchung.<br />

Tatsächlich ist es (wie immer ...) ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen individuellen<br />

und gemeinschaftlichen Interessen, was am zufriedensten macht. Egoismus ist nicht<br />

schlecht, braucht aber Grenzen. Kooperation funktioniert nur in einem kleinen, lokalen Rahmen,<br />

sie benötigt sozialen Austausch, Beteiligung – und eine Gelegenheit. <strong>Die</strong>se Gelegenheit<br />

erhält sie nur bei Begrenzung der egoistischen Konkurrenz und bei mehr Regionalität.<br />

5.2.7 LowTech und Regionalität<br />

LowTech und Regionalität statt HiTech und Globalisierung – beides ist dem Menschen, der<br />

Natur und ihrer beider begrenzten Fähigkeiten angemessener.<br />

• LowTech ist billiger, man muss dafür weniger arbeiten und verbraucht weniger Material.<br />

• LowTech lässt sich aufgrund eines weniger differenzierten Designs leichter langlebig<br />

gestalten und reparieren.<br />

• LowTech schafft mehr regionale Arbeitsplätze mit breiterer Qualifikation<br />

• LowTech benötigt weniger aufwendige Infrastruktur<br />

• LowTech lässt sich häufiger reparieren oder aufarbeiten, d. h. unter Zuhilfenahme<br />

wenig neuer Materialien wird das Produkt wieder auf Vordermann gebracht.<br />

• LowTech lässt sich regional reparieren oder aufarbeiten, weil dazu keine exotischen<br />

Materialien, Maschinen oder Qualifikationen notwendig sind.<br />

• Regionalität verringert Anonymität und erhöht dadurch das Verantwortungsbewusstsein.<br />

• Regionalität verringert Mobilität.<br />

• LowTech und Regionalität entmachten Lobbyisten, weil die Prozesse wieder verständlich<br />

werden und zu jenen gelangen, die sie betreffen.<br />

• LowTech und Regionalität ermöglichen Kooperation, weil Kooperation sozialen Austausch<br />

und Beteiligung erfordert.<br />

86


5.2.8 Arbeit für alle<br />

Es gibt keinen vernünftigen Plan zur Lösung der sozialen Probleme, die durch die ständige<br />

Produktivitätssteigerung verursacht werden. Nicht die Aussicht auf ein gutes Leben inspiriert<br />

den Menschen, sondern die Aussicht auf ein sinnvolles Leben. Sinnvolle Arbeit ist Teil der<br />

menschlichen Würde, und die Würde des Menschen ist unantastbar. Arbeit ist ein Menschenrecht.<br />

Ziel ist nicht eine generelle deutliche Reduzierung der Arbeitszeit, denn sinnvolle Arbeit<br />

kann sehr zufrieden machen. Letztlich soll auf breiter Front die Arbeitsproduktivität wieder<br />

auf ein menschliches Maß und einen verträglichen, erneuerbaren Ressourcenverbrauch<br />

gesenkt werden.<br />

Es soll mehr Entscheidungsfreiheit herrschen, was und wie viel der Einzelne arbeitet. Zudem<br />

sollen die Strukturen der Wirtschaft so gestaltet sein, dass Sinn wächst und Unsinn<br />

schrumpft. Wirtschaftlicher Erfolg ist nicht gleichbedeutend mit Wachstum. Wir haben zuviel<br />

Wirtschaft und zuwenig Arbeit.<br />

5.2.9 Eigentumsreform<br />

Mit welchem Recht stellt eigentlich jemand einen Zaun um ein Grundstück und sagt: Meins!<br />

<strong>Die</strong>ses Grundstück hat nie jemand produziert, bestenfalls den Wald gerodet und es urbar<br />

gemacht. Kein Mensch hat je einen Liter Erdöl oder ein Kilo Steinkohle erschafffen, sondern<br />

bestenfalls aufwendig gefördert. Kaum ein Investor hat je dafür gesorgt, dass bestimmte<br />

Stadtteile attraktiver werden und dort die Mieten steigen.<br />

Vielleicht hat der eine oder andere von Ihnen das Theater um den Wandlitzsee nördlich von<br />

Berlin mitbekommen. Der wurde von der Treuhand verkauft, und die Gemeinde hat zu wenig<br />

geboten. Statt dessen kam ein westdeutscher Wirtschaftsanwalt zum Zuge, der im Anschluss<br />

begann, den Anliegern des Sees zu „verkaufen”, was sie eigentlich schon besaßen: Einen<br />

Zugang zum See. Er hatte nichts dagegen, eine eher zufällig erworbene Rechtsposition für<br />

seine Zwecke auszunutzen und Gewinn ohne Gegenleistung zu erzielen. Damit wird fast idealtypisch<br />

das Dilemma des sogenannten Immobilien„marktes” illustriert, dem eine wesentliche<br />

Eigenschaft der freien Marktwirtschaft fehlt, nämlich der „freie Marktzugang der Anbieter”.<br />

Und ironischerweise erhöht das alles auch noch das Bruttosozialprodukt, unsere Messgröße<br />

für Wohlstand.<br />

Wir finanzieren über einen perversen Eigentumsbegriff unermesslich viele leistungslose Einkommen.<br />

Leistung muss sich wieder lohnen? Ich warte seit Jahren auf den empörten Aufschrei<br />

einer gewissen „liberalen” Partei, dass damit endlich Schluss gemacht werde. Unser<br />

gesellschaftlicher Reichtum versickert nicht in dunklen Kanälen, sondern in der offenen Finanzierung<br />

von Leuten, die sich zurücklehnen. Weil sie mehr oder weniger zufällig in eine<br />

komfortable Rechtsposition gerutscht sind, die ihnen das ermöglicht.<br />

5.2.10 Nachfrage statt Angebot<br />

Es geht nicht mehr um das ungebremste Wirtschaften mit dem Ziel einer unendlichen Gütermenge,<br />

sondern es geht darum, einen Ausgleich zu finden zwischen jenen, die mit weniger<br />

leben wollen und jenen, die mit mehr leben oder aus anderen Gründen wirtschaftlich<br />

initiativ werden wollen.<br />

Wir sollten wieder zu einem Primat der Nachfrage kommen und weg vom derzeitigen Angebotsdenken.<br />

Der Verführung sind Grenzen zu setzen, die Menschen sollen primär selbst auf<br />

die Idee kommen, was ihnen fehlt. <strong>Die</strong> Idee der riskanten Investition ist eine bizarre Karikatur<br />

des Nachfragebegriffes. Angebote sind nicht schlecht an sich, müssen aber nicht „unnötig”<br />

gefördert werden. Was dieses „unnötig” im Einzelnen bedeutet, ist das Ergebnis einer<br />

gesellschaftlichen Diskussion über folgende Punkte:<br />

87


• <strong>Die</strong> verschiedenen Mechanismen des Antriebs der Wirtschaft: Unbegrenzter Gewinn,<br />

Haftungsbeschränkung, Machtkonzentration durch Beteiligung, Subventionen, niedrige<br />

Ressourcenpreise, Patente, Aufweichung der Grundrechte.<br />

• Welche Kosten eines Unternehmers möchte die Gesellschaft subventionieren, indem<br />

sie über den Abzug von den Erlösen gewinnmindernd und damit steuersenkend wirken?<br />

Gehören Ausgaben für Werbung dazu? Gehören Kreditzinsen dazu? Oder sind<br />

das möglicherweise „private” Ausgaben des Unternehmers? Derzeit ist es einzig und<br />

allein in die Entscheidung des Unternehmers gestellt, wo er Kosten erzeugt, mit wenigen<br />

Ausnahmen (beispielsweise Parteispenden). In der privaten Steuererklärung<br />

sieht das aus guten Gründen ganz anders aus.<br />

• Meritorische und demeritorische Güter: Welchen Konsum wollen wir subventionieren,<br />

und welchen bestrafen? Oder überlassen wir das nicht besser den Menschen selbst?<br />

Wer Sinn stiftet, braucht keine Drogenpolitik. Sind unterschiedliche Umsatzsteuersätze<br />

wirklich sinnvoll? Oder ist der volle Satz schlicht und einfach so hoch, weil wir damit<br />

zu viel Unsinn finanzieren müssen?<br />

5.2.11 Spannung erhalten<br />

Wir tendieren dazu, das Leben immer sicherer und berechenbarer zu machen. „Sicherer” in<br />

Verbindung mit Produktivitätssteigerung und Wettbewerb führt jedoch im Ergebnis nicht zu<br />

mehr Sicherheit, sondern zu einer Existenzangst auf höherem Niveau, zu Anspruchsdenken<br />

und Rechthaberei. Wir sollten wieder mehr Unsicherheiten ins Leben bringen, sonst wird es<br />

zu teuer, auch für die nachfolgenden Generationen. Das Sozialversicherungssystem sollte<br />

mehr den Charakter einer existentiellen Risikoversicherung <strong>als</strong> den eines Rundum-sorglos-<br />

Paketes erhalten, den es im Fortschrittsglauben und den Verteilungskämpfen der Nachkriegszeit<br />

erhalten hat.<br />

Es werden derzeit verschiedene Modelle diskutiert, den Lohn von Sozialabgaben zu entlasten.<br />

<strong>Die</strong> hauptsächliche Entlastung könnte aber dadurch erfolgen, dass Sozialabgaben nicht<br />

mehr benötigt werden:<br />

• Krankenversicherung soll preiswerter werden durch Eigenbeteiligung und Rationierung.<br />

Es gibt keine Vollkasko-Versicherung mehr.<br />

• Rentenversicherung soll preiswerter werden durch Beteiligung der Rentner am Arbeitsleben.<br />

Produktives Alter macht zufriedener.<br />

• Pflegeversicherung soll preiswerter werden durch Senkung der Lebenserwartung.<br />

Kürzer, aber besser leben.<br />

• Arbeitslosenversicherung soll preiswerter werden durch Vollbeschäftigung. Sinnvolle<br />

Arbeit ist Teil der Menschenwürde.<br />

5.2.12 Bevölkerungswachstum umkehren<br />

Ein heikler Punkt, aber unerlässlich. Eine Weltbevölkerung, die sich nur mit industrialisierter<br />

Landwirtschaft, Kunstdünger aus bergmännisch gewonnenen Rohstoffen und – in den Entwicklungsländern<br />

– durch Almosen der Industrieländer ernähren lässt, ist auf die Dauer untragbar.<br />

<strong>Die</strong> wichtigsten Punkte zum Gegensteuern, auch in den Industrieländern:<br />

• Ein Umdenken in der Katholischen Kirche bezüglich des Dogmas „Seid fruchtbar und<br />

mehret Euch”<br />

• Bildung<br />

• Bekämpfung der Armut<br />

• Verhütungskampagnen<br />

• Umbau der Sozi<strong>als</strong>ysteme, um den Rentendruck von den Arbeitnehmern zu nehmen<br />

88


• Übergang zu einer zeitweisen Ein-Kind-Politik durch Abschaffung sonstiger Anreize<br />

(z. B. kein Kindergeld ab dem zweiten Kind)<br />

89


Kapitel 6: Alternative<br />

6.1 Eine liberale Antwort<br />

Wie verankert man die neuen gesellschaftlichen Erfordernisse in einem liberalen Gesellschaftsmodell?<br />

6.1.1 Liberalismus und seine Grenzen<br />

Der Liberalismus ist eine alte philosophische und politische Bewegung. Im Zentrum steht der<br />

einzelne Mensch, das berühmte Individuum, mit seinen Interessen, Wünschen, Sehnsüchten,<br />

Abneigungen, Ängsten, ... Grundlage des Liberalismus ist die Idee der Selbstverwirklichung<br />

und Selbstentfaltung, dass <strong>als</strong>o der Einzelne selbst am besten weiß, was gut und was<br />

schlecht für ihn ist, und dass er niemanden – weder natürliche Personen noch staatliche Institutionen<br />

– benötigt, die ihm Vorschriften machen oder ihn gar in Unfreiheit halten. Der<br />

Liberalismus tritt für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft<br />

ein, und diese Ausgewogenheit besteht darin, dass im Zweifel der Einzelne Vorrang<br />

haben sollte. Seine Grenzen findet der Einzelne in der Freiheit der anderen, die er nicht einschränken<br />

darf, und es ist danach die einzige Aufgabe des Staates (der „juristischen Person<br />

Gemeinschaft”), diese wechselseitige Freiheit zu gewährleisten.<br />

Daraus lassen sich die wichtigsten Elemente einer liberalen Staats- und Wirtschaftsverfassung<br />

ableiten:<br />

• Politik<br />

Demokratie, Gewaltenteilung, Pluralismus, Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit,<br />

Schutz von Minderheiten<br />

• Ökonomie<br />

Privateigentum <strong>als</strong> Voraussetzung für Verantwortung, Freie Marktwirtschaft, wirtschaftlicher<br />

Wettbewerb <strong>als</strong> Voraussetzung für allgemeinen Wohlstand<br />

• Soziales<br />

Grundsätzliche Selbstverantwortung für das eigene Auskommen, Prinzip der Leistungsgerechtigkeit,<br />

keine Idee des sozialen Ausgleichs (außer Almosen)<br />

• Recht<br />

Gleichheit vor dem Gesetz<br />

Der Liberalismus ist eine Idee, von der grundsätzlich diejenigen am meisten profitieren, die<br />

mit diesen Anforderungen gut umgehen können, sprich: <strong>Die</strong>jenigen, die in jeder Hinsicht frei<br />

sind, zu tun und zu lassen, was sie wollen, sofern sich ihnen Gelegenheiten bieten. Das wirft<br />

unmittelbar zwei wesentliche Fragen auf:<br />

• Was passiert mit denjenigen, die aus persönlichen Gründen diese Freiheiten nicht<br />

nutzen können, weil sie beispielsweise in ihrer körperlichen, geistigen oder sozialen<br />

Entwicklung benachteiligt sind, <strong>als</strong>o schlechtere Chancen hatten und haben?<br />

<strong>Die</strong> Antwort war und ist die Idee der öffentlichen Fürsorge. Das soll hier aber nicht<br />

vertieft werden, weil dieser Punkt nichts für die Wachstumsdebatte beiträgt.<br />

• Was passiert mit denjenigen, die aus gesellschaftlich tolerierten Gründen diese Freiheiten<br />

nicht nutzen können, weil beispielsweise ihr Beruf wegrationalisiert wurde, ihre<br />

Existenzgrundlage der Globalisierung zum Opfer fiel, ihre Wohnung wegen einer<br />

Mieterhöhung nicht mehr zu halten ist?<br />

In einem rein liberalen System gibt es hierauf keine Antwort außer: „<strong>Die</strong> müssen sich<br />

halt anstrengen oder bescheiden werden!” Der Zustand dieser Menschen ist praktisch<br />

konstitutiv für die Idee der Wettbewerbsgesellschaft – ohne Verlierer keine Gewinner,<br />

und ohne Gewinner kein „Wohlstand für alle”, wie bescheiden er für die Verlierer<br />

90


auch ausfallen mag, es könnte ihnen ja immer noch schlechter gehen.<br />

<strong>Die</strong> erweiterte Antwort, die in der Bundesrepublik gewählt wurde, war die Soziale<br />

Marktwirtschaft. Von den Gewinnern wurde mehr verlangt <strong>als</strong> nur Almosen. Es wurde<br />

ein institutionalisiertes soziales Netz eingezogen, das von den großen und kleinen<br />

Gewinnern finanziert wurde. Solange die Zahl der Menschen, die durch wirtschaftliche<br />

Umbrüche in dieses Netz fielen, überschaubar war, funktionierte das leidlich gut, <strong>als</strong><br />

Mischform zwischen Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft.<br />

Es wurden mit der Zeit aber immer mehr. Das liberale Modell funktioniert in diesem<br />

Punkt nicht mehr, weil – wie beschrieben – das gesellschaftlich subventionierte Wirtschaftswachstum<br />

mit seiner ständigen Steigerung der Produktivität zu einer zunehmenden<br />

Zahl von Verlierern, zu einem Zerfall des sozialen Systems und zu einer<br />

Überlastung des Staates, sprich: der Gemeinschaft führt.<br />

Wie wir gesehen haben, sind Maßlosigkeit und fehlende Grenzen der wesentliche Aspekt der<br />

Wachstumsdiskussion. Unbegrenzte wirtschaftliche Macht und unbegrenzter Naturverbrauch<br />

führen das System des Wirtschaftsliberalismus in den Ruin, weil die widersprüchlichen Botschaften<br />

des Gesellschaftsmodells in einem völligen Ungleichgewicht zueinander stehen. Sie<br />

erzeugen eine im wahrsten Sinne des Wortes unmenschliche Dynamik.<br />

<strong>Die</strong> entscheidende Frage ist jetzt:<br />

Wie setzt man wirksam akzeptierte Grenzen, um der Maßlosigkeit des<br />

Menschen zu begegnen, ohne die Idee der individuellen und wirtschaftlichen<br />

Freiheit insgesamt zu gefährden?<br />

Wie entschärft man das Problem der widersprüchlichen Botschaften, ohne<br />

in einem undurchsichtigen System aus kleinteiliger Gängelung, dirigistischen<br />

Maßnahmen und willkürlicher Bestrafung zu enden, welches pausenlos<br />

Widerstand provozieren wird?<br />

6.1.2 Das Menschenbild im Grundgesetz<br />

„Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen<br />

Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum -<br />

Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit<br />

der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten.<br />

Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15,<br />

19 und 20 GG. <strong>Die</strong>s heißt aber: der Einzelne muß sich diejenigen Schranken<br />

seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und<br />

Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen<br />

Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß dabei die<br />

Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt.”<br />

(Aus dem Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichtes vom<br />

20. Juli 1954 in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden verschiedener<br />

Firmen gegen das Bundesgesetz über die Investitionshilfe der gewerblichen<br />

Wirtschaft vom 7. Januar 1952. <strong>Die</strong> Antragsteller hatten unter anderem<br />

geltend gemacht, in ihrer unternehmerischen Freiheit unzumutbar eingeschränkt<br />

worden zu sein.)<br />

Über allem steht das Menschenbild. Das Menschenbild ist eine innere Haltung und Überzeugung<br />

davon, „wie der Mensch funktioniert”, insbesondere wie seine Motivation funktioniert,<br />

sein Eintreten für eigene Interessen und die Interessen der Gemeinschaft. Das kann sich<br />

dann in Sätzen äußern wie „Der Mensch an sich ist gut” oder „Der Mensch an sich ist gierig”<br />

oder ähnlichem. Mehr oder weniger explizit äußert sich das Menschenbild in den Prinzipien<br />

des Grundgesetzes, wie zum Beispiel<br />

91


• Grundrechte<br />

Dort finden sich zahlreiche Artikel, die die Individualität des Menschen betonen, sein<br />

Recht darauf, in Ruhe gelassen zu werden, aber auch Bereiche, wo sich die Gemeinschaft<br />

Einschränkungen dieser Freiheiten vorbehält, weil sie bereits schlechte Erfahrungen<br />

mit zu viel Individualität gemacht hat: Schulaufsicht des Staates, Sozialbindung<br />

des Eigentums, Enteignung.<br />

• Prinzip der Gewaltenteilung<br />

Das Wort findet sich so nicht im Grundgesetz, sondern die Organisation der „Staatsgewalt”<br />

wird einfach in dieser Form beschrieben. Dahinter steckt die besonders<br />

schlechte Erfahrung, die die Gemeinschaft im 20. Jahrhundert mit zu großer<br />

Machtfülle gemacht hat: <strong>Die</strong> Gewaltenteilung ist eine Konkretisierung des Prinzips der<br />

Machtbegrenzung der gewählten Repräsentanten.<br />

• Gewährleistung der Unabhängigkeit<br />

Immunität, Zeugnisverweigerungsrecht, Anspruch auf Diäten, Nebenberufsverbot für<br />

Regierungsmitglieder und ähnliche Passagen sollen die innere Unabhängigkeit der<br />

Repräsentanten sicherstellen, weil man weiß, dass der Mensch sowohl unter Druck<br />

gesetzt werden kann <strong>als</strong> auch korrumpierbar ist.<br />

Aufbauend auf diesen Prinzipien werden die Dinge dann nach und nach konkreter, teilweise<br />

bereits im Grundgesetz selbst, spätestens aber dann in den Bundesgesetzen, den Landesgesetzen<br />

bis hinunter zu Rechtsverordnungen, die dann bereits der Exekutive zuzurechnen<br />

sind. Anschließend könnte man die Kette der Exekutive noch weiter denken bis zum<br />

Bescheid der Kommunalverwaltung. All diesen folgenden Stufen gemeinsam ist, dass sie<br />

das Menschenbild nicht mehr neu thematisieren. Der einzige Ort dafür ist das Grundgesetz.<br />

Und wie man sieht, findet auch heute schon der Wirtschaftsliberalismus in den Gesetzen<br />

seine Grenzen. Ein liberales Gesellschaftsmodell lässt sich mit Grenzen ohne weiteres vereinbaren,<br />

wenn diese Grenzen nicht willkürlich sind. Nicht willkürlich sind sie, wenn sie sachlich<br />

begründet werden können und dem Gemeinwohl dienen.<br />

6.1.3 Prinzipien im Gleichgewicht<br />

Im Konflikt zwischen der Freiheit des Einzelnen und der Freiheit anderer besteht die „größte<br />

Freiheit in Summe” dann, wenn möglichst allgemeine, für alle gleiche Prinzipien festgeschrieben<br />

werden. <strong>Die</strong> Kombination von „möglichst allgemein” und „für alle gleich” ist dabei<br />

entscheidend: Je konkreter ein Gesetz bestimmte Zielvorgaben formuliert und je mehr Ausnahmen<br />

zugelassen werden, desto mehr leidet die Akzeptanz, desto größer werden die Widerstände,<br />

desto größer wird auch die Fantasie, das Gesetz zu torpedieren, entweder durch<br />

widerrechtliche Umgehung oder durch Versuche, eine Gesetzesänderung oder -ausnahme zu<br />

erreichen. Denn jeder weiß, dass das Gesetz auch anders hätte lauten können. Das Gesetz<br />

wird zum Spielball widerstreitender Interessen, es wird durchlöchert, ausgehöhlt, missachtet.<br />

Es wird eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Lobbyisten und Rechtsanwälte.<br />

Um ein Gleichgewicht zwischen den zwei widerstrebenden gesellschaftlichen Botschaften zu<br />

erreichen, sie <strong>als</strong>o „gleichlaut” zu machen, müssen wir sie auch gesetzlich in gleicher Weise<br />

verankern. Der Grundsatz von der persönlichen Entfaltung im Grundgesetz muss ein ebenbürtiges<br />

Gegengewicht in der Festsetzung von Grenzen bekommen – im Grundgesetz. Auf<br />

diese Weise verankern wir dort unser erweitertes Bild vom Menschen, welcher einer Begrenzung<br />

in der Maßlosigkeit bedarf. Das ist die konsequente Ausgestaltung des liberalen Menschenbildes,<br />

nach dem die Freiheit des Einzelnen ihre Grenzen in der Freiheit der anderen<br />

findet.<br />

Im nächsten Abschnitt werden wir diese Grenzen auf der Basis liberaler Grundsätze formulieren.<br />

92


6.2 Humanistische Marktwirtschaft<br />

6.2.1 Echte Marktwirtschaft geht anders<br />

Marktwirtschaft ist die Umsetzung des liberalen Prinzips der Freiheit des Einzelnen im Bereich<br />

des Wirtschaftslebens. Dass das nicht richtig funktioniert, sehen wir. Aber das Grundprinzip<br />

ist trotzdem richtig: Der Staat (<strong>als</strong>o die Gemeinschaft) hat sich rauszuhalten aus dem Leben<br />

des Einzelnen, wo immer das möglich ist. Der Staat hat sich insbesondere rauszuhalten bei<br />

der Transformation eines neoliberal entfesselten Kapitalismus zu einer humanistischen<br />

Marktwirtschaft. Ich möchte nicht, dass mir jemand vorschreibt, dass meine Mobilität Elektromobilität<br />

zu sein hat, weil nichts anderes mehr staatlich gefördert wird. Ebensowenig<br />

möchte ich vorgeschrieben bekommen, ob ich auf dem Land oder in der Stadt zu wohnen<br />

habe, Soja oder Schweinefleisch zu essen habe, mein Haus zu dämmen habe usw. Was<br />

spricht denn dagegen, meine einfache Hütte mit dem Holz meiner Bäume zu heizen, obwohl<br />

sie ungedämmt ist? Erneuerbar ist erneuerbar, meine Bäume sind nicht hässlich, und aus<br />

dem Rest möge man sich bitte heraushalten.<br />

Denn das eigentliche Problem liegt woanders. Wir sollten nicht die Ziele mit den Wegen<br />

dorthin verwechseln. Aus gutem Grund überlassen wir dies den sogenannten Kräften des<br />

Marktes, was man besser nennen würde: Den Wünschen der Menschen. Der Begriff des<br />

Marktes ist durch einen f<strong>als</strong>ch verstandenen Wirtschaftsliberalismus verhunzt worden. Man<br />

kann ihn <strong>als</strong> humanistische Marktwirtschaft rehabilitieren, indem man ihn auf eine Vernunft-<br />

Diät setzt.<br />

Wir brauchen die Marktwirtschaft genauso wie die Demokratie. Niemand wird sagen, geschweige<br />

denn vorgeben können, wohin die Reise geht, wie sich diese Wirtschaft entwickeln<br />

wird. Wir wären schlecht beraten, wenn wir die Prinzipien der Marktwirtschaft aufgeben würden,<br />

denn sie sind pure Demokratie. Der Markt ist eine menschliche Erfindung, in jedem Sinne.<br />

Das Problem des Marktes war, dass man das Naheliegende nie gewagt hat: Mäßigung<br />

bei Geld, Macht und Ressourcenverbrauch, Begrenzung der Eitelkeit, Befreiung von Angst.<br />

<strong>Die</strong> Transformation dieser Wirtschaft wird meines Erachtens nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten<br />

funktionieren oder gar nicht. In einer Übergangsphase wird unökologisches<br />

Verhalten immer teurer werden, Größe auch. Kleiner, individueller und menschlicher gewinnt<br />

immer mehr Raum und Kraft. Der Markt wird gar nicht mehr anders können, <strong>als</strong> sich<br />

menschlich und nachhaltig zu verhalten, und dafür benötigt man im wesentlichen folgende<br />

Prinzipien, die sich allesamt „ganz einfach” aus der Forderung nach Demokratie und Marktwirtschaft<br />

ergeben. Jedes dieser Prinzipien gehört derzeit in die Kategorie der „Undenkbarkeit”.<br />

Aber vielleicht könnten sie gerade deshalb zum Umdenken führen.<br />

• Vermögensbegrenzung <strong>als</strong> wirtschaftliche Machtbegrenzung<br />

Reichtum verdirbt den Charakter. Das wussten wir schon immer, nur wussten wir<br />

nicht, wie wir damit umgehen sollen, wo doch scheinbar nur die Möglichkeit des<br />

Reichtums auch die Herrlichkeiten der materiellen Welt zu garantieren schien, nicht<br />

nur im Zeitalter der Technik, sondern insbesondere in feudalen Gesellschaften. Hier<br />

folgt ein ganz klarer logischer Nachweis, dass wer Demokratie und Marktwirtschaft<br />

will, auch die finanzielle Macht begrenzen muss, und zwar absolut begrenzen muss.<br />

• Eigentumsreform<br />

Binswanger stellt klar, dass Eigentum und nicht Knappheit „das konstituierende Element<br />

der Preisbildung und damit des Marktes” ist. „Knappheit allein schafft keinen<br />

Markt. Es muss jemand da sein, der das Gut oder die Nutzung eines Gutes auf dem<br />

Markt anbieten und dafür einen Preis verlangen kann. [...] Erst Eigentum schafft <strong>als</strong>o<br />

den Markt.” (Binswanger 2009 S. 180f.) Oder ein vom Eigentum abgeleitetes Recht<br />

wie Pacht oder Konzession. Wer sich mit Vermögens- und Machtbegrenzung befasst,<br />

muss auch Stellung nehmen zur Eigentumsfrage. Denn Leistung soll sich wieder loh-<br />

93


nen. Leistungslose Einkommen einfach nur auf der Basis von Eigentum gehören einer<br />

feudalen Vergangenheit an.<br />

• Nachhaltigkeitspostulat<br />

Wir haben genug Rohstoffe aus der Erde geholt. Mehr geht nicht. Und mit dem, was<br />

wir haben, müssen wir sorgsam umgehen. Demokratie bedeutet eben auch die Berücksichtigung<br />

der zukünftigen Generationen. <strong>Die</strong> Begriffe des Mülls und des Rückstands<br />

gehören abgeschafft.<br />

• Vertretung der Stimmlosen<br />

Zukünftige Generationen haben bei uns keine Stimme. Sie aus unserer demokratischen<br />

Gesellschaft auszuschließen ist autoritär. Wir brauchen dafür eine demokratische<br />

Lösung. Man könnte auch sagen: Alle Lebewesen, die wir ungefragt in unser<br />

System einbinden und die sich selbst nicht vertreten können, brauchen einen Vertreter.<br />

Ob man Fleisch, Milch und Eier essen mag oder nicht, ist das eine. Wir sind nun<br />

mal auch ein Teil der Nahrungskette. Wer aber Tiere hält, muss auch ihnen eine<br />

„Teilhabe am guten Leben” ermöglichen, <strong>als</strong>o eine artgerechte Haltung. Wer ist <strong>als</strong><br />

demokratischer Vertreter der Stimmlosen geeignet?<br />

Mit diesen Prinzipien vermeidet man, bei einer Transformation des Kapitalismus in die autoritäre<br />

Falle der Zwangsbeglückung und Zwangsbeschränkung zu laufen. So könnte man die<br />

ewigen moralischen Appelle loswerden. So könnte Vernunft zum Natürlichen werden.<br />

6.2.2 Eine humanistische Kritik der Begriffe Demokratie und Marktwirtschaft<br />

Mit der folgenden Gegenüberstellung kann man begründen, dass Demokratie und freie<br />

Marktwirtschaft „eigentlich” das Gleiche sind. <strong>Die</strong>se Idee ist weder neu noch originell, sie<br />

wird gerne benutzt, um Kritiker der Marktwirtschaft zu beruhigen, indem man den Markt <strong>als</strong><br />

„andere Demokratie” darstellt und somit aus der Schusslinie nimmt:<br />

Worum geht's: In der Demokratie Auf dem Markt<br />

Wettstreit der Ideen: Politische Konzepte Produkte<br />

Aktive: Parteien und Unabhängige<br />

Kandidaten<br />

Unternehmer<br />

Passive: Wähler Konsumenten<br />

„Abstimmungsmittel”: Stimmabgabe Kauf<br />

Faktisch passiert das Gegenteil: <strong>Die</strong> Demokratie wird zum „anderen Markt”: Politik <strong>als</strong> Produkt,<br />

Werbung, Unvernunft, Verantwortungslosigkeit, Glorifizierung einzelner Akteure. Das<br />

kann nicht der Sinn der Sache sein. <strong>Die</strong> Demokratie übernimmt mehr und mehr die Maßlosigkeit<br />

der Marktwirtschaft.<br />

<strong>Die</strong>se Gegenüberstellung hat nämlich einen Haken: Aufgabe der Demokratie ist es nicht, den<br />

Wähler mit politischen Konzepten zu versorgen. Hier werden nicht Demokratie und Marktwirtschaft<br />

verglichen, sondern Parteiengezänk und Marktwirtschaft, und die sind in der Tat<br />

sehr ähnlich strukturiert. <strong>Die</strong> Parteien ringen im Wettbewerb um ihren „Kunden”, den Wähler.<br />

Und verflachen dabei zusehends. Wie der Markt. <strong>Die</strong> Parteien sind entstanden aus der<br />

politischen Konfrontation, und an diesem Erbe tragen sie bis heute.<br />

Wir vergleichen daher lieber etwas anderes. Demokratie und Marktwirtschaft sind das Gleiche.<br />

Es sind die beiden Seiten der Medaille „Leben in Gemeinschaft”. <strong>Die</strong> eine Seite betrifft<br />

die öffentlichen Güter (Allmende), die andere das Privateigentum. <strong>Die</strong> strikte Trennung in<br />

eine machtbegrenzte Demokratie und eine freie Marktwirtschaft ist eine von interessierter<br />

94


Seite vorgenommene, künstliche Teilung, mit dem Ziel, die unbegrenzte Freiheit der Marktwirtschaft<br />

mit unbegrenzten Gewinnen und einem hohen Eitelkeitspotential zu bewahren.<br />

<strong>Die</strong>se Trennung aufzuheben, könnte alles viel einfacher machen. In der Politik waren wir<br />

schon mutiger und haben die Macht der Repräsentanten demokratisch begrenzt. Notwendige<br />

Voraussetzung war die Erfahrung der politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Das<br />

müssen wir jetzt in der Marktwirtschaft nachholen. Notwendige Voraussetzung dafür ist die<br />

Erfahrung der finanziellen, ökologischen und sozialen Krisen des 21. Jahrhunderts. Ohne das<br />

geht es anscheinend nicht. Aber wir sind auf dem Wege ...<br />

Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass sich beide Konzepte <strong>als</strong> Teil des gleichen Bemühens<br />

sehen: Ein gutes Leben für den Einzelnen und die Gemeinschaft, von der der Einzelne ein<br />

Teil ist. Zu einem guten Leben gehören Güter. Wie wir in Geld und Markt gesehen hatten,<br />

sind das individuelle (mit Geld bewertbare) Güter und öffentliche Güter. Der Markt ist für die<br />

Bereitstellung der individuellen Güter zuständig, der Staat – <strong>als</strong>o die Gemeinschaft – für die<br />

Bereitstellung der öffentlichen Güter. Das sind einfach zwei verschiedene Güterbereiche in<br />

dem Demokratie-Modell „Gerechte Beteiligung des Einzelnen am Leben der Gemeinschaft”:<br />

• „Stimmdemokratie” ist das Konzept, im Bereich der öffentlichen Güter den gemeinschaftlichen<br />

Interessen des Menschen Geltung zu verschaffen. <strong>Die</strong> öffentlichen Güter<br />

müssen dabei die Grenze der Grundrechte des Einzelnen beachten, aber innerhalb<br />

dieser Grenzen ist die Gemeinschaft frei in ihrer Entscheidung.<br />

<strong>Die</strong> gerechte Beteiligung des Einzelnen am Entscheidungsprozess erfolgt über seine<br />

Stimme.<br />

• „Gelddemokratie” ist das Konzept, im Bereich der individuellen Güter den individuellen<br />

Interessen des Menschen Geltung zu verschaffen. <strong>Die</strong> individuellen Güter müssen<br />

dabei die Grenze der Grundrechte der Gemeinschaft beachten, aber innerhalb dieser<br />

Grenzen sind die Einzelnen frei in ihrer Entscheidung.<br />

<strong>Die</strong> gerechte Beteiligung des Einzelnen am Entscheidungsprozess erfolgt über sein<br />

erarbeitetes Geld.<br />

Das Konzept der politischen Demokratie = Stimmdemokratie kennen wir ja nun schon ein<br />

bisschen länger. Es gibt derzeit kein besseres Verfahren, im Bereich der öffentlichen Güter<br />

die gerechte Beteiligung des Einzelnen am Entscheidungsprozess sicherzustellen.<br />

Marktwirtschaft = Gelddemokratie ist im Kern eben ein demokratisches Konzept: Es gibt derzeit<br />

kein besseres Verfahren, im Bereich der individuellen Güter die gerechte Beteiligung des<br />

Einzelnen am Entscheidungsprozess sicherzustellen. Da individuelle Güter niemanden<br />

benachteiligen, gibt es keinerlei Recht, den Beteiligten da reinzureden. Zwei Handelspartner<br />

finden sich und verhandeln über den Preis, jemand erkennt eine Marktlücke und investiert in<br />

eine Produktion usw. Der ordnungspolitische Rahmen wird lediglich über diejenigen Qualitäten<br />

der Güter gelegt, die die Gemeinschaft betreffen, wie Rohstoffe, Müll etc. Aber das ist<br />

auch jetzt nicht anders, nur noch zu wenig nachhaltig. Man kann es auch noch kürzer formulieren:<br />

Marktwirtschaft ist die Demokratie der Warenwelt.<br />

Somit wird deutlich, wie untrennbar Demokratie und Marktwirtschaft miteinander verbunden<br />

sind. Sie bilden „ein Demokratie-Paar auf zwei sich ergänzenden Märkten”.<br />

95


6.2.3 Machtbegrenzung<br />

Hier die Symmetrie von Demokratie und Marktwirtschaft in der Gegenüberstellung:<br />

Worum geht's: Repräsentative Demokratie<br />

Freie Marktwirtschaft<br />

Abstimmung über: Öffentliche Güter Mit Geld bewertbare Güter<br />

des individuellen Bedarfs<br />

Vision: Gutes Leben der Gemeinschaft<br />

Eigentum: Öffentlich Privat<br />

Beteiligte: Wahlberechtigte Personen<br />

Gutes materielles Leben<br />

Grundsatz der Stimmkraft: Gleichheit Individuelle Leistungsfähigkeit<br />

„Einheit” der Stimmkraft: Stimme Geld<br />

Grenze: Grundrechte des Einzelnen Grundrechte der Gemeinschaft<br />

Exekutive/Handeln: Bundesregierung Personen selbst<br />

Legislative/Moral: Bundestag und Bundesrat Personen selbst<br />

Judikative/Gewissen: Unabhängige Gerichte Personen selbst<br />

Der entscheidende Punkt ist: Während in der Marktwirtschaft keine anderen Organe <strong>als</strong> die<br />

Beteiligten benötigt werden, da sie für sich sprechen und handeln können, müssen wir in der<br />

Demokratie dem Staat, <strong>als</strong>o der „juristischen Person Gemeinschaft”, Organe geben, um<br />

Handlungsfähigkeit zu erreichen. So kommen wir beispielsweise zur repräsentativen Demokratie<br />

mit ihren Institutionen (wobei wir weiter unten sehen werden, warum wir nicht zufällig<br />

gerade zur repräsentativen Demokratie kommen). Wichtige Prinzipien dabei sind Machtbegrenzung<br />

und Begrenzung der Versuchung, das führt zu den Regeln der Verfassung mit<br />

der Gewaltenteilung <strong>als</strong> System von „Checks and Balances”. Wir teilen die Macht des Staates<br />

in verschiedene Bereiche auf, nämlich Exekutive, Legislative und Judikative, und zwar aus<br />

dem einfachen Grund, weil die Repräsentanten Menschen sind. Menschen sind fehlbar, sie<br />

neigen zur Unvernunft und zum Interessenkonflikt. <strong>Die</strong> Gewaltenteilung ist der Versuch, es<br />

den menschlichen Repräsentanten zu erleichtern, die Konflikte zwischen Amt und persönlichen<br />

Interessen zu überwinden, insbesondere die Versuchung „absolute Macht” auszuschalten.<br />

Wir versuchen, den Repräsentanten die Vernunft zu ermöglichen.<br />

Im Individuum fallen alle „Repräsentanten” in ein und derselben Person zusammen: Es gibt<br />

keine Repräsentanten, weil außer den Individuen niemand weiter betroffen scheint. <strong>Die</strong>se<br />

können sich selbst vertreten, und wie wir sehen, ist eine Gewaltenteilung nicht im Ansatz<br />

vorhanden. Das bedeutet: Der Mensch ist im Markt sich selbst und seiner Vernunft oder Unvernunft<br />

ausgeliefert. Er kann in der Warenwelt die absolute Macht erringen. Aber Geld ist<br />

keine reine Privatangelegenheit: Geld ist Leistungserwartung an die Gemeinschaft. <strong>Die</strong> Gemeinschaft<br />

ist betroffen, die Grundrechte der Gemeinschaft sind in wichtigen Fragen nicht<br />

gewährleistet.<br />

Beim Individuum ist die Gewaltenteilung ganz offensichtlich nicht möglich, aber glücklicherweise<br />

auch nicht nötig: Es gibt für die Macht ein Maß, denn Geld lässt sich bemessen. Wir<br />

müssen daher das mit Geld bewertbare Vermögen absolut begrenzen <strong>als</strong> Begrenzung der<br />

Leistungserwartung gegenüber der Gemeinschaft. Es gibt keinen Grund für die Unbegrenztheit<br />

dieser Leistungserwartung, bei allem Verdienst des Einzelnen. Es ist zu gefährlich, das<br />

96


erleben wir gerade. Es führt uns in die Diktatur des Mammons, so wie der autoritäre Staat in<br />

die Diktatur des Einzelnen führt.<br />

Absolute Begrenzung bedeutet: Es gibt eine Obergrenze für privates Vermögen, die zu überschreiten<br />

niemand das Recht hat. Es gibt eine Kappung. <strong>Die</strong> Höhe dieser Obergrenze ist Teil<br />

des demokratischen Entscheidungsprozesses.<br />

Exkurs 1: Höhe Null der Reichtumsobergrenze an Produktionsmitteln ist der Kommunismus.<br />

Letztlich ist der Kommunismus die Verabschiedung von der Individualität<br />

wirtschaftlichen Handelns. <strong>Die</strong> „reine Form” des Kommunismus konnten wir dabei<br />

noch gar nicht erleben, weil den realen Formen immer noch die Idee der Wachstumsgesellschaft<br />

zugrunde lag. <strong>Die</strong> Planwirtschaft trat ja nur deshalb auf den Plan,<br />

weil die immer bessere Versorgung der Menschen mit materiellen Gütern Ziel der Angelegenheit<br />

war. Planwirtschaft war sozusagen der misstrauische Beschleunigungsversuch<br />

einer Verteilung von Gütern, weil man nicht auf das Spiel von Angebot und<br />

Nachfrage im Rahmen von Kooperation warten wollte und weil man sowieso besser<br />

wusste, was der Mensch benötigt. Planwirtschaft war die forcierte Zwangskooperation<br />

auf nationaler Ebene. <strong>Die</strong> Idee der Planwirtschaft wurde somit auch maßgeblich<br />

durch die Konkurrenz der Systeme geboren: Es musste schnell gehen, weil der Beweis<br />

der Überlegenheit des Kommunismus erbracht werden sollte.<br />

Exkurs 2: <strong>Die</strong> Idee der Herrschaftslosigkeit ist die Anarchie. Es gibt gar keine „juristische<br />

Person Gemeinschaft” und damit auch keine Ausübung von Macht. Freie Kooperation<br />

regelt den Austausch von Gütern. Jeder ist zurückgeworfen auf die eigene Vernunft,<br />

auch im Umgang mit der Natur und den Rückständen seines eigenen Wirtschaftens.<br />

Im Zusammenleben der Nationen auf der Welt haben wir die Anarchie<br />

teilweise verwirklicht: Es gibt keine Weltregierung. Nach dem vorher Gesagten zum<br />

Thema Vernunft wissen wir, dass das eine schwierige Sache ist. Anarchie ist der praktischen<br />

Wirklichkeit des Gehirns mit seiner unendlichen Flexibilität und der Fähigkeit<br />

zum Konstruktivismus, die beide unsere Vernunft zu vernebeln vermögen, nicht angemessen.<br />

Dem Liberalismus steht die Anarchie aber viel näher <strong>als</strong> der Kommunismus.<br />

Überspitzt könnte man sagen: Kommunismus ist ein autoritäres, gegen die Idee des<br />

Unternehmers gerichtetes Konzept, in welchem Ideen des Wegnehmens und der Bevormundung<br />

eine wesentliche Rolle spielen. Anarchie ist ein hilfloses Konzept, welches<br />

aus der Ratlosigkeit im Umgang mit dem Spannungsfeld zwischen Individualismus<br />

und Gemeinschaft resultiert. Und der Liberalismus ist solange ein arrogantes<br />

Konzept, wie er nur der politischen Macht Grenzen setzt, der wirtschaftlichen Macht<br />

jedoch nicht.<br />

Und damit wissen wir wieder, was wir eigentlich schon die ganze Zeit in der Tiefe unserer<br />

Seele wissen: Reichtum verdient Grenzen. Demokratie und humanistische Marktwirtschaft<br />

sind der Lebenswirklichkeit des Menschen angemessen. Sie respektieren die Eigenschaften<br />

seines Gehirns, seine Unvollkommenheit. Sie sind menschlich.<br />

Vermutlich wird es eine Weile dauern, bis wir das ganze Ausmaß der Vorteile dieser Auffassung<br />

begreifen werden. Mit der Beendigung der sozialen Marktwirtschaft und ihrem Ersatz<br />

durch eine humanistische Marktwirtschaft können wir zudem das Gönnerhafte des sozialen<br />

Ausgleichs beenden und den Weg freimachen für die wirkliche Entfaltung des Menschen.<br />

Achtung des Individuums und seiner Grenzen, Achtung der Gemeinschaft und ihrer Grenzen,<br />

Glaube an die Vernunft des Menschen – Demokratie und Marktwirtschaft sind die einzigen<br />

Systeme, die Gebrauch machen können von der Lernfähigkeit des Menschen.<br />

Es gibt noch viele weitere Begründungen, warum wir diesen Weg der finanziellen Machtbegrenzung<br />

gehen sollten:<br />

97


• <strong>Die</strong> Ergebnisse der Studie von Kate Pickett und Richard Wilkinson, in der sie nachweisen,<br />

dass eine größere Gleichheit innerhalb einer Gesellschaft für alle Mitglieder der<br />

Gesellschaft besser ist. „Es gibt nur wenig, was auf funktionierende Demokratien und<br />

Märkte derart zersetzend wirkt wie Korruption und ungezügelte Gier.”<br />

(Pickett/Wilkinson 2009 S. 330f.)<br />

• Eine Vermögensobergrenze verbindet den Gedanken der Gleichheit mit den Gedanken<br />

der Freiheit: Im Kleinen hat man alle Freiheit, im Maßlosen wird man gebremst –<br />

ohne dass es eine absolute Grenze gibt, denn je breiter die Zustimmung ist, desto<br />

größer kann der Anteil der „Mitaktionäre” sein. Eine Vermögensobergrenze bedeutet<br />

nicht das Ende großer Investitionen, sie bedeutet das Ende großer Investitionen Einzelner.<br />

• Politische Macht wurde und wird immer auch benutzt, um Geld zu scheffeln oder sich<br />

zumindest finanzielle Vorteile und lukrative Kontakte zu verschaffen, in Diktaturen wie<br />

in der Demokratie. Indem wir generell die finanzielle Macht begrenzen, festigen wir<br />

auch die repräsentative Demokratie.<br />

• Allmähliche Reduzierung der Geldmenge und damit der gesamtgesellschaftlichen<br />

Leistungserwartung und -verpflichtung. Das eröffnet mehr Spielraum für andere Formen<br />

der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Betätigung, die nicht mit Geld bewertet<br />

werden, aber zum Wohlstand beitragen.<br />

• Das eigene Seelenheil. <strong>Die</strong> Begrenzung der Versuchung. Nur durch das verordnete<br />

Maß werden wir unsere Maßlosigkeit überwinden und damit die Eitelkeit im Zaum halten<br />

können. Zugleich wird die Welt durch den geminderten wirtschaftlichen Druck<br />

von ihrer Existenzangst erleichtert. Wir brauchen keine maßlosen Innovationen, die<br />

maßlosen Gewinn bringen.<br />

• Grundsätzlich sollte auch das Vermögen von Unternehmen nicht unbegrenzt wachsen<br />

dürfen. Immer größer ist nicht natürlich. <strong>Die</strong> Größe eines Unternehmens bedeutet<br />

wirtschaftliche Macht, die kleinere Formen der Wirtschaft bedroht. Deshalb erscheinen<br />

eine progressive Kapitalertragsteuer sowie eine Vermögensteuer auch für Unternehmen<br />

angemessen. Vielleicht sogar auch hier eine Vermögensobergrenze.<br />

6.2.4 Eigentum<br />

Mit der Argumentation der Vermögensbegrenzung kann man natürlich auch noch weitergehen<br />

und das Privateigentum insgesamt in Frage stellen, indem man auch für Sachen, Unternehmen<br />

oder Grundstücke demokratische Formen der Beteiligung fordert, selbst bis dahin,<br />

dass die Gemeinschaft entscheidet, wie viele Tassen der einzelne besitzen darf. Das heißt: Es<br />

gibt keine theoretische Untergrenze für die Obergrenze des Vermögens. <strong>Die</strong>se Grenze müssen<br />

wir schon selbst ziehen, und wir haben dabei das sichere Gefühl, dass diese Grenze nicht<br />

„Null” lauten sollte. Warum?<br />

Leistung soll sich lohnen<br />

Binswanger sagt es so: „<strong>Die</strong> wichtigste Begründung für das individuelle Eigentum ist die eindeutige<br />

Festlegung der Verantwortung. Wenn – wie Aristoteles darlegt – alles allen gehört<br />

und alle ‚durcheinandergreifen‘, fällt der Ertrag anderen zu <strong>als</strong> demjenigen, der den Aufwand<br />

hatte, und Ertrag und Aufwand können einander nicht mehr zugerechnet werden. Sehr<br />

schnell wird sich dann die Tendenz durchsetzen, auf Kosten anderer den eigenen Aufwand<br />

zu minimieren. Eine große Unwirtschaftlichkeit und Vergeudung wäre die Folge.” (Binswanger<br />

2009 S. 194)<br />

Das ist die Idee der Leistungsgesellschaft. Wer sät, soll auch ernten. Auch diese Idee ist aus<br />

der Einsicht in die menschliche Unvollkommenheit geboren, wie Binswanger darlegt: Angesichts<br />

einer Gelegenheit werden wir schwach. Wir geraten in den Konflikt zwischen unserem<br />

individuellen Interesse am Ertrag und der höheren Einsicht in den fremden Aufwand. Das<br />

Eigentum ist die mit Macht ausgestattete Institution, die diesen Konflikt zu überwinden hilft.<br />

98


Allerdings – und dieser Punkt ist ganz wesentlich – ist hier nur die Rede vom Ertrag, der dem<br />

Aufwand entspricht. Von einem leistungslosen Einkommen aus Eigentum ist hier nicht die<br />

Rede.<br />

<strong>Die</strong> Abgrenzung einer individuellen Leistung von der Gemeinschaftsleistung und ihre Bewertung<br />

ist der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Eigentumsdiskussion. Es gibt für die Erbringung<br />

jedweder Leistung nur zwei Quellen:<br />

• Quelle individueller Leistungen sind die körperliche Tätigkeit und die Denktätigkeit eines<br />

Menschen, und dazu zählen auch alle sozialen und medizinischen Berufe.<br />

• Quelle gemeinschaftlicher Leistungen sind zum einen individuelle Leistungen, die<br />

einstm<strong>als</strong> für die Gemeinschaft erbracht wurden, z. B. Mitarbeit an einem öffentlichen<br />

Projekt, oder ihr geschenkt wurden. Zum anderen alle natürlichen Ressourcen, denn<br />

warum sollte jemand auf diese einen Eigentumsanspruch haben? Dazu gehören natürlich<br />

auch Grundstücke ohne besondere Ressourcen, z. B. Acker- oder Bauland, oder<br />

Wasser. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum jemand einen absoluten, exklusiven<br />

Anspruch auf einen Teil der Welt haben soll, den er nicht geschaffen hat.<br />

Das Verpachten eines Ackers, der seit langem urbar gemacht ist, ist keine besondere<br />

Leistung mehr.<br />

<strong>Die</strong> Idee des privaten Eigentums an natürlichen Ressourcen und Land stammt aus einer Zeit,<br />

<strong>als</strong> Ressourcen einerseits praktisch unbegrenzt vorlagen und andererseits der Arbeitsaufwand<br />

für ihre Gewinnung im Vordergrund stand. Bergwerksarbeit mit der Spitzhacke ist eine<br />

Schufterei, ebenso ein Stück Urwald urbar zu machen, einen Baum mit der Axt zu fällen und<br />

aus dem Wald ins Dorf zu befördern. Der Materialwert aller praktisch wichtigen Materialien<br />

wurde kaum von Seltenheit bestimmt, sondern fast ausschließlich von der Mühe der Gewinnung,<br />

und die war in der Regel hoch. Und so erscheint es logisch, dass wer säen will und<br />

vorher den Wald roden muss, auch über lange Zeit das Recht zum Ernten hat. Sozusagen<br />

ewig. Das ist Eigentum.<br />

<strong>Die</strong> Probleme mit dem Eigentum kommen erst in die Welt, wenn<br />

• das Eigentum missbraucht wird, <strong>als</strong>o mit den Rechten anderer Individuen oder den<br />

Rechten der Gemeinschaft in Konflikt gerät. Binswanger weist zu Recht darauf hin,<br />

dass dies ein ganz wesentliches Problem des klassischen absoluten Eigentumsbegriffes<br />

ist (Binswanger 2009 S. 181ff.) .<br />

• das Eigentum nicht selbst konsumiert, sondern verkauft wird, <strong>als</strong>o ein Preis dafür gefunden<br />

werden muss. Individuen treffen aufeinander, und die Marktmechanismen aus<br />

Angebot und Nachfrage beginnen zu greifen.<br />

Missbrauch von Eigentum<br />

Heute kann man sein Mietshaus gegen den Willen der Mieter verkommen lassen. <strong>Die</strong> Mieter<br />

wären sogar bereit, eine angemessene Mieterhöhung zu zahlen. Aber der Eigentümer hat<br />

keine Lust. Und es gibt keinen praktikablen Weg, ihn zu zwingen. <strong>Die</strong> Hürden für Enteignung<br />

hängen fürchterlich hoch, das ist nicht gangbar. Hier müssen Mechanismen der Kommunikation<br />

und des Ausgleichs geschaffen werden. Es kann nicht sein, dass „öffentlich wirksames”<br />

Eigentum von Lustlosigkeit oder überzogenen wirtschaftlichen Interessen bestimmt wird.<br />

Ein Teil des Missbrauchs von Dingen oder einem Gebäude oder anderen individuellen Leistungen<br />

findet schon heute seine Schranken im Ordnungsrecht (Umweltrecht etc.). Ein anderer<br />

Eigentumsmissbrauch beruht auf Ressourcenmissbrauch (Übernutzung), und diese Frage<br />

handeln wir unter dem Punkt „Vermögensobergrenze für gemeinschaftliche Leistungen” ab.<br />

Es wird gar kein Eigentum an Ressourcen mehr geben.<br />

Verkauf von Eigentum<br />

Um dieses Problem richtig zu verstehen, benötigt es einen kleinen Exkurs über Marktmechanismen.<br />

Angenommen, ein Gerücht spräche sich herum, dass Milch unsterblich mache. Ein<br />

99


Liter pro Tag genüge, heißt es. <strong>Die</strong> Folge wäre ein Ansturm auf Milch. Wenn das Angebot<br />

nicht reicht, steigt der Milchpreis. <strong>Die</strong> Milchproduzenten reiben sich die Hände, denn sie leben<br />

jetzt in Saus und Braus, ihre Kosten haben sich ja nicht verändert. Und dann? Bleibt der<br />

Preis da? Wenn es Menschen gibt, die das Gefühl haben, sie würden jetzt besser „in Milch<br />

machen” anstelle dessen, was sie bisher gemacht haben, und in die Milchproduktion einsteigen,<br />

dann würde der Preis wieder fallen, sobald die Angebotsmenge gestiegen ist. Er würde<br />

so weit fallen, dass subjektiv die ganzen Milchanbieter davon leben können. Würde er tiefer<br />

fallen, stiegen einige wieder aus. Würde man immer noch üppig davon leben können, würden<br />

weitere einsteigen. Sowas spricht sich ja rum. Das ist das Schöne am Markt: Er reguliert<br />

sich im Idealfall über das subjektive Einkommensempfinden selbst. Das Einkommen landet<br />

im Idealfall immer bei einem existenzsichernden Niveau, das natürlich vom Gesamtniveau<br />

des gesellschaftlichen Wohlstandes abhängt. Wenn sich das Gerücht dann <strong>als</strong> Ente erweist,<br />

geht die ganze Geschichte retour, und man landet nach einiger Zeit wieder da, wo man hergekommen<br />

war.<br />

<strong>Die</strong> Krux dabei ist immer der „freie Marktzugang für Anbieter”, sprich: Alle Neulinge, die in<br />

die Milchproduktion einsteigen wollten, konnten dies tun. Sie haben im Idealfall die völlige<br />

Freiheit, es zu tun oder zu lassen, genauso wie auch die Nachfrager die völlige Freiheit haben,<br />

Milch zu kaufen oder es zu lassen. Was wäre passiert, wenn das nicht möglich gewesen<br />

wäre, weil beispielsweise zuwenig Ackerland vorhanden ist? Der Preis wäre hoch geblieben,<br />

und die Milchproduzenten hätten weiter in Saus und Braus gelebt. Und was wäre mit dem<br />

Preis für Ackerland passiert? Genau, der wäre auch gestiegen. Und hätte da irgendeine eigene<br />

Leistung der Milchproduzenten oder Landbesitzer dahintergestanden? Nein. <strong>Die</strong> Folge<br />

dieser nicht behebbaren Angebotsknappheit sind leistungslose Einkommen, solange sich<br />

Nachfrager finden, die das in Ordung finden (es wird ja keiner gezwungen, Milch zu kaufen).<br />

Grundsätzlich haben wir mit so etwas überhaupt kein Problem, wenn das knappe Angebot im<br />

wesentlichen auf individueller Leistung beruht und wir darauf nicht angewiesen sind. Wir<br />

lassen es dann bleiben. Es ist uns zu teuer. Wir fühlen uns nicht mehr so wohl, wenn wir<br />

darauf angewiesen sind. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn es weit und breit nur einen<br />

Bäcker gibt, der überteuert sein Brot verkauft. Und wenn wir dann auch noch das Gefühl<br />

haben, dass das knappe Angebot wesentlich auf gemeinschaftlicher Leistung beruht, die uns<br />

auf individuelle Rechnung verkauft wird, dann fühlen wir uns massiv betrogen. Der Immobilienmarkt<br />

in nachgefragten Gegenden ist ein klarer Fall von Angebotsknappheit mit einem<br />

hohen Anteil von gemeinschaftlicher Leistung. Eine Immobilie steht nämlich auf einem<br />

Grundstück, was keiner hergestellt hat, und genau die Grundstücke sind auch die Ursache<br />

des knappen Angebotes. <strong>Die</strong> lassen sich nämlich nicht vermehren. Es kann nicht einfach jeder<br />

kommen und weitere Immobilien auf den Markt werfen. Wissen Sie, wie hoch die Ladenmieten<br />

an den Champs-Élysées in Paris sind? Um die 7.000 EUR. Pro Quadratmeter. Pro<br />

Monat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass tatsächlich eine realwirtschaftliche Leistung in<br />

dieser Höhe dahinter steht. Leistung muss sich wieder lohnen ...<br />

Wenn der Restaurant- oder Ladenbesitzer gut verdient, warum muss der Immobilienbesitzer<br />

etwas davon abbekommen? Der hat damit nichts zu tun, der Ausgleich dafür muss an anderer<br />

Stelle erfolgen. Das ist ansonsten ein leistungsloses Einkommen, ebenso wenn der Stadtteil<br />

hip wird. Das hat der Immobilienbesitzer in aller Regel nicht verursacht. <strong>Die</strong> Antwort der<br />

klassischen Marktanhänger lautet: „So ist es halt. Anders lassen sich diese Zuteilungsprobleme<br />

nicht lösen. Man ist durch die Investition ja auch ein Risiko eingegangen.” Ganz so einfach<br />

sollten wir es uns aber nicht machen. Denn dass das nicht richtig funktioniert, sieht man<br />

ja.<br />

<strong>Die</strong> Idee des Risikoentgeltes wird unter dem Aspekt der Vermögensobergrenze ohnehin ganz<br />

anders zu betrachten sein, weil große Investitionen in Zukunft nicht mehr von wenigen getätigt<br />

werden können: <strong>Die</strong> haben schlicht zu wenig Vermögen. Es braucht viele für eine große<br />

100


Investition, was das Ausfallrisiko verringert, da ein größeres Interesse vorab gegeben sein<br />

muss. <strong>Die</strong> Idee der großen, riskanten Investition weniger Investoren hat ausgedient.<br />

Leistungsvarianten<br />

<strong>Die</strong> Aufgabe besteht jetzt <strong>als</strong>o darin zu bestimmen, wie wir für die verschiedenen Leistungsvarianten<br />

zu einem Verkaufspreis im Falle des Verkaufs und zu einer Vermögensobergrenze<br />

für die Kappung kommen.<br />

1. Wenn überwiegend individuelle Leistungen vorliegen, ist die Sache einfach: Der Markt<br />

ist optimal, individueller Handel ist möglich.<br />

2. Wenn überwiegend gemeinschaftliche Leistungen vorliegen, ist es auch einfach: <strong>Die</strong><br />

Art der Verteilung wird demokratisch beschlossen, eventuelle Einnahmen gehören der<br />

Gemeinschaft.<br />

3. Wenn eine Mischung vorliegt, ist es schwieriger. Aber nicht unmöglich. Wo sich gemeinschaftliche<br />

Leistungen und individuelle Leistungen mischen, kommt man nicht<br />

umhin, sie auseinanderzudividieren. Es gibt gar nicht so viele Bereiche, wo sich das<br />

mischt. Der wichtigste sind bereits die Immobilien mit einem gemeinschaftlichen<br />

Grundstück und einer individuellen Bauleistung. Reine Grundstücke oder natürliche<br />

Ressourcen wie Wald fallen unter den zweiten Punkt.<br />

1. Vermögensobergrenze für individuelle Leistungen<br />

Für den Verkauf individueller Leistungen, beispielsweise Sachen oder ganzer Unternehmen,<br />

gibt es einen Markt, der den Verkaufspreis bestimmt. Damit hat die Gemeinschaft<br />

nichts zu tun.<br />

Für die Kappung müssen wir entscheiden, ab welchem Vermögen das Handeln des<br />

Einzelnen so stark in das Leben der Gemeinschaft eingreifen kann, dass wir seine<br />

Macht begrenzen müssen. Für die Tassen ist das bisher wenig plausibel, aber auch<br />

für „gesellschaftlich relevantes Eigentum” wie ein Unternehmen hatten wir bisher keine<br />

Grenze vorgesehen, weil es einerseits schon bisher Machtbegrenzungen gegeben<br />

hat und andererseits Macht auch etwas Positives haben kann:<br />

• Es gibt Unternehmensformen, die von vornherein gemeinschaftlich organisiert<br />

sind, beispielsweise Genossenschaften.<br />

• Es hat immer auch Unternehmer gegeben, die freiwillig Formen der Mitbestimmung<br />

und Beteiligung eingeführt haben („Inseln der Vernunft” ...)<br />

• In der Tatsache, dass es von Einzelnen geführte, <strong>als</strong>o „undemokratische” Unternehmen<br />

gibt, respektieren wir die Fähigkeit des einzelnen Menschen zur<br />

Vision. Es gibt Menschen, die haben eine bestimmte Vorstellung von der Zukunft<br />

und besitzen die Kraft, andere dafür zu begeistern und zu führen, hier in<br />

Form eines Produktes. Sie sind bereit, Verantwortung zu tragen. Dafür müssen<br />

sie auch entscheiden dürfen.<br />

Mit der Höhe der absoluten Vermögensobergrenze bestimmen wir indirekt die<br />

Größe und damit auch die Vernunft oder Vermessenheit der möglichen Visionen Einzelner<br />

in der Marktwirtschaft. Tatsächlich ist es auch schon heute so, dass viele große<br />

Kapitalgesellschaften nicht einem Menschen allein gehören, weil dafür die Vision<br />

„nicht ausreicht”. Über die Beteiligung anderer wird die Vision geteilt und weiter befördert,<br />

aber auch potentiell geschwächt. Der Visionär gibt Gestaltungsmacht ab –<br />

und muss fortan hart daran arbeiten, dass er weiterhin <strong>als</strong> der alleinige „Führer auf<br />

dem rechten Wege” angesehen wird. Im Bereich der Informationstechnologie ist das<br />

sehr schön zu beobachten: Steve Jobs pflegte und Bill Gates pflegt auf diese Weise<br />

seine Eitelkeit ... Sobald sie sterben, ist es erst mal Essig mit der Vision, deshalb sind<br />

auch „Kronprinzen” oder „Kronprinzessinnen” so wichtig: Sie sind die Erben der Vision<br />

und sollen sie möglichst „unverfälscht” weiterführen. Unverfälscht deshalb, weil ja nur<br />

101


der ursprüngliche Visionär weiß, wie es richtig geht. Vermessene Visionen sind <strong>als</strong>o<br />

wieder mal nur Ausdruck der eigenen Eitelkeit.<br />

2. Vermögensobergrenze für gemeinschaftliche Leistungen<br />

Binswanger schlägt für den zweiten Punkt die Rückkehr zur Gewährung eines Nutzungsrechts<br />

anstelle des absoluten Eigentums vor, <strong>als</strong>o die Erteilung einer Konzession<br />

(Binswanger 2009 S. 185f.). Das würde insbesondere auch alle Grundstücke betreffen,<br />

hierfür gibt es bereits die Möglichkeit des Erbbaurechts. Man braucht Grundstücke<br />

<strong>als</strong>o gar nicht in die Vermögensobergrenze miteinzubeziehen, weil es kein Eigentum<br />

daran mehr gibt. Und keinen Verkauf. Gesellschaftliches Eigentum an Grund und<br />

Boden in Verbindung mit der Erteilung von zeitlich begrenzten Nutzungsrechten führt<br />

dazu, dass dass in regelmäßigen Abständen die Kontrolle an die Gemeinschaft zurückfällt<br />

und somit der Spekulation die Grundlage entzogen wird. Über die Konzessionsgebühr<br />

werden die noch unerschlossenen Ressourcen praktisch an den Konzessionär<br />

verkauft, der sie wiederum nach der Gewinnung <strong>als</strong> individuelle Leistung auf<br />

dem Markt verkauft, es gibt <strong>als</strong>o einen Marktpreis. So funktioniert das ja schon heute.<br />

Nichterneuerbare Ressourcen, die auf diese Weise neu gefördert werden, wird es<br />

aufgrund des Nachhaltigkeitspostulates gar nicht mehr geben. Das betrifft dann eher<br />

Wald, Grundstücke für Bau oder Landwirtschaft, Fischereirechte.<br />

3. Vermögensobergrenze für Mischleistungen<br />

Für den dritten Punkt bleibt nur das Auseinanderdividieren der beiden Anteile, diese<br />

Rechnung macht der Eigentümer ja schon heute auf (Gewinn- und Verlustrechnung).<br />

Dem Eigentümer der individuellen Leistung wird stets nur der eigene Aufwand <strong>als</strong><br />

Vermögen angerechnet. Beim Verkauf der Leistung (was bei Immobilien auch eine<br />

Vermietung sein kann) müssen wir die Marktgesetze außer Kraft setzen, der Preis<br />

wird auf Basis dieser Kosten berechnet. Persönliche Eigenleistungen müssen „vernünftig”<br />

bewertet werden. Bei Immobilien landet man dann bei der sogenannte Kostenmiete.<br />

Das ist sozusagen der Preis dafür, dass der Eigentümer auf einer gemeinschaftlichen<br />

Leistung aufbaut. Anders gesprochen: Bei Mischleistungen wird der Gewinn<br />

nach Berücksichtigung von Eigenleistungen abgeschöpft. Gibt keinen Gewinn.<br />

Punkt. Für Gewinn muss man sich andere Betätigungsfelder suchen.<br />

Das beste Modell für Immobilien ist ohnehin das der Genossenschaft. Vielleicht macht<br />

man das einfach zur Bedingung. Es würde uns viel ersparen.<br />

Erbschaftsteuer<br />

Aus diesen Überlegungen folgt auch sofort: Eine Erbschaftsteuer gehört nicht in dieses System.<br />

Vererbte Güter stellen kein leistungsloses Einkommen dar, auch wenn das derzeit gerne<br />

so dargestellt wird. Zwar hat der Erbe die Leistung nicht erbracht, aber die Gemeinschaft<br />

auch nicht. Es gibt keinen Grund, warum die Gemeinschaft vom Erbfall profitieren sollte.<br />

Historisch ist die Erbschaftsteuer zwar die älteste aller Steuern, aber ich glaube, historisch<br />

gab es auch noch nie eine absolute Obergrenze für Vermögen (man möge mich korrigieren).<br />

In einem System mit Vermögensobergrenze braucht man eine Erbschaftsteuer schlicht nicht.<br />

Man kann ohne weiteres darüber diskutieren, ob „Vererben” <strong>als</strong> natürlicher Vorgang anzusehen<br />

ist oder nur eine gesellschaftliche Konvention. Tatsächlich hat Vererben eine ganze Reihe<br />

von praktischen Aspekten, die man nicht ignorieren kann. <strong>Die</strong> Idee des Vererbens hat sich<br />

ja nicht willkürlich entwickelt. Zumindest die ganze Idee des Mittelstandes beruht wesentlich<br />

auf der Möglichkeit, Vermögen und Verantwortung über mehrere Generationen weiterzugeben,<br />

und das wird durch eine Vermögensobergrenze nicht grundsätzlich in Frage gestellt.<br />

<strong>Die</strong> Vermögensobergrenze hat den angenehmen Nebeneffekt, dass zum Lebensende hin das<br />

Anhäufen von Vermögen immer uninteressanter wird, denn nach dem Erbfall hat sich das<br />

Vermögen des Erben erhöht und wird gegebenenfalls wieder gekappt. Der Fokus auf Vermö-<br />

102


gen <strong>als</strong> die „Möglichkeit zu konsumieren” wird wieder stärker. Für eine Altersvorsorge sollte<br />

die Rolle des Vermögens eh sinken.<br />

Nichtkapitalisierbare Gemeinschaftsgüter<br />

Hinter diesem etwas sperrigen Begriff stehen öffentliche Güter wie Landschaftsbild, saubere<br />

Luft, sauberer Regen, saubere Flüsse, Frieden. Sie gehören nicht einem Einzelnen, jeder<br />

muss sie „konsumieren” können, man stört niemanden dabei, und niemand hat das Recht,<br />

einem diese Dinge „unvernünftig” zu verweigern. Es lässt sich kein Preis dafür festlegen,<br />

dennoch haben sie für die Gemeinschaft einen Wert. Man wird sie weiterhin mit dem Ordnungsrecht<br />

„bewerten” müssen, d. h. entscheiden, wie viel „Missbrauch” zulässig ist und was<br />

er kostet.<br />

6.2.5 Repräsentative Demokratie <strong>als</strong> Wunsch nach Vision<br />

<strong>Die</strong> Idee der unternehmerischen Vision begründet demzufolge auch noch etwas ganz anderes:<br />

<strong>Die</strong> repräsentative Demokratie ist ebenfalls ein Ausdruck dieser Vorstellung. Sie ist nicht<br />

lediglich eine praktische Arbeitsteilung, sondern die Gemeinschaft möchte auf diese Weise<br />

Personen an die Spitze befördern und mit einem gewissen Maß an Gestaltungsmacht ausstatten,<br />

die eine Vision umsetzen, der wir vertrauen. Menschen, die idealerweise über Demut,<br />

Selbstvertrauen und Vernunft verfügen. Weil unsere aktuelle Vision aber die Eitelkeit <strong>als</strong><br />

maßgeblichen Antrieb hat, spült unsere Demokratie immer wieder die Eitlen nach oben – mit<br />

bemerkenswerten Ausnahmen. Man kann nämlich persönlich eitel sein und dennoch eine<br />

uneitle politische Vision besitzen. Und umgekehrt. (Sie können jetzt grübeln, welche deutschen<br />

Bundeskanzler und -kanzlerinnen ich in welcher Kategorie sehe.)<br />

Der aktuelle Wunsch nach mehr direkter Demokratie spiegelt unser Misstrauen gegenüber<br />

einer repräsentativen Demokratie wider, in der die Vernunft der Eitelkeit und der Bereicherung<br />

gewichen ist. Wo ist denn heute der Wunsch nach direkter Demokratie am lautesten?<br />

Bei technischen Großprojekten und bei Privatisierungen öffentlicher Güter, wo sich wenige<br />

auf Kosten vieler bereichern, und damit sind wir sofort beim Kern der Sache. <strong>Die</strong> Einführung<br />

einer humanistischen Marktwirtschaft würde diese Probleme sofort lösen. Dennoch muss die<br />

Politik auch das Problem der Bürgerbeteiligung lösen, welches über das „Parteiengezänk”<br />

nicht richtig funktioniert. Direkte Demokratie wird nicht der Weg sein. „Je mehr direkte Entscheidungen<br />

durch das ganze Volk, um so unregierbarer das Land!” (Helmut Schmidt, zitiert<br />

nach wikiquote)<br />

6.2.6 Unendliche Zukunft<br />

Ziel ist ein Leben des Menschen im Gleichgewicht mit der Umwelt.<br />

Was an wirtschaftlicher und individueller Betätigung erlaubt sein soll und was nicht, ist ziemlich<br />

egal und vom gesellschaftlichen Konsens abhängig, solange bestimmte Grundsätze erfüllt<br />

sind und unverbrüchlich dauerhaft eingehalten werden. <strong>Die</strong> Grundsätze müssen so sein,<br />

dass sich das System „unendlich weit in die Zukunft” denken lässt. Wenn dann ein iPhone<br />

darin Platz findet – warum nicht? Ich halte das zwar für unwahrscheinlich, aber darauf<br />

kommt es jetzt nicht an, sondern:<br />

Nachhaltigkeitspostulat:<br />

1. 100 % Recycling oder 100 % Abbaubarkeit („Cradle to cradle”)<br />

2. Keine zusätzlichen nichterneuerbaren Rohstoffe verbrauchen<br />

3. Produktverantwortung des Herstellers über die gesamte Produktlebensdauer<br />

Alles andere ist gegenüber künftigen Generationen nicht zu verantworten und macht auch im<br />

Hier und Jetzt immer weniger Freude. Wer von den gleichen Rechten aller Menschen spricht,<br />

der muss auch die künftigen Generationen miteinbeziehen, und es ist nicht einzusehen, dass<br />

man ihnen etwas anderes hinterlassen sollte <strong>als</strong> man selbst vorgefunden hat. Wir schleppen<br />

103


jetzt schon eine gewaltige Hypothek mit uns mit, die wir langsam abzahlen müssen. Neue<br />

Hypotheken sind unzulässig. Keinen Müll hinterlassen. Ich sehe keinen Kompromiss.<br />

Dabei sollte jedem klar sein, dass die Punkte 1 und 2 des Nachhaltigkeitspostulates prinzipiell<br />

unerfüllbar ist: <strong>Die</strong> beiden Sätze sind theoretische Grenzfälle, wo wir aller Erwartung nach<br />

nie mehr hinkommen werden (wobei auch das festzustellen jetzt eigentlich nicht unsere Aufgabe<br />

ist). Man macht sich nur verrückt, wenn man jetzt an der Frage verzweifelt, ob die eigenen<br />

Zahnfüllungen nach dem Tod auch anständig recycled werden. Im Moment stehen<br />

andere, größere Aufgaben an. <strong>Die</strong> meisten Konsequenzen unseres Handelns werden wir<br />

selbst nicht mehr erleben, deshalb können wir getrost auch ein bisschen runterschrauben.<br />

Wenn wir soweit sind, können wir uns um die Zahnfüllungen immer noch Gedanken machen.<br />

Aber: <strong>Die</strong>se beiden Postulate müssen jeder vernünftigen Politik <strong>als</strong> Prinzip zugrunde liegen.<br />

Sie müssen eine Handlungsrichtlinie bilden, von der auf lange Sicht nicht abgewichen wird<br />

und auf die das aktuelle Handeln gerichtet ist. Man wird dabei die eine oder andere taktische<br />

Volte machen müssen, aber das Ziel ist klar. Das Problem einer verwässerten <strong>Version</strong> des<br />

Nachhaltigkeitspostulates ist ihre Beliebigkeit (jeder kann sie nach seinem Gusto interpretieren)<br />

bzw. dass sie wiederum zum Austricksen reizt. Es reicht nicht aus, nur Möglichkeiten<br />

anzubieten, den Ressourcenverbrauch zu senken. Wer den Verbrauch nichterneuerbarer<br />

Ressourcen senken möchte, der muss den Verbrauch direkt ins Visier nehmen, über absolute<br />

Obergrenzen, die nach und nach auf Null heruntergefahren werden.<br />

Der permanente Widerstand der Wirtschaft gegen eine schärfere Umweltgesetzgebung ist<br />

ohne weiteres verständlich, wenn man sich vor Augen hält, dass die hohe Produktivität praktisch<br />

ausschließlich auf der Verbrennung oder Verarbeitung von nichterneuerbaren Rohstoffen<br />

basiert. Somit sind die Botschaften der freien Marktwirtschaft und der Ressourcenschonung<br />

grundsätzlich unvereinbar. Eine prinzipielle Reduktion dieses Verbrauchs wird somit<br />

zwangsläufig eine Senkung der Produktivität zur Folge haben, und das Nachhaltigkeitspostulat<br />

ist daher der wichtigste einzelne Schritt in Richtung „Arbeit für alle”, LowTech und Regionalität.<br />

Binswanger stellt ein Dilemma bei den nichterneuerbaren Ressourcen fest: „Wozu sollen sie<br />

erhalten bleiben, wenn sie nicht genutzt werden?” (Binswanger 2009 S. 169) Er stellt daher<br />

für nichterneuerbare Rohstoffe ein anderes Nachhaltigkeitspostulat auf: „... die Nutzung der<br />

nichterneuerbaren Ressourcen dann <strong>als</strong> nachhaltig zu bezeichnen, wenn ihr Vorrat durch<br />

exponentielle Minderung des Verbrauchs nie vollständig verbraucht wird.” (Binswanger 2009<br />

S. 174, Hervorhebung im Original) Mit anderen Worten: Es würde reichen, wenn der<br />

Verbrauch langsam, aber schnell genug sinkt, so dass die Null-Linie nie erreicht wird.<br />

Ich mache mir diese Meinung nicht zueigen und formuliere das Nachhaltigkeitspostulat so<br />

streng wie dort oben. Keiner weiß, wie schnell „langsam, aber schnell genug” tatsächlich ist,<br />

weil man dazu die Menge der noch nicht geförderten Ressourcen kennen müsste. Außerdem<br />

ist das Fördern von Rohstoffen in der Regel kein Spaß für die Natur, sondern der Prozess <strong>als</strong><br />

solcher ist meistens ein schwerer Eingriff. <strong>Die</strong> Förderung von Ölsand oder Aufbereitung von<br />

Golderzen sind eine einzige Ökosauerei, um nur einige zu nennen. Wir sollten mit dem haushalten,<br />

was wir haben, das ist ja schon eine ganze Menge. Nicht Überfluss macht kreativ,<br />

sondern Beschränkung.<br />

6.2.7 Vertretung der Stimmlosen<br />

Binswanger schlägt für die treuhänderische Vertretung der „Anliegen der Zukünftigen” einen<br />

Ökologischen Rat vor, der <strong>als</strong> zusätzliche Institution in den demokratischen Entscheidungsprozess<br />

eingeführt wird. Er sei mit 24 anerkannten Sachverständigen für ökologische Fragen<br />

zu besetzen, wobei Binswanger auch konkrete Vorschläge für das Verfahren macht. (Binswanger<br />

2009 S. 209ff.)<br />

104


<strong>Die</strong>ses Konzept halte ich grundsätzlich für sinnvoll, gebe aber zu bedenken, dass es auch<br />

noch andere Stimmlose in unserer Demokratie gibt: <strong>Die</strong> Tiere, die Natur, die Menschen in<br />

anderen Nationen.<br />

6.3 Demut, Selbstvertrauen und Vernunft<br />

Eine Gesellschaft, die sich den Wettbewerb zum Ziel setzt, ist krank. Es gibt eine Therapie,<br />

die dagegen hilft:<br />

• Demut gegen die Eitelkeit<br />

• Selbstvertrauen gegen die Angst<br />

• Vernunft gegen die Maßlosigkeit<br />

Wobei jeder der drei Punkte auch gegen die anderen hilft. Es ist eine einfache und gute Medizin.<br />

Sie wird seit Jahrtausenden verabreicht. Ich kann Ihnen hier allerdings nur beschreiben,<br />

wie ich sie einnehme. Sie müssen Ihren eigenen Weg finden. Das Rezept aber, glaube<br />

ich, ist für alle Menschen gleich. Der folgende Text ist sehr persönlich, anders konnte ich ihn<br />

nicht kurz halten. Ich hatte das Gefühl, wenn ich anfange, allgemein über diese Themen zu<br />

schreiben, müsste ich viel weiter ausholen. Also kann ich nur von mir berichten.<br />

6.3.1 Demut<br />

Letztlich steht die Frage nach dem „Höheren” dahinter. Demut ist eine innere Haltung, mit<br />

der ich akzeptiere, dass es Dinge gibt, die für mich nicht erreichbar sind, obwohl ich sie erreichen<br />

wollen kann. Demut ist die Haltung des Gläubigen gegenüber Gott. Demut ist die<br />

Einsicht in die Notwendigkeiten. Mit Demut ist hier nicht die unterwürfige Haltung eines<br />

Knechtes gemeint, der sich einer äußeren Macht beugt, denn die Macht ist in uns selbst. Mit<br />

Demut erkennen wir die eigene Unvollkommenheit an.<br />

Ich bin „ontologischer Materialist”. Umgangssprachlich ist ein Materialist jemand, der sich<br />

dem materiellen Konsum hingibt, aber hier ist etwas anderes gemeint, nämlich eine philosophische<br />

Position. Ein ontologischer Materialist ist jemand, der nicht an Gott glaubt, sondern<br />

an die naturwissenschaftliche Erklärung der Welt. Es gibt außer Materie und den Naturgesetzen<br />

nichts. Nichts Höheres, keinen Gott und insbesondere keine außerkörperliche Seele, die<br />

nach dem Tod oder möglicherweise auch vorher schon existiert. Es gibt somit auch keinen<br />

höheren Sinn des Lebens. Der Materialismus ist eine Position, die sich auf das Leben im Hier<br />

und Jetzt fokussiert.<br />

Generationen von Denkern haben sich mit diesen Fragen befasst. <strong>Die</strong>ses Spiel mit der eigenen<br />

Erkenntnis gehört zum Menschen wie Demokratie und Marktwirtschaft. Der Mensch ist<br />

permanent dabei, sich seiner selbst zu vergewissern, um einerseits Sinn zu erreichen und<br />

andererseits eine logische Begründung, warum er in der Welt ist und so anders <strong>als</strong> die Tiere.<br />

Und um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, weil er seine Welt nachhaltig verändert.<br />

Ich stelle in meinen Überlegungen das menschliche Gehirn in den Vordergrund. Ich bin fest<br />

davon überzeugt (man könnte auch sagen: ich glaube), dass es nichts weiter braucht <strong>als</strong><br />

dieses unglaubliche Bündel von Neuronen und Synapsen, befeuert von einer komplexen Biochemie<br />

und einem Energiekreislauf aus Kohlehydraten, Proteinen und Fett, um damit die<br />

Vielfalt der menschlichen Erscheinungen zu erklären. Was wissen wir denn darüber? Mittlerweile<br />

beeindruckend viel und doch herzlich wenig, aber dieses wenige reicht mir aus, um für<br />

mich zu erklären: Reicht völlig. Ich glaube, dass die Art der „Verschaltung” des Gehirns in<br />

Verbindung mit zufälligen (stochastischen) Ereignissen, wie sie die Physik beschreibt, sowie<br />

Unstetigkeiten, wie sie die Chaostheorie beschreibt, völlig ausreicht für ein unglaubliches<br />

Spektrum an menschlichen Fähigkeiten und Defekten. Deshalb bin ich auch überzeugt, dass<br />

die Kollegen von der Künstlichen Intelligenz eines Tages „Erfolg” haben werden in dem Bemühen,<br />

ein künstliches, denkendes Objekt zu erschaffen, wenn man ihnen nicht vorher in<br />

105


den Arm fällt. Glücklicherweise wird ihnen das Arbeiten in einer einfacheren Welt schon rein<br />

technisch sehr schwerfallen, und meine Hoffnung ist, dass sie mit der Zunahme von Demut,<br />

Selbstvertrauen und Vernunft einfach das Interesse daran verlieren. Denn „In-den-Armfallen”<br />

ist eine heikle Sache in einer freiheitlichen Gesellschaft.<br />

Ein materialistischer Ansatz ist mir der einfachste. Er befreit mir mein Leben von dem im Hier<br />

und Jetzt sinnlosen Gedanken an das Danach. Man könnte kritisieren, dass er mich auch von<br />

meiner Verantwortung im Hier und Jetzt befreit. Was hindert mich am Schlemmen und Rülpsen,<br />

und nach mir die Sintflut? <strong>Die</strong>se Verantwortung sollte ich aber aus anderen Gründen<br />

spüren <strong>als</strong> aufgrund des Glaubens an ein jüngstes Gericht oder ein Höllenfeuer. Im Hier und<br />

Jetzt macht verantwortungsvolles Handeln zufriedener, denn es erzeugt Sinn und Gemeinschaftsgefühl.<br />

Ich sehe Sinn nicht <strong>als</strong> Objekt oder Ziel, sondern <strong>als</strong> einen Kreislauf: Er wird<br />

durch Handeln erzeugt und erzeugt seinerseits sinnvolles Handeln. Er ist ein psychischer Zustand<br />

des Wohlbefindens, hervorgerufen durch biochemische Reaktionen.<br />

Das ist keine Banalisierung des Menschen und auch nicht seine Erhöhung. Ist denn die Vorstellung<br />

von einem höheren Gott frei von Maßlosigkeit? <strong>Die</strong> Idee von der Unsterblichkeit der<br />

Seele frei von Eitelkeit? Wir finden viele Bilder für das, was wir Demut nennen. Materialismus<br />

ist für mich Respekt vor dem unglaublichsten aller Organe: Dem Gehirn, eingebettet in und<br />

verbunden mit einem Körper, der eingebettet ist in und verbunden mit der Welt. Es ist für<br />

mich ein Bild für Demut.<br />

6.3.2 Selbstvertrauen<br />

Ich bin sehr dankbar, dass ich einerseits eine unbeschwerte Kindheit genießen konnte, in<br />

einem Umfeld der Zuwendung und Freiheit (siehe Widmung), und dass ich andererseits das<br />

Glück hatte, in meinem Leben Menschen zu begegnen, die mir neue geistige und körperliche<br />

Welten aufgezeigt haben, und ich frei genug war, diese Anregungen aufzunehmen.<br />

Als Jugendlicher war ich ein ziemlicher Eigenbrötler, beschäftigt mit Büchern, die mir vor<br />

allem mein Vater in großer Zahl und Qualität verschaffte (den trivialeren Rest holte ich mir in<br />

der Bücherei), und beschäftigt mit Basteln und Handwerk, wo mir meine Mutter große Freiheiten<br />

gab, ihren Werkzeug- und Rohstoffbestand zu plündern. Ich fühlte mich auf dem<br />

Gymnasium in meiner Klasse nicht sehr wohl, weil ich dort Außenseiter war, und fand daher<br />

meine Welt eher im Inneren <strong>als</strong> im Äußeren. Glücklicherweise trieben mich meine Eltern zum<br />

Sport, unglücklicherweise auch zur Gitarre, was keine Leidenschaft wurde.<br />

Erst mit dem Übergang auf die Universität blühte ich sozusagen auch im Außen auf. Im Physikstudium<br />

fand ich ein Gegenüber in vielen geistreichen und fantasievollen Menschen. Ich<br />

arbeitete <strong>als</strong> Tutor mit jüngeren Studenten und in den Gremien der Hochschulpolitik mit.<br />

Mein Freund Wolfgang inspirierte mich zum Psychodrama, wo ich über zwölf Jahre lang an<br />

einer Selbsterfahrungsgruppe bei Elisabeth Kaiser teilnahm, der Pilch überredete mich zu<br />

Aikido, und Anna führte mich in die Welt der Körperarbeit und Bewegungskunst sowie zum<br />

Tanzen und zum Taketina. Ich fand zum Fahrtensegeln. Heute mache ich fast alle diese Dinge<br />

nicht mehr, aber dafür einiges andere. Es waren Teilnahmen an den Welten anderer und<br />

Reisen in die eigene Seele und Körperlichkeit. Erfahrung von Möglichkeiten und Grenzen. Ich<br />

bin auch vielen weniger Glücklichen begegnet, die eine persönliche Hypothek mit sich tragen<br />

und langsam abzahlen.<br />

Nach dem Physikstudium eierte ich eine Weile herum. Mich hatte zwar das Studium sehr<br />

interessiert, aber die Betriebsamkeit und „selbstgefällige Mittelmäßigkeit” des Forschungsbetriebes<br />

schreckten mich ab. Ich unterrichtete an Krankenpflegeschulen, übersetzte ein Physiklehrbuch<br />

und ließ mich dann doch zu einer Promotionsstelle breitschlagen. Es war dam<strong>als</strong><br />

für Physiker nicht einfach auf dem Arbeitsmarkt, schon gar nicht für solche, die nicht wussten,<br />

was sie wollen. Das Unterfangen brach ich nach einigen Monaten der Unzufriedenheit<br />

und mit schweren Akneschüben wieder ab und wandte mich nach einer Weile dann der Wirt-<br />

106


schaft zu. In einem Architekturbüro konnte ich <strong>als</strong> freier Mitarbeiter für Wärmedämmung<br />

während dieser Zeit die Finanzierung sichern. Ich hatte eine preiswerte Wohnung (!) sowie<br />

ein paar Ersparnisse und brauchte nicht viel. Während eines Aufbaustudiums war ich fasziniert<br />

von der Wirtschaftsinformatik (schuld war das „Agricola”-Projekt von Prof. Walter ...),<br />

schrieb darüber in einer Firma meine Diplomarbeit und blieb dann in dieser Firma gleich<br />

„hängen”.<br />

Im Nachhinein wird mir der Weg klarer: Das Physikstudium hatte ich gewählt, weil ich mich<br />

dort inhaltlich am wenigsten beschränken musste. <strong>Die</strong> Wirtschaftsinformatik hatte ich gewählt,<br />

weil ich das Gefühl hatte, dort in Bezug auf Wirtschaft das fortsetzen zu können, was<br />

mich im Physikstudium seinerzeit fasziniert hatte: <strong>Die</strong> Suche nach Strukturen, Modellen und<br />

Symmetrien. Wir haben alle etwas, was wir suchen.<br />

Das über die Jahrzehnte so geschaffene Gefühl der eigenen Fähigkeiten und Grenzen nennt<br />

man Selbstvertrauen. Es ist ein schwankendes Gebilde und abhängig vom Gebiet, auf das es<br />

bezogen wird. Während Demut eher später im Leben reift und man Kinder damit nicht zu<br />

früh belästigen darf, kann und muss man mit Selbstvertrauen in der ersten Minute des Lebens<br />

beginnen. Ich wünsche jedem Menschen, dass er wie ich die Möglichkeit hat, ohne<br />

massiven Druck von außen gefördert und inspiriert zu werden, ohne auf eine bestimmte Rolle<br />

oder Richtung festgelegt zu werden. Das richtet sich insbesondere an Eltern, die sich unkritisch<br />

„am Markt orientieren”. Es gibt den traurigen Witz eines Menschen, der einer Mutter<br />

oder einem Vater mit zwei Kindern begegnet und nach dem Alter fragt: „<strong>Die</strong> Juristin ist drei,<br />

und der Arzt wird fünf.” So erwirbt man kein Selbstvertrauen, so wird man zum Spiegelbild<br />

der elterlichen Eitelkeiten. Oder Ängste.<br />

Ein Klima des Wettbewerbs, in dem die Berufsorientierung im Kleinkindalter beginnt, ein<br />

dreigliedriges Schulsystem in erster Linie dem Aussieben dient, mit einem Federstreich dreizehn<br />

Jahre bis zum Abitur auf zwölf verdichtet werden, die Hürde „Assessment Center” den<br />

Zugang zu den Ausbildungen beschränkt und die Hochschulen ihre Aufgabe darin sehen, mit<br />

einem technokratischen und verdichteten Bachelor- und Master-System den Menschen auf<br />

den Markt zu dressieren, verhindert Demut, schwächt das Selbstvertrauen, nährt die Eitelkeit<br />

und schürt die Angst. In einem solchen System ist eine Selbstgestaltung gar nicht mehr<br />

möglich. Es ist nicht unsere Bestimmung, fremde Aufgaben zu erfüllen, sondern die eigene<br />

Aufgabe zu finden.<br />

6.3.3 Vernunft<br />

Das Wort Vernunft hat in unserer Gesellschaft der Ingenieure und Techniker nicht immer<br />

einen guten Klang, denn immer wieder wird damit Technikgläubigkeit, Produktivitätssteigerung<br />

und kühle Moderne verbunden und dem eine spirituelle, „natürliche” Welt der Erdverbundenheit<br />

und des Aberglaubens gegenübergestellt. Ich kann damit nicht viel anfangen,<br />

mit Technikgläubigkeit und Produktivitätssteigerung allerdings auch nicht.<br />

Wie ich eingangs formuliert habe, ist Vernunft die Fähigkeit, eine Situation unabhängig von<br />

den eigenen Befindlichkeiten (Interessen, Sehnsüchte, Ängste) zu betrachten. Es ist eine<br />

„nüchterne” Betrachtungsweise, und das Gegenteil von nüchtern ist nicht emotional, sondern<br />

benebelt. Emotionalität ist ein Gegenpol von Vernunft, ein integraler Teil des Ganzen, und<br />

Unvernunft ist die Abwesenheit von Vernunft. Vernunft ist ein aktives Sortieren und Strukturieren<br />

unserer Bilder von der äußeren Welt in unserem Gehirn, das mehr oder weniger bewusste<br />

Beiseiteräumen von Eitelkeit und Angst. Unvernunft ist ein aktives oder passives Belassen<br />

des geistigen Durcheinanders im Gehirn.<br />

Vernunft ist auch abhängig vom gesellschaftlichen Kontext, vom Zeithorizont, vom gemeinsamen<br />

Ziel. Es können Konflikte auftreten, wo jede Entscheidung vernünftig ist, aber keine<br />

optimal. So ist das Leben.<br />

107


Nun besitzt der Mensch nicht nur die Fähigkeit zur Vernunft, sondern auch zum Konstruktivismus:<br />

Er „baut” sich buchstäblich seine Welt. Unser Gehirn nimmt sich aus den realen Reizen<br />

dieser Welt und den inneren Bildern das, was es zu brauchen meint. <strong>Die</strong> Konstruktivisten<br />

(siehe Abschnitt Menschliche Vernunft) gehen sogar davon aus, dass das, was wir <strong>als</strong> reale<br />

Sinneseindrücke wahrnehmen, eine perfide Mischung aus äußerer Physik und innerem Bildervorrat<br />

ist, die wir gar nicht entmischen können. Mutmaßlich ist das eine „Strategie” des<br />

Gehirns zur Bewältigung von Komplexität. Da landet man gleich wieder bei der Demut ...<br />

Jedenfalls ist es für uns sehr schwer, selbst zu entscheiden, wo denn nun eigentlich der<br />

nüchterne Weg durch die Gehirnwindungen entlangführt. Wir produzieren uns auch unseren<br />

eigenen Nebel.<br />

Es gibt keinen Königsweg. Demut, Selbstvertrauen und Wissen stärken die Fähigkeit zur Vernunft.<br />

Eitelkeit, Angst und Unwissen schwächen sie. Der einzige Weg zur Vernunft besteht in<br />

der Verfestigung des „geistigen Baugrundes” und einer guten Übung in ihrem Gebrauch.<br />

Bei dieser Übung hilft es, andere miteinzubeziehen, die nach Möglichkeit einen freieren Blick<br />

haben <strong>als</strong> man selbst. Alle, die in psycho-sozialen Berufen arbeiten, wo das innere Erleben<br />

die Arbeit störend überlagern kann, kennen die Einrichtung der Supervision. Supervision ist<br />

eine Form der „begleiteten Reflexion” über Sachverhalte, Situationen, Verhalten. Man versucht<br />

dabei, das „Tappen im eigenen Nebel” zu vermeiden, Hinweise von außen zu erhalten<br />

und Lernerfolge durch Denken, Fühlen und Handeln zu erzielen. Es ist eine Form der Bildung.<br />

<strong>Die</strong> zwölf Jahre Psychodrama waren meine persönliche Supervision, später habe ich<br />

das noch bei anderen Therapeuten zu bestimmten Anlässen fortgesetzt. Es ist Humanismus<br />

in seiner schönsten Form :-)<br />

Wir sollten Demut, Selbstvertrauen und Vernunft fördern. Bei jungen Menschen und Erwachsenen.<br />

Solange wir nicht aufhören, uns Ersatzreligionen wie Geld, Erfolg und Ansehen zu<br />

schaffen, werden wir <strong>als</strong> Gesellschaft keine Heilung erhalten.<br />

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren<br />

Sind Schlüssel aller Kreaturen<br />

Wenn die so singen, oder küssen,<br />

Mehr <strong>als</strong> die Tiefgelehrten wissen,<br />

Wenn sich die Welt ins freye Leben<br />

Und in die Welt wird zurück begeben,<br />

Wenn dann sich wieder Licht und Schatten<br />

Zu ächter Klarheit wieder gatten,<br />

Und man in Mährchen und Gedichten<br />

Erkennt die wahren Weltgeschichten,<br />

Dann fliegt vor Einem geheimen Wort<br />

Das ganze verkehrte Wesen fort.<br />

6.4 Verfall und Tod<br />

Novalis<br />

Verfall und Tod sind große Tabus unserer auf Eitelkeit und Angst basierenden Gesellschaft.<br />

<strong>Die</strong>se Erkenntnis ist weder neu noch originell. Dennoch sollten wir auch hier das Thema noch<br />

einmal wälzen. Und uns überlegen, wie wir dieser Quelle der Unzufriedenheit entkommen<br />

können.<br />

Das Thema ist deshalb maßgeblich, weil man in einer LowTech-Gesellschaft erheblich weniger<br />

Aufwand für die Medizin wird treiben können. Wir werden auf viele Errungenschaften der<br />

modernen Medizin nicht verzichten müssen. Aber insbesondere die Alterskrankheiten werden<br />

wir uns so nicht mehr leisten können. <strong>Die</strong> Lebenserwartung wird aller Erwartung nach sin-<br />

108


ken. Gleichzeitig wird die Gesellschaft insgesamt im Schnitt gesünder sein, das ist ein unvermeidlicher,<br />

scheinbar paradoxer Nebeneffekt, weil die Schwerkranken seltener werden,<br />

wenn sie früher und schneller sterben.<br />

Das Thema ist zu groß, um es hier ausführlich zu behandeln. Ansprechen sollten wir es, es<br />

wird ein wesentliches Hindernis im Diskussionsprozess um eine neue Gesellschaftsordnung<br />

werden. Vielleicht sogar das Hindernis. Erneut verweise ich für die Literatur auf Krämer<br />

1989. Er hat, wenn auch vielleicht mit ein wenig zu viel Verve (Eitelkeit?), das Thema ausgiebig<br />

behandelt.<br />

6.4.1 Gesundheit und Kosten<br />

Man kann Gesundheit <strong>als</strong> idealisiertes Ziel definieren, wie die Weltgesundheitsorganisation<br />

das macht, <strong>als</strong> imaginäre 100 %-Linie, die es zu erreichen gilt, die aber natürlich nie erreicht<br />

werden kann: „Ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens.”<br />

Damit sind wir alle krank, wie schon Walter Krämer richtig bemerkte. Jeder kleine<br />

Splitter im Fuß und jedes düstere Grübeln macht uns zum Patienten. Für die praktische Gesundheitsversorgung<br />

ist dieser Grundsatz fatal, denn er löst eine Welle der Anspruchsberechtigung<br />

aus. <strong>Die</strong> Unfinanzierbarkeit unseres Gesundheitssystems beruht auch auf dieser unrealistischen,<br />

maßlosen Vorstellung.<br />

Maßlosigkeit ist genau unser Thema, und deshalb sollten wir versuchen, andere Definitionen<br />

von Gesundheit zu finden. Verschiedene Denker und Autoren greifen auf eher praktische<br />

Konsequenzen zurück und definieren Gesundheit grob gesagt <strong>als</strong> Fähigkeit, selbstbestimmt<br />

zu handeln. Aber was ist selbstbestimmt? Walter Krämer diskutiert das Thema in aller Breite,<br />

um letztlich zu dem Schluss zu kommen: Es ist nicht definierbar. Er sieht das Wort „krank”<br />

vor allem <strong>als</strong> „Waffe im sozialpolitischen Verteilungskampf” und schlägt vor, es für die Zwecke<br />

der Sozialpolitik durch einen „politischen Begriff” zu ersetzen, nämlich „anspruchsberechtigt”<br />

(Krämer 1989 S. 190). Ansprüche könne man gewähren oder verweigern und habe damit<br />

die moralische Dimension stark zurückgedrängt. Dem kann ich mich nur anschließen. Es<br />

gibt noch viele andere Begriffe, die mehr vernebeln <strong>als</strong> erhellen.<br />

Ich habe eine schwere Krankheit über einen längeren Zeitraum weder selbst erlebt noch in<br />

meinem persönlichen Umfeld begleitet, fühle mich <strong>als</strong>o nicht berufen, in epischer Breite über<br />

dieses Thema zu schreiben. Das einzige, was ich dazu sagen kann, ist: Wir werden es nicht<br />

los. Was wir auch anstellen werden, wir werden Krankheit und Tod nicht besiegen, und es<br />

kann auch nicht in unserem Interesse liegen, dies zu tun. Der Tod ist nichts Schlimmes. Wer<br />

Maßlosigkeit sät, wird Enttäuschung ernten. Auch heute stecken wir nicht all unser Geld ins<br />

Gesundheitssystem, sondern nur einen Teil, der sich aber beispielsweise in den Niederlanden<br />

auf immerhin bis zu 280.000 EUR pro Menschenleben summiert (Gesamtkostenerwartung für<br />

einen im Jahre 2003 20-jährigen, schlanken Nichtraucher, Preise von 2003, plosmedicine.org<br />

2008). Prävention hiflt übrigens nur für die Zufriedenheit, nicht bei der Kostensenkung: Gesund<br />

lebende Menschen verursachen die höchsten Gesamtkosten, weil sie am ältesten werden<br />

und im Alter die höchsten Krankheitskosten anfallen. <strong>Die</strong> gesamtwirtschaftliche Rechnung<br />

mag noch mal anders aussehen, aber von Prävention sollte sich bitte keiner zuviel erhoffen.<br />

280.000 EUR. Das ist nicht schlecht, oder? In diesem Betrag ist alles drin: Krankenkassenbeiträge,<br />

Steuergelder für Krankenhäuser und Rettungsdienste usw. <strong>Die</strong> meisten Menschen zahlen<br />

ein Sechstel ihres Gehaltes an Krankenkassenbeitrag. Ein Sechstel! Haben Sie wirklich<br />

das Gefühl, dafür eine angemessene Gegenleistung, gemessen in Lebenszufriedenheit, zu<br />

erhalten?<br />

Angenommen, Sie könnten sich entscheiden, fünf Jahre früher zu sterben und sich dafür –<br />

sagen wir – ein Drittel dieses Beitrages auszahlen zu lassen. Sie hätten die Möglichkeit, ein<br />

viel besseres Leben zu führen. Das Dumme ist nur: <strong>Die</strong> Zukunft ist ungewiss. Wir nehmen<br />

109


nicht allein an der Lotterie teil, sondern nur <strong>als</strong> statistische Gesamtheit. Durch eine gesellschaftliche<br />

Entscheidung für weniger Gesundheitsausgaben wird kein konkreter Mensch zu<br />

Krankheit und Tod verurteilt, sondern die Sterbewahrscheinlichkeit erhöht sich. Vielleicht<br />

können Sie die gut 90.000 EUR genüsslich bis zum 90. Lebensjahr verjubeln. Oder dafür weniger<br />

arbeiten. Vielleicht leiden Sie aber ab 48 Jahren an einer Krankheit, die anderenfalls<br />

noch behandelt worden wäre, gegen die aber nun keine Medikamente mehr hergestellt werden<br />

oder die wenigen Therapieplätze aufgegeben wurden. Oder sterben mit 0 Jahren während<br />

einer komplizierten Geburt. Für mich ist die Antwort dennoch klar: Ich wäre sofort dabei.<br />

Ich fände das vernünftig.<br />

Ich würde auch einer Verringerung meines Krankenkassenbeitrages zustimmen, wenn ich<br />

dafür auf die Rettung per Hubschrauber verzichten müsste. Leichter würde es mir fallen,<br />

wenn ich wüsste, dass alle darauf verzichten. Ganz würde ich allerdings nicht auf die Krankenversicherung<br />

verzichten wollen, selbst wenn ich dann den ganzen Beitrag verjubeln könnte<br />

– das wäre es mir nicht wert.<br />

Bitte denken Sie nicht, nur weil heute so viel Geld für Gesundheit ausgegeben wird, würde<br />

alles finanziert, was gesundheitlich notwendig ist. Das ist prinzipiell unmöglich, denn man<br />

kann immer noch mehr machen. Es wurde schon immer und wird auch heute rationiert, d. h.<br />

medizinisch sinnvolle Leistungen unterbleiben, obwohl sie möglich wären. Man spricht nur<br />

nicht gern darüber, weil es ethisch bedenklich ist. In diese ethische Zwickmühle treiben wir<br />

selbst unsere Medizinerinnen und Mediziner, weil unser gemeinsamer Anspruch auf „Alles” zu<br />

hoch ist. Alles geht nie, und wer es verspricht, lügt. Und deshalb bleiben Therapiemöglichkeiten<br />

unerwähnt oder werden <strong>als</strong> „medizinisch nicht sinnvoll” bezeichnet. Das ist auch nicht<br />

schlimm, denn häufig würden alle bei vernünftiger Betrachtung dem zustimmen. Auch der<br />

Kranke. Das Bild des zufrieden Entschlafenen ist keine Erfindung der Bestattungsindustrie,<br />

sondern eine Lebenserfahrung.<br />

6.4.2 Verfall<br />

Das eigentliche Hindernis bei der ganzen Geschichte ist nach wie vor unsere Haltung zu<br />

Krankheit, Alter, Sterben und Tod, kurz: Zum Verfall. Verfall ist nicht so lustig wie Aufbau,<br />

Jugend, Saft und Kraft. Es schränkt die Möglichkeiten ein, es macht weniger Freude, es<br />

macht einsam. Es ist das Gegenteil von Bestätigung, es ist eine Zurückweisung. Man nennt<br />

es auch Kränkung.<br />

Menschen, die Demut, Selbstvertrauen und Vernunft besitzen, sind weniger anfällig dafür.<br />

Und denen, die nicht so viel davon haben, müssen wir mehr beistehen. Dafür brauchen wir<br />

weniger Geld <strong>als</strong> Zeit und Muße. Wir benötigen dafür eine weniger geschäftige, regionalere<br />

und kleinere Wirtschaft. Durch die Arbeitsteilung mit dem medizinischen Personal haben wir<br />

die Pflege erfolgreich ausgelagert, aber durch Reduktion auf das Wesentliche verliert sie viel<br />

vom Eigentlichen. Das medizinische Personal kann dafür wenig, auch wenn die eine oder<br />

andere Gedankenlosigkeit bereits heute zu vermeiden wäre. Aber es steht unter dem gleichen<br />

oder sogar noch höheren wirtschaftlichen Druck wie Sie. Denen macht das auch keinen<br />

Spaß. Verbünden wir uns <strong>als</strong>o mit den medizinischen Berufen, indem wir den Gesundheitsbereich<br />

finanziell verkleinern, aber menschlich gesehen vergrößern. Viel weniger Technik und<br />

Medikamente, dafür in Maßen mehr Personal.<br />

Wir sollten stärker unterscheiden zwischen Krankheiten oder Defekten, die uns den größten<br />

Teil des Lebens plagen, und solchen, die unser Ende begleiten. Nur erstere sollte man angehen,<br />

und das dürfte vergleichsweise preiswert zu haben sein. Es geht um schnellere Tode<br />

statt langer Pflege. Mehr Leben und weniger Sterben.<br />

6.4.3 Tod<br />

Am Ende steht der Tod.<br />

110


Als Kind habe ich mich vor dem Tod gefürchtet. Es war mir so unvorstellbar, was danach<br />

kommen sollte. Ich suchte nach Bildern.<br />

Mittlerweile gehe ich mit dem Thema ganz entspannt um. Ich denke oft daran. Manchmal<br />

stelle ich mir vor, wie meine letzten Lebensminuten aussehen könnten. Wie fast alle Menschen<br />

wünsche ich mir, dabei nicht allein zu sein. Aber es ängstigt mich nicht. Mich ängstigt<br />

auch nicht der Gedanke, dass es übermorgen sein könnte. Es ist mir egal, denn ich versäume<br />

dadurch nichts. Ich bin meine Angst vor dem Tod losgeworden durch folgende Vorstellungen:<br />

• Eine hohe Lebenserwartung ist kein Wert an sich. Wertvoll ist nur das im Moment gelebte<br />

Leben, dafür ist es grundsätzlich egal, wie lange es währt.<br />

• Der Vorgang des Sterbens wird mehr oder weniger sein wie Einschlafen. Hoffe ich.<br />

Spielt aber auch nicht so die große Rolle, denn es wird ein kurzer Zeitraum meines<br />

Lebens sein. Bisher hat es noch jeder überstanden.<br />

• Da ich nicht an ein Leben nach dem Tod glaube, bin ich mir sicher, dass ich von alldem<br />

nichts mehr mitbekommen werde. Ich stelle mir vor, es wird mir schwarz vor<br />

Augen werden, aber die Schwärze wird sich schnell in ein Nichts auflösen. Ich sitze<br />

danach nicht in einem dunklen Verlies und nehme wahr, wie das Leben weiterströmt<br />

und ich nicht dran teilhaben kann. Ich brauche auch nicht den großen Plänen nachzutrauern,<br />

die ich nicht mehr verwirklichen kann. Ich werde einfach nicht mehr sein, so<br />

wie ich vor meiner Geburt noch nicht war.<br />

Zugegeben: Als warmer, denkender Mensch ist dieser Zustand schwer vorstellbar.<br />

Aber im Schlaf bekomme ich auch nicht viel mit. Vielleicht schlafen wir nur, um täglich<br />

einmal sterben zu können?<br />

Mein Verhältnis zum Tod entspricht dem des griechischen Philosophen Epikur. <strong>Die</strong>se Gedanken<br />

möchte ich niemandem aufdrängen, sondern nur ein Beispiel geben, wie man auch damit<br />

umgehen kann. Und weil niemand weiß, was kommt, kann ich mir auch nicht sicher sein,<br />

dass ich diese Entspanntheit bis zum Ende durchhalte. Ich bin aber fest entschlossen, mir<br />

das aktive Leben auch in den letzten Jahren und Tagen nicht durch die Gedanken vergällen<br />

zu lassen. Krankheiten und Gebrechen sind das eine, das wird mühsam genug werden. Soll<br />

ich mir aber auch noch den Geist damit verdüstern? Wenn ich jetzt zufrieden bin, kann ich<br />

auch akzeptieren, dass der Tod neben mir steht. Oder neben meinem Kind.<br />

Ehrlich gesagt, die Vorstellung, unsterblich zu sein, finde ich wirklich schauerlich. Das ganze<br />

Theater auf ewig mitmachen? Immer alles verschieben können? Haben Sie schon einmal<br />

überlegt, dass erst Knappheit und Mühe den Dingen ihren Wert geben? Mit dem Leben ist es<br />

auch so. Nur die Aussicht – und ich meine das wörtlich – auf ein Ende gibt mir Energie, all<br />

diese Dinge voranzutreiben, und ich freue mich daran. Wer glaubt, in den letzten fünf Lebensjahren<br />

etwas Wesentliches zu versäumen, der hat möglicherweise in all den Jahren davor<br />

etwas Wesentliches versäumt.<br />

Und ich behalte mir selbstverständlich das Recht vor, im Zweifel selbst den Schierlingsbecher<br />

zu erheben und zu sagen: „Das war's. Ich danke Euch.” Der Freitod ist ein Menschenrecht.<br />

Wir haben nicht das Recht, einem Menschen diesen Schritt zu verweigern oder zu erschweren.<br />

Niemand kann gezwungen werden, dazu beizutragen, das ist ebenso klar. Aber es gibt<br />

ein Recht auf Beistand. Dass Deutsche mühsam in die Schweiz reisen müssen, um dieses<br />

Recht in Anspruch zu nehmen, finde ich entwürdigend.<br />

6.5 Was macht uns zufrieden?<br />

Der Sinn des Lebens? Geboren werden, ein Leben in größtmöglicher Zufriedenheit bei möglichst<br />

wenig Unfug – und ein Abgang. Das ist alles. Ich zumindest kann damit gut leben, und<br />

es schränkt meine Lebensfreude nicht ein. Schon gar nicht der Abgang, aber der war ja ein<br />

111


eigenes Kapitel wert. Man kann das, was nun folgt, <strong>als</strong> nostalgisches Geheule eines Romantikers<br />

verunglimpfen. Man kann es aber auch die Suche nach Lebensqualität nennen.<br />

<strong>Die</strong> genannten Prinzipien ergeben möglicherweise die „4. Kränkung der Menschheit”: Zurückweisung<br />

in die natürlichen Schranken, Feststellung der Unvollkommenheit des handelnden<br />

Menschen, der sich vor sich selbst schützen und selbst beschränken muss. Und demzufolge<br />

ist die Aufgabe, die vor uns liegt, in erster Linie eine große Psychotherapie. Ich meine<br />

das auch ganz praktisch: Es geht um den sogenannten Bewusstseinswandel. Wir sollen in<br />

kurzer Zeit vieles genau anders herum machen <strong>als</strong> in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten.<br />

Das wird nicht ganz einfach sein und viele benötigen, die tapfer vorangehen, während<br />

der Nachbar noch weiter schlemmt und rülpst.<br />

Das Bild vom Menschen <strong>als</strong> Krone der Schöpfung, welches wir selbst durch unser Handeln <strong>als</strong><br />

Karikatur entlarvt haben, stürzt vom eitel errichteten Sockel und hinterlässt uns im wahrsten<br />

Sinne des Wortes in Bestürzung. Für Kleinmut ist dennoch kein Anlass: Über den Humanismus<br />

haben wir die Möglichkeit, wieder ein menschlicheres Bild unserer selbst zu etablieren,<br />

in einer Welt mit menschlichen Dimensionen, einigermaßen im Gleichgewicht mit der Umgebung.<br />

Eigentlich möchten wir eins sein mit der Natur. Das ist die conditio humana.<br />

Gedankenexperiment: Man lasse einen „ganz normalen” modernen Menschen vom Himmel<br />

herab in eine gebildete, tolerante, aber agrarisch und handwerklich lebende Gesellschaft<br />

fallen. Würde dieser Mensch an Depressionen eingehen, weil er all die Nettigkeiten der Vergangenheit<br />

nicht mehr hat? Nein, würde er nicht. Er würde sich anpassen und mitmachen<br />

und wäre möglicherweise glücklicher <strong>als</strong> vorher. Können Sie sich das auch umgekehrt vorstellen?<br />

Es ist hauptsächlich unser Umfeld, welches uns an der Selbstverwirklichung hindert,<br />

und wir wiederum hindern unser Umfeld, indem wir mitmachen.<br />

Zufriedenheit ist die Übereinstimmung von Soll und Ist. Man kann versuchen, das Ist zu steigern<br />

oder das Soll zu senken. Für beides gibt es historische Beispiele: „<strong>Die</strong> alte Zeit der einfachen<br />

Bedürfnisse ist keine nostalgische Legende. <strong>Die</strong> Einsicht, dass die Zufriedenheit mit<br />

dem, was man hat und was man ist, das sicherste Glück beschert, war nicht nur eine alte,<br />

von Buddha bis zu Schopenhauer reichende Philosophenweisheit, sondern auch eine Alltagsweisheit<br />

der kleinen Leute.” (Joachim Radkau in Seidl/Zahrnt 2010, S. 39)<br />

Aus der guten, alten Zeit können wir eine Menge Anregungen erhalten, denn die besaßen<br />

das Nachhaltigkeitsprinzip, wenn man mal von den wenigen Ressourcen absieht, die sie<br />

wirklich dauerhaft entnommen haben. Ein großer Teil des damaligen Unglücks hatte seine<br />

Ursache in Ungleichverteilung, Kriegen und Unwissen, z. B. dem Fehlen elementarer medizinischer<br />

oder hygienischer Kenntnisse. Für ein einfacheres Leben brauchen wir heute nicht<br />

mehr in lichtlosen, verräucherten Katen zu sitzen. Da sind wir schon viel weiter.<br />

6.5.1 Grundbedürfnisse<br />

<strong>Die</strong> Allgemeine Erklärung der Menschenrechte kann <strong>als</strong> Indikator für die Grundbedürfnisse<br />

des Menschen dienen (Artikel 25):<br />

„Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit<br />

und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche<br />

Versorgung und notwendige soziale Leistungen gewährleistet sowie das Recht<br />

auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im<br />

Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete<br />

Umstände.”<br />

<strong>Die</strong> Frage ist: Wie sieht eine Gesellschaft aus, die diese Grundbedürfnisse auf möglichst einfache<br />

Weise sicherstellt? Welche Berufe muss sie haben? <strong>Die</strong> Antwort ist einfach, sie ist seit<br />

Jahrhunderten im Grunde die gleiche:<br />

• Landwirtschaft<br />

112


• Handwerk<br />

• Soziale und medizinische Berufe<br />

Kurz: Etwas zu erschaffen, zu erhalten und sozial zu sein, für das eigene Überleben und das<br />

Überleben der Gemeinschaft.<br />

6.5.2 Humanismus der Arbeit<br />

Derzeit lautet das Credo der Wachstumsgläubigen: Man darf nie nachlassen und mit dem<br />

Erreichten nie zufrieden sein, sonst fällt man gegen die Konkurrenz zurück. „Wer aufhört,<br />

besser zu werden, hat aufgehört, gut zu sein!” Das ist die absolute Perversion eines zutiefst<br />

menschlichen Zieles: Mit guter Arbeit Zufriedenheit zu erreichen. Aber warum kann denn<br />

Arbeit eigentlich zufrieden machen?<br />

• Sie erzeugt Unabhängigkeit.<br />

• Sie schafft über Kommunikation und wirtschaftlichen Austausch eine soziale Bindung<br />

und Sinn.<br />

• Sie ist Teil unseres Wechselspiels von Spannung und Entspannung. Auch deshalb ist<br />

das Beenden von Projekten so wichtig und die „ewige Unbeendetheit“ der Wachstumsideologie<br />

so schädlich.<br />

• Sie schafft Erfolgserlebnisse und damit Selbstvertrauen.<br />

• Sie gibt unseren Tagen und unserem Leben Struktur.<br />

Zu allen Zeiten der Welt hat er und bis ans Ende aller Tage wird der Mensch so viel arbeiten,<br />

dass er zufrieden ist. Das ist meines Erachtens praktisch eine Tautologie, <strong>als</strong>o ein Satz, der<br />

immer wahr ist, zumindest für einen Menschen, der Demut und Vernunft besitzt. Wir müssen<br />

in erster Linie unsere Grundbedürfnisse befriedigen. Aber kann denn der Mensch überhaupt<br />

der „Fron” entrinnen? Oder wird er nicht eher immer einen Teil des Lebens <strong>als</strong> lästig oder<br />

schwer oder unangenehm empfinden? Wonach suchen wir denn, wenn wir die Produktivität<br />

steigern? Offen gesagt, wir suchen Vielfältigkeit. Wenn man täglich zwölf Stunden ackern<br />

muss (im wahrsten Sinne des Wortes), ist das Leben weniger reich <strong>als</strong> wenn man nur sechs<br />

Stunden ackern muss und statt dessen auch noch andere schöne Dinge tun kann.<br />

6.5.3 Kultur und Produktivität<br />

Andere schöne Dinge. Fernsehen zum Beispiel? Oder Facebook ...? Das hängt von ihrer Bildung<br />

ab, und damit meine ich nicht ihren Schulabschluss, sondern ihre Qualitäten <strong>als</strong> ganzheitlicher<br />

Mensch. Mich langweilt Fernsehen, Facebook kenne ich gar nicht. Mich interessieren<br />

derzeit Kochen und meine eigene Konservenproduktion, ich lerne seit drei Jahren mühsam<br />

und mit Unterbrechungen Polnisch, ich gehe Rudern und ins Fitness-Studio, weil ich<br />

einen schwachen Rücken habe. Ich fahre mit dem Fahrrad auch die weitesten Strecken in<br />

Berlin. Manchmal gehen meine Frau und ich ins Kino oder ins Theater oder in eine Ausstellung.<br />

Ich treffe selten Freunde, zuwenig Zeit ;-)<br />

Worin besteht der Unterschied zu Fernsehen und Facebook?<br />

• Ich habe an diesen „produktivitätssteigernden, fremdbestimmten Kulturtechniken”<br />

kein Interesse, weil sie mich dem Eigentlichen entfremden. Sie sind Ersatz für das<br />

Echte. Das Fernsehen liefert mir nur vorgefertigte Bilder von der Welt. Facebook sind<br />

nicht meine Freunde, sondern nur Bilder davon. Radio hingegen ermuntert mich, eigene<br />

Bilder zu produzieren. Deutschlandfunk und Deutschlandradio gehören zu den<br />

wenigen Sendern, die noch Material dafür liefern.<br />

• <strong>Die</strong> meiste moderne Technik ist hässlich. Viel Kunststoff, unehrliches Material, furniert<br />

und verblendet. Dahinter alles nicht zuende gebracht. Es gibt Ausnahmen, die sind<br />

aber teuer. Je einfacher, desto teurer ... Und alles ist gleich. Absolut identisch. Wie<br />

uninteressant. Eine optische Monokultur.<br />

113


• Ich habe wenig Interesse an Bequemlichkeit. Etwas unbequemer ist oft wirtschaftlicher<br />

und interessanter, mundgerecht meistens zu teuer und banal. Wer unbequem<br />

lebt, kann Geld sparen und Zufriedenheit ernten.<br />

• Ich mag das Denken. Körperliche Passivität lähmt auch den Geist. Meistens sitzen Sie<br />

vor dem Fernseher. Ihr Kopf sitzt mit, allen bunten Bildern zum Trotz. Bitte vergessen<br />

Sie nicht: Ihr Gehirn schwimmt nicht in einem Reagenzglas, sondern in ihrem Körper.<br />

Ihr Körper ist Teil ihres Denkens, und umgekehrt. Geistige Aktivität und körperliche<br />

Aktivität gehen Hand in Hand. Alles nicht neu.<br />

• Ich schätze Sinnlichkeit. Wann haben Sie das letzte Mal Ihre Hand in sonnenwarme<br />

Ackererde versenkt? Den Geruch von frischgeschnittenem Holz geatmet? Das Knarren<br />

einer Holztreppe gehört? Auf Facebook? Ich denke nicht. Wir entkörperlichen unsere<br />

Welt. Manche machen <strong>als</strong> Ersatz Drachenfliegen oder Tauchen in Ägypten. Oder<br />

Fahrtensegeln. Aber es geht auch einfacher: Auf dem Fahrrad haben Sie Wind, Wetter<br />

und körperliche Betätigung. Keine Grenze zwischen Ihnen und dem Regen. Was<br />

ist denn daran schlimm? Kaufen Sie sich einen anständigen Regenumhang, und los<br />

geht's.<br />

• Ich liebe Unabhängigkeit. Das gibt mir Selbstvertrauen. Kann sogar Geld sparen, das<br />

bedeutet noch mehr Unabhängigkeit. Je weniger Geld Sie brauchen, desto mehr<br />

Selbstvertrauen können Sie erwerben. Viel Geld kann jeder.<br />

• Selbst machen stärkt die Vernunft. Sie können hinter die Dinge schauen und sich ein<br />

eigenes Urteil bilden. Sie erwerben Wissen. Reparieren bildet und spart Geld. Moderne<br />

Technik kann man immer schwieriger selbst reparieren. Wann haben Sie das letzte<br />

Mal Ihren Computer repariert? Eben.<br />

Wir haben auch deshalb keine Kultur des gewerblichen Verleihens mehr, weil viele<br />

mit vielen Dingen nicht richtig umgehen können. Ausleihen spart Ressourcen und bereichert<br />

die eigene Welt für einen Moment. Oft reicht das völlig.<br />

Ich bin ein Verfechter der „Selbstdurchführung elementarer Kulturtechniken”. Ich mag es<br />

nicht, wenn mir banale Dinge vorgekaut serviert werden, wo es mir ohne weiteres möglich<br />

ist, mit wenig Aufwand durch eigenes Denken und Handeln ein gutes Ergebnis zu erreichen.<br />

Ich habe solche Diskussionen immer wieder mit meinen Segelfreunden: Wenn Navigation<br />

das tägliche Brot des Seglers ist, dann ist das elektronische Navigationssystem GPS im Vergleich<br />

die Tiefkühlpizza - billig, bequem, macht satt. Kann man machen. Ich aber sehe nicht<br />

den Gewinn, sondern den Verlust. Das können Sie anders sehen. Unabhängigkeit ist ein tiefes<br />

inneres Bedürfnis, ein Überlebenstrieb. Wer sich von anderen abhängig macht, stirbt,<br />

wenn diese nicht mehr da sind. Das ist zum Glück heute nicht mehr ganz so, aber das Bedürfnis<br />

bleibt.<br />

Und ich mache durchaus Unterschiede: Das tägliche Kochen gehört für mich zu den elementaren<br />

Kulturtechniken, weil es ein elementares Bedürfnis befriedigt und dabei einfach ist.<br />

Sich eine Hose zu nähen oder ein Möbel zu bauen, erfordert viel mehr Spezialwissen und<br />

spezielles Handwerkszeug. Hier finde ich eine Arbeitsteilung mit anderen Handwerkern naheliegend,<br />

zumal dadurch ganz neue Kulturbereiche geschaffen werden. Meine Schneiderin<br />

wirkt zufrieden. Aber das tägliche Kochen, Stadtplan lesen an andere abgeben? Welchen<br />

Kulturbeitrag leistet GPS? Ich finde: Keinen. Es ist ein reines Instrument zur Produktivitätssteigerung<br />

und Rationalisierung. Total langweilig.<br />

Unser Kopf ist letztlich auch in dieser Hinsicht ein Spiegelbild der Welt: <strong>Die</strong> Mischung<br />

macht's. Sobald Sie Monokultur haben, wird es schwierig. Ein lebendiges Dorf oder ein<br />

Stadtkiez sind interesssant, weil die Mischung stimmt. Eine Hochhaussiedlung hat zu wenig<br />

Mischung, und auch deshalb kracht es dauernd, beispielsweise in den Vorstädten von Paris.<br />

So ein Umfeld macht aggressiv und traurig. Eine vielfältige Arbeit ist interessanter <strong>als</strong> ein<br />

monotoner Job. Mischen, nicht Entmischen. Im Kopf, in der Arbeit, in der Welt.<br />

114


6.5.4 Ein Lob des Handwerks<br />

Lieber weniger und teurer, dafür besser: Handwerk gehört zum Weltkulturerbe. Wir verlieren<br />

es, wenn es nur noch unter wirtschaftlichen Aspekten betrachtet wird, nicht mehr unter kulturellen.<br />

Ganz früher war das Wissen breit, nicht tief. Im Zuge der fortschreitenden Arbeitsteilung<br />

wurde das Wissen tiefer, blieb aber in der Breite der Bevölkerung verankert. Heute<br />

verflacht das Wissen wieder, und nur noch wenige Spezialisten horten es in Firmen. Das<br />

handwerkliche Wissen geht verloren. <strong>Die</strong> Kreativität im Beruf wird von der Breite weg auf<br />

Maschinen verlagert und auf diejenigen, die diese Maschinen erstellen und programmieren,<br />

sowie auf die Berufe der „Symbolanalytiker”. Für die „einfachen” Berufe bleiben nur noch<br />

mechanische Wiederholungen.<br />

Im traditionellen Handwerk lohnt es sich nicht, billige Materialien zu verarbeiten, weil der<br />

Materialanteil des Endproduktes geringer und der Lohnanteil höher ist. Es kostet nicht viel<br />

mehr, anständiges Material zu verwenden und sich und anderen damit Freude zu bereiten.<br />

Handwerk ist regionaler Umsatz. Sie bereichern im wahrsten Sinne die Region, wenn Sie<br />

regionale Handwerker beauftragen.<br />

Peter hat sich vor einiger Zeit einen neuen Dachstuhl auf sein Haus setzen lassen, anstelle<br />

des maroden alten. Meine Frau und ich waren erschüttert, <strong>als</strong> wir es gesehen haben. Und<br />

Peter hat uns erzählt, wie es abgelaufen ist:<br />

• Der Zimmermann kam mit einem Notebook, und Peter konnte zwischen verschiedenen<br />

Gaubenvarianten wählen.<br />

• Ein Aufmaß wurde gemacht.<br />

• Der Zimmermann verschwand und kam nach einigen Wochen mit einem großen<br />

Lastwagen wieder. Auf diesem lagen alle notwendigen Hölzer, computergesteuert fertig<br />

zugeschnitten.<br />

• In kürzester Zeit wurde der neue Dachstuhl aufgebaut. Aber wie: Statt traditioneller<br />

Holzverbindungen nur noch mit Blechen gelascht. Überall Spaxschrauben hineingebohrt.<br />

Gehrungen etwas schief und überstehend. Vieles nicht so richtig proportioniert.<br />

<strong>Die</strong> Handwerker haben sicherlich in ihrem Sinne gute Arbeit gemacht. Der Dachstuhl ist<br />

preiswert, stabil und erfüllt seinen Zweck. Er ist zweckmäßig. Es ist ein Tiefkühlpizza-<br />

Dachstuhl.<br />

Wie zufrieden können die einzelnen Beteiligten mit dieser Arbeit wirklich sein?<br />

• <strong>Die</strong> Arbeiter im Sägewerk, die weder Peter noch das Haus jem<strong>als</strong> gesehen haben,<br />

sondern höchst effizient Balken für Balken sägen. Tagein, tagaus. Immer nur sägen.<br />

Nie sehen, wofür und für wen. Monotone Arbeit.<br />

• <strong>Die</strong> Zimmerleute, die ihn aufgebaut haben. Den Zeitdruck im Nacken, denn Zeit ist<br />

Geld. <strong>Die</strong> den Charakter des schönen Materi<strong>als</strong> nicht achten können, sondern die<br />

Spax-Schraube quer hindurch jagen. Für Überstände und saubere Abschlüsse ist kein<br />

Budget vorhanden.<br />

• Alle, die die Arbeit jetzt anschauen müssen. Nichts wirklich Schlimmes. Bisschen billig<br />

halt. Wirklich nichts Schlimmes? Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, aber ich spüre<br />

hier geradezu körperlich einen herben Verlust. Für mich ist es etwas Schlimmes. Ästhetik<br />

ist wichtig!<br />

Produktivitätssteigerung durch Arbeitsteilung ist dort gerechtfertigt, wo neue Kulturbereiche<br />

erschlossen werden, wo die Beschäftigung mit der Natur oder mit dem Menschen tiefere und<br />

bessere Erkenntnisse ermöglicht. Sie ist dort nicht gerechtfertigt, wo das Wissen des Einzelnen<br />

zu stark beschnitten wird und der Blick für Anfang und Ende oder die beteiligten Menschen<br />

verloren geht. Der Einzelne darf nie Objekt werden, er muss immer Subjekt bleiben.<br />

Und: Schöne Dinge haben eine Seele, zumindest für uns Menschen. Das Leben wird durch<br />

115


schöne Dinge reicher. Durch unser Handeln sind wir in der Lage, Dinge für uns zu beseelen –<br />

oder auch nicht.<br />

6.5.5 Romantische Bilder untersuchen<br />

Es lohnt sich, die Anziehungskraft „romantischer Bilder” nicht abzutun, sondern genauer zu<br />

untersuchen: Was ist es, was uns da anzieht? <strong>Die</strong> Sehnsucht nach dem Ursprünglichen: das<br />

kleine Bergdorf, die Cantina, die Folklore, die Natur, Handarbeit und Antiquitäten, ... Was<br />

reizt uns an diesen Bildern?<br />

• Wir lieben Umständlichkeit und Langsamkeit, weil wir instinktiv spüren, dass das der<br />

wahre Luxus ist: „Verschwendung” von Zeit.<br />

• Wir schätzen ehrliches Material und ehrliche Arbeit.<br />

• In kleinen Orten spüren wir noch die Ganzheit der Wirtschaft mit ihren Verflechtungen.<br />

Lokale Berufe bedeuten soziale Kontakte – und soziale Kontrolle.<br />

• Wir möchten eigentlich Eins sein mit der Natur.<br />

Zum Thema „Soziale Kontrolle”: Zu Recht frösteln wir aber, wenn wir an die geistige Enge<br />

von kleinen Orten heute und noch mehr früher denken. Und das ist, denke ich, eine spannende<br />

gesellschaftliche Aufgabe: Wie kann man diese geistige Enge vermeiden? Wie können<br />

sich Geist und Bildung auch in kleinem Rahmen freisetzen? Soziale Kontrolle ist auch etwas<br />

Gutes, sie ist ein Teil der notwendigen, persönlichen Supervision, erfordert aber geistreiche<br />

Partner.<br />

6.5.6 Künste mit dem Körper<br />

Was kann man noch machen, wenn man die Persönlichkeitsentwicklung von der wirtschaftlichen<br />

Entwicklung ein Stück weit entkoppeln möchte? Wird eine Wirtschaft, die auf LowTech<br />

und Regionalität setzt, nicht todlangweilig? Wie soll man denn daran wachsen?<br />

Alles, was einseitig ist, wird todlangweilig. Und für persönliches Wachstum gibt es kaum eine<br />

Grenze, wenn man sich auf sich selbst besinnt und die genialen Möglichkeiten des Gehirns<br />

und des Körpers selbst in Rechnung stellt, insbesondere im Zusammenspiel mit anderen. <strong>Die</strong><br />

„Künste mit dem Körper” jenseits des Leistungssportes sind in unserer westlichen Kultur<br />

noch sehr entwicklungsfähig. Es gibt kaum etwas, was zufriedener macht, <strong>als</strong> die eigenen<br />

körperlichen Fähigkeiten zu entwickeln, und zwar jene, die nicht hauptsächlich mit Kraft,<br />

Schnelligkeit und Wettbewerb zu tun haben, sondern mit Sensibilität, Entspannung, Tiefe,<br />

Geschmeidigkeit – und Kooperation. Es gibt interessantere Dinge, <strong>als</strong> besser zu sein <strong>als</strong> andere.<br />

Einige Anregungen, bereits bekannte und weniger bekannte:<br />

• Alle Bereiche der Instrumentalmusik<br />

• Musik ohne Instrumente: Klassischer Gesang und Chor, A capella, Jodeln, Obertonsingen,<br />

Vocal Percussion<br />

• Tanz, Taketina<br />

• Kampfkünste<br />

• Bewegungskünste<br />

6.6 Systemumbau<br />

Ich habe <strong>als</strong> Softwareentwickler noch etwas Wichtiges gelernt: Nichts bleibt stehen. Insbesondere<br />

betriebswirtschaftliche Software nicht. Abläufe ändern sich, vor allem im Bereich der<br />

Zeitarbeit praktisch jährlich. Was im IT-Bereich dann aus Zeit- und Geldmangel meistens<br />

passiert, ist folgendes: Man baut an. Wie bei einem zu klein gewordenen Haus. Es werden<br />

Anbauten, Garagen, Balkone, Terrassen, Unterführungen, Abstützungen und vieles mehr<br />

116


hinzugefügt. Alles erfüllt seinen Zweck. Vieles ist ein bisschen schief. Man kommt in die Garage<br />

nur durchs Badezimmer. Und irgendwann werden sogar weitere Anbauten schwierig.<br />

<strong>Die</strong> Struktur ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Was tun? Hinsetzen und neu machen? Bezahlt<br />

keiner. Also weiterwurschteln. Bis es nicht mehr weitergeht. Es treten immer mehr<br />

Probleme auf, je mehr man programmiert.<br />

Erkennen Sie unsere Gesetze und Verordnungen wieder?<br />

<strong>Die</strong> Lösung heißt: Ständiger Umbau im Kleinen. <strong>Die</strong> Softwareentwickler nennen das „permanentes<br />

Refactoring”. Wo immer man erkennt, dass eine Grundlage nicht richtig ist, muss<br />

man das Programm dort ändern und dafür sorgen, dass die Grundlage richtig wird. Auch im<br />

laufenden Betrieb. Auch wenn es aufwendig ist. Es hilft nichts. Beim Haus funktioniert es<br />

nicht so gut, weil die Statik etwas anderes ist <strong>als</strong> ein Softwareprogramm. Aber eine Gesellschaft<br />

ist eher wie ein Softwareprogramm organisiert <strong>als</strong> wie ein Haus. Man kann die Gesellschaft<br />

ständig im Kleinen umbauen anstatt immer nur anzubauen. Das ist einfacher und<br />

letztlich billiger, denn es vermeidet den sogenannten Reformstau.<br />

6.6.1 Sozialversicherung<br />

Grundsätze<br />

Unsere Sozialversicherung ist organisiert nach zwei Thesen:<br />

• „Niemand soll aufgrund von Dingen, für die er nichts kann, schlechter dastehen im<br />

Leben <strong>als</strong> andere.” (Das Zitat wird John Rawls zugeschrieben, habe aber bisher keinen<br />

Quellennachweis)<br />

• „Wer hart gearbeitet hat, soll seine verdiente Rente genießen”<br />

Das klingt zunächst nobel und gerecht und lässt sich auch gut mit den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit<br />

vereinbaren: Wer etwas dafür kann, dass es ihm schlechter geht, bekommt<br />

keine Unterstützung. Jeder ist seines Glückes Schmied. Ehre dem Alter. In der Praxis<br />

ergeben sich allerdings Schwierigkeiten:<br />

• Das Gesundheitssystem wird unfinanzierbar.<br />

• Über die „richtige” Höhe des Arbeitslosengeldes II (Hartz IV) streitet man lange und<br />

immer wieder erfolglos, dabei übersehend, dass diese Menschen eigentlich kein Arbeitslosengeld<br />

II wollen, sondern eine geeignete und sinnvolle Arbeit.<br />

• <strong>Die</strong> Rentenbelastung droht die jüngere Generation in Zukunft zu überfordern.<br />

• <strong>Die</strong> Pflegeversicherung muss ihre Leistungen immer mehr ausdehnen, weil die Menschen<br />

immer älter werden.<br />

<strong>Die</strong> obige Definition hat zwei Schwachstellen, die der gesellschaftlichen Interpretation bedürfen:<br />

• Was heißt „schlechter”?<br />

• Was heißt „nichts kann”?<br />

• Und mit Blick auf das Gesundheitssystem drängt sich eine andere Frage auf, nämlich<br />

ob ein System gerechtfertigt ist, „das alle schechterstellt, nur weil alle gleichmäßig<br />

darunter leiden.” (Krämer 1989 S. 193, Hervorhebung von mir). In welchem Umfang<br />

soll das Sozi<strong>als</strong>ystem der Umverteilung dienen? Ist das in Zukunft nicht eher Aufgabe<br />

eines Steuersystems mit einer Vermögensbegrenzung?<br />

<strong>Die</strong> obige These fußt auf zu optimistischen Annahmen über den Menschen, nämlich<br />

• Leid lasse sich klar definieren und damit auch der Umfang der notwendigen Leistung,<br />

und<br />

• die Menschen nähmen nur so viel Leistung in Anspruch, wie nötig ist, um das Leid zu<br />

lindern.<br />

117


Was jedoch passiert, ist: Viele Menschen nehmen so viel Leistung in Anspruch wie sie können,<br />

zumal wenn Anonymität des Gebers gewährleistet ist. In der gesetzlichen Krankenversicherung<br />

lässt sich das leicht beobachten, wenn der Patient sich freut, welchen Aufwand der<br />

Doktor für ihn treibt: Er muss es ja nicht zahlen, er muss diese empfangenen Leistungen vor<br />

niemandem rechtfertigen, und er schädigt noch nicht mal einen konkreten Menschen, sondern<br />

nur sehr abstrakt die Gemeinschaft der Beitragszahler. Und was heißt überhaupt „schädigen”:<br />

Der Arzt wird doch wohl nur solche Leistungen erbringen, die ihm <strong>als</strong> Patienten nützen!<br />

Dafür ist er doch da. Dass der Arzt aufgrund der sogenannten „Einzelleistungsvergütung”<br />

ein erhebliches finanzielles Eigeninteresse an einer aufwendigen Behandlung hat,<br />

kommt ihm gar nicht in den Sinn.<br />

Es gibt zwei Wege aus dieser Falle:<br />

• Ein Unbeteiligter wacht über die sparsame Inanspruchnahme der Leistungen (aufwendig).<br />

• <strong>Die</strong> Beteiligten müssen selbst Anreize erhalten, die Leistungen sparsam in Anspruch<br />

zu nehmen (unpopulär).<br />

<strong>Die</strong> Sozialversicherung sollte im Sinne einer Risiko-Absicherung neu organisiert werden:<br />

„Niemand soll aufgrund von Dingen, für die er nichts kann, in existentielle Not geraten.” Für<br />

Umverteilung sollten andere Mechanismen <strong>als</strong> das Sozi<strong>als</strong>ystem greifen. Das Sozi<strong>als</strong>ystem<br />

sollte wie eine Haftpflichtversicherung den existentiellen Ernstfall abdecken. Mehr nicht. Auf<br />

der anderen Seite müssen dann aber auch realistische Voraussetzungen geschaffen werden,<br />

möglichst kein Sozialfall zu werden: Arbeit für alle durch eine Senkung der Arbeitsproduktivität<br />

hatten wir ja bereits beleuchtet.<br />

Ganz wichtig: Das Märchen vom Arbeitgeberbeitrag abschaffen. Der sogenannte Arbeitgeberbeitrag<br />

ist eine ganz üble sozialpolitische Vernebelung, eine sprachliche Illusion: „Man<br />

muß sich daher geradezu wundern, daß noch kein findiger Sozialpolitiker auf die Idee gekommen<br />

ist, auch diese anderen Abzüge in ‚Arbeitgeberbeiträge’ umzutaufen. Mit einem<br />

Schlag wäre damit unsere ganze soziale Sicherung für den Bürger plötzlich kostenlos. Niemand<br />

müßte mehr für seine Krankenkasse oder Rente zahlen. Sozialleistungen fielen wie<br />

Manna vom Himmel, das Paradies auf Erden wäre eröffnet.” (Krämer 1989 S. 191) Arbeitgeberbeiträge<br />

sind nichts anderes <strong>als</strong> ganz normaler Lohn. Das Märchen, dass diese Leistungen<br />

vom Arbeitgeber zusätzlich bezahlt würden, ist ganz offensichtlicher Unsinn. All diese Zahlungen<br />

kommen dem Arbeitnehmer in vollem Umfang zugute, sie sind sein Lohn, der wie<br />

seine „Arbeitnehmeranteile” vor Auszahlung abgeführt wird. Fragen Sie doch mal den Arbeitgeber,<br />

wieviel ihn sein Arbeitnehmer kostet. Kein Arbeitgeber rechnet den sogenannten Arbeitgeberbeitrag<br />

separat in seiner Finanzbuchhaltung.<br />

Altersvorsorge<br />

<strong>Die</strong> Altersvorsorge krankt generell an der festen Regelaltersgrenze, und zwar nach unten und<br />

nach oben. Zahlreiche Menschen gehen aus verschiedensten Gründen früher in Rente, und<br />

zahlreiche Menschen, die noch arbeiten könnten (und wollten, wenn auch nicht immer Vollzeit)<br />

werden zwangsweise aus dem Arbeitsleben verabschiedet. <strong>Die</strong> Rentenwirklichkeit spiegelt<br />

<strong>als</strong>o auch schon seit langem nicht das Idealbild des zufriedenen Senioren wider, der<br />

nach erfülltem Arbeitsleben mit 67 von seinen Kollegen verabschiedet wird. Eine feste Altersgrenze<br />

wird zum einen der Individualität des Menschen nicht gerecht, und zum anderen<br />

können wir sie zunehmend nicht bezahlen.<br />

Wer arbeitet gerne über eine Altersgrenze hinaus?<br />

• Körperlich nicht zu anstrengende Arbeit<br />

• Erfahrung und/oder Netzwerke sind von hoher Bedeutung<br />

<strong>Die</strong> Frage sollte lauten: Wie muss man Arbeit gestalten, damit man nicht auf einmal damit<br />

aufhören will?<br />

118


Rente sollte nach „Arbeitsfähigkeit” ausgezahlt werden, damit würde auch der Fokus von der<br />

Arbeit <strong>als</strong> „Fron” genommen, die man ab 67 hinter sich lässt. Wer weiterarbeitet, könnte ja<br />

durchaus wie bisher auch einen höheren Zugangsfaktor „erwerben”. Da kann man sicher<br />

noch einiges an Ideen entwickeln.<br />

Krankenversicherung<br />

Eine Reform des Gesundheitssystems müsste mehrere Komponenten enthalten:<br />

• Rationierung: „Es werden sinnvolle und erfolgversprechende Diagnosen und Therapien<br />

aus Kostengründen unterbleiben.” (Krämer 1989 S. 245)<br />

Es geht <strong>als</strong>o um das Ausschließen von heute möglichen (und wünschenswerten) Leistungen<br />

aus dem Leistungskatalog, und zwar nicht nur dem Leistungskatalog der<br />

Krankenkassen, sondern generell: Es geht nicht, dass man sich diese Leistungen<br />

dann einfach mit Geld zukaufen kann.<br />

• „Eine fühlbare Direktbeteiligung der Patienten an den Krankheitskosten.” (Krämer<br />

1989 S. 243)<br />

• Das System gilt für alle ohne Wenn und Aber, ohne die Möglichkeit des Ausweichens<br />

in die Private Krankenversicherung. <strong>Die</strong> Bezeichnung des jetzigen Systems der Gesetzlichen<br />

Krankenversicherung <strong>als</strong> „Solidarsystem” wird den Tatsachen nicht gerecht.<br />

Ein reformiertes Gesundheitssystem muss den Kranken gegenüber dem Gesunden benachteiligen,<br />

wenn wir irgendeine Chance haben wollen, Vernunft in die Ausgaben zu bekommen.<br />

Durch ein gutes Modell werden aber sowohl Gesunde <strong>als</strong> auch Kranke in Zukunft weniger<br />

zahlen, wenn auch die Gesunden stärker profitieren werden.<br />

Rationierung<br />

„<strong>Die</strong> Explosion des Machbaren in der Medizin zwingt uns zum Sparen auch an der Gesundheit,<br />

unserem höchsten Gut. <strong>Die</strong>ser Zwang ist auch durch eine Vervielfachung unserer Gesundheitsausgaben<br />

nicht grundsätzlich aus der Welt zu schaffen. Er wird die Menschheit von<br />

nun an bis zum Ende ihrer Geschichte begleiten. <strong>Die</strong> Frage ist <strong>als</strong>o nicht, ob, sondern wie<br />

und wie viel gespart werden soll. In diesem Kapitel haben wir gesehen, dass eine humane<br />

Antwort auf diese Frage möglich ist.” (Krämer 1989 S. 93)<br />

Mit diesen Worten endet das Kapitel „Sparen auch am höchsten Gut” des Buches von Walter<br />

Krämer. <strong>Die</strong> „humane Antwort” lautet: Medizinische Leistungen einschränken, aber so, dass<br />

zum Zeitpunkt dieser Entscheidung keine konkreten Menschen betroffen sind. Und die Einschränkung<br />

der Leistungen an „unpersönliche” Kriterien wie z. B. das Alter knüpfen. Damit<br />

verschiebt man die Entscheidung von der individuellen auf die statistische Ebene: Kein konkreter<br />

Mensch wird zum Leiden und Sterben verurteilt, sondern für alle steigt die statistische<br />

Wahrscheinlichkeit ein klein wenig an.<br />

Rationierung bedeutet konkret: Bestimmte Medikamente wird es nicht mehr geben, bestimmte<br />

Behandlungszentren oder Krankenhaus-Abteilungen werden geschlossen oder verkleinert.<br />

Sogenannte „Hochleistungsmedizin” wird es nicht mehr geben können. Durch die<br />

abnehmende Wirtschaftsleistung einer nachhaltigen Wirtschaft wird sich einiges von selbst<br />

ergeben.<br />

Für und Wider von Organtransplantationen: Jetzt soll man zu einem Standpunkt gezwungen<br />

werden. Man hat aber das Recht auf einen indifferenten Standpunkt. Wir leben in einer freiheitlichen<br />

Gesellschaft, wenn ich daran mal erinnern darf.<br />

Direktbeteiligung<br />

Ich selbst bin schon jetzt dabei, weil ich privat versichert bin. Durch einen Tarif mit hoher<br />

Direktbeteiligung und Beitragsrückerstattung bei Nicht-Inanspruchnahme von Leistungen bin<br />

ich mittlerweile dort gelandet, dass sich das Einreichen von Rechnungen erst bei etwa 3.500<br />

EUR im Jahr lohnt. Mit anderen Worten: Wenn ich demnächst zum Zahnarzt gehe und dort<br />

119


nach vielen Jahren mal wieder etwas Größeres machen lassen muss, dann kostet mich das<br />

viel Geld aus eigener Tasche. <strong>Die</strong>ses Geld muss ich vom Ersparten nehmen und kann es<br />

nicht für etwas anderes ausgeben. Bitter? Andererseits weiß ich, dass ich durch meinen Tarif<br />

etwa 300 EUR pro Monat gegenüber der gesetzlichen „Vollkasko” spare, die mir zudem im<br />

Falle der Zähne sowieso die kalte Schulter zeigen würde. Das ist ein vernünftiges Modell. Ich<br />

würde liebend gerne wieder in die Gesetzliche Krankenkasse zurückkehren, falls die mir auch<br />

so viel Vernunft bietet. Als ich vor zehn Jahren in die Private Krankenversicherung gewechselt<br />

bin, fiel mir ein Stein vom Herzen, dass ich diesem verschwendungssüchtigen gesetzlichen<br />

System entkommen war, welches schon lange kein Solidarsystem mehr ist, sondern<br />

eine kollektive Wachstumsgesellschaft.<br />

Im Buch „Postwachstumsgesellschaft” macht Hans-Peter Studer erneut einen ebenso praktikablen<br />

wie intelligent angelegten Vorschlag, der unserem Wunsch nach Vernunft einfach und<br />

transparent entgegenkommt und der von ihm bereits 2003 vorgeschlagen wurde: „Noch<br />

stärker gefördert werden könnte der eigenverantwortliche Umgang sowohl mit Krankheit <strong>als</strong><br />

auch Gesundheit, wenn die Prämie der Versicherten gesplittet würde. <strong>Die</strong> eine Hälfte, der<br />

Solidaritätsanteil, würde wie bisher in den Risikotopf aller Versicherten fließen, die andere<br />

Hälfte jedoch auf ein persönliches, zweckgebundenes Gesundheitskonto des oder der Versicherten.<br />

Daraus müsste er oder sie vorerst anfallende Behandlungskosten begleichen. Erst<br />

wenn auf dem persönlichen Gesundheitskonto kein Geld mehr vorhanden wäre, käme der<br />

Risikotopf aller zum Tragen und würde die Behandlungskosten abzüglich einer Kostenselbstbeteiligung<br />

decken. Bleibt ein Versicherter während längerer Zeit einigermaßen gesund,<br />

wächst der Sparbetrag auf seinem Gesundheitskonto und führt dazu, dass sich der Prämienanteil,<br />

den er auf sein eigenes Konto bezahlen muss, schrittweise bis auf Null reduziert.”<br />

(Seidl/Zahrnt 2010 S. 68f.)<br />

Der Patient erhält <strong>als</strong>o gegenüber dem Arzt die „Kundensouveränität” zurück und hat ein<br />

Interesse, die zu erbringenden Leistungen zu hinterfragen. Und durch gesundheitsförderndes<br />

Verhalten kann man durch Reduktion des Sparbeitrages Geld sparen. Das sind die gleichen<br />

Effekte wie bei mir und meiner privaten Krankenversicherung.<br />

Auch die Leistungserbringer erhalten einen Anreiz, Kosten zu sparen, indem der Fokus nicht<br />

auf Krankheitskosten, sondern die Wiederherstellung der Gesundheit gelegt wird, so dass sie<br />

„bestrebt sind, statt einer maximalen eine optimale Medizin zu praktizieren”. (Seidl/Zahrnt<br />

2010 S. 70) Kurz gesagt handelt es sich um eine Einmalzahlung je Krankheitsfall, abgestuft<br />

nach Alter und Diagnose, so dass der Ertrag für die Ärzte um so höher ist, je weniger Aufwand<br />

sie haben. Um dem Risiko einer Unterversorgung entgegenzuwirken, wird dieses Konzept<br />

eingebettet in eine ganze Reihe von flankierenden Maßnahmen, kurz: Es wird Vernunft<br />

erzeugt.<br />

Kinder<br />

Immer noch bedeuten Kinder ein Armutsrisiko, und zwar aus dem einfachen Grund, weil<br />

Versorgung und Erziehung grundsätzlich in die Verantwortung der Eltern gelegt sind. Das<br />

bedeutet Zeit- und Geldaufwand, und zwar über einen relativ langen Zeitraum. Man könnte<br />

überlegen, ob die Gemeinschaft nicht für die finanziellen Kosten zumindest des ersten Kindes<br />

komplett aufkommt, wenn Bedürftigkeit besteht, und zwar auf einer spürbar höheren Basis<br />

<strong>als</strong> des heute üblichen sogenannten Existenzminimums. Ein Kind soll ein „Gehalt” von der<br />

Gemeinschaft erhalten, welches diesen Namen verdient. Höhere Kinderzahlen könnten statt<br />

dessen aus der Förderung mehr oder weniger herausfallen. Sozusagen eine scharfe Progression<br />

nach unten. Damit könnte man deutliche Signale setzen, dass einerseits Kinder gesellschaftlich<br />

erwünscht sind, aber ein Bevölkerungswachstum nicht.<br />

120


6.6.2 Ressourcen<br />

Erneuerbare Energien<br />

Wenn keine nicht erneuerbaren Ressourcen mehr verbraucht werden dürfen, dann müssen<br />

wir entscheiden, wie viel erneuerbare Energie wir verbrauchen wollen. Derzeit besteht die<br />

Gefahr, dass wir uns über einen Green New Deal oder großtechnische Lösungen die Landschaft<br />

bis zum Anschlag mit Windrädern, Solarzellen und Überlandleitungen vollstopfen, die<br />

Schönheit alter Häuser wegdämmen und die Straßen weiterhin mit Individualverkehr<br />

verstopfen, dieses Mal mit Elektromobilen. Felder für den Anbau von Bio-<strong>Die</strong>sel, wohin das<br />

Auge reicht. Alles CO2-neutral. Auch hier gibt es kein Maß. <strong>Die</strong> Welt kann sozusagen auch<br />

mit erneuerbaren Energien zugrunde gerichtet werden, wenn man <strong>als</strong> Welt auch seine optische<br />

Umwelt miteinbezieht. Wo wollen wir hin?<br />

Nur über ein politisches, d. h. gesellschaftliches Maß werden wir hier Einigkeit erzielen können,<br />

indem auch für erneuerbare Energien eine Obergrenze definiert wird. Das halte ich<br />

langfristig für den kritischsten Aspekt der ganzen Angelegenheit. Wir werden vermutlich relativ<br />

groß anfangen müssen, um überhaupt eine Transformation des Kapitalismus in eine humanistische<br />

Marktwirtschaft hinzubekommen, ohne dass uns alles um die Ohren fliegt. Und<br />

dann müssen wir schauen, dass wir uns langsam weiter von der Droge Energie entwöhnen.<br />

Selbstverständlich kann man ein hochmodernes Krankenhaus nur mit Windenergie versorgen,<br />

das ist lediglich eine Frage der Anzahl der Windräder, der Leitungsnetze und der Speicherung.<br />

Nur diese Energie fehlt uns dann an anderer Stelle, wo wir sie auch gerne hätten.<br />

Zum Beispiel für das Internet ...<br />

Kreislaufwirtschaft<br />

Eine Kreislaufwirtschaft, in der der Produzent die Verantwortung für die gesamte Lebensdauer<br />

seines Produktes hat, funktioniert nicht mit gutem Willen allein. Sie muss unterstützt werden<br />

durch:<br />

• Rücknahmeverordnungen, die auch den Handel miteinbeziehen<br />

• Pfandregelungen: Warum gilt für Verpackungen nicht, was für Schrauben gilt: Normung?<br />

Viele Menschen sind überfordert, ihren Müll „richtig” zu trennen. <strong>Die</strong> Struktur<br />

muss insgesamt wieder einfacher werden, und das wird nicht gelingen, wenn wir a)<br />

jedem Unternehmer seinen Sonderweg erlauben und b) versuchen, jede noch so<br />

kleine Produktivitätslücke zu schließen. Der Wurf muss größer werden. <strong>Die</strong> Bierversorgung<br />

funktioniert seit Jahren trotz Pfandflasche gut. Warum nicht auch Pfand auf<br />

Konservendosen und alles andere? Das finden Sie zu aufwendig? Bitte lösen Sie sich<br />

vom alten Effizienzdenken. Am wenigsten Müll produziert man, wenn man nicht konsumiert.<br />

<strong>Die</strong> Rückgabe von Waren, Verpackungen etc. wird in Zukunft der Preis für<br />

den Konsum sein.<br />

• „Zweiteilung des Resteaufkommens” in recyclebar und kompostierbar – sonst nichts,<br />

entsprechend dem „Cradle-to-cradle”-Konzept.<br />

Vom Forum für ökologisch-soziale Marktwirtschaft FÖS liegt seit langem ein Konzept für eine<br />

ökologische Steuerreform vor, das schnell umgesetzt werden kann, um den Ressourcenverbrauch<br />

zu verringern.<br />

Eine Konsequenz wird sein: Mieten statt Kaufen wird populärer werden sowie die gemeinschaftliche<br />

Nutzung von Geräten z. B. in Mehrfamilienhäusern. Der Nutzen wird anstelle des<br />

Besitzes in den Vordergrund rücken.<br />

121


6.6.3 Privatwirtschaft<br />

Unternehmensverfassung<br />

Hier halte ich zwei Überlegungen für maßgeblich:<br />

• <strong>Die</strong> geradezu groteske Förderung wirtschaftlicher Aktivität abbauen und somit der<br />

Nachfrage wieder Vorrang einräumen. In Verbindung mit einer Vermögensbegrenzung<br />

ergibt die Haftungsbeschränkung für Kapitalgesellschaften nicht mehr viel Sinn<br />

und sollte abgeschafft werden. Schuldenfreiheit eines Unternehmens könnte eine<br />

Voraussetzung für Ausschüttungen sein.<br />

• Welche wirtschaftlich bedingten Ausgaben eines Unternehmens möchte eine Gesellschaft<br />

steuerlich anerkennen und damit fördern? Zinsen für Kredite? Werbung? Wir<br />

haben derzeit zwei völlig unterschiedliche Philosophien für die Besteuerung der privaten<br />

und der wirtschaftlichen „Lebenshaltungskosten”. Während wir bei der privaten<br />

Einkommensermittlung nur bestimmte Kosten anerkennen, gestehen wir bei der Gewinnermittlung<br />

von Unternehmen diesen völlig frei zu, für welchen Sinn und Unsinn<br />

sie Geld ausgeben. Dahinter steckt natürlich die Idee, dass die Ausgaben eines Unternehmens<br />

kein Selbstzweck sind, sondern ganz am Ende der Kette die materielle<br />

Lebensqualität fördern. Im Rahmen der wirtschaftlichen Freiheit sollen die Ausgaben<br />

daher nicht beeinflusst werden, weil die Unternehmen schon dafür sorgen, dass der<br />

Konsum maximiert wird. <strong>Die</strong>se Kosten haben aber nicht alle die gleiche Bedeutung für<br />

die Gesellschaft. Werbung und Zinsen könnten sozusagen zu den privaten Lebenshaltungskosten<br />

eines Unternehmers gehören.<br />

Weitere Punkte (Brainstorming):<br />

• Beteiligungen von Unternehmen an Unternehmen ausschließen<br />

• Industrielle Landwirtschaft: Düngeeinsatz begrenzen, Flächen begrenzen, Tierhaltung<br />

begrenzen, Tierflächen vorschreiben, Person<strong>als</strong>chlüssel vorschreiben<br />

• Industrieller Fischfang: Netzgrößen und Fangmethoden begrenzen, Quoten<br />

• Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes beenden: Werbung im öffentlichen<br />

Raum sollte massiv eingeschränkt werden, auch im öffentlichen Raum des Internet.<br />

Investitionen<br />

Sie haben Angst, dass keine Investitionen mehr getätigt werden, weil das Risiko nicht mehr<br />

ausreichend „entlohnt” wird? Um so besser. Wieder Zeit und Geld gespart. Wollen wir nicht<br />

genau das? Wir möchten doch weniger Angebotshektik und mehr Nachfrageorientierung.<br />

Erstens ist die Möglichkeit des Gewinns nicht abgeschafft. Es gibt nur eine Vermögensobergrenze.<br />

Zweitens wird eine Nachfrage immer noch eine große Investition auslösen, aber nur<br />

wenn sich genug Mitinvestoren finden. <strong>Die</strong> amerikanischen Eisenbahnen wurden von unzähligen<br />

Kleinanlegern mitfinanziert. Volkswirtschaftlich sind Investitionen, die von den Interessen<br />

Einzelner vorangetrieben werden, äußerst fragwürdig. Derzeit sind alle Unternehmer<br />

panisch auf der Suche nach „neuen Märkten”, um das System am Laufen zu halten. Wenn<br />

dieser Zwang für alle wegfällt, dann kann die echte Nachfrage wieder das Tempo bestimmen.<br />

Damit verbreitert man automatisch auch die gesellschaftliche Basis und Akzeptanz.<br />

Eigentum bekommt auf einmal einen ganz anderen Stellenwert, weil man viel eher bei einem<br />

quasigemeinschaftlichen Eigentum landet, einfach durch die Zahl der Beteiligten. Genossenschaften<br />

funktionieren weltweit erfolgreich nach diesem Prinzip.<br />

Ich glaube, wir sollten noch mal den Sinn der Investition in Erinnerung rufen. Momentan<br />

wird das Ganze noch zu stark vom alten Produktivitäts- und Arbeitsplatzgedanken beherrscht.<br />

Eine Investition soll das Leben verbessern. Sie muss in Zukunft die vereinbarten<br />

Prinzipien erfüllen, insbesondere das Nachhaltigkeitsprinzip. Welche gigantischen Investitionen<br />

brauchen wir denn noch, wenn alles wieder kleiner werden soll? Wir benötigen regionale<br />

122


Produktion, regionalen Handel und regionalen Konsum. Ich glaube, die größten Investitionen,<br />

die uns noch bevorstehen, sind der Abbau von irgendwelchen Industrieruinen, die nicht<br />

mehr benötigt werden und welche die Landschaft verschandeln oder vergiften, und die Entmüllung<br />

unserer Umwelt.<br />

Marktabschottungen aufheben<br />

Alle rufen immer nach einheitlichen Qualitätsstandards – im Handwerk, in der Pflege, in der<br />

Medizin, kurz: In allen freien Berufen. Und immer zum Wohle des Kunden, des Patienten,<br />

des Klienten. Verlängerung der Ausbildung, Beschränkung von Ausbildungsplätzen, Numerus<br />

clausus, Praktika, Erwerb von Erfahrung vor Berufsbeginn, Zulassungsordnungen ... Es gibt<br />

nichts, was nicht gefordert wird, um die Qualität zu verbessern.<br />

Wohlgemerkt: Vor dem Markteintritt. Dem Nachwuchs des eigenen Berufes soll der Zugang<br />

nicht erleichtert, sondern erschwert werden. Jeder zusätzliche Umweg vor der Niederlassung<br />

oder der Eröffnung des eigenen Betriebes ist willkommen, weil er die Einkommen derer<br />

schützt, die schon im Boot sitzen. (vgl. Krämer 1989, S. 202ff.)<br />

Anhand von zwei Indizien kann man leicht überprüfen, ob wirklich Qualitätsverbesserungen<br />

die Motivation der rührigen Aktivitäten sind:<br />

• Von wem kommt die Forderung? Kommt sie vom Kunden, vom Patienten, vom Klienten?<br />

Mahnt die Verbraucherschutzzentrale, eine Patientenvereinigung oder andere<br />

unabhängige Interessengruppen? Oder sind es die Anbieter selbst mit ihren vielfältigen<br />

Berufsverbänden, die man früher Zünfte nannte, und ihren Standeszeitschriften:<br />

<strong>Die</strong> Handwerkskammern, die Verbände der Pflegeberufe, das Ärzteblatt, die Anwaltskammer?<br />

Wenn der Ruf von der „f<strong>als</strong>chen” Seite des Marktes kommt, ist großes Misstrauen angebracht.<br />

• Wen betrifft die Forderung? Betrifft sie die, die reinwollen, oder auch die, die schon<br />

drinsitzen? Unser ganzes Ausbildungssystem ist geprägt von einer bestimmten Philosophie:<br />

Hohe Hürden am Anfang, danach die Freuden der Ebene. Lebenslanges Praktizieren<br />

mit freiwilliger Fortbildung, von wenigen Ausnahmen abgesehen. <strong>Die</strong> regelmäßige<br />

Rückkopplung des eigenen Tuns (Supervision) ist ein wichtiger Beitrag zur<br />

Vernunftbildung. Mit regelmäßiger Fortbildung ist es nicht anders, was die Qualität<br />

der Berufsarbeit angeht.<br />

Wenn <strong>als</strong>o der Ruf nur die betrifft, die reinwollen, kann man fast sicher sein, dass<br />

hier das Portemonnaie und nicht die Qualität geschützt werden soll.<br />

In einer echten Marktwirtschaft sollte das nichts zu suchen haben. Es gibt „gefahrgeneigte”<br />

Berufe, bei denen das sinnvoll ist. Ob und in welchem Umfang es sinnvoll ist, ist eine schwierige<br />

Frage. Man kann diese Frage aber ganz leicht beantworten: Man mutet denen, die im<br />

Boot sitzen, regelmäßig eine ähnliche Fortbildungshürde zu wie denen, die reinwollen. Dann<br />

wird sich das schnell auf ein vernünftiges Maß einpendeln.<br />

6.6.4 Staatswesen<br />

Allgemein<br />

• Alle Einkünfte von Inhabern öffentlicher Ämter offen legen. Transparenz ist gut gegen<br />

Korruption und Vetternwirtschaft.<br />

Bereits Korrumpierbarkeit ist eine Vertragsverletzung. Man darf Amtsträger nicht nur<br />

mit anderen moralischen Maßstäben messen <strong>als</strong> andere, man muss es sogar. Zwischen<br />

Amtsträger und Gesellschaft wird ein impliziter Vertrag geschlossen. Dessen<br />

wichtigste Bedingung lautet: <strong>Die</strong> Gesellschaft stattet den Amtsträger mit einem gewissen<br />

Maß an Gestaltungsmacht aus. Sie zahlt ihm ein Gehalt und belohnt ihn mit<br />

hoher Anerkennung. Im Gegenzug vertraut sie darauf, dass der Amtsträger dieses<br />

123


Amt mit Vernunft ausübt. Vernunft ist dabei die Fähigkeit zur Nüchternheit, <strong>als</strong>o Situationen<br />

unabhängig von den eigenen Interessen, Sehnsüchten, Ängsten zu betrachten.<br />

<strong>Die</strong>se Neutralität ist sozusagen Einstellungsvoraussetzung. Um diese Bedingung<br />

zu erfüllen, muss der Amtsträger jede Situation vermeiden, die zu Interessenskonflikten<br />

führen kann.<br />

• Supervision <strong>als</strong> Pflicht für Regierungen und Behörden. Sie ist preiswert und effektiv,<br />

macht die Menschen und damit auch die Politik und die Arbeit besser.<br />

• Der Anspruch auf überregionale Einheitlichkeit (europäisches Steuersystem u. ä.)<br />

führt zu immer komplizierteren Strukturen der Politik, des Rechts, des sozialen Ausgleichs.<br />

Und nun setzen wir gar zum Sprung in die Welt an. Ich fürchte, das wird<br />

nichts. Je größer die Institution, desto größer die Macht der Repräsentanten, demokratische<br />

Legitimation hin oder her. Das neue Gesellschaftsmodell erfordert mehr Regionalität,<br />

auch für die Regierungen. Subsidiarität (Entscheidungsgewalt auf die niedrigstmögliche<br />

Ebene) muss noch mal anders durchdekliniert werden.<br />

Politische Beteiligung<br />

Ich vermute, dass die Bedeutung der Parteien nachlassen wird, weil deren Konzept zu sehr<br />

auf Wettbewerb beruht. <strong>Die</strong> sind zu selbstbezogen. Aber vielleicht schaffen sie es ja, sich<br />

anders auszurichten. Was man sich statt dessen vorstellen könnte:<br />

Ich habe im Herbst 2011 an zwei Tagungen teilgenommen. Das waren eintägige, themenbezogene<br />

Veranstaltungen, nämlich „<strong>Die</strong> grüne Schuldenkonferenz” und eine FÖS-Tagung zum<br />

Thema „Politik und Marktwirtschaft”. <strong>Die</strong>se Veranstaltungen waren nach dem gleichen<br />

Schema gestrickt: Erst einführende Vorträge („Impulsreferate”), dann Arbeit in Schwerpunkt-<br />

Workshops und schließlich eine abschließende Podiumsdiskussion. Sie waren leider zu podiumslastig,<br />

d. h. die Beteiligung der eigentlichen Teilnehmer <strong>als</strong> „breiter Masse” kam zu kurz.<br />

Aber sie waren außerordentlich gut geeignet, um einen inhaltlichen Überblick über das Thema<br />

zu erhalten, und ich denke, vor allem die Podiumsteilnehmer, von denen ja viele Akteure<br />

des politischen Gestaltungsprozesses sind, erfahren auf diese Weise eine gute Rückkopplung.<br />

Solche „Politik-Kongresse” <strong>als</strong> regelmäßige regionale Veranstaltungen könnte ich mir gut<br />

vorstellen: An jedem ersten Mittwoch im Monat geht es in die Stadthalle, und dort findet ein<br />

solcher Kongress statt. Wir müssen uns irgendetwas Intelligentes überlegen, um alle mit ins<br />

Boot zu bekommen. Ich denke da weniger an formale Beteiligung, sondern inhaltliche Diskussion,<br />

Rückkopplung und Bewusstseinswandel. Formale Wahlen gibt es ja weiterhin, aber<br />

diese dienen nicht der Informationsverbreitung und -beschaffung, sondern der politischen<br />

Legitimation. Derzeit ist die informelle Beteiligung unterrepräsentiert. Aber es sind ja auch<br />

alle immer so beschäftigt ...<br />

Politik weckt Widerstand, wenn sie von oben kommt und man sich nicht beteiligt fühlt. Eitelkeit<br />

von Politikern verhindert jedoch Beteiligung, weil sie es ja selbst am besten wissen –<br />

durch Beteiligung könnte es nur schlechter werden. Dagegen hilft eine solche Rückkopplung<br />

mit der Basis, die aber nicht die Parteibasis sein darf, die einen ja prinzipiell unterstützt. <strong>Die</strong><br />

muss zu loyal sein.<br />

6.6.5 Bildung<br />

Was ist Bildung heute?<br />

„Eine Biographie, die äußerst starken Selbstgestaltungserwartungen unterliegt und ein hohes<br />

Maß an Zukunftsorientierung voraussetzt, entsteht <strong>als</strong> mentale Formation <strong>als</strong>o erst im Zuge<br />

der Etablierung moderner Gesellschaften, obwohl wir sie heute für «natürlich» halten. [...]<br />

<strong>Die</strong> Erfindung der Schule <strong>als</strong> Erziehungs- und Bildungsinstitution für alle Mitglieder einer Gesellschaft<br />

ist ebenfalls an die Entwicklung der frühindustrialisierten Länder gebunden, wobei<br />

neben der Vermittlung von Wissen vor allem ihre erzieherische und disziplinierende Funktion<br />

im Vordergrund stand. Im schulischen Regime wurden jene Tugenden eingeübt, die – wie<br />

124


Pünktlichkeit, Reinlichkeit, Sorgfalt, Ordnung etc. – einen Sozialcharakter prägten, der innerhalb<br />

der Synchronisierungserfordernisse hoch arbeitsteiliger Gesellschaft funktionsfähig ist.<br />

Ein nicht gering zu veranschlagender Effekt der Verschulung der frühindustrialisierten Länder<br />

ist auch die Einübung von Konkurrenz und Wettbewerb sowie die Messung der individuellen<br />

Leistungen über Notensysteme. <strong>Die</strong>ser Prozess der Verschulung hält noch heute an: Nicht<br />

nur, dass die Einschulungsquoten und Alphabetisierungsraten <strong>als</strong> zentrale Kennzeichen von<br />

«Entwicklung» gelten (Osterhammel 2009, S. 1131), auch die Durchstrukturierung aller Aspekte<br />

von Lernen und Bildung durch messbare Leistungskriterien hält – seit «Bologna» und<br />

«G 8» mehr denn je – unvermindert an.” (Welzer 2011)<br />

Was könnte Bildung sein?<br />

Das Ziel ist eine Bildungs-Gesellschaft, die die persönliche Entwicklung und größtmögliche<br />

Unabhängigkeit des Einzelnen zum Ziel hat. Ein Mensch, der unabhängig zufrieden leben<br />

kann, kann in der Gemeinschaft den größten Beitrag leisten. <strong>Die</strong> isolierte Ausbildung auf ein<br />

Arbeitsleben hin, wie sie heute stattfindet, wird der Komplexität des Gehirns nicht gerecht.<br />

Insbesondere fehlen die Bindung des Menschen an die Natur, handwerkliche Fähigkeiten,<br />

eine ästhetische und eine soziale Bildung. Wenn Zufriedenheit sich im Kopf abspielt, dann<br />

müssen wir diesem doch die sorgfältigste Pflege angedeihen lassen. Das Kosten-Nutzen-<br />

Verhältnis von Ausbildung sollte völlig neu gedacht werden. Je umfassender jemand ausgebildet<br />

ist, desto weniger wahrscheinlich ist seine Arbeitslosigkeit.<br />

Das ganze derzeitige Theater um Schulsysteme dreht sich doch vorwiegend um die Angst,<br />

das eigene Kind könnte unzureichend gefördert werden. Unzureichend bedeutet für die einen:<br />

für den globalen Wettbewerb, für die anderen: für ein zufriedenes Leben. Kein Wunder,<br />

dass man nicht zum Konsens kommt. Wettbewerb bereitet den Boden für Eitelkeit und die<br />

Akzeptanz von Macht, Kooperation bereitet den Boden für die Akzeptanz der Unterschiedlichkeit<br />

der Menschen.<br />

Es ist nun mal so, dass wir sterblich sind und jedem neugeborenen Menschen wieder und<br />

wieder unsere Grundsätze und einen Teil unser Erfahrungen mitgeben wollen und müssen.<br />

Letztlich lernt der Mensch ausschließlich durch Erfahrung und nicht durch „Lernen”. Es ist ein<br />

weitverbreiteter Irrtum, dass man einfach etwas lernen könne. Ein Lernprozess führt nur<br />

dann zum Erfolg, wenn der Lernstoff innerlich oder äußerlich erfahren wird, <strong>als</strong>o geistig oder<br />

manuell nachvollzogen wird (wobei Hand und Hirn eine äußerst enge Verbindung besitzen).<br />

Eine Handwerksmeisterin kann ihrem Lehrling noch so oft erklären, wie bestimmte Schritte<br />

gemacht werden müssen: Solange diese Schritte nicht wieder und wieder selbst ausgeführt<br />

wurden und das eigene Gehirn dieses Wissen in seine Struktur eingebaut hat, solange sind<br />

die Erklärungen wirkungslos. Sie können nur dazu beitragen, nicht alle Fehlversuche dieses<br />

Handwerks der letzten Jahrtausende erneut probieren zu müssen. Aber unser Gehirn muss<br />

alles, was es wissen soll, in einem Lernprozess selbst generieren, eine echte Abkürzung ist<br />

nicht möglich.<br />

Praktische Fähigkeiten: Der moderne Mensch ist in wesentlichen Bereichen der täglichen<br />

Technik so ungebildet. Wie funktioniert ein Boiler, ein Klosett, was ist das Prinzip von Dichtungen<br />

und Sicherungen, wie pflegt und repariert man ein Fahrrad?<br />

Raus in die Welt: <strong>Die</strong> Idee der Schule, dass die Kinder an einem Ort konzentriert werden, ist<br />

besonders in der Pubertät sehr hinderlich. <strong>Die</strong> wollen und sollen was erleben.<br />

Den privaten Elterneinfluss reduzieren, Eltern an der Schule miterziehen lassen und miterziehen.<br />

Erziehung ist nicht allein Familienaufgabe. Dort geht zu viel schief. Und es betrifft nicht<br />

nur die Kinder. Wir sollten weg vom sozialtherapeutischen Reparaturbetrieb. Kinder sollen<br />

nicht sozial isoliert aufwachsen. <strong>Die</strong> Gemeinschaft soll die Entwicklung eines jeden Kindes<br />

mitverfolgen können. <strong>Die</strong> Idee vom „absoluten Eigentum” der Eltern am Kind hinterfragen.<br />

Eltern sind nicht automatisch auch die besten Erzieher für ihr Kind.<br />

125


Bildung endet nicht mit der Schule: Mal das Modell der skandinavischen Volkshochschulen<br />

anschauen, wo jungen Erwachsenen eine fachliche, persönliche und soziale Weiterbildung<br />

angeboten wird. Das ist „persönliche Supervision”.<br />

126


Epilog<br />

Was können Sie selbst tun?<br />

Hier ist ein bunter Strauß von Möglichkeiten. Lassen sie sich nicht erschlagen: Kein Mensch<br />

kann alles machen. Das wäre maßlos. Einiges benötigt nur ein anderes Denken, anderes<br />

benötigt richtig Zeit. Suchen Sie sich die Dinge raus, die zu Ihnen passen. Es ist egal, ob Sie<br />

viel oder wenig machen. Aber fangen Sie an.<br />

• Je mehr Menschen an all das hier glauben, desto wahrscheinlicher wird es Wirklichkeit.<br />

Deshalb bitte ich Sie, das zu Ihrer Überzeugung zu machen.<br />

• Pioniere haben es immer schwer. Werden Sie Pionier! Wenn Sie darauf warten, bis<br />

der Nachbar, die Kollegin, der Sportskamerad, die Tante umdenken, werden Sie die<br />

Zukunft nicht erleben. Erst wenn sich genügend Leute freiwillig entgegen dem<br />

Mainstream sozial, ökologisch, solidarisch verhalten, wird eine politische Bewegung<br />

daraus. Leute, die vorangehen, sind ganz wichtig.<br />

• Wir leben in einer Demokratie, und die Reichen sind in der Minderheit. Geben Sie ihnen<br />

und uns eine Chance auf Vernunft.<br />

• Reduzieren Sie Ihre Arbeitszeit, wenn Sie irgendwie die Möglichkeit dazu haben. Wir<br />

brauchen alle gemeinsam mehr Zeit für das normale Leben.<br />

• Werden Sie moralische Instanz, aber nicht, indem Sie sagen: „Lass dies, mach das!”,<br />

sondern indem Sie verkünden: „Ich lasse dies, ich mache das!”<br />

• Kaufen Sie Bio-Lebensmittel und regionale Produkte. Lieber regional <strong>als</strong> bio, wenn<br />

sich beides nicht vereinbaren lässt.<br />

• Zahlen Sie Steuern. Wenn Ihnen jemand einen Verkauf ohne Rechnung anbietet, lehnen<br />

Sie ab. Setzen Sie sich lieber dafür ein, dass die Umsatzsteuer weniger wird. Finanzieren<br />

Sie keine Schwarzarbeit. Setzen Sie sich lieber dafür ein, dass Steuern und<br />

Abgaben auf Arbeit weniger werden.<br />

• Hamstern Sie nicht. Hamstern ist ein unsolidarischer Akt. Wie soll das alles in Zukunft<br />

funktionieren, wenn Sie aus der Solidarität ausscheren?<br />

• Machen Sie keine Internet-Käufe, speziell jetzt in der Weihnachtszeit. Stärken Sie den<br />

regionalen Handel.<br />

• Haben Sie Angst um Ihre Ersparnisse? Momentan sollten Sie eher Angst um die Verwendung<br />

Ihrer Steuergelder haben. Sie finanzieren damit unglaublich viel Blödsinn,<br />

und der ist es, der letztlich Ihre Ersparnisse gefährdet.<br />

• Richten Sie sich innerlich auf Verteilung und Solidarität ein. Niemand soll vor die<br />

Hunde kommen.<br />

• Machen Sie sich stark für die Begrenzung von Einkommen aus Immobilien. Leistungslose<br />

Einkommen haben ausgedient.<br />

• Sie haben mit Ihrem Konsum die Wahl, ob Sie eigene und fremde Eitelkeiten oder<br />

etwas anderes finanzieren.<br />

• Nutzen Sie keine Gelegenheiten aus, wo Sie gegen die Vernunft auf einem Recht bestehen<br />

könnten. Klären Sie statt dessen, was Sie und Ihr Gegenüber zufrieden macht,<br />

und finden Sie einen Kompromiss.<br />

• Bestechen Sie nicht. Nutzen Sie Ihr Amt oder Ihre Position nicht aus. Korruption ist<br />

ein Mord an der Demokratie.<br />

• Jagen Sie diese unfähige Regierung aus dem Amt! Auf demokratischem Wege natürlich!<br />

• Verzichten Sie auf Fernreisen, insbesondere auf das Fliegen.<br />

• Verlieren Sie die Existenzangst. Keiner muss hier bei uns verhungern oder erfrieren.<br />

127


• Bewegen Sie sich. Treiben Sie Sport. Lassen Sie sich von ungewöhnlichen Dingen inspirieren,<br />

es gibt mehr <strong>als</strong> nur Standardtanz und Judo.<br />

• Kaufen Sie sich ein anständiges Fahrrad und lassen Sie es sich von einem Spezialisten<br />

auf Ihre Körpermaße und Fahrgewohnheiten anpassen. Ein Fahrrad bietet mehr Einstellmöglichkeiten<br />

<strong>als</strong> nur die Sattelhöhe, und es soll zu einer integralen Erweiterung<br />

Ihres Körpers werden.<br />

• Reduzieren Sie Ihren Besitz auf das, was Sie wirklich mögen. Um Besitz muss man<br />

sich kümmern – man kann viel Zeit sparen, indem man weniger hat.<br />

• Massenprodukte sind mitunter Gift für die Seele. Wenn Sie Zweifel haben: Kaufen Sie<br />

es nicht. Leben Sie lieber länger aus Kartons oder mit unpraktischen Lösungen. Irgendwann<br />

wissen Sie, was sie brauchen.<br />

• Werden Sie anspruchsvoll. Werden Sie bei Ihrem Konsum wählerisch.<br />

• Meiden Sie Versuchungen.<br />

• Überlegen Sie, was Sie für vernünftig halten, und dann arbeiten Sie daran, dass es<br />

Wirklichkeit wird.<br />

• Betrachten Sie Ihre Mitmenschen durch eine rosarote Brille, nehmen Sie das Beste<br />

von ihnen an. In vielen Ehen klappt das sehr gut.<br />

• Verzichten Sie auf Fernsehen, hören Sie lieber Radio. Das ist bekömmlicher.<br />

• Lenken Sie sich nicht ab. Konfrontieren Sie sich mit Ihrer eigenen Langweiligkeit.<br />

Werden Sie interessant.<br />

• Bilden Sie sich. Lernen Sie Sprachen, Kochen, Nähen. Zeit haben Sie ja jetzt, denn<br />

Sie haben ja bereits Ihre Arbeitszeit reduziert ;-)<br />

• Lernen Sie singen. Suchen Sie sich einen Chor. Neulich gab es im Radio ein Feature<br />

über die Verbindung von Jodeln und Neuer Musik.<br />

• Kochen Sie selbst. Kochen Sie mit anderen. Vermeiden Sie Fast Food. Einfaches Essen<br />

ist lecker und geht schneller <strong>als</strong> Sie denken. Grütze, Bulgur, Reis, Kartoffeln,<br />

Linsen, Bohnen ... ernähren seit Jahrtausenden die Welt und ergeben mit ein<br />

bisschen Gemüse oder <strong>als</strong> Eintopf ein gutes Essen. Ein morgendlicher Grieß- oder Haferbrei<br />

macht warm, zufrieden und satt.<br />

• Reduzieren Sie Ihren Fleischkonsum. Kaufen Sie nur Fleisch aus artgerechter Tierhaltung.<br />

Für sich und andere.<br />

• Verzichten Sie auf exotische Früchte und Gemüse.<br />

• Betrachten Sie den Staat nicht <strong>als</strong> Gegner, sondern <strong>als</strong> Genossenschaft, und sich<br />

selbst <strong>als</strong> Genossen, mit Rechten und Pflichten.<br />

• Beschäftigen Sie die Handwerker. Kaufen Sie in kleinen Läden.<br />

• Werden Sie sensibel – für sich und andere.<br />

• Schaffen Sie Ihr Handy ab.<br />

• <strong>Die</strong> größte Gefahr für Ihren Wohlstand besteht in Ihrem Wohlstand. Je mehr<br />

Wohlstand sie haben, desto größer ist die Gefahr, dass Sie ihn verlieren.<br />

• Werden Sie selbst handwerklich tätig.<br />

• Legen Sie nicht zu großen Wert auf Kleidung, Styling, Makeup, sondern leben Sie so,<br />

dass Sie ohne Kleidung, Styling, Makeup gut aussehen.<br />

• Denken Sie über den Sinn von Hygiene nach. Ein täglicher Handtuchwechsel ist ebenso<br />

wenig notwendig wie der tägliche Wäschewechsel. <strong>Die</strong> Idee des „Schweins”, das<br />

seine Wäsche nicht täglich wechselt, ist nachweislich durch die Werbung in die Welt<br />

gekommen.<br />

• Ermöglichen Sie Ihren kleineren Kindern eine echte Kindheit, ohne die Attribute der<br />

Erwachsenenwelt.<br />

• Ermuntern Sie Ihre größeren Kinder, ihre kulturellen und intellektuellen Fähigkeiten<br />

nicht nach dem Markt auszurichten.<br />

128


• Beenden Sie Ihre Karriere, leisten Sie lieber anständige Arbeit.<br />

• Vermeiden Sie den Kauf von Neuwaren. Kaufen Sie gebraucht. Nehmen Sie an<br />

Tauschringen teil.<br />

Schlusswort<br />

„Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!” ist vielleicht gar nicht so<br />

weit weg. Es hat dann aber nichts mit Sozialismus oder Kommunismus zu tun, sondern mit<br />

einem liberalen Humanismus.<br />

Was wissen wir denn? Aus dem, was wir zu erfahren meinen und dem, was wir denken,<br />

bauen wir uns eine innere Welt, deren Gedanken wir dann mühsam mit anderen zu teilen<br />

versuchen. Aus unserer eigenen Unvollkommenheit schließen wir auf die Unvollkommenheiten<br />

anderer. Aber wir kennen nie mehr <strong>als</strong> uns selbst.<br />

<strong>Die</strong> Menschheit erfindet sich immer wieder neu. Das Kind, das trotzt. Das Mädchen oder der<br />

Junge, die sich auflehnen gegen die Eltern. Wir beginnen aufgrund neuerer Gehirn-<br />

Forschung erst langsam zu verstehen, was sich während der Pubertät für eine unglaubliche<br />

„neurobiologische Revolution” im Gehirn ereignet. Nicht nur der Körper verändert sich, auch<br />

das Gehirn programmiert sich einmal völlig um. Deshalb sind Jugendliche oft so „weggetreten”<br />

oder launisch. Seien Sie nachsichtig: <strong>Die</strong> leisten gerade harte Arbeit. Der Kopf raucht.<br />

Sie arbeiten daran, ihren Beitrag für die Welt leisten zu können. Sie können nichts dafür,<br />

dass die Natur diesen Weg gewählt hat. Das Gehirn <strong>als</strong> völlig selbstbezogenes Organ muss<br />

sich mit jedem Menschen einmal neu erschaffen, Vererbung hin oder her.<br />

<strong>Die</strong> Kinder sind unsere Hoffnung. Indem wir ihnen das richtige Maß an Freiheit und Grenzen<br />

geben, ihnen helfen, Selbstvertrauen zu entwickeln und Wissen zu erwerben, indem wir ihre<br />

Vernunft fördern und sie langsam auch an den Gedanken der Demut gewöhnen, bilden wir<br />

auch uns selbst. Und indem wir jedem Kind zutrauen, dass es am Ende am besten weiß, was<br />

gut für es ist, respektieren wir seine Individualität.<br />

129


Literaturhinweise<br />

<strong>Die</strong>se Liste enthält Bücher, auf die ich im Text verweise, sowie weitere, die mir jetzt oder vor<br />

längerer Zeit geholfen haben, Dinge zu verstehen<br />

Binswanger 2009 Hans Christoph Binswanger: Vorwärts zur Mäßigung – Perspektiven<br />

einer nachhaltigen Wirtschaft<br />

Murmann Verlag 2009<br />

Autor wie Buch zählen zu den Klassikern der Wachstumskritik.<br />

Binswanger gehört zu den ersten namhaften Ökonomen, die sich<br />

wissenschaftlich mit Ressourcen und Wirtschaftswachstum befasst<br />

haben. Er hat entscheidend dazu beigetragen, Begriffe wie<br />

„Wachstumszwang” oder „Geldschöpfung” einer breiteren Leserschaft<br />

verständlich zu machen.<br />

Deutsch 1994 Christian Deutsch: Abschied vom Wegwerfprinzip. <strong>Die</strong> Wende zur<br />

Langlebigkeit in der industriellen Produktion.<br />

Schäffer-Poeschel Verlag 1994<br />

Aus heutiger Sicht zu optimistisch, aber dafür kann er ja nichts:<br />

Christian Deutsch gibt einen umfassenden Überblick über die Risiken<br />

der Kurzlebigkeit und die Vorteile der Langlebigkeit von Produkten.<br />

Mieten statt Kaufen, die Konzentration auf den Nutzen<br />

anstelle des Besitzes sowie – ganz wichtig! – die Ästhetik von Produkten<br />

nehmen breiten Raum ein. Er beschreibt die logische Konsequenz<br />

der Vernunft, wenn Ressourcen begrenzt und teuer werden.<br />

Fromm 1976 Erich Fromm: Haben oder Sein<br />

Deutscher Taschenbuch-Verlag 1976 (amerikanische Originalausgabe<br />

2009)<br />

Erich Fromm ist einer der bekanntesten Vertreter der Humanistischen<br />

Psychologie. In diesem Buch behandelt er die zentrale Frage<br />

der modernen menschlichen Existenz in einer materialistisch orientierten<br />

Welt.<br />

Fromm 1980 Erich Fromm: Ihr werdet sein wie Gott – Eine radikale Interpretation<br />

des Alten Testaments und seiner Tradition<br />

Rowohlt Taschenbuch Verlag 1980 (amerikanische Originalausgabe<br />

1966)<br />

„<strong>Die</strong> Bibel ist für mich ein außergewöhnliches Buch, das viele<br />

Normen und Prinzipien ausdrückt, die ihre Gültigkeit über die Jahrtausende<br />

bewahrt haben. Sie ist ein Buch, das für die Menschen<br />

eine Vision ausgesprochen hat, die noch immer gilt und ihrer Verwirklichung<br />

harrt.” Anhand dieses Buches kann man (erneut) lernen,<br />

dass nichts in der Postwachstumsdebatte wirklich neu ist und<br />

dass die Suche des Menschen nach Freiheit gerade in der heutigen<br />

Zeit neu belebt werden kann.<br />

130


Gasche/Guggenbühl 2010 Urs Gasche und Hanspeter Guggenbühl: Schluss mit dem Wachstumswahn.<br />

Plädoyer für eine Umkehr<br />

Rüegger Verlag 2010<br />

Ein Plädoyer ist es in der Tat, welches die beiden Schweizer Autoren<br />

erneut halten, nachdem sie 2004 eine erste Analyse unter dem<br />

Titel „Das Geschwätz vom Wachstum” veröffentlichten. In relativ<br />

kompakter Form liefern sie einen ganzen Haufen von Argumenten<br />

gegen den Wachstumswahn, die sich ohne weiteres von der<br />

Schweiz auf andere Länder übertragen lassen, und eine Fülle von<br />

praktischen politischen Vorschlägen. Sauer aufgestoßen ist mir das<br />

unkritische Bejubeln der Produktivitätssteigerung, die die Autoren<br />

<strong>als</strong> Mittel für Arbeitszeitverkürzung und <strong>als</strong> Voraussetzung für den<br />

„Genuss des technischen Fortschritts” sehen.<br />

Huber 2011 Joseph Huber: Monetäre Modernisierung – Zur Zukunft der Geldordnung<br />

Metropolis-Verlag 2011<br />

Joseph Huber hat 1998 erstm<strong>als</strong> das Konzept des Vollgeldes publiziert<br />

und seitdem weiterentwickelt. Nach seiner Ansicht müssen<br />

Geldschöpfung und Kreditvergabe getrennt werden, weil Geld ordnungspolitische<br />

Relevanz besitzt und nicht einfach den Banken<br />

überlassen werden darf. Daher soll Geld ausschließlich durch eine<br />

unabhängige Institution geschaffen werden, die sich <strong>als</strong> „Monetative”<br />

in das System der demokratischen Gewaltenteilung einfügt.<br />

Das Konzept des Vollgeldes ist einfach und elegant, es vermeidet<br />

verschiedene Widersprüche des momentanen Geldsystems, des<br />

fraktionalen Reservebanking. Es ist ein Konzept der Mäßigung im<br />

Geldsystem. Zudem kann durch den Wechsel zum Vollgeld die<br />

Seigniorage „nachgeholt” werden, <strong>als</strong>o das Recht des Staates,<br />

Geld durch Staatsausgaben in Umlauf zu bringen. Damit könnte<br />

ein beträchtlicher Teil der Staatsschulden rückgezahlt werden.<br />

Jackson 2011 Tim Jackson: Wohlstand ohne Wachstum – Leben und Wirtschaften<br />

in einer endlichen Welt<br />

Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung<br />

oekom Verlag 2011 (englische Originalausgabe 2009)<br />

Tim Jackson ist einerseits Professor für Nachhaltige Entwicklung<br />

an der englischen Universität Surrey und andererseits Wirtschaftsbeauftragter<br />

der „Kommission für nachhaltige Entwicklung”, die<br />

von der britischen Regierung eingerichtet wurde. Mit diesem Buch<br />

wurde er zum bedeutendsten englischen Wachstumskritiker.<br />

In diesem gut lesbaren, faktenreichen und reich mit Quellenangaben<br />

versehenen Buch geht er ausführlich auf Themen wie<br />

Wohlstandsdefinition, den „Mythos Entkopplung” sowie die ökonomische<br />

Psychologie des Menschen ein. Besonders aufschlussreich<br />

waren für mich die Abschnitte über den „sozialen Wert der<br />

materiellen Dinge”.<br />

131


Knolle 2010 Helmut Knolle: Und erlöse uns von dem Wachstum. Eine historische<br />

und ökonomische Kritik der Wachstumsideologie.<br />

Pahl-Rugenstein Verlag 2010<br />

Knolle betrachtet beispielhaft drei politische Gebilde mit einer besonders<br />

ausgeprägten Wachstumsdynamik (Römisches Reich,<br />

Deutsches Reich und die USA) und liefert äußerst interessante<br />

Aspekte zu Bevölkerungswachstum, Wachstumsbegrenzung und<br />

Nationalismus. <strong>Die</strong> Analyse der modernen Wachstumsgesellschaft<br />

finde ich bei anderen Autoren allerdings überzeugender.<br />

Krämer 1989 Walter Krämer: <strong>Die</strong> Krankheit des Gesundheitswesens – <strong>Die</strong> Fortschrittsfalle<br />

der modernen Medizin<br />

S. Fischer Verlag 1989<br />

Der Gesundheitsökonom Walter Krämer hat sich einen etwas zweifelhaften<br />

Ruf <strong>als</strong> Polemiker und Besserwisser erworben. Dennoch<br />

ist er ein großer Lehrer, und ich halte sein Buch über das Gesundheitswesen<br />

für eines der besten, die je zu dem Thema geschrieben<br />

worden sind. In diesem Buch habe ich mehr über Marktwirtschaft<br />

und Gerangelwirtschaft, Statistik und natürlich das Gesundheitssystem<br />

gelernt <strong>als</strong> irgendwo sonst. Wer etwas über Vernunft<br />

und ihre Abwesenheit, Maßlosigkeit, Eitelkeit und Angst erfahren<br />

will, muss dieses Buch lesen. Seine Polemiken machen das Buch<br />

zudem recht rasant ...<br />

Er beschreibt die Erfolge der modernen Medizin und entschleiert<br />

die verschlungenen Wege des staatlich organisierten Medizinbetriebes,<br />

die zu einer beispiellosen finanziellen Verschwendung führen.<br />

Außerdem klärt er diverse Missverständnisse der Medizinstatistik<br />

auf. Schon vor über 20 Jahren hat er alle wesentlichen Probleme<br />

benannt und Lösungen vorgeschlagen. Kaum eines dieser<br />

Probleme wurde seitdem gelöst, das Buch ist <strong>als</strong>o immer noch<br />

hochaktuell – aber seit langem vergriffen.<br />

Postman 1988 Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode<br />

Fischer Taschenbuch 1988<br />

„Problematisch am Fernsehen ist nicht, daß es uns unterhaltsame<br />

Themen präsentiert, problematisch ist, daß es jedes Thema <strong>als</strong><br />

Unterhaltung präsentiert.”<br />

Der „Grand Old Man” des Kulturpessimismus beschreibt eindringlich,<br />

wie die Amerikaner das Zeitalter des langsamen, gedruckten<br />

Wortes beenden und sich zunehmend der Trivialität zuwenden,<br />

vornehmlich in Gestalt des Fernsehens. Ein absoluter Klassiker des<br />

Themas, unbedingt empfehlenswert für alle, die an einen rationalen<br />

Diskurs glauben, der durch die Medialisierung der Welt gefährdet<br />

ist.<br />

Postman 1987 Neil Postman: Das Verschwinden der Kindheit<br />

Fischer Taschenbuch 1987<br />

Neil Postman lehrt uns, dass die Idee der Kindheit eine erkämpfte<br />

kulturelle Errungenschaft ist, die im Zeitalter der Trivialität (siehe<br />

Postman 1988) wieder am Verschwinden ist. Welches Kind kann<br />

denn heute noch eine Kindheit erleben wie ich (siehe Widmung),<br />

132


denn heute noch eine Kindheit erleben wie ich (siehe Widmung),<br />

ohne die Attribute der Erwachsenenwelt? Gerade im Zeitalter des<br />

Internet, das für Kinder und Jugendliche praktisch frei zugänglich<br />

ist, sind seine Thesen wieder besonders lesenswert.<br />

Pickett/Wilkinson 2009 Kate Pickett und Richard Wilkinson: Gleichheit ist Glück. Warum<br />

gerechte Gesellschaften für alle besser sind<br />

Verlag Tolkemitt bei Zweitausendeins 2009 (englische Originalausgabe<br />

2009)<br />

Es handelt sich um eine bahnbrechende Arbeit zum Thema Verteilungsgerechtigkeit.<br />

<strong>Die</strong> Autoren weisen anhand jahrzehntelanger<br />

Forschungsarbeit nach, dass ab einem bestimmten, relativ niedrigen<br />

Einkommensniveau die Verteilung des Einkommens stärkeren<br />

Einfluss auf fast alle Wohlbefindens- und Glücksindikatoren einer<br />

Gesellschaft hat <strong>als</strong> die absolute Höhe. Es handelt sich um starke<br />

Argumente gegen Reichtum und das Gesetz des Dschungels.<br />

133


Rifkin 1996 Jeremy Rifkin: Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft<br />

Campus Verlag 1996 (amerikanische Originalausgabe 1995)<br />

Auch ein Klassiker, der immer wieder zitiert wird. Rifkin beschreibt<br />

drastisch die Folgen von Digitaler Revolution und Schlanker Produktion,<br />

die durch den ungeheuren Produktivitätszuwachs immer<br />

mehr Menschen arbeitslos macht. <strong>Die</strong> von ihm vorgeschlagenen<br />

Alternativen „Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit” oder „Schöneres<br />

Leben mit mehr Freizeit” sind heute gängiges Argumentarium<br />

der Postwachstumsdebatte.<br />

Seidl/Zahrnt 2010 Irmi Seidl und Angelika Zahrnt (Hg.): Postwachstumsgesellschaft –<br />

Konzepte für die Zukunft<br />

Metropolis Verlag 2010<br />

Ein sehr schöner Beitrag zur wachstumskritischen Debatte, denn<br />

Irmi Seidl und Angelika Zahrnt versammeln eine Vielzahl von<br />

Fachbeiträgen verschiedener Experten zum Thema Postwachstum<br />

und lassen auch Stimmen aus dem Ausland zu Wort kommen, wie<br />

dort der Stand der Debatte ist. Zum Buch gibt es auch einen Blog.<br />

Zwei Beiträge empfinde ich allerdings <strong>als</strong> recht konventionell und<br />

wenig überzeugend: Norbert Reuter (Arbeitsmarkt) und Bernd<br />

Meyer (Ressourceneffizienz).<br />

Simon 1996 Hermann Simon: <strong>Die</strong> heimlichen Gewinner (Hidden Champions) –<br />

<strong>Die</strong> Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktführer<br />

Campus Verlag 1996<br />

Eine Forschungsarbeit eines Betriebswirtschaftlers, der sich mit<br />

(meist mittelständischen) Unternehmen befasst, die einerseits<br />

Spitzenleistungen erbringen und in ihren (Spezial-)Märkten unangefochtene<br />

Marktführer sind, die andererseits aber kaum jemand<br />

kennt. Er kommt zu dem Schluss, dass das Streben nach Marktführerschaft<br />

an sich bereits hohe Energien freisetzt und die nötige<br />

Fokussierung auf den Erfolg bewirkt.<br />

Unfreiwillig stützt er damit meine Thesen, dass sich Teile der Wirtschaft<br />

völlig vom Sinn abgekoppelt haben und nur noch der Umverteilung<br />

dienen, und dass andererseits eine Menge Leute ihre<br />

psychischen Defizite („Nummer 1 sein, sonst nichts!“) über den<br />

Umweg der Ökonomie kompensieren.<br />

Trivers 2011 Robert Trivers: Deceit and Self-Deception – Fooling yourself the<br />

better to fool others<br />

(etwa: „Täuschung und Selbst-Täuschung – Sich selbst reinlegen,<br />

um andere besser reinzulegen”)<br />

Penguin Books 2011<br />

Eine allgemeine Theorie über die evolutionären Ursachen des<br />

Selbstbetrugs, vorgelegt von einem der großen amerikanischen<br />

Sozialbiologen. Nach seinen Ergebnissen sind Menschen, die sich<br />

selbst betrügen, evolutionär im Vorteil, weil es ihnen leichter fällt,<br />

andere zu betrügen.<br />

134


Welzer 2011 Harald Welzer: Mentale Infrastrukturen – Wie das Wachstum in<br />

die Welt und in die Seelen kam<br />

Heinrich-Böll-Stiftung: Schriften zur Ökologie, Band 14<br />

Abrufbar <strong>als</strong> <strong>pdf</strong> unter www.boell.de > Publikationen<br />

Literatur zum Konstruktivismus:<br />

Ein exzellenter (kurzer) Aufsatz über die Entwicklung von Wachstum<br />

<strong>als</strong> „geistige Idee”. Wachstum ist nicht nur politische und<br />

wirtschaftliche Realität, sondern auch ein Teil unseres Selbstbildes<br />

und unserer Erziehung. Das war aber beileibe nicht immer so, und<br />

Harald Welzer beschreibt den gesellschaftlichen Weg dorthin.<br />

Es gibt ein Referat von mir zu diesem Thema, welches auf wenigen Seiten die wichtigsten<br />

Ideen und Konsequenzen des Konstruktivismus beleuchtet (in der Internet-<strong>Version</strong> unter<br />

Download).<br />

Als verständliche Einführung hat Paul Watzlawick ein Buch selbst geschrieben: „Wie wirklich<br />

ist die Wirklichkeit?” (Piper) und eines <strong>als</strong> Herausgeber zusammengestellt mit Beiträgen<br />

mehrerer Konstruktivisten: „<strong>Die</strong> erfundene Wirklichkeit” (Piper).<br />

Wenn Sie sich für dieses Thema wirklich interessieren, dann empfehle ich Ihnen von Siegfried<br />

J. Schmidt die beiden Suhrkamp Taschenbücher unter dem Stichwort „Der Diskurs des<br />

Radikalen Konstruktivismus”. <strong>Die</strong>se Sammelbände geben gute einführende Übersichten mit<br />

Beiträgen aller namhaften Konstruktivisten und weiteren Literaturhinweisen. <strong>Die</strong> Sprache ist<br />

allerdings sehr wissenschaftlich.<br />

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