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Rätselhafte Fernwirkung - Schiffhauer, Nils

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Man muss seine Biographie erfinden!<br />

Heinrich Böll – schon vergessen. Aber auch bei Günther Grass, dem anderen Nobelpreisträger,<br />

ist nicht viel über das wirkliche Leben im vorigen Jahrhundert nachzulesen. Walter<br />

Kempowskis Werk hingegen wird sie alle überleben. Wie setzt der Chronist nicht nur der<br />

eigenen Familie die Biographien seiner Buchgestalten aus Erinnerung und Archiven zusammen?<br />

<strong>Nils</strong> <strong>Schiffhauer</strong> traf den Autor im letzten Haus am Rande von Nartum bei<br />

Bremen und konnte dieses Rätsel dennoch nicht lösen. 1 Womöglich geht es nur in seinen<br />

Werken auf und nicht im Gespräch, dessen surreale Stimmung und Themen die folgenden<br />

Notizen noch am besten wiedergeben. Kempowski sei schwierig, schreibt er in „Hundstage“.<br />

Ja, aber so leichtfüßig zu lesen.<br />

Alles frei erfunden! Das Motto von „Tadellöser & Wolff“ stellt Walter Kempowski auch<br />

seinem Roman „Heile Welt“ von 1998 voran – einer Dreiviertel-Autobiographie, die mit der<br />

fotorealistisch geschilderten Ankunft seines Junglehrer-Helden am Vogeler-Bahnhof<br />

Worpswede aufblendet. Alles frei erfunden? Nur eine juristische Klausel, damit ja keiner<br />

klage!<br />

Die vielen Stimmen. 8000 Biografien, Briefkonvolute und Tagebücher sammelt sein Archiv –<br />

darunter mehrbändige Ausgaben doppelten Brockhaus-Formats. Haben die Leute wirklich so<br />

viel erlebt? Mancher schreibt ja alles auf. Man muss seine eigene Biografie erfinden!<br />

Tagebuch, Zeit der Jugend. Unersetzlich die Notate, die man ihm bei der Verhaftung 1948<br />

abnahm. Nicht wieder rekonstruierbar. Diariiert jeden Tag, veröffentlicht daraus nur Weniges.<br />

Hatte alles mal zwölf Jahre lang in einem hannoverschen Archiv geschmort und niemanden<br />

interessiert.<br />

Meinungsterror der Linken. Spricht er selbst oder sein alter ego? Kalte Wut über jahrzehntelange<br />

Nichtbeachtung in den Medien. Wie ein Vogel, dem man die Flügel zusammenband.<br />

Literaturpreise setzten erst spät ein. Dabei braucht er das Geld für seine Projekte. Jetzt den<br />

Büchner-Preis ausschlagen, aber das Geld nehmen? Das ginge denn wohl doch zu weit.<br />

Immer zur Rechten gezählt worden. Warum nur? Konventionen und mangelhaftes Lesen,<br />

vermutlich. Die „Junge Freiheit“ auf seinem Fußboden. Aber auch der „Rheinische Merkur“<br />

werde ihm seit 40 Jahren ungefragt ins Haus geschickt. Und niemals eine Zeile über ihn gebracht!<br />

Das Ölgemälde im 80 Quadratmeter großen Arbeitszimmer. Ein Dampfsegler stampft durch<br />

hohe See. Ein Lotsenboot hält auf ihn zu, aus dem ein Junge mit rotem Kopftuch den Betrachter<br />

anblickt. Das ist er. Pirat. Lotse. Sagt, wo es langgeht.<br />

Sitzung bei Johannes Grützke. Der malt erst Kempowski, den Fummler. Und dann<br />

Kempowski, den unnahbar-hanseatischen Aristokraten. Das Modell erkennt sich im ersteren<br />

wieder, der Maler zeigt beide Seiten.<br />

Kann nur auf dem Papier lustig sein. Seine Personen sind nur beim Frühstück unbeschwert.<br />

Das auch sein Traum: Frühstück in einem schönen Hotel mit Alsterblick. Im Gespräch keine<br />

Döntjes. Man ist schließlich kein Hanswurst.<br />

1 22.11.04, 15:00 Uhr bis 17:30 Uhr. Kempowski, 1929 geboren, starb am 5. 10 2007 in Rotenburg/Wümme


Villa Massimo. Da wär‘ er auch gerne mal ein Jahr auf Staatskosten gewesen; oder Indien.<br />

Das Goethe-Institut mache doch so was. Aber keinen Schlag gehabt.<br />

Von Kallroy, der Maler aus „Heile Welt“. Montiert aus Otto Mueller, Heinrich Vogeler,<br />

Modersohn und Ossietzky. Ende im Emslandlager, von der Tochter denunziert. Nimmt man<br />

eine wirkliche Person, beschweren sich die Leute, dass da was fehle.<br />

Begegnungen mit Buchpersonal. Keine Angst, dass eine halbfertige Figur durch den Raum<br />

streicht: „Wie geht’s denn nun weiter mit mir im Manuskript?“ Seltsame Frage, wie alle.<br />

Sieht allerdings, wenn er abends ins leere Haus kommt, manchmal seinen Schweriner Untersuchungsrichter<br />

auf dem Schreibtischstuhl, unter dem ein polierter Stein aus dem Gefängnis<br />

Bautzen eingelassen ist.<br />

Flirtet mit der Fotografin, daß die Fenster beschlagen. Wie eigentlich, Herr Kempowski,<br />

macht das Mäuschen der Frauen beim Gehen? Das gehöre doch wohl nicht hierher, dieses<br />

Zitat aus seinem „Alkor“. Fühlt sich aber ertappt.<br />

Die Bücher, alles von langer Hand geplant. Hält die Papptafel hoch. Hier die Geschichte der<br />

Familie, Tadellöser & Wolff, etwa. Dort die der „Anderen“, die Echolot-Serie. Darin über 500<br />

Biografien verarbeitet. Man muss das machen. Was, das? Von einem Ufer zum andern rudern.<br />

Lethe? Nickt; aber fraglich, ob er nicht „Leben“ verstand.<br />

Natur? Direkt ekelhaft! So raunendes Moor wie bei Arno Schmidt, dessen schnappschussartig<br />

komponierten Romane dem Lese-Entwöhnten nach der Entlassung 1956 entgegenkamen und<br />

dessen Technik er adaptierte? Natur kommt ihm nicht in die Tüte!<br />

What is this thing called love? Sein Lieblings-Swing. Dann aber eher die drei Schmachtminuten<br />

von Artie Shaw vom 27. September 1938 als der nervöse 15-Minuten-Riemen von<br />

Parker, Charlie.<br />

Man frage nicht! Die Verfilmungen seiner Bücher, die diese populär bis zum sprachlichen<br />

Volksvermögen („Klare Sache, und damit hopp!“) machten. Doch wie die Worte des<br />

Eidetikers Kempowski zu Bildern Eberhard Fechners wurden – sonderbar. Selbst filmen?<br />

Kein Geld, keine Energie.<br />

Nie wieder Rostock! Sammelte alles, was mit seiner Heimatstadt zu tun hat, baute ihr Zentrum<br />

als Diorama. Aber als er wieder nach Rostock durfte, war es aus damit. Wenn man seine alte<br />

Schulliebe wiedersehe, sei es doch auch vorbei damit, he? Je, nun.<br />

Spukhafte <strong>Fernwirkung</strong>. Auf dem Heimweg lenkt ein virtueller Autopilot den Wagen in die<br />

Vergangenheit. Das Bahnwärterhäuschen Waffensen, 1977; ein schwarzer Weichendraht<br />

bebte und hauchte hawai[i]en; (neben mir erschien die Wölfin 2 , mit Silberkörnern überall<br />

…). 3 Was davon eigene Biographie, was faunisches Leseerlebnis; was die fortgesponnenen<br />

Gesprächsfäden? Alles frei erfunden!<br />

Danke, Kempo: danke.<br />

2 d.i. Hanne Wulff [angebetete Schulfreundin Arno Schmidts]<br />

3 Schmidt, Arno: Aus dem Lebens eines Fauns I. (In: Schmidt, Arno: Sämtliche Romane und Erzählungen 1946<br />

– 1964, Bargfeld/Zürich, 2000, S. 286)

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