Tagungsband 2008/2009 - Gesellschaft für Didaktik der Mathematik
Tagungsband 2008/2009 - Gesellschaft für Didaktik der Mathematik
Tagungsband 2008/2009 - Gesellschaft für Didaktik der Mathematik
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proceedings<br />
Ulrich Kortenkamp und Anselm Lambert<br />
(Hrsg.)<br />
Medien Vernetzen<br />
Zur Zukunft des Analysisunterrichts<br />
vor dem Hintergrund <strong>der</strong><br />
Verfügbarkeit<br />
Neuer Medien (und Werkzeuge)<br />
Lösungen<br />
vorstellen<br />
Aufgaben<br />
stellen<br />
Zufallszahlen<br />
Themen<br />
zusammenfassen<br />
Themen<br />
vorstellen<br />
Mittelwert,<br />
Median<br />
Aufgaben /<br />
Präsentation<br />
Wirtschaftsmathematik<br />
Standardabweichung,<br />
Varianz<br />
Stochastik<br />
und Statistik<br />
DifferentialundIntegralrechnung<br />
Regression<br />
Konstruktionen<br />
Geometrie<br />
CAS<br />
Berechnungen<br />
Funktionen<br />
geometrische<br />
Zusammenhänge<br />
Addition,<br />
Multiplikation,<br />
. . .<br />
Programmiersprache<br />
LGS, Matrizen,<br />
. . .<br />
Graphen<br />
2D<br />
Tabellenkalkulation<br />
3D<br />
komplexe<br />
Verfahren<br />
Algorithmen<br />
Messreihen<br />
aufnehmen<br />
Datensätze<br />
auswerten<br />
Datenerhebungen<br />
Bericht über die<br />
26. und 27. Arbeitstagung des Arbeitskreises<br />
„<strong>Mathematik</strong>unterricht und Informatik“<br />
in <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> e.V.<br />
vom 26.–28.9.<strong>2008</strong> in Fuldatal und 25.–27.9.<strong>2009</strong> in Soest
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek<br />
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliografie;<br />
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ddb.de abrufbar.<br />
Bibliographic information published by Die Deutsche Bibliothek<br />
Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie;<br />
detailed bibliographic data is available on the Internet at http://dnb.ddb.de.<br />
Ulrich Kortenkamp; Anselm Lambert (Hrsg.)<br />
Medien Vernetzen / Zur Zukunft des Analysisunterrichts vor<br />
dem Hintergrund <strong>der</strong> Verfügbarkeit Neuer Medien (und Werkzeuge)<br />
Bericht über die 26. und 27. Arbeitstagung des Arbeitskreises<br />
„<strong>Mathematik</strong>unterricht und Informatik“ in <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> e.V. vom 26.-28.9.<strong>2008</strong> in Fuldatal und<br />
25.-27.9.<strong>2009</strong> in Soest<br />
ISBN 978-3-88120-823-9<br />
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbeson<strong>der</strong>e die <strong>der</strong> Vervielfältigung<br />
und Übertragung auch einzelner Textabschnitte, Bil<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Zeichnungen<br />
vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Zustimmung des<br />
Verlages in irgendeiner Form reproduziert werden (Ausnahmen gem. §§53, 54<br />
URG). Das gilt sowohl <strong>für</strong> die Vervielfältigung durch Fotokopie o<strong>der</strong> irgendein an<strong>der</strong>es<br />
Verfahren als auch <strong>für</strong> die Übertragung auf Filme, Bän<strong>der</strong>, Platten, Transparente,<br />
Disketten und an<strong>der</strong>e Medien.<br />
c○ 2012 by Verlag Franzbecker, Hildesheim
Inhaltsverzeichnis<br />
Vorwort <strong>der</strong> Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />
I Medien vernetzen 5<br />
„Medien vernetzen“ – Leitgedanken und -fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />
Henrik Kratz, Oberursel: Warum ist <strong>der</strong> Einsatz Neuer Medien so schwierig? . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
Horst Hischer, Saarbrücken: Medien und Vernetzungen – eine didaktische Positionsbestimmung . . . . 17<br />
Andreas Goebel und Reinhard Oldenburg, Frankfurt: Konstruktionsbegriffe <strong>für</strong> die<br />
3D-Raumgeometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />
Rolf Neveling, Wuppertal: Neue Technologien und ihre Vernetzung im Rahmen curricularer<br />
Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />
Sebastian Kuntze und Christine Bescherer, Ludwigsburg: Überzeugungen von Studierenden zum<br />
Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht und <strong>der</strong>en Weiterentwicklung in einer Lehrveranstaltung. . 31<br />
II Zur Zukunft des Analysisunterrichts 41<br />
Zur Zukunft des Analysisunterrichts vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Verfügbarkeit Neuer Medien (und<br />
Werkzeuge) – Leitgedanken und -fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />
Hannes Stoppel, Gladbeck: CAS ist nicht gleich CAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45<br />
Andrea Hoffkamp, Berlin: Funktionales Denken mit dem Computer unterstützen – Empirische<br />
Untersuchungen im Rahmen des propädeutischen Unterrichts <strong>der</strong> Analysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />
Guido Pinkernell, Darmstadt: Qualitatives Modellieren mit <strong>der</strong> Funktionenbox und an<strong>der</strong>en<br />
schwarzen Kästen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57<br />
Gilbert Greefrath, Köln: Vielfältiger Computereinsatz im Analysisunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />
Fritz Nestle, Ulm: Kühe, Kin<strong>der</strong> und Kultusminister(innen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />
Andreas Fest, Schwäbisch Gmünd & Marc Zimmermann, Ludwigsburg: Werkzeuge <strong>für</strong> das<br />
individuelle Lernen in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77<br />
Reinhard Oldenburg, Frankfurt: Die Analysis in den Zeiten <strong>der</strong> Computerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83<br />
Hans-Georg Weigand, Würzburg: Wozu brauche ich ein Computeralgebra System (CAS), wenn ich<br />
zwei Straßen verbinden soll? – Überlegungen zum (sinnvollen) Einsatz eines CAS im<br />
Analysisunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />
1
Lutz Führer, Frankfurt: Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum<br />
Analysisunterricht des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103<br />
Stefanie Anzenhofer, Würzburg: Musik mit Funktionsgraphen – Wissen kreativ nutzen . . . . . . . . . . 137<br />
Joachim Engel, Ludwigsburg: Von Daten zur Funktion: Skizzen eines anwendungsorientierten<br />
Analysisunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147<br />
Bodo von Pape, Oldenburg: Analysis in <strong>der</strong> Schule zwischen Präzision und Approximation – Ein<br />
Plädoyer <strong>für</strong> Algorithmik und Animation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153<br />
Markus Vogel, Heidelberg: Der Computer macht’s möglich — Funktionen als Werkzeug zum<br />
Modellieren von Daten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159<br />
eLearning in mathematischen Vorkursen mit Beispielen zur Analysis: Reinhard Hochmuth und<br />
Pascal Fischer, Kassel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165<br />
2
• Vorwort <strong>der</strong> Herausgeber<br />
Anselm Lambert, Saarbrücken und Ulrich Kortenkamp, Halle-Wittenberg<br />
Der Arbeitskreis <strong>Mathematik</strong>unterricht und Informatik<br />
wurde 1978 gegründet, so dass die Herbsttagung<br />
<strong>2008</strong> in Fuldatal das 30jährige Jubiläum<br />
markiert. Die inzwischen regelmäßig durchgeführten<br />
jährlichen Arbeitstagungen Ende September<br />
sind das institutionelle Zentrum <strong>der</strong> umfangreichen<br />
themengeleiteten und zielorientierten<br />
Diskussionen.<br />
<strong>Mathematik</strong>didaktik ist <strong>für</strong> den Arbeitskreis<br />
dabei eine Wissenschaft mit zahlreichen Bezugsdisziplinen,<br />
von <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> und <strong>der</strong> Informatik<br />
über die pädagogische Psychologie bis zu den<br />
empirischen und den normativen Bildungswissenschaften.<br />
Auch <strong>der</strong> Begriff Informatik selbst wird<br />
darin vom Arbeitskreis breit ausgelegt – von ihren<br />
theoretischen Grundlagen im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
bis zur Computernutzung im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
– mit jeweils persönlich geprägten inhaltlichen<br />
Schwerpunkten. Diese Bandbreite spiegelt<br />
sich in den Beiträgen zu den Tagungsthemen<br />
„Medien Vernetzen“ (<strong>2008</strong>) und „Zur Zukunft<br />
des Analysisunterrichts vor dem Hintergrund<br />
<strong>der</strong> Verfügbarkeit Neuer Medien (und Werkzeuge)“<br />
(<strong>2009</strong>) wi<strong>der</strong>.<br />
Darüber hinaus ist <strong>der</strong> Arbeitskreis ein dem<br />
fruchtbaren Austausch dienen<strong>der</strong> Treffpunkt von<br />
an <strong>Mathematik</strong>unterricht und Informatik Interessierten<br />
aus Schule und Hochschule mit ihren unterschiedlichen<br />
persönlichen Zugängen zum Gebiet:<br />
pragmatisch konstruktiven, empirisch deskriptiven,<br />
theoretisch fundierenden, visionär weisenden,<br />
alltäglich gestaltenden. Auch diese Bandbreite<br />
spiegelt sich in den Beiträgen wi<strong>der</strong> – mit<br />
jeweils eigener (Präsentations- und) Veröffentlichungskultur.<br />
Wir haben uns als Herausgeber entschlossen,<br />
diese Vielfalt hier in diesem <strong>Tagungsband</strong><br />
wie<strong>der</strong> originalgetreu zu dokumentieren.<br />
Es gibt nicht zu allen Vorträgen <strong>der</strong> Tagungen<br />
auch einen Artikel in diesem <strong>Tagungsband</strong>.<br />
Gerade daher möchten wir all den hier versammelten<br />
Autorinnen und Autoren danken, die uns<br />
helfen, das breite Spektrum <strong>der</strong> Arbeitstagung <strong>für</strong><br />
den Rest <strong>der</strong> Kommunität zugänglich und sichtbar<br />
zu machen. Ohne ihre tatkräftige und geduldige<br />
Unterstützung bei <strong>der</strong> Herstellung gäbe es diesen<br />
<strong>Tagungsband</strong> nicht. Wir hoffen, mit den Beiträgen<br />
einen Beitrag zur mathematikdidaktischen<br />
Diskussion um die Beziehung zwischen Informatik<br />
und <strong>Mathematik</strong>unterricht zu liefern und wünschen<br />
Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Anregung<br />
und Freude bei <strong>der</strong> Lektüre.<br />
3
Anselm Lambert, Saarbrücken und Ulrich Kortenkamp, Halle-Wittenberg<br />
4
Teil I<br />
Tagung <strong>2008</strong><br />
Medien vernetzen<br />
5
• „Medien vernetzen“ – Leitgedanken und -fragen<br />
Anselm Lambert, Saarbrücken, und Ulrich Kortenkamp, Schwäbisch Gmünd<br />
Medien vernetzen. Zwei Worte. Eine Aussage. Eine<br />
Frage? Eine Hoffnung? Eine For<strong>der</strong>ung? Eine<br />
Vision? Ein (?) Tagungsthema – unser Tagungsthema!<br />
Medien vernetzen.<br />
Medien vernetzen? Wen o<strong>der</strong> Was vernetzen<br />
Medien? Inhalte des <strong>Mathematik</strong>unterrichts,<br />
Methoden des <strong>Mathematik</strong>unterrichts, und/o<strong>der</strong><br />
alte/neue Inhalte mit alten/neuen Methoden des<br />
<strong>Mathematik</strong>unterrichts? Lern- und Leistungssituationen?<br />
Vernetzen Medien gar Personen des<br />
<strong>Mathematik</strong>unterrichts mit- und untereinan<strong>der</strong>:<br />
Lehrende und Lernende. Und auch Lernende über<br />
geeignete Methoden (welche?) mit Inhalten (welchen)?<br />
Können/sollten Sie dies? Seit wann vernetzen<br />
Medien? Weshalb vernetzen Medien? Von allein?<br />
O<strong>der</strong> durch Lehrende? O<strong>der</strong> durch die Lernenden<br />
selbst? Da ist auch eine an<strong>der</strong>e Perspektive<br />
wichtig: Wer vernetzt Medien, macht Medien<br />
vernetzen – und warum? Können/sollten auch<br />
Medien Medien vernetzen?<br />
Genauere Blicke lohnen, dazu differenzieren<br />
wir Begriffe, um weiter zu fragen. Ein Vorschlag<br />
– <strong>der</strong> gerne hinter- und gegengefragt werden darf!:<br />
Medien und Werkzeuge wirken zwischen Mensch<br />
und Welt. Medien vermitteln Menschen Welt, speziell<br />
auch die o<strong>der</strong> bescheidener eine Welt <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>.<br />
Werkzeuge lassen umgekehrt Menschen<br />
Einfluss auf die Welt nehmen. Medien und Werkzeuge<br />
sind damit zwei Gesichter einer Interaktion<br />
von Mensch und Welt, unterschieden durch ihre<br />
Interaktionsrichtung.<br />
(Nicht nur) Mathematische Gedanken bedürfen<br />
externer, isomorpher (was kann/soll das heißen<br />
müssen/dürfen?) Darstellungen zur Kommunikation.<br />
<strong>Mathematik</strong>, die nicht singulär in ihrem<br />
individuellen Entdecker o<strong>der</strong> je nach Standpunkt<br />
Erfin<strong>der</strong> bleiben soll, bedarf externer Darstellungen,<br />
die Sen<strong>der</strong> und Empfänger verstehen<br />
(lernen), die diesen ein Wechselspiel symmetrischer<br />
Kommunikation ermöglichen. Auch zwischen<br />
Menschen und Computern?!?<br />
Wir nutzen im Unterricht Darstellungen, die<br />
helfen (mathematische) Welt(sicht) zu erfahren<br />
und zu erschließen. Schon immer verwenden<br />
Menschen dazu Handlungen (mit und ohne Werkzeugen),<br />
Zeichen und Symbole (die vereinbarten<br />
Regeln folgen) als Medien und nicht zuletzt gesprochene<br />
Sprache. Können wir letztere mitvernetzen?<br />
Zwangsläufig beeinflusst stets <strong>der</strong> uns zur<br />
Verfügung stehende Teil des denkbaren Universums<br />
aller Darstellungen, die Fragen welcher <strong>Mathematik</strong><br />
wir uns zuwenden (können) und welche<br />
<strong>Mathematik</strong> wir interessant finden (wollen).<br />
Das Spektrum gewünschter Darstellungen sollte<br />
von Gegenstand, Zweck und Ziel abhängig<br />
sein und ist praktisch von den Möglichkeiten<br />
<strong>der</strong> vernetzten und vernetzenden Neuen Medien<br />
und Werkzeuge abhängig – was können diese<br />
leisten, was nicht? Welche (neuen?) Darstellungen<br />
schenken uns Computer und welche enthalten<br />
Sie uns (prinzipiell?) vor? Darstellungen<br />
eines mathematischen Sachverhaltes können enaktiv<br />
o<strong>der</strong> ikonisch o<strong>der</strong> symbolisch sein – können/sollten<br />
Medien dies vernetzen? Darstellungen<br />
eines mathematischen Sachverhaltes können<br />
formal-analytisch o<strong>der</strong> visuell-geometrisch o<strong>der</strong><br />
konzeptuell-begrifflich sein – können/sollten Medien<br />
dies vernetzen?<br />
Darstellungen eines mathematischen Sachverhaltes<br />
können prädikativ o<strong>der</strong> funktional sein<br />
– können/sollten Medien dies vernetzen? Kurz:<br />
können/sollten wir versuchen bestimmten Kategorien<br />
und/o<strong>der</strong> Skalen didaktisch unterscheidbarer<br />
mathematischer Zugänge durch vernetzte<br />
und vernetzende Neue Medien und Werkzeuge<br />
gerecht(er?) zu werden. Können/wollen wir dazu<br />
immer/manchmal/nie Computer als Maschinen<br />
gewordene <strong>Mathematik</strong> sinnstiftend, sinntragend,<br />
sinnvoll nutzen/netzen?<br />
Wir laden Sie herzlich ein, diese, weitere, engere,<br />
an<strong>der</strong>e Fragen und denkbare, mögliche, bescheidene<br />
o<strong>der</strong> euphorische Antwortversuche gemeinsam<br />
mit an<strong>der</strong>s o<strong>der</strong> ähnlich denkenden an<br />
„Medien vernetzen“ Interessierten auf <strong>der</strong> diesjährigen<br />
Herbsttagung des AKMUI in <strong>der</strong> GDM auszutauschen,<br />
zu diskutieren, zu unterstützen o<strong>der</strong><br />
zu bestreiten.<br />
7
Anselm Lambert, Saarbrücken, und Ulrich Kortenkamp, Schwäbisch Gmünd<br />
Vorträge <strong>der</strong> Tagung <strong>2008</strong><br />
8<br />
Niegemann, Helmut Lernen im Netz <strong>der</strong> Medien (Hauptvortrag)<br />
Greefrath, Gilbert Digitale Medien im <strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>für</strong> unterschiedliche Zugänge<br />
nutzen – Erfahrungen aus <strong>der</strong> Lehrerbildung<br />
Monnerjahn, Rolf Vernetzung des <strong>Mathematik</strong>unterrichts (durch Mupad) mit Sinnund<br />
Kulturzusammenhängen<br />
Nestle, Fritz Mathe und WoW<br />
Hischer, Horst Was sind und was sollen Medien und Netze? – Eine didaktische Positionsbestimmung<br />
(Hauptvortrag)<br />
Kuntze, Sebastian Überzeugungen von Studierenden zum Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
und <strong>der</strong>en Weiterentwicklung in einer Lehrveranstaltung<br />
Vogel, Markus <strong>Mathematik</strong>lernen im Lehramtsstudium – Medien unterstützen, Medien<br />
verbinden<br />
El-Demerdash, Mohamed A Suggested Enrichment Program Using DGS in Developing Geometric<br />
Creativity<br />
Labs, Oliver Parameterisierte Kurven als Ortskurven von Geradenkonstruktionen<br />
in Cin<strong>der</strong>ella<br />
Kratz, Henrik Warum ist <strong>der</strong> Einsatz neuer Medien so schwierig?<br />
Stepancik, Evelyn Medienvielfalt im <strong>Mathematik</strong>unterricht – Konzepte <strong>für</strong> eine „ideale“<br />
Medien-Kombination im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
Oldenburg, Reinhard Konstruktionsbegriffe <strong>für</strong> die dynamische Raumgeometrie (mit Andreas<br />
Göbel)<br />
Neveling, Rolf Neue Technologien und Aspekte ihrer Vernetzung im Rahmen curricularer<br />
Überlegungen (Hauptvortrag)<br />
Lehmann, Eberhard Vernetzen – eine fundamentale Idee <strong>für</strong> bessere Curricula – <strong>der</strong><br />
Computer macht’s möglich<br />
Roth, Jürgen <strong>Mathematik</strong> rund um den Bagger – Medien vernetzen, Modellieren<br />
erleichtern
• Warum ist <strong>der</strong> Einsatz Neuer Medien so schwierig?<br />
Henrik Kratz, Oberursel<br />
Im hessischen Landesabitur kann zwischen Aufgaben gewählt werden, bei denen verschiedene Technologien<br />
(TR, GTR, CAS) zugelassen sind. Trotz einer prinzipiellen Aufgeschlossenheit gegenüber<br />
Neuen Medien setzt bisher nur ein sehr kleiner Teil <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>lehrerinnen und -lehrer GTR<br />
o<strong>der</strong> CAS im Unterricht bzw. Abitur ein. Im Vortrag wird hinterfragt, warum das so ist und wie<br />
<strong>Mathematik</strong>-Kolleginnen und -kollegen an den Schulen dabei unterstützt werden können, ihre bisherigen<br />
Unterrichtskonzepte mit <strong>der</strong> Einführung digitaler Werkzeuge zu vernetzen.<br />
Abschließend wird diskutiert, welche Folgerungen sich <strong>für</strong> die Konstruktion von Abituraufgaben<br />
ergeben. Dabei wird auch die These <strong>der</strong> AG „Prüfungsaufgaben“ des AKMUI 2007 hinterfragt, dass<br />
„es in <strong>der</strong> Prüfungssituation nicht unbedingt <strong>der</strong> digitalen Werkzeuge“ zur Überprüfung mathematischer<br />
Kompetenzen bedarf.<br />
1 Auswertung eines<br />
Lehrerfragebogens zum Einsatz<br />
Neuer Medien<br />
Seit 2007 gibt es in Hessen ein Landesabitur in<br />
<strong>Mathematik</strong>, das drei Arten von digitalen Werkzeugen<br />
1 unterscheidet, die die Schülerinnen und<br />
Schüler im Abitur durchgängig verwenden dürfen:<br />
⊲ Taschenrechner (TR)<br />
⊲ Graphikfähiger Taschenrechner (GTR)<br />
⊲ Computer-Algebra-Systeme (CAS)<br />
Um einen Überblick zu bekommen, in welchem<br />
Umfang und in welcher Weise Neue Medien<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht eingesetzt werden, wurden<br />
84 Lehrer aus dem Hochtaunus- und Wetteraukreis<br />
im Winter 06/07 befragt. Alle Befragten<br />
nutzten bisher mit ihren Klassen und Kursen kein<br />
handheld-Gerät son<strong>der</strong>n ausschließlich den Computerraum.<br />
⊲ Wie oft bin ich mit Klassen/Kursen insgesamt<br />
im Computerraum, um mit mathematischen<br />
Programmen zu arbeiten? (Angaben pro<br />
Halbjahr)<br />
Antwort Anzahl<br />
nie 22<br />
1 - 2 mal 30<br />
3 - 5 mal 11<br />
mehr als 5 mal 21<br />
⊲ Welche Programme setze ich dabei ein?<br />
Antwort Anzahl<br />
Tabellenkalkulation 44<br />
Dynamische Geometrie 40<br />
Computeralgebrasysteme 26<br />
Sonstiges 16<br />
⊲ Welche Jahrgangsstufen wähle ich <strong>für</strong> den<br />
Computereinsatz aus?<br />
Antwort Anzahl<br />
5 und 6 28<br />
7 und 8 42<br />
9 und 10 34<br />
Sek. II 29<br />
⊲ Ich würde neue Medien im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
gerne öfters einsetzen, als ich es tue.<br />
Antwort Anzahl<br />
ja 53<br />
nein 15<br />
vielleicht 16<br />
Die Antworten zeigen, dass die meisten <strong>Mathematik</strong>lehrerinnen<br />
und -lehrer zum Computereinsatz<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht ein ambivalentes<br />
Verhältnis haben. Einerseits wird <strong>der</strong> Computer<br />
nur selten eingesetzt, an<strong>der</strong>erseits wünscht<br />
sich die Mehrheit einen intensiveren Einsatz. Das<br />
Potenzial des Computers wird offensichtlich erkannt.<br />
Ergänzend wurde gefragt, welche Gründe<br />
aus Sicht <strong>der</strong> Lehrer gegen den Computereinsatz<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht sprechen? Die folgenden<br />
Gründe wurden jeweils 5 mal o<strong>der</strong> öfter genannt:<br />
⊲ äußere bzw. organisatorische Gründe<br />
◦ Zu viele Schüler pro Klasse / Kurs<br />
◦ Fehlende technische Voraussetzungen (zu<br />
wenig Computer, defekte Geräte)<br />
◦ Unterschiedliche Voraussetzungen <strong>der</strong> Schüler<br />
◦ Probleme <strong>der</strong> Organisation (Raumbelegung)<br />
⊲ Inhaltliche Gründe<br />
◦ Zu großer Zeitbedarf / Lehrplanfülle (18mal)<br />
◦ Schüler könnten es als Spielerei betrachten<br />
◦ Rechentechniken und Konstruktionen müssen<br />
geübt werden<br />
◦ Kein Erfassen mathematischer Inhalte<br />
1 Die Begriffe „Neue Medien“ und „digitale Werkzeuge“ werden in diesem Beitrag weitgehend synonym verwendet.<br />
9
Henrik Kratz, Oberursel<br />
Ein Teil <strong>der</strong> Gründe bezieht sich auf äußere<br />
bzw. organisatorische Schwierigkeiten, die den<br />
Computereinsatz im Unterrichtsalltag behin<strong>der</strong>n.<br />
Daneben gibt es einen zweiten Typ von Gründen,<br />
die stärker inhaltliche Vorbehalte <strong>der</strong> befragten<br />
Lehrerinnen und Lehrer gegenüber dem Computereinsatz<br />
zum Ausdruck bringen. Insbeson<strong>der</strong>e<br />
wird deutlich, dass viele Lehrerinnen und Lehrer<br />
den Computer eher als zusätzliche Visualisierungsmöglichkeit<br />
o<strong>der</strong> Unterstützung <strong>für</strong> beson<strong>der</strong>e<br />
Projekte sehen, aber nicht als zentrales Hilfsmittel<br />
zum Erreichen ihrer Unterrichtsziele. In den<br />
Augen vieler Kolleginnen und Kollegen trägt <strong>der</strong><br />
Computereinsatz auch nicht zu einer Entlastung<br />
z.B. von Rechenroutinen bei, son<strong>der</strong>n führt eher<br />
zu einem erhöhten Zeitbedarf. Dies ist mit <strong>der</strong> Be<strong>für</strong>chtung<br />
verbunden, dass die entsprechende Zeit<br />
zum Üben von Rechentechniken o<strong>der</strong> Konstruktionen<br />
fehlt.<br />
Die Verteilung <strong>der</strong> drei Technologien im hessischen<br />
Landesabitur <strong>der</strong> beiden ersten Jahre spiegelt<br />
die Vorbehalte <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>lehrerinnen<br />
und -lehrer wi<strong>der</strong>:<br />
2007 <strong>2008</strong><br />
TR 95,9% 94,7%<br />
GTR 1,4% 2,5%<br />
CAS 2,7% 2,8%<br />
Da <strong>der</strong> Vorlauf zum ersten Landesabitur-<br />
Durchgang im Jahr 2007 sehr kurz war, ist davon<br />
auszugehen, dass die GTR- und CAS-Anteile<br />
dieses Jahres von Lehrerinnen und Lehrern stammen,<br />
die bereits vorher in ihrem Unterricht diese<br />
Werkzeuge eingesetzt haben. Dagegen kann die<br />
Zunahme im Jahr <strong>2008</strong> als erste Reaktion auf die<br />
Möglichkeit des Technologieeinsatzes im Abitur<br />
gesehen werden. Es steht allerdings zu be<strong>für</strong>chten,<br />
dass es bei den gegenwärtigen Rahmenbedingungen<br />
in den nächsten Jahren in Hessen bei einer<br />
ähnlich geringen Zunahme bleiben wird: Im Rahmen<br />
von Fortbildungen zum Landesabitur, die <strong>der</strong><br />
Autor betreut hat, bekundeten nur etwa 4 von 50<br />
Schulen die Absicht, in den nächsten Jahren GTR<br />
o<strong>der</strong> CAS einführen zu wollen.<br />
2 Balance zwischen klassischen und<br />
digitalen Werkzeugen<br />
Angesichts <strong>der</strong> Ergebnisse des Fragebogens stellt<br />
sich folgende Frage: Warum sind Lehrerinnen und<br />
Lehrer trotz ihrer prinzipiellen Aufgeschlossenheit<br />
gegenüber digitalen Medien so zurückhaltend<br />
in <strong>der</strong> Einführung von GTR o<strong>der</strong> CAS? Ein Kernproblem<br />
sieht <strong>der</strong> Autor darin, dass das Potenzial<br />
von GTR bzw. CAS eine grundlegend neue Balance<br />
zwischen den drei Werkzeugbereichen verlangt,<br />
mit denen <strong>Mathematik</strong> betrieben wird:<br />
10<br />
1. im Kopf<br />
2. mit Papier und Bleistift, Zeichengeräten,<br />
Steckbrettern etc. (klassischer Werkzeugbereich)<br />
3. mit digitalen Werkzeugen (TR, GTR, CAS,<br />
Tabellenkalkulation, Dynamische Geometrie<br />
etc.)<br />
Im Bereich des Taschenrechnereinsatzes haben<br />
sich in den letzten Jahrzehnten bereits Vorstellungen<br />
von einer Balance zwischen diesem Werkzeug<br />
und Kopf- bzw. Papier- und Bleistiftrechnungen<br />
herausgebildet, die von <strong>der</strong> großen Mehrheit<br />
<strong>der</strong> Lehrerinnen und Lehrer geteilt werden. Nach<br />
den Erfahrungen des Autors ist es beispielsweise<br />
fast allen <strong>Mathematik</strong>lehrerinnen und -lehrern ein<br />
Gräuel, wenn Schüler <strong>für</strong> die Aufgabe „Berechne<br />
75% von 80 Euro“ zum Taschenrechner greifen,<br />
da diese Aufgabe viel angemessener durch eine<br />
Aktivierung von Grundvorstellungen <strong>der</strong> Prozentrechnung<br />
gelöst werden kann. An<strong>der</strong>erseits wünschen<br />
sie sich, dass ihre Schülerinnen und Schüler<br />
erkennen, dass die Mehrwertsteuerberechnung eines<br />
krummen Betrags, etwa „Berechne 19% von<br />
328,49 Euro“ sinnvoller mit dem Taschenrechner<br />
durchgeführt werden kann. Um alle Werkzeugbereiche<br />
gleichermaßen zu trainieren, wechseln erfahrene<br />
Lehrkräfte deshalb gezielt zwischen Phasen,<br />
in denen TR verwendet werden dürfen und<br />
Phasen, in denen TR nicht verwendet werden dürfen,<br />
das heißt Lehrkräfte führen bewusst eine Regie<br />
des Ein- und Ausblendens des Mediums TR.<br />
Dies betrifft auch Prüfungssituationen. Beispielsweise<br />
werden in einer Klassenarbeit zur Potenzrechnung<br />
Aufgaben gestellt, bei denen die Schülerinnen<br />
und Schüler Zwischenschritte notieren sollen.<br />
Dadurch sollen sie dokumentieren, dass sie<br />
einen Term mit Hilfe <strong>der</strong> Potenzgesetze vereinfachen<br />
können und nicht nur in den TR eingegeben<br />
haben, etwa: Berechne 2 6 · 5 6 .<br />
Die zentrale These des Autors lautet nun:<br />
These 1. Sowohl bei den Lehrkräften als auch<br />
in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>-<strong>Didaktik</strong> herrscht noch keine<br />
ausreichende Klarheit darüber, wie eine stimmige<br />
Vernetzung und Balance <strong>der</strong> Werkzeugbereiche<br />
im Unterricht und in Prüfungen erreicht werden<br />
kann, wenn nicht nur <strong>der</strong> TR son<strong>der</strong>n stärkere digitale<br />
Werkzeuge wie GTR o<strong>der</strong> CAS zur Verfügung<br />
stehen.<br />
Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie<br />
die verschiedenen Werkzeugbereiche im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
ineinan<strong>der</strong> greifen und welche<br />
Werkzeugverwendung jeweils am Ende eines bestimmten<br />
Lernprozesses angestrebt wird. Dies soll<br />
anhand von Standardsituationen geschehen, das<br />
heißt anhand von Lernprozessen, die auf Basiskompetenzen<br />
zielen.<br />
Beispiel 1. Einführung einer neuen Funktions-
klasse (quadratische Funktionen)<br />
Nachdem anhand eines Anwendungskontexts motiviert<br />
wurde, warum es interessant ist, die neue<br />
Funktionsklasse zu untersuchen, sollten folgende<br />
Schritte durchlaufen werden 2 :<br />
1. Schülerinnen und Schüler zeichnen die Normalparabel<br />
per Hand mit Hilfe einer selbst<br />
erstellten Wertetabelle. Dies ist ein wichtiger<br />
Schritt, um den Einfluss des Funktionsterms<br />
auf die Grundform <strong>der</strong> Funktion zu erfassen.<br />
Insbeson<strong>der</strong>e wird die Covariation <strong>der</strong> Funktion<br />
numerisch begriffen: Wie än<strong>der</strong>t sich <strong>der</strong><br />
Funktionswert, wenn ich den x-Wert um 1 erhöhe?<br />
2. Der Einfluss von Parametern auf die Lage <strong>der</strong><br />
Funktion wird durch das Plotten unterschiedlicher<br />
Funktionen mit GTR, CAS o<strong>der</strong> DGS experimentell<br />
untersucht und systematisiert.<br />
3. Schülerinnen und Schüler formulieren allgemein,<br />
wie Parameter den Funktionsverlauf beeinflussen.<br />
4. Schülerinnen und Schüler können Lage und<br />
Form von Parabeln im Kopf bestimmen.<br />
Innerhalb des Lernprozesses werden in diesem<br />
Fall Denkoperationen zunächst medial unterstützt,<br />
das Ziel des Lernprozesses besteht aber darin, dass<br />
sich die Schülerinnen und Schüler wie<strong>der</strong> von den<br />
Medien, insbeson<strong>der</strong>e vom digitalen Werkzeug lösen.<br />
Für den Lehrer ergibt sich in Klassenarbeiten,<br />
in denen GTR o<strong>der</strong> CAS zugelassen sind, die<br />
Schwierigkeit, dass die entsprechende Basiskompetenz<br />
(„Gib an, ob die Parabel y = 0,5(x−3) 2 +<br />
7 nach oben o<strong>der</strong> unten geöffnet ist und bestimme<br />
die Lage des Scheitelpunkts.“) nicht mehr valide<br />
überprüft werden kann, da die Schülerinnen und<br />
Schüler die Aufgabe durch Plotten des Graphen<br />
lösen können.<br />
Beispiel 2. Lösen linearer Gleichungssysteme mit<br />
mehreren Unbekannten<br />
1. Schülerinnen und Schüler lösen LGS in Stufenform<br />
und einfache 3x3-Systeme durch Gauß-<br />
Verfahren per Hand. Dadurch wird das Grundprinzip<br />
des Gauß-Verfahrens erfasst. Gleichzeitig<br />
wird transparent, warum unterschiedliche<br />
Lösungsfälle auftreten und wie diese sinnvoll<br />
notiert werden.<br />
2. Die Lösung von LGS mit GTR o<strong>der</strong> CAS wird<br />
eingeführt. Schülerinnen und Schüler vergleichen<br />
die Darstellung <strong>der</strong> Lösungsfälle durch<br />
das digitale Werkzeug mit <strong>der</strong> vorherigen Notation.<br />
3. Schülerinnen und Schüler sind in <strong>der</strong> Lage a)<br />
einfache Systeme als solche zu erkennen und<br />
Warum ist <strong>der</strong> Einsatz Neuer Medien so schwierig?<br />
schnell mit Papier und Bleistift zu lösen b)<br />
komplexere Systeme mit digitalem Werkzeug<br />
zu lösen.<br />
In diesem Fall zielt <strong>der</strong> Lernprozess darauf, dass<br />
die Schülerinnen und Schüler selbst entscheiden<br />
können, welches Werkzeug sie zur Lösung eines<br />
bestimmten LGS sinnvollerweise verwenden. Angestrebt<br />
wird also ein paralleles Lösen per Hand<br />
und mit digitalem Werkzeug 3 .<br />
Beispiel 3. Grenzwerte<br />
Aufgabe: Bestimme den Grenzwert <strong>der</strong> Folge:<br />
an = e −2n · (n 2 + 3n)<br />
Im Gegensatz zu den beiden obigen Beispielen<br />
ist es bei <strong>der</strong> Bestimmung von Grenzwerten nicht<br />
sinnvoll, eine bestimmte Schrittfolge des Werkzeugeinsatzes<br />
<strong>für</strong> die Erarbeitung festzulegen.<br />
Möglich wäre, dass die Schülerinnen und Schüler<br />
zunächst die Teilterme <strong>der</strong> Folge graphisch o<strong>der</strong><br />
numerisch darstellen und dadurch zu einer Vermutung<br />
gelangen, welchen Grenzwert die Folge<br />
annimmt. Die Vermutung kann dann mit Hilfe eines<br />
CAS überprüft werden. Aber auch an<strong>der</strong>e Wege<br />
sind denkbar, etwa <strong>der</strong> umgekehrte Weg: Die<br />
Schülerinnen und Schüler bestimmen den Grenzwert<br />
zunächst mit Hilfe von CAS und begründen<br />
anschließend durch eine analytische Betrachtung<br />
<strong>der</strong> Bestandteile des Terms, warum die Folge<br />
diesen Grenzwert annimmt. Insgesamt sollte<br />
<strong>der</strong> Lernprozess darauf zielen, dass die Schülerinnen<br />
und Schüler alle drei Werkzeugbereiche in einem<br />
flexiblen Zusammenspiel verwenden können.<br />
Aufgaben in Prüfungssituationen sollten auf dieses<br />
Zusammenspiel zielen und dürfen sich nicht<br />
darauf beschränken, dass ein Grenzwert mit Hilfe<br />
eines CAS bestimmt wird.<br />
Beispiel 4. Binomialverteilungen<br />
Nachdem Binomialverteilungen im Unterricht erarbeitet<br />
wurden, sollten Schülerinnen und Schüler<br />
diese in weiteren Anwendungen routinemäßig nur<br />
noch mit GTR o<strong>der</strong> CAS berechnen. Dies führt<br />
ungleich schneller und sicherer zum Ergebnis als<br />
eine Berechung mit TR. Gegenüber <strong>der</strong> Verwendung<br />
von fertigen Tabellen besteht <strong>der</strong> Vorteil,<br />
dass Ablesefehler vermieden werden und beliebige<br />
Wahrscheinlichkeiten und Kettenlängen möglich<br />
sind. Ziel des Unterrichts ist hier also die ausschließliche<br />
Verwendung des digitalen Werkzeugs.<br />
Trotzdem kann in einer Klausur eine verstehensorientierte<br />
Aufgabe darin bestehen, Binomialverteilungen<br />
in Termform zu notieren und <strong>der</strong>en Bedeutung<br />
zu erläutern.<br />
2Die Schritte sollten nicht im Sinne eines strengen Rezepts verstanden werden, selbstverständlich sind Variationen dieser Abfolge<br />
denkbar.<br />
3Ein ähnliches Vorgehen schlägt Eberhard Lehmann im Rahmen seiner Unterscheidung von black-box, grey-box und white-box vor<br />
Lehmann [2007].<br />
11
Henrik Kratz, Oberursel<br />
Graphische<br />
und numerische<br />
Darstellung<br />
<strong>der</strong> Folge<br />
Die Beispiele zeigen: Es hängt stark vom jeweiligen<br />
Kontext ab, welches Ineinan<strong>der</strong>greifen<br />
<strong>der</strong> verschiedenen Werkzeugbereiche sinnvoll ist.<br />
Dies gilt sowohl <strong>für</strong> den Erarbeitungsprozess als<br />
auch <strong>für</strong> den anschließenden routinemäßigen Einsatz<br />
einer Basiskompetenz.<br />
Dementsprechend sollten Konzepte zum Einsatz<br />
des GTR und CAS im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
⊲ weniger auf den völligen Ersatz <strong>der</strong> klassischen<br />
Werkzeugbereiche durch GTR o<strong>der</strong> CAS zielen,<br />
son<strong>der</strong>n<br />
⊲ stärker auf die stimmige Vernetzung und Balance<br />
<strong>der</strong> drei Werkzeugbereiche (Kopf, Papier-<br />
Bleistift, digitale Werkzeuge) achten<br />
Inhaltliche Kompetenzen versus<br />
Bedienungskompetenzen<br />
In Prüfungssituationen, in denen GTR o<strong>der</strong> CAS<br />
als Werkzeuge zugelassen sind, entsteht die<br />
grundlegende Schwierigkeit, wie inhaltliche mathematische<br />
Kompetenzen von Bedienungskompetenzen<br />
abgegrenzt werden können. Die LK-<br />
Analysis-Aufgabe A1 (GTR) aus dem hessischen<br />
Landesabitur <strong>2008</strong> lautete:<br />
Aufgabe. 4. Begründen Sie, dass f1 <strong>für</strong> x > 0 eine<br />
Umkehrfunktionen y1 besitzt.<br />
f1(x) = 1<br />
2 (ex − e −x − 2)<br />
Die folgenden Bearbeitungen stammen von 2<br />
Schülerinnen aus dem <strong>Mathematik</strong> LK des Autors.<br />
Die erste Argumentation ist inhaltlich orientiert,<br />
allerdings enthält die erste Ableitung einen<br />
Vorzeichenfehler. Dagegen stützt sich die zweite<br />
Lösung im Wesentlichen auf die Bedienungskompetenz<br />
<strong>der</strong> Schülerin, wobei <strong>der</strong> Einsatz des GTR<br />
durch Angabe des verwendeten Befehls und eine<br />
Skizze des Plots korrekt dokumentiert ist. Der<br />
Vergleich wirft Fragen auf: Ist das Plotten <strong>der</strong> Umkehrfunktion<br />
als Begründung <strong>für</strong> <strong>der</strong>en Existenz<br />
12<br />
Berechnung<br />
des Grenzwerts<br />
mit CAS<br />
Abbildung 3.1: Zusammenspiel aller Werkzeugbereiche<br />
Analytische<br />
Betrachtung<br />
des Terms<br />
ausreichend? Wie bewertet man die beiden Lösungen<br />
in Relation zueinan<strong>der</strong>?<br />
Abbildung 3.2: Schülerlösung 1<br />
Abbildung 3.3: Schülerlösung 2<br />
Zusammenfassend soll im Sinn einer These<br />
festgestellt werden:<br />
These 2. Ein wesentlicher Grund <strong>für</strong> die Skepsis<br />
(hessischer) Lehrer gegenüber <strong>der</strong> Einführung<br />
von GTR o<strong>der</strong> CAS resultiert daraus, dass Abiturprüfungen,<br />
in denen diese Werkzeuge als durchgängige<br />
Hilfsmittel zugelassen sind, nicht die im<br />
Unterricht notwendige Balance zwischen den drei<br />
Werkzeugbereichen wi<strong>der</strong>spiegeln.<br />
Für Lehrkräfte, die bisher im Unterricht nur<br />
den TR eingesetzt haben, entsteht eine hohe psychologische<br />
Hürde bei <strong>der</strong> Entscheidung <strong>für</strong> GTR<br />
o<strong>der</strong> CAS, wenn sie Schwerpunktsetzungen ihres<br />
bisherigen Unterrichts im Abitur nicht angemessen<br />
wie<strong>der</strong> finden. Dies wird verstärkt, wenn alle<br />
Abituraufgaben so konstruiert sind, dass die Lösung<br />
nur noch mit GTR o<strong>der</strong> CAS möglich ist.
Vor dem Hintergrund dieser Problematik hat sich<br />
im Rahmen <strong>der</strong> AKMUI Tagung des Jahres 2007<br />
eine AG Prüfungsaufgaben gebildet, die sich mit<br />
<strong>der</strong> Frage auseinan<strong>der</strong>setzte, ob es möglich ist,<br />
in (Abitur-) Prüfungen auf digitale Werkzeuge zu<br />
verzichten. Die AG bündelt ihre Überlegungen in<br />
folgen<strong>der</strong> These:<br />
These 3. Zur Überprüfung von mathematischen<br />
Kompetenzen, die im Unterricht mit digitalen<br />
Werkzeugen erworben wurden, bedarf es in <strong>der</strong><br />
Prüfungssituation nicht unbedingt <strong>der</strong> digitalen<br />
Werkzeuge. [Greefrath et al., <strong>2008</strong>]<br />
Im Anschluss stellt die AG Abituraufgaben<br />
vor, die ohne digitale Werkzeuge bearbeitet werden<br />
können, aber einen Unterricht mit CAS,<br />
Tabellenkalkulation und dynamischer Geometrie<br />
herausfor<strong>der</strong>n. Gleichzeitig weist die AG auf ungünstige<br />
Konsequenzen hin, die sich aus einer<br />
Entscheidung gegen digitale Werkzeuge in Prüfungen<br />
ergeben würden:<br />
These 4. Werden digitale Medien nur <strong>für</strong> den Unterricht,<br />
aber nicht <strong>für</strong> die Prüfung zugelassen, so<br />
wird auch ihr systematischer Einsatz im Unterricht<br />
sowie die dazu notwendige fachliche Diskussion<br />
in Fachkonferenzen gehemmt. (ebd.)<br />
Ergänzend sollen hier weitere Argumente angeführt<br />
werden, die aus Sicht des Autors gegen<br />
den Verzicht auf digitale Werkzeuge in Abiturprüfungen<br />
sprechen:<br />
⊲ Fähigkeiten <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler werden<br />
nur unzureichend erfasst, denn <strong>der</strong>en Kompetenzen<br />
zeigen sich gerade darin, wie sie Aufgaben<br />
mit Werkzeugen (Geodreieck, . . . , CAS)<br />
bewältigen können.<br />
⊲ Abiturprüfungen werden nicht gerechter, da<br />
mathematische Kompetenzen und Werkzeugkompetenzen<br />
miteinan<strong>der</strong> verwoben sind.<br />
Diese Gegenargumente sollen mit <strong>der</strong> folgenden<br />
Aufgabe zur fundamentalen Idee Approximation<br />
illustriert werden, die ohne digitale Werkzeuge<br />
zu bearbeiten ist.<br />
Aufgabe. Gegeben sind 4 Punkte, die durch eine<br />
quadratische Funktion angenähert werden sollen:<br />
A(0|0), B(1,2|0,4), C(2,3|1,6), D(3,1|5,4)<br />
Welche <strong>der</strong> folgenden quadratischen Funktionen<br />
(Abb. 3.4) nähert sich am besten an die Punkte<br />
an, welche am schlechtesten? Begründen Sie Ihre<br />
Wahl.<br />
Der Autor hat diese Aufgabe einer 10. Klasse<br />
vorgelegt, die Regression im Unterricht noch nicht<br />
kennen gelernt hat. Auf die Frage, welche Annäherung<br />
am besten ist, wählten von den 28 Schülerinnen<br />
und Schüler <strong>der</strong> Klasse 17 mal die erste,<br />
1 mal die zweite, 6 mal die dritte und 4 mal die<br />
vierte.<br />
Warum ist <strong>der</strong> Einsatz Neuer Medien so schwierig?<br />
Schülerinnen und Schüler, die Funktion 1<br />
wählten, begründeten ihre Entscheidung in <strong>der</strong><br />
Regel damit, dass <strong>der</strong> Graph drei <strong>der</strong> vorgegebenen<br />
Punkte trifft und <strong>der</strong> vierte Punkt noch verhältnismäßig<br />
nahe am Graphen liegt - im Gegensatz<br />
zu Funktion 4. Die 6 Schülerinnen und<br />
Schüler, die Funktion 3 gewählt hatten, beschrieben<br />
diese Funktion zum Beispiel als „guten Kompromiss“,<br />
weil <strong>der</strong> Graph von keinem Punkt sehr<br />
weit entfernt ist. Sie verwendeten also Argumente,<br />
die dem Verfahren <strong>der</strong> Regression qualitativ nahe<br />
kommen.<br />
Auf die Frage, welche Annäherung am<br />
schlechtesten ist, wählten jeweils 8 die zweite und<br />
vierte, 12 die dritte und niemand die erste. Die<br />
Ablehnung von Funktion 3 wurde in erster Linie<br />
damit begründet, dass <strong>der</strong> Graph keinen <strong>der</strong> vorgegebenen<br />
Punkte enthält und <strong>der</strong> Scheitelpunkt<br />
deutlich unterhalb <strong>der</strong> x-Achse liegt.<br />
Insgesamt lässt sich festhalten: Primäre Schülervorstellungen<br />
darüber, wann eine Funktion eine<br />
gute Annäherung an vorgegebene Punkte darstellt,<br />
sind stark gestaltpsychologisch orientiert. Durch<br />
die Behandlung <strong>der</strong> Regression im Unterricht, etwa<br />
mit Hilfe einer Tabellenkalkulation o<strong>der</strong> eines<br />
CAS, än<strong>der</strong>n sich diese Vorstellungen dramatisch.<br />
Es ist zu erwarten, dass die meisten Schülerinnen<br />
und Schüler sich dann <strong>für</strong> Funktion 3 als beste Annäherung<br />
entscheiden, auch wenn sie kein digitales<br />
Werkzeug zu Verfügung haben, um eine Regression<br />
tatsächlich durchzuführen. Die Vorstellung,<br />
dass und wie ein solches Werkzeug verwendet<br />
werden kann, reicht aus, um die Entscheidung<br />
zu begründen.<br />
Fazit:<br />
⊲ Die Auffassung davon, was eine „gute Approximation“<br />
ist, än<strong>der</strong>t sich in einem Unterricht mit<br />
digitalen Werkzeugen dramatisch.<br />
⊲ Auch <strong>der</strong> nur vorgestellte Werkzeuggebrauch<br />
verän<strong>der</strong>t die Wahrnehmung von <strong>Mathematik</strong><br />
und damit die Bearbeitung von Aufgaben.<br />
⊲ Mathematische Kompetenzen sind unlösbar mit<br />
dem Gebrauch von Werkzeugen und Medien<br />
verbunden.<br />
In <strong>der</strong> Diskussion im Anschluss an den Vortrag<br />
hat Gilbert Greefrath angemerkt, dass die<br />
obige Aufgabe das Anliegen <strong>der</strong> AG Prüfungsaufgaben<br />
des AKMUI 2007 sogar unterstreicht.<br />
Sie lässt sich ohne digitale Werkzeuge bearbeiten,<br />
for<strong>der</strong>t aber einen Unterricht mit digitalen Werkzeugen<br />
heraus. Das ist sicherlich richtig. Allerdings<br />
ist die Aufgabe <strong>für</strong> Schülerinnen und Schüler,<br />
die Regression im Unterricht nicht kennen gelernt<br />
haben, in einer Prüfungssituation praktisch<br />
nicht mehr zu bewältigen bzw. führt lediglich dazu,<br />
dass sie ihre intuitiven Vorstellungen formulieren.<br />
Die mathematische Kompetenz, auf die die<br />
Aufgabe zielt, kann überhaupt nur in einem Unter-<br />
13
Henrik Kratz, Oberursel<br />
(1)<br />
(3)<br />
1 1 2<br />
2<br />
(2)<br />
1 1 2<br />
2<br />
(4)<br />
3 3 4<br />
4<br />
3 3 4<br />
4<br />
Abbildung 3.4: Verschiedene quadratische Funktionen in einer Aufgabe zur Approximation<br />
richt mit digitalen Werkzeugen erworben werden.<br />
Das bedeutet: Selbst wenn im Abitur keine digitalen<br />
Werkzeuge zugelassen sind, müsste ein Teil<br />
<strong>der</strong> Aufgaben nach <strong>der</strong> vorher von den Schülerinnen<br />
und Schülern verwendeten Technologie unterschieden<br />
werden.<br />
Abschließende Thesen<br />
⊲ Der Einsatz digitaler Werkzeuge in zentralen<br />
(Abitur-) Prüfungen ist unbedingt anzustreben,<br />
wenn digitale Werkzeuge Teil <strong>der</strong> Unterrichtskultur<br />
werden sollen.<br />
⊲ Um die Balance zwischen den Werkzeugbereichen<br />
abzubilden, die auch im Unterricht erfor<strong>der</strong>lich<br />
ist, sollte das Abitur geteilt sein (Sachsener<br />
Modell)<br />
◦ erster Teil: ohne digitale Werkzeuge (auch<br />
ohne TR)<br />
◦ zweiter Teil: unter Einsatz digitaler Werkzeuge,<br />
die nach Typen gestuft sind.<br />
Der Anteil des werkzeugfreien Teils beträgt in<br />
den Beispielaufgaben 4 <strong>für</strong> das Sachsener Zentralabitur<br />
25% . Um <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong> im Unterricht<br />
eingesetzten Werkzeuge gerecht zu werden,<br />
sollte dieser Anteil nach Ansicht des Autors<br />
sogar 50% betragen.<br />
Wie können Lehrkräfte bei <strong>der</strong> Einführung<br />
digitaler Werkzeuge unterstützt werden? Fortbildungen<br />
im Bereich digitaler Werkzeuge sollten<br />
drei Aspekte erfassen:<br />
1. Wie bedient man das Werkzeug?<br />
14<br />
4 http://www.sachsen-macht-schule.de/schule/6247.htm (letzter Zugriff: 13.10.<strong>2008</strong>)<br />
2. In welcher Weise unterstützt das Werkzeug den<br />
Zugang zu mathematischen Inhalten?<br />
3. In welchem Verhältnis sollen die Verwendung<br />
des Werkzeugs und Kopfmathematik bzw. das<br />
Arbeiten mit Papier- und Bleistift zueinan<strong>der</strong><br />
stehen?<br />
Die meisten Fortbildungen konzentrieren sich<br />
auf den ersten und zweiten Aspekt, <strong>der</strong> dritte<br />
Aspekt wird lei<strong>der</strong> oft vernachlässigt.<br />
Sofern Bundeslän<strong>der</strong> an einem detaillierten inhaltlichen<br />
Lehrplan festhalten, ist es notwendig,<br />
neben dem TR-Curriculum, ein GTR- bzw. CAS-<br />
Curriculum zu entwickeln, das auf bestimmte Kalkülinhalte<br />
verzichtet (z.B. Polynomdivision, Näherungsformeln<br />
<strong>für</strong> die Binomialverteilung etc.)<br />
und technologieaffine Inhalte verbindlich vorgibt<br />
(z.B. Verfahren zur Regression / Approximation<br />
von Funktionen, Simulationen etc.).<br />
Nach Ansicht des Autors ist <strong>für</strong> viele Kollegien<br />
<strong>der</strong> GTR als Zwischenstufe zurzeit deutlich<br />
sinnvoller als ein CAS o<strong>der</strong> ein hochvernetztes<br />
Werkzeug, das CAS, Tabellenkalkulation und dynamische<br />
Geometrie verbindet, wie etwa <strong>der</strong> TI-<br />
Nspire. Der GTR<br />
⊲ erlaubt „im Kleinen“ die Entwicklung einer<br />
neuen Balance <strong>der</strong> Werkzeugbereiche, <strong>der</strong><br />
große Konflikt Computeralgebra vs. händische<br />
Algebra wird weitgehend ausgespart.<br />
⊲ vermeidet Überfor<strong>der</strong>ung von Kolleginnen und<br />
Kollegen, die noch „auf Kriegsfuß“ mit dem
Technologieeinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
stehen. Dies ist beson<strong>der</strong>s wichtig, da die Fachschaft<br />
einer Schule in <strong>der</strong> Regel eine einheitliche<br />
Entscheidung zum Technologieeinsatz<br />
treffen muss, damit Schülerinnen und Schüler<br />
Klassen und Kurse problemlos wie<strong>der</strong>holen<br />
o<strong>der</strong> wechseln können.<br />
⊲ eröffnet bereist wesentliche neue Unterrichtsmöglichkeiten<br />
(z.B. den Wechsel <strong>der</strong> Darstellungsebenen)<br />
Das hessische Kultusministerium hat im Frühsommer<br />
<strong>2008</strong> überlegt, auf das Angebot von<br />
GTR-Aufgaben im Landesabitur zu verzichten.<br />
Diese Überlegung ist sicherlich verständlich,<br />
wenn man sich vor Augen führt, welche Vielzahl<br />
verschiedener Abituraufgaben durch die Technologieunterscheidung<br />
erstellt werden müssen. Vor<br />
dem Hintergrund <strong>der</strong> obigen Überlegungen ist davon<br />
aber abzuraten, wenn <strong>der</strong> Technologieeinsatz<br />
so geför<strong>der</strong>t werden soll, dass die Kollegien Zeit<br />
zur Entwicklung einer neuen Balance <strong>der</strong> Werkzeugbereiche<br />
erhalten sollen.<br />
Warum ist <strong>der</strong> Einsatz Neuer Medien so schwierig?<br />
Vorschlag <strong>für</strong> Hessen<br />
Für Hessen bzw. Bundeslän<strong>der</strong> in einer vergleichbaren<br />
Situation schlägt <strong>der</strong> Autor vor:<br />
⊲ verpflichtende Einführung des GTR ab Klasse 7<br />
o<strong>der</strong> 8, Projektschulen können schon CAS wählen<br />
(wie in Baden-Württemberg)<br />
⊲ entsprechende Übergangsphase, in denen im<br />
Abitur zwischen allen drei Technologien (TR,<br />
GTR, CAS) gewählt werden kann<br />
◦ danach: Wahl zwischen GTR und CAS im<br />
Abitur<br />
◦ erst sehr langfristig: verpflichten<strong>der</strong> Einsatz<br />
von CAS o<strong>der</strong> vernetzten Werkzeugen wie<br />
dem TI-Nspire<br />
Literatur<br />
Greefrath, Gilbert, Timo Leu<strong>der</strong>s & Andreas Pallack (<strong>2008</strong>):<br />
Gute Abituraufgaben – (ob) mit o<strong>der</strong> ohne Neue Medien.<br />
MNU, 61(2), 80–83.<br />
Lehmann, Eberhard (2007): Nachhaltige CAS-Konzepte <strong>für</strong><br />
den Unterricht. Leh-Soft.<br />
15
Henrik Kratz, Oberursel<br />
16
• Medien und Vernetzungen – eine didaktische<br />
Positionsbestimmung<br />
Horst Hischer, Saarbrücken<br />
Über „Medien“ und „Netze“, insbeson<strong>der</strong>e über „Vernetzung“, wird allenthalben in Politik, Presse<br />
und Wissenschaft diskutiert und geschrieben. „Medien“ spielen in den Bildungswissenschaften –<br />
und hier vornehmlich in <strong>der</strong> medienpädagogischen Forschung – eine wichtige Rolle; auch in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik<br />
werden sie angesprochen, wenn auch meist nicht in <strong>der</strong> ihnen gebührenden Rolle<br />
eines Fachbegriffs, son<strong>der</strong>n dann eher in <strong>der</strong> eines „selbstredenden“ Alltagsbegriffs. Für den Terminus<br />
„Vernetzen“ gilt Ähnliches: Er erfreut sich zwar zunehmen<strong>der</strong> Beliebtheit bei <strong>der</strong> Beschreibung<br />
von Unterrichtszielen und Bildungskonzepten – auch in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik, jedoch scheint er<br />
wegen fehlen<strong>der</strong> inhaltlicher Analyse fachlich nicht definitionswürdig zu sein und also (noch?) nicht<br />
die Rolle eines <strong>für</strong> diese Disziplin wichtigen fachwissenschaftlichen Begriffs zu spielen.<br />
In diesem Beitrag wird zunächst <strong>der</strong> Versuch einer Klärung bzw. Sammlung bereits vorliegen<strong>der</strong><br />
pädagogisch bzw. didaktisch orientierter fachwissenschaftlicher Begriffsinterpretationen (insbeson<strong>der</strong>e:<br />
„Medium“) bzw. auch „alltagsüblicher“ Deutungen, Bedeutungen und Verwendungszusammenhänge<br />
(vor allem: „Netz“ und „vernetzen“) vorgenommen, um daraus zu <strong>für</strong> den<br />
(mathematik-)didaktischen Kontext zweckmäßigen Begriffsbestimmungen zu gelangen und diese<br />
zur Diskussion zu stellen.<br />
1 Vorbemerkung<br />
Dies ist die komprimierte Fassung eines am<br />
26.09.<strong>2008</strong> gehaltenen Vortrags zum vieldeutigen<br />
Tagungsthema „Medien vernetzen“. Dieses<br />
Tagungsthema war geradezu eine Auffor<strong>der</strong>ung<br />
zur Klärung seiner Konstituenten im pädagogischdidaktischen<br />
Kontext.<br />
Im Vortrag wurde daher eine Sammlung sowohl<br />
„alltagsüblicher“ Deutungen, Bedeutungen<br />
und Verwendungszusammenhänge (vor allem:<br />
„Netz“, „Vernetzen“ und „Vernetzungen“) als<br />
auch vielfältiger fachwissenschaftlicher Interpretationen<br />
(vor allem: „Medium“) vorgestellt. Darauf<br />
gründeten sich Definitionsvorschläge <strong>für</strong> „Medium“,<br />
„Netz“ und „Vernetzung“ im pädagogischdidaktischen<br />
Kontext mit dem Ziel von Begriffsbestimmungen<br />
wie z. B. „vernetzen<strong>der</strong> Unterricht“.<br />
Eine sowohl weitreichen<strong>der</strong>e als auch detailliertere<br />
Ausarbeitung <strong>der</strong> Vortragsfassung erschien<br />
mittlerweile als Buch [Hischer, 2010].<br />
2 Medien<br />
Zum Thema „Medien“ kann <strong>für</strong> den pädagogischdidaktischen<br />
Kontext bereits auf eine reichhaltige<br />
Literatur zurückgegriffen werden, die allerdings<br />
aus <strong>der</strong> fachspezifischen Sichtweise und Sozialisation<br />
<strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> und ihrer <strong>Didaktik</strong> nicht<br />
<strong>für</strong> je<strong>der</strong>mann stets leicht zugängig wirken mag.<br />
Daher wurde <strong>der</strong> Versuch einer Synopse mit <strong>der</strong><br />
Konzentration auf Wesentliches und <strong>der</strong> Strukturierung<br />
in neuer Sichtweise unternommen, wobei<br />
sich <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Bezeichnung „Medium“ verbundene<br />
Begriff bereits in diesem Kontext überraschen<strong>der</strong>weise<br />
als sehr weit reichend erweist, beschreibbar<br />
durch folgende Aspekte: Medien begegnen<br />
uns sowohl in einer „engen Auffassung“<br />
(u. a. als sog. technische Medien) als auch in einer<br />
„weiten Auffassung“ (Medien als Vermittler von<br />
Kultur, als dargestellte Kultur, als Werkzeuge o<strong>der</strong><br />
Hilfsmittel zur Weltaneignung, als künstliche Sinnesorgane<br />
und als Umgebungen bei Handlungen).<br />
Zusammenfassend bedeutet das: In und mit<br />
Medien setzt <strong>der</strong> lernende und erkennende<br />
Mensch seine Welt und sich selbst in Szene. Damit<br />
kann z. B. die oft nebulös verwendete Bezeichnung<br />
„Lernumgebung“ sinnvoll als ein Medium<br />
gedeutet werden.<br />
3 Netz, Vernetzen?<br />
Der Terminus „Vernetzen“ erfreut sich großer Beliebtheit<br />
bei <strong>der</strong> Beschreibung von Unterrichtszielen<br />
und Bildungskonzepten (auch in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik),<br />
spielt aber wegen bisher fehlen<strong>der</strong><br />
inhaltlicher Analyse (noch?) nicht die Rolle eines<br />
<strong>für</strong> diese Disziplin wichtigen fachwissenschaftlichen<br />
Terminus, weil er nicht eindeutig und nicht<br />
einheitlich verwendet wird. Ein Brainstorming liefert<br />
eine große Fülle des „naiven“ Bedeutungsumfangs<br />
von „Netz“, die sich z. B. zu folgen<strong>der</strong> Liste<br />
verdichten lässt:<br />
Ein Netz – . . . dient dem Fangen und Einfangen,<br />
aber auch dem Trennen – . . . stellt Zusammengehörigkeit<br />
her – . . . dient <strong>der</strong> Verbindung – . . . gibt<br />
(als Geflecht) Menschen Sicherheit – . . . schützt<br />
Menschen o<strong>der</strong> Dinge gegen äußere Angriffe bzw.<br />
Feinde – . . . hält Menschen o<strong>der</strong> Dinge zusammen<br />
im Sinne von „Sammeln“ – . . . verbindet Menschen,<br />
Dinge o<strong>der</strong> Begriffe – . . . kann sowohl undurchdringlich<br />
als auch durchlässig sein – . . . hat<br />
Maschen und Knoten – . . . ist wegen <strong>der</strong> Maschen<br />
(<strong>für</strong> hinreichend kleine Objekte) nicht dicht – . . .<br />
ist (im Gegensatz zu einem Gitter) flexibel und<br />
meist leicht – . . . zeigt einerseits Zusammenhänge<br />
auf und – . . . dient an<strong>der</strong>erseits über das Verbinden<br />
dem Herstellen von Zusammenhängen –<br />
17
Horst Hischer, Saarbrücken<br />
. . . vermag „an<strong>der</strong>e“ über seinen „Inhalt“ zu täuschen.<br />
Dem „Vernetzen“ liegt etymologisch das „Netz“<br />
zugrunde. Eine Analyse <strong>der</strong> o. g. Liste führt<br />
zu einer Begriffsbestimmung von „Netz im<br />
pädagogisch-didaktischen Kontext“, die ein Zusammenspiel<br />
von drei Trägermengen beschreibt,<br />
nämlich: Bestandteile, Benutzer und Betrachter.<br />
Das sei kurz erläutert:<br />
Ein materielles Netz wie beispielsweise ein Fischernetz<br />
kann als maschenartiges Gebilde aufgefasst<br />
werden, das aus Kanten und Knoten zu bestehen<br />
scheint. Betrachten wir z. B. in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />
Definitionen, Sätze, Beispiele usw. als Knoten<br />
und Zusammenhänge bzw. Beziehungen zwischen<br />
diesen als Kanten, so liegt es nahe, diese in ihrer<br />
Gesamtheit als Bestandteile eines abstrakten Netzes<br />
aufzufassen. Allerdings ist ein solches „Netz“<br />
<strong>für</strong> sich genommen im pädagogisch-didaktischen<br />
Kontext uninteressant, weil es dort nämlich um<br />
Menschen geht, die damit umgehen, etwa um die<br />
Schülerinnen und Schüler, die als Benutzer des<br />
Netzes gewissermaßen dessen Inhalt bilden und<br />
sich durchaus in den Maschen dieses Netzes „verfangen“<br />
können. Dieser Prozess <strong>der</strong> Netzbenutzung<br />
wird ferner meist von „außerhalb“ durch<br />
Betrachter wahrgenommen und ggf. von diesen<br />
gesteuert, etwa durch die Lehrerinnen und Lehrer.<br />
Die sich darauf gründende Definition <strong>für</strong> „Netz<br />
im pädagogisch-didaktischen Kontext“ basiert auf<br />
drei nachfolgend angedeuteten Aspektgruppen:<br />
Ein Netz (im pädagogisch-didaktischen Kontext)<br />
ist eine strukturierte Zusammenfassung von Bestandteilen,<br />
Benutzern und Betrachtern, durch die<br />
Zwecke, Handlungen und Zustände beschrieben<br />
werden:<br />
Zweck-Aspekte eines Netzes in Bezug auf<br />
Bestandteile: Aufzeigen bzw. Herstellen von<br />
Verbindungen bzw. Zusammenhängen gedachter<br />
bzw. dinglicher Objekte<br />
Benutzer: <strong>der</strong>en Sammeln, Zusammenhalten<br />
und Gewährung von Schutz bzw. Sicherheit<br />
durch die Bestandteile<br />
Betrachter: Beeinflussung von <strong>der</strong>en Wahrnehmung<br />
<strong>der</strong> Benutzer (durch Beschönigen, Täuschen,<br />
Verführen, . . . )<br />
Handlungs-Aspekte eines Netzes <strong>für</strong> dessen Benutzer<br />
in Bezug auf<br />
Vernetzen: gedachte bzw. dingliche Objekte als<br />
Bestandteile eines Netzes deuten bzw. dazu machen<br />
vernetztes Denken: vorhandene Netze bei<br />
Analysen, Planungen und Entwicklungen nutzen<br />
vernetzendes Denken: Objekte eigenen Denkens<br />
vernetzen o<strong>der</strong> als Bestandteile eines Netzes<br />
deuten<br />
18<br />
Zustands-Aspekte eines Netzes in Bezug auf<br />
Vernetzt-Sein: Bestandteil eines Netzes sein<br />
Im-Netz-Sein: Benutzer eines Netzes sein<br />
Aus pädagogischer Sicht ist zu beachten: Wie bei<br />
einem Spinnennetz o<strong>der</strong> einem Fischernetz können<br />
die Benutzer „Opfer“ eines Netzes werden<br />
o<strong>der</strong> sein, wenn sie sich z. B. in den „Maschen des<br />
Netzes“ verfangen, etwa beim Surfen im World-<br />
WideWeb. So kann ein Netz <strong>für</strong> seine Benutzer<br />
(schicksalhaft) zum Gefängnis werden, aus dem<br />
es sich zu befreien gilt.<br />
Menschliche Benutzer eines Netzes laufen damit<br />
Gefahr, zum Bestandteil dieses Netzes zu<br />
werden – wenn sie etwa bei dessen Benutzung<br />
nicht hinreichend „emotionale Distanz“ wahren!<br />
Und weiterhin können menschliche Benutzer eines<br />
Netzes zu Betrachtern dieses Netzes werden<br />
und umgekehrt, wobei das Netz diese (und ggf.<br />
an<strong>der</strong>e) Gruppen (ggf. „durchlässig“) trennt. Die<br />
begriffliche Unterscheidung zwischen Bestandteilen,<br />
Benutzern und Betrachtern eines Netzes ist also<br />
we<strong>der</strong> scharf noch absolut, sie ist relativ, meint<br />
eine zweckbezogene Tendenz, und es ist ein Rollenwechsel<br />
möglich.<br />
4 Netzgraphen und Netzwerke<br />
Während ein materielles, „greifbares“ Netz mathematisch<br />
bei Bedarf oft als Graph beschreibbar<br />
ist, <strong>der</strong> aus Kanten und Knoten besteht, scheint<br />
dies nach dem hier vorliegenden Ansatz <strong>für</strong> ein<br />
„Netz“ im pädagogisch-didaktischen Kontext unpassend<br />
zu sein. Vielmehr liegen zunächst Assoziationen<br />
mit dem soziologischen „System“ nahe<br />
(bei dem ebenfalls die „Betrachter“ eine wichtige<br />
Rolle spielen). Dennoch benötigt man hier den<br />
Systembegriff nicht: So bieten sich zur strukturellen<br />
Beschreibung <strong>der</strong> Bestandteile (den „Knoten“<br />
und ihren „Verbindungen“, genannt „Kanten“)<br />
sog. „einfache“ („mehrfachkantenfreie“) Graphen<br />
an, die man sich überlagert bzw. kombiniert denken<br />
kann, um auf diese Weise ggf. vorhandene<br />
Mehrfachkanten zu erfassen.<br />
Die (ebenfalls vielfältig denkbaren) Beziehungen<br />
<strong>der</strong> Benutzer zu den Knoten <strong>der</strong> Bestandteile<br />
(o<strong>der</strong> zu <strong>der</strong>en Verbindungen) und <strong>der</strong> Benutzer<br />
untereinan<strong>der</strong> lassen sich dann bei Bedarf<br />
durch weitere Graphen beschreiben. Hinzu kommen<br />
noch Beziehungen <strong>der</strong> Betrachter untereinan<strong>der</strong>,<br />
zu den Benutzern und zu den Bestandteilen,<br />
so dass etliche Graphen vorliegen können,<br />
die insgesamt in ihrer Kombination ein Netz<br />
im pädagogisch-didaktischen Kontext ausmachen.<br />
Das führt dazu, in einem ersten Schritt spezielle<br />
einfache Graphen <strong>für</strong> das graphentheoretisch „Innerste“<br />
<strong>der</strong> Netze (nämlich <strong>für</strong> ihre Bestandteile)<br />
axiomatisch zu charakterisieren:
Im idealtypischen Fall ist dies ein Netzgraph als<br />
endlicher, zusammenhängen<strong>der</strong> Graph, bei dem<br />
jede Kante „Teil einer Masche“ ist, ergänzt durch<br />
die sinnvolle Zusatzfor<strong>der</strong>ung, dass je<strong>der</strong> Knoten<br />
mindestens den Grad 3 hat. In Netzgraphen gibt<br />
es damit zwischen je zwei Knoten stets mindestens<br />
zwei verschiedene Wege.<br />
Ein endlicher, „maschenhaltiger“ Graph (<strong>der</strong><br />
also mindestens eine Masche enthält) heißt Netzwerk<br />
und ist eine Bezeichnung <strong>für</strong> das strukturelle<br />
Insgesamt <strong>der</strong> Bestandteile eines Netzes im<br />
pädagogisch-didaktischen Kontext (s. o.). Damit<br />
ist je<strong>der</strong> Netzgraph ein spezielles Netzwerk. (Die<br />
Bezeichnung „Netzwerk“ ist auf zusammenhängende<br />
Graphen beschränkbar, was in einer entsprechenden<br />
Theorie zu erörtern wäre.)<br />
Benutzer und Betrachter können jeweils ein<br />
soziales Netzwerk bilden: Zwei Knoten (z. B.<br />
zwei Benutzer) sind genau dann durch eine Kante<br />
verbunden, wenn sie Mitglied <strong>der</strong>selben „Zugehörigkeitsgruppe“<br />
sind (z. B. Freundschafts- o<strong>der</strong><br />
Interessengruppe), wobei je<strong>der</strong> Gruppentyp ein eigenes<br />
soziales Netzwerk generiert. Soziale Netzwerke<br />
sind (hinsichtlich eines Gruppentyps) mathematisch<br />
als bipartite Graphen („zweigeteilte<br />
Graphen“) darstellbar, bei denen also ihre Knotenmengen<br />
in zwei Teilmengen <strong>der</strong>art zerlegbar<br />
sind, dass jede dieser Teilmengen kantenfrei ist<br />
und Kanten somit nur zwischen den Knoten verschiedener<br />
Teilmengen existieren. „Soziale Netze“<br />
sind keine „sozialen Netzwerke“, son<strong>der</strong>n<br />
„Netze“ (s. o.) mit Bestandteilen (Gesetze, Verordnungen,<br />
Versicherungen, . . . ), Benutzern (Bürger)<br />
und Betrachtern (Legislative, Exekutive, Jurisprudenz,<br />
Bürger, . . . ).<br />
5 Vernetzungsgradmaße und Kleine<br />
Welten<br />
Das „Vorliegen eines Netzgraphen“ ist ein qualitatives<br />
Maß <strong>für</strong> das Vorliegen einer Vernetzung.<br />
Aber auch Netzwerke können als „vernetzt“ angesehen<br />
werden, enthalten sie doch mindestens eine<br />
Masche. Daher benötigt man auch ein quantitatives<br />
Maß, genannt „Vernetzungsgrad“, <strong>der</strong>en<br />
in <strong>der</strong> sog. „Netzwerkanalyse“ <strong>der</strong> letzten beiden<br />
Jahrzehnte mehrere eingeführt worden sind,<br />
insbeson<strong>der</strong>e sind zu nennen: mittlerer Knotenabstand,<br />
Clusterkoeffizient, mittlerer Knotengrad<br />
und Durchmesser des Graphen [vgl. Hischer,<br />
2010, Kap. 5]. Diese sog. Netzwerkstatistiken können<br />
sowohl in ihrer Gesamtheit als auch in ihrer<br />
Verschiedenartigkeit zur Beurteilung <strong>der</strong> jeweils<br />
konkreten „Vernetzungsgüte“ herangezogen werden.<br />
So bildet ein konkretes Netzwerk z. B. eine<br />
sog. „Kleine Welt“ (“Small world”), falls <strong>der</strong><br />
mittlere Abstand zwischen zwei beliebigen Knoten<br />
„klein“ ist und sich auch bei Anwachsen des<br />
Netzwerks kaum än<strong>der</strong>t (vgl. das Phänomen “Six<br />
Medien und Vernetzungen – eine didaktische Positionsbestimmung<br />
degrees of separation”). Das Entstehen Kleiner<br />
Welten wird durch Bildung sog. „Naben“ begünstigt,<br />
also Knoten mit (im Vergleich zu den restlichen<br />
Knoten) extrem hohem Knotengrad. Das<br />
ist im Zusammenhang mit <strong>der</strong> „Stabilität“ eines<br />
Netzwerks zu sehen: Ein solches Netzwerk ist relativ<br />
stabil gegenüber <strong>der</strong> zufälligen Zerstörung<br />
von Knoten, jedoch extrem anfällig gegenüber<br />
<strong>der</strong> gezielten Zerstörung von Naben. Entsprechende<br />
Netzwerk-Modelle wurden eindrucksvoll empirisch<br />
bestätigt, z. B. sowohl beim Internet (einem<br />
ungerichteten Graphen) als auch beim WWW (einem<br />
gerichteten Graphen).<br />
6 Verbindung, Verzweigung,<br />
Vernetzung, „Netz-Dilemma“<br />
Verbindung: Zwei Knoten eines Graphen sind genau<br />
dann verbunden, wenn zwischen ihnen (mindestens)<br />
ein Weg existiert. Verzweigung: Ein zusammenhängen<strong>der</strong><br />
Graph ist genau dann verzweigt,<br />
wenn je zwei verschiedene Knoten durch<br />
genau einen Weg verbunden sind. Starke Vernetzung:<br />
Ein Graph ist genau dann stark vernetzt,<br />
wenn er ein Netzgraph ist. Schwache Vernetzung:<br />
Ein zusammenhängen<strong>der</strong> Graph ist genau<br />
dann schwach vernetzt, wenn er we<strong>der</strong> verzweigt<br />
noch stark vernetzt ist. Vernetzung: Ein Graph ist<br />
genau dann vernetzt, wenn er entwe<strong>der</strong> schwach<br />
vernetzt o<strong>der</strong> stark vernetzt ist. — Damit folgt<br />
u. a.: Genau in zusammenhängenden Graphen sind<br />
je zwei Knoten verbunden. „Verzweigter Graph“<br />
und „Baum“ ist dasselbe, insbeson<strong>der</strong>e gilt: Bäume<br />
sind nicht vernetzt!<br />
Kießwetter wies 1993 darauf hin, dass unser<br />
Handeln grundsätzlich in <strong>der</strong> Zeit stattfindet<br />
[vgl. Hischer, 2010, S. 185 ff.] – und damit ist<br />
dieses Handeln „linear“ und nicht vernetzt. So<br />
liegt also vermutlich eine fatale Situation vor, die<br />
„Netz-Dilemma“ genannt sei und die wie folgt<br />
beschreibbar ist: Man kann zwar ggf. „vernetzend<br />
denken“, aber nur „monokausal handeln“.<br />
7 „Vernetzen<strong>der</strong> Unterricht“ und<br />
„Offenheit“<br />
Gemäß dem ersten o. g. Zweckaspekt (bezüglich<br />
<strong>der</strong> Bestandteile) ist „Vernetzen<strong>der</strong> Unterricht“ lediglich<br />
eine prägnante, sprachliche Kurzform <strong>für</strong><br />
einen Unterricht, <strong>der</strong> durch schüleraktives Zusammenhangsdenken<br />
gekennzeichnet ist: also die Inszenierung<br />
eines Unterrichts, in dem Zusammenhänge<br />
zwischen Gebieten, Themen, Ideen, Begriffen<br />
etc. als Bestandteile eines Netzes nicht nur<br />
erkannt und entdeckt, son<strong>der</strong>n auch eigenständig<br />
hergestellt werden. Die blumige und oft nichtssagende<br />
Bezeichnung „Vernetzen“ wäre damit dann<br />
im Prinzip verzichtbar.<br />
Die Situation würde sich aber grundlegend<br />
än<strong>der</strong>n, wenn man die Benutzer (und damit den<br />
19
Horst Hischer, Saarbrücken<br />
zweiten Zweck-Aspekt) hinzuzieht, was <strong>für</strong> die<br />
Lehrerinnen und Lehrer bedeuten würde, über die<br />
fachlichen Unterrichtsziele eines solchen „vernetzenden<br />
Unterrichts“ hinaus nicht nur auf die geplanten<br />
Folgen betreffend Haltungen und Einstellungen<br />
zu achten, son<strong>der</strong>n auch die unbeabsichtigten<br />
Folgen zu berücksichtigen.<br />
Und schließlich ruft <strong>der</strong> dritte Zweck-Aspekt<br />
die Lehrerinnen und Lehrer dazu auf, sich nicht<br />
bezüglich <strong>der</strong> geplanten Wirkungen eines vernetzenden<br />
Unterrichts auf die Schülerinnen und<br />
Schüler täuschen zu lassen.<br />
Ein so verstandener „vernetzen<strong>der</strong> Unterricht“<br />
hat nicht nur eine die o. g. Bestandteile betreffende<br />
technische Bedeutung, son<strong>der</strong>n er erhält erst<br />
durch die Berücksichtigung <strong>der</strong> Benutzer (hier:<br />
Schülerinnen und Schüler) und <strong>der</strong> Betrachter<br />
(hier: Lehrerinnen und Lehrer) seine pädagogische<br />
Dimension. Der Terminus „Vernetzen<strong>der</strong> Unterricht“<br />
erhält dann also einen hohen Bildungsanspruch.<br />
Das fügt sich dann in das Allgemeinbildungskonzept<br />
von Klafki ein, <strong>der</strong> Allgemeinbildung<br />
als „Bildung im Medium des Allgemeinen“ beschreibt<br />
und dazu die „Bereitschaft und Fähigkeit<br />
zu vernetzendem Denken“ for<strong>der</strong>t. Er begründet<br />
das mit soziologisch-ökonomischen Befunden unserer<br />
Welt: „alles mit allem“ verknüpfen, vielfältige<br />
Verflechtungen, Wirkungszusammenhänge. Die<br />
ersten beiden sind idealtypisch mit einem Netzgraphen<br />
beschreibbar, und <strong>der</strong> dritte bedeutet die<br />
Modellierung durch einen gerichteten Graphen.<br />
Bei <strong>der</strong> Erörterung <strong>der</strong> Schlüsselprobleme betont<br />
Klafki „unterschiedliche Wege zur Lösung“ und<br />
„verschiedene Antworten auf die Frage nach Lösungen“<br />
im Zusammenhang mit einer Offenheit<br />
<strong>der</strong> Vorgehensweise (auch im Unterricht), womit<br />
klar wird: „Offenheit“ und „Vernetzung“ gehören<br />
in pädagogischer Sicht zusammen.<br />
Ein „Vernetzen<strong>der</strong> Unterricht“ führt zu Aufgaben<br />
<strong>für</strong> die Betrachter (insbes. Lehrpersonen)<br />
in Bezug auf die Betreuung <strong>der</strong> Benutzer (insbes.<br />
Schülerinnen und Schüler) beim Umgehen<br />
mit den Bestandteilen eines Netzes. Als Knoten<br />
sind das vor allem Themen, Ideen, Begriffe, Definitionen,<br />
Vermutungen, aber auch Beispiele und<br />
Übungsaufgaben. Als Kanten sind Beziehungen<br />
zwischen diesen Knoten denkbar: sowohl logische<br />
im Sinne des Folgerns bzw. des Folgens als auch<br />
emotionale des Entdeckens, Erlebens, Irrens, Ratlosseins<br />
usw., die in ihrer Gesamtheit zu einer<br />
individuellen lernpsychologischen „Verankerung“<br />
(<strong>der</strong> Knoten) beitragen (können). Bereits zur Erfassung<br />
bzw. Beschreibung <strong>der</strong> Bestandteile eines<br />
Netzes im pädagogisch-didaktischen Kontext<br />
können also unterschiedliche Graphen als „sich<br />
überlagernde Netzwerke“ auftreten. Hierbei sind<br />
20<br />
auch Aspekte <strong>der</strong> Netzwerkanalyse zu beachten:<br />
Kleine Welten, Naben und Stabilität.<br />
8 „Medien vernetzen“?<br />
Kann das Tagungsthema „Medien vernetzen“<br />
sinnvoll gedeutet werden? Zunächst liegt ein unvollständiger<br />
Satz vor, weil ein abschließendes Interpunktionszeichen<br />
fehlt. Zur Vervollständigung<br />
gibt es die Möglichkeiten „Medien vernetzen.“,<br />
„Medien vernetzen!“ und „Medien vernetzen?“.<br />
Per saldo muss also zwischen „Medien als Subjekt“<br />
und „Medien als Objekt“ unterschieden werden,<br />
d. h.,<br />
⊲ entwe<strong>der</strong> sollen Medien miteinan<strong>der</strong> vernetzt<br />
werden (Medien als Objekt) o<strong>der</strong><br />
⊲ an<strong>der</strong>e Objekte sollen durch Medien vernetzt<br />
werden (Medien als Subjekt).<br />
Und hierbei geht es nicht nur um „Medien in <strong>der</strong><br />
engen Auffassung“ und schon gar nicht nur um<br />
„technische Medien“, son<strong>der</strong>n auch um „Medien<br />
in <strong>der</strong> weiten Auffassung“ (s. o.) Dabei scheint <strong>der</strong><br />
erste Fall („Medien als Objekt“) <strong>der</strong> einfachere<br />
Fall zu sein, <strong>der</strong> vor allem technische Medien betrifft,<br />
während <strong>der</strong> zweite hingegen („Medien als<br />
Subjekt“) aus didaktischer Sicht <strong>der</strong> interessantere<br />
Fall ist.<br />
Beispielsweise ist <strong>der</strong> Infinitesimalkalkül ein<br />
„Werkzeug zur Weltaneignung“ [vgl. Hischer,<br />
2010, S. 30 f.] und damit ein Medium, das dann<br />
<strong>der</strong> „Vernetzung“ von etwas dienen kann. So enthält<br />
das Tagungsthema implizit nicht nur die (vor<strong>der</strong>gründige)<br />
Feststellung o<strong>der</strong> Auffor<strong>der</strong>ung zur<br />
didaktisch begründeten Vernetzung beispielsweise<br />
technischer Medien, son<strong>der</strong>n das pädagogische<br />
Fazit, dass „Vernetzung als Medium zur Weltaneignung“<br />
erscheine. Denn ein Netz zeigt Zusammenhänge<br />
auf, bzw. es kann solche vermitteln,<br />
d. h.: Ein Netz kann damit auch als ein Medium erscheinen,<br />
und dieses „Medium vernetzt“ zugleich!<br />
9 Last but not least<br />
Im Deutschen hat „Netz“ vielfältige Bedeutungen,<br />
hingegen existieren da<strong>für</strong> in an<strong>der</strong>en Sprachen<br />
viele Wörter mit unterschiedlichen Bedeutungen<br />
[vgl. Hischer, 2010, S. 53 f.]. Beispielsweise<br />
ist es problematisch, wenn etwa das englische<br />
“to connect” im Deutschen (in diesem Kontext)<br />
mit „vernetzen“ statt mit „verbinden“ wie<strong>der</strong>gegeben<br />
wird (vgl. die englische Zusammenfassung<br />
zu Beginn dieses Beitrags). Und man sollte Baumstrukturen<br />
nicht als Beispiele <strong>für</strong> „Vernetzungen“<br />
nennen, denn hier liegen nur „Verbindungen“ vor.<br />
Literatur<br />
Hischer, Horst (2010): Was sind und was sollen Medien, Netze<br />
und Vernetzungen? – Vernetzung als Medium zur Weltaneignung.<br />
Hildesheim: Franzbecker.
• Konstruktionsbegriffe <strong>für</strong> die 3D-Raumgeometrie<br />
Andreas Goebel und Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />
Die Entwicklung von Programmen <strong>für</strong> die dynamische Raumgeometrie erfor<strong>der</strong>t einen präzise definierten<br />
Begriff <strong>der</strong> geometrischen Konstruktion im Raum. Bei <strong>der</strong> Wahl eines solchen Konstruktionsbegriffs<br />
spielen technische, mathematische und didaktische Fragen eine Rolle. Einige Möglichkeiten<br />
sollen vorgestellt und didaktisch bewertet werden.<br />
1 Einleitung<br />
Dynamische Geometriesysteme erlauben dem Benutzer,<br />
geometrische Konstruktionen zu erstellen<br />
und die von ihnen bestimmten Figuren in parametrischer<br />
Abhängigkeit (dynamisch) von <strong>der</strong> Konfiguration<br />
<strong>der</strong> Ausgangsobjekte zu untersuchen. Die<br />
geometrischen Konstruktionen gewannen dadurch<br />
wie<strong>der</strong> an Bedeutung. Allerdings haben nicht alle<br />
Schüler diese Wendung verinnerlicht und so wurde<br />
schon kurz nach <strong>der</strong> Einführung von DGS beobachtet,<br />
dass Schüler Probleme haben, korrekte<br />
Konstruktionen aufzustellen. Diese Probleme<br />
können bei bestimmten Zielen vermieden werden,<br />
indem fertige Konstruktionen vorgegeben werden,<br />
aber gerade bei <strong>der</strong> Arbeit an offenen Problemstellungen<br />
ist es nach wie vor sinnvoll, wenn die<br />
Schüler selbst Ideen durch Konstruieren ausprobieren<br />
können.<br />
Mit <strong>der</strong> Entwicklung von dynamischen Geometriessystemen<br />
<strong>für</strong> die Raumgeometrie stellt<br />
sich die Frage nach den Konstruktionen erneut:<br />
Beobachtungen von Schülern und Lehramtsstudenten<br />
zeigen, dass keineswegs intuitiv ist, wie<br />
man eine Konstruktion erstellt. Dies gilt auch<br />
dann, wenn das zu konstruierende Objekt in allen<br />
Details bekannt ist. So hat Hattermann Studenten<br />
Würfel konstruieren lassen, wo<strong>für</strong> diese recht lange<br />
brauchten und teilweise nicht zum Erfolg kamen.<br />
Da in seiner Studie die Studenten keine Einführung<br />
in Raumgeometrie bekommen haben, gibt<br />
es viel mehr erklärende Ursachen als nur die Probleme<br />
mit <strong>der</strong> Erstellung <strong>der</strong> Konstruktion. Aber<br />
auch in eigenen Versuchen zeigte sich, dass das<br />
Finden von Konstruktionen eine anspruchsvolle<br />
Tätigkeit ist. Die meisten Konstruktionsaufgaben<br />
sind <strong>für</strong> die meisten Probanden Problemlöseaufgaben.<br />
Die Erfahrung zeigt, dass Schüler und Studenten<br />
ihre Kompetenzen in diesem Bereich verhältnismäßig<br />
schnell ausbauen können. Dynamische<br />
Raumgeometrie kann also in <strong>der</strong> gegenwärtig<br />
verfügbaren Form durchaus erfolgreich eingesetzt<br />
werden und wird dies ja auch schon an vielen Orten.<br />
Trotzdem bleibt die Beobachtung bestehen,<br />
dass Schüler und Studenten häufig nicht<br />
Dinge tun können, die sie tun wollen. 3D-<br />
Konstruktionsprogramme sind sperriger als mehr<br />
am Zeichnen orientierte Programme wie Google<br />
Sketchup. Von <strong>der</strong> mentalen Vorstellung eines<br />
Körpers und <strong>der</strong> Bewusstwerdung seiner definie-<br />
renden Eigenschaften bis zu einer Konstruktion ist<br />
es ein weiter Weg. Zwei didaktische Positionen<br />
dazu:<br />
Position 1: Die Probleme sind nicht artifiziell,<br />
son<strong>der</strong>n sie sind <strong>der</strong> Konstruktion im Raum immanent.<br />
Die Schüler sollen diese Probleme lösen<br />
als wertvollen Teil ihres Lernprozesses<br />
Position 2: Die Software ist nicht perfekt, man<br />
kann es den Schülern leichter machen, Körper zu<br />
konstruieren<br />
Welche Position ist richtig? Vielleicht beide und in<br />
diesem Aufsatz soll die Frage aufgeworfen werden,<br />
ob es möglich ist, den zugrunde gelegten<br />
Konstruktionsbegriff im Sinne von Position 2 so<br />
zu modifizieren, dass die Zugänglichkeit erhöht<br />
wird, ohne (Position 1!) die Erstellung <strong>der</strong> geometrischen<br />
Konstruktionen zu trivialisieren. Geometrische<br />
Konstruktionsaufgaben sind Problemlöseaufgaben<br />
und diese können nur bildend wirken,<br />
wenn sie nicht zu einfach sind. An<strong>der</strong>erseits<br />
kommt es auf die richtige Balance an zwischen<br />
<strong>der</strong> Problemschwierigkeit und dem Motivationseffekt,<br />
d.h. die Schwierigkeit sollte so eingestellt<br />
werden, dass das Konstruieren we<strong>der</strong> demotiviert<br />
noch so einfach ist, dass kein Problemlöseprozess<br />
mehr angeregt wird.<br />
2 Konstruktionen<br />
Geometrische Konstruktionen sind Algorithmen,<br />
die die Erzeugung einer Konfiguration geometrischer<br />
Objekte aus bestimmten Anfangsdaten auf<br />
elementare Schritte zurückführen. In <strong>der</strong> Regel<br />
löst eine Konstruktion ein bestimmtes Problem,<br />
d.h. die konstruierten Objekte stehen untereinan<strong>der</strong><br />
in einer bestimmten Relation. Eine Konstruktion<br />
bestimmt eine Folge A1,A2,A3,...,An<br />
von geometrischen Objekten. Dabei sind die ersten<br />
Objekte als Ausgangsdaten gegeben (Startkonfiguration).<br />
Die Konstruktion bestimmt die folgenden<br />
Objekte aus den vorhergehenden jeweils<br />
durch einen elementaren Konstruktionsschritt, <strong>der</strong><br />
eine funktionale Abhängigkeit darstellt: Ak =<br />
fk(A1,A2,...,An−1). Was ein elementarer Konstruktionsschritt<br />
ist, also welche Funktionen hier<br />
zugelassen sind, hängt einerseits von den zugelassenen<br />
Konstruktionswerkzeugen ab, ist an<strong>der</strong>erseits<br />
eine Frage <strong>der</strong> Bequemlichkeit. Wie auch in<br />
an<strong>der</strong>en Bereichen <strong>der</strong> Algorithmik werden häufig<br />
gebrauchte Teilalgorithmen in eigene Modulen<br />
gekapselt (Standardkonstruktionen nach Holland;<br />
21
Andreas Goebel und Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />
Makros in DGS), die dann als ein Konstruktionsschritt<br />
erscheinen. Auch viele in DGS fest eingebaute<br />
Konstruktionsschritte könnten auf an<strong>der</strong>e,<br />
einfachere zurückgeführt werden. Eine Teilmenge<br />
<strong>der</strong> elementaren Konstruktionsschritte, die nicht<br />
weiter verkleinert werden kann, ohne die Konstruktionsmöglichkeiten<br />
einzuschränken, soll essentiell<br />
heißen.<br />
3 Der Konstruktionsbegriff in<br />
3D-DGS<br />
Bisher gibt es mit Archimedes Geo 3D und Cabri<br />
3D zwei etablierte dynamische Raumgeometriesysteme.<br />
Die jeweiligen Konstruktionsbegriffe<br />
sind nicht identisch, aber trotzdem soll hier versucht<br />
erden, eine vereinheitlichende Darstellung<br />
zu geben.<br />
Eine geometrische Konstruktion im Sinne <strong>der</strong><br />
dynamischen Raumgeometrie eine Spezialisierung<br />
des Konstruktionsbegriffs aus dem vorhergehenden<br />
Abschnitt. Hier folgt eine Auflistung<br />
von essentiellen elementaren Konstruktionsschritten.<br />
Dabei beschränken wir uns auf Konstruktionen<br />
<strong>der</strong> synthetischen Geometrie und beschränken<br />
den Objektvorrat auf Punkt, Gerade, Ebene und<br />
Kugel.<br />
⊲ Schnittpunkt Ebene-Gerade<br />
⊲ Schnittpunkt Kugel-Gerade<br />
⊲ Punkt auf Gerade, Kreis, Ebene<br />
⊲ Gerade durch zwei Punkte<br />
⊲ Lot zu Ebene durch Punkt<br />
⊲ Parallele Gerade zu an<strong>der</strong>er Gerade durch einen<br />
bestimmten Punkt<br />
⊲ Kugel aus Mittel- und Randpunkt<br />
⊲ u.s.w.<br />
Das Problem in dieser Aufzählung ist das unscheinbare<br />
„u.s.w.“: Es würde den hier zur Verfügung<br />
stehenden Platz sprengen, alle Konstruktionsmöglichkeiten<br />
im Raum aufzuzählen. Lernende<br />
müssen sich dieser Vielfalt bewusst lernen, sie<br />
müssen herausfinden, wie man all diese Operationen<br />
mit dem jeweiligen Werkzeug ausführt — und<br />
dann haben sie immer noch nicht das Problem gelöst,<br />
zu einer Konstruktionssequenz zu kommen.<br />
4 Schwierigkeiten mit halbfreien<br />
Elementen in Raumgeometrischen<br />
Konstruktionen<br />
In <strong>der</strong> dynamischen Raumgeometrie gibt es (zumindest<br />
potentiell — die real existierenden Systeme<br />
realisieren längt nicht alle Fälle) mehr halbfreie<br />
Objekte als in <strong>der</strong> 2D-DG. Dies sind Objekte,<br />
<strong>der</strong>en Lage durch die Konstruktion nicht eindeutig<br />
bestimmt wird. In zweidimensionalen Geometriesystemen<br />
sind dies vor allem: Punkt auf Gerade<br />
und Punkt auf Kreis. Im Prinzip könnte es auch<br />
Orthogonale, Parallele (jeweils ohne die Eindeutigkeit<br />
herstellende weitere For<strong>der</strong>ung durch einen<br />
22<br />
bestimmten Punkt zu gehen), sowie Gerade durch<br />
einen Punkt geben. Diese halbfreien geraden wären<br />
dann noch verschiebbar (in den ersten beiden<br />
Fällen) bzw drehbar (im letzen Fall).<br />
In 3D-DGS gibt es potentiell sehr viele halbfreie<br />
Objekte, eine Auswahl:<br />
⊲ Punkte auf Geraden und Kreisen, aber auch auf<br />
Kugel und Ebenen<br />
⊲ Geraden in Ebenen<br />
⊲ Kreise auf Kugeln<br />
⊲ Geraden g, die durch einen Punkt P auf einer<br />
Geraden h laufen und zu h orthogonal sind (diese<br />
Geraden können noch um P in <strong>der</strong> Lotebene<br />
auf h gedreht werden)<br />
⊲ Geraden g, die durch einen Punkt P verlaufen<br />
und zu einer Ebene E parallel sind (diese Geraden<br />
können noch in <strong>der</strong> Parallelebenen zu E<br />
durch P gedreht werden) Noch größer wird die<br />
Zahl <strong>der</strong> halbfreien Objekte, wenn man metrische<br />
Eigenschaften hinzunimmt (z.B. Strecken<br />
fester Länge).<br />
Die Implementierung halbfreier Elemente ist<br />
nicht einfach und es können merkwürdige Effekte<br />
resultieren (Wird ein Bestimmungsstück ein<br />
halbfreien Objektes gezogen, definiert die Konstruktion<br />
nicht eindeutig, wo das halbfreie Objekte<br />
hingeschoben werden soll. Wenn das DGS<br />
diese Freiheit stets nach einer bestimmten Strategie<br />
füllt, resultieren Zugfiguren, die mehr Relationen<br />
invariant lassen, als aus <strong>der</strong> Konstruktion<br />
logisch folgen.). Es ist daher nicht verwun<strong>der</strong>lich,<br />
dass die beiden bisher existierenden 3D-<br />
DGS nicht alle denkbaren halbfreien Objekte implementieren.<br />
Halbfreie Elemente könnten durch<br />
hinzufügen einer (o<strong>der</strong> mehrerer) weiteren Relation<br />
eindeutig spezifiziert werden. Diese Umwandlung<br />
ist in 2D-Systemen oft nicht vorgesehen, weil<br />
sie dort nur wenige Fälle betrifft: Es könnte sinnvoll<br />
sein, einen Punkt, <strong>der</strong> an eine Gerade gebunden<br />
ist, an eine weitere Gerade zu binden, also<br />
zum Schnittpunkt <strong>der</strong> beiden Geraden zu machen.<br />
Jedes sachlogisch mögliche halbfreie Objekt<br />
entspricht einem durch das Wissen des Lernenden<br />
unterbestimmten Konstruktionsschritt. Deshalb<br />
kann man folgende These formulieren:<br />
These 1. Ein Teil <strong>der</strong> Probleme von Anfängern<br />
mit <strong>der</strong> 3D-DG resultieren daraus, dass zur jeweiligen<br />
Situation passende halbfreie Objekte nicht<br />
zur Verfügung stehen o<strong>der</strong> dass halbfreie Objekte<br />
nicht weiter spezifiziert werden können.<br />
Diese These stützt sich sowohl auf die Beobachtung<br />
von Studierenden als auch auf die Introspektion<br />
(sic!) <strong>der</strong> Autoren, sie wurde aber aposteriori<br />
wegen ihrer erklärenden Kraft aufgestellt<br />
und nicht durch Interviews abgesichert. Man<br />
kann sich aber leicht davon überzeugen, dass es<br />
beim raumgeometrischen Konstruieren häufig zu
Situationen <strong>der</strong> folgenden Art kommt: Man möchte<br />
z.B. eine Strecke s konstruieren, kennt schon<br />
einen Endpunkt A und weiß dass sie senkrecht auf<br />
einer bereits existierenden Geraden g stehen muss.<br />
Damit kann die Strecke aber noch nicht eindeutig<br />
konstruiert werden. Wenn es kein Werkzeug <strong>für</strong><br />
solche halbfreien Objekte gibt, kann <strong>der</strong> Benutzer<br />
seine Idee nicht weiter verfolgen, es sei denn, er<br />
verfügt über folgend Strategie: Man erzeugt die<br />
Lot-Ebene E zu g durch P. Der Endpunkt <strong>der</strong> gesuchten<br />
Strecke S muss in E liegen. Man erzeugt<br />
also einen halbfreien Punkt Q auf E und eine halbfreie<br />
Strecke S = PQ. Die Hilfsebene E kann danach<br />
verborgen werden. Neulinge in <strong>der</strong> 3D-DG<br />
verfügen noch nicht über solche Strategien. Zudem<br />
haben sie folgenden Nachteil: Wenn man sich<br />
im weiteren Verlauf <strong>der</strong> Konstruktion klar macht,<br />
welche Länge die Strecke haben soll, kann dies<br />
nicht mehr mit s = PQ umgesetzt werden, denn<br />
dazu müsste Q umdefiniert werden (vom Punkt in<br />
<strong>der</strong> Ebene E zum Punkt auf einem Kreis in E um P<br />
mit dem passenden Radius). Dieses komplexe und<br />
evtl. mit dem jeweiligen 3D-DGS nicht durchführbare<br />
Verfahren ist fehleranfällig. Es wäre unnötig,<br />
wenn halbfreie Objekte durch hinzufügen von Eigenschaften<br />
leicht ausspezifiziert werden könnten.<br />
5 Geometrie ohne Konstruktionen?<br />
Geometriesysteme wie Geometry Expressions<br />
o<strong>der</strong> FeliX benötigen keine Konstruktionsbeschreibung:<br />
Der Benutzer spezifiziert nur, welche<br />
Objekte es gibt und welche Relationen zwischen<br />
diesen gelten sollen. Bei FeliX ist die Reihenfolge<br />
dieser Vorgänge beliebig (bis auf die triviale Bedingung,<br />
dass eine Relation nur Objekte betreffen<br />
kann, die bereits existieren). Es gibt keine prinzipiellen<br />
Probleme bei <strong>der</strong> Übertragung dieses Ansatzes<br />
auf die Raumgeometrie. Allerdings arbeitet<br />
zB FeliX mit Algorithmen, <strong>der</strong>en Laufzeit exponentiell<br />
mit <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Variablen steigt, und<br />
Raumgeometrieprobleme führen zu noch mehr<br />
Variablen und verschärfen daher die Performance-<br />
Problematik.<br />
Neben diesem technischen Argument sind es<br />
vor allem didaktische Überlegungen, die diesen<br />
Weg bei geometrischer (und nicht algebraischer!)<br />
Zielsetzung als problematisch erweisen: „Konstruktionen“<br />
werden mit solchen Systemen trivialisiert<br />
und damit wird dieses Übungsfeld des Problemlösens<br />
wertlos.<br />
Neben dem Aspekt des Problemlösens liegt<br />
die didaktische Bedeutung des Konstruierens u.E.<br />
auch wesentlich darin, dass hier Handlungsabläufe<br />
geplant und organisiert werden. Dieser Aspekt<br />
des Konstruktionsbegriffs steht Inhalten <strong>der</strong> Informatik<br />
nahe. Die exemplarische Bedeutung erstreckt<br />
sich auf viele Stellen, wo in unserer <strong>Gesellschaft</strong><br />
organisiert und geplant wird. Es kön-<br />
Konstruktionsbegriffe <strong>für</strong> die 3D-Raumgeometrie<br />
nen grundlegende Begriffe wie etwa Abhängigkeit<br />
und Unabhängigkeit von Teilschritten eingeübt<br />
werden.<br />
6 Variante 1: Konstruktion =<br />
Reihenfolge von Objekten<br />
Die oben dargestellten Schwierigkeiten mit halbfreien<br />
Objekten können ausgeräumt werden, wenn<br />
<strong>der</strong> Konstruktionsbegriff so geän<strong>der</strong>t wird, dass<br />
es keine prinzipielle Unterscheidung mehr zwischen<br />
freien, halbfreien und eindeutig konstruierten<br />
Objekten gibt. Ein solcher Konstruktionsbegriff<br />
soll hier dargestellt werden. Dabei wird eine<br />
Konstruktion verstanden als eine Tabelle <strong>der</strong> folgenden<br />
Art:<br />
Name Art Relationen<br />
P Punkt —<br />
Q Punkt Abstand zu Q = 5<br />
T Punkt Koordinaten=(1,2,3)<br />
g Gerade Geht durch P und Q<br />
s Strecke Anfangspunkt P;<br />
senkrecht zu g<br />
E Ebene Parallel zu s; parallel zu g<br />
Der zeilenweise Aufbau gibt die Schritte <strong>der</strong> Konstruktion<br />
wi<strong>der</strong>. Jedem Objekt können Relationen<br />
auferlegt werden, die es erfüllen soll. Vorteil<br />
dieses Ansatzes ist, dass die Reihenfolge, in <strong>der</strong><br />
die Relationen eingetragen werden, offen ist. Man<br />
braucht nicht gleich bei <strong>der</strong> Erzeugung eines Objektes<br />
alle Eigenschaften kennen, son<strong>der</strong>n es können<br />
schrittweise Relationen hinzugefügt werden,<br />
bis das Objekt so festgelegt ist, wie es <strong>der</strong> Intention<br />
des Benutzers entspricht. Entscheidend da<strong>für</strong>,<br />
dass es sich trotz dieser Freiheit um einen effektiv<br />
ausführbaren Konstruktionsbegriff handelt ist die<br />
Einhaltung <strong>der</strong> folgenden Regel: Die Relationen,<br />
die zu jedem Objekt angegeben werden, dürfen<br />
das Objekt nur durch Verweis auf an<strong>der</strong>e Objekte<br />
spezifizieren, die in <strong>der</strong> Tabelle vorher spezifiziert<br />
worden sind, also oberhalb stehen. Es wäre also<br />
verboten, z.B. zu g die Relation „orthogonal zu E“<br />
hinzuzufügen. Durch diese Vorschrift bleibt die<br />
Konstruktion leicht berechenbar. Wird beispielsweise<br />
mit <strong>der</strong> Maus Q an eine neue Position gezogen,<br />
kann folgen<strong>der</strong>maßen gerechnet werden: Als<br />
erstes wird versucht, dem Zugziel <strong>für</strong> Q unter Beachtung<br />
<strong>der</strong> Relationen an Q so nahe zu kommen<br />
wir möglich. Dann werden nacheinan<strong>der</strong> alle folgenden<br />
Objekte neu berechnet werden. Wenn man<br />
das Objekt in <strong>der</strong> i-ten Zeile neu berechnet, sind<br />
die Objekte in den Zeile 1,...,i−1 bereits aktualisiert,<br />
ihre neuen Koordinaten liegen also fest. Im iten<br />
Schritt ist daher nur das verhältnismäßig kleine<br />
Problem zu lösen, die an das i-te Objekte gestellten<br />
Relationen zu erfüllen bzw. <strong>der</strong>en Nichterfüllbarkeit<br />
nachzuweisen. Beides ist algebraisch<br />
leicht möglich.<br />
23
Andreas Goebel und Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />
Dieser Konstruktionsbegriff ist implementierbar<br />
(eine proof-of-concept-Implementierung existiert,<br />
siehe Screenshot) und effektiv ausführbar,<br />
denn <strong>der</strong> Zeitbedarf steigt nur linear mit <strong>der</strong> Zahl<br />
<strong>der</strong> Objekte solange die Zahl <strong>der</strong> Relationen <strong>für</strong><br />
jedes einzelne Objekt beschränkt ist.<br />
Mit einem 3D-DGS, das auf diesem Konstruktionsbegriff<br />
aufbaut, kann effektiv gearbeitet werden.<br />
Allerdings erfor<strong>der</strong>t es durchaus ein planvolles<br />
Vorgehen: Wenn man etwa zwei Punkte erzeugt<br />
und s als die Strecke zwischen ihnen definiert,<br />
dann ist es sinnlos, die Länge von s durch<br />
eine Relation an s zu spezifizieren, man würde<br />
dann nichterfüllbare Relationen postulieren, weil<br />
die Lage von s ja schon durch die Endpunkte eindeutig<br />
gegeben ist. Stattdessen könnte man eine<br />
Abstandsbedingung an die beiden Punkte stellen<br />
o<strong>der</strong> ganz auf die Eckpunkt verzichten. Allerdings<br />
zeigt das Beispiel auch eine problematische Eigenschaft:<br />
Während es naheliegend ist, Streckenlängen<br />
als Eigenschaften von Strecken zu sehen,<br />
muss man hier — bei dieser Art <strong>der</strong> Konstruktion<br />
— die Streckenlänge als Eigenschaft ihrer<br />
Endpunkte sehen. Um das zu umgehen, müsste<br />
man eine freie Strecke konstruieren, <strong>der</strong>en Länge<br />
und Anfangspunkt festlegen, und dann den zweiten<br />
Punkt als ihr Ende definieren.<br />
Man sieht: Konstruieren in diesem Sinne ist<br />
durchaus kognitiv anspruchsvoll, denn man muss<br />
eine passende Reihenfolge <strong>der</strong> Objekte finden. Da<br />
dabei dem Benutzer Fehler unterlaufen können<br />
wäre es wünschenswert, wenn ein solches System<br />
die Möglichkeit böte, die Reihenfolge umzustellen.<br />
Dazu müssen Relationen von einem Objekt<br />
auf ein an<strong>der</strong>es abgewälzt werden. Das algorithmisch<br />
umzusetzen ist möglich, aber aufwändig. Es<br />
wird hier nur an einem Beispiel illustriert:<br />
Name Art Relationen<br />
P Punkt —<br />
g Gerade Geht durch P<br />
s Strecke senkrecht zu g<br />
Um g an s vorbei nach hinten zu schieben,<br />
muss die Orthogonalitätsrelation von s auf g „umgebucht“<br />
werden. Das Ergebnis ist:<br />
Name Art Relationen<br />
P Punkt —<br />
s Strecke —<br />
g Gerade Geht durch P;<br />
senkrecht zu s<br />
Die Relationen, die in diesem Konstruktionsbegriff<br />
möglich sind, unterliegen gewissen Einschränkungen,<br />
denn n-stellige Relationen sollten<br />
bei Vorgabe von n − 1 Argumenten allein<br />
durch Variation des n-ten Argumentes erfüllt werden<br />
können. Dies ist beispielsweise bei <strong>der</strong> 3-<br />
24<br />
stelligen Relation Mittelpunkt <strong>der</strong> Fall, nicht aber<br />
bei <strong>der</strong> dreistelligen Relation auf Geraden „paarweise<br />
orthogonal“. Diese Relation kann also nicht<br />
(als eine Relation) verwendet werden, son<strong>der</strong>n<br />
muss aus zweistelligen Orthogonalitätsrelationen<br />
zusammen gebaut werden.<br />
Es ist möglich, den Konstruktionsbegriff von<br />
Archimedes Geo3D so weiter zu entwickeln, dass<br />
er sich diesem neuen Konstruktionsbegriff annähert.<br />
Dazu ist vor allem die Flexibilität des Umdefinierens<br />
zu erhöhen. In umgekehrter Richtung<br />
erscheint es denkbar, einen Algorithmus zu finden,<br />
<strong>der</strong> eine Konstruktion in diesem neuen Sinne<br />
in eine Konstruktion im alten Stil überführen<br />
kann, sofern die verwendeten Relationen mit den<br />
Werkzeugen des klassischen 3D-DGS konstruierbar<br />
sind.<br />
Bei <strong>der</strong> didaktischen Bewertung dieses Konstruktionsbegriffs<br />
sollte aber nicht vergessen werden,<br />
dass die einzelnen „elementaren“ Schritte<br />
recht komplex werden können. Zwar ist auch die<br />
Arbeit <strong>der</strong> Konstruktionswerkzeuge in einem 3D-<br />
DGS wie Archimedes Geo3D von abstrakter Natur<br />
(denn an<strong>der</strong>s als die Zirkel <strong>der</strong> ebenen Geometrie<br />
lassen sich Kugelzirkel nicht materiell umsetzen),<br />
aber die Kombination von Relationen ist eine<br />
logisch-abstrakte Operation und praktisch nur<br />
algebraisch durchführbar.<br />
7 Variante 2: Konstruktion =<br />
Reihenfolge von Relationen<br />
Die klassischen Konstruktionsbegriffe ebenso wie<br />
<strong>der</strong> im letzen Abschnitt diskutierte stellen ganz<br />
grob gesprochen vor allem eine Konstruktionsreihenfolge<br />
her, d.h. die Objekte haben eine bestimmte<br />
Reihenfolge. Dies mag auf den ersten<br />
Blick <strong>für</strong> eine Konstruktion geradezu wesensnotwendig<br />
sein, auch wenn man sich klar machen<br />
kann, dass es bei den meisten Konstruktionen<br />
unabhängige Teilschritte gibt, <strong>der</strong>en Reihenfolge<br />
umgestellt werden kann.<br />
Bei Konstruktionen mit Baukästen u.ä. gilt<br />
diese scheinbar natürliche Regel aber nicht: Die<br />
Objekte werden nicht <strong>der</strong> Reihe nach erzeugt, son<strong>der</strong>n<br />
sie sind gleich alle da (mehr o<strong>der</strong> wenig ordentlich<br />
im Baukasten, <strong>der</strong> letztlich eine Menge<br />
von Objekten ist). Beim Konstruktionsprozess<br />
klickt (im Sinne von Lego, nicht von Mausinteraktion)<br />
man die Bausteine zusammen und das bedeutet<br />
beispielsweise, dass man eine Inzidenzrelation<br />
herstellt. Beim Bauen mit Bausteinen haben<br />
also nicht die Objekte, son<strong>der</strong>n die Relationen<br />
eine Reihenfolge! Mit dem hier vorzustellenden<br />
Konstruktionsbegriff soll versucht werden, dies zu<br />
modellieren.<br />
Eine Konstruktion in diesem Sinne besteht also<br />
in einer Menge (ungeordnet) von Objekten O<br />
sowie einer geordneten Liste von Relationen R.
Konstruktionsbegriffe <strong>für</strong> die 3D-Raumgeometrie<br />
Abbildung 5.1: Experimentelle Realisierung <strong>der</strong> Variante 1. Hier ist S2 eine freie Strecke, die auf S1 senkrecht<br />
steht und die gleiche Länge hat. Sie ist aber noch um S1 drehbar.<br />
Jedes Objekt a aus O gehört zu einem bestimmten<br />
Typ (Punkt, Gerade, etc.) und besitzt entsprechend<br />
eine Menge von Variablen V(a). Bei <strong>der</strong> ersten Variante<br />
des Konstruktionsbegriffs wurden in einem<br />
Schritt alle Variablen eines Objektes bestimmt.<br />
Das ist jetzt nicht mehr möglich. Typischerweise<br />
kommen die Variablen eines Objektes in verschiedenen<br />
Relationen vor und wenn die Konstruktionsberechnung<br />
Relation-nach-Relation durchgeführt<br />
wird, braucht man eine Strategie, wann man<br />
sie än<strong>der</strong>t. Ein erster Algorithmus zur Berechnung<br />
einer Konstruktion: U die Menge aller Variablen<br />
aller Objekte. Durch die Iteration über die Relationen<br />
hinweg soll U stets die Variablen enthalten,<br />
<strong>der</strong>en Werte noch nicht neu berechnet wurden. Für<br />
jede Relation r ∈ R bildet man dann den Spezialfall<br />
r ′ , in dem die bereits bestimmten Variablen<br />
eingesetzt werden, dann bildet man die Variablen<br />
W = U ∩V(r ′ ), die evtl. aus r ′ bestimmt werden<br />
könnten. Dann sucht man eine möglichst kleine<br />
Teilmenge von Variablen aus W, die genügt, r ′ zu<br />
erfüllen. Diese werden dann neu berechnet, aus U<br />
entfernt und die nächste Relation wird erfüllt.<br />
Die einzelnen Schritte dieses Algorithmus<br />
sind recht aufwändig, aber durchführbar und das<br />
wurde in einer Testimplementierung bestätigt. Die<br />
Arbeit mit einem darauf basierenden DGS gestaltet<br />
sich recht komfortabel, weil die Reihenfolge<br />
<strong>der</strong> Relationen beliebig umgestellt werden<br />
kann. Allerdings macht sich auch in <strong>der</strong> praktischen<br />
Arbeit sehr bald folgendes Problem bemerkbar:<br />
Der Algorithmus schafft es nicht, alle<br />
Relationen zu erfüllen, obwohl dies möglich wäre.<br />
Ursache da<strong>für</strong> ist in <strong>der</strong> Regel, dass <strong>für</strong> einige<br />
Relationen zu viele Variable benötigt werden.<br />
Das hängt davon ab, durch welche Variablen<br />
die Objekte beschrieben werden. Strecken können<br />
beispielsweise durch die kartesischen Koordinaten<br />
ihrer beiden Endpunkte beschreiben werden<br />
o<strong>der</strong> durch Anfangspunkt, Länge und Richtungswinkel.<br />
Wenn bereits eine Relation erfüllt wurde,<br />
die den Anfangspunkt festlegt, erfasst eine Relation,<br />
die die Länge vorschreibt, in <strong>der</strong> ersten Beschreibungsform<br />
alle kartesischen Variablen des<br />
Endpunktes. Diese werden also (wenn auch teilweise<br />
willkürlich) neu festgelegt. Für eine spätere<br />
Relation, die die Strecke als orthogonal zu einer<br />
an<strong>der</strong>en bestimmt, bleibt dann keine Freiheit mehr<br />
über. Bei <strong>der</strong> zweiten Beschreibung tritt dieses<br />
Problem nicht auf. Nun kann man vermuten, dass<br />
die Beschreibung durch intrinsische geometrische<br />
Größen wie die Länge ohnehin besser ist. Da es<br />
aber auch Relationen gibt, die sich kartesische einfacher<br />
ausdrücken lassen, bleibt nur die aufwändige<br />
Lösung, die Beschreibung den gestellten Relationen<br />
anzupassen. Eine Lösung, die aber auch<br />
nicht alle Konfliktfälle entschärfen kann. Eine systematische<br />
Lösung könnte in <strong>der</strong> sukzessiven adhoc<br />
Einführung neuer lokaler Koordinatensysteme<br />
liegen, aber ein solches Vorhaben ist umfangreich<br />
und müsste stabil mit ausgearteten Situationen<br />
umgehen können.<br />
Nachteilig an diesem Algorithmus ist vor allem<br />
aber auch, dass sein Verhalten nicht allein<br />
25
Andreas Goebel und Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />
auf geometrischer Ebene verstanden werden kann.<br />
Es ist daher zu vermuten, dass Lernende das Verhalten<br />
eines entsprechenden DGS als willkürlich<br />
empfinden werden. Dies steht im Kontrast zu <strong>der</strong><br />
eingangs gemachten Analogie zum Bauen mit einem<br />
Baukasten. Es ist offen, ob hier ein Ausgleich<br />
erfolgen kann. Die eingangs zitierte Metapher des<br />
Baukastens legt aber nahe, dass eine Lösung <strong>der</strong><br />
technischen Probleme didaktisch reizvoll und lohnend<br />
sein könnte.<br />
26<br />
8 Fazit<br />
Ob 3D-DGS auf Basis <strong>der</strong> hier beschriebenen<br />
Konstruktionsbegriffe geeignet sind, den Schülern<br />
selbsttätiges raumgeometrisches Tun zu ermöglichen,<br />
kann <strong>der</strong>zeit noch nicht beurteilt werden.<br />
Dazu bräuchte man einerseits eine empirische<br />
Vergleichsstudie, an<strong>der</strong>erseits klare normative<br />
Zielvorstellungen <strong>für</strong> den Unterricht in Raumgeometrie.<br />
Das Erste ist ohne das Zweite nicht<br />
sinnvoll, und das Zweite ist gegenwärtig didaktisch<br />
„out“ und nicht drittmittelfähig.
• Neue Technologien und ihre Vernetzung im Rahmen curricularer<br />
Überlegungen<br />
Rolf Neveling, Wuppertal<br />
In meinem Aufsatz möchte ich nach dem Versuch einer Zustandsbestimmung<br />
zunächst exemplarisch verdeutlichen, wie<br />
sich Standardthemen im Unterricht mit neuen Technologien<br />
und ihrer Vernetzung bereichern lassen.<br />
Den Schwerpunkt meines Textes sehe ich aber darin, realistisch<br />
die Rolle einzuschätzen, die neue Technologien unter aktuellen<br />
Unterrichtsbedingungen überhaupt einnehmen können. Dabei<br />
denke ich vor allem an zentrale Prüfungen und Verkürzungen<br />
<strong>der</strong> Schulzeit. Wesentlich ist mir in diesem Zusammenhang,<br />
darauf hinweisen, dass eine <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> Computer-Algebra-<br />
Systeme <strong>der</strong>zeit fehlt, aber dringend erfor<strong>der</strong>lich wäre.<br />
1 Versuch einer<br />
Zustandsbestimmung<br />
Das erste Computer-Algebra-System, das im<br />
schulischen Rahmen eine wesentliche Rolle spielte,<br />
war das Programm Derive. Es erschien in<br />
<strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Achtzigerjahre. Weitere Programme,<br />
die speziell <strong>für</strong> den <strong>Mathematik</strong>unterricht gedacht<br />
waren wie etwa dynamische Geometriesoftware,<br />
folgten. Alle diese fast revolutionären mathematikdidaktischen<br />
Neuheiten trugen in sich die<br />
Chance, Unterricht themenreicher, dynamischer<br />
und erfolgreicher zu machen.<br />
Wer neue Technologien <strong>für</strong> Lernprozesse<br />
dienstbar machte, tat dies mit einem gewissen<br />
Pioniergeist auf <strong>der</strong> Basis seiner eigenen Ideen<br />
und Vorstellungen; er wurde in seinem Unterricht<br />
und in Prüfungen in vielen Bundeslän<strong>der</strong>n kaum<br />
durch curriculare Zwänge und Regularien eingeengt.<br />
Auf diese Weise wurden neue, schöne Themen<br />
<strong>für</strong> den <strong>Mathematik</strong>unterricht erschlossen,<br />
die sowohl im Bereich <strong>der</strong> theoretischen wie auch<br />
<strong>der</strong> angewandten <strong>Mathematik</strong> lagen.<br />
In <strong>der</strong> Zwischenzeit haben sich die Bedingungen<br />
<strong>für</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht wesentlich geän<strong>der</strong>t:<br />
Kernlehrpläne, zentrale Abiturprüfungen,<br />
Abschlussprüfungen am Ende <strong>der</strong> Sekundarstufe<br />
1, Lernstandserhebungen und insbeson<strong>der</strong>e G8,<br />
also die Einführung des achtjährigen Gymnasiums,<br />
engen die Themenbereiche des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
und damit auch die Weite <strong>der</strong> möglichen<br />
Nutzung neuer Technologien erheblich ein;<br />
dies in nahezu allen Bundeslän<strong>der</strong>n. Was vom mathematischen<br />
Gegenstand her gesehen durchaus<br />
seine Berechtigung hat, wird so häufig zum Exoten.<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht befindet sich also in einer<br />
Umbruchsituation, die einerseits in <strong>der</strong> Bereicherung<br />
liegt, die sich aus den neuen Technologien<br />
ergibt, und die an<strong>der</strong>erseits durch zentrale Prüfungen<br />
bestimmt wird. Im folgenden möchte ich<br />
!<br />
zunächst auf die großen Vorteile eingehen, die in<br />
den neuen Programmen und insbeson<strong>der</strong>e in ihrer<br />
vernetzten Verwendung <strong>für</strong> den Unterricht liegen,<br />
um dann des weiteren auf die Problematik einzugehen,<br />
die sich daraus ergibt, dass natürlich insbeson<strong>der</strong>e<br />
Computer-Algebra-Systeme in Zukunft<br />
immer weiter im Unterricht Verwendung finden<br />
und dass Abschlüsse durch zentrale Prüfungen erworben<br />
werden.<br />
2 Beschleunigen o<strong>der</strong> Vorsprung<br />
durch Technik<br />
Neue Technologien setzten sich seit ihrem Aufkommen<br />
vor ca. fünfundzwanzig Jahren nur sehr<br />
zögerlich im <strong>Mathematik</strong>unterricht durch. Ich<br />
glaube, sagen zu dürfen, dass in <strong>der</strong> näheren Vergangenheit<br />
viel Chancen, Unterricht effektiver zu<br />
machen, verpasst wurden.<br />
Denn es gibt zahlreiche, mit Sicherheit nicht<br />
exotische Unterrichtsszenarios, in denen <strong>der</strong> Einsatz<br />
neuer Technologien zu erheblichen Lernfortschritten<br />
führen kann und die in jedem zeitgemäßen<br />
Oberstufenunterricht bedeutsam sein könnten.<br />
!<br />
!<br />
Abbildung 6.1: Tangentenproblem. Punkt B wan<strong>der</strong>t<br />
auf <strong>der</strong> Parabel<br />
!<br />
27
Rolf Neveling, Wuppertal<br />
Dabei unterscheide ich die beiden Bereiche<br />
Visualisieren und Werkzeuge einsetzen bzw. Explorieren.<br />
Bei dem folgenden Tangentenproblem<br />
gehe ich exemplarisch in die Details, um zu beschreiben,<br />
was ich meine, und liste dann weitere<br />
Themenbereiche ohne Vollständigkeit auf.<br />
Ich betrachte das Tangentenproblem am Anfang<br />
<strong>der</strong> Analysis als eines <strong>der</strong> schwierigsten und<br />
wichtigsten Probleme des Oberstufenunterrichts.<br />
Mit DGS etwa lässt es sich hervorragend in seiner<br />
Dynamik, hinter <strong>der</strong> sich natürlich <strong>der</strong> Grenzwert<br />
verbirgt, visualisieren: Punkt B auf dem Graphen<br />
wan<strong>der</strong>t und mit ihm die Sekante; dies nicht<br />
nur <strong>für</strong> Parabeln, son<strong>der</strong>n auch <strong>für</strong> weitere Funktion<br />
und <strong>für</strong> unterschiedliche Typen von Graphen.<br />
Bewegung för<strong>der</strong>t Verstehen, und Verstehen heißt<br />
hier, den Zusammenhang zwischen Tangente, Sekante,<br />
Differenzenquotient und Grenzwert zu sehen.<br />
Betrachten wir das Tangentenproblem aus<br />
dem Blickwinkel <strong>der</strong> linearen lokalen Approximation,<br />
so ist es naheliegend, <strong>für</strong> die Tangente<br />
und eine Sekante mit einem CAS jeweils den Fehler<br />
zwischen Funktionsterm und Geradenterm zu<br />
zeichnen, um zu sehen, wie die Approximation<br />
durch die Tangente qualitativ besser erfolgt als bei<br />
<strong>der</strong> Sekante.<br />
!<br />
Abbildung 6.2: Approximation mit Tangente und<br />
Sekante<br />
!<br />
Abbildung 6.3: Fehler bei Tangente und Sekante !<br />
Sekante<br />
28<br />
!<br />
Man sieht hier, wie die Vernetzung zweier<br />
Programme zwei Aspekte einer Idee miteinan<strong>der</strong><br />
verbindet und dadurch den Kerngedanken verdeutlicht.<br />
Q<br />
P<br />
!<br />
!<br />
Abbildung 6.4: Parabelkonstruktion in DynaGeo<br />
Ich ergänze einen weiteren Aspekt. Eine Parabel<br />
ist bekanntlich die Ortskurve aller Punkte,<br />
die von ein einer Geraden, <strong>der</strong> Leitgeraden und<br />
einem Punkt, dem Brennpunkt, die gleiche Entfernung<br />
haben. In <strong>der</strong> DynaGeo-Konstruktion ist<br />
F <strong>der</strong> Brennpunkt und g die Leitgerade. Die Gerade<br />
durch P und Q steht senkrecht auf g und wan<strong>der</strong>t<br />
rechtwinklig zu g, wenn P mit <strong>der</strong> Maus auf g<br />
bewegt wird. Da das Dreieck FQP gleichschenklig<br />
ist, zeichnet Q die Parabel. „Offensichtlich“ ist<br />
die Senkrechte durch Q zu FP die Tangente an die<br />
Parabel in Q. Man sieht, dass im Spezialfall <strong>der</strong><br />
Parabel auf sehr einfache Weise Tangenten auch<br />
elementargeometrisch nicht nur <strong>für</strong> Kreise konstruiert<br />
werden können. Der Gedanke ist natürlich<br />
auf Ellipsen und Hyperbeln ausbaufähig. Än<strong>der</strong>t<br />
man nun in DynaGeo die Lage von F o<strong>der</strong> die <strong>der</strong><br />
Leitgeraden, so kann man studieren, wie sich <strong>der</strong><br />
Graph <strong>der</strong> Parabel verän<strong>der</strong>t.<br />
Mit CAS öffnet sich zur Exploration von mathematischen<br />
Sachverhalten ein weites Feld, das<br />
ich nur in wenigen Punkten andeuten möchte, da<br />
sich dessen die schulischen Lehrbücher langsam<br />
annehmen:<br />
⊲ <strong>der</strong> weite Bereich <strong>der</strong> Kurvendiskussion mit Variation<br />
von Parametern,<br />
⊲ Krümmung und Krümmungsformel<br />
⊲ Taylorpolynome<br />
⊲ logistisches Wachstum und an<strong>der</strong>e Wachstumsprozesse,<br />
⊲ Lösung komplizierterer Gleichungen,<br />
⊲ Modellbildung mit Regression<br />
⊲ Modellbildung mit Matrizenpotenzen<br />
⊲ die Welt <strong>der</strong> Tabellenkalkulation<br />
Bremsen o<strong>der</strong> das Prinzip Bescheidenheit<br />
F<br />
g
Neue Technologien und ihre Vernetzung im Rahmen curricularer Überlegungen<br />
Generell und unter den oben angesprochenen<br />
verän<strong>der</strong>ten Bedingungen macht es keinen Sinn,<br />
die Gegenstandsbereiche des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
beliebig auszuweiten. Die Diskussion <strong>der</strong><br />
vergangenen beiden Jahrzehnte hat meines Erachtens<br />
überzeugend gezeigt, dass die sogenannten<br />
Fundamentalen Ideen und Inhalte sinnvollerweise<br />
als Richtschnur <strong>für</strong> relevante Inhalte des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
anzusehen sind. Dabei handelt es<br />
sich im wesentlich um die folgenden Ideen, wenn<br />
auch die fachliche Diskussion nie zu einem abschließenden,<br />
von allen akzeptierten Kanon geführt<br />
hat:<br />
⊲ Zahl und Messen,<br />
⊲ räumliches Strukturieren,<br />
⊲ funktionaler Zusammenhang,<br />
⊲ Wahrscheinlichkeit,<br />
⊲ Algorithmus,<br />
⊲ Modellieren.<br />
In diesem Zusammenhang scheint es mir angesichts<br />
<strong>der</strong> in den letzten Jahren aufgekommenen<br />
– lei<strong>der</strong> nicht genügend reflektierten – Überbetonung<br />
des Anwendungsaspekts im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
wichtig, dass die Idee des Modellierens<br />
richtig gesehen wird. Das Kernproblem in einem<br />
Modellierungsprozess liegt in <strong>der</strong> Übersetzung<br />
des realen Sachverhalts in einen mathematischen.<br />
Das erfor<strong>der</strong>t einerseits eine Abstraktion,<br />
an<strong>der</strong>erseits kann dieser Vorgang aber auch mit<br />
dem Ziel <strong>der</strong> Unterrichtbarkeit im Hinterkopf so<br />
zu Vereinfachungen führen, dass die Realisierung<br />
im Unterricht schließlich nicht überzeugt. Kurz,<br />
einer so aufkommenden Neomathematik sollten<br />
wir mit Vorsicht begegnen. Wenn dann zudem<br />
wertvolle an<strong>der</strong>e Unterrichtsinhalte geopfert werden,<br />
entsteht eine Situation, die nicht weiterführt.<br />
Der Gedanke, mit Hilfe <strong>der</strong> neuen Rechner sei<br />
endlich ein ernstzunehmen<strong>der</strong> Anwendungsbezug<br />
möglich, ist mit Vorsicht zu sehen.<br />
Sehr viel sinnvoller als <strong>der</strong> Einsatz neuer<br />
Technologien bei bedenklichen Modellierungen<br />
kann es sein, mit <strong>der</strong> rechnerischen und graphischen<br />
Unterstützung von CAS, von dynamischer<br />
Geometriesoftware und von Tabellenkalkulation<br />
mathematische Grundideen durch mehr Beispiele,<br />
an<strong>der</strong>e Funktionen o<strong>der</strong> größere Datenmengen<br />
zu konkretisieren. Das kann z. B. geschehen<br />
⊲ bei Differenzenquotienten, siehe oben,<br />
⊲ bei <strong>der</strong> Untersuchung von Funktionen in sinnvollen<br />
Anwendungen,<br />
⊲ bei numerischer Integration, etwa dem Integral<br />
die Glockenkurve,<br />
⊲ in <strong>der</strong> Stochastik<br />
⊲ in Zukunft sicher auch in <strong>der</strong> Raumgeometrie<br />
⊲ bei ganz vielen kleinen und großen Übungsaufgaben,<br />
⊲ in <strong>der</strong> Sekundarstufe I<br />
⊲ . . .<br />
3 Fundamentale Techniken und<br />
Verfahren<br />
Zu den fundamentalen Ideen gehört insbeson<strong>der</strong>e<br />
im Zeitalter von faszinierenden und weitreichend<br />
verfügbaren CAS-Taschenrechnern die Frage,<br />
über welche fundamentalen Techniken und<br />
Verfahren junge Leute heutzutage mit Papier und<br />
Bleistift verfügen sollen. O<strong>der</strong> allgemeiner ausgedrückt:<br />
Mit dynamischer Geometriesoftware, mit<br />
Tabellenkalkulation und mit Programmen <strong>für</strong> spezielle<br />
Fragestellungen haben wir Hilfsmittel, die<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht verän<strong>der</strong>n und bereichern,<br />
aber keine Kernqualifikationen wie etwa das Lösen<br />
von Gleichungen überflüssig machen. Mit<br />
CAS-Rechnern jedoch entsteht eine verän<strong>der</strong>te Situation,<br />
die unsere Wertvorstellungen darüber, was<br />
noch könnens- und lernenswert ist, was demzufolge<br />
mit welchem Aufwand unterrichtet werden<br />
soll, in Frage stellt.<br />
Unsere <strong>der</strong>zeitigen Vorstellungen basieren neben<br />
den fundamentalen Ideen vor allem auf <strong>der</strong><br />
Meraner Reform von 1905, und davon brauchten<br />
wir heutzutage eine weitere. Das ist nach mehr<br />
als hun<strong>der</strong>t Jahren auch nicht verwun<strong>der</strong>lich. In<br />
ihr müsste sich die Community darüber einigen,<br />
was wir von unseren Schulerinnen und Schülern<br />
mit dem Werkzeug Papier und Bleistift erwarten<br />
und was wir <strong>der</strong> Black Box CAS überlassen. Also<br />
müsste in <strong>der</strong> Tat die von Wilfried Herget formulierte<br />
Frage „Wie viel Termumformung braucht<br />
<strong>der</strong> Mensch?“ zunächst beantwortet werden, und<br />
dann erst könnte man mit Recht CAS in zentralen<br />
Prüfungen zulassen.<br />
Die nachfolgende Liste verstehe ich nur<br />
als Diskussionsbeitrag zur <strong>Didaktik</strong> von CAS-<br />
Rechnern. Auf Hergets Frage Antworten zu finden,<br />
denen viele zustimmen, dürfte nicht leicht<br />
fallen. Dass Schülerinnen und Schüler <strong>der</strong> SII<br />
Computer-Algebra-Rechner verwenden, macht<br />
aus meiner Sicht nur dann Sinn, wenn sie auch ohne<br />
CAS über folgende Qualifikationen verfügen:<br />
⊲ Terme durchschauen und sinnvoll verän<strong>der</strong>n,<br />
⊲ Gleichungen überblicken, zielorientiert umformen<br />
und lösen,<br />
⊲ dabei die Anzahl von Lösungen überblicken,<br />
⊲ Bezüge zwischen Funktion, Term, Graph und<br />
Gleichung sehen,<br />
⊲ Funktionsprototypen kennen und mit einfachen<br />
Gestalt- und Lageverän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Prototypen<br />
umgehen können,<br />
⊲ das Instrument Ableitung sinnvoll anwenden,<br />
⊲ Integrale berechnen und in geometrischen und<br />
nicht geometrischen Situationen anwenden,<br />
⊲ mit Vektoren, Skalarprodukten und Matrizen<br />
umgehen,<br />
⊲ Binomial- und evtl. Normalverteilung durchschauen<br />
und anwenden,<br />
⊲ . . .<br />
29
Rolf Neveling, Wuppertal<br />
Des weiteren: Zu einem anspruchsvollen <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
gehört es auch, junge Leute das<br />
Gefühl <strong>der</strong> Tiefe mathematischer Probleme erfahren<br />
zu lassen; die falsche Alternative wäre clicking<br />
versus thinking. So dürfte man sich etwa in <strong>der</strong> Integralrechnung<br />
bei <strong>der</strong> Suche nach Stammfunktio-<br />
nen <strong>für</strong><br />
<br />
x<br />
x2 dx und<br />
+ 4<br />
<br />
x 2<br />
x 2 + 4 dx<br />
nicht auf clicking beschränken, son<strong>der</strong>n man<br />
müsste die Unterschiede zwischen den beiden Integralen<br />
verdeutlichen, und man müsste, wenn<br />
man schon Bogenlängen thematisiert, bei ihrer<br />
Behandlung klarmachen, dass Bogenintegrale<br />
schnell in die mathematische Tiefe führen. Ich erwähne<br />
die beiden Beispiele nicht, weil ich meine,<br />
man müsste sie unbedingt unterrichten; ich will<br />
nur verdeutlichen, was ich unter Tiefe im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
verstehe.<br />
4 Und Prüfen<br />
Eine Prüfung kann ich mir <strong>der</strong>zeit mit folgenden<br />
Rechnertypen verstellen:<br />
(1) Einfacher Taschenrechner ohne Graphik: In<br />
<strong>der</strong> schriftlichen Prüfung ist nur ein einfacher<br />
Taschenrechner zugelassen. Da<strong>für</strong> spricht,<br />
dass neben dem erfor<strong>der</strong>lichen inhaltlichen<br />
Verständnis alle anfallenden Rechnungen bis<br />
auf die TR-Anwendung auf dem Papier<br />
durchgeführt werden müssen.<br />
(2) Luxus-Taschenrechner ohne Graphik: Es gibt<br />
mittlerweile TR ohne Graphik, die über viele<br />
hilfreiche numerische Routinen verfügen und<br />
wenig Geld kosten.<br />
(3) GTR: Neben <strong>der</strong> Graphik verfügen die Geräte<br />
wie in (2) über beachtliche numerische Algo-<br />
30<br />
rithmen.<br />
(4) CAS-Taschenrechner: Auch wenn <strong>der</strong> CAS-<br />
TR immer verfügbar ist, sollte bei <strong>der</strong> Konstruktion<br />
von Klausuren bedacht werden:<br />
Man könnte bei einem Teil <strong>der</strong> Aufgaben verlangen,<br />
dass alle Rechenschritte ausschließlich<br />
auf dem Papier erfolgen.<br />
(5) CAS im PC: Diese Variante ist in <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />
schulischen Situation eher die Ausnahme,<br />
da sie mit erheblichen organisatorischem<br />
Aufwand verbunden ist.<br />
Dazu noch drei Anmerkungen: Ein Problem <strong>für</strong><br />
Zentralprüfungen liegt darin, dass bei den Typen<br />
(1), (2) und (3) Abgrenzungen in Bezug auf die<br />
numerischen Fähigkeiten <strong>der</strong> Geräte schwer fallen.<br />
Die Varianten (2) bis (5) haben gegenüber<br />
Variante (1) den Charme, dass <strong>der</strong> Bereich möglicher<br />
Themen <strong>für</strong> Unterricht und Prüfung erheblich<br />
wächst. Die Verwendung von CAS im Unterricht<br />
– auch das muss man sehen – heißt zudem<br />
nicht notwendig, dass dann in <strong>der</strong> Klausur auch<br />
jeweils ein CAS-Rechner verfügbar sein müsste:<br />
Man könnte sich darauf beschränken, mögliche<br />
CAS-Anwendungen beschreiben zu lassen.<br />
Lediglich auf die konkrete Anwendung o<strong>der</strong> Exploration<br />
in <strong>der</strong> Klausur wäre in diesem Fall zu<br />
verzichten.<br />
Zusammengefasst: Der Einsatz neuer Technologien<br />
und ihre Vernetzung müsste zunehmen,<br />
weil <strong>der</strong> unterrichtliche Gewinn außer Zweifel<br />
steht – also beschleunigen. Neue Technologien<br />
sollten sinnvollerweise nur sehr begrenzt traditionelle<br />
Unterrichtsinhalte ausweiten – also bremsen.<br />
Wir müssen dringend an einer CAS-<strong>Didaktik</strong> arbeiten,<br />
um zu realistischen Vorstellungen in bezug<br />
auf Szenarios <strong>für</strong> zentrale Prüfungen zu kommen,<br />
wenn schon zentral geprüft wird.
• Überzeugungen von Studierenden zum Computereinsatz im<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht und <strong>der</strong>en Weiterentwicklung in einer<br />
Lehrveranstaltung<br />
Sebastian Kuntze und Christine Bescherer, Ludwigsburg<br />
Auf den Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht bezogene Überzeugungen und Fähigkeitsselbstkonzepte<br />
von Lehramtsstudierenden kommen als bedeutsame Einflussfaktoren auf die Computernutzung<br />
im späteren Unterricht <strong>der</strong> angehenden Lehrkräfte in Betracht. Aus diesem Grunde wurden<br />
in <strong>der</strong> vorliegenden Studie Befragungsinstrumente zu solchen Überzeugungen und Fähigkeitsselbstkonzepten<br />
eingesetzt. Untersucht wurden Zusammenhänge zwischen diesen Überzeugungen und<br />
Fähigkeitsselbstkonzepten sowie <strong>der</strong>en Entwicklung während fünf parallelisierter Kurse zum Computereinsatz<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht mit insgesamt über 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmern.<br />
Dabei stand auch die Evaluation des Befragungsinstruments mit im Vor<strong>der</strong>grund.<br />
1 Einführung<br />
Sowohl auf Lerngegenstände bezogene Fähigkeitsselbstkonzepte<br />
als auch auf diese Lerngegenstände<br />
gerichtete Überzeugungen können nachfolgende<br />
Wissensaufbauprozesse beeinflussen. Daher<br />
sind <strong>für</strong> die Nutzung von Lernangeboten zu<br />
Möglichkeiten des Computereinsatzes im <strong>Mathematik</strong>unterricht,<br />
wie sie im Rahmen von Lehrer(innen)bildung<br />
und -fortbildung gemacht werden,<br />
computernutzungsbezogene Überzeugungen<br />
und Fähigkeitsselbstkonzepte <strong>der</strong> Lernenden von<br />
Bedeutung.<br />
Aus diesem Grunde werden in dieser Studie<br />
<strong>der</strong>artige, auf den Einsatz von Rechnern im<br />
Unterricht bezogene Überzeugungen und computernutzungsbezogene<br />
Fähigkeitsselbstkonzepte<br />
untersucht. Die Ergebnisse geben auch Aufschluss<br />
über die Zusammenhangstruktur <strong>der</strong> betrachteten<br />
Konstrukte und über Entwicklungen computereinsatzbezogener<br />
Überzeugungen während einer<br />
Lehrveranstaltung zum Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />
Im Folgenden wird zunächst in den theoretischen<br />
Hintergrund <strong>der</strong> Studie eingeführt. Die<br />
sich daraus ergebenden Forschungsfragen und das<br />
Untersuchungsdesign werden anschließend vorgestellt,<br />
bevor Ergebnisse berichtet und diskutiert<br />
werden.<br />
2 Theoretischer Hintergrund<br />
Bei aller Vorsicht angesichts <strong>der</strong> Diversität<br />
von Ansätzen zum Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
können zentrale Ziele <strong>für</strong> die<br />
Lehrer(innen)aus- und -fortbildung in diesem Bereich<br />
darin gesehen werden, dass die angehenden<br />
o<strong>der</strong> praktizierenden Lehrkräfte<br />
⊲ möglichst gute Kenntnis von Möglichkeiten <strong>der</strong><br />
Schaffung von Lerngelegenheiten mit Softwarenutzung<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht haben und<br />
⊲ eine kritische, fachdidaktisch orientierte Perspektive<br />
auf die Gestaltung von computerbasierten<br />
Lerngelegenheiten und damit zusam-<br />
menhängenden curricularen Strukturen einnehmen<br />
können. Dazu ist es zweifellos sinnvoll,<br />
diesbezügliche fachdidaktische Ansätze zu kennen<br />
[vgl. z.B. Weigand & Weth, 2002; Heugl<br />
et al., 1996; Heugl, 2005; Peschek, 1999; Löthe,<br />
1992].<br />
Für den Wissensaufbau in diesem Bereich dürfte<br />
es eine Reihe auch spezifischer Bedingungsvariablen<br />
geben. Als mögliche Einflussfaktoren auf den<br />
Aufbau fachdidaktischen Wissens zum Computereinsatz<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht sind beispielsweise<br />
eigene Erfahrungen zum Computereinsatz<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht (aus Schüler(innen)o<strong>der</strong><br />
Lehrer(innen)perspektive), eigene Fähigkeiten<br />
und Erfahrungen im Umgang mit Computern<br />
sowie Fähigkeitsselbstkonzepte zum Umgang mit<br />
Computern zu zählen. Letztere dürften ihrerseits<br />
auch zum Aufbau unterschiedlicher Überzeugungen<br />
zum Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
beitragen können. Computereinsatzbezogenes<br />
Wissen und Überzeugungen können als bereichsspezifische<br />
Komponenten von pedagogical<br />
content knowledge bzw. pedagogical content beliefs<br />
[Shulman, 1986, 1987] eingeordnet werden<br />
und kommen als Kontextfaktoren <strong>für</strong> den Kompetenzaufbau<br />
bei Schülerinnen und Schülern in<br />
Frage [vgl. Unterrichtsmodell von Pekrun und<br />
Reiss in Reiss, 2005]. In dem Modell von Pekrun<br />
und Reiss werden als Kontextvariablen auf<br />
Seiten <strong>der</strong> Lehrkraft auch Überzeugungen und<br />
motivationale und damit selbstkonzeptbezogene<br />
Konstrukte mit berücksichtigt, zu denen die im<br />
Folgenden vorgestellten computereinsatzbezogenen<br />
Überzeugungen und computernutzungsspezifischen<br />
Fähigkeitsselbstkonzepte zählen.<br />
2.1 Überzeugungen von Lehrkräften zum<br />
Computereinsatz im<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
Ein qualitätvoller Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
erfor<strong>der</strong>t fachdidaktisches Wissen<br />
und mit diesem Wissen korrespondierende un-<br />
31
Sebastian Kuntze und Christine Bescherer, Ludwigsburg<br />
terrichtsbezogene Überzeugungen. Eine Auswahl<br />
an Vorstellungen von <strong>Mathematik</strong>lehrkräften, die<br />
sich auf fachdidaktische Ansätze zum Computereinsatz<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht beziehen, wurden<br />
von Kuntze [2011] vorgestellt. An diese Studie<br />
schließt die vorliegende Untersuchung an. Folgende<br />
Aspekte erscheinen von Bedeutung [vgl.<br />
Kuntze, 2011]:<br />
Zu eher übergreifenden bzw. relativ unspezifischen<br />
Überzeugungen gehören die folgenden<br />
Aspekte:<br />
⊲ Inhaltsunspezifisches Motivationspotential des<br />
Computereinsatzes: Hierunter wird die Überzeugung<br />
verstanden, dass Computereinsatz inhaltsunspezifisch<br />
motivierend auf Lernende<br />
wirkt.<br />
⊲ Computereinsatz als beeinträchtigendes zusätzliches<br />
Hin<strong>der</strong>nis: Diese Überzeugung, nach <strong>der</strong><br />
Computereinsatz mathematikbezogenen Wissensaufbau<br />
beeinträchtigt und <strong>der</strong> Umgang mit<br />
dem Rechner Aufmerksamkeits- und Denkressourcen<br />
zu Lasten des mathematikbezogenen<br />
Wissensaufbaus bindet, kann in <strong>der</strong> „cognitive<br />
load theory” von Sweller [1994] verankert<br />
gesehen werden, nach <strong>der</strong> „extraneous cognitive<br />
load” möglichst vermieden werden sollte.<br />
Extraneous cognitive load kann beim Computereinsatz<br />
darin bestehen, dass die <strong>für</strong> das zu<br />
Erlernende in <strong>der</strong> Regel irrelevante Fähigkeit,<br />
ein Programm zu bedienen, erst erworben werden<br />
muss und so kognitive Ressourcen mit beansprucht.<br />
⊲ Positive Einstellung zum Computereinsatz vor<br />
dem Hintergrund eigenen Interesses am Experimentieren<br />
mit Software: Hierunter fällt<br />
die Überzeugung, Lernenden computergestützte<br />
Lerngelegenheiten zugänglich machen zu<br />
wollen, die man selbst als positiv erlebt hat, was<br />
mit <strong>der</strong> Be<strong>für</strong>wortung von Computereinsatz auf<br />
<strong>der</strong> Basis von Freude an <strong>der</strong> eigenen Beschäftigung<br />
mit <strong>Mathematik</strong>software korrespondieren<br />
kann.<br />
Überzeugungen mit stärkerem fachdidaktischen<br />
Bezug sind:<br />
⊲ Verständnisunterstützung durch Visualisierungsmöglichkeiten:<br />
Dies betrifft die Wahrnehmung<br />
von Möglichkeiten <strong>der</strong> verbesserten<br />
Verständnisunterstützung durch Visualisierung<br />
[vgl. Weigand & Weth, 2002].<br />
⊲ Lernpotential durch explorative Herangehensweisen:<br />
Hierbei ist die Wahrnehmung von<br />
Möglichkeiten gemeint, explorative und experimentelle<br />
Zugänge zu schaffen [vgl. z.B. Black-<br />
Box/White-Box-Vorgehen Heugl et al., 1996].<br />
⊲ För<strong>der</strong>ung des Lernens durch Navigation,<br />
Rückmeldungen und Hilfen: Dieser Überzeugungsbereich<br />
betrifft die Wahrnehmung, dass<br />
Rückmeldungen, Hilfen und Navigationsmög-<br />
32<br />
lichkeiten, wie sie in rechnergestützte Lernangebote<br />
integriert werden können, lernför<strong>der</strong>lich<br />
sind (Hintergrundüberlegungen z.B. bei Jacobs<br />
[2002]).<br />
⊲ Vorstellung entsprechend des Auslagerungsprinzips:<br />
Hier geht es um die Wahrnehmung<br />
von Vorteilen, entsprechend des Auslagerungsprinzips<br />
algorithmische Tätigkeiten und Prozeduren<br />
an Computerwerkzeuge auszulagern<br />
[vgl. Peschek, 1999].<br />
Überzeugungen, die sich auf fachdidaktisch relevante<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen an computergestützten <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
beziehen, sind beispielsweise:<br />
⊲ Notwendigkeit curricularer Än<strong>der</strong>ungen: Diese<br />
Überzeugung spiegelt entsprechende fachdidaktische<br />
For<strong>der</strong>ungen zum Computereinsatz<br />
wi<strong>der</strong> [z.B. Heugl, 2005; Heugl et al., 1996; Löthe,<br />
1992].<br />
⊲ Computereinsatz ohne inhaltliche Neuerungen:<br />
Dies betrifft die Sichtweise, dass Computereinsatz<br />
keine wesentlich an<strong>der</strong>sartigen Herangehensweisen<br />
und Inhalte im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
herbeiführen könne.<br />
Zu Überzeugungen bezüglich möglicher Auswirkungen<br />
spezifischer Formen des Computereinsatzes<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht gehören [vgl. Tönnies,<br />
1999]:<br />
⊲ Verlernen von Algebra-Wissen durch CAS-<br />
Einsatz: Dieser Aspekt betrifft die Ablehnung<br />
regelmäßigen CAS-Einsatzes aufgrund <strong>der</strong> Be<strong>für</strong>chtung,<br />
dass algorithmische Fähigkeiten etwa<br />
des algebraischen Umformens von Termen<br />
verlernt werden.<br />
⊲ Verlernen des Konstruierens von Hand durch<br />
DGS-Einsatz: Analog zum vorangegangenen<br />
Aspekt geht es hierbei um die Ablehnung eines<br />
regelmäßigen DGS-Einsatzes aufgrund <strong>der</strong><br />
Be<strong>für</strong>chtung, dass Fähigkeiten des Konstruierens<br />
von Hand bei den Lernenden beeinträchtigt<br />
werden.<br />
Nähere Erläuterungen zu den meisten <strong>der</strong> oben<br />
vorgestellten Aspekte finden sich in [Kuntze,<br />
2011]. Eine Erweiterung stellen die beiden letzteren<br />
Überzeugungsbeeiche dar.<br />
2.2 Selbstkonzepte zum Umgang mit<br />
Computern<br />
Fähigkeitsselbstkonzepte stellen bedeutsame Einflussgrößen<br />
auf nachfolgendes Lernen dar [Helmke<br />
& Weinert, 1997], was als Wirkungszusammenhang<br />
unter an<strong>der</strong>em mit einer erhöhten<br />
Frustrationstoleranz beim Lernen erklärt wird.<br />
Für Persönlichkeitsmerkmale in diesem Bereich<br />
gibt es verschiedene Begriffsprägungen (Selbstwirksamkeitserwartung,<br />
akademisches Selbstkonzept,<br />
Selbstwirksamkeit, Fähigkeitsselbstbil<strong>der</strong>,<br />
. . . [Bandura, 1977; Pekrun, 1983; Helmke &<br />
Weinert, 1997]), die hier im Wesentlichen synonym<br />
verwendet werden. Fähigkeitsselbstkonzep-
Überzeugungen von Studierenden zum Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
te können bereichsspezifisch ausgeprägt sein. Gerade<br />
bereichsspezifische Fähigkeitsselbstkonzepte<br />
haben sich als beson<strong>der</strong>s prädiktiv <strong>für</strong> Lernleistungen<br />
herausgestellt [Helmke & Weinert, 1997].<br />
Nicht zuletzt aus diesen Gründen wurden Fähigkeitsselbstkonzepte<br />
zum Umgang mit Computern<br />
bereits in vielen Studien untersucht [Cassidy<br />
& Eachus, 2002; Kohlmann et al., 2005; Barbeite<br />
& Weiss, 2004; Compeau & Higgins, 1995; Delcourt<br />
& Kinzie, 1991; Karsten & Roth, 1998; Miura,<br />
1987; Potosky, 2002; Murphy et al., 1989;<br />
Loyd & Gressard, 1984; Webster & Martocchio,<br />
1992; Spannagel & Bescherer, <strong>2009</strong>; Bescherer &<br />
Spannagel, i.V.]. Cassidy & Eachus [2002] rechnen<br />
bei ihrem Erhebungsinstrument unter an<strong>der</strong>em<br />
die folgenden Aspekte zur Selbstwirksamkeitserwartung<br />
bezüglich des Umgangs mit Computern<br />
(„CUSE – Computer use self efficacy“),<br />
die teilweise auch über reine Fähigkeitsselbstkonzepte<br />
hinauszugehen scheinen (vgl. die Kritik von<br />
Kohlmann et al. [2005]):<br />
⊲ Überzeugung von eigenen Fähigkeiten im Umgang<br />
mit Computern<br />
⊲ Wahrnehmung <strong>der</strong> Abwesenheit von Hürden<br />
dem Umgang mit Computern gegenüber<br />
⊲ Emotionale Aspekte wie Spaß, Freiheit von<br />
Angst o<strong>der</strong> Frust beim Umgang mit Computern<br />
⊲ Überzeugung, dass Computer Lernprozesse unterstützen<br />
können<br />
Das Fragebogeninstrument von Cassidy & Eachus<br />
[2002] wurde übersetzt und leicht abgeän<strong>der</strong>t<br />
[Spannagel & Bescherer, <strong>2009</strong>; Bescherer &<br />
Spannagel, i.V., CUSE-D] und stand <strong>für</strong> diese Studie<br />
zur Verfügung.<br />
Ein weiterer Aspekt von Selbstkonzepten im<br />
Zusammenhang mit <strong>der</strong> Nutzung von Computern,<br />
<strong>der</strong> bereits in einigen Studien untersucht worden<br />
ist, ist die so genannte Cognitive Playfulness<br />
[Webster & Martocchio, 1992; Dunn, 2004]. Dieses<br />
Selbstkonzept betrifft die Sicht des eigenen<br />
Umgangs mit Computern als spontan, kreativ, verspielt<br />
o<strong>der</strong> erfin<strong>der</strong>isch, d.h. gibt wie<strong>der</strong>, wie spielerisch<br />
Lernende ihren eigen Umgang mit dem<br />
Computer sehen [Bescherer & Spannagel, i.V.].<br />
2.3 Eigene Erfahrungen von Studierenden<br />
zum Computereinsatz im<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht aus <strong>der</strong><br />
Schülerperspektive<br />
Eigene Erfahrungen mit Computereinsatz im<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht könnten bei <strong>der</strong> Entstehung<br />
von Überzeugungen zum Computereinsatz<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht eine wesentliche Rolle<br />
spielen. Von Interesse sind daher beispielsweise<br />
die eigene Wahrnehmung o<strong>der</strong> Erfahrungen<br />
mit „gutem“ o<strong>der</strong> „schlechtem“ Computereinsatz<br />
in Unterrichtssituationen, die Studierende<br />
aus <strong>der</strong> Schülerperspektive o<strong>der</strong> auch aus <strong>der</strong> Lehrerperspektive<br />
erlebt haben. Insbeson<strong>der</strong>e Vorstel-<br />
lungen zur Qualität solcher Unterrichtssituationen<br />
könnten eine wesentliche Rolle <strong>für</strong> die in<br />
2.1 angesprochenen Überzeugungsbereiche spielen.<br />
Darüber hinaus können auch Erfahrungen<br />
mit mathematikunterrichtsrelevanter Software innnerhalb<br />
o<strong>der</strong> außerhalb von Unterrichtssituationen<br />
Überzeugungen zum Computereinsatz mitprägen.<br />
Derartige Merkmale sollten in entsprechenden<br />
Untersuchungen mit einbezogen werden,<br />
wobei sich aufgrund des Forschungsstandes eine<br />
teilweise explorative Herangehensweise empfiehlt.<br />
3 Forschungsfragen<br />
Die folgenden Forschungsfragen stehen vor dem<br />
Hintergrund <strong>der</strong> angestellten Überlegungen im<br />
Mittelpunkt:<br />
1. Können die untersuchten computerbezogenen<br />
Überzeugungen und Selbstkonzepte mit dem<br />
Fragebogeninstrument reliabel erhoben werden?<br />
2. Welche auf den Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
bezogenen Überzeugungen haben<br />
die untersuchten Lehramtsstudierenden?<br />
3. Welche computerbezogenen Selbstkonzepte<br />
haben die untersuchten Lehramtsstudierenden?<br />
4. Gibt es Zusammenhänge zwischen den erhobenen<br />
computerbezogenen Selbstkonzepten und<br />
Überzeugungen zum Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht?<br />
5. Von welchen Erfahrungen mit als positiv empfundenen<br />
Situationen des Computereinsatzes<br />
in ihrer Schulzeit können die Studierenden berichten?<br />
6. Können bei den Teilnehmenden einer fachdidaktisch<br />
orientierten Lehrveranstaltung Entwicklungen<br />
in den Überzeugungen zum Computereinsatz<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht beobachtet<br />
werden?<br />
4 Untersuchungsdesign<br />
Die Datenbasis dieser Untersuchung bezieht sich<br />
auf eine Befragung von Lehramtsstudierenden vor<br />
Beginn und am Ende von fünf inhaltlich parallelisierten<br />
Seminaren zum Thema „Computereinsatz<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht“ im Sommersemester<br />
<strong>2008</strong>. Eines dieser Seminare fand an <strong>der</strong> LMU<br />
München und vier an <strong>der</strong> PH Ludwigsburg statt.<br />
Befragt wurden insgesamt N = 73 Lehramtsstudierende<br />
(55 Studentinnen und 18 Studenten),<br />
davon 58 Realschullehramtsstudierende, 13<br />
Grund- und Hauptschullehramtsstudierende und<br />
2 Studierende <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>pädagogik. Das mittlere<br />
Alter <strong>der</strong> Teilnehmenden betrug 24,25 Jahre<br />
(SD = 4,59), die mittlere Semesteranzahl 4,78 Semester<br />
(SD = 1,25). Da bereits in <strong>der</strong> Vorläuferstudie<br />
[Kuntze, 2011] eine Vergleichsgruppenuntersuchung<br />
umgesetzt worden war und im Hinblick<br />
auf die hier verfolgten Forschungsinteres-<br />
33
Sebastian Kuntze und Christine Bescherer, Ludwigsburg<br />
sen, die in erster Linie auf Zusammenhänge zwischen<br />
Konstrukten fokussieren, wurde auf eine<br />
Non-Treatment-Kontrollgruppe verzichtet.<br />
Das Befragungsinstrument bestand in einem<br />
Paper-and-Pencil-Fragebogen mit offenen und geschlossenen<br />
Items. Einem Teil <strong>der</strong> Studierenden<br />
wurde am Ende <strong>der</strong> Veranstaltung ein zweiter Fragebogen<br />
vorgelegt. 36 Studierende beantworteten<br />
beide Fragebögen.<br />
Der Fragebogen zu Beginn <strong>der</strong> Veranstaltung<br />
enthielt die folgenden Teile:<br />
⊲ Offene Items zu Situationen mit „gutem“ und<br />
„schlechtem“ Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
<strong>der</strong> eigenen Schulzeit<br />
⊲ Standardisierte Items zu Überzeugungen hinsichtlich<br />
des Computereinsatzes im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
[Kuntze, 2011]<br />
⊲ Standardisierte Items zur computernutzungsbezogenen<br />
Selbstwirksamkeitserwartung [Spannagel<br />
& Bescherer, <strong>2009</strong>, CUSE-D]<br />
⊲ Standardisierte Items zur Cognitive Playfulness<br />
[Bescherer & Spannagel, i.V.]<br />
⊲ Items zu persönlichen Daten und zu eigenen Erfahrungen<br />
mit Computern/Software<br />
Der Fragebogen am Ende <strong>der</strong> Veranstaltung enthielt<br />
die folgenden Teile:<br />
⊲ Standardisierte Items zu Überzeugungen hinsichtlich<br />
des Computereinsatzes im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
[Kuntze, 2011]<br />
⊲ Offene Items zu Lernfortschritten und Feedback<br />
Beispielitems zu den Skalen <strong>der</strong> Multiple-<br />
Choice-Fragebogen-Teile finden sich in den Tabellen<br />
7.1 und 7.2.<br />
5 Ergebnisse<br />
Im Folgenden werden Ergebnisse <strong>der</strong> Studie geglie<strong>der</strong>t<br />
nach den Forschungsfragen zusammengefasst.<br />
5.1 Auswertungen zum<br />
Fragebogeninstrument<br />
Entsprechend <strong>der</strong> ersten Forschungsfrage wurde<br />
<strong>für</strong> die standardisierten Fragebogenteile die Reliabilität<br />
<strong>der</strong> betrachteten Skalen untersucht. In<br />
Tab. 7.1 sind die Reliabilitätswerte <strong>der</strong> Überzeugungsskalen<br />
<strong>für</strong> die beiden Befragungszeitpunkte<br />
dargestellt. Im Vergleich zur Vorgängerstudie<br />
[Kuntze, 2011] konnten die guten bis ausreichenden<br />
Reliabilitäten repliziert und teils verbessert<br />
werden. Ähnlich wie in <strong>der</strong> Vorläuferstudie gelang<br />
es nicht, die Skala „keine inhaltlichen Neuerungen<br />
durch Computereinsatz (CKN)“ zu beiden Befragungszeitpunkten<br />
reliabel zu operationalisieren.<br />
Die in Tab. 7.2 wie<strong>der</strong>gegebenen Reliabilitätswerte<br />
<strong>der</strong> CUSE-D-Skala sowie <strong>der</strong> Cognitive<br />
Playfulness sind befriedigend. Eine ergänzende<br />
Faktorenanalyse <strong>für</strong> die CUSE-D-Items, die<br />
den in 2.2 genannten Aspekten zugeordnet wer-<br />
34<br />
den können, bestätigt die Möglichkeit, Subskalen<br />
zu betrachten, <strong>der</strong>en gute Reliabilitätswerte ebenfalls<br />
in Tab. 7.2 aufgeführt sind. Aus diesem Grunde<br />
und im Sinne einer differenzierten Betrachtung<br />
werden zusätzlich zur etablierten CUSE-D-Skala<br />
die vier in Tab. 7.1 genannten Subskalen ausgewertet.<br />
5.2 Überzeugungen zum Computereinsatz<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht – deskriptive<br />
Ergebnisse<br />
Tab. 7.1 zeigt die Skalenmittelwerte <strong>der</strong> computereinsatzbezogenen<br />
Überzeugungen.<br />
Mit Ausnahme <strong>der</strong> im Mittel positiven Einschätzungen<br />
zu den Skalen „explorative Herangehensweisen<br />
(CEX)“ und „Verständnisunterstützung<br />
durch Visualisierungsmöglichkeiten (CVI)“<br />
zeigen sich durchschnittliche Einschätzungen nahe<br />
<strong>der</strong> jeweiligen Skalenmitte. Insbeson<strong>der</strong>e dürften<br />
die Werte bei den neu hinzugenommenen Skalen<br />
„Verlernen von Algebra-Wissen durch CAS-<br />
Einsatz (CVA)“ und „Verlernen des Konstruierens<br />
von Hand durch DGS-Einsatz (CVG)“ auf vorhandene<br />
Be<strong>für</strong>chtungen <strong>der</strong> Studierenden zum Verlernen<br />
von Grundfähigkeiten hindeuten.<br />
5.3 Computernutzungsbezogene<br />
Selbstkonzepte – deskriptive Ergebnisse<br />
In Tab. 7.5 sind die Skalenmittelwerte <strong>der</strong> betrachteten<br />
Selbstkonzepte inklusive <strong>der</strong> CUSE-<br />
D-Subskalen dargestellt. Die Fähigkeitsselbstkonzeptmittelwerte<br />
fielen eher positiv aus, <strong>der</strong> Umgang<br />
mit Computern wurde im Mittel als eher<br />
nicht verwirrend gesehen. Negative Emotionen<br />
beim Umgang mit Computern waren im Mittel<br />
eher gering ausgeprägt. Die mittlere Einschätzung<br />
zur Subskala „Lernunterstützung durch den Computer“<br />
war demgegenüber positiv.<br />
Die mittlere Einschätzung <strong>der</strong> eigenen Cognitive<br />
Playfulness wies einen mo<strong>der</strong>at zustimmenden<br />
Wert auf, was den Erwartungen entspricht.<br />
5.4 Zusammenhänge zwischen den<br />
erhobenen Konstrukten<br />
Um Zusammenhänge zwischen den betrachteten<br />
Skalen zu untersuchen wurden Korrelationen berechnet<br />
(vgl. Tab. 7.5). Bei den auf den Computereinsatz<br />
bezogenen Überzeugungen konnten<br />
Ergebnisse zu Zusammenhängen repliziert werden,<br />
die sich in <strong>der</strong> Vorläuferstudie gezeigt hatten.<br />
So hingen bestimmte Skalen stärker mit an<strong>der</strong>en<br />
Skalen zusammen, wie etwa „Computereinsatz<br />
beeinträchtigendes zusätzliches Hin<strong>der</strong>nis<br />
(CHI)“ o<strong>der</strong> „Computereinsatz und positive Innovationseinstellung<br />
(CIN)“. Skalen wie „Auslagerungsprinzip<br />
(CAU)“ und „Computereinsatz und<br />
Notwendigkeit curricularer Än<strong>der</strong>ungen (CCU)“<br />
zeigten nur relativ wenige signifikante Zusammenhänge<br />
mit an<strong>der</strong>en Skalen, was eine stärke-
Überzeugungen von Studierenden zum Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
Skala Beispielitem Anzahl Cronb. α Cronb. α<br />
Items 1. Befr. 2. Befr.<br />
CMO Computereinsatz<br />
inhaltsunspezifisch<br />
motivierend<br />
CHI Computereinsatz<br />
beeinträchtigendes<br />
zusätzliches Hin<strong>der</strong>nis<br />
CIN Computereinsatz und<br />
positive<br />
Innovationseinstellung<br />
Unabhängig vom Thema wirkt Computereinsatz auf<br />
Schüler(innen) im Vergleich zum Normalunterricht<br />
immer motivierend.<br />
Das Einarbeiten in eine computergestützte<br />
Lernumgebung kostet die Schüler(innen) so viel<br />
Aufmerksamkeit, dass das <strong>Mathematik</strong>-Lernen<br />
behin<strong>der</strong>t wird.<br />
Weil mir die Arbeit mit Computerprogrammen <strong>für</strong><br />
den <strong>Mathematik</strong>unterricht selbst Spaß macht,<br />
möchte ich auch meinen Schüler(innen) in<br />
<strong>Mathematik</strong> Lernerlebnisse am Computer bieten.<br />
CAU Auslagerungsprinzip Weil algorithmische Verfahren nicht „zu Fuß“<br />
ausgeführt werden müssen, können sich<br />
Schüler(innen) bei <strong>der</strong> Nutzung geeigneter<br />
Programme voll auf die Kerngedanken einer<br />
Problemlösung einlassen.<br />
CEX Explorative<br />
Herangehensweisen<br />
CVI Verständnisunterstützung<br />
durch Visualisierungsmöglichkeiten<br />
CMV För<strong>der</strong>ung des Lernens<br />
durch Navigation,<br />
Rückmeldungen und<br />
Hilfen<br />
CCU Computereinsatz und<br />
Notwendigkeit<br />
curricularer Än<strong>der</strong>ungen<br />
CKN keine inhaltlichen<br />
Neuerungen durch<br />
Computereinsatz<br />
CVA Verlernen von<br />
Algebra-Wissen durch<br />
CAS-Einsatz<br />
CVG Verlernen des<br />
Konstruierens von Hand<br />
durch DGS-Einsatz<br />
Am Computereinsatz schätze ich, dass die<br />
Schüler(innen) selbst mit mathematischen Inhalten<br />
experimentieren und sich so mathematische<br />
Lerninhalte erarbeiten können.<br />
Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht bringt<br />
Visualisierungsmöglichkeiten, die bei den<br />
Schüler(innen) zu einem verbesserten Verständnis<br />
<strong>der</strong> Lerninhalte führen.<br />
In computergestützten Lernumgebungen helfen<br />
Rückmeldungen, Navigation und Hilfe-Funktionen<br />
den Schüler(innen) dabei, besser zu lernen.<br />
Computereinsatz im Fach <strong>Mathematik</strong> erfor<strong>der</strong>t<br />
verän<strong>der</strong>te Lerninhalte, verän<strong>der</strong>te Lernziele,<br />
verän<strong>der</strong>te Aufgabenstellungen.<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht folgt mit o<strong>der</strong> ohne<br />
Computereinsatz letztlich dem gleichen<br />
Gedankenweg.<br />
Computeralgebrasysteme (CAS) würde ich nicht<br />
regelmäßig einsetzen, weil die Gefahr besteht, dass<br />
Schüler(innen) algebraische Umformungen<br />
verlernen.<br />
Man sollte Geometrieprogramme lieber nur selten<br />
einsetzen, damit die Schüler(innen) das Konstruieren<br />
von Hand nicht verlernen.<br />
4 0,86 0,79<br />
4 0,79 0,58<br />
3 0,89 0,88<br />
4 0,66 0,66<br />
5 0,75 0,81<br />
3 0,77 0,72<br />
4 0,70 0,70<br />
2 0,77 0,86<br />
2 (0,03) 0,60<br />
2 0,75 0,71<br />
2 0,82 0,68<br />
Tabelle 7.1: Überblick über in die Untersuchung einbezogene Skalen und Reliabilitätswerte<br />
re empirische Unabhängigkeit von den an<strong>der</strong>en<br />
Überzeugungskonstrukten impliziert. Signifikante<br />
erwartungswidrige Korrelationen konnten nicht<br />
beobachtet werden.<br />
Die Korrelationen bei den Selbstkonzept-<br />
Skalen fielen im Großen und Ganzen etwas stärker<br />
aus als bei den computereinsatzbezogenen Überzeugungen,<br />
die vergleichsweise mo<strong>der</strong>aten Größenordnungen<br />
einiger <strong>der</strong> Zusammenhänge sprechen<br />
jedoch da<strong>für</strong>, die Subskalen voneinan<strong>der</strong> getrennt<br />
auszuwerten. Die hoch mit dem CUSE-<br />
D-Wert korrelierende Skala „computerbezogenes<br />
Fähigkeitsselbstkonzept“ könnte diese Gesamtskala<br />
in Folgestudien ersetzen. Die Korrelation<br />
zwischen <strong>der</strong> CUSE-D-Skala und <strong>der</strong> Cognitive<br />
Playfulness betrug r = 0,47 (zweiseitig signifikant<br />
mit p < 0,001).<br />
Von beson<strong>der</strong>em Interesse waren Zusammen-<br />
hänge zwischen computereinsatzbezogenen Überzeugungen<br />
einerseits und Selbstkonzept-Skalen<br />
an<strong>der</strong>erseits. Hier (vgl. Tab. 7.6) zeigen sich deutliche<br />
Zusammenhänge vor allem <strong>der</strong> Überzeugungsskalen<br />
„Computereinsatz inhaltsunspezifisch<br />
motivierend (CMO)“, „Computereinsatz und<br />
positive Innovationseinstellung (CIN)“ und „Verständnisunterstützung<br />
durch Visualisierungsmöglichkeiten<br />
(CVI)“ mit computerbezogener Selbstwirksamkeitserwartung<br />
(CUSE-D), „computerbezogenem<br />
Fähigkeitsselbstkonzept“ und „negativen<br />
Emotionen zur Computernutzung“. Durchgängige<br />
signifikante Korrelationen mit allen Überzeugungsskalen<br />
ergeben sich <strong>für</strong> „Lernunterstützung<br />
durch den Computer“. Die Cognitive Playfulness<br />
korreliert demgegenüber mit keiner <strong>der</strong><br />
Überzeugungsskalen signifikant.<br />
35
Sebastian Kuntze und Christine Bescherer, Ludwigsburg<br />
Skala Beispielitem Anzahl Cronb. α<br />
CUSE-D: computerbezogene Selbstwirksamkeitserwartung<br />
[Cassidy & Eachus, 2002;<br />
Bescherer & Spannagel, i.V.]<br />
⊲ Subskala<br />
„computerbezogenes Fähigkeitsselbstkonzept“<br />
(s.u.: Beispielitems <strong>der</strong> Subskalen) 30 0,96<br />
Ich halte mich selbst <strong>für</strong> einen geschickten Computernutzer<br />
Ich bin sehr unsicher über meine Fähigkeiten im Umgang<br />
mit Computern. +<br />
⊲ Subskala „Computer verwirrend“ Hin und wie<strong>der</strong> finde ich das Arbeiten mit Computern<br />
sehr verwirrend.<br />
Ich finde es schwierig, Computer dazu zu bringen,<br />
das zu tun, was ich von ihnen will.<br />
⊲ Subskala<br />
„negative Emotionen zur Computernutzung“<br />
⊲Subskala<br />
„Lernunterstützung durch den Computer“<br />
Cognitive Playfulness im Umgang mit dem Computer<br />
[Webster & Martocchio, 1992; Bescherer &<br />
Spannagel, i.V.]<br />
+ : umzupolendes Item<br />
Ich finde das Arbeiten mit Computern sehr frustrierend.<br />
Beim Arbeiten mit Computern habe ich Spaß. +<br />
Computer sind gute Hilfsmittel beim Lernen.<br />
Ich finde, dass Computer beim Lernen behin<strong>der</strong>n. +<br />
[Selbsteinschätzung des Umgangs mit Computern als<br />
„spontan“, „kreativ“, „verspielt“, „erfin<strong>der</strong>isch“, etc.]<br />
8 0,94<br />
3 0,89<br />
5 0,90<br />
4 0,89<br />
7 0,85<br />
Tabelle 7.2: Überblick über in die Untersuchung einbezogene Skalen und Reliabilitätswerte (CUSE-D und<br />
Subskalen; Cognitive Playfulness im Umgang mit dem Computer).<br />
Betrachtete Überzeugung Mittelwert Standardabweichung<br />
CMO Inhaltsunspezifisch motivierend 2,68 0,63<br />
CHI Computereinsatz als zusätzliches Hin<strong>der</strong>nis 2,28 0,69<br />
CIN Computereinsatz und pos. Innovationseinstellung 2,51 0,82<br />
CEX Explorative Herangehensweisen 3,14 0,49<br />
CVI Verständnisunterstützung durch Visualisierungsmöglichkeiten 3,12 0,55<br />
CMV För<strong>der</strong>ung des Lernens durch Navigation, Rückmeldungen und Hilfen 2,58 0,51<br />
CAU Auslagerungsprinzip 2,65 0,48<br />
CCU Computereinsatz und Notwendigkeit curricularer Än<strong>der</strong>ungen 2,38 0,77<br />
CVA Verlernen von Algebra-Wissen durch CAS-Einsatz 2,72 0,70<br />
CVG Verlernen des Konstruierens von Hand durch DGS-Einsatz 2,50 0,85<br />
Jeweils vierstufige Likert-Skala (4: stimmt genau; 1: stimmt gar nicht)<br />
Tabelle 7.3: Ausprägungen <strong>der</strong> betrachteten Überzeugungen zum Computereinsatz (N = 73)<br />
Selbstkonzept Mittelwert Standardabweichung<br />
CUSE-D: computerbezogene Selbstwirksamkeitserwartung 4,33 0,90<br />
Subskala „computerbezogenes Fähigkeitsselbstkonzept“ 4,03 1,21<br />
Subskala „Computer verwirrend“ 2,48 1,07<br />
Subskala „negative Emotionen zur Computernutzung“ 2,00 0,99<br />
Subskala „Lernunterstützung durch den Computer“ 4,36 1,10<br />
Cognitive Playfulness im Umgang mit dem Computer 0,60 0,19<br />
CUSE-D und Subskalen: sechsstufige Likert-Skala (6: trifft völlig zu; 1: trifft überhaupt nicht zu)<br />
Cognitive Playfulness: 1: Hohe (maximale) Ausprägung; 0: geringe (minimale) Ausprägung<br />
36<br />
Tabelle 7.4: Ausprägungen <strong>der</strong> betrachteten Selbstkonzepte (N = 73).
Überzeugungen von Studierenden zum Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
Korr. (Pearson) CHI CIN CVI CMV CEX CAU CCU CVA CVG<br />
CMO -0,26 ∗ 0,19 0,34 ∗∗ 0,40 ∗∗∗ 0,30 ∗ 0,31 ∗∗ -0,10 0,00 -0,04<br />
CHI -0,47 ∗∗∗ -0,48 ∗∗∗ -0,51 ∗∗∗ -0,38 ∗∗∗ -0,07 0,54 ∗∗∗ 0,38 ∗∗∗ 0,54 ∗∗∗<br />
CIN 0,54 ∗∗∗ 0,47 ∗∗∗ 0,39 ∗∗∗ 0,23 -0,15 -0,22 -0,41 ∗∗∗<br />
CVI 0,68 ∗∗∗ 0,50 ∗∗∗ 0,42 ∗∗∗ -0,08 -0,13 -0,48 ∗∗∗<br />
CMV 0,53 ∗∗∗ 0,21 -0,28 ∗ -0,01 -0,34 ∗∗<br />
CEX 0,19 -0,24 ∗ -0,18 -0,38 ∗∗∗<br />
CAU 0,13 -0,06 -0,14<br />
CCU 0,13 0,22<br />
CVA 0,38 ∗∗∗<br />
∗ Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,05 (2-seitig) signifikant.<br />
∗∗ Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.<br />
∗∗∗ Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,001 (2-seitig) signifikant.<br />
Tabelle 7.5: Korrelationen zwischen Überzeugungen zum Computereinsatz<br />
(listenweiser Fallausschluss, N = 73)<br />
Korr. (Pearson) CMO CHI CIN CVI CMV CEX CAU CCU CVA CVG<br />
CUSE-D 0,35 ∗∗ -0,35 ∗∗ 0,63 ∗∗∗ 0,47 ∗∗∗ 0,18 0,43 ∗∗∗ 0,25 ∗ -0,14 -0,11 -0,28 ∗<br />
Subskala<br />
„computer-bez.<br />
Fähigkeitsselbstkonzept“<br />
Subskala<br />
„Computer<br />
verwirrend“<br />
Subskala<br />
„negative<br />
Emotionen zur<br />
Computernutzung“<br />
Subskala<br />
„Lernunterstützung<br />
durch<br />
Computer“<br />
Cognitive<br />
Playfulness<br />
0,27 ∗ -0,17 0,52 ∗∗∗ 0,41 ∗∗∗ 0,11 0,38 ∗∗∗ 0,23 -0,02 -0,02 -0,13<br />
-0,19 0,26 ∗ -0,45 ∗∗∗ -0,26 ∗ 0,00 -0,22 -0,13 0,08 0,13 0,18<br />
-0,38 ∗∗∗ 0,28 ∗ -0,48 ∗∗∗ -0,32 ∗∗ -0,04 -0,31 ∗∗ -0,16 0,12 0,05 0,15<br />
0,38 ∗∗∗ -0,58 ∗∗∗ 0,60 ∗∗∗ 0,60 ∗∗∗ 0,52 ∗∗∗ 0,51 ∗∗∗ 0,29 -0,30 -0,36 ∗∗ -0,53 ∗∗∗<br />
0,21 -0,12 0,21 0,11 -0,09 0,12 0,05 -0,06 0,12 0,00<br />
Tabelle 7.6: Korrelationen zwischen Überzeugungen zum Computereinsatz und Selbstkonzepten<br />
5.5 Berichtete eigene positive Erfahrungen<br />
mit Computereinsatz im<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
(Schüler(innen)perspektive)<br />
Erste Auswertungsergebnisse zu dem offenen<br />
Item bezüglich eigener positiver Erfahrungen mit<br />
Situationen des Computereinsatzes während <strong>der</strong><br />
eigenen Schulzeit sind in Tab. 7.7 zusammengefasst.<br />
Es zeigt sich, dass die übergroße Mehrheit<br />
<strong>der</strong> Studierenden von überhaupt keiner Situation<br />
des Computereinsatzes im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
während <strong>der</strong> gesamten eigenen Schulzeit zu berichten<br />
weiß.<br />
5.6 Entwicklungen bei Überzeugungen zum<br />
Computereinsatz im<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
In Abb. 7.1 ist <strong>der</strong> Vergleich zwischen den beiden<br />
Befragungszeitpunkten dargestellt, <strong>der</strong> sich<br />
auf die 36 Studierenden bezieht, bei denen Fragebogendaten<br />
zu beiden Befragungszeitpunkten vorlagen.<br />
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Befunde<br />
<strong>der</strong> Vorläuferstudie [Kuntze, 2011] repliziert<br />
werden konnten. Die gleichen Skalen weisen<br />
signifikant positive Entwicklungen in <strong>der</strong> Größenordnung<br />
mittlerer bis starker Effekte auf. Zusätzlich<br />
sind auch <strong>für</strong> weitere (insbeson<strong>der</strong>s fachdidaktisch<br />
relevante) Skalen signifikante Entwicklungen<br />
zu beobachten. Zu nennen ist hier bei-<br />
37
Sebastian Kuntze und Christine Bescherer, Ludwigsburg<br />
spielsweise die Skala „Computereinsatz und Notwendigkeit<br />
curricularer Än<strong>der</strong>ungen (CCU)“.<br />
Code Anzahl<br />
Kein Vorkommen von Computerein- 48<br />
satz im selbst erlebten <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
Keine Antwort 9<br />
Computereinsatz im weitesten Sin- 9<br />
ne angesprochen ohne Beschreibung<br />
<strong>der</strong> wahrgenommenen Qualität<br />
Beispiel <strong>für</strong> „guten“ Computerein- 7<br />
satz genannt<br />
Tabelle 7.7: Antworten zur offenen Frage „Schil<strong>der</strong>n<br />
Sie bitte kurz eine Situation mit ‚gutem‘<br />
Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht – mit<br />
Begründung.“<br />
6 Diskussion<br />
Insgesamt konnten die untersuchten Konstrukte<br />
mit den Fragebogenskalen mit einer Ausnahme<br />
reliabel operationalisiert werden. Insofern zeigte<br />
sich im Anschluss an die Ergebnisse <strong>der</strong> Vorgängerstudie<br />
[Kuntze, 2011], dass mit dem Fragebogen<br />
offenbar ein brauchbares Erhebungsinstrument<br />
vorliegt.<br />
Im vorangehenden Abschnitt wurden Ergebnisse<br />
zu den weiteren Forschungsfragen dargestellt.<br />
In den Bereichen, in denen diese Untersuchung<br />
Erhebungen <strong>der</strong> Vorläuferstudie [Kuntze,<br />
2011] wie<strong>der</strong>holte, konnten <strong>der</strong>en Ergebnisse<br />
im Wesentlichen repliziert werden. Dies ist insbeson<strong>der</strong>e<br />
insofern von Interesse, als die Befunde<br />
sich hier auf eine deutlich größere Stichprobe<br />
beziehen. Außerdem erlaubt diese Erhebung<br />
aufgrund ihrer universitätsstandortübertreifenden<br />
Anlage und vor dem Hintergrund des Umstands,<br />
dass die Lehrveranstaltung nicht mit <strong>der</strong> <strong>der</strong> Vorläuferstudie<br />
identisch war, vorsichtige Generalisierungen.<br />
Eine Anschlussfrage in diesen Zusammenhang<br />
ist, welche einzelnen Gestaltungsmerkmale<br />
von Lehrveranstaltungen <strong>für</strong> die beobachteten<br />
Verän<strong>der</strong>ungen in den Überzeugungen <strong>der</strong><br />
Studierenden verantwortlich sind. Außerdem wäre<br />
es interessant zu untersuchen, ob nicht auch<br />
an<strong>der</strong>e Überzeugungen, wie etwa Be<strong>für</strong>chtungen<br />
des Verlernens von Basiskompetenzen im Falle<br />
regelmäßigen Computereinsatzes beeinflusst werden<br />
könnten.<br />
Ein im Vergleich zur Vorgängeruntersuchung<br />
neues Element war die Untersuchung von computernutzungsbezogenen<br />
Selbstkonzepten <strong>der</strong> Studierenden.<br />
Hier konnten Zusammenhänge aufgedeckt<br />
werden, die da<strong>für</strong> sprechen, dass Lernende<br />
mit stärkerem Fähigkeitsselbstbild und insbeson<strong>der</strong>e<br />
höheren Erwartungen an die Lernunterstüt-<br />
38<br />
zung durch Formen <strong>der</strong> Rechnernutzung im Mittel<br />
auch positivere Einschätzungen zum Computereinsatz<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht zeigten. Angesichts<br />
weitgehend fehlen<strong>der</strong> Vorerfahrungen aus<br />
<strong>der</strong> eigenen Schulzeit könnte dieser Zusammenhang<br />
auf eine Generalisierung eigener Erfahrungen<br />
<strong>der</strong> Studierenden mit dem Computer auf Unterrichtssituationen<br />
mit Computereinsatz zurückzuführen<br />
sein. För<strong>der</strong>konzepte <strong>für</strong> fachdidaktisches<br />
Wissen und Überzeugungen zum Computereinsatz<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht könnten also<br />
mit einem vorangehenden Ermöglichen positiver<br />
eigener Erfahrungen <strong>der</strong> Studierenden mit geeigneter<br />
Software ansetzen, um den nachfolgenden<br />
Wissensaufbau bzw. die nachfolgende Entwicklung<br />
entsprechen<strong>der</strong> Überzeugungen zu unterstützen.<br />
Anschlussfragen zu dieser Studie ergeben sich<br />
insbeson<strong>der</strong>e auch im Hinblick auf praktizierende<br />
<strong>Mathematik</strong>lehrkräfte. Neben Vergleichen mit<br />
entsprechenden Überzeugungen von Lehramtsstudierenden<br />
ist auch von Interesse, wie Schülerinnen<br />
und Schüler <strong>der</strong> jeweiligen Lehrkräfte Art und<br />
Umfang des Computereinsatzes im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
wahrnehmen.<br />
Literatur<br />
Bandura, Albert (1977): Self-efficacy: Toward a unifying theory<br />
of behavioral change. Psychological Review, 84, 191–215.<br />
Barbeite, Francisco G. & Elizabeth M. Weiss (2004): Computer<br />
self-efficacy and anxiety scales for an Internet sample:<br />
testing measurement equivalence of existing measures and development<br />
of new scales. Computers in Human Behavior, 20,<br />
1–15.<br />
Bescherer, Christine & Christian Spannagel (i.V.): Computerbezogene<br />
Selbstwirksamkeitserwartung und Cognitive Playfulness.<br />
Notes on Educational Informatics – Section A: Concepts<br />
and Techniques.<br />
Cassidy, Simon & Peter Eachus (2002): Developing the computer<br />
user self-efficacy (CUSE) scale: investigating the relationship<br />
between computer self-efficacy, gen<strong>der</strong> and experience<br />
with computers. Journal of Educational Computing Research,<br />
26(2), 133–153, URL http://baywood.metapress.com/<br />
link.asp?id=jgjr0kvlhrf7gcnv.<br />
Compeau, Deborah R. & Christopher A. Higgins (1995): Computer<br />
Self-Efficacy: Development of a Measure and Initial Test.<br />
MIS Quarterly, 19(2), 189–211.<br />
Delcourt, Marcia A. B. & Mable B. Kinzie (1991): Computer<br />
technologies in teacher education: the measurement of attitudes<br />
and self-efficacy. Journal of Research and Development in<br />
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Dunn, Lemoyne (2004): Cognitive Playfulness and Other Characteristics<br />
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Cantoni, Lorenzo & Catherine McLoughlin (Hg.): World Conference<br />
on Educational Multimedia, Hypermedia and Telecommunications<br />
(EDMEDIA) 2004, Norfolk, VA: AACE,<br />
3553–3560.<br />
Helmke, Andreas & Franz Emanuel Weinert (1997): Bedingungsfaktoren<br />
schulischer Leistungen. In: Weinert,<br />
Franz Emanuel (Hg.): Enzyklopädie <strong>der</strong> Psychologie, Band 3,<br />
Göttingen: Hogrefe, 71–176.<br />
Heugl, Helmut (2005): CAS und Standards - eine interessante<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung. In: Ben<strong>der</strong>, Peter, Wilfried Herget, Hans-<br />
Georg Weigand & Thomas Weth (Hg.): Neue Medien und Bildungsstandards,<br />
Hildesheim: Franzbecker, 21–35.
erlebten <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
Keine Antwort 9<br />
Computereinsatz im weitesten Sinne angesprochen<br />
9<br />
ohne Beschreibung <strong>der</strong> wahrgenommenen Qualität<br />
Beispiel Überzeugungen <strong>für</strong> „guten“ Computereinsatz von Studierenden genannt zum Computereinsatz 7 im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
Computereinsatz inhaltsunspezifisch motivierend (CMO)<br />
Computereinsatz beeinträchtigendes zusätzliches Hin<strong>der</strong>nis (CHI)<br />
Computereinsatz und positive Innovationseinstellung (CIN)<br />
Verständnisunterstützung durch Visualisierung (CVI)<br />
Explorative Herangehensweisen (CEX)<br />
Vorteile f. meth. Gestaltg. v. Lernumg. d. Comp.-einsatz (CM V)<br />
Auslagerungsprinzip (CAU)<br />
Computereinsatz u. Notwendigkeit curricularer Än<strong>der</strong>ungen (CCU)<br />
keine inhaltlichen Neuerungen durch Computereinsatz (CKN)<br />
Verlernen von Algebra-Wissen durch CAS-Einsatz (CVA)<br />
Verlernen des Konstruierens von Hand durch DGS-Einsatz (CVG)<br />
geringe<br />
Ausprägung<br />
hohe<br />
Ausprägung<br />
1,00 1,50 2,00 2,50 3,00 3,50 4,00<br />
Erste<br />
Befragung<br />
(Mittelw ert)<br />
Zw eite<br />
Befragung<br />
(Mittelw ert)<br />
**<br />
**<br />
T=2,72; df=35;<br />
p
Sebastian Kuntze und Christine Bescherer, Ludwigsburg<br />
Tönnies, Dirk (1999): Das Für und Wi<strong>der</strong> <strong>der</strong> Verwendung<br />
von Computer-Algebra-Syste-men im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
<strong>der</strong> Sekundarstufe I am konkreten Beispiel einer<br />
Einführung des TI-92 in einer 9. Klasse des Gymnasiums.<br />
Staatsexamensarbeit, URL http://www.dirk-toennies.<br />
de/Texte/Download/TI-Einsatz.zip.<br />
40<br />
Webster, Jane & Joseph J. Martocchio (1992): Microcomputer<br />
playfulness: development of a measure with workplace implications.<br />
MIS Quarterly, 16(2), 201–226.<br />
Weigand, Hans-Georg & Thomas Weth (2002): Computer im<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht - Neue Wege zu alten Zielen. Berlin:<br />
Spektrum Akademischer Verlag.
Teil II<br />
Tagung <strong>2009</strong><br />
Zur Zukunft des Analysisunterrichts<br />
vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Verfügbarkeit<br />
Neuer Medien (und Werkzeuge)<br />
41
• Zur Zukunft des Analysisunterrichts vor dem Hintergrund <strong>der</strong><br />
Verfügbarkeit Neuer Medien (und Werkzeuge) – Leitgedanken<br />
und -fragen<br />
Anselm Lambert, Saarbrücken, und Ulrich Kortenkamp, Karlsruhe<br />
Analysis ist in breitem Konsens (fast) aller an <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
aktiv Interessierten ein selbstverständliches<br />
quasi naturgesetzliches Gebiet <strong>der</strong><br />
<strong>Mathematik</strong> in <strong>der</strong> Schule. Das muss nicht so<br />
sein. 1882 wurde den Realgymnasien und 1892<br />
den Oberrealschulen in Preußen die Erlaubnis zu<br />
Differential- und Integralrechnung im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
ausdrücklich entzogen. Heute überwiegen<br />
die guten Gründe <strong>für</strong> Analysis. Aber welche<br />
sind das? – traditionell und/o<strong>der</strong> aktuell bzw.<br />
in (naher) Zukunft?<br />
Auf den Tagungen des Arbeitskreises wurden<br />
immer wie<strong>der</strong> konkrete Vorschläge <strong>für</strong> engagierten<br />
Analysisunterricht von engagierten Lehrpersonen<br />
gemacht. Die Ambitioniertheit dieser Vorschläge<br />
korrelierte mit den wachsenden Möglichkeiten<br />
– schneller, höher, weiter, bunter – <strong>der</strong> singulär<br />
o<strong>der</strong> idealerweise auch in <strong>der</strong> Breite (theoretisch)<br />
verfügbaren Neuen Medien (und Werkzeuge).<br />
Es liegt aber lei<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Hand, dass dies<br />
kein repräsentatives Bild des tatsächlichen Analysisunterrichts<br />
im Land zeichnet, und eine Theoriebildung<br />
steht noch aus.<br />
Analysisunterricht orientierte sich immer auch<br />
an zeitgeistigen Strömungen des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
allgemein, etwa den graphischen Darstellungen,<br />
den Visualisierungen zur Zeit <strong>der</strong> Reformpädagogik,<br />
die wir heute vermehrt wie<strong>der</strong><br />
finden, o<strong>der</strong> später dem ver- wenn nicht gar überschärften<br />
Aufmarsch aller Epsilons zur Zeit des<br />
Bourbakismus, den wie<strong>der</strong>um einige heute vermissen.<br />
Welchen Analysisunterricht verdienen unsere<br />
jetzige und zukünftige Zeit und unsere jetzigen<br />
und zukünftigen Schülerinnen und Schüler?<br />
Neue Medien (und Werkzeuge) haben unstrittig<br />
die Darstellungsmöglichkeiten und das Methodenrepertoire<br />
vergrößert. Aber welche inhaltlichen<br />
Konsequenzen for<strong>der</strong>n sie? Keine? Können<br />
wir unsere Analysis heute endlich so unterrichten<br />
wie wir eigentlichen schon immer wollten?<br />
– „Neue Wege zu alten Zielen“? O<strong>der</strong> müssen<br />
wir dem Computer Rechnung tragen und diskreten<br />
Modellen (zu Lasten kontinuierlicher) breiteren<br />
Raum geben? O<strong>der</strong> geht das alles noch nicht<br />
weit genug? Hat nicht das 20. Jahrhun<strong>der</strong>t in einem<br />
jahrzehntelangen Feldversuch in zahllosen<br />
Variationen gezeigt, dass Analysis <strong>für</strong> „statistisch<br />
normale“ Menschen prinzipiell zu schwer ist, was<br />
Adam Riese ja auch <strong>der</strong> Algebra nachsagte. Aktuelle<br />
Eingangstests an Studienanfängern in <strong>Mathematik</strong><br />
o<strong>der</strong> in Fächern, die <strong>Mathematik</strong> benötigen,<br />
stützen dies unverän<strong>der</strong>t – ebenso wie die späteren<br />
Durchfallquoten. O<strong>der</strong> gibt es empirische Befunde<br />
zu einer Besserung <strong>der</strong> Lage durch die Verfügbarkeit<br />
(und den tatsächlichen Einsatz!) Neuer<br />
Medien (und Werkzeuge)?<br />
43
Anselm Lambert, Saarbrücken, und Ulrich Kortenkamp, Karlsruhe<br />
Vorträge <strong>der</strong> Tagung <strong>2009</strong><br />
Stefanie Anzenhofer Musik mit Funktionsgraphen – Wissen kreativ nutzen<br />
Christine Bescherer Analysis <strong>für</strong> Affen?<br />
Hans-Joachim Brenner Computer im Analysisunterricht <strong>der</strong> Sek II in Thüringen<br />
Bernhard Burgeth Höhere <strong>Mathematik</strong> vernetzend lehren - ein saarländischer Exportschlager?<br />
(Poster)<br />
Joachim Engel Von Daten zur Funktion: Skizzen eines technologiegestützten und<br />
anwendungsorientierten Analysisunterricht<br />
Andreas Fest Werkzeuge <strong>für</strong> das individuelle Lernen in <strong>Mathematik</strong> (mit Marc O.<br />
Zimmermann)<br />
Lutz Führer Verstehen o<strong>der</strong> berechnen? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht<br />
des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts? (Hauptvortrag)<br />
Gilbert Greefrath Mit dem Computer qualitativ arbeiten?<br />
Reinhard Hochmuth eLearning in Schule und Hochschule: Beschreibung eines eLearning-<br />
Experiments zur Entwicklung des Grenzwertbegriffs bei Folgen im<br />
Rahmen <strong>der</strong> Kasseler eVorkurse (mit Pascal Rolf Fischer)<br />
Andrea Hoffkamp Funktionales Denken mit dem Computer unterstützen - Empirische<br />
Untersuchungen im Rahmen des propädeutischen Unterrichts <strong>der</strong><br />
Analysis<br />
Stefan-Harald Kaufmann Funktionen mit dem Computer neu entdecken (mit Michael Riess)<br />
Heiko Knospe <strong>Mathematik</strong> an <strong>der</strong> Schnittstelle zwischen Schule und Hochschule -<br />
Probleme und Perspektiven (Hauptvortrag)<br />
Ulrich Kortenkamp Mathe 2030 - Zukunft denken (Hauptvortrag)<br />
Anselm Lambert Finde x (Poster)<br />
Rolf Monnerjahn Bildkomposition und Zentralperspektive in Dürers MELENCOLIA I<br />
Fritz Nestle Kühe, Kin<strong>der</strong> und Kultusminister(innen)<br />
Reinhard Oldenburg Die Analysis in den Zeiten <strong>der</strong> Computerei<br />
Andreas Pallack Differenzialrechnung mit neuen Medien verstehensorientiert unterrichten<br />
Bodo v. Pape „Geht nicht.“ gibt’s nicht. - Wenn die Schulanalysis in die Bredouille<br />
kommt<br />
Guido Pinkernell „Modellierungsfunktionen entwickeln und validieren - anspruchsvolle<br />
und praxisnahe Aufgabenstellungen mit Technologie“<br />
Roland Schrö<strong>der</strong> Pixel zählen zwecks Flächenberechnung (o<strong>der</strong>: Flächenberechnung<br />
einmal an<strong>der</strong>s)<br />
Hannes Stoppel CAS ist nicht gleich CAS<br />
Markus Vogel Der Computer macht’s möglich - Funktionen als Werkzeug zum Modellieren<br />
von Daten<br />
Hans-Georg Weigand Wozu brauche ich ein Computeralgebra System (CAS), wenn ich<br />
zwei Straßen verbinden soll? – Überlegungen zum (sinnvollen) Einsatz<br />
eines CAS im Analysisunterricht<br />
Antonia Zeimetz Als die Differential- und Integralrechnung verboten wurde<br />
44
• CAS ist nicht gleich CAS<br />
Hannes Stoppel, Gladbeck<br />
Der Einsatz von Computer-Algebra-Systemen<br />
(CAS) im <strong>Mathematik</strong>unterricht regt in <strong>der</strong> <strong>Didaktik</strong><br />
seit Jahren zur Diskussion an. Dies wird<br />
weitgehend allgemein und unabhängig von <strong>der</strong><br />
Art eines CAS betrachtet [vgl. Programm Sinus-<br />
Transfer, 2007]. Ein CAS bietet eine Reihe von<br />
Anwendungsmöglichkeiten, wie in Abb. 9.1 angedeutet.<br />
In Abhängigkeit vom CAS könnten Verbindungen<br />
zwischen den Ästen gezogen werden. Diese<br />
unterscheiden sich teilweise von CAS zu CAS<br />
und sind daher <strong>für</strong> die Unterrichtsplanung, insbeson<strong>der</strong>e<br />
bei zentralen Prüfungen, zu berücksichtigen.<br />
In dem MindMap sind nur übergreifende<br />
Bereiche notiert, in denen sich CAS verwenden<br />
lassen. Wie spätestens im Zentralabitur unter Verwendung<br />
eines CAS auffällt, hängen die Art <strong>der</strong><br />
Lösung o<strong>der</strong> sogar die Lösbarkeit von Aufgaben<br />
von <strong>der</strong> Art des CAS ab [vgl. Greefrath, 2007b;<br />
Greefrath & Mühlenfeld, 2007, S. 31].<br />
Diese Umstände werden anhand von Beispielen<br />
des Zentralabiturs von NRW und allgemeiner<br />
Aufgaben zum Einsatz unterschiedlicher CAS<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht betrachtet. Die Beispiele<br />
werden jeweils <strong>für</strong> drei bis vier CAS beschrieben;<br />
es handelt sich um die mobilen CAS Casio<br />
ClassPad und TI Nspire und die stationären CAS<br />
Maple und die Computeroberfläche des ClassPad.<br />
Die Beispiele stammen aus <strong>der</strong> Analysis und werden<br />
um ein Beispiel <strong>der</strong> Kombinatorik ergänzt.<br />
Beispiel 1. In <strong>der</strong> Aufgabe LK HT 5 CAS 2007 des<br />
Zentralabiturs in NRW 1 ist die folgende Summe zu<br />
berechnen:<br />
<br />
8000<br />
597<br />
∑<br />
i=523<br />
i<br />
<br />
· 0,07 i · 0,93 8000−i ≈ 0,899726<br />
⊲ Auf dem mobilen ClassPad dauert die Berechnung<br />
etwa 30 Sekunden. Das Ergebnis wird in<br />
Form eines komplexen Terms angegeben. Die<br />
ersten Elemente des Ergebnisses sind (<strong>der</strong> Term<br />
ist deutlich länger als hier angegeben):<br />
(2.154176408E − 840 ∗ 8000!)/(7477!∗523!)<br />
+ (1.621423103E − 841 ∗ 8000!)/(7476!∗524!)<br />
+(1.220425991E(−842)∗8000!)/(7475!∗525!)+...<br />
⊲ Der stationäre ClassPad gibt das Ergebnis deutlich<br />
schneller als ein mobiler ClassPad aus. Es<br />
handelt sich hierbei jedoch um das fehlerhafte<br />
Ergebnis „0“.<br />
⊲ Der mobile TI-Nspire gibt nach 19 Sekunden<br />
das Ergebnis „0.899726“ aus.<br />
⊲ Mit Maple ergibt sich das folgende Ergebnis<br />
nach weniger als einer Sekunde<br />
> sum(binomial(8000,x)*(.07)^x<br />
*(.93)^(8000-x), x=523..597);<br />
0.8997264106<br />
Beispiel 2. Im Teil e) <strong>der</strong> Abitur-Aufgabe LK<br />
HT1 CAS <strong>2009</strong> des Zentralabiturs in Nordrhein-<br />
Westfalen ergaben sich bei <strong>der</strong> Arbeit mit verschiedenen<br />
CAS Probleme, die teilweise in <strong>der</strong> Bezeichnung<br />
von Variablen lagen. Hier wird ein Problem<br />
am Aufgabenteil e) gezeigt, in dem die Möglichkeiten<br />
mit unterschiedlichen CAS nicht gleich<br />
sind und nicht jedes CAS zu einem sinnvollen Ergebnis<br />
führt. Ein Teil <strong>der</strong> Aufgabenstellung ist gegeben<br />
durch:<br />
Die Höhe eines Strauches wird in den ersten<br />
zwanzig Jahren nach dem Auspflanzen durch die<br />
Funktion h1 mit<br />
h1(t) = 1<br />
5 e− 1 10 t+ 31<br />
10 , 0 ≤ t < 20<br />
. . .<br />
h2(t) = 2 11<br />
e 10 −<br />
25 1 1<br />
e− 10 t+ 31<br />
10 , t ≥ 20<br />
5<br />
. . .<br />
a<br />
l(t) =<br />
, t ≥ 0<br />
1 + b · e−ct . . .<br />
e) Bestimmen Sie anhand dieser Bedingungen<br />
die Werte <strong>der</strong> Parameter und im Funktionsterm<br />
von l gegebenenfalls in Abhängigkeit von c.<br />
Bei <strong>der</strong> Lösung <strong>der</strong> Aufgabe stößt man auf die Berechnung<br />
<strong>der</strong> Lösungsmenge des in <strong>der</strong> Abb. 9.2<br />
gezeigten LGS.<br />
Abbildung 9.2: Zu lösendes LGS<br />
1 http://www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/abitur-gost/faecher_aufgaben.php<br />
45
Hannes Stoppel, Gladbeck<br />
Lösungen<br />
vorstellen<br />
Aufgaben<br />
stellen<br />
Zufallszahlen<br />
Themen<br />
zusammenfassen<br />
Themen<br />
vorstellen<br />
Mittelwert,<br />
Median<br />
Aufgaben /<br />
Präsentation<br />
Wirtschaftsmathematik<br />
Standardabweichung,<br />
Varianz<br />
Stochastik<br />
und Statistik<br />
DifferentialundIntegralrechnung<br />
Regression<br />
Konstruktionen<br />
Geometrie<br />
CAS<br />
Berechnungen<br />
Funktionen<br />
geometrische<br />
Zusammenhänge<br />
Addition,<br />
Multiplikation,<br />
. . .<br />
Programmiersprache<br />
LGS, Matrizen,<br />
. . .<br />
Graphen<br />
Tabellenkalkulation<br />
komplexe<br />
Verfahren<br />
Algorithmen<br />
Abbildung 9.1: Mindmap zu Anwendungsmöglichkeiten eines CAS<br />
⊲ In <strong>der</strong> Lösungsmenge des ClassPad werden drei<br />
Lösungen ausgegeben. Die Terme <strong>der</strong> Lösungsmenge<br />
sind so groß, dass die Lösung (Abb. 9.3)<br />
unübersichtlich ist. Es kann nur b = 0 sein. Daher<br />
ist (nach langer Rechnung) nur die Lösung<br />
a = 2h1(20) und b = 2,71828182845904 20c<br />
richtig. Hier ist zu erkennen, dass b = e 20c gilt.<br />
Der ClassPad berechnet hieraus den Grenzwert<br />
x → ∞ unter <strong>der</strong> Nebenbedingung c > 0.<br />
⊲ Mit Maple lässt sich die Lösungsmenge des<br />
LGS problemlos bestimmen. Die Ausgabe <strong>der</strong><br />
Terme findet sich in Abb. 9.4:<br />
Abbildung 9.4: Ergebnis von Maple <strong>für</strong> Beispiel 2<br />
46<br />
Da b = 0 ist, kommt die zweite Lösung in Frage.<br />
Daher kann man definieren und berechnen:<br />
2D<br />
3D<br />
Messreihen<br />
aufnehmen<br />
Datensätze<br />
auswerten<br />
Datenerhebungen<br />
> a := 1/5*exp(11/10)*(e^(-c*x)<br />
+e^(-20*c))/e^(-c*x):<br />
> b := 1/e^(-c*x):<br />
> l2 := x -> l(x):<br />
Auch hier führt die einfache Berechnung des<br />
Grenzwertes <strong>für</strong> x → ∞ zu einem <strong>für</strong> Schülerinnen<br />
und Schüler unübersichtlichen Ergebnis.<br />
> limit(l2(x), x=infinity);|<br />
Abbildung 9.5: Berechnung des Grenzwerts mit<br />
Maple<br />
Die Schülerinnen und Schüler müssen den<br />
Grenzwert daher ohne CAS berechnen.
CAS ist nicht gleich CAS<br />
{{a = 0.1 · 2.71828182845904 −c·x−20·c · (2.71828182845904 c·x+20·c+1.1 + 2.71828182845904 2·c·x+1.1<br />
−(2.71828182845904 4·c·x+2.2 + 2 · 2.71828182845904 3·c·x+20·c+2.2 + 2.71828182845904 2·c·x+40·c+2.2 ) 0.5 ),<br />
b = 0.5 · 2.71828182845904 c·x − 0.5 · 2.71828182845904 −c·x−1.1 · (2.71828182845904 4·c·x+2.2<br />
+2 · 2.71828182845904 3·c·x+20·c+2.2 + 2.71828182845904 2·c·x+40·c+2.2 ) 0.5 − 0.5 · 2.71828182845904 20·c },<br />
{a = 0.600833204789286,b = 0},<br />
{a = 0.1 · 2.71828182845904 −c·x−20·c · (2.71828182845904 c·x+20·c+1.1 + 2.71828182845904 2·c·x+1.1 +<br />
(2.71828182845904 4·c·x+2.2 + 2 · 2.71828182845904 3·c·x+20·c+2.2 + 2.71828182845904 2·c·x+40·c+2.2 ) 0.5 ),<br />
b = 0.5 · 2.71828182845904 c·x + 0.5 · 2.71828182845904 −c·x−1.1 · (2.71828182845904 4·c·x+2.2<br />
+2 · 2.71828182845904 3·c·x+20·c+2.2 + 2.71828182845904 2·c·x+40·c+2.2 ) 0 .5 − 0.5 · 2.71828182845904 20·c }}<br />
⊲ Die Lösung des Gleichungssystems lässt sich<br />
mithilfe des Nspire bestimmen. Auch hier ist<br />
die Lösung unübersichtlich:<br />
b=e^(c*x) and a=0 or b=e^(piecewise(<br />
(10*ln(5*a-e^(11/10))+200*c-11)/<br />
(10*c),(5*a-e^(11/10))*e^(20*c)>0)*c) and<br />
x=piecewise((10*ln(5*a-e^(11/10))+<br />
200*c-11)/(10*c),(5*a-e^(11/10))*<br />
e^(20*c)>0) and e^(piecewise((10*<br />
ln(5*a-e^(11/10))+200*c-11)/(10*c),<br />
(5*a-e^(11/10))*e^(20*c)>0)*c)+e^(20*c) =0<br />
or b=c1 and e^(c*x)+c1=0 and a=0 and<br />
e^(20*c)+c1=0 or b=0 and a=0 or b=0 and<br />
a=e^(11/10)/5<br />
Hieraus ergibt sich die Lösung analog zur Lösung<br />
mit dem ClassPad. Jetzt lässt sich die<br />
Funktion l2 definieren. Hierbei ergibt sich mit<br />
keinem <strong>der</strong> CAS eine Fehlermeldung. Der Limes<br />
lim<br />
x→∞ l2(x), c > 0<br />
von 2 11<br />
5e 10 lässt sich, an<strong>der</strong>s als mit dem Class-<br />
Pad o<strong>der</strong> Maple, mit <strong>der</strong> Option c > 0 bilden.<br />
In diesem Beispiel ist erkennbar, dass bei <strong>der</strong> Lösung<br />
von Aufgaben mit unterschiedlichen CAS<br />
vereinzelt Probleme – teilweise jedoch in Abhängigkeit<br />
von dem CAS – auftreten.<br />
Beispiel 3. Im Aufgabenteil b) <strong>der</strong> Aufgabe LK<br />
HT 4 CAS 2007 des Zentralabiturs in NRW ist die<br />
Lösungsmenge <strong>für</strong> das folgende LGS in Verbindung<br />
zu <strong>der</strong> Funktion B und ihrer ersten Ableitung<br />
B ′ mit B(x) = k·evt−wt2 zu bestimmen: B(0) = 375,<br />
B(7) = 705 und B ′ (45) = 0.<br />
⊲ Die Bestimmung <strong>der</strong> Lösungsmenge des LGS<br />
mit dem mobilen ClassPad dauert 1 min 16<br />
sek. Hier werden vorteilhaft keine numerischen<br />
Näherungen son<strong>der</strong>n exakte Werte ausgegeben.<br />
Auch dies ist jedoch möglich, wie die letzte<br />
Zeile in Abb. 9.6 zeigt<br />
Abbildung 9.3: Ergebnis des ClassPad <strong>für</strong> Beispiel 2<br />
Abbildung 9.6: Berechnung auf dem mobilen<br />
ClassPad<br />
⊲ Mit dem TI-Nspire kann die Berechnung wie in<br />
Abb. 9.7 sichtbar durchgeführt werden. Die Berechnung<br />
dauert etwa 1 Sekunde. Das Ergebnis<br />
wird in Form eines Terms angegeben.<br />
Abbildung 9.7: Berechnung auf dem TI-Nspire<br />
⊲ Mit Maple taucht ein Problem bei <strong>der</strong> Lösung<br />
des LGS auf. Man erhält eine Fehlermeldung<br />
bei <strong>der</strong> Verwendung <strong>der</strong> Ableitung:<br />
47
Hannes Stoppel, Gladbeck<br />
> B := t -> k*exp(v*t-w*t^2):<br />
> B1 := t -> diff(B(t),t):<br />
> solve({B(0)=375, B(7)=705,<br />
B1(45)=0}, {k, v, w});<br />
ergibt<br />
Error, (in B1) invalid input:<br />
diff received 45, which is<br />
not valid for its 2nd argument<br />
Bei den Berechnungen mithilfe des zuvor eingegebenen<br />
Funktionsterms (nicht <strong>der</strong> Ableitungsfunktion)<br />
gibt Maple die Lösung unmittelbar<br />
nach <strong>der</strong> Eingabe aus (Abb. 9.8).<br />
> B1 := t -> k*(v-2*w*t)*<br />
exp(v*t-w*t^2):<br />
> solve({B(0)=375, B(7)=705,<br />
B1(45)=0}, {k, v, w});<br />
Abbildung 9.8: Korrekte Lösung mit Maple<br />
Beispiel 4. Bei Berechnungen an verketteten<br />
Funktionen können bei unterschiedlichen CAS<br />
auch unterschiedliche Ergebnisse auftreten. Dies<br />
wird <strong>der</strong> Berechnung <strong>der</strong> √ ersten Ableitung <strong>der</strong><br />
(x2−3) Funktion f mit f (x) = e geschil<strong>der</strong>t.<br />
⊲ Der ClassPad und Maple geben korrekte Ergeb-<br />
nisse x·e<br />
√<br />
x2−3 √ aus.<br />
x2−3 ⊲ Der Nspire führte zweimal zu unterschiedlichen<br />
Ergebnissen, wie in den folgenden Abbildungen<br />
zu sehen ist. Hier ist nicht erkennbar,<br />
warum ein Fehler aufgetreten ist.<br />
48<br />
Abbildung 9.9: Kein reelles Ergebnis mit y<br />
2 http://www.kmk.org/presse-und-aktuelles/pm<strong>2009</strong>.html<br />
Fazit<br />
Abbildung 9.10: Korrekte Lösung mit x<br />
Seit einiger Zeit wird über den Einsatz von CAS<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht diskutiert. Dabei gab es<br />
zahlreiche unterschiedliche Ideen, die dem <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
neue Fenster öffnen, und es ist erkennbar,<br />
dass <strong>der</strong> Einsatz eines CAS im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
sinnvoll sein kann; <strong>für</strong> Beispiele vgl.<br />
Heinrich [2007].<br />
Die Art <strong>der</strong> Umsetzung verschiedener Ideen<br />
des Einbaus von CAS in den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
ist z. Teil von <strong>der</strong> Wahl des CAS abhängig.<br />
Die Lösungswege können sich von CAS zu CAS<br />
unterscheiden und mit unterschiedlichem Zeitaufwand<br />
verbunden sein. Einige Aufgaben sind nur<br />
mit bestimmten CAS möglich. Hier müssen sich<br />
allgemeine Konzepte finden und Aufgaben stellen<br />
lassen, die den CAS-Einsatz för<strong>der</strong>n (nicht nur<br />
for<strong>der</strong>n), <strong>der</strong>en Lösungen mit unterschiedlichen<br />
CAS vom gleichen Schwierigkeitsgrad sind [vgl.<br />
Heinrich, 2007; Greefrath, 2007a].<br />
Sollte <strong>der</strong> Einsatz von CAS auf den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
ohne zugehörige zentrale Abschlussprüfrungen<br />
beschränkt werden? Hier stellt sich jedoch<br />
die Frage, ob unter diesen Bedingungen <strong>der</strong><br />
Medieneinsatz im Unterricht überhaupt stattfindet.<br />
Nach <strong>der</strong> KMK 2 ist <strong>der</strong> Medieneinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
durchzuführen. Über den Umfang<br />
und die Art des Einsatzes gibt es hier keine<br />
exakte Aussage. Bei <strong>der</strong> Formulierung von Vorschriften<br />
bzgl. des Einsatzes von Computeralgebrasystemen<br />
sollte man sich <strong>der</strong> Tatsache „CAS<br />
= CAS“ stellen.<br />
Literatur<br />
Greefrath, Gilbert (2007a): Computeralgebrasysteme und Prüfungen.<br />
In: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht 2007. Vorträge<br />
auf <strong>der</strong> 41. Tagung <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>, Franzbecker,<br />
55–58.<br />
Greefrath, Gilbert (2007b): Einsatz unterschiedlicher CAS in<br />
zentralen Prüfungen. In: Fothe, Michael & Gilbert Greefrath<br />
(Hg.): <strong>Mathematik</strong>unterricht mit digitalen Medien und Werkzeugen.<br />
Unterricht, Prüfungen und Evaluation: Bericht von <strong>der</strong>
CASIO-Veranstaltung „Round Table“ vom 13. bis 14. April in<br />
Hamburg, Münster: Monsenstein und Vannerdat.<br />
Greefrath, Gilbert & Udo Mühlenfeld (2007): Realitätsbezogene<br />
Aufgaben <strong>für</strong> die Sekundarstufe II. Bildungsverlag EINS.<br />
Heinrich, Rainer (2007): Grafikfähige Taschencomputer in<br />
zentralen Prüfungen – Chancen und Risiken. In: Beiträge zum<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht 2007. Vorträge auf <strong>der</strong> 41. Tagung <strong>für</strong><br />
<strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>, Hildesheim: Franzbecker, 86–89.<br />
CAS ist nicht gleich CAS<br />
Pallack, Andreas (2007): Die gute CAS-Aufgabe <strong>für</strong> die Prüfung.<br />
In: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht 2007. Vorträge<br />
auf <strong>der</strong> 41. Tagung <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>, Hildesheim:<br />
Franzbecker, 90–93.<br />
Programm Sinus-Transfer (2007): Impulse <strong>für</strong> den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
in <strong>der</strong> Oberstufe. Konzepte und Materialien aus<br />
dem Modellversuch. Stuttgart: Klett.<br />
49
Hannes Stoppel, Gladbeck<br />
50
• Funktionales Denken mit dem Computer unterstützen –<br />
Empirische Untersuchungen im Rahmen des propädeutischen<br />
Unterrichts <strong>der</strong> Analysis<br />
Andrea Hoffkamp, Berlin<br />
„Funktionales Denken beginnt bei intuitiven Vorstellungen über funktionale Zusammenhänge wie<br />
‚Wenn man die eine Größe än<strong>der</strong>t, dann än<strong>der</strong>t sich die an<strong>der</strong>e‘ o<strong>der</strong> ‚Je mehr. . . , desto mehr‘, und<br />
es ist voll entwickelt bei Denkweisen <strong>der</strong> Analysis“ [Vollrath, 1989]<br />
Die Realität ist aber ein kalkülorientierter Analysisunterricht mit wenig inhaltlichen Vorstellungen.<br />
Deswegen plädieren viele <strong>Didaktik</strong>er <strong>für</strong> einen qualitativen Zugang zur Differential- und Integralrechnung<br />
– eine For<strong>der</strong>ung die schon seit 100 Jahren besteht [Krüger, 2000]. Interaktivexperimentelle<br />
Computernutzung ermöglicht durch visuelle Dynamisierung mathematischer Objekte<br />
die Akzentuierung <strong>der</strong> dynamischen Komponente funktionalen Denkens. Basierend auf Gestaltungsprinzipien,<br />
die auf die dynamische Komponente und die Objektsicht funktionaler Abhängigkeiten<br />
zielen, wurden drei interaktive Lernumgebungen entwickelt und in Klasse 10 im Hinblick auf<br />
einen qualitativen Einstieg in die Schulanalysis im Rahmen einer qualitativen Studie eingesetzt. Eine<br />
<strong>der</strong> Lernumgebungen, die zugrunde liegenden Ideen, sowie erste Ergebnisse <strong>der</strong> Studie werden im<br />
Folgenden dargestellt.<br />
1 Funktionales Denken und<br />
Analysispropädeutik<br />
In <strong>der</strong> Meraner Reform (1905) wurde die ‚Erziehung<br />
zum funktionalen Denken‘ als Son<strong>der</strong>aufgabe<br />
herausgestellt. Gefor<strong>der</strong>t wurde, das Denken<br />
in Variationen und funktionalen Abhängigkeiten<br />
gebietsübergreifend einzuüben und zu flexibilisieren.<br />
Dabei ging es insbeson<strong>der</strong>e um den Blick auf<br />
Bewegung und Verän<strong>der</strong>lichkeit. Die Differentialund<br />
Integralrechnung, die im Zuge <strong>der</strong> Meraner<br />
Reform Einzug in die Lehrpläne gefunden hat,<br />
sollte nicht aufgesetzter Zusatzstoff, son<strong>der</strong>n Höhepunkt<br />
in einem organisch aufgebauten <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
sein. In diesem Sinne kann die<br />
‚Erziehung zum funktionalen Denken‘ als Propädeutik<br />
zur Differential- und Integralrechnung gesehen<br />
werden, in <strong>der</strong> es darum geht Funktionen<br />
als Ganzes im Zusammenhang zu sehen und Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />
mit Mitteln <strong>der</strong> Analysis zu untersuchen<br />
[Krüger, 2000].<br />
Vollrath [1989] unterscheidet drei Aspekte<br />
funktionaler Abhängigkeiten: Zuordnungsaspekt<br />
(statische o<strong>der</strong> punktweise Sicht), Aspekt <strong>der</strong><br />
Än<strong>der</strong>ung (dynamische Sicht) und Objektaspekt<br />
(Sicht auf Funktion als Ganzes). Än<strong>der</strong>ungsaspekt<br />
und Objektaspekt kommen dabei dem Meraner<br />
Begriff am nächsten. Diese Aspekte lassen sich<br />
aber nur theoretisch trennen. Tatsächlich hängen<br />
sie eng zusammen. Will man beispielsweise eine<br />
globale Objekteigenschaft wie ‚Monotonie‘ beschreiben,<br />
so benutzt man die ‚Sprache des Än<strong>der</strong>ungsaspektes‘:<br />
Ist x ≤ y, so auch f (x) ≤ f (y) <strong>für</strong><br />
alle x,y. Die Beschreibung von Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />
geht damit einher, dass man die Funktion lokal<br />
als Objekt betrachtet.<br />
Gerade die beiden letztgenannten Aspekte bereiten<br />
Schülerinnen und Schülern Schwierigkei-<br />
ten. Das äußert sich beispielsweise darin, dass<br />
Funktionsgraphen als fotographische Bil<strong>der</strong> von<br />
Realsituationen gesehen werden (Graph-als-Bild-<br />
Fehler).<br />
Abbildung 10.1 zeigt ein Beispiel aus einem<br />
Test zu Funktionen/funktionalem Denken mit Anfängerstudentinnen<br />
und -studenten <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />
an <strong>der</strong> TU Berlin, aus dem die Ideen <strong>für</strong> die<br />
in Abschnitt 2 beschriebene Lernumgebung entstanden<br />
sind. Die Studentin hat zunächst den Graphen<br />
ganz rechts angekreuzt, was als typischer<br />
Graph-als-Bild Fehler gewertet werden könnte.<br />
Dann kreuzt sie den Graphen ganz links an und<br />
verwendet <strong>für</strong> ihre Lösung Konzepte <strong>der</strong> Analysis<br />
(Integration), indem sie das Dreieck als stückweise<br />
lineare Funktion interpretiert und argumentiert,<br />
dass <strong>der</strong> Flächeninhaltsgraph quadratisch<br />
sein muss, weswegen <strong>der</strong> Graph ganz rechts ausgeschlossen<br />
ist. Hätte sie eine dynamische Sicht<br />
auf den funktionalen Zusammenhang, so hätte sie<br />
wenigstens die Monotonie erkannt. Mathematisch<br />
steckt hier <strong>der</strong> Hauptsatz <strong>der</strong> Differential- und Integralrechnung<br />
dahinter. Das Dreieck – als stückweise<br />
lineare Funktion interpretiert – ist gerade<br />
die Ableitung <strong>der</strong> Flächeninhaltsfunktion. Wird<br />
<strong>der</strong> Punkt C überschritten, so än<strong>der</strong>t sich die Qualität<br />
des Wachstums – es liegt eine Wendestelle<br />
vor.<br />
Ein oft beschriebenes Problem <strong>der</strong> Schulanalysis<br />
ist <strong>der</strong>en Kalkülorientierung, die oft losgelöst<br />
ist von inhaltlichen Vorstellungen. Viele <strong>Didaktik</strong>er<br />
plädieren deswegen <strong>für</strong> eine stärkere Gewichtung<br />
<strong>der</strong> qualitativen Anfänge <strong>der</strong> Analysis [Hahn<br />
& Prediger, <strong>2008</strong>; Stellmacher, 1986, u.v.a.].<br />
Für den Ansatz dieser Arbeit wird funktionales<br />
Denken – angelehnt an den Begriff aus <strong>der</strong> Meraner<br />
Reform – als Propädeutik zur Differentialund<br />
Integralrechnung gesehen. Die interaktiven<br />
51
Andrea Hoffkamp, Berlin<br />
Abbildung 10.1: Lösung einer <strong>Mathematik</strong>studentin zur Aufgabe: ‚Die gestrichelte Linie wird vom Punkte<br />
A um die Entfernung x nach rechts gezogen. Der Wert F(x) gibt die Größe <strong>der</strong> grau unterlegten Fläche an.<br />
Welcher Graph passt? ‘<br />
Lernumgebungen sind als Ansatz zu verstehen,<br />
<strong>der</strong> zu einem qualitativen Einstieg in die Analysis<br />
beiträgt, bevor das Kalkül entwickelt wird.<br />
2 Computernutzung – Grundideen<br />
und Gestaltungsleitlinien<br />
Basierend auf <strong>der</strong> DGS Cin<strong>der</strong>ella [Richter-<br />
Gebert & Kortenkamp, 2006] wurden im Zusammenhang<br />
mit Analysispropädeutik drei interaktive<br />
Lernumgebungen entwickelt, die zusammen<br />
mit Lehrmaterial unter Hoffkamp [<strong>2009</strong>c]<br />
frei zugänglich sind. Zur Nutzung <strong>der</strong> Lernumgebungen<br />
genügt ein Standardinternetbrowser. Spezielles<br />
Wissen zur Funktionsweise <strong>der</strong> Software<br />
ist nicht nötig (geringer technischer Overhead).<br />
Anhand einer <strong>der</strong> Lernumgebungen werden die<br />
Grundideen und Gestaltungsleitlinien im Folgenden<br />
dargestellt.<br />
Grundidee ist eine interaktiv-experimentelle<br />
Computernutzung mit dem Ziel die dynamische<br />
Komponente funktionalen Denkens hervorzuheben<br />
und inhaltliche Vorstellungen im Hinblick<br />
auf Propädeutik zur Differential- und Integralrechnung<br />
zu entwickeln. Abbildung 10.2 zeigt die<br />
Lernumgebung „Dreiecksfläche“. Hier sollen die<br />
Schülerinnen und Schüler den funktionalen Zusammenhang<br />
zwischen dem Abstand A − D und<br />
dem Flächeninhalt des dunkelblauen Flächenanteils<br />
dynamisch erkunden. Das Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />
soll charakterisiert werden. Die Wendestelle<br />
soll als Stelle, an <strong>der</strong> sich die Qualität des Wachstums<br />
verän<strong>der</strong>t, wahrgenommen werden. Wie in<br />
Abschnitt 1 beschrieben handelt es sich hierbei<br />
um eine dynamische Visualisierung des Hauptsatzes<br />
<strong>der</strong> Differential- und Integralrechnung. Inter-<br />
52<br />
pretiert man das Dreieck als stückweise lineare<br />
Funktion, so wird <strong>der</strong> Zusammenhang zwischen<br />
Bestandsgraph und Än<strong>der</strong>ungsgraph dargestellt.<br />
Die Wendestelle ist insbeson<strong>der</strong>e als Maximum<br />
<strong>der</strong> Ableitung sichtbar. Da die Ableitung im Maximum<br />
nicht differenzierbar ist, kann die Wendestelle<br />
nicht mit dem Kalkül gefunden werden.<br />
Folgende Gestaltungsleitlinien liegen allen<br />
drei Lernumgebungen zugrunde [siehe auch Hoffkamp,<br />
<strong>2009</strong>a,b]:<br />
Verknüpfung Situation – Graph:<br />
Anknüpfend an inhaltlichen Vorstellungen ist <strong>der</strong><br />
Ausgangspunkt ein funktionaler Zusammenhang<br />
innerhalb einer Situation und <strong>der</strong>en dynamische<br />
Verknüpfung mit <strong>der</strong> Darstellungsform Graph.<br />
Die graphische Darstellung wurde gewählt, weil<br />
sie sich beson<strong>der</strong>s auf die dynamische Komponente<br />
funktionalen Denkens bezieht und die gesamte<br />
Information, wie lokale und globale Funktionseigenschaften<br />
„auf einen Blick“ enthält.<br />
Zwei Variationsstufen:<br />
Die Bewegung des Punktes D erlaubt Variation innerhalb<br />
<strong>der</strong> Situation. Der Än<strong>der</strong>ungsaspekt wird<br />
dadurch simultan in den Darstellungsformen Situation<br />
und Graph visualisiert. Monotonie <strong>der</strong> Flächeninhaltsfunktion<br />
äußert sich darin, dass ‚immer<br />
mehr blau dazukommt ‘.<br />
Die Charakteristik <strong>der</strong> Wendestelle lässt sich<br />
inhaltlich beispielsweise beschreiben durch: ‚Vor<br />
dieser Stelle wächst <strong>der</strong> hinzuzuaddierende Flächeninhalt<br />
und danach sinkt er‘.<br />
Die zweite Variationsstufe – genannt Metavariation<br />
– erlaubt nun durch Bewegung <strong>der</strong> Punk-
Funktionales Denken mit dem Computer unterstützen<br />
Abbildung 10.2: Screenshot <strong>der</strong> interaktiven Lernumgebung „Dreiecksfläche“. Beweglich sind die Punkte<br />
B,C,D.<br />
te B und C das Än<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Situation und somit<br />
das Än<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Funktion als Ganzes (Abbildung<br />
10.3).<br />
Somit bezieht sich Metavariation insbeson<strong>der</strong>e<br />
auf den Objektaspekt, indem sie das Argument<br />
des Integraloperators, also <strong>der</strong> Metafunktion,<br />
die <strong>der</strong> Situation den Flächeninhaltsgraphen<br />
zuordnet, variiert. Metavariation erzwingt eine<br />
Loslösung von konkreten Werten und damit eine<br />
Hinwendung zu qualitativen Betrachtungsweisen.<br />
Insbeson<strong>der</strong>e werden auffällige Charakteristika<br />
<strong>der</strong> Flächeninhaltsfunktion hervorgehoben:<br />
Monotonie ist invariant unter Metavariation, die<br />
Existenz <strong>der</strong> Wendestelle ist ‚beinahe invariant‘.<br />
Auch Begriffe wie ‚konvex‘ und ‚konkav‘ und <strong>der</strong>en<br />
inhaltlich-qualitative Unterscheidung tauchen<br />
auf.<br />
Abbildung 10.3: Metavariation<br />
Sprache als Vermittler: Die Schülerinnen und<br />
Schüler sind stets aufgefor<strong>der</strong>t ihre Beobach-<br />
tungen zu verbalisieren und auf einem dazugehörigen<br />
Arbeitsbogen zu notieren. Schon Janvier<br />
[1978] wies auf die Rolle <strong>der</strong> Sprache als<br />
Vermittler zwischen den Darstellungen und den<br />
Vorstellungen <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler hin.<br />
Sprache hat hier sowohl kognitive als auch kooperative<br />
Funktion.<br />
Kontiguität: Dies meint räumliche und zeitliche<br />
Nähe von sich aufeinan<strong>der</strong> beziehenden Darstellungsformen.<br />
Insbeson<strong>der</strong>e ist die Tatsache,<br />
dass Bewegung genau dort geschieht, wo mit <strong>der</strong><br />
Maus agiert wird, hervorzuheben. Dadurch wurde<br />
eine beson<strong>der</strong>s integrative visuelle Darstellung<br />
erreicht.<br />
Praktikabilität: Die Lernumgebungen sind im<br />
Hinblick auf Nutzbarkeit im Unterricht entworfen.<br />
Sie eignen sich jeweils <strong>für</strong> eine Doppelstunde<br />
und können wegen des geringen technischen<br />
Overheads ohne Einarbeitungszeit genutzt werden.<br />
3 Forschungsfragen und<br />
Studiendesign<br />
Folgenden Forschungsfragen wurde im Rahmen<br />
einer qualitativen Studie nachgegangen:<br />
⊲ Welche Vorstellungen und Begriffe im Hinblick<br />
auf eine dynamische Sicht funktionaler<br />
Abhängigkeiten werden bei <strong>der</strong> Arbeit mit<br />
den Lernumgebungen entwickelt, wenn es um<br />
die qualitative Beschreibung lokaler und globa-<br />
53
Andrea Hoffkamp, Berlin<br />
ler Funktionseigenschaften (wie Extrema, Wendestellen,<br />
Monotonie, Steigung, nicht-lineares<br />
Wachstum) geht?<br />
⊲ Wie sehen die Interaktionsprozesse<br />
(Mensch–Mensch, Mensch–Computer) aus und<br />
welche Rolle spielen dabei die Möglichkeiten<br />
<strong>der</strong> Applikationen (Variation, Metavariation)?<br />
⊲ Welche epistemologischen Denkhürden sind erkennbar?<br />
Lerntheoretisch werden diese Fragen unter<br />
dem Conceptual-Change-Ansatz [Vosniadou &<br />
Vamvakoussi, 2006; Hahn & Prediger, <strong>2008</strong>] betrachtet.<br />
Im Lichte dieses Ansatzes bedeutet ein<br />
Graph-als-Bild-Fehler (siehe Abschnitt 1) eine<br />
Aktivierung einer nicht-situationsadäquaten Vorstellung.<br />
Im Sinne eines Conceptual-Change geht<br />
es um den Aufbau geeigneter Vorstellungen mit<br />
dem Ziel, dass die Kontexte, in denen gewisse<br />
Vorstellungen aktiviert werden, verschoben werden.<br />
Epistemologische Hürden, also Denkhürden,<br />
die in einem konstruktivistischen Lernprozess<br />
überwunden werden müssen, sind wichtige Momente<br />
beim Lernen. In <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit diesen Hürden liegt oft <strong>der</strong> Schlüssel <strong>für</strong> eine<br />
Erweiterung <strong>der</strong> Sicht auf mathematische Konzepte.<br />
In Sierpinska [1992] werden einige typische<br />
Hürden im Zusammenhang mit dem Funktionsbegriff<br />
identifiziert und beschrieben.<br />
Studiendesign<br />
Insgesamt wurden drei Lernumgebungen [Hoffkamp,<br />
<strong>2009</strong>c] in zwei zehnten Klassen an verschiedenen<br />
Berliner Gymnasien eingesetzt. Der<br />
zeitliche Rahmen bestand jeweils aus drei Doppelstunden<br />
plus einer Einzelstunde. Die Schülerinnen<br />
und Schüler arbeiteten in Zweiergruppen<br />
zunächst eigenständig mit <strong>der</strong> Lernumgebung. Die<br />
dabei formulierten Beobachtungen wurden in einem<br />
nachfolgendem Unterrichtsgespräch diskutiert.<br />
Pro Lernumgebung wurden vier Schülerpaare<br />
(zwei Paare pro Klasse) videographiert, und<br />
<strong>der</strong>en Gespräche und Bildschirmaktionen aufgezeichnet.<br />
Die Unterrichtsgespräche wurden ebenfalls<br />
auf Video festgehalten.<br />
Weiteres Auswertungsmaterial liegt in Form<br />
<strong>der</strong> bearbeiteten Arbeitsbögen, eines kurzen Tests<br />
und eines Fragebogens vor.<br />
4 Auswertung und ausgewählte<br />
Ergebnisse<br />
4.1 Auswertungsverfahren<br />
Hauptauswertungsmaterial sind die Videos <strong>der</strong><br />
Schülerpaare am Computer. Zunächst wurde von<br />
jedem Video ein Rohdokument angefertigt. Die<br />
Rohdokumente sind Tabellen mit folgenden Spalten:<br />
Zeit, Paraphrase, Computeraktion, Rohtran-<br />
54<br />
skript, erste Deutungen.<br />
Auf Grundlage <strong>der</strong> Rohdokumente wurden<br />
Episoden zur Transkription ausgewählt. Der<br />
Schwerpunkt liegt auf Episoden, in denen es um<br />
die Bearbeitung <strong>der</strong> Fragen Warum hat <strong>der</strong> Graph<br />
diese Gestalt? und Was geschieht o<strong>der</strong> än<strong>der</strong>t sich<br />
am schwarzen Punkt über C? geht.<br />
Zur Deutung und Analyse wurden auch die<br />
Formulierungen auf den Arbeitsbögen herangezogen.<br />
Die Auswertung orientiert sich an den Grundsätzen<br />
<strong>der</strong> interpretativen Unterrichtsforschung<br />
[Maier & Voigt, 1991]. Lehren und Lernen von<br />
<strong>Mathematik</strong> werden als Momente eines sozialen<br />
Prozesses gesehen, in dem mathematische Bedeutung<br />
aktiv konstruiert wird. Ziel ist die Re-<br />
Konstruktion <strong>der</strong> Bedeutung aus Texten (hier:<br />
Transkripte, Arbeitsbögen). Theoretisch ist dies<br />
gebunden an den Conceptual-Change-Ansatz.<br />
4.2 Ausgewählte Ergebnisse<br />
Eine Hauptschwierigkeit ist die inhaltliche und<br />
begriffliche Trennung zwischen Bestand und Än<strong>der</strong>ung.<br />
Die Än<strong>der</strong>ung des Flächeninhalts abhängig<br />
vom Abstand A − D muss dabei sowohl in<br />
<strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Situation (Zuwachs an Flächeninhalt)<br />
als auch in <strong>der</strong> Sprache des Funktionsgraphen<br />
(Steigung in einem Punkt) gefasst werden.<br />
Darüber hinaus müssen die beiden Repräsentationen<br />
Situation–Graph verbunden werden.<br />
Die Diskussionen <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler<br />
sind geprägt von einem häufigen Wechsel<br />
zwischen Bestands- und Än<strong>der</strong>ungssicht und<br />
dem gleichzeitigen begrifflichen und gedanklichen<br />
Ringen um Bestand und Än<strong>der</strong>ung. Das hat<br />
damit zu tun, dass <strong>der</strong> Ableitungsgraph (Dreieck<br />
als stückweise lineare Funktion) ja tatsächlich<br />
sichtbar ist. Die Än<strong>der</strong>ung (z.B. das Abnehmen<br />
<strong>der</strong> Steigung nach Überschreiten <strong>der</strong> Wendestelle)<br />
ist als Bestand im Ableitungsgraphen zu sehen,<br />
<strong>der</strong> ab <strong>der</strong> Wendestelle monoton sinkt. Mit<br />
an<strong>der</strong>en Worten: Der Bestand <strong>der</strong> Ableitungsfunktion<br />
spiegelt gerade die Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Bestandsfunktion<br />
wi<strong>der</strong>. In <strong>der</strong> Lernumgebung sind genau<br />
diese Ebenen dynamisch visualisiert und verbunden.<br />
Hahn & Prediger [<strong>2008</strong>, S. 177] beschreiben<br />
dies als Ebenen- und Aspektwechsel: Der Aspekt<br />
<strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung auf Ebene <strong>der</strong> Funktion f entspricht<br />
dem Zuordnungsaspekt auf Ebene <strong>der</strong> Ableitungsfunktion<br />
f ′ .<br />
Abbildung 10.4 zeigt in diesem Zusammenhang<br />
einen kleinen Ausschnitt eines Transkriptes<br />
einer längeren Diskussion zweier Schülerinnen.<br />
Der Diskussion geht voraus, dass S1 <strong>der</strong> Ansicht<br />
ist, dass <strong>der</strong> Flächeninhaltsgraph nach Überschreiten<br />
<strong>der</strong> Wendestelle sinkt, aber S2 damit nicht einverstanden<br />
ist. Schließlich schaltet sich ein Mitschüler<br />
(J) aus <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>en Bankreihe ein (82)<br />
und sagt ‚Wie wär’s, wenn ihr sagt ‚die Steigung
Funktionales Denken mit dem Computer unterstützen<br />
Abbildung 10.4: Transkriptauszug eines Schülerpaares zur Frage Warum hat <strong>der</strong> Graph diese Gestalt?<br />
nimmt ab‘. Damit war auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> graphischen<br />
Darstellung ein Begriff (Steigung) <strong>für</strong> das<br />
Än<strong>der</strong>ungsverhalten gefunden worden. Auf <strong>der</strong><br />
Seite <strong>der</strong> Situation gelang es den Schülerinnen jedoch<br />
nicht, das Än<strong>der</strong>ungsverhalten geeignet zu<br />
beschreiben. Das Transkript zeigt, dass sie von einem<br />
Verhältnis sprechen, das abnimmt (72, 75).<br />
Ihr Antwortsatz auf dem Arbeitsbogen zur Beantwortung<br />
<strong>der</strong> Frage Warum hat <strong>der</strong> Graph diese<br />
Gestalt? lautet:<br />
Da <strong>der</strong> Flächeninhalt in Abhängigkeit zu AD<br />
anfangs steigt, dann nimmt die Steigung leicht ab,<br />
da die Strecke AD im Verhältnis zum Flächeninhalt<br />
abnimmt, <strong>der</strong> Graph muss immer steigen, da<br />
<strong>der</strong> Flächeninhalt auch immer größer wird.<br />
Auf Situationsseite sprechen sie davon, dass<br />
das Verhältnis Länge AD zu Flächeninhalt nach<br />
Überschreiten <strong>der</strong> Wendestelle abnimmt, was in<br />
diesem Fall nicht korrekt ist. Statt Än<strong>der</strong>ungsraten<br />
und abschnittweiser Sicht, wird hier jeweils nur<br />
<strong>der</strong> Abschnitt vom Ursprung ausgehend gesehen.<br />
Die Monotonie erfassen sie sowohl auf graphischer<br />
als auch situativer Seite (‚<strong>der</strong> Graph muss<br />
immer steigen, da <strong>der</strong> Flächeninhalt auch immer<br />
größer wird‘).<br />
Abbildung 10.5 zeigt einen Transkriptauszug,<br />
<strong>der</strong> die Epistemologische Hürde ‚Steigung in einem<br />
Punkt‘ deutlich macht. Wie<strong>der</strong> geht es um<br />
Frage, warum <strong>der</strong> Graph diese Gestalt hat und insbeson<strong>der</strong>e,<br />
was sich bei Überschreiten des Punktes<br />
C än<strong>der</strong>t. S2 ist <strong>der</strong> Ansicht, die Funktion hätte<br />
keinen Anstieg (36,37), weil <strong>der</strong> Begriff Anstieg<br />
<strong>für</strong> Geraden reserviert ist. In (39, 40) verschiebt<br />
sie Punkt C horizontal (Metavariation) und sagt:<br />
‚da gibt es keinen Anstieg, weil <strong>der</strong> Anstieg ist<br />
überall unterschiedlich‘.<br />
Gerade das horizontale Verschieben von C<br />
scheint zu verdeutlichen, dass sich <strong>der</strong> Anstieg in<br />
jedem Punkt än<strong>der</strong>t. Die Beobachtung von S2 ist<br />
somit ein Moment, <strong>der</strong> im Lernprozess produk-<br />
tiv aufgegriffen werden kann, um das Konzept von<br />
Steigung zu erweitern. Die Notwendigkeit dieser<br />
Konzepterweiterung hat S2 im Prinzip selbst formuliert.<br />
Metavariation verdeutlicht Grapheneigenschaften<br />
und hat dadurch einen auffor<strong>der</strong>nden<br />
Charakter, wenn es um Erklärungssuche geht. Metavariation<br />
wurde von den Schülerinnen und Schülern<br />
häufig genutzt, um Vermutungen zu überprüfen<br />
und Grapheneigenschaften zu erkunden.<br />
Metavariation verdeckt aber auch oft die Variation<br />
erster Stufe, da visuell bei Bewegung<br />
von Punkt D (Variation erster Stufe) weniger geschieht,<br />
als bei Bewegung <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Punkte.<br />
Deswegen war es oft wichtig, die Schülerinnen<br />
und Schüler nochmals über die Art <strong>der</strong> Zuordnung<br />
(also auf eine punktweise Sicht) aufmerksam zu<br />
machen.<br />
Zusammenfassung<br />
Die Diskussionen <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler<br />
sind geprägt von einem begrifflichen und gedanklichen<br />
Ringen um Bestand und Än<strong>der</strong>ung. Insbeson<strong>der</strong>e<br />
fällt es schwer, das Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />
auf situativer Seite geeignet zu beschreiben. Auf<br />
graphischer Seite werden hier<strong>für</strong> meist die Begriffe<br />
Steigung o<strong>der</strong> Anstieg benutzt. Dabei ist es eine<br />
epistemologische Hürde, den Begriff <strong>der</strong> Steigung<br />
auf einzelne Punkte anzuwenden. Dies kann im<br />
Lernprozess produktiv genutzt werden, wenn es<br />
um die Erweiterung des Konzeptes Steigung geht.<br />
Metavariation verdeutlicht Grapheneigenschaften<br />
z.B. dadurch, dass gewisse Eigenschaften<br />
invariant unter Metavariation sind. Das führt<br />
zu Erklärungszwängen. Sie wird oft zur Überprüfung<br />
von Vermutungen über den funktionalen<br />
Zusammenhang genutzt, aber sie verdeckt auch<br />
die Variation erster Stufe durch den stärkeren visuellen<br />
Eindruck.<br />
55
Andrea Hoffkamp, Berlin<br />
Abbildung 10.5: Transkriptauszug eines Schülerpaares zur epistemologischen Hürde Steigung in einem<br />
Punkt<br />
Literatur<br />
Hahn, Steffen & Susanne Prediger (<strong>2008</strong>): Bestand und Än<strong>der</strong>ung<br />
– Ein Beitrag zur Didaktischen Rekonstruktion <strong>der</strong> Analysis.<br />
JMD, 29(3/4), 163–198.<br />
Hoffkamp, Andrea (<strong>2009</strong>a): Enhancing functional thinking<br />
using the computer for representational transfer. In: Proceedings<br />
of the Sixth Conference of European Research in Mathematical<br />
Education, Lyon.<br />
Hoffkamp, Andrea (<strong>2009</strong>b): Funktionales Denken und Analysispropädeutik<br />
– Ein Beitrag zu einem qualitativen Einstieg in<br />
die Schulanalysis durch Computereinsatz. Computeralgebra–<br />
Rundbrief, 45, 27–29.<br />
Hoffkamp, Andrea (<strong>2009</strong>c): Homepage Andrea Hoffkamp.<br />
URL http://www.math.tu-berlin.de/~hoffkamp.<br />
Janvier, Claude (1978): The interpretation of complex cartesian<br />
graphs representing situations. Dissertation, University of<br />
Nottingham, Shell Centre for Mathematical Education, Nottingham.<br />
Krüger, Katja (2000): Kinematisch-funktionales Denken als<br />
Ziel des höheren <strong>Mathematik</strong>unterrichts – das Scheitern <strong>der</strong><br />
Meraner Reform. Mathematische Semesterberichte, 47, 221–<br />
241.<br />
56<br />
Maier, Hermann & Jörg Voigt (Hg.) (1991): Interpretative Unterrichtsforschung.<br />
Aulis Verlag.<br />
Richter-Gebert, Jürgen & Ulrich Kortenkamp (2006): The Interactive<br />
Geometry Software Cin<strong>der</strong>ella, Version 2.0. URL<br />
http://www.cin<strong>der</strong>ella.de.<br />
Sierpinska, Anna (1992): On un<strong>der</strong>standing the notion of function.<br />
In: Harel, Guershon & Ed Dubinsky (Hg.): The concept<br />
of function – Aspects of epistemology and pedagogy, Mathematical<br />
Association of America, 25–58.<br />
Stellmacher, Hubertus (1986): Die nichtquantitative Beschreibung<br />
von Funktionen durch Graphen beim Einführungsunterricht.<br />
In: Harten, Gerd, Hans N. Jahnke, Thomas Mormann<br />
et al. (Hg.): Funktionsbegriff und funktionales Denken, Aulis<br />
Verlag, 21–34.<br />
Vollrath, Hans-Joachim (1989): Funktionales Denken. Journal<br />
<strong>für</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik, 10(1), 3–37.<br />
Vosniadou, Stella & Xenia Vamvakoussi (2006): Examining<br />
Mathematics Learning from a Conceptual Point of View. In:<br />
Verschaffel, Lieven et al. (Hg.): Instructional Psychology: Past,<br />
present, and future trends – Sixteen essays in honour of Eric De<br />
Conte. Advances in Learning and Instruction Series, Elsevier.
• Qualitatives Modellieren mit <strong>der</strong> Funktionenbox und an<strong>der</strong>en<br />
schwarzen Kästen<br />
Guido Pinkernell, Darmstadt<br />
Der Begriff „Qualitatives Modellieren“ nimmt solche Teiltätigkeiten eines Modellierungsprozesses<br />
in den Blick, in denen ein rechnerischer Umgang mit quantitativen Daten nur eine untergeordnete<br />
Rolle spielt. Solche Teiltätigkeiten können zum Beispiel die begründete Auswahl eines mathematischen<br />
Modells o<strong>der</strong> die Validierung einer gefundenen Lösung sein, also solche Phasen, die bei einem<br />
kalküllastigen Unterricht häufig vernachlässigt werden. Der Einsatz von mathematischer Software<br />
kann so als Chance begriffen werden, gerade die qualitativen Aspekte des Modellierens zu unterstützen,<br />
was durch zahlreiche Aufgabenbeispiele aus dem Unterricht illustriert wird.<br />
Eine gekürzte Version dieses Beitrags wurde im Rundbrief <strong>der</strong> Fachgruppe Computeralgebra, Heft<br />
46 (2010), S. 13–17, veröffentlicht.<br />
1 Was soll „Qualitatives<br />
Modellieren“?<br />
Der Rechnereinsatz im Unterricht wirkt wie<br />
ein Katalysator. “Wenn <strong>der</strong> Rechner alles übernimmt“,<br />
so die häufige Klage, „was müssen dann<br />
Schüler noch können?“ Ja was? Was bleibt denn<br />
übrig, wenn „alles“ von einer Maschine übernommen<br />
wird?<br />
Wenn das Bild von <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> durch Rechenfertigkeiten<br />
bestimmt wird, dann bleibt tatsächlich<br />
nicht mehr viel übrig. Dass da aber noch<br />
eine ganze Menge mehr ist als bloßes Rechnen<br />
können, hat ja die Diskussion über Kompetenzen<br />
und Leitideen in den letzten Jahren gezeigt.<br />
Beson<strong>der</strong>s deutlich muss das beim Modellieren<br />
werden, wo reines Rechnen nur einen kleinen<br />
Teil <strong>der</strong> Aktivitäten ausmachen. Je<strong>der</strong> bekannte<br />
Modellierungskreislauf zeigt das zur Genüge.<br />
Insbeson<strong>der</strong>e fehlt im Begriff des „Mathematischen<br />
Modellierens“ von Blum [2007] mit seinen<br />
Teilkompetenzen „Vereinfachen, Mathematisieren,<br />
Interpretieren und Validieren“ gerade das<br />
„Auswählen, Schaffen und Anwenden mathematischer<br />
Werkzeuge.“ Wenn also <strong>der</strong> Rechner insbeson<strong>der</strong>e<br />
das Anwenden mathematischer Werkzeuge<br />
übernimmt, was bleibt dann noch übrig an<br />
Modellierungskompetenzen? Sehr viel!<br />
Es lohnt sich, ausgehend vom fortschreitenden<br />
Rechnereinsatz in den Schulen, diese nichtkalküllastigen<br />
Teilkompetenzen des Modellierens<br />
gezielt in den Blick zu nehmen. Und zwar unter<br />
einem gemeinsamen Oberbegriff, <strong>der</strong> als komplementär<br />
zu verstehen ist zu den vielerorts zuerst<br />
wahrgenommenen rechnerischen Fertigkeiten. Insofern<br />
soll hier das „Qualitative Modellieren“ verstanden<br />
werden als die Tätigkeiten <strong>der</strong> Modellentwicklung<br />
und -begründung, bei denen deutlich auf<br />
nicht quantifizierte Eigenschaften <strong>der</strong> Sachsituation<br />
Bezug genommen wird.<br />
Als Zwischenbemerkung sei <strong>der</strong> Hinweis eingefügt,<br />
dass <strong>der</strong> Begriff des „Qualitativen Modellierens“<br />
auch in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik nicht unbekannt<br />
ist. Ossimitz [1991] beschreibt hierun-<br />
ter spezielle Formen des Modellbildungsprozesses<br />
dynamischer Systeme. Seine Differenzierung<br />
zwischen qualitativen und quantitativen Aspekten<br />
des Modellierens deckt sich nicht in jedem Detail,<br />
aber weitgehend mit den hier geschil<strong>der</strong>ten<br />
Ausführungen, wird dort aber an an<strong>der</strong>en Inhalten<br />
konkretisiert.<br />
Drei Thesen des Qualitativen Modellierens<br />
sollen im Folgenden jeweils anhand schulnaher<br />
Aufgaben herausgearbeitet werden:<br />
⊲ Geeignete Modellfunktionen können qualitativ<br />
begründet werden bevor die Termanpassung<br />
vorgenommen wird.<br />
⊲ Quantitativ ermittelte Modelle müssen auch aus<br />
qualitativer Perspektive bestehen.<br />
⊲ Modellbildung ist auch ganz ohne quantifizierte<br />
Daten möglich.<br />
Dass hier verschiedene bekannte Teilkompetenzen<br />
des Modellierens wie „Validieren“ usw.<br />
mit angesprochen sind bleibt unbestritten. Eine<br />
differenzierte Diskussion dieser Teilkompetenzen<br />
nach dem Vorbild bekannter feinstrukturierter<br />
Prozessmodelle soll aber im Sinne <strong>der</strong> eingangs<br />
begründeten Schwerpunktsetzung unterbleiben.<br />
2 Was ist Qualitatives Modellieren?<br />
2.1 Funktionen termfrei – qualitatives vor<br />
quantitativem Modellieren<br />
Abbildung 11.1: aus Pinkernell [<strong>2009</strong>]<br />
Abb. 11.1 zeigt eine Aufgabe, die aus dem<br />
57
Guido Pinkernell, Darmstadt<br />
Bereich <strong>der</strong> Parametervariation stammen könnte.<br />
Sie ist insofern ungewöhnlich, als hier die Variation<br />
unabhängig von dem Term des gegebenen<br />
Funktionstyps erfolgt. Man beobachtet zwar weiterhin<br />
Verän<strong>der</strong>ungen hinsichtlich <strong>der</strong> Gestalt und<br />
Position des Funktionsgraphen, wenn die Werte<br />
von a, b, c, usw. verän<strong>der</strong>t werden. Aber diese<br />
Verän<strong>der</strong>ungen sind bei allen Funktionen, die<br />
als „ f (x)“ im Rechner abgelegt werden, die gleichen.<br />
Zum Beispiel ist die Wirkung des Parameters<br />
b in f (x) + b eine Verschiebung parallel zur<br />
y-Achse. Eine solche allgemeine Aussage dürfte<br />
<strong>für</strong> einen Schüler schwerer nachvollziehbar sein,<br />
wenn das „b“ in den Termen <strong>der</strong> verschiedenen<br />
Funktionstypen an unterschiedlichen Stellen auftaucht.<br />
Man vergleiche nur f (x) = ax + b und<br />
f (x) = asin(bx + c) + d [Pinkernell, <strong>2009</strong>].<br />
Abbildung 11.2: aus Pinkernell [<strong>2009</strong>]<br />
Das hat zunächst nicht viel mit Modellieren<br />
zu tun. Entscheidend ist angesichts <strong>der</strong> beiden<br />
Screenshots aber die Tatsache, dass die Auswahl<br />
eines Funktionstyps und die Quantifizierung<br />
<strong>der</strong> Parameter voneinan<strong>der</strong> getrennt ist. Und zwar<br />
chonologisch. Zuerst muss die Funktion gewählt<br />
werden, bevor die einzelnen Größen in den Blick<br />
genommen werden können. Wie dies <strong>für</strong> das Modellieren<br />
bedeutsam werden kann, zeigt die folgende<br />
Aufgabe (Abb. 11.2). Bevor die vielerorts<br />
übliche Funktionsanpassung vorgenommen werden<br />
kann, muss überhaupt eine mögliche Funktion<br />
ausgewählt und begründet werden. In dieser Reihenfolge<br />
muss die Auswahl im Wesentlichen aus<br />
qualitativen Gründen erfolgen, z. B. unter Hinweis<br />
auf die zu erwartende Periodizität <strong>der</strong> Sonnenscheindauer<br />
über mehrere Jahre hinweg. Konkrete<br />
Datenwerte müssen nicht bemüht werden. Es<br />
reichen grundsätzliche Kenntnisse über den Unterschied<br />
von Winter und Sommer, die durch den<br />
„nicht quantifizierenden“ Blick auf das Säulendiagramm<br />
ergänzt wird. Konkrete Daten – wenn<br />
überhaupt vorhanden – sind bei <strong>der</strong> Auswahl des<br />
Modells nur ein Teil <strong>der</strong> Begründung.<br />
Auch beim Erstellen von Regressionen ist diese<br />
Abfolge von Auswahl und Anpassung sichtbar<br />
(Abb. 11.3). Zuerst wird <strong>der</strong> Regressionstyp<br />
gewählt. Dann erst erfolgt vermittels <strong>der</strong> Bestä-<br />
58<br />
tigungstaste die automatisierte Anpassung. Dabei<br />
ist auch aus <strong>der</strong> „qualitativen Perspektive“ auf den<br />
Modellierungsprozess diese chronologische Reihung<br />
nicht entscheidet. Sie weist hier nur darauf<br />
hin, dass eine Differenzierung zwischen qualitativen<br />
und quantitativen Phasen möglich und sinnvoll<br />
ist.<br />
Abbildung 11.3: Die Auswahl <strong>der</strong> Regression ist<br />
ein separater Schritt vor <strong>der</strong> quantitativen Anpassung<br />
durch Betätigung <strong>der</strong> „Enter“-Taste.<br />
2.2 Regressionsfunktionen – quantitativ<br />
ermittelte Modelle werden qualitativ<br />
überprüft<br />
Regressionen werden bei <strong>der</strong> Bestimmung von<br />
Modellfunktionen häufig missbraucht. Häufig<br />
wird nach dem Muster verfahren „mal gucken was<br />
so passt“, wobei das Passgüte allein mittels <strong>der</strong><br />
Korrelation beurteilt wird. Demnach wäre diejenige<br />
Regression die beste, unter <strong>der</strong> die Datensätze<br />
eine Korrelation möglichst nahe bei 1 aufweisen.<br />
Das ist insofern problematisch, als diese rein<br />
quantitativ motivierte Begründung u. U. zu verfälschenden<br />
Aussagen über den Sachkontext veranlassen.<br />
Das Aufgabenbeispiel aus Abb. 11.4 entstammt<br />
<strong>der</strong> Einheit „Lineare Zusammenhänge“<br />
aus dem Schulprojekt CAliMERO [Bru<strong>der</strong> &<br />
Weiskirch, <strong>2008</strong>]. Die hier<strong>für</strong> relevanten nie<strong>der</strong>sächsischen<br />
Richtlinien schreiben <strong>für</strong> dieses Themengebiet<br />
auch die Behandlung von Ausgleichsgeraden<br />
vor. Bemerkenswert aus qualitiativer Perspektive<br />
ist an dieser Aufgabe, dass keine Ausgleichsgeraden<br />
zu berechnen sind, son<strong>der</strong>n zwei<br />
gegebene Modelle hinsichtlich ihrer Eignung zu<br />
beurteilen sind. Dabei lassen sich <strong>für</strong> beide Geraden<br />
gute Argumente finden. Im Sinne von „offenen<br />
Modellierungsaufgaben“ [Greefrath, 2007]<br />
gibt es hier keine „richtige Lösung“, eine wichtige<br />
Erkenntnis, die auch bei Siebtklässlern thematisiert<br />
werden kann. Studenten dagegen, denen diese<br />
Aufgabe vorgelegt wurde, zückten ihren Rechner<br />
und verwarfen beide Modelle unter Hinweis<br />
auf die vom Automaten berechnete Regressiongerade.<br />
Sie stimmte nämlich mit keiner <strong>der</strong> beiden
Qualitatives Modellieren mit <strong>der</strong> Funktionenbox und an<strong>der</strong>en schwarzen Kästen<br />
Abbildung 11.4: aus Bru<strong>der</strong> & Weiskirch [<strong>2008</strong>]: „Lineare Zusammenhänge“<br />
gegebenen überein. Qualitative Argumente wurden<br />
– ganz im Gegensatz zur Aufgabenintention<br />
– gar nicht erst bemüht.<br />
Dass die erste Auswahl eines Regressionsmodell<br />
nicht die endgültige sein muss, dürfte klar<br />
sein. Die erste Wahl zu verwerfen kann natürlich<br />
auch unter Hinweis auf eine schlechte Datenanpassung<br />
erfolgen. Eine solche Entscheidung wirkt<br />
aber überzeugen<strong>der</strong>, wenn das neue Modell auch<br />
durch qualitative Eigenschaften des Sachkontextes<br />
begründet werden kann – o<strong>der</strong> aufgrund des<br />
neuen Modells mögliche Eigenschaften des Kontextes<br />
deutlich werden lässt, die vielleicht vorher<br />
nicht übersehen o<strong>der</strong> gar ganz unbekannt waren.<br />
Von einem eindrucksvollen Beispiel berichtete<br />
Joachim Engel in seinem Vortrag auf <strong>der</strong> Soester<br />
Tagung des AK MUI [vgl. auch Engel, <strong>2009</strong>,<br />
106ff.]: In einem Experiment wurden verschiedene<br />
Volumenmengen Wasser in einer Mikrowelle<br />
<strong>für</strong> 30 Sekunden erhitzt und die Temperaturdifferenz<br />
gemessen. Einen zuerst vermuteten antiproportionalen<br />
Zusammenhang von Temperaturzuwachs<br />
∆T in Abhängigkeit <strong>der</strong> Volumenmenge<br />
V ließen die Daten nicht zu. Weitaus besser als<br />
die vermutete Potenzfunktion mit Exponenten −1<br />
passte ein Exponent nahe bei −0,65. Wie kann<br />
das sein? – eine Frage, die sich nahezu aufdrängt,<br />
ihre Antwort aber in <strong>der</strong> Sachsituation sucht. Engel<br />
selbst gibt eine mögliche Erklärung: Aufgenommen<br />
wird die Wärmeenergie über die Oberfläche<br />
(auch bei Mikrowellen ist die Eindringtiefe<br />
begrenzt). Das Dimensionenverhältnis von Oberfläche<br />
zum Volumen ist aber 2/3 ≈ 0,66. Wenn<br />
man nun zusätzlich annimmt, dass die Tempera-<br />
turdifferenz in einem antiproportionalen Zusammenhang<br />
zur Oberfläche <strong>der</strong> Wassermenge steht,<br />
ließe sich eine Funktion von <strong>der</strong> Form ∆T = k ·<br />
V −2/3 in <strong>der</strong> Sache plausibel machen.<br />
Daten allein erklären die Wirkungszusammenhänge<br />
nicht. Sie können aber Hinweise geben, wie<br />
sie zu verstehen sind. Und zwar, indem das passende<br />
Modell in seiner Bedeutung <strong>für</strong> die Sache<br />
analysiert wird. 1<br />
Abb. 11.5 zeigt schematisch diese wechselseitige<br />
Beziehung zwischen unserer Interpretation<br />
des Sachkontextes und dem gewählten Modell.<br />
Zum einen soll das Modell den Zweck erfüllen,<br />
die zur Problemlösung relevanten Aspekte des<br />
Sachkontextes abzubilden. Umgekehrt ist es möglich,<br />
dass Eigenschaften des Modells Rückschlüsse<br />
auf Eigenschaften des Sachkontextes ermöglichen,<br />
die zuvor unbekannt waren. Dass die Neuinterpretation<br />
von Wirklichkeit aufgrund von Modellen<br />
in den Naturwissenschaften gängige Praxis<br />
ist, macht dieses Schema nicht zu einem trivialen.<br />
Es ist vielmehr ein weiterer Grund da<strong>für</strong>, die qualitative<br />
Perspektive auf die Modellbildung neben<br />
die quantitative zu stellen.<br />
Abbildung 11.6: aus Körner [2003]<br />
1 Man nennt ein solches Modell auch explikativ, da es den Zweck hat, die zugehörigen Sachkontext zu erklären. Eine Abgrenzung<br />
zum Begriff des deskriptiven Modells erscheint schwierig. Und wenn man bedenkt, dass explikative bzw. deskriptive Modelle die<br />
Komplexität einer Sachsituation auf vereinfachende Weise interpretieren, wirken sie auch immer normativ. Trotzdem: schlagwortartige<br />
Terminologien sind nützlich, wenn sie helfen, den selben Gegenstand aus grundsätzlich unterscheidbaren Perspektiven in den Blick<br />
zu nehmen. Das ist ja mit dem „Qualitativen vs. Quantitativen Modellieren“ auch nicht an<strong>der</strong>s.<br />
59
Guido Pinkernell, Darmstadt<br />
Abbildung 11.5: Unsere Interpretation des Sachkontextes beeinflusst die Wahl des Modells - und umgekehrt<br />
Eine Aufgabe, das diesen wechselseitigen Einfluss<br />
auf unterhaltsame Weise verdeutlicht, ist die<br />
Aufgabe aus Abb. 11.6. Hier sind zwei Modelle<br />
möglich, die beide qualitative wie quantitative Eigenschaften<br />
<strong>der</strong> Situation berücksichtigen. Dabei<br />
ist entscheidend, dass es sich hier um ein Zufallsexperment<br />
handelt. Die eine Funktion modelliert<br />
die ideale Situation, die zweite nimmt Bezug auf<br />
die „erwürfelten“ Daten. Dass beide annehmen,<br />
dass es sich hier um einen exponentiellen Prozess<br />
handelt, ist – qualitativ – leicht zu begründen. In<br />
Körner [2003] ist zu dieser Aufgabe eine Ergebnistabelle<br />
zu finden, auf <strong>der</strong>en Grundlage Studenten<br />
eine passende Modellfunktion ermitteln sollten.<br />
Sie lieferten <strong>der</strong>en zwei (siehe Abb. 11.7) und<br />
begannen, lebhaft über die „Richtigkeit“ <strong>der</strong> einen<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zu diskutieren.<br />
Abbildung 11.7: Zwei Exponentialfunktionen modellieren<br />
das m&m-Experiment<br />
Für das Regressionsmodell spricht, dass es zu<br />
den gegebenen Daten besser passte als die an<strong>der</strong>e<br />
Funktion. Diese an<strong>der</strong>e wie<strong>der</strong>um berücksichtigt<br />
zuvor<strong>der</strong>st den Kontext, indem die beim<br />
Wurf einer Schokolinse angenommene Erfolgswahrscheinlichkeit<br />
von 50% in die Formulierung<br />
des Funktionsterms übernommen wird. Dass die<br />
Daten hiervon abweichen kann durch den Zu-<br />
60<br />
fall erklärt werden. Eine größere Versuchsreihe<br />
würde wohl eine bessere Anpassung <strong>der</strong> Daten<br />
an das ideale Modell erwarten lassen, so meinte<br />
man. Ich berichtete sodann von <strong>der</strong> Druchführung<br />
eines ähnlichen Schokolinsenexperiments in<br />
einem Leistungskurs, das die exponentielle Abnahme<br />
einführen sollte: Alle Linsen einer Tüte<br />
werden geworfen, und die Linsen mit oben liegendem<br />
Aufdruck durften gegessen werden, <strong>der</strong><br />
Rest sollte nochmal geworfen werden usw. Die<br />
Schülergruppen wurden in <strong>der</strong> großzügig bemessenen<br />
Zeit nicht fertig, denn überall blieb eine<br />
kleine Anzahl von m&ms übrig, die partout nicht<br />
ihrem Aufdruck zeigen wollten. Eine genauere<br />
Untersuchung zeigte Unerwartetes: Diese Schokolinsen<br />
hatten gar keinen Aufdruck! Aufmerken<br />
auch in <strong>der</strong> Studentengruppe: Müssen wir nun die<br />
Bewertung unserer Modelle revidieren? Kann es<br />
womöglich sein, dass die Regressionsfunktion mit<br />
52% die „wahre“ Erfolgswahrscheinlichkeit angibt?<br />
Modelle machen Aussagen über Wirklichkeit.<br />
Ein Modell kann gar Eigenschaften <strong>der</strong> Sachsituation<br />
aufdecken, die vorher nicht wahrgenommen<br />
wurden. Die quantitative und die qualitative Perspektive<br />
müssen sich ergänzen, wenn das Modell<br />
überzeugend begründet werden soll.<br />
2.3 Differenzialgleichungen – Modellbilden<br />
ohne quantifizierte Daten<br />
Ebenfalls in Körner [2003] findet sich eine Aufgabe,<br />
mittels <strong>der</strong>er man den wechselseitigen Einfluss<br />
von Modellbildung und unserer Interpretation<br />
<strong>der</strong> Sachsituation thematisieren kann. Den<br />
Schülern wird eine Tabelle (Abb. 11.8 links) vorgelegt<br />
mit <strong>der</strong> Auffor<strong>der</strong>ung, eine Prognose <strong>für</strong><br />
x = 2 zu erstellen. Offensichtlich bietet sich ein lineares<br />
Modell an, das allerdings nach Bekanntgabe<br />
weiterer Daten (Abb. 11.8 mitte) revidiert werden<br />
muss. Das hier sich anbietende exponentiale<br />
Modell wie<strong>der</strong>um erscheint nicht das einzig mögliche<br />
Modell, wenn man die dritte Tabelle in den
Qualitatives Modellieren mit <strong>der</strong> Funktionenbox und an<strong>der</strong>en schwarzen Kästen<br />
Blick nimmt. Die Datenpunkte gehen zum Schluss<br />
nahezu senkrecht nach oben. Man ist versucht,<br />
hinter x=2 eine Polgerade zu vermuten. Mit <strong>der</strong><br />
Konsequenz, dass eine Hyperbel durch die Punkte<br />
zu legen wäre.<br />
Der Sachkontext wird in <strong>der</strong> originalen Version<br />
<strong>der</strong> Aufgabe erst am Schluss genannt. Es handelt<br />
sich um das Wachstum <strong>der</strong> Weltbevölkerung<br />
mit x: Jahreszahl in 1000 und y: Anzahl <strong>der</strong> Menschen<br />
in Mrd. Das letzte Modell wirkt in diesem<br />
Sachkontext alarmierend. Ist demnächst eine globale<br />
Katastrophe zu erwarten? – O<strong>der</strong> darf man<br />
überhaupt ein hyperbolisches Wachstum annehmen?<br />
Hierzu ist es sinnvoll, auf Grundlage <strong>der</strong> ermittelten<br />
Modelle den Sachkontext erneut zu analysieren.<br />
Jedes Modell macht hierzu Aussagen<br />
zum Zusammenhang zwischen Bestand und Bestandsän<strong>der</strong>ung.<br />
Im linearen Modell wird die Än<strong>der</strong>ung<br />
zu jedem Zeitpunkt als konstant angenommen.<br />
Beim exponentiellen Modell wächst die Än<strong>der</strong>ung<br />
mit dem Bestand, genauer ist dieser Zusammenhang<br />
proportional. Die Daten veranlassen<br />
dazu, das exponentielle Modell anzuwenden,<br />
aber: Welche Gründe sind im Sachkontext sprechen<br />
hier<strong>für</strong>? Sie dürften mit <strong>der</strong> sich ausbreitenden<br />
Industrialisierung im 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts zusammen<br />
hängen. Das hyperbolische Modell geht<br />
noch weiter. Es nimmt einen überproportionalen<br />
Zusammenhang zwischen Bestand und Än<strong>der</strong>ung<br />
an. Es passt sehr gut zu den Daten, aber inwieweit<br />
spricht <strong>der</strong> Kontext da<strong>für</strong>? Hierzu müsste man<br />
Gründe da<strong>für</strong> finden, wie in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
eine größer werdende Weltbevölkerung ständig<br />
die Lebensbedingungen soweit verbessern konnte,<br />
dass auch die Reproduktionsrate weiter wächst.<br />
Aber was die Zukunft betrifft: Kann die Reproduktionsrate<br />
denn tatsächlich immer weiter wachsen?<br />
Wo Zusammenhänge zwischen Bestand und<br />
Bestandsän<strong>der</strong>ung untersucht werden sind Differenzialgleichungen<br />
nicht weit. Für jedes <strong>der</strong><br />
drei genannten Modelle ist dieser Zusammenhang<br />
auch in Form einer Gleichung schnell formuliert.<br />
Eine konstante Bestandsän<strong>der</strong>ung im linearen<br />
Fall führt zur Gleichung B ′ (t) = c mit einer<br />
reellen Konstante c. Beim exponentiellen Modell<br />
sind Än<strong>der</strong>ung und Bestand proportional, die zugehörige<br />
Differenzialgleichung lautet also B ′ (t) =<br />
pB(t), wobei <strong>der</strong> Proportionalitätsfaktor p ebenfalls<br />
reell ist. Der Zusammenhang beim hyperbolischen<br />
Modell ist überproportional. „Überproportional“<br />
heißt hier „quadratisch“: B ′ (t) = cB 2 (t).<br />
Differenzialgleichungen in dieser allgemeinen<br />
Form formulieren qualitative Zusammenhänge<br />
zwischen Wirkungsgrößen in <strong>der</strong> Sachsituation<br />
2 . Man kann die enthaltenen Parameter ggf.<br />
quantifizieren. Im Schulunterricht sind darüber<br />
hinaus die gewohnten expliziten Funktionsgleichungen<br />
zu ermitteln. Der Rechner erledigt das<br />
schnell; auch in diesem Fall sollte die Blackbox<br />
nicht geöffnet werden, wenn als Schwerpunkt <strong>der</strong><br />
Unterrichtsreihe das Modellieren verstanden wird<br />
und nicht die Behandlung analytischer Methoden<br />
und Begriffe. Bemerkenswerterweise findet man<br />
genau diese Schwerpunktsetzung im kommenden<br />
Kerncurriculum <strong>für</strong> die Oberstufe an nie<strong>der</strong>sächsischen<br />
Gymnasien wie<strong>der</strong>, wo die Arbeit mit zumindest<br />
graphikfähigen Taschenrechnern seit <strong>der</strong><br />
Jahrgangsstufe 7 Pflicht ist. Dort wird als Lernziel<br />
formuliert: „[Die Schülerinnen und Schüler]<br />
erkennen den Zusammenhang zwischen Funktion<br />
und Ableitungsfunktion und deuten die resultierende<br />
Differentialgleichung im Sachkontext<br />
<strong>der</strong> Wachstumsmodelle.“ Insbeson<strong>der</strong>e sind „Differentialgleichungen<br />
ohne Lösungsverfahren“ 3 zu<br />
behandeln [Nie<strong>der</strong>sächsisches Kultusministerium,<br />
<strong>2009</strong>].<br />
Wo <strong>der</strong> Rechner als Blackbox im Einsatz ist<br />
wird schnell deutlich, dass die intellektuelle Tätigkeit<br />
sich auf an<strong>der</strong>e Bereiche als dem Rechnen<br />
verlagern muss. Beim Modellieren bietet sich<br />
die Analyse qualitativer Eigenschaften <strong>der</strong> gegebenen<br />
Sachsituation an. Differentialgleichungen<br />
sind hier<strong>für</strong> hervorragend geeignet. Die zwei folgenden<br />
Aufgaben – stellvertretend <strong>für</strong> weitere an<strong>der</strong>e<br />
aus einer unveröffentlichten Unterrichtsreihe<br />
<strong>für</strong> Leistungskurse – sollen zeigen, wie das aussehen<br />
kann.<br />
Die erste Aufgabe (Abb. 11.9–11.11) wurde<br />
eingesetzt, nachdem die Schüler schon einige Erfahrung<br />
mit <strong>der</strong> Modellierung mit Differenzialgleichungen<br />
gemacht hatten. Insbeson<strong>der</strong>e hatten<br />
sie entsprechende Kenntnisse über Modelle von linearen,<br />
exponentiellen und beschränkten Wachstumsprozessen.<br />
Jedesmal wurde Wert darauf gelegt,<br />
dass unterschiedliche Aspekte des jeweiligen<br />
Begriffs deutlich werden, in an<strong>der</strong>en Aufgaben<br />
auch Richtungsfel<strong>der</strong>, die hier fehlen. Dieser<br />
aspektreiche Zugang wurde auch methodisch unterstützt,<br />
so auch in dieser Aufgabe in Form eines<br />
Gruppenpuzzles. Jede <strong>der</strong> drei Gruppen A, B und<br />
C hatte seinen eigenen Zugang zum neuen Wachstumsmodell,<br />
das in dieser Aufgabe das logistische<br />
ist. Die Arbeitsaufträge überlappten sich, was die<br />
abschließende Austauschrunde vereinfachte. Man<br />
2 Ossimitz [1991] versteht Wortbeschreibungen von Wirkungsgrößen und <strong>der</strong>en Zusammenhänge qualitativ. Ihre Übersetzungen in<br />
formalmathematische Ausdrücke, darunter auch Differentialgleichungen, werden dagegen quantitative Modelle genannt, auch dann,<br />
wenn den enthaltenen Parametern keine konkreten Werte zugewiesen werden.<br />
3 Mir ist keine an<strong>der</strong>e Stelle in einem Lehrplan bekannt, an <strong>der</strong> herausgestellt wird, was nicht zu unterrichten ist. Offensichtlich ist<br />
die Sorge groß, dass mit <strong>der</strong> Nennung von „Differenzialgleichungen“ wie<strong>der</strong> kalküllastige Assoziationen freigesetzt und die intendierten<br />
qualitativen Ansätze gar nicht erst wahrgenommen werden.<br />
61
Guido Pinkernell, Darmstadt<br />
Abbildung 11.8: „Erstelle eine Prognose <strong>für</strong> x = 2“ – Eine sich verän<strong>der</strong>nde Datenlage än<strong>der</strong>t unseren Blick<br />
auf die Situation<br />
62<br />
Abbildung 11.9: Einführung in das logistische Wachstumsmodell in arbeitsteiliger Gruppenarbeit (A)<br />
Abbildung 11.10: Einführung in das logistische Wachstumsmodell in arbeitsteiliger Gruppenarbeit (B)
Qualitatives Modellieren mit <strong>der</strong> Funktionenbox und an<strong>der</strong>en schwarzen Kästen<br />
Abbildung 11.11: Einführung in das logistische Wachstumsmodell in arbeitsteiliger Gruppenarbeit (C)<br />
beachte aber: Im gesamten Aufgabenmaterial findet<br />
sich keine Zahl. Die Modellentwicklung findet<br />
also auf einer rein qualitativen Ebene statt.<br />
Die zweite Aufgabe in Abb. 11.12 zeigt Auszüge<br />
aus einer Abiturklausur. Hier ist eine Datentabelle<br />
enthalten, um beide Aspekte – den qualitativen<br />
wie quantitativen – zu berücksichtigen.<br />
Die Originalaufgabe verlangte auch die Bearbeitung<br />
quantitativer Fragestellungen, hier sind nur<br />
die Teilaufgaben gezeigt, die die qualitative Perspektive<br />
betonen. Zwar sollte Bezug genommen<br />
werden auf die Tabellendaten, indem auf fallende<br />
Zuwachsraten hingewiesen wird. Letzteres könn-<br />
Abbildung 11.12: Eine Abituraufgabe<br />
te darauf hinweisen, dass die Populationsentwicklung<br />
schon vor Aufzeichnung in die Sättigungsphase<br />
eingetreten ist. Daneben steht aber auch die<br />
Angabe, dass eine wachsende Menge an Bakterien<br />
entfernt wird. Vielleicht ist dieser Eingriff <strong>für</strong><br />
die fallenden Zuwachsraten verantwortlich? Ohne<br />
diesen Eingriff hätte man mit dem Bakterienwachstum<br />
in einem beschränkten Lebensumfeld<br />
ja ein klassisches Beispiel <strong>für</strong> einen logistischen<br />
Wachstumsprozess. Gegen das logistische Wachstumsmodell<br />
spricht darüber hinaus, dass die zuge-<br />
63
Guido Pinkernell, Darmstadt<br />
hörige Differentialgleichung<br />
y ′ (x) = k · y(x) · (G − y(x))<br />
die regelmäßig wachsende Entnahme von Bakterien<br />
nicht berücksichtigt. Die in <strong>der</strong> zweiten Teilaufgabe<br />
gegebene Gleichung tut dies mit dem<br />
Teilterm −b · x, setzt aber mit dem ersten Teilterm<br />
y ′ (x) = 0,2 · y(x) grundsätzlich exponentielles<br />
Wachstumsverhalten voraus. Wie wäre das zu<br />
begründen? O<strong>der</strong> sollte man stattdessen die Differentialgleichung<br />
des logistischen Wachstums modifizieren?<br />
Wie? Der Rechner liefert ggf. explizite<br />
Funktionsterme, anhand dann auch anhand <strong>der</strong><br />
Daten überprüft werden könnten.<br />
3 Zusammenfassung<br />
Qualitatives Modellieren benennt eine bestimmte<br />
Perspektive auf den Modellbildungsprozess. Es<br />
werden mit diesem Begriff die Tätigkeiten in den<br />
Blick genommen, in denen <strong>der</strong> Kalkül keine wesentliche<br />
Rolle spielt. In diesem Sinne wirkt <strong>der</strong><br />
Begriff vereinfachend. Er ist aber dennoch sinnvoll,<br />
wenn angesichts wachsendem Rechnereinsatz<br />
im Schulunterricht gerade den kalküllastigen<br />
Phasen weniger Gewicht beigemessen werden<br />
kann. An<strong>der</strong>s gesagt: Auf die Frage „Was bleibt<br />
denn bei Rechnereinsatz noch an <strong>Mathematik</strong> übrig?“<br />
heißt die Antwort: Es sind gerade die qualitativen<br />
Aspekte des Modellbildens, denen im Unterricht<br />
mehr Raum gegeben werden kann.<br />
An mehreren Aufgabenbeispielen (von denen<br />
die meisten auch so im Unterricht verwendet wurden)<br />
ist das Qualitative Modellieren konkretisiert<br />
worden, und zwar wurden hierzu drei Thesen<br />
formuliert, die das Qualitative Modellieren wenn<br />
nicht umfassend, aber im Wesentlichen charakterisieren:<br />
⊲ Geeignete Modellfunktionen können qualitativ<br />
begründet werden bevor die Termanpassung<br />
vorgenommen wird.<br />
Eine (auch mit quantitativen Daten) gegebene<br />
Sachsituation soll mithilfe bekannter Funktionstypen<br />
modelliert werden. Bevor die Anpassung<br />
des Termes an die Daten erfolgt muss<br />
zuerst ein passen<strong>der</strong> Funktionstyp ausgewählt<br />
werden. Davon gibt es womöglich mehrere.<br />
Welche grundsätzlich geeignet sind, und welchen<br />
man schlußendlich auswählt muss begründet<br />
werden. Das ist möglich, noch bevor<br />
die rechnerische Termanpassung vorgenommen<br />
wird.<br />
⊲ Quantitativ ermittelte Modelle müssen auch aus<br />
qualitativer Perspektive bestehen.<br />
Regressionsfunktionen sind in <strong>der</strong> Regel datenbezogen<br />
berechnet und damit quantitativ begründet.<br />
Dabei muss das Höchstmaß an „Datenanpassung“<br />
nicht unbedingt das beste Mo-<br />
64<br />
dell liefern. Vielleicht beschreibt ein durch Regression<br />
ermitteltes Modell die gegebenen Daten<br />
hervorragend, aber liefert unsinnige Prognosen?<br />
Vielleicht passen auch die in einem<br />
solchermaßen berechneten Modell indirekt<br />
beschriebenen Wirkungszusammenhänge überhaupt<br />
nicht zur gegebenen Situation? Hier muss<br />
die qualitative Perspektive ggf. korrigieren.<br />
⊲ Modellbildung ist auch ganz ohne quantifizierte<br />
Daten möglich.<br />
Differentialgleichungen beschreiben Wirkungszusammenhänge,<br />
z. B. zwischen Än<strong>der</strong>ung<br />
und Bestand in einem Wachstumsprozess.<br />
Auch ohne gegebene quantifizierte Daten lassen<br />
sich sinnvolle Differentialgleichungen formulieren,<br />
an denen allein anspruchvolles Modellieren<br />
möglich ist.<br />
Die Aufgaben sind nicht neu, und auch die<br />
hier beschriebenen Modellierungs-aktivitäten sind<br />
nicht neu. Wichtig erscheint es aber, sie unter dem<br />
aussagekräftigen Begriff des „Qualitativen Modellierens“<br />
zu bündeln und so <strong>der</strong> immer noch<br />
weit verbreiteten kalkülbehafteten Sicht auf das<br />
Modellieren an die Seite zu stellen. Damit stellt<br />
sich die qualitative Perspektive auf das Modellieren<br />
nicht gegen solche Konzepte, die eine verstärkte<br />
Berücksichtigung von realistischen Daten<br />
und authentischem Aufgabenmaterial in den<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht for<strong>der</strong>n [vgl. z. B. Engel,<br />
<strong>2009</strong>]. Auch hier spielt die qualitative Sicht auf<br />
den Sachkontext – wie die Mikrowellenaufgabe<br />
oben deutlich zeigt – eine wesentliche Rolle im<br />
Modellierungsprozess.<br />
Literatur<br />
Blum, Werner (2007): Mathematisches Modellieren - zu<br />
schwer <strong>für</strong> Schüler und Lehrer? Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht,<br />
3–12.<br />
Bru<strong>der</strong>, Regina & Wilhelm Weiskirch (Hg.) (<strong>2008</strong>): CALiME-<br />
RO – Computeralgebra im <strong>Mathematik</strong>unterricht, Band 3. T3<br />
Deutschland.<br />
Engel, Joachim (<strong>2009</strong>): Anwendungsorientierte <strong>Mathematik</strong>:<br />
Von Daten zur Funktion. Eine Einführung in die mathematische<br />
Modellbildung <strong>für</strong> Lehramtsstudierende. Heidelberg,<br />
Berlin: Springer Verlag.<br />
Greefrath, Gilbert (2007): Modellieren lernen mit offenen realitätsnahen<br />
Aufgaben. Aulis Verlag.<br />
Körner, Henning (2003): Modellbildung mit Exponentialfunktionen.<br />
In: Henn, Hans-Wolfgang & Katja Maaß (Hg.): Materialien<br />
<strong>für</strong> einen realitätsbezogenen <strong>Mathematik</strong>unterricht,<br />
ISTRON, Band 8, Hildesheim: Franzbecker, 155–177.<br />
Nie<strong>der</strong>sächsisches Kultusministerium (<strong>2009</strong>): Kerncurriculum<br />
<strong>für</strong> das Gymnasium — gymnasiale Oberstufe. Anhörfassung.<br />
URL http://www.cuvo.nibis.de.<br />
Ossimitz, Günther (1991): Qualitatives und quantitatives systemdynamisches<br />
Modellieren. Technischer Bericht, Institut <strong>für</strong><br />
<strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>, Bielefeld, URL http://wwwu.<br />
uni-klu.ac.at/gossimit/pap/qualqua.htm.<br />
Pinkernell, Guido (<strong>2009</strong>): „Wir müssen das an<strong>der</strong>s machen“ -<br />
mit CAS funktionales Denken entwickeln. Der <strong>Mathematik</strong>unterricht,<br />
4, 37–44.
• Vielfältiger Computereinsatz im Analysisunterricht<br />
Gilbert Greefrath, Köln<br />
Funktionen kann man auf dem Computer unterschiedlich darstellen. Neben <strong>der</strong> exakten Darstellung<br />
algebraischer Funktionen kann ein Computer Funktionen auch numerisch repräsentieren, sei<br />
es in grafischer Darstellung o<strong>der</strong> in tabellarischer Darstellung. Diese Darstellungen können <strong>für</strong> unterschiedlichste<br />
Einsatzmöglichkeiten im Unterricht genutzt werden. Im ersten Teil des Beitrags<br />
werden unterschiedliche Funktionen des Computers zum vielfältigen Einsatz im Analysisunterricht<br />
beschrieben. Anschließend wird an zwei Beispielen aufgezeigt, wie Computer unterstützend auch<br />
<strong>für</strong> das qualitative und diskrete Verständnis von Funktionen im Analysisunterricht eingesetzt werden<br />
können.<br />
1 Einführung<br />
Der Analysisunterricht hat sich in den letzten Jahren<br />
stark verän<strong>der</strong>t, nicht zuletzt durch die Verfügbarkeit<br />
von Computern mit entsprechenden digitalen<br />
Werkzeugen. Eine Kurvendiskussion mit<br />
dem Ziel, die grafische Darstellung von Funktionen<br />
möglichst exakt zu erstellen, ist im Zeitalter<br />
von grafikfähigen Taschenrechnern und Funktionenplottern<br />
kein zentrales Ziel des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
<strong>der</strong> Oberstufe mehr. Der Schwerpunkt<br />
<strong>der</strong> Arbeit mit Funktionen im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
hat sich daher einerseits in Richtung von anwendungsbezogenen<br />
Aufgaben und an<strong>der</strong>erseits<br />
zu einem stärker anschauungsorientierten Arbeiten<br />
mit Funktionen verschoben.<br />
In allen Bereichen des Analysisunterrichts, die<br />
im Diagramm (vgl. Abb. 12.1) dargestellt sind,<br />
können <strong>der</strong> Computer o<strong>der</strong> ein entsprechend ausgestatteter<br />
grafikfähiger Taschenrechner ein sinnvolles<br />
Werkzeug zur Unterstützung von Lehrenden<br />
und Lernenden sein. So werden Computer bei<br />
anwendungsbezogenen Aufgaben im Analysisunterricht<br />
häufig eingesetzt, um z. B. mit komplexen<br />
Funktionstermen zu arbeiten o<strong>der</strong> den Rechenaufwand<br />
zu vermin<strong>der</strong>n. Für den qualitativen<br />
und diskreten Zugang auf <strong>der</strong> anschauungsorientierten<br />
Seite des Diagramms scheint man auf<br />
den ersten Blick gut ohne Computer arbeiten zu<br />
können. Aber auch hier kann <strong>der</strong> Computer eine<br />
sinnvolle Unterstützung sein. Für die qualitative<br />
Arbeit mit Funktionen kann <strong>der</strong> Computer<br />
beispielsweise Graphen liefern, <strong>der</strong>en Verhalten<br />
dann untersucht wird, o<strong>der</strong> den Wechsel <strong>der</strong> Darstellungsformen<br />
als Term, Graph und Tabelle unterstützen.<br />
Für die diskrete Arbeit mit Funktionen<br />
ist die Berechnung von komplexen Summen<br />
von zentraler Bedeutung. Hier kann <strong>der</strong> Computer<br />
die Rechenarbeit übernehmen und Zeit <strong>für</strong> Begründungen<br />
und Verallgemeinerungen schaffen.<br />
Auch bei <strong>der</strong> diskreten Arbeit kann <strong>der</strong> Darstellungswechsel,<br />
etwa zwischen Tabelle und Graph,<br />
sehr vorteilhaft eingesetzt werden. Durch die Verschiebung<br />
von Schwerpunkten wird <strong>der</strong> Analysisunterricht<br />
nicht nur vielfältiger, son<strong>der</strong>n auch<br />
anspruchsvoller <strong>für</strong> Lehrende und Lernende. Ein<br />
diskreter ebenso wie ein qualitativer Zugang zur<br />
Analysis versucht, einen Beitrag zu leisten und<br />
die häufig vernachlässigte anschauungsorientierte<br />
Seite stärker zu betonen. Im Folgenden soll zunächst<br />
ein Überblick über unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten<br />
von Computern im Analysisunterricht<br />
zu Funktionen gegeben werden. Anschließend<br />
wird mit Hilfe von zwei Beispielen gezeigt,<br />
wie <strong>der</strong> Computer als Werkzeug auch zum qualitativen<br />
und diskreten Verständnis von Analysis<br />
einen sinnvollen Beitrag leisten kann.<br />
2 Funktionen des Rechners im<br />
Analysisunterricht<br />
Computer können im Analysisunterricht unterschiedlichste<br />
Aufgaben übernehmen [Barzel et al.,<br />
2005, S. 42 ff.;Hischer, 2002, S. 116 ff.]. Eine dieser<br />
Aufgaben ist das Experimentieren mit Funktionen.<br />
Die folgende Aufgabe regt beispielsweise<br />
dazu an, den Computer als Experimentierwerkzeug<br />
zu verwenden [vgl. Henn, 2004]:<br />
f sei eine ganzrationale Funktion 3.<br />
Grades mit den Nullstellen 2, 4 und<br />
5. Zeichne den Graphen von f und<br />
die Tangente an den Graphen von f im<br />
Punkt (3| f (3)). Welche Beson<strong>der</strong>heiten<br />
haben Graph und Tangente? Gilt<br />
dies <strong>für</strong> jede Tangente?<br />
Abbildung 12.2: Experimentieren mit dem Computer<br />
Die Schülerinnen und Schüler, die diese Aufgabe<br />
bearbeiten, zeichnen zunächst den Graphen <strong>für</strong><br />
65
Gilbert Greefrath, Köln<br />
Abbildung 12.1: Verlagerung von Schwerpunkten im Analysisunterricht<br />
das gegebene Beispiel, indem sie die Funktionsgleichung<br />
f (x) = (x − 2)(x − 4)(x − 5)<br />
und die Geradengleichung <strong>der</strong> Tangente im Punkt<br />
(3|2) berechnen. Sie stellen anschließend die Vermutung<br />
auf, dass die so gewählte Tangente stets<br />
durch die dritte Nullstelle führt.<br />
Diese Vermutung kann dann an an<strong>der</strong>en ganzrationalen<br />
Funktionen dritten Grades verifiziert<br />
werden. Hier ist es auch interessant, Son<strong>der</strong>fälle<br />
zu betrachten, wenn also beispielsweise zwei<br />
Nullstellen zusammenfallen. Diese Experimente<br />
können schließlich zu einer Behauptung führen,<br />
die allgemein <strong>für</strong> ganzrationale Funktionen dritten<br />
Grades gilt (und sogar geeignet auf Funktionen<br />
höheren Grades entsprechend übertragen werden<br />
kann). Hier ist die Experimentierphase zu Ende.<br />
Nun sind mathematische Begründungen <strong>für</strong><br />
dieses Verhalten erfor<strong>der</strong>lich. Auch dazu ist ein<br />
Computeralgebrasystem ein geeignetes Werkzeug<br />
Henn [2004]. So kann beispielsweise das Problem<br />
vereinfacht werden, indem die dritte Nullstelle in<br />
den Ursprung des Koordinatensystems gelegt wird<br />
und nur <strong>der</strong> Abstand <strong>der</strong> beiden an<strong>der</strong>en Nullstellen<br />
betrachtet wird (Abb. 12.3). Die Untersuchung<br />
<strong>der</strong> Funktionsgleichung<br />
f (x) = (x + a)x(x − a)<br />
und einer Geraden durch den Ursprung, die den<br />
Graph <strong>der</strong> Funktion f dort berührt, lässt dann die<br />
mathematischen Zusammenhänge deutlicher werden.<br />
Computer können auch die Aufgabe des Visualisierens<br />
im Unterricht übernehmen [Weigand<br />
& Weth, 2002, S. 36 f.]. Im Analysisunterricht<br />
ist die Darstellung von Funktionsgraphen ein zentraler<br />
Punkt. So kann etwa bei <strong>der</strong> Untersuchung<br />
66<br />
von Exponentialfunktionen <strong>der</strong> Einfluss <strong>der</strong> unterschiedlichen<br />
Parameter auf das Wachstumsverhalten<br />
grafisch dargestellt werden. Gerade bei Funktionen<br />
mit Parametern ist ein Funktionenplotter<br />
ein wichtiges Werkzeug zur Visualisierung, da<br />
diese Funktionen ohne Computer nur mit erheblichem<br />
Aufwand sichtbar gemacht werden können<br />
(Abb. 12.4).<br />
Abbildung 12.4: Visualisierung von Exponentialfunktionen<br />
Eine verbreitete Verwendung von Computeralgebrasystemen<br />
ist die Berechnung von numerischen<br />
o<strong>der</strong> algebraischen Ergebnissen, die Schülerinnen<br />
und Schüler ohne Computer nicht o<strong>der</strong><br />
nicht in angemessener Zeit bestimmen können.<br />
Ein Beispiel ist die Berechnung zur Optimierung<br />
von komplexen Verpackungsproblemen, wie etwa<br />
einer Milchverpackung [Böer, 1993]. Wird dieses<br />
Problem mit Hilfe von Funktionsgleichungen und<br />
Differenzialrechnung bearbeitet, so kommt man
Vielfältiger Computereinsatz im Analysisunterricht<br />
Abbildung 12.3: Begründungen suchen mit dem Computer<br />
leicht auf gebrochen-rationale Funktionen, bei denen<br />
die Nullstellen <strong>der</strong> ersten Ableitung mit Methoden<br />
<strong>der</strong> Schulmathematik nicht mehr zu bestimmen<br />
sind (Abb. 12.5).<br />
Abbildung 12.5: Rechnen mit komplexen Termen<br />
Zum Berechnen gehört auch das Erstellen von<br />
Termen und Gleichungen aus gegebenen Informationen.<br />
Wenn beispielsweise eine Funktionsgleichung<br />
aus vorhandenen Informationen, wie<br />
realen Daten über Wachstumsprozesse, ermittelt<br />
wird, dient <strong>der</strong> Computer ebenfalls als Rechenwerkzeug.<br />
Dieses so genannte Algebraisieren ist<br />
dadurch charakterisiert, dass reale Daten in den<br />
Computer eingegeben werden und <strong>der</strong> Rechner eine<br />
algebraische Darstellung liefert. Bakterien in<br />
einer Bakterienkultur beispielsweise wachsen in<br />
unterschiedlichen Phasen. In einer dieser Phasen<br />
vermehren sich die Bakterien sehr schnell, bis<br />
schließlich die Nährstoffe erschöpft sind und sich<br />
Stoffwechselprodukte im Nährmedium angesammelt<br />
haben. Stellt man solche Daten in einem Diagramm<br />
dar, so kann man erkennen, dass sich das<br />
Bakterienwachstum gut durch eine Exponentialfunktion<br />
beschreiben lässt. Mit Hilfe des Computers<br />
lässt sich auch direkt eine passende Funktionsgleichung<br />
erstellen. Aus den realen Daten wird<br />
also eine algebraische Darstellung hergestellt. Das<br />
verwendete funktionale Modell kann allerdings<br />
nicht allein durch die Passung <strong>der</strong> Daten gerechtfertigt<br />
werden, son<strong>der</strong>n muss auch im verwendeten<br />
Kontext hinterfragt werden.<br />
Im Kontrollieren findet <strong>der</strong> Computer ebenfalls<br />
eine sinnvolle Verwendung. So können Computer<br />
etwa bei <strong>der</strong> Bestimmung von Funktionen<br />
zu gegebenen Eigenschaften auf unterschiedliche<br />
Weise Kontrollprozesse unterstützen. Wird beispielsweise<br />
im Rahmen einer typischen Schulbuchaufgabe<br />
(s. u.) eine Funktionsgleichung mit<br />
bestimmten Bedingungen gesucht, so kann das<br />
entsprechende Ergebnis - unabhängig davon ob<br />
es mit o<strong>der</strong> ohne Computer bestimmt worden ist<br />
- sowohl durch algebraisches Nachvollziehen <strong>der</strong><br />
Rechnungen mit Hilfe des Computers (Abb. 12.6),<br />
als auch durch numerische o<strong>der</strong> grafische Verfahren<br />
kontrolliert (Abb. 12.7 u. 12.8).<br />
67
Gilbert Greefrath, Köln<br />
Beispiel <strong>für</strong> eine Schulbuchaufgabe [Brüstle et al.,<br />
1999]:<br />
Bei einem Flug mit einem Ballon liegt<br />
<strong>der</strong> Start in <strong>der</strong> Höhe 0, die Landung<br />
erfolgt 2 Stunden später auf einer Anhöhe,<br />
die 40 m höher als <strong>der</strong> Start<br />
liegt. 40 min befindet sich <strong>der</strong> Ballon<br />
im Steigflug, danach sinkt er etwas,<br />
um nach 1,5 Stunden die maximale<br />
Höhe 2000 m zu erreichen. Bestimme<br />
eine Funktion, die die Flughöhe in<br />
Abhängigkeit von <strong>der</strong> Flugdauer beschreibt.<br />
Abbildung 12.7: Numerische Kontrolle des Funktionsterms<br />
Für den kalkülorientierten innermathematischen<br />
Fall könnte man noch die Kontrolle einer<br />
Funktionsuntersuchung als Beispiel angeben.<br />
Die oben genannten Beispiele <strong>für</strong> Funktionen von<br />
Computern im Analysisunterricht können etwa<br />
wie folgt in Bezug auf mögliche Schwerpunktsetzungen<br />
des Unterrichts in das Schema eingeordnet<br />
werden (Abb. 12.9).<br />
Es zeigt sich, dass <strong>der</strong> Computer in allen Bereichen<br />
des Analysisunterrichts eingesetzt werden<br />
kann. Die Vielfalt des Computereinsatzes und<br />
ein vielfältiger Analysisunterricht können sich also<br />
gegenseitig unterstützen. Im Folgenden werden<br />
zwei Beispiele beschreiben, die die qualitative und<br />
diskrete Sicht auf Funktionen mit Computerunterstützung<br />
zeigen sollen.<br />
3 Beispiele<br />
3.1 Vermutungen äußern<br />
Das Ziel des Computereinsatzes ist stark abhängig<br />
von <strong>der</strong> Stelle im Lernprozess, an <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Computer eingesetzt wird. Im Folgenden wird ein<br />
Beispiel dargelegt, das im Analysisunterricht <strong>der</strong><br />
Oberstufe nach Kenntnis <strong>der</strong> Ableitung eingesetzt<br />
werden kann. Dabei geht es um die Erkundung<br />
68<br />
von hinreichenden und notwendigen Bedingungen<br />
<strong>für</strong> lokale Extrema sowie Zusammenhänge zwischen<br />
Monotonieverhalten und dem Verlauf <strong>der</strong><br />
ersten Ableitung. Das Ziel dieser Unterrichtssequenz<br />
ist das Entdecken <strong>der</strong> entsprechenden Zusammenhänge<br />
mit Hilfe von Funktionsgraphen.<br />
Dazu wird in Partnerarbeit am Computer gearbeitet.<br />
Der Arbeitsauftrag lautet, mit Hilfe eines<br />
Computeralgebrasystems und eines Funktionenplotters<br />
die Ableitung einer Funktion zu berechnen<br />
und anschließend beide Graphen von Funktion<br />
und Ableitung in ein Koordinatensystem zu<br />
plotten.<br />
Berechnet die Ableitungen <strong>der</strong> folgenden<br />
Funktionen und zeichnet jeweils<br />
die Graphen von Funktion und<br />
Ableitung in ein Koordinatensystem.<br />
Stellt Vermutungen auf über Zusammenhänge<br />
von Funktion und Ableitung<br />
und überprüft diese an selbstgewählten<br />
Beispielen.<br />
⊲ f (x) = 3x 3 − 21x 2 + 36x<br />
⊲ g(x) = 10x 5 − 20x 4 + 10x 3<br />
Abbildung 12.10: Graphen zum ersten Beispiel<br />
Abb. 12.10 zeigt die Graphen zum ersten<br />
Beispiel. Die Schülerinnen und Schüler können<br />
erkennen, dass <strong>der</strong> Funktionsgraph überall dort<br />
steigt, wo die Ableitung positiv ist, und dort fällt,<br />
wo die Ableitung negativ ist. An den Nullstellen<br />
<strong>der</strong> ersten Ableitung hat <strong>der</strong> Graph <strong>der</strong> Funktion<br />
waagerechte Tangenten. Um diese Zusammenhänge<br />
tatsächlich entdecken zu können, sind viele<br />
Beispiele nötig, die aber mit Hilfe des Computers<br />
schnell erzeugt werden können. Die zweite<br />
angegebene Funktionsgleichung hat eine doppelte<br />
Nullstelle und einen Sattelpunkt, damit auch<br />
diese Fälle betrachtet werden. Um einen Startpunkt<br />
mit geeigneten Beispielen zu bieten, wer-
den diese beiden Beispiele vorgegeben, gegebenenfalls<br />
kann auch darauf verzichtet werden und<br />
direkt mit selbstgewählten Beispielen gearbeitet<br />
werden. Der Computer ermöglicht dann das Finden<br />
und Bearbeiten von eigenen Beispielen in angemessener<br />
Zeit. Ein Ziel dieser Aufgabe ist, <strong>der</strong><br />
Fehlvorstellung entgegenzuwirken, dass alle Nullstellen<br />
<strong>der</strong> ersten Ableitung auch Extremstellen<br />
<strong>der</strong> Funktion sind. Das Beispiel dient dem Aufbau<br />
von qualitativen Vorstellungen und <strong>der</strong> Vorbereitung<br />
des grafischen Differenzierens, das dann ohne<br />
Computer durchgeführt werden soll. Der Computer<br />
wird in diesem Beispiel sowohl experimentell<br />
als auch zur Visualisierung eingesetzt.<br />
3.2 Verfahren entwickeln<br />
In einem zweiten Beispiel soll <strong>der</strong> Computer zur<br />
Unterstützung einer diskreten Sicht genutzt werden.<br />
Mathematisch interessant ist die Berechnung<br />
von Kurvenlängen. Diese soll hier ausgehend von<br />
<strong>der</strong> Idee bestimmt werden, dass die Kurve diskret<br />
betrachtet und die Länge <strong>der</strong> Kurve annähernd die<br />
Summe <strong>der</strong> Teilstrecken durch diskrete Punkte <strong>der</strong><br />
Kurve ist. Wir verwenden dazu einen Viertelkreis,<br />
da dessen Länge auch auf an<strong>der</strong>e Weise berechnet<br />
werden kann. So besteht zusätzlich die Möglichkeit,<br />
die Qualität des Ergebnisses zu beurteilen.<br />
Die Schülerinnen und Schüler bekommen den<br />
Graphen des Viertelkreises auf dem einige Punkte<br />
ausgewählt wurden mit <strong>der</strong> Aufgabe, ein Verfahren<br />
zu Entwickeln, die Länge eines Funktionsgraphen<br />
zu bestimmen.<br />
Entwickelt ein Verfahren, die Länge<br />
eines Graphen näherungsweise zu<br />
bestimmen. Verwendet dazu die Abbildung<br />
(Abb. 12.11).<br />
Vielfältiger Computereinsatz im Analysisunterricht<br />
Abbildung 12.6: Kontrolle mit Hilfe des Graphen<br />
Abbildung 12.11: „Diskretisierter“ Graph<br />
Das Ziel ist hier zunächst nicht, den Grenzwertprozess<br />
durchzuführen, son<strong>der</strong>n die Idee zu<br />
entwickeln, die Länge einer Kurve durch Zerlegung<br />
in Strecken zu messen. Dazu muss die Kurve<br />
durch die „diskrete Brille“ angesehen und nur ausgewählte<br />
Punkte dieser Kurve betrachtet werden.<br />
Mit dem Computer können dann die entsprechenden<br />
Streckenlängen bestimmt und addiert werden<br />
(Abb. 12.12).<br />
Abbildung 12.12: Mögliche Berechnung <strong>der</strong> Länge<br />
69
Gilbert Greefrath, Köln<br />
Abbildung 12.8: Algebraische Kontrolle mit einem Computeralgebrasystem<br />
Das Ziel ist hier nicht, den Grenzwertprozess<br />
zu motivieren. Dies kann zu einem späteren Zeitpunkt<br />
geschehen; dazu können allerdings die hier<br />
erzielten Ergebnisse wie<strong>der</strong> aufgegriffen werden.<br />
Hier soll zunächst das Konzept <strong>der</strong> Längenmessung<br />
von Kurven durch Strecken <strong>der</strong> „diskretisierten<br />
Kurve“ entdeckt werden. Die Notwendigkeit<br />
einer genaueren Berechnung ergibt sich hier nicht<br />
automatisch, da <strong>der</strong> Fehler bei 10 Punkten bereits<br />
unter einem Prozent liegt. Das Beispiel zeigt, dass<br />
auch die diskrete Arbeit mit Funktionen schon in<br />
vielen Fällen eine ausreichende Genauigkeit liefert<br />
und Konzepte besser deutlich machen kann.<br />
Der Computer wird in diesem Beispiel sowohl<br />
zur Visualisierung als auch zur Berechnung eingesetzt.<br />
4 Grenzen des Computers<br />
Die beiden Beispiele zeigen, dass Computer, zusätzlich<br />
zu den bekannten und vielfältigen Einsatzmöglichkeiten<br />
im Zusammenhang mit Funktionen,<br />
auch zur Unterstützung einer qualitativen<br />
und diskreten Sicht gewinnbringend eingesetzt<br />
werden können. Computer können also im Ma-<br />
70<br />
thematikunterricht wichtige und vielfältige Aufgaben<br />
übernehmen. Allerdings ersetzen sie nicht<br />
das inhaltliche Durchdringen <strong>der</strong> mathematischen<br />
Ideen. Dazu gehört als ein zentrales Konzept <strong>der</strong><br />
Analysis <strong>der</strong> Grenzwertprozess. Der Grenzwertprozess<br />
ist einerseits bei <strong>der</strong> Einführung <strong>der</strong> Ableitung<br />
und an<strong>der</strong>erseits bei <strong>der</strong> Einführung des<br />
Integrals eine zentrale Idee. Denkt man an die<br />
Einführung <strong>der</strong> Ableitung am Beispiel <strong>der</strong> Steigung<br />
einer Tangente in einem Punkt eines Funktionsgraphen,<br />
so können Computer zwar numerisch<br />
in nahezu beliebiger Genauigkeit die entsprechenden<br />
Werte von Sekanten in <strong>der</strong> Nähe dieses<br />
Punktes berechnen und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />
algebraisch auch Grenzwerte und Ableitungen<br />
ermitteln. Grenzwertberechnungen mit dem Computer<br />
sollten aber nicht unverstanden ausgeführt,<br />
son<strong>der</strong>n als Hilfe <strong>für</strong> das Verständnis des Grenzwertbegriffs<br />
genutzt werden. Das Verständnis selber<br />
kann aber nicht durch den Computer allein erlangt<br />
werden. Die Idee des Grenzwertes selbst beispielsweise<br />
muss von den Schülerinnen und Schülern<br />
- auch ohne Computer - zunächst erarbeitet<br />
werden.
Vielfältiger Computereinsatz im Analysisunterricht<br />
Abbildung 12.9: Einige Einsatzmöglichkeiten des Rechners im Analysisunterricht<br />
Mit Computern kann allerdings dieses Verständnis<br />
unterstützt werden, eben etwa durch Experimentieren,<br />
Visualisieren, Berechnen und Algebraisieren.<br />
Hier ist sicherlich eine Erkundungsphase<br />
mit dem Computer eine wichtige Hilfe<br />
<strong>für</strong> ein tiefgreifendes Verständnis dieses zentralen<br />
Konzepts. Dennoch bedarf es eines gedanklichen<br />
- quasi computerfreien - Schritts von einer Sekante<br />
mit sehr nahe beieinan<strong>der</strong>liegenden Punkten zu<br />
einer Tangente. Dieser gedankliche Schritt kann<br />
aber durch den Einsatz von Computern erleichtert<br />
und beson<strong>der</strong>s durch den experimentellen und<br />
visualisierenden Einsatz verkleinert werden. Der<br />
Computer kann also die Arbeit an zentralen Konzepten<br />
flankieren und sowohl zur Hinführung als<br />
auch zur weiterführenden Arbeit dienen. Er kann<br />
hier als Werkzeug zum Verstehen von <strong>Mathematik</strong><br />
und nicht nur zur Ausführung von <strong>Mathematik</strong><br />
begriffen werden.<br />
Um einen vielfältigen Analysisunterricht zu<br />
gewährleisten, sollten sowohl innermathematische<br />
und anwendungsbezogene als auch kalkülorientierte<br />
und anschauungsorientierte Aspekte<br />
einbezogen werden. Gerade <strong>der</strong> vielfältige Computereinsatz<br />
mit seinen unterschiedlichen Funk-<br />
tionen im Unterricht kann hier in allen Bereichen<br />
des Analysisunterrichts Unterstützung bieten und<br />
auf diese Weise zur breiteren und tieferen Sicht<br />
auf die Analysis beitragen.<br />
Literatur<br />
Barzel, Bärbel, Stephan Hußmann & Timo Leu<strong>der</strong>s (2005):<br />
Computer, Internet & Co. im <strong>Mathematik</strong>unterricht. Berlin:<br />
Cornelson Scriptor.<br />
Böer, Heinz (1993): Extremwertproblem Milchtüte. Eine tatsächliche<br />
Problemstellung aktueller industrieller Massenproduktion.<br />
In: Blum, Werner (Hg.): Anwendungen und Modellbildung<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht. Beiträge aus dem ISTRON-<br />
Wettbewerb, Hildesheim: Franzbecker, 1–16.<br />
Brüstle, Gerhard, Heidi Buck, Rolf Dürr, Hans Freudigmann,<br />
Rolf Reimer, Günther Reinelt, Maximilian Selinka, Jörg Stark,<br />
Manfred Zinser, Ingo Weidig & Peter Zimmermann (Hg.)<br />
(1999): Lambacher-Schweizer Analysis Grundkurs. Stuttgart:<br />
Ernst Klett Schulbuchverlag.<br />
Henn, Hans-Wolfgang (2004): Computer-Algebra-Systeme –<br />
Junger Wein o<strong>der</strong> neue Schläche? Journal <strong>für</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik,<br />
25(4), 198–220.<br />
Hischer, Horst (2002): <strong>Mathematik</strong>unterricht und Neue Medien.<br />
Hintergründe und Begründungen in fachdidaktischer und<br />
fachübergreifen<strong>der</strong> Sicht. Hildesheim: Franzbecker.<br />
Weigand, Hans-Georg & Thomas Weth (2002): Computer im<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht - Neue Wege zu alten Zielen. Berlin:<br />
Spektrum Akademischer Verlag.<br />
71
Gilbert Greefrath, Köln<br />
72
• Kühe, Kin<strong>der</strong> und Kultusminister(innen)<br />
Fritz Nestle, Ulm<br />
Im Beitrag werden biographische Elemente mit Argumentation zum Thema sowie zum Hintergrundthema<br />
Analysis eingebunden.<br />
1946<br />
Nachdem <strong>der</strong> Bombenkrieg und die Pläne des<br />
Herrn Morgenthau dem Autor zusammen bereits<br />
ein Unterrichtsjahr erspart hatten, beschloss er,<br />
die 12. Klasse zu überspringen und im Schuljahr<br />
1947/48 gleich die Abschlussklasse, die Klasse<br />
13, zu besuchen. Nach einigem Wi<strong>der</strong>stand wurde<br />
dieser Übergang von <strong>der</strong> Lehrerkonferenz erlaubt.<br />
Es bleibt noch anzumerken, dass er in diesem<br />
Jahr als Beitrag zur Ernährung <strong>der</strong> Familie zunächst<br />
eine, später drei Ziegen gehalten, das heißt<br />
mit Futter versorgt und gemolken hatte. Als Futtergrundlage<br />
konnte er einen Wallgraben <strong>der</strong> Bundesfestung<br />
Ulm pachten und nutzen, nachdem er<br />
dort die Kriegsfolgen mit beträchtlicher körperlicher<br />
Arbeit beseitigt hatte.<br />
Die Bundesfestung selbst hatte nie in den 150<br />
Jahren ihres Bestehens die geplanten Funktionen<br />
<strong>für</strong> die Sicherheit Deutschlands erfüllt, weil sich<br />
die Zeiten durch technische Erfindungen geän<strong>der</strong>t<br />
hatten.<br />
Dass analog Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Organisation<br />
des Lernens, speziell auch <strong>der</strong> Analysis überfällig<br />
sind, zeigt unter an<strong>der</strong>em, dass Computerspiele<br />
bei vielen Jugendlichen den Kampf um die Aufmerksamkeit<br />
gegenüber schulischem Lernen gewonnen<br />
haben.<br />
Analysis 1<br />
Die Einschätzung <strong>der</strong> Effektivität <strong>der</strong> damaligen<br />
schulischen Lernorganisation durch den Autor<br />
führte dazu, dass er glaubte, nur den damals in<br />
<strong>der</strong> 12. Klasse zu behandelnden Teil <strong>der</strong> Analysis<br />
nachlernen zu müssen. Er sah da<strong>für</strong> – bei schönem<br />
Wetter im Donaubad – 2 Wochen mit täglich<br />
zwei Stunden Arbeit im Heft eines seiner neuen<br />
Mitschüler vor. Schulbücher waren damals noch<br />
verboten.<br />
Mit dieser Vorbereitung war er zwar in allen<br />
Fächern außer Englisch, Musik und Sport an <strong>der</strong><br />
Spitze <strong>der</strong> neuen Klasse; er erzielte jedoch in <strong>der</strong><br />
ersten <strong>Mathematik</strong>klassenarbeit nur die Note 1,5.<br />
(Beste Arbeit in <strong>der</strong> Klasse). Trotzdem sah er sich<br />
in seinen Vorstellungen von selbstorganisiertem<br />
Lernen mit primitivsten Lernmedien bestätigt.<br />
Kuhhaltung in Vergangenheit und<br />
Zukunft<br />
Die Organisation <strong>der</strong> Milchwirtschaft ist weitgehend<br />
noch genauso an <strong>der</strong> Vergangenheit zurückliegen<strong>der</strong><br />
Jahrhun<strong>der</strong>te orientiert wie die Lernorganisation<br />
in den allgemeinbildenden Schulen <strong>der</strong><br />
Bundesrepublik:<br />
Häufig stehen die Kühe noch an kurzen Ketten<br />
eng nebeneinan<strong>der</strong> in dumpfen Ställen. Der Tagesablauf<br />
wird extern festgelegt. Für viele Milchbauern<br />
ist <strong>der</strong> Schwemmstall <strong>der</strong> Gipfel mo<strong>der</strong>ner<br />
Milchwirtschaft. Die Kühe erhalten zum Teil<br />
keine Strohschüttung mehr, son<strong>der</strong>n liegen angekettet<br />
auf einem Spaltenboden. Durch die Spalten<br />
können Kot und flüssige Abson<strong>der</strong>ungen über<br />
einen Sammelkanal abfließen. Alle paar Monate<br />
wird die gesammelte Masse großflächig über<br />
die landwirtschaftlichen Nutzflächen verteilt. Kilometerweit<br />
kann man die entstehende Duftwolke<br />
erschnüffeln. Der Autor erspart sich und, falls<br />
vorhanden, seinen Lesern in diesem Teilaspekt die<br />
Analogie zur Lernorganisation in den Schulen.<br />
Die großen Neuerungen in <strong>der</strong> Milchwirtschaft<br />
sind Melkroboter und Laufstall:<br />
Viele vorher vom Bauern ohne Mitsprache <strong>der</strong><br />
Betroffenen gefällte Entscheidungen werden an<br />
die Kühe selbst und <strong>der</strong>en Intelligenz delegiert.<br />
Die aktive Einbeziehung <strong>der</strong> Kühe in die Milchproduktion<br />
erleichtert die Arbeit des Bauern und<br />
verbessert das Ergebnis, den Milchertrag, nach<br />
Menge und Qualität:<br />
Im Laufstall sind die Ketten gefallen; die Kühe<br />
entscheiden selbst, wann sie fressen o<strong>der</strong> gemolken<br />
werden wollen, 24 Stunden am Tag. Der<br />
Melkroboter weist Belohnungen zu, bei entsprechenden<br />
Anlässen informiert er den Bauern telefonisch<br />
über Unregelmäßigkeiten.<br />
Analysis 2<br />
Wir schreiben das Jahr 1968. Der Autor versucht<br />
sich in zwei 12., beziehungsweise ein Jahr später<br />
zwei 13. Klassen an einem Vorgriff auf eine<br />
mo<strong>der</strong>nere Lernorganisation, bei <strong>der</strong> die Intelligenz<br />
<strong>der</strong> Lernenden nicht weitgehend ausgeschaltet,<br />
son<strong>der</strong>n zur Organisation des eigenen Lernens<br />
im Fach <strong>Mathematik</strong>, speziell wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Analysis,<br />
eingesetzt wird. Das heißt, bis auf einen auf<br />
den Klassenarbeitsrhythmus und den Lehrplan abgestimmten<br />
Stoffverteilungsplan organisieren die<br />
Schüler ihren Lernprozess selbst – fast so frei wie<br />
die Kühe ihren Tag im Laufstall.<br />
Das eingeführte Schulbuch diente als Lernmedium.<br />
Die wichtigste Neuerung war <strong>für</strong> die Schüler<br />
<strong>der</strong> Zugriff auf das Lösungsheft zum Schulbuch<br />
(damals fast ein Sakrileg, weil dadurch die<br />
fachliche Überlegenheit <strong>der</strong> Lehrkräfte vermin<strong>der</strong>t<br />
werden kann) – gelegentlich wurde <strong>der</strong> Lehrer<br />
in die Diskussion <strong>der</strong> Lösungen eingeschal-<br />
73
Fritz Nestle, Ulm<br />
tet. Unter http://www.bildungsoptionen.<br />
de/allgemein/aula.htm kann man das Wichtigste<br />
über den Verlauf des Versuchs nachlesen.<br />
Noch ein Hinweis: Der Erfolg des Versuchs wurde<br />
an einem externen Kriterium, nämlich dem Zentralabitur<br />
in Baden-Württemberg, gemessen. Das<br />
Ergebnis ist vergleichbar mit dem <strong>der</strong> Befreiung<br />
<strong>der</strong> Kühe.<br />
Computerspiele und die Motivation<br />
von Kin<strong>der</strong>n<br />
Heute fliehen viele Jugendliche vor den Misserfolgen<br />
in <strong>der</strong> Schule und vor <strong>der</strong> als monoton empfundenen,<br />
obrigkeitsstaatlichen Lernorganisation<br />
<strong>der</strong> Schule in Computerspiele. Sie investieren 20<br />
bis 50 Stunden intensiver „Arbeit“ pro Woche in<br />
das Spielen. Dort fühlen sie sich akzeptiert und<br />
ernst genommen – und sie haben sichtbaren Erfolg<br />
in den Computerspielen. Kein Wun<strong>der</strong>; wurden<br />
diese doch zum Teil von früheren Lehrern entwickelt,<br />
die mit dem Versuch, auf analoge Weise<br />
mehr Rückmeldungen zum Lernen <strong>der</strong> Jugendlichen<br />
in die Arbeit <strong>der</strong> Schule zu integrieren, an <strong>der</strong><br />
Starre <strong>der</strong> Schulorganisation gescheitert waren.<br />
Aufschlussreich ist <strong>der</strong> Kommentar von Freak78.<br />
Er stammt aus einem Blog des Deutschen<br />
Bundestags (Google findet ihn unter ’Abgetaucht<br />
in die virtuelle Welt’),<br />
freak78 am 11.11.08: „Was mich an<br />
den Spielen begeistert ist das relativ<br />
einfache Erreichen von Anerkennung.<br />
Und so geht es sicher vielen<br />
Spielern. Es ist aber nicht das tolle<br />
Gefühl ‚weil ich jemanden (etwas) erschossen<br />
habe‘, son<strong>der</strong>n weil ich besser<br />
war als jemand an<strong>der</strong>er.“<br />
Die vereinigte Bremskraft <strong>der</strong> Kultusverwaltungen<br />
und <strong>der</strong> Fachdidaktiken hat bisher ausgereicht,<br />
die Lernorganisation in den Schulen und<br />
die Ausbildung <strong>der</strong> Lehrkräfte auf dem <strong>für</strong> 1880<br />
vorzüglichen Stand des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts zu halten.<br />
Insbeson<strong>der</strong>e hüten sich beide davor, das <strong>für</strong><br />
selbständiges Lernen nötige kognitiv unerlässliche,<br />
mechanische Grundwissen so zu definieren,<br />
dass je<strong>der</strong> Lernende je<strong>der</strong>zeit selbst seinen Lernstand<br />
mit sofortiger Rückmeldung prüfen kann.<br />
Es ist <strong>für</strong> jeden einsichtig, dass niemand Auto<br />
fahren kann, <strong>der</strong> nachdenken muss, wo das Gaspedal<br />
liegt und welche Wirkung seine Betätigung<br />
hat. Dass man zum Beispiel die siebte Klasse eines<br />
Gymnasiums erreichen kann, ohne das kleine<br />
Einmaleins zu beherrschen, scheint indessen<br />
die wenigsten Lehrkräfte zu stören. Sind sie doch<br />
nicht verantwortlich <strong>für</strong> Schwächen <strong>der</strong> Arbeit in<br />
früheren Klassen<br />
Seit das Internet ubiquitär verfügbar ist, wäre<br />
es ein Leichtes, grundlegende Wissenselemente so<br />
74<br />
im Internet zugänglich zu machen, dass <strong>der</strong> jeweilige<br />
Lernstand vom Lernenden selbst mit sofortiger<br />
Rückmeldung überprüft werden kann.<br />
Analysis 3 – gehört das Folgende zu<br />
diesem Thema Analysis?<br />
"bei Battlefield 2 gibt es jungs, die dürfen<br />
noch nicht mal mofa fahren....können<br />
einen aber aus 800m entfernung (scharfschütze)<br />
aus einem fliegenden hubschrauber<br />
rausschießen und kalkulieren dabei<br />
mal gerade eben flugzeit des geschosses<br />
in relation zur bewegung des<br />
ziels + geschossflugbahn resultierend aus<br />
rückstoß (aufwärtsbogen) und geschwindigkeitsverlust<br />
(abwärtsbogen)....und ich<br />
glaub würde es im spiel wind geben (seitwärtskurve)<br />
würden sie den auch noch<br />
mit einkalkulieren ..... können einem aber<br />
nicht sagen was eine winkelfunktion ist!"<br />
(Daecraban im Bundestagforum ‚Abgetaucht<br />
in die virtuelle Welt‘)<br />
Gibt es intuitive Vorstellungen von den Begriffen<br />
<strong>der</strong> Analysis? Computerspiele als Lehrplanthema<br />
wie in Schottland?<br />
Die KMK und die Motivation von<br />
Kin<strong>der</strong>n<br />
Von <strong>der</strong> Südwestpresse Ulm wurde im Frühsommer<br />
<strong>2009</strong> die Frage gestellt, ob sich jemand im<br />
KM da<strong>für</strong> interessiert, warum sich auch Hauptschüler<br />
bei Computerspielen 20 bis 50 Stunden<br />
pro Woche hervorragend konzentrieren können,<br />
aber in Schulstunden die 45 Minuten nicht durchhalten.<br />
Am 11.5.<strong>2009</strong> antwortet das Kultusministerium<br />
Baden-Württemberg in <strong>der</strong> Zeitung, es sei<br />
alarmierend, wenn Jugendliche so lang am Computer<br />
sitzen könnten. Der Bezug zur Lernorganisation<br />
in <strong>der</strong> Schule wurde ignoriert o<strong>der</strong> nicht erkannt.<br />
Ist es nicht noch viel alarmieren<strong>der</strong>, wie wenig<br />
im Kultusministerium Baden-Württemberg<br />
die Fehlallokation <strong>der</strong> Zeit Jugendlicher und Wege<br />
zur Abhilfe analysiert werden?<br />
Wenn auch nur ein Teil <strong>der</strong> von Jugendlichen<br />
in Computerspiele investierten Zeit auf schulische<br />
Lerninhalte umgelenkt werden könnte, würde sich<br />
die Schule in ein echtes „Haus des Lernens“ än<strong>der</strong>n.<br />
Wie wenig die KMK die richtigen Steuerungsvariablen<br />
<strong>für</strong> selbständiges Lernens setzt, ist noch<br />
weitaus alarmieren<strong>der</strong> als die natürliche Handlungsweise<br />
Jugendlicher, sich vorrangig mit Tätigkeiten<br />
zu beschäftigen, bei denen sie positive<br />
Rückmeldungen erhalten: Die KMK<br />
⊲ dekretiert Mindestlernzeiten (statt Höchstlernzeiten;<br />
314. KMK-Sitzung), das heißt, schnelle<br />
Lerner sind nicht erwünscht (Max Planck (Ab-
itur mit 16) hätte sich an<strong>der</strong>s orientieren müssen),<br />
⊲ bietet keine objektiv überprüfbaren Bildungsziele,<br />
das heißt, <strong>der</strong> Willkür bei Stoffauswahl<br />
und Notengebung sind Tür und Tor geöffnet,<br />
⊲ erkennt selbstorganisierte Lernleistungen in<br />
<strong>der</strong> Regel nicht an, das heißt, Eigeninitiative<br />
wird erstickt,<br />
⊲ verschwendet Steuergel<strong>der</strong>, das heißt, verantwortet<br />
vermeidbare Parallelarbeit von mehr als<br />
500000 Lehrkräften.<br />
Solche Bedingungen töten die Motivation <strong>für</strong><br />
selbstorganisiertes Lernen.<br />
Analysis 4<br />
Gefragt sind von <strong>der</strong> <strong>Didaktik</strong> Antworten auf die<br />
folgenden Fragen:<br />
Kühe, Kin<strong>der</strong> und Kultusminister(innen)<br />
⊲ Welche Vorstellungen sollten die Jugendlichen<br />
mit „Analysis“ verbinden?<br />
⊲ Über welche Begriffe aus <strong>der</strong> Analysis sollten<br />
die Jugendlichen zuverlässig verfügen?<br />
⊲ Welche Routinen sollten die Jugendlichen ohne<br />
Hilfsmittel beherrschen?<br />
⊲ Wo findet man Lernkontrollen mit sofortiger<br />
Rückmeldungen dazu im Netz?<br />
⊲ Welche Hilfsmittel (Programme) sollten die Jugendlichen<br />
anwenden können?<br />
⊲ Welche Anwendungsbereiche sollen mit Mitteln<br />
<strong>der</strong> Analysis behandelt werden?<br />
Weiterführende Beiträge zum Thema findet<br />
man, von Zeit zu Zeit aktualisiert, in <strong>der</strong> Netzversion<br />
dieses Beitrags unter http://(www.<br />
bildungsstandards.de/09/kuhmi.html/<br />
quellen<br />
75
Fritz Nestle, Ulm<br />
76
• Werkzeuge <strong>für</strong> das individuelle Lernen in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />
Andreas Fest, Schwäbisch Gmünd & Marc Zimmermann, Ludwigsburg<br />
<strong>Mathematik</strong> spielt in vielen Studiengängen – auch jenseits <strong>der</strong> Diplom- und Lehramtsstudiengänge<br />
in diesem Fach – eine wesentliche Rolle. Im Gegensatz zur aktuellen Lehre, bei <strong>der</strong> häufig die<br />
Vermittlung von Arbeitstechniken im Vor<strong>der</strong>grund steht, betonen neuere didaktische Ansätze vor<br />
allem auch die Entwicklung mathematischer Kompetenzen o<strong>der</strong> Prozesse wie Problemlösen, Argumentieren,<br />
Kommunizieren usw. Entsprechend sollten auch verstärkt die Prozesse <strong>der</strong> Studierenden<br />
bewertet werden und nicht allein <strong>der</strong>en Produkte.<br />
Das Projekt SAiL-M beschreibt aktivierende Umgebungen zum <strong>Mathematik</strong>lernen in <strong>der</strong> Hochschule<br />
in Form von didaktischen Design Patterns. Diese Lernumgebungen werden in <strong>der</strong> Praxis eingesetzt<br />
und unter Berücksichtigung von Erkenntnissen aus <strong>der</strong> Lernpsychologie und <strong>Mathematik</strong>didaktik<br />
evaluiert.<br />
Als Bestandteil dieser Lernumgebungen werden prototypische Werkzeuge <strong>für</strong> die automatische Dokumentation<br />
und Analyse von mathematischen Prozessen entwickelt. Diese orientieren sich inhaltlich<br />
an den Einführungslehrveranstaltungen im <strong>Mathematik</strong>studium <strong>für</strong> Lehramtsstudenten. Sie sollen<br />
den Lernenden während ihrer Arbeit mit dem Computer individuelle und (semi-)automatische<br />
Rückmeldungen und Hilfen <strong>für</strong> ihren aktuellen Lernprozess geben. Alle Werkzeuge folgen den Prinzipien<br />
<strong>der</strong> HINT, HELP, TECHNOLOGY und FEEDBACK ON DEMAND Pattern. Zwei solcher<br />
Werkzeuge werden in diesem Beitrag exemplarisch vorgestellt: ein Lernlabor zum Thema Kongruenzabbildungen<br />
und Achsensenspiegelungen sowie ein Programm zum Führen einfacher geometrischer<br />
Beweise .<br />
1 Einleitung<br />
Seit dem Beschluss <strong>der</strong> Kultusministerkonferenz<br />
(KMK) über die Bildungsstandards 2004 spielen<br />
die mathematischen Prozesse eine immer wichtigere<br />
Rolle beim <strong>Mathematik</strong>lernen. Schülerinnen<br />
und Schüler sollen „in aktiver Auseinan<strong>der</strong>setzung“<br />
[KMK, 2004, S. 6], mathematische Kenntnisse<br />
erwerben, zum Beispiel in dem sie „Probleme,<br />
Aufgaben und Projekte“ (ebd., S. 6) bearbeiten<br />
o<strong>der</strong> über mathematische Inhalte kommunizieren.<br />
Diese reichhaltigen Lernkontexte lassen sich<br />
in <strong>der</strong> Hochschullehre und damit in <strong>der</strong> Lehramtsausbildung<br />
nur schwer finden. Es herrschen immer<br />
noch „traditionelle“ Lehr-Lernkonzeptionen<br />
zum <strong>Mathematik</strong>lernen vor, insbeson<strong>der</strong>e in Veranstaltungen<br />
mit hohen Teilnehmerzahlen [vgl.<br />
Holton, 2001]. Häufig werden in diesen Veranstaltungen<br />
wöchentlich Übungsblätter von den Studierenden<br />
bearbeitet, die zu einem bestimmten<br />
Zeitpunkt abgeben werden müssen. Tutoren o<strong>der</strong><br />
Assistenten korrigieren und bewerten die abgegebenen<br />
Lösungen. Anschließend werden diese in<br />
den wöchentlichen Präsenzübungen vorgerechnet.<br />
Individuelle Lernprozesse werden dadurch kaum<br />
geför<strong>der</strong>t und unterstützt.<br />
Das Projekt SAiL-M 1 (Semi-automatische<br />
Analyse individueller Lernprozesse in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>)<br />
entwickelt und beschriebt aktivierende<br />
Lernumgebungen zum <strong>Mathematik</strong>lernen an<br />
<strong>der</strong> Hochschule, auch in Veranstaltungen mit hohen<br />
Teilnehmerzahlen. Das Veranstaltungskonzept<br />
for<strong>der</strong>t eine hohe Eigenaktivität von den Stu-<br />
dierenden ein, zum Beispiel werden in den Übungen<br />
keine Lösungen von den Tutoren vorgerechnet<br />
son<strong>der</strong>n in Kleingruppen die Aufgaben bearbeitet.<br />
In <strong>der</strong> Veranstaltung werden dann Fragen<br />
und Probleme aus den Übungen aufgegriffen und<br />
diskutiert. Lernprozesse sollen durch diese Konzeption<br />
besser unterstützt und begleitet werden.<br />
Zur Unterstützung studentischer Lernprozesse<br />
werden darüber hinaus prototypisch <strong>für</strong> ausgewählte<br />
mathematische Aufgabenstellungen computerbasierte<br />
Tools entworfen und implementiert.<br />
Diese Tools sollen bei <strong>der</strong> Dokumentation<br />
und Auswertung <strong>der</strong> studentischen Lernprozesse<br />
durch den Dozenten helfen und gezieltes Feedback<br />
an die Studierenden geben. Dabei wird <strong>der</strong><br />
Ansatz des semi-automatischen Assessments verfolgt.<br />
2 Semi-automatisches Assessment<br />
Die Idee des semi-automatischen Assessments ergibt<br />
sich aus <strong>der</strong> Tatsache, dass die Lehrenden,<br />
d.h. die Dozentin bzw. <strong>der</strong> Dozent und die Tutorinnen<br />
und Tutoren, nicht den gesamten Lernprozess<br />
jedes einzelnen Studierenden vollständig<br />
begleiten und analysieren können, um die zur optimalen<br />
För<strong>der</strong>ung des Lernprozesses notwendige<br />
Rückmeldung zu geben.<br />
Eine solche Rückmeldung sollte jedoch immer<br />
dann – möglichst ohne zeitliche Verzögerung – erfolgen,<br />
wenn <strong>der</strong> Lernende diese erwartet [Feedback<br />
on Demand, vgl. Bescherer & Spannagel,<br />
<strong>2009</strong>], und den gesamten Lösungs- und Lernpro-<br />
1 Geför<strong>der</strong>t durch das Bundesministerium <strong>für</strong> Bildung und Forschung (BMBF), ein Gemeinschaftsprojekt <strong>der</strong> Pädagogischen Hochschulen<br />
Ludwigsburg, Schwäbisch Gmünd und Weingarten sowie <strong>der</strong> RWTH Aachen, www.sail-m.de.<br />
77
Andreas Fest, Schwäbisch Gmünd & Marc Zimmermann, Ludwigsburg<br />
zess analysieren. Ein automatisches Assessment,<br />
wie in Bescherer et al. [2010] beschrieben, ist dabei<br />
oftmals nicht realisierbar, da gerade in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />
die Mengen <strong>der</strong> möglichen Lösungswege<br />
und dabei auftretenden Fehlerquellen nahezu<br />
unbegrenzt sind und nicht bei je<strong>der</strong> Problemstellung<br />
vollständig automatisch erkannt werden können.<br />
Allerdings ist dies in unserer Situation auch<br />
gar nicht notwendig. Die Erfahrung zeigt, dass die<br />
meisten Lernenden einen Lösungsweg aus einer<br />
kleinen Auswahl von Standardlösungen verfolgen.<br />
Auch die dabei auftretenden Denk-, Recheno<strong>der</strong><br />
Schreibfehler gehören oftmals zu einer kleinen<br />
Menge von Standardfehlern. Die Idee des<br />
semi-automatischen Assessments basiert nun darauf,<br />
diese Standardlösungen und -fehler automatisch<br />
zu erkennen und zu ihnen direktes Feedback<br />
zu geben. Unübliche Lösungswege und Fehler,<br />
die von <strong>der</strong> Software nicht automatisch analysiert<br />
werden können, werden identifiziert und bei Bedarf<br />
an den Lehrenden gemeldet. Dieser kann diese<br />
Lösung dann selbst analysieren und dem Studierenden<br />
ein persönliches Feedback geben. Darüber<br />
hinaus kann <strong>der</strong> Lehrende eine statistische<br />
Auswertung über das Auftreten von Standardlösungen<br />
und -fehlern erhalten.<br />
Die Analyse gesamter Lern- und Lösungsprozesse<br />
setzt <strong>der</strong>en vollständige Aufzeichnung voraus.<br />
Insbeson<strong>der</strong>e <strong>für</strong> die persönlichen Analyse<br />
durch den Lehrenden ist dies unumgänglich. Diese<br />
Aufzeichnung kann entwe<strong>der</strong> durch das Lerntool<br />
selbst o<strong>der</strong> mittels einer speziellen Capture-<br />
&-Replay-Software vollzogen werden [vgl. Spannagel<br />
& Kortenkamp, <strong>2009</strong>]. Die Speicherung <strong>der</strong><br />
aufgezeichneten Lernprozesse kann dabei entwe<strong>der</strong><br />
lokal o<strong>der</strong> auf einem Server über eine Internetverbindung<br />
erfolgen. Diese Aufzeichnung kann<br />
dem Dozenten zur Analyse bereitgestellt werden,<br />
wenn vom Benutzer persönliches Feedback erfragt<br />
wird. Herding et al. [2010] beschreiben ein<br />
Framework, dass ein solches persönliches Feedback<br />
on Demand per E-Mail umsetzt.<br />
3 Entwickelte Tools<br />
Die Ideen des semi-automatischen Assessments<br />
werden in den im Rahmen des Projekts SAiL-M<br />
entwickelten Lern-Tools umgesetzt. Erste prototypische<br />
Software wurde bisher <strong>für</strong> die Arithmetikund<br />
Geometrie-Vorlesungen <strong>der</strong> beteiligten Pädagogischen<br />
Hochschulen implementiert. Zwei<br />
dieser Tools, die geometrische Inhalte behandeln,<br />
werden im Folgenden vorgestellt. Weitere in <strong>der</strong><br />
Entwicklung befindliche Programme behandeln<br />
Themen wie Mengenlehre [Zimmermann & Herding,<br />
2010], Zuordnungen und Funktionen [Hiob-<br />
Viertler & Fest, 2010], Gruppentafeln sowie vollständige<br />
Induktion.<br />
78<br />
Die Programme setzen zur Unterstützung des<br />
Lernprozesses die Design-Pattern FEEDBACK-<br />
ON-DEMAND, HINT-ON-DEMAND und<br />
HELP-ON-DEMAND [Bescherer & Spannagel,<br />
<strong>2009</strong>] um.<br />
3.1 MoveIt!-M<br />
Die Lernsoftware MoveIt!-M soll das Verständnis<br />
von ebenen Kongruenzabbildungen und ihrer<br />
Komposition för<strong>der</strong>n. Der zentrale Aspekt dieser<br />
laborbasierten Lernumgebung ist <strong>der</strong> Reduktionssatz,<br />
nach dem jede Kongruenzabbildung als<br />
Komposition von maximal drei Achsenspiegelungen<br />
dargestellt werden kann [Dreispiegelungssatz,<br />
Krauter, 2005].<br />
Das Programm besteht aus bisher 6 Lernlaboren,<br />
die je nach Lernstand und Lernziel einzeln<br />
o<strong>der</strong> in Folge bearbeitet werden können. Jedes Labor<br />
enthält eine Auswahl vordefinierter Beispiele,<br />
die durch den Benutzer abgewandelt werden<br />
können. Zusätzlich können eigene Beispiele konstruiert<br />
werden, indem eine Folge von Spiegelachsen<br />
ausgewählt wird. Durch die Verknüpfungen<br />
<strong>der</strong> entsprechenden Achsenspiegelungen wird<br />
eine neue Kongruenzabbildung definiert, die dann<br />
untersucht werden kann. Der Abbildungstyp und<br />
die charakterisierenden Eigenschaften <strong>der</strong> so definierten<br />
Abbildung wird von <strong>der</strong> Software automatisch<br />
erkannt.<br />
Die Lernlabore bestehen jeweils aus einem<br />
Steuer-Panel und einer interaktiven Zeichenfläche,<br />
in <strong>der</strong> die Kongruenzabbildung graphisch<br />
durch Urbild und Bild einer Figur sowie definieren<strong>der</strong><br />
Elemente (z.B. Spiegelachsen) dargestellt<br />
wird (vgl. Abbildung 14.1). Je nach Aufgabe<br />
kann die Urbildfigur in <strong>der</strong> Zeichenfläche frei bewegt<br />
(verschoben, gedreht bzw. umgeklappt) werden<br />
und die Än<strong>der</strong>ungen auf die Urbildfigur beobachtet<br />
werden. Weiterhin werden Kongruenzabbildungen<br />
entwer<strong>der</strong> als textliche Beschreibung<br />
o<strong>der</strong> symbolisch als Verknüpfung von Spiegelachsen<br />
dargestellt.<br />
Labor 1 Zum Kennenlernen <strong>der</strong> verschiedenen<br />
Typen von Kongruenzabbildungen werden diese<br />
dargestellt. Der Lernende erforscht die Effekte<br />
<strong>der</strong> Abbildung auf eine geometrische Figur und<br />
entwickelt dabei ein Gefühl <strong>für</strong> die verschiedenen<br />
Abbildungen.<br />
Labor 2 Hier ist die verbale Beschreibung einer<br />
Kongruenzabbildung gegeben. Der Benutzer soll<br />
nun die Lage des Bildes einer Figur unter dieser<br />
Abbildung schätzen und eine weitere Figur<br />
an die entsprechende Position bewegen. Mit diesem<br />
Labor soll das Gefühl <strong>für</strong> Kongruenzabbildungen<br />
vertieft werden.<br />
Labor 3 In diesem Labor soll zu einer gegebenen<br />
Bild-Figur unter einer Kongruenzabbildung<br />
die Position des Urbildes bestimmt werden.<br />
Hierbei sind die Effekte <strong>der</strong> Kongruenzab-
Werkzeuge <strong>für</strong> das individuelle Lernen in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />
Abbildung 14.1: MoveIt!-M – Kongruenzabbildungen und Achsenspiegelungen<br />
bildung umzukehren. Dieses Labor dient somit<br />
als Einführung des Begriffs <strong>der</strong> inversen Abbildung.<br />
Labor 4 Zu zwei gegebenen Figuren soll die<br />
Kongruenzabbildung bestimmt werden, die die<br />
erste Figur auf die zweite abbildet. Dazu müssen<br />
passende Spiegelachsen konstruiert und die korrekte<br />
Verknüpfung <strong>der</strong> Achsenspiegelungen definiert<br />
werden.<br />
Labor 5 Bei dieser Übung soll wie<strong>der</strong>um zu gegebener<br />
Urbild- und Bild-Figur <strong>der</strong> Typ und<br />
die definierenden Parameter <strong>der</strong> entsprechenden<br />
Kongruenzabbildung erkannt und eingegeben<br />
werden.<br />
Labor 6 Eine gegebene Verknüpfung von Achsenspiegelungen<br />
soll entsprechend dem Reduktionssatz<br />
<strong>für</strong> Kongruenzabbildungen vereinfacht<br />
werden. Dazu können verschiedene geometrische<br />
und algebraische Operationen ausgeführt<br />
werden (z.B. simultanes Drehen zweier Spiegelachsen<br />
um ihren Schnittpunkt, Weglassen von<br />
Achsenspiegelungen im Term).<br />
Alle Labore enthalten angepasste Feedback-<br />
Mechanismen. Entsprechend <strong>der</strong> verschiedenen<br />
Aufgaben sind unterschiedliche Feedback-Typen<br />
implementiert. Aufgrund des Aufbaus <strong>der</strong> ersten<br />
drei Labore sowie des fünften Labors sind<br />
entwe<strong>der</strong> keine automatischen Analysen erfor<strong>der</strong>lich,<br />
o<strong>der</strong> diese können die Korrektheit ein-<br />
zelner Lösungen sogar vollautomatisch überprüfen.<br />
Demgegenüber eröffnen die Labore 4 und<br />
6 eine große Bandbreite möglicher Lösungswege,<br />
die durch semi-automatisches Feedback analysiert<br />
werden können. Allen Laboren gemein ist,<br />
dass <strong>der</strong> Einzelaufgaben-übergreifende Lösungsprozess<br />
durch semi-automatische Rückmeldungen<br />
begleitet wird.<br />
Es ist offensichtlich, dass sich in geometrischen<br />
Lernumgebungen die Implementation eines<br />
visuellen Feedbacks anbietet. Dementsprechend<br />
wurde in den Laboren ein animiertes visuelles<br />
Feedback immer dann verwirklicht, wenn dies<br />
ausreichend Informationen liefert. So wird zum<br />
Beispiel im zweiten und dritten Labor die Korrektheit<br />
<strong>der</strong> Lösung durch einen kurzzeitigen Farbwechsel<br />
<strong>der</strong> Lösungsfigur signalisiert. Bei richtiger<br />
Lage wird die Figur grün gefärbt, bei falscher<br />
Position entsprechend rot. In einer Umgebung <strong>der</strong><br />
richtigen Lage wird eine abgestufte Mischfarbe<br />
verwendet. Darüber hinaus kann <strong>der</strong> Lernende<br />
sich die richtige Position <strong>der</strong> Bild-Figur auf Verlangen<br />
anzeigen lassen. Schließlich können auch<br />
die Zwischenschritte angezeigt werden, die entstehen,<br />
wenn auf die Urbild-Figur nacheinan<strong>der</strong> die<br />
einzelnen Achsenspiegelungen <strong>der</strong> definierenden<br />
Komposition angewandt werden.<br />
In Fällen, in denen ein visuelles Feedback<br />
nicht realisierbar ist, wird auf ein elaborierendes,<br />
79
Andreas Fest, Schwäbisch Gmünd & Marc Zimmermann, Ludwigsburg<br />
textuelles Feedback zurückgegriffen. Dies ist insbeson<strong>der</strong>e<br />
dann <strong>der</strong> Fall, wenn vertiefende Informationen<br />
geliefert werden sollen, z.B. warum eine<br />
Lösung noch nicht korrekt ist. Zu diesem Zweck<br />
soll das Modul Feedback-M [Herding et al., 2010]<br />
verwendet werden. Entsprechende Implementationen<br />
sind zur Zeit in <strong>der</strong> Entwicklung.<br />
Für das letzte Labor, das die komplexeste<br />
Aufgabenstellung in dieser Sammlung beinhaltet,<br />
wurden verschiedene algebraische und numerische<br />
Analyse-Algorithmen implementiert, um ein<br />
möglichst informatives Feedback liefern zu können.<br />
Die algebraischen Analyse-Algorithmen erlauben<br />
sowohl die Korrektheitsprüfung als auch<br />
die Erkennung des Typs einer Termumformung<br />
und sind somit die Grundlage <strong>für</strong> die automatische<br />
Analyse des Lösungsprozesses. Es können<br />
jedoch nicht sämtliche möglichen Umformungsschritte<br />
mit diesen algebraischen Heuristiken<br />
analysiert und bewertet werden. In diesem<br />
Fall wird ein rein numerischer Korrektheits-Test<br />
ausgeführt, <strong>der</strong> jedoch nicht zwischen verschiedenen<br />
Typen von Umformungsschritten unterscheiden<br />
kann. Der numerische Analyse-Algorithmus<br />
ist somit <strong>der</strong> Startpunkt <strong>für</strong> eine manuelle Analyse<br />
des Lösungsprozesses durch die Lehrenden.<br />
3.2 ColProof-M<br />
Mit <strong>der</strong> Anwendung ColProof-M können Studierende<br />
das Führen direkter elementargeometrischer<br />
Beweise lernen und üben. Dabei wird das Schema<br />
des Zwei-Spalten-Beweises [vgl. Holland, 1988;<br />
Herbst, 1999] verfolgt. Jede Zeile des Beweises<br />
beinhaltet in <strong>der</strong> linken Spalte die Aussagen eines<br />
einzelnen Beweisschrittes, wie zum Beispiel „Das<br />
Dreieck ABC ist gleichschenklig“ (Abb. 14.2).<br />
In <strong>der</strong> rechten Spalte stehen die Begründungen<br />
<strong>der</strong> jeweiligen Aussage auf <strong>der</strong> linken Seite. Die<br />
Begründungen setzen sich aus Definitionen o<strong>der</strong><br />
mathematischen Sätzen aus dem virtuellen Buch<br />
(vgl. Abbildung 14.2) o<strong>der</strong> zuvor im Beweis verwendeten<br />
Aussagen zusammen. Indem <strong>für</strong> jeden<br />
Beweisschritt auf bereits bewiesene Sätze o<strong>der</strong><br />
Definitionen zurückgegriffen werden muss, wird<br />
das Prinzip des deduktiven Schließens bei Beweisen<br />
[Fischer & Malle, 1985] betont. Das Begründen<br />
<strong>der</strong> einzelnen Beweisschritte ist nur ein kleiner<br />
Aspekt des Beweisens. Im Gegensatz zu vielen<br />
Studiengängen, die <strong>Mathematik</strong> beinhalten, ist<br />
das Begründen insbeson<strong>der</strong>e <strong>für</strong> Lehramtsstudierende<br />
wichtig [vgl. Reiss, 2002].<br />
Zu Beginn stehen alle verfügbaren Aussagen,<br />
darunter auch <strong>für</strong> den Beweis irrelevante (sog.<br />
Distraktoren), in einer Gedankenwolke zur Auswahl.<br />
Der Lernende muss geeignete Aussagen<br />
durch Verschieben <strong>der</strong> Aussagen per Drag & Drop<br />
an die jeweils passende Stelle den Beweis zusammenstellen.<br />
Diese Papierschnipselmethode wurde<br />
von Silver [<strong>2009</strong>] zur Führung von Beweisen an-<br />
80<br />
geregt.<br />
Durch eine interaktive Abbildung, die mit Hilfe<br />
<strong>der</strong> Geometrie-Software Cin<strong>der</strong>ella [Richter-<br />
Gebert & Kortenkamp, 2006] realisiert wird, kann<br />
jede Aussage veranschaulicht werden. Wählt man<br />
eine Aussage des Beweises aus, werden in <strong>der</strong> Abbildung<br />
entsprechende Elemente <strong>der</strong> Aussage hervorgehoben<br />
[vgl. hierzu auch Hartmann, 2007].<br />
Der Benutzer kann je<strong>der</strong>zeit Hilfe und Rückmeldung<br />
zu seinem aktuellen Beweis über das<br />
integrierte „Feedback-M“-Modul einholen. Wird<br />
Feedback angefor<strong>der</strong>t, wird eine Reihe von Testverfahren<br />
gestartet, welche den Beweis auf unterschiedlichen<br />
Fehlertypen überprüft. Fehler, zum<br />
Beispiel Zirkelschlüsse o<strong>der</strong> fehlende Begründungen<br />
in <strong>der</strong> Beweisführung, werden anhand des zugrunde<br />
liegenden Beweisgraphen [Holland, 1988]<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Musterlösung erkannt und dem Anwen<strong>der</strong><br />
in einem Dialogfenster zurückgemeldet.<br />
Ebenso werden auch positive Aspekte <strong>der</strong> Lösung<br />
dem Benutzer angezeigt, zum Beispiel, dass <strong>der</strong><br />
Beweis soweit korrekt ist, jedoch noch Begründungen<br />
<strong>für</strong> Aussagen fehlen. Der Lernende kann<br />
aufgrund des Hinweises versuchen, das Problem<br />
selbständig zu beheben, o<strong>der</strong> den Beweis fortsetzen.<br />
Ist die Rückmeldung nicht detailliert genug<br />
o<strong>der</strong> kommt <strong>der</strong> Anwen<strong>der</strong> im Beweis nicht weiter,<br />
kann er sich einen Tipp geben lassen. Um<br />
einen Missbrauch <strong>der</strong> Tippfunktion vorzubeugen,<br />
kann die Anzahl verfügbarer Tipps begrenzt werden.<br />
Ein weiteres Feature ermöglicht es dem Benutzer,<br />
eine E-Mail mit einer Frage und dem aktuellen<br />
Beweisstand an den jeweiligen Tutor zu schicken<br />
und von ihm eine Rückmeldung einzuholen.<br />
4 Fazit & Ausblick<br />
Die vorgestellten Tools wurden im Sommersemester<br />
<strong>2009</strong> an den Pädagogischen Hochschulen<br />
Ludwigsburg und Schwäbisch Gmünd in <strong>der</strong><br />
Modulveranstaltung Geometrie eingesetzt. Dabei<br />
wurde die konzeptionelle Entwicklung und die<br />
technische Realisierung <strong>der</strong> Software in einer Vorstudie<br />
qualitativ durch Beobachtung <strong>der</strong> Verwendung<br />
durch die Studierenden und einen abschließenden<br />
Fragebogen evaluiert.<br />
Insbeson<strong>der</strong>e wurde <strong>der</strong> Schwerpunkt <strong>der</strong> Untersuchung<br />
auf die Akzeptanz und Verwendung<br />
des automatischen Feedbacks gelegt. So wurde<br />
in dem abschließenden Fragebogen gefragt: „Was<br />
gefällt Ihnen beim Lernen am Computer beson<strong>der</strong>s<br />
gut?“ In vielen Antworten wurde das Angebot<br />
eines automatischen Feedbacks als beson<strong>der</strong>s<br />
hilfreich betont: „Schnelle Rückmeldung, ob<br />
’mein’ Ergebnis richtig ist.“ Insbeson<strong>der</strong>e wird<br />
ein graphisches, visuelles Feedback, wie es zum<br />
Teil in MoveIt!-M implementiert ist, geschätzt:<br />
„Ideen können schnell graphisch ausgeführt werden<br />
→ auf Richtigkeit kann untersucht werden. “
Fragt man tiefer nach, „Wie hat Ihnen das automatische<br />
Feedback geholfen?“, so erfährt man,<br />
wie das Feedback verwendet wird. Ein häufiger<br />
Vorbehalt gegen ein weitreichendes Feedback,<br />
das auch Lösungsschritte o<strong>der</strong> sogar vollständige<br />
Lösungen vorgeben kann, ist, dass <strong>der</strong> Lernende<br />
dann nicht mehr selbst mitdenkt, son<strong>der</strong>n sich<br />
stattdessen nur noch bis zur Lösung „durchklickt“.<br />
Es stellt sich jedoch heraus, dass das Feedback in<br />
unserem Kontext von den meisten Studierenden<br />
viel differenzierter eingesetzt wird. Dabei ist entscheidend,<br />
dass Feedback in abgestufter Ausführlichkeit<br />
präsentiert wird: „Dadurch, dass es verschiedene<br />
’Richtigkeitsstufen’ gibt, wird das Lösen<br />
<strong>der</strong> Aufgabe leichter.“ So kann den Lernenden<br />
über kleinere Schwierigkeiten, die beim Bearbeiten<br />
auftreten können, hinweggeholfen werden:<br />
„Wenn man nicht mehr weiter kommt, ist es nützlich,<br />
wenn <strong>der</strong> Computer den nächsten Schritt angibt.“<br />
Aber auch das Vorgeben einer Lösung kann<br />
den Lernprozess unterstützen, sofern <strong>der</strong> Lernende<br />
über die gegebene Lösung reflektiert: „Wenn<br />
falsch, konnte ich es mir nach Lsg erklären“.<br />
Semi-automatisches Assessment kann somit<br />
Werkzeuge <strong>für</strong> das individuelle Lernen in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />
Abbildung 14.2: ColProof-M – Zwei-Spalten-Beweise<br />
helfen den Lernenden und den Lehrenden helfen.<br />
Unterstützt es auf <strong>der</strong> einen Seite den Lernprozess<br />
<strong>der</strong> Studierenden, entlastet es auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Seite den Lehrenden bei <strong>der</strong> Kontrolle von Standardlösungen<br />
und gibt ihm somit mehr Zeit, interessante<br />
und unübliche Lösungen und Probleme zu<br />
identifizieren und zu analysieren.<br />
Die bisherigen Analysemechanismen untersuchen<br />
einzelne Schritte im studentischen Lernprozess.<br />
Unser Ziel ist es jedoch, die Lernprozesse<br />
im Ganzen zu analysieren. Dazu gehört z.B.<br />
Fragen wie „Welche Beispiele und Spezialfälle<br />
werden vom Lernenden untersucht?“ o<strong>der</strong> „Welche<br />
Wege verfolgt er im Lösungsprozess, bevor er<br />
einen zum Ziel führenden Lösungsweg beschreitet?“.<br />
Auf Grundlage solcher Beobachtungen können<br />
gezielt Denkanregungen gegeben werden, die<br />
den Lernprozess weiter för<strong>der</strong>n können.<br />
Für die Umsetzung einer solchen prozessorientierten<br />
Analyse sind jedoch noch weitere Untersuchungen<br />
<strong>der</strong> Lernprozesse notwendig. Darüber<br />
hinaus ist <strong>der</strong> Mehrwert unserer Lernumgebungen<br />
und Lernwerkzeuge <strong>für</strong> den Lernprozess<br />
sowie ihr Einfluss auf die mathematische Selbst-<br />
81
Andreas Fest, Schwäbisch Gmünd & Marc Zimmermann, Ludwigsburg<br />
wirksamkeit <strong>der</strong> Studierenden zu erforschen.<br />
Eine aktuelle Version <strong>der</strong> Software kann von<br />
<strong>der</strong> Projekt-Homepage www.sail-m.de heruntergeladen<br />
werden.<br />
Literatur<br />
Bescherer, Christine & Christian Spannagel (<strong>2009</strong>): Design<br />
Patterns for the Use of Technology in Introductory Mathematics<br />
Tutorials. In: Proceedings of the 9th IFIP World Conference<br />
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Bescherer, Christine, Christian Spannagel, Ulrich Kortenkamp<br />
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In: DELFI 2010: <strong>Tagungsband</strong> <strong>der</strong> 8. e-Learning Fachtagung<br />
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82<br />
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einer computergestützten Lernumgebung <strong>für</strong> bidirektionale<br />
Umformungen in <strong>der</strong> Mengenalgebra. In: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
2010. Vorträge auf <strong>der</strong> 44. Tagung <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> in München, Münster: WTM.
• Die Analysis in den Zeiten <strong>der</strong> Computerei<br />
Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />
In diesem Beitrag werden Defizite des aktuellen Computereinsatzes im Analysisunterricht beleuchtet<br />
und ein curricularer Vorschlag unterbreitet, <strong>der</strong> eine Alternative aufzeigen soll.<br />
1 Defizite des aktuellen<br />
<strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
Es ist Allgemeingut, dass es im gegenwärtigen<br />
Analysisunterricht zu viel um das Beherrschen<br />
von Kalkülen und zu wenig um Verständnis und<br />
um Kompetenz geht. Es ist sicher auch richtig,<br />
dass zu viel Wert auf das Abarbeiten und zu wenig<br />
Wert auf das Entwickeln und Bewerten von Verfahren<br />
gelegt wird. Darüber hinaus will ich einige<br />
weitere Defizite benennen:<br />
Defizit 1: Es gibt fast keine Modellbildung in <strong>der</strong><br />
Analysis!<br />
Dieser Befund mag überraschen, denn es gibt<br />
durchaus Aufgaben, die auf den ersten Blick wie<br />
Modellbildungsaufgaben wirken. Das Beispiel in<br />
Abb. 15.1 zeigt ein typisches Muster: Die Aufgabe<br />
besteht aus zwei Schritten, wobei im ersten<br />
Schritt modelliert wird (hier: Das Ufer wird<br />
durch ein Polynom modelliert) und erst im zweiten<br />
innermathematischen Schritt (hier: Bestimmung<br />
<strong>der</strong> Fläche unter dem Graphen <strong>der</strong> Polynomfunktion<br />
durch Integration) Analysis verwendet<br />
wird. Es wäre aber wünschenswert zu<br />
zeigen, dass in <strong>der</strong> Tat Analysis ein hervorragendes<br />
Modellbildungswerkzeug ist. Freudenthal<br />
[1973] hat in seinem Klassiker „<strong>Mathematik</strong><br />
als pädagogische Aufgabe” eine ganze Reihe<br />
von Beispielen zusammen gestellt, in denen mit<br />
Analysis modelliert wird.<br />
Defizit 2: Funktionsgraph-bezogene Vorstellungen<br />
dominieren<br />
Ob dies überhaupt ein Defizit darstellt, kann kontrovers<br />
diskutiert werden. Es scheint mir aber<br />
sicher, dass die „ganzheitliche” Sicht, die <strong>der</strong><br />
Graph bietet, neben Vorteilen auch Nachteile hat,<br />
weil dabei <strong>der</strong> dynamische Aspekt <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung<br />
zweier Größen statisch repräsentiert wird.<br />
Defizit 3: Konzeptentwicklung kommt zu kurz<br />
[vgl. auch Danckwerts & Vogel, 2006]<br />
Dieser Diagnose dürften sich die meisten <strong>Didaktik</strong>er<br />
anschließen. Ein wesentlicher Punkt zur<br />
Abhilfe liegt m. E. darin, konsequent auf Konzeptreduktion<br />
zu setzen: Wenn etwa die Konzepte<br />
des Grenzwerts und <strong>der</strong> Summation bekannt<br />
sind, kann das Riemannintegral darauf reduziert<br />
werden. Dies wird durch Computeralgebrasysteme<br />
(CAS) unterstützt.<br />
Die Rolle von CAS ist aber ambivalent. Einige<br />
Reformhoffnungen stützen sich auf Computernutzung,<br />
allerdings gibt es auch kritische Stimmen.<br />
Exemplarisch sei als CASsandra ein Kollege zitiert:<br />
„Das mit den CAS-Rechnern ist die totale<br />
Katastrophe. Die Lehrer machen genau den gleichen<br />
Unterricht wie vorher, mit dem Erfolg, dass<br />
die Kin<strong>der</strong> gar nichts mehr lernen.”<br />
Das Zitat benennt zwei Probleme: Zum einen<br />
sind alte Ziele und neue Wege nicht automatisch<br />
kompatibel. Darüber hinaus gibt es einen erheblichen<br />
Unterschied zwischen dem, was Standardlehrer<br />
erreichen, und dem, was „Exzellenz-<br />
Lehrer” in wohlüberlegten Schulversuchen bewältigen.<br />
Angesichts dieser unübersichtlichen Lage<br />
tun die beiden folgenden Thesen u.U. bestimmten<br />
Lehrern und ihrem Unterricht Unrecht:<br />
These 1. Der <strong>Mathematik</strong>unterricht ignoriert<br />
Computer fast vollständig.<br />
These 2. Das gilt auch bei Einsatz von GTR,<br />
DGS, TK, CAS.<br />
Begründung <strong>für</strong> These 2: Der Computer wird<br />
fast nur benutzt zur Visualisierung von Graphen.<br />
Allerdings sind Graphen ein statisches Medium<br />
aus <strong>der</strong> Vor-Computerzeit. Immerhin kann man<br />
durch dynamische Funktionsgraphen einen gewissen<br />
Mehrwert erzeugen, aber man versucht auch<br />
dabei, den Computer als reines Werkzeug zu benutzen.<br />
Insgesamt kann man festhalten, dass Computer<br />
bisher vor allem die Unterrichtsmethodik<br />
beeinflusst haben, nicht aber Inhalte o<strong>der</strong> Operationsmodi.<br />
Dabei könnten Computer gerade auch<br />
in den Kompetenzbereichen nützlich sein, die von<br />
<strong>der</strong> KMK nicht mit einer K-Nummer geadelt wurden,<br />
etwa „Planen” und „Beurteilen”.<br />
Computer sollten genutzt werden als<br />
⊲ Problemlösewerkzeug<br />
⊲ Problemaufwerfer<br />
⊲ Kognitives Werkzeug [Jonassen et al., 1998]<br />
2 Empirik<br />
Die Kombination von Computern und <strong>Mathematik</strong><br />
transformiert fast alle wissenschaftlichen Disziplinen<br />
und noch weitere Bereiche unseres Lebens.<br />
Um herauszufinden, ob Schüler zumindest<br />
eine grobe Vorstellung vom Nutzen <strong>der</strong> Computer<br />
<strong>für</strong> die <strong>Mathematik</strong> haben, wurden von Markus<br />
Vogel und mir Studierende des Lehramts zu Beginn<br />
<strong>der</strong> Veranstaltung „Computer im <strong>Mathematik</strong>unterricht”<br />
mittels eines Fragebogens befragt.<br />
86% dieser Studierenden haben im eigenen<br />
Schulunterricht Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
erlebt, vor allem Tabellenkalkulation<br />
(81%) und Computeralgebra (27%). Fast alle waren<br />
überzeugt, dass <strong>der</strong> Computer im MU eingesetzt<br />
werden sollte. Aber bei <strong>der</strong> Frage nach „Bei-<br />
83
Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />
spielen, wo Computer nützlich sind <strong>für</strong> die <strong>Mathematik</strong><br />
allgemein und ihre Anwendungen.” gaben<br />
16% keine Antwort, 19% nannten schnelles<br />
Rechnen (ohne weitere Erläuterung, auf mündliche<br />
Nachfrage wurde gesagt, das sei nötig, damit<br />
man an <strong>der</strong> Supermarktkasse nicht lange auf<br />
die Rechnung warten müsse – ein groteske Fehleinschätzung<br />
<strong>der</strong> Geschwindigkeit von Computern),<br />
11% nannten komplizierte Formeln zu berechnen,<br />
ohne aber Beispiele <strong>für</strong> Gebiete nennen<br />
zu können, in denen diese Formeln auftreten,<br />
und schließlich sagten sehr viele, Computer seien<br />
nützlich zur Veranschaulichung. Bei <strong>der</strong> Frage<br />
„Haben Sie schon einmal mit Gewinn Mathe<br />
mit dem Computer gemacht? Geben Sie ggf. Beispiele.”<br />
zeigte sich in den Antworten ein ähnliches<br />
Bild: 65% antworteten mit „Nein“, 8%: nannten<br />
„DGS in Geometrievorlesung”, 8% nannten den<br />
„Numerikschein”.<br />
3 Das Curriculum<br />
Dieser Beitrag ist motiviert vom Wunsch, die beschriebene<br />
Situation zu än<strong>der</strong>n. Dazu soll ein curricularer<br />
Vorschlag unterbreitet werden, <strong>der</strong> durch<br />
folgende Charakteristika ausgezeichnet ist:<br />
⊲ Die Leitidee „Än<strong>der</strong>ung” steht am Anfang<br />
und wird durchgängig verwendet [vgl. Körner,<br />
2005].<br />
⊲ Vom Rechnen wird zu den Konzepten fortgeschritten<br />
– Probleme lösen; authentische Fragen<br />
beantworten; Modellbildungen, in denen<br />
die Analysis eine Rolle spielt<br />
⊲ Grundvorstellungen betonen [Malle]<br />
⊲ Diff’rechnung und Integration „integrieren”<br />
84<br />
Abbildung 15.1: Die Kanu-Aufgabe aus Sinus-NRW<br />
(auch als eine Antwort auf den Dauerbrenner<br />
„I-Rechnung vor D-Rechnung?”, siehe Blum &<br />
Toerner [1983])<br />
⊲ Neben Graphen weitere Repräsentationsformen<br />
<strong>für</strong> Funktionen verwenden<br />
⊲ Computereinsatz – aber nicht immer und überall<br />
Wenn Än<strong>der</strong>ung als Leitidee das gesamte Curriculum<br />
durchziehen soll, dann hat das gewichtige<br />
Auswirkungen: Funktionales Denken erscheint<br />
(nur) als ein wichtiger Spezialfall. Denken in Än<strong>der</strong>ungen<br />
ist <strong>für</strong> Schüler keine leichte Übung. Es<br />
zeigt sich, dass etwa die Aufgabe „Angenommen,<br />
es gilt immer a = 2b+3. Was passiert mit b, wenn<br />
a um 2 größer wird?” nur von 31% gymnasialer<br />
Elftklässler gelöst wird (n > 200). Schon in<br />
<strong>der</strong> Sekundarstufe I können Än<strong>der</strong>ung und Akkumulation<br />
Computer-orientiert behandelt werden,<br />
etwa mit <strong>der</strong> Turtle-Grafik bei <strong>der</strong> Unterscheidung<br />
von forward und moveTo (relative vs. absolute<br />
Positionierung). Abb. 15.2 zeigt ein kleines<br />
Scratchprogramm, das die waagrechte Position einer<br />
Figur durch die aktuelle Lautstärke bestimmt.<br />
Wenn stattdessen die Lautstärke die Schrittweite<br />
des nächsten Schrittes bestimmt, erhält man eine<br />
Figur, die in ihrer Position die Lautstärke akkumuliert.<br />
Viele Dinge bleiben in seinem solchen Curriculum<br />
unverän<strong>der</strong>t, u.a.<br />
⊲ Ableitung, Ableitungsregeln<br />
⊲ Integral, Hauptsatz<br />
⊲ Bogenlänge<br />
Es gibt auch neue Bestandteile:<br />
⊲ Differentialgleichungen
Die Analysis in den Zeiten <strong>der</strong> Computerei<br />
Abbildung 15.2: Än<strong>der</strong>ung und Akkumulation von Lautstärke mit Scratch<br />
⊲ Numerische Optimierung<br />
⊲ Multivariate Analysis<br />
Zum Ausgleich kann auch auf einige traditionelle<br />
Inhalte verzichtet werden:<br />
⊲ Stammfunktionskalkül (Produktregel, Substitutionsregel<br />
. . . )<br />
⊲ Rotationskörper<br />
⊲ Taylorreihen<br />
All das wäre zu begründen, aber dazu bräuchte<br />
es einer längeren Arbeit als <strong>der</strong> vorliegenden.<br />
Damit ein Curriculum wie das hier vorgestellte<br />
erfolgreich durchlaufen werden kann, sollten<br />
die Schüler über folgende Idealvoraussetzungen<br />
aus <strong>der</strong> Sekundarstufe I verfügen:<br />
⊲ Approximationsidee bei Reellen Zahlen<br />
⊲ Einfache Algorithmen<br />
◦ Heron<br />
◦ Archimedes’sche Kreisapproximation<br />
⊲ Funktionen in mehreren Variablen<br />
◦ Bei PC-Einsatz ist dies ohnehin sinnvoll, da<br />
z. B. TK, CAS solche verwenden.<br />
◦ Funktionen als Bausteine im Sinne von Lehmann<br />
⊲ Vertrautheit mit einer Programmiersprache<br />
o<strong>der</strong> sogar mit CAS<br />
3.1 Folgen und Funktionen<br />
In <strong>der</strong> Sekundarstufe II kann auch ein innovativer<br />
Lehrgang ganz klassisch beginnen, nämlich mit<br />
Folgen. Diese sind als Selbstzweck interessant,<br />
nicht als Mittel zur Exaktifizierung des Grenzwerts.<br />
Eigenständig interessant sind z. B. Wachstumsprozesse,<br />
auch beschränktes Wachstum und<br />
evtl. logistisches Wachstum [siehe Körner, 2005;<br />
Danckwerts & Vogel, 2006]. Dabei ist <strong>der</strong> zentrale<br />
Begriff <strong>der</strong> <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung:<br />
∆N = f (t + ∆t) − f (t)<br />
Auch numerische Verfahren können als Quelle<br />
von Folgen fungieren. Schließlich treten Folgen<br />
bei zeitlichen Prozessen auf (Weigand), etwa als<br />
Messwerte von zeitlichen Prozessen (Abkühlung<br />
einer Kaffeetasse, etc.).<br />
Bei <strong>der</strong> Behandlung solcher Prozesse sollte<br />
durchweg viel numerisch gearbeitet werden, u.a.<br />
um Vorstellungen von Größenordnungen zu entwickeln,<br />
was letztlich wichtig ist um zentrale Ideen<br />
<strong>der</strong> Analysis zu verstehen. Bei diesen numerischen<br />
Erkundungen kann man schon eine Reihe<br />
von Konzepten kennen lernen:<br />
⊲ Konzepte: Intervallschachtelung, monotone<br />
Folge, beschränkte Folge<br />
⊲ Grenzwert einer Folge (etwa am Beispiel eines<br />
beschränkten Wachstums)<br />
◦ Kreisfläche nach Archimedes damit betrachten<br />
In Untersuchung mit CAS kann <strong>der</strong> limit-Befehl<br />
als Anreger und Unterstützer von Grenzwertüberlegungen<br />
dienen, die sich an inhaltlichen<br />
Wachstumsüberlegungen festmachen. Ein einfaches<br />
Beispiel <strong>für</strong> solche Überlegungen kodiert im<br />
CAS Maxima ist limit(1/(1+1/n),n,inf).<br />
An dieser Stelle reicht eine informelle Grenzwertdefinition<br />
aus: Für ausreichend späte Werte <strong>der</strong><br />
Folge werden die Abstände zum Grenzwert beliebig<br />
klein. Damit werden viele Wachstumsprozesse<br />
– im Rahmen des Modells – langfristig prognostizierbar<br />
(Symbolik macht Asymptotik beherrschbar).<br />
Als Initialproblem da<strong>für</strong> kann die Abkühlung<br />
einer Tasse als Folge von Temperaturwerten<br />
gemessen und als Folge o<strong>der</strong> Funktion mo-<br />
85
Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />
delliert werden. Das Beispiel zeigt gleichzeitig,<br />
dass ähnliche Fragestellungen auch bei Funktionen<br />
relevant sind. Konzepte und Techniken zu Folgen<br />
wie Än<strong>der</strong>ungsverhalten und Monotonie können<br />
dann am Graphen gedeutet werden und die<br />
Grenzwertüberlegungen mit CAS unterstützt werden,<br />
etwa limit((3*x^2+5)/(4*x^2-x), x,<br />
inf). Als methodisches Ziel wird hiermit eine<br />
Vertrautheit mit dem Limit-Befehl <strong>für</strong> spätere Anwendungen<br />
angestrebt.<br />
Funktionen sollten in verschiedenen Darstellungsformen<br />
(Graph, Dynagraph) untersucht werden<br />
und in je<strong>der</strong> Form sollten die grundlegenden<br />
Än<strong>der</strong>ungseigenschaften interpretiert werden.<br />
Eine weitere Form von Funktionen, bei <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Aspekt <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung schön thematisiert werden<br />
kann, ist <strong>der</strong> Bildstrom, den eine WebCam liefert.<br />
Er kann als Funktion B(t) des Bildes von <strong>der</strong><br />
Zeit aufgefasst werden. In Abb. 15.3 ist ein Beispiel<br />
zu sehen, wo dieser Bildstrom live ins Negativ<br />
konvertiert wird und um 2 Sekunden verzögert<br />
wird. Än<strong>der</strong>ungen im Bildstrom findet man durch<br />
Differenzen wie B(t) − B(t − 0.2), was man zur<br />
Verstärkung noch vergrößern sollte, z. B. indem<br />
man durch 0.2 teilt. Das Programm zeigt dann bei<br />
statischen Urbil<strong>der</strong>n nur ein schwarzes Bild, sobald<br />
aber Bewegung ins Urbild kommt, werden<br />
die Konturen deutlich erkennbar: Der Differenzenquotient<br />
detektiert Än<strong>der</strong>ungen.<br />
3.2 Flächen<br />
Flächeninhalte sind durch die vielfältigen Erfahrungen<br />
aus <strong>der</strong> Sekundarstufe I ein sehr greifbarer<br />
Inhalt. In <strong>der</strong> Sekundarstufe II macht man<br />
sich auf den Weg zur Integralrechnung, und wie<br />
das Sinus-Beispiel aus dem ersten Abschnitt zeigt,<br />
werden gelegentlich (Pseudo-)Anwendungen <strong>der</strong><br />
Integralrechnung zur Flächenbestimmungen verwendet.<br />
Im Gegensatz dazu sollte ein Lehrgang,<br />
<strong>der</strong> Computer als Werkzeuge ernst nimmt, die Flächenberechnung<br />
von Polygonen an den Anfang<br />
stellen. Eine Möglichkeit ist ein Miniprojekt zur<br />
Berechnung von Flächeninhalten aus Landkarten<br />
o<strong>der</strong> aus Google-Earth-Daten. Die Problemformulierung<br />
führt über Abstraktion zur Frage <strong>der</strong> Fläche<br />
eines Polygons. Über eine schrittweise Entwicklung<br />
(Dreieck; Stern-Zerlegung; . . . ) mit etwas<br />
Programmierung gelangt man zu einer Lösung<br />
(dies ist die Endform!) wie in den Abb. 4 und<br />
5 dargestellt. Flächeninhalte unter Funktionsgraphen<br />
spielen dabei nur die Rolle eines Son<strong>der</strong>falls.<br />
Mehr „Integralrechnung” ist an dieser Stelle noch<br />
gar nicht nötig und auch nicht sinnvoll. Beachtung<br />
verdient aber, wie mathematische Konzepte (Summation<br />
und Grenzwert) im CAS umgesetzt werden<br />
können.<br />
86<br />
3.3 Optimierung<br />
Das übliche Curriculum behandelt Optimierungsprobleme<br />
als Anwendung <strong>der</strong> Differentialrechnung,<br />
man kann die Reihenfolge aber auch umkehren<br />
und Extremwertprobleme vor Ableitungen<br />
thematisieren! Es gibt viele sinnvolle Fragestellungen,<br />
von <strong>der</strong> „alten Schachtel” bis zur<br />
Milchtüte [Boer] in denen sich eine Sachsituation<br />
auf die Frage verdichten lässt, das Minimum<br />
o<strong>der</strong> Maximum einer Funktion zu bestimmen. Allerdings<br />
verschenkt man etwas, wenn man die<br />
Funktion gleich als Graph zeichnen lässt. Besser<br />
scheint mir, mit Zahlenwerten zu starten. Als<br />
konkretes Beispiel sei die Frage gestellt, bei welchem<br />
Durchmesser ein Zylin<strong>der</strong> des Volumens<br />
850 minimale Oberfläche hat. Man startet mit einem<br />
konkreten Zahlenwert <strong>für</strong> den Durchmesser<br />
(z. B. den einer tatsächlich vorhandenen Dose;<br />
dies liefert den Startwert) und berechnet die<br />
zugehörige Oberfläche. In einem Koordinatensystem<br />
würde das einen einzigen Punkt liefern. Der<br />
Wunsch nach Optimierung lässt sich jetzt so konzeptualisieren:<br />
Kann man den Durchmesser so än<strong>der</strong>n,<br />
dass die Oberfläche abnimmt? Ein probeweises<br />
Vergrößern des Durchmessers um einen kleinen<br />
Schritt liefert einen zweiten Punkt und anhand<br />
<strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Oberfläche lässt sich sofort<br />
sagen, ob man in diese Richtung gehen sollte<br />
o<strong>der</strong> lieber in die an<strong>der</strong>e. Damit ist ein iteratives<br />
Verfahren zur Berechnung vorbereitet. Ziel <strong>für</strong><br />
die Schülerinnen und Schüler sollte eine bequeme<br />
und schnelle maschinelle Suche sein. Das leistet<br />
im analogen Problem einer Maximierung z. B. <strong>der</strong><br />
folgende Algorithmus:<br />
def f(x): return 1.0/(x*x+3*x+10)<br />
x0=0<br />
delta=0.00001<br />
while True:<br />
if f(x0-delta)>f(x0): x0+= -delta<br />
else:<br />
if f(x0+delta)>f(x0): x0+= delta<br />
else: break<br />
print "Maximum bei:", x0<br />
Numerische Algorithmen sind durch die begrenzte<br />
Sicht des Computers auf die Funktion gekennzeichnet,<br />
<strong>der</strong> eben den Graphen nicht ganzheitlich<br />
wahrnehmen kann. Die Umsetzung in ein<br />
Programm ist – bei Kenntnis einiger Konzepte einer<br />
Programmiersprache, wie sie in etwa 15 Unterrichtsstunden<br />
erworben werden können – sehr<br />
einfach.<br />
Damit erschließt man sich sehr viele Anwendungen,<br />
insbeson<strong>der</strong>e können praktisch alle<br />
schulüblichen Optimierungsprobleme behandelt<br />
werden. Denkbare Varianten zum Algorithmus<br />
gibt es viele, so lässt sich z. B. mit Einschachtelungsalgorithmen<br />
(siehe Istron-Band 9) die Genauigkeit<br />
noch wesentlich erhöhen.
Der Algorithmus kann auch zum Gegenstand<br />
einer Problematisierung gemacht werden: Wenn<br />
eine Funktion mehrere Maxima/Minima besitzt,<br />
welches wird gefunden? Wodurch wird die Genauigkeit<br />
bestimmt?<br />
Da alle schulüblichen Probleme (und viele<br />
mehr) lösbar sind, stellt sich die Frage, wozu<br />
die Theorie überhaupt noch notwendig ist. Antwort:<br />
Theorie ist nötig, um theoretisch fundiertes<br />
Wissen zu gewinnen. Aber Schüler kennen jetzt<br />
die Theorie noch nicht! Können sich theoretische<br />
Konzepte aus <strong>der</strong> numerischen Anwendungssituation<br />
entwickeln lassen? Dazu eignen sich Prinzipfragen,<br />
zum Beispiel: Hat f (x) = 1.0/(x · x +<br />
3 · x + 10) nur ein Maximum? Eine Antwort kann<br />
über Ungleichungen gegeben werden, aber das<br />
hat ein hohes algebraisches Anfor<strong>der</strong>ungsniveau.<br />
Man kann aber auch den Algorithmus neu betrachten:<br />
(x0;y0) ist das einzige Maximum, wenn<br />
rechts davon <strong>der</strong> Algorithmus immer nach links<br />
und links davon immer nach rechts läuft, und das<br />
ist <strong>für</strong> f (x + ∆) > f (x) bzw. f (x + ∆) < f (x) <strong>der</strong><br />
Fall.<br />
Das Wachstumsverhalten entscheidet sich also<br />
an f (x + ∆) − f (x) > 0 o<strong>der</strong> < 0. Monoton<br />
steigend bzw. fallend können so algebraisch definiert<br />
werden, wobei aber sofort die Frage nach<br />
<strong>der</strong> geeigneten Größe <strong>für</strong> ∆ aufkommt. Bei zu<br />
großem Wert könnte man beim „Bergsteigen”<br />
einen Schritt über ein Minimum hinweg machen.<br />
Also ergibt sich die Zielformulierung „delta möglichst<br />
klein zu wählen”.<br />
Damit ist die Bühne <strong>für</strong> den Differenzenquotienten<br />
vorbereitet. Es bietet sich an, jetzt auf<br />
die Experimente zum Ableitungsbegriff [Oldenburg,<br />
2007] zu wechseln, um die zentralen Grundvorstellungen<br />
möglichst früh und koordiniert zu<br />
entwickeln. Ergebnisse davon sind: Differenzenquotient;<br />
Grundvorstellungen zu Tangente, Än-<br />
Abbildung 15.3: Ein Web-Cam-Funktions-Programm<br />
Die Analysis in den Zeiten <strong>der</strong> Computerei<br />
<strong>der</strong>ungsrate, linearer Approximierbarkeit; „Differentialquotient<br />
bestimmt Än<strong>der</strong>ungen”.<br />
Insbeson<strong>der</strong>e die Grundvorstellung zur „Linearen<br />
Approximation” f (x+∆x) = f (x)+ f ′ (x)·<br />
∆x+Fehler, die durch das Experiment mit <strong>der</strong> Kugelbahn<br />
und durch das Funktionsmikroskop entwickelt<br />
werden kann, ist <strong>für</strong> numerische Anwendungen<br />
wichtig. Man fasst sie z. B. in Än<strong>der</strong>ungssprache<br />
als: Die Ableitung ist eine Näherung des<br />
Verstärkungsfaktor <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ungen:<br />
∆ f (x) ≈ f ′ (x) · ∆x<br />
Diese Sichtweise ist nützlich bei <strong>der</strong> Berechnung<br />
von Getriebemaschinen und kann anschaulich<br />
bei Dynagraph-Anwendungen erfahren werden<br />
(mit Felix1D ist auch gleich die Umkehrfunktion<br />
erfassbar). Dabei wird auch die Grundvorstellung<br />
„Ableitung detektiert Än<strong>der</strong>ung” entwickelt<br />
(das WebCam-Programm kann hier aufgegriffen<br />
werden).<br />
Das Kugelbahn-Experiment [siehe Oldenburg,<br />
2007] illustriert die lineare Prognose, die man zu<br />
folgen<strong>der</strong> allgemeiner Definition ausbauen kann:<br />
Zu einer Funktion y = f (x) sind an einem Punkt<br />
(x0;y0) die Differentiale dx, dy die bestmögliche<br />
lineare Prognose <strong>für</strong> die Än<strong>der</strong>ungen von x und<br />
y um diesen Punkt. Demnach sind ∆x = dx willkürlich<br />
(nicht infinitesimal) und die Ableitung ist<br />
<strong>der</strong> Proportionalitätsfaktor <strong>der</strong> linearisierten Än<strong>der</strong>ungen.<br />
Das Funktionsmikroskop zeigt die lokale<br />
Linearität: ∆y ≈ dy nahe bei (x0;y0).<br />
Man beachte, dass die Formulierung Anleihen<br />
beim Wahrscheinlichkeitsbegriff nimmt. Eine<br />
weitere berücksichtigte Erkenntnis ist, dass Än<strong>der</strong>ungsraten<br />
schwieriger als Än<strong>der</strong>ung sind (0/0-<br />
Problem). Historisch gesehen gibt es viele Lehrbücher,<br />
die ganz unbefangen mit Differentialen<br />
arbeiten, z.B. indem sie „Leibniz”-Differentiale<br />
(Definition dy = f ′ (x)dx) einführen. Infinitesima-<br />
87
Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />
le im Sinne <strong>der</strong> Nichtstandardanalysis sind nicht<br />
nötig, aber eine interessante Option [Wun<strong>der</strong>ling,<br />
2007; Artigue, 2002]. Differentiale sind nützliche<br />
Beschreibungswerkzeuge in Theorie (z. B. totales<br />
Differential bei algebraischen Kurven) und Modellbildung<br />
(Klassiker bei Freudenthal; Roboterbewegung).<br />
3.4 Differentialgleichungen<br />
Differentialgleichungen werden im heutigen Analysisunterricht<br />
nur selten behandelt. Trotzdem<br />
spielen sie eine Rolle, wenn auch implizit. Unter<br />
dem Gesichtspunkt „Rekonstruktion des Bestandes<br />
aus <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ungsrate” werden etwa Aufgaben<br />
gestellt wie die Folgende:<br />
Aufgabe. En Becken ist anfangs leer, <strong>der</strong> Zufluss<br />
ist z(t) = 10+10·t (in Liter pro Sekunde) Gefragt<br />
ist <strong>der</strong> Bestand (Füllvolumen) V zur Zeit t = 20?<br />
Diese Informationen können ohne eine Differentialgleichung<br />
(DGL) nicht angemessen formalisiert<br />
werden: Die Schüler und Schülerinnen<br />
sollen also unvermittelt ein Integral hinschreiben.<br />
Die direkte Übertragung <strong>der</strong> Information <strong>der</strong> Aufgabenstellung<br />
in mathematische Formalismus lie-<br />
88<br />
Abbildung 15.4: Polygonberechnung in MuPAD I<br />
fert dagegen eine Differentialgleichung:<br />
V (0) = 0<br />
V ′ (t) = 10 + 10 ·t<br />
Gesucht: V (20)<br />
Die traditionelle Lösung mit dem Hauptsatz führt<br />
dann auf das Integral.<br />
Eine technologielastige, numerische Lösung<br />
dagegen entsteht sehr einfach aus <strong>der</strong> Differentialgleichung,<br />
die man mit Differentialen zunächst als<br />
dV = (10 + 10 · t) · dt schreibt und dann in lokaler<br />
lineare Näherung die Differentiale durch Än<strong>der</strong>ungen<br />
ersetzt. In <strong>der</strong> Programmiersprache Python<br />
sieht die Lösung dann so aus:<br />
V=0<br />
t=0<br />
dt=0.5<br />
def z(t): return 10+10*t<br />
while t
t= 1.0 V(t)= 12.5<br />
t= 1.5 V(t)= 22.5<br />
t= 2.0 V(t)= 35.0<br />
...<br />
t= 20.0 V(t)= 2150.0<br />
Das gleiche geht natürlich auch in an<strong>der</strong>en<br />
Sprachen und insbeson<strong>der</strong>e in CAS. Dort hat man<br />
eine weitere, bisher viel zu selten genutzte Option:<br />
Durch gezieltes Löschen numerische Information<br />
erhält man eine (halb)-symbolische Lösung:<br />
Die folgenden Maxima-Befehle liefern das<br />
gleiche Ergebnis wie obiges Python Programm:<br />
V:0; t:0; dt:0.5;<br />
z(t):=10+10*t;<br />
while t
Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />
# Einige Informationen aus dem Lexikon...<br />
mond = sphere(pos=(370000000,0,0), radius<br />
=1700000*blowup,<br />
color=color.red)<br />
mond.v = vector<br />
(0,0,370000000*6.28/(28*24*3600))<br />
mond.m= 7.3e22<br />
dt = 1800 # Zeitschritt 30<br />
Minuten<br />
def kraft(A,B): # Kraft, die B auf A üausbt<br />
gamma=6.6e-11<br />
r=mag(B.pos-A.pos) # äLnge des Vektors =<br />
Abstand<br />
return (B.pos-A.pos)*A.m*B.m*gamma/(r*r*r)<br />
while True:<br />
rate(48) # 1s in Simulation entspricht 48*<br />
dt=24h<br />
mond.v+= kraft(mond,erde)/mond.m *dt<br />
erde.v+= kraft(erde,mond)/erde.m *dt<br />
mond.pos+= mond.v *dt<br />
erde.pos+= erde.v *dt<br />
Mit drei weiteren Code-Zeilen lässt sich die<br />
Position des Mondes mit <strong>der</strong> Maus verschieben.<br />
3.5 Kalkül<br />
Die Idee <strong>der</strong> Konzeptreduktion ist nicht neu, aber<br />
immer noch relevant: Wenn die Schüler die Konzepte<br />
<strong>der</strong> Summation und des Grenzwertes verstanden<br />
haben (z. B. in Form <strong>der</strong> Funktionen limit<br />
und sum eines CAS), dann können sie versuchen<br />
ihre intuitiven Konzepte z. B. zum Integral<br />
o<strong>der</strong> zur Ableitung auf diese Basiskonzepte<br />
zu reduzieren. Bei <strong>der</strong> Behandlung <strong>der</strong> Ableitung<br />
ist es durch CAS-Nutzung möglich, verschiedene<br />
Ableitungsbegriffe zu untersuchen. In Oldenburg<br />
[2007] wurde berichtet, dass Schüler anhand<br />
<strong>der</strong> dort beschriebenen Experimente ganz unterschiedliche<br />
Differenzenquotienten gebildet haben,<br />
so gab es rechts-, links- und beidseitige Varianten.<br />
Abbildung 15.6: Ableitungen aus verschiedenen<br />
Differenzenquotienten I<br />
Um die Herleitung von Kalkülregeln zu üben, ist<br />
es ein großer Vorteil, verschiedene Fassungen zu<br />
haben, weil damit (leichtere) Analogieaufgaben<br />
90<br />
gestellt werden können. In diesem Sinne bietet es<br />
sich auch an, die q-Ableitung [Oldenburg, 2005]<br />
einzubeziehen. Die Arbeit damit sollte aus einer<br />
Mischung von händischen und CAS-basierten<br />
Phasen bestehen, um jeweils klar zu machen, ob<br />
tiefe Fähigkeiten <strong>der</strong> Blackbox verwendet werden<br />
o<strong>der</strong> nicht. Die folgenden Abbildungen zeigen einige<br />
Impressionen von Rechnungen im CAS Maxima.<br />
Abbildung 15.7: Ableitungen aus verschiedenen<br />
Differenzenquotienten II<br />
3.6 Integral<br />
Abbildung 15.8: q-Ableitung<br />
Eine Zusammenschau <strong>der</strong> bisher schon behandelten<br />
Fragestellungen Flächeninhaltsberechnungen<br />
und Rekonstruktion von Beständen aus Än<strong>der</strong>ungen<br />
ergeben als Gemeinsamkeit, dass Grenzwerte<br />
von Summen bestimmt werden. Damit ist auch<br />
gleich ein Verfahren zur approximativen Berechnung<br />
von Integralen verfügbar und Eigenschaften<br />
wie die Linearität und die Additivität über Integrationsintervallen<br />
lassen sich direkt ablesen. Mittels<br />
Konzeptreduktion lassen sich Integrale dann<br />
im CAS auch definieren und <strong>der</strong> Hauptsatz kann<br />
mehr o<strong>der</strong> weniger klassisch behandelt werden.<br />
Damit ist das Integralkonzept erarbeitet, reduziert<br />
auf an<strong>der</strong>e Konzepte und mit dem Lösen von<br />
DGL vernetzt. Eine weitergehende Behandlung<br />
z. B. des Stammfunktionenkalküls erscheint dagegen<br />
überflüssig, weil sie wenig neue Sachverhalte<br />
erschließt und vor allem Rechentechniken bringt.<br />
3.7 Multivariate Analysis<br />
Die durch Ausdünnung <strong>der</strong> Integralrechnung gewonnene<br />
Zeit kann in eine Behandlung von multi-
variaten Fragestellungen behandelt werden. Funktionen<br />
in mehreren Variablen und die Frage nach<br />
ihren Extremstellen lassen sich leicht aus Anwendungen<br />
gewinnen (Physik, Fermatpunkt, etc.). Die<br />
numerische Behandlung ist nicht viel schwieriger<br />
als im eindimensionalen Fall. Es erschließen sich<br />
u. a. viele Anwendungen im Bereich <strong>der</strong> Modellierung<br />
von Daten [Engel, <strong>2009</strong>; Oldenburg, <strong>2009</strong>].<br />
Auf <strong>der</strong> AKMUI-Tagung <strong>2009</strong> hat Joachim Engel<br />
gezeigt, wie eine Potenzfunktion benutzt werden<br />
kann, um Messwerte eines Mikrowellenexperimentes<br />
zu fitten (siehe Engel [2012], auf S. 149<br />
in diesem Band). Engel benutzte dazu mit dem<br />
Programm R eine mächtige Blackbox. In Erweiterung<br />
des obigen Optimierungsbeispiels kann man<br />
die Dinge aber auch algorithmisch elementar angehen:<br />
daten=[[2,19],<br />
[3,15],<br />
[4,13],<br />
[5,12],<br />
[8,10]]<br />
def S(a,b): # quadratische Fehlersumme des<br />
Modells a*x^b<br />
global daten<br />
S=0<br />
for [x,y] in daten: S+=(y-a*x**b)**2<br />
return S<br />
def optimiereInXRichtung(ab,delta):<br />
[a,b]=ab<br />
if S(a+delta,b)>S(a,b): delta=-delta<br />
while S(a+delta,b)S(a,b): delta=-delta<br />
while S(a,b+delta)
Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />
Oldenburg, Reinhard (2007): Experimentell zum Ableitungsbegriff.<br />
mathematik lehren, (141), 52–56.<br />
Oldenburg, Reinhard (<strong>2009</strong>): Ein Bild zerfließt. mathematik<br />
92<br />
lehren, (157), 56–59.<br />
Wun<strong>der</strong>ling, Helmut (Hg.) (2007): Analysis als Infinitesimalrechnung.<br />
Berlin: Duden Paetec.
• Wozu brauche ich ein Computeralgebra System (CAS), wenn ich<br />
zwei Straßen verbinden soll? – Überlegungen zum (sinnvollen)<br />
Einsatz eines CAS im Analysisunterricht<br />
Hans-Georg Weigand, Würzburg<br />
Der bayerische Modellversuch „Medienintegration im <strong>Mathematik</strong>unterricht - M 3 ” untersucht den<br />
Einsatz von Taschencomputern in den Jahrgangsstufen 10 – 13. In den Schuljahren 2007/08 und<br />
<strong>2008</strong>/09 wurde <strong>der</strong> Versuch in <strong>der</strong> 11. Jahrgangsstufe mit jeweils 10 Gymnasien durchgeführt. Als<br />
elektronisches Werkzeug dienten <strong>der</strong> Voyage 200 und <strong>der</strong> TI-Nspire. In zwei Klassen wurde dabei<br />
im Rahmen einer Unterrichtsreihe das – bekannte – Beispiel des Verbindens zweier Straßenendstücke<br />
durch eine „gefällige” Kurvenführung behandelt. Videoaufnahmen von diesen Stunden und<br />
Beobachtungen von Schülerarbeiten mit Hilfe des TI-Navigators geben einen guten Einblick in das<br />
weitgehend selbstständige Arbeiten <strong>der</strong> Schüler sowie die vielfältigen Lösungsmöglichkeiten dieses<br />
Problems. Die Arbeitsweisen <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler lassen sich gut im Rahmen eines<br />
Kompetenzmodells beschreiben, dass die Beziehung des Verständnisses des Funktionsbegriffs zum<br />
rechnergestützten Arbeiten aufzeigt.<br />
1 Der bayerische Modellversuch M 3<br />
Der Modellversuch „Medienintegration im <strong>Mathematik</strong>unterricht”<br />
(kurz: M 3 ) beschäftigt sich<br />
mit dem langfristigen Einsatz eines Taschencomputers<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht des Gymnasiums.<br />
Der Modellversuch wurde vom Bayerischen Kultusministerium<br />
initiiert und von Texas Instruments<br />
finanziell unterstützt. Ewald Bichler (Hans-<br />
Leinberger-Gymnasium Landshut) ist <strong>der</strong> Leiter<br />
und Koordinator des Projekts, <strong>der</strong> Lehrstuhl <strong>für</strong><br />
<strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> <strong>der</strong> Universität Würzburg<br />
ist <strong>für</strong> die Evaluation des Versuchs zuständig.<br />
In den Modellklassen wurde in den ersten Jahren<br />
mit dem Taschencomputer (TC) „TI Voyage<br />
200”, später dann mit dem „TI-Nspire” gearbeitet.<br />
Der Modellversuch begann zunächst in <strong>der</strong> 10.<br />
Jahrgangsstufe [Weigand, 2006, <strong>2008</strong>] und wurde<br />
dann auf die 11. Klassen ausgedehnt [Weigand &<br />
Bichler, 2010].<br />
Im Folgenden soll nur ein Aspekt im Rahmen<br />
dieses Versuchs herausgestellt werden. Es<br />
wird die Entwicklung eines Kompetenzmodells<br />
erläutert, dann wird gezeigt, wie sich <strong>für</strong> das Problemlösen<br />
erfor<strong>der</strong>liche Kompetenzen durch dieses<br />
Kompetenzmodell ausdrücken lassen.<br />
2 Ein dreidimensionales<br />
Kompetenzmodell<br />
2.1 Kompetenzmodelle<br />
PISA-Studien [Organisation for Economic Cooperation<br />
and Development, 1999] und KMK-<br />
Standards [KMK, 2004] verwenden ein dreidimensionales<br />
Kompetenzmodell mit den „Dimensionen”<br />
Allgemeine mathematische o<strong>der</strong> prozessbezogene<br />
Kompetenzen, Inhaltsbezogene mathematische<br />
Kompetenzen und einem dreifach unterteilen<br />
Anfor<strong>der</strong>ungsbereich.<br />
Allgemeine mathematische Kompetenzen sind dabei:<br />
⊲ mathematisch argumentieren<br />
⊲ Probleme mathematisch lösen<br />
⊲ mathematisch modellieren<br />
⊲ mathematische Darstellungen verwenden<br />
⊲ mit symbolischen formalen und technischen<br />
Elementen <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> umgehen<br />
⊲ kommunizieren<br />
Die Inhaltsbezogenen mathematischen Kompetenzen<br />
o<strong>der</strong> Mathematische Leitideen sind:<br />
⊲ Zahlen<br />
⊲ Messen<br />
⊲ Raum und Form<br />
⊲ Funktionaler Zusammenhang<br />
⊲ Daten und Zufall<br />
Der Anfor<strong>der</strong>ungsbereich unterglie<strong>der</strong>t sich in<br />
⊲ Reproduzieren<br />
⊲ Zusammenhänge herstellen<br />
⊲ Verallgemeinern und reflektieren<br />
Im Folgenden wird ein Kompetenzmodell <strong>für</strong><br />
das rechnergestützte Arbeiten mit Funktionen entwickelt.<br />
Die Hauptintention <strong>für</strong> die Konstruktion<br />
dieses Modell ist die Einordnung und Diagnose<br />
des Wissens, <strong>der</strong> Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />
von Schülerinnen und Schülern beim Arbeiten<br />
mit Funktionen. Der Funktionsbegriff wurde<br />
ausgewählt, da er ein zentraler Begriff <strong>der</strong> gesamten<br />
Schulmathematik ist und im Rahmen des<br />
M 3 -Projekts eine entscheidende Rolle spielt. Das<br />
Kompetenzmodell soll eine Diagnose <strong>der</strong> Kompetenzen<br />
von Schülerinnen und Schülern ermöglichen.<br />
Diese Diagnose ist allerdings nur <strong>der</strong> erste<br />
Schritt, <strong>der</strong> nächste Schritt ist das Entwerfen von<br />
För<strong>der</strong>möglichkeiten. Wie können Schülerinnen<br />
und Schüler dabei unterstützt werden, ihre Kompetenzen<br />
in einem bestimmten Bereich zu entwickeln?<br />
2.2 Verständnis des Funktionsbegriffs (VF)<br />
Neben dem Zahlbegriff ist <strong>der</strong> Funktionsbegriff<br />
<strong>der</strong> wohl wichtigste Begriff in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>.<br />
93
Hans-Georg Weigand, Würzburg<br />
Beim Arbeiten mit einem Computer nimmt die<br />
Bedeutung des Funktionsbegriffs noch zu, da viele<br />
Operationen im Sinne eines „Input-Output-<br />
Verhaltens” interpretiert werden können, das sich<br />
mit dem Funktionsbegriff ausdrücken lässt. Bzgl.<br />
des Verständnisses des Funktionsbegriffs beziehen<br />
wir uns auf ein 4-Stufen-Modell von Vollrath<br />
[Vollrath & Weigand, 2006, S. 160ff]. Jede Stufe<br />
(o<strong>der</strong> jedes Niveau) ist dabei durch Kenntnisse<br />
und Fähigkeiten bestimmt, die von Schülerinnen<br />
und Schülern erworben werden sollen.<br />
Stufe 1: Intuitives Begriffsverständnis<br />
Stufe 2: Inhaltliches Begriffsverständnis<br />
Stufe 3: Integriertes Begriffsverständnis<br />
Stufe 4: Strukturelles Begriffsverständnis<br />
2.3 Werkzeugkompetenz (WK)<br />
Die Fähigkeit (o<strong>der</strong> Kompetenz) den Taschencomputer<br />
problemadäquat einsetzen zu können erfor<strong>der</strong>t<br />
Wissen über die Bedienung des Gerätes,<br />
aber vor allem erfor<strong>der</strong>t es Wissen über den –<br />
im Hinblick auf die mathematische Problemstellung<br />
– sinnvollen Einsatz o<strong>der</strong> die problemadäquate<br />
Benutzung des Rechners. Im Folgenden<br />
unterscheiden wir beim TC-Einsatz hinsichtlich<br />
<strong>der</strong> verwendeten Komponenten des Rechners drei<br />
verschiedene Gebiete o<strong>der</strong> Niveaus.<br />
Stufe 1: Einsatz des TC als Funktionenplotter<br />
o<strong>der</strong> Graphik-Rechner. (StaticMode).<br />
Stufe 2: Einsatz des TC als ein Werkzeug zur Erzeugung<br />
dynamischer Darstellungen. (DynaMode).<br />
Stufe 3: Einsatz des TC auf <strong>der</strong> symbolischen<br />
Ebene. (SymbMode).<br />
2.4 Die VF-WK-Beziehung<br />
Wenn wir das 4-Stufen-Modell des Verständnisses<br />
des Funktionsbegriffs (VF) mit dem 3-Stufen-<br />
Modell <strong>der</strong> Werkzeugkompetenz (WK) kombinieren,<br />
erhalten wir eine 4 × 3-Matrix. Tabelle 16.1<br />
zeigt die Beziehung zwischen diesen beiden „Dimensionen”.<br />
Diese Beziehung wird durch Problemstellungen<br />
verdeutlicht, die den Zellen <strong>der</strong><br />
Matrix zuzuordnen sind.<br />
Beispiele <strong>für</strong> die einzelnen Kompetenzen finden<br />
sich in Weigand [<strong>2009</strong>] und Weigand & Bichler<br />
[2010].<br />
2.5 Anfor<strong>der</strong>ungsbereiche (AB)<br />
Problemstellungen <strong>der</strong> einzelnen „Zellen” lassen<br />
sich in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden<br />
stellen und verschiedenen Anfor<strong>der</strong>ungsniveaus<br />
zuordnen. Bereits in <strong>der</strong> Curriculum Diskussion in<br />
den 1960er und 1970er Jahren wurde in Deutschland<br />
ein Dreistufenmodell benutzt, das zwischen<br />
„Reproduktion”, „Reorganisation” und „Transfer”<br />
unterschied. In den PISA-Untersuchungen [Organisation<br />
for Economic Co-operation and Development,<br />
1999] und den KMK-Bildungsstandards<br />
94<br />
[KMK, 2004] werden ebenfalls drei Anfor<strong>der</strong>ungsbereiche<br />
unterschieden, die mit „Reproduzieren”,<br />
„Zusammenhänge herstellen” und „Verallgemeinern<br />
und Reflektieren” bezeichnet werden,<br />
die inhaltlich dem Dreistufenmodell entsprechen.<br />
Diese Bereiche sind normativ festgelegt,<br />
Aufgaben werden von Experten im Hinblick auf<br />
eine Zielgruppe entwickelt. Im Folgenden werden<br />
ebenfalls drei Anfor<strong>der</strong>ungsbereiche unterschieden,<br />
die sich mit<br />
Stufe 1: Grundwissen und Grundfähigkeiten<br />
Stufe 2: Fortgeschrittenes Wissen bzw. fortgeschrittene<br />
Fähigkeiten<br />
Stufe 3: Komplexes Wissen<br />
beschreiben lassen.<br />
Die Beziehungen zwischen den zwölf Zellen<br />
<strong>der</strong> zwei Dimensionen VF und WK und den<br />
drei Stufen <strong>der</strong> Anfor<strong>der</strong>ungsbereiche lassen sich<br />
in einem dreidimensionalen Koordinatensystem<br />
darstellen. Das Kompetenzmodell besteht aus 36<br />
„Zellen”, wobei es durchaus sein kann, dass einige<br />
Zellen nicht besetzt sind.<br />
Mit Hilfe dieses Modells soll die Kompetenz<br />
von Schülerinnen und Schülern beim TC-Einsatz<br />
beim Arbeiten mit Funktionen beschrieben und<br />
bewertet werden. Dabei sind die zentralen Fragen,<br />
die im Zusammenhang mit dem Kompetenzmodell<br />
beantwortet werden müssen:<br />
1. Kann dieses theoretische Modell empirisch bestätigt<br />
werden? Ist es möglich, das Wissen und<br />
die Fähigkeit von Schülern einzelnen Zellen<br />
zuzuordnen?<br />
2. Kann dieses Modell zu einem quantitativen<br />
Kompetenzstufenmodell erweitert werden,<br />
Hierzu müsste die Dimension „Anfor<strong>der</strong>ungsbereich”<br />
zu einer numerischen<br />
Ordinalskala, etwa wie bei dem PISA-<br />
Kompetenzstufenmodell erweitert werden.<br />
3. Wie können Schülerinnen und Schüler dahingehend<br />
geför<strong>der</strong>t werden, dass sie ihre Kompetenzen<br />
in den Bereichen VF und WK verbessern.<br />
Im Folgenden wird ein – bekanntes – Beispiel<br />
betrachtet, bei dem Arbeitsweisen und Problemlösestrategien<br />
von Studierenden analysiert und im<br />
Rahmen dieses Kompetenzmodells beschrieben<br />
werden.<br />
3 Ein Beispiel: Straßen verbinden<br />
3.1 Hintergrund und Untersuchungsfragen<br />
In einer Unterrichtssequenz am Ende einer 11.<br />
Klasse haben Schülerinnen und Schüler weitgehend<br />
eigenständig das folgende Problem behandelt:<br />
Aufgabe. Zwei gerade Straßenstücke enden in<br />
den Punkten A und B. Wie können die beiden Enden<br />
verbunden werden?
Wozu brauche ich ein Computeralgebra System (CAS), wenn ich zwei Straßen verbinden soll?<br />
SymbMode Umformen von<br />
(einfachen) Termen<br />
– Kontrolle von<br />
Handberechnungen<br />
DynaMode Sukzessives, schrittweises(dynamisches)<br />
Erzeugen von<br />
Diagrammen<br />
StaticMode Diagramme aus gegebenen<br />
Daten erzeugen<br />
Dynamisches Darstellen<br />
von Funktionsscharen<br />
Funktionen graphisch<br />
und numerisch<br />
darstellen<br />
Beziehungen zwischen<br />
Eigenschaften<br />
von Funktionen<br />
in verschiedenen<br />
Darstellungsformen<br />
erkennen<br />
Funktionsscharen in<br />
verschiedenen Darstellungen<br />
erkennen<br />
Beziehung zwischen<br />
Funktionen, ihren Eigenschaften<br />
in verschiedenenDarstellungen<br />
erkennen<br />
Umformen von komplexen<br />
Termen – die<br />
evtl. – von SuS nicht<br />
per Handrechnung<br />
umgeformt werden<br />
können.<br />
Verketten von Funktionen<br />
– dynamische<br />
Erläuterung<br />
Gleichungslösen unter<br />
funktionalen Gesichtspunkten<br />
WK – VF Intuitives BV Inhaltliches BV Integriertes BV Strukturelles BV<br />
Aufgrund <strong>der</strong> begrenzten Zeit von zwei Unterrichtseinheiten<br />
und unserer Forschungsintention<br />
wurde das Problem bereits in Form einem mathematischen<br />
Modells vorgestellt. Die Modellierung<br />
des Problems wurde erst am Ende <strong>der</strong> Einheit<br />
thematisiert.<br />
Eine ausführlichere Darstellung und eine kritische<br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dieser Aufgabe findet<br />
sich in [Lambert & Peters, 2005] und [Steinberg,<br />
1995].<br />
Tabelle 16.1: Beziehung zwischen VF und WK<br />
Abbildung 16.1: Das Kompetenzmodell mit 36 Zellen<br />
Abbildung 16.2: Die Problemstellung: Zwei Straßen<br />
verbinden<br />
Wir waren vor allem an den Arbeits- und<br />
Denkweisen <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler interessiert,<br />
während sie an dem Problem arbeiteten.<br />
Dabei wollten wir insbeson<strong>der</strong>e eine Einordnung<br />
95
Hans-Georg Weigand, Würzburg<br />
o<strong>der</strong> Zuordnung dieser Arbeitsweisen zu den 36<br />
Zellen des Kompetenzmodells vornehmen. Die<br />
Einheit wurde in zwei verschiedenen Klassen behandelt.<br />
In <strong>der</strong> ersten Klasse wurde die Einheit auf<br />
Video aufgezeichnet, in <strong>der</strong> zweiten Klasse wurde<br />
das TI-Navigator-System verwendet, um Daten<br />
direkt vom TC <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler zu<br />
erhalten. Bei dieser Technologie werden die Daten<br />
direkt vom TC auf den Lehrer-Computer übertragen<br />
und lassen sich als Video-Film abspeichern.<br />
3.2 Lösungen des<br />
Straßenverbindungsproblems<br />
Im Folgenden werden verschiedene Lösungsstrategien<br />
beschrieben, die einzelne Schüler gewählt<br />
haben, die aber auch durch Partner- und Gruppenarbeit<br />
entstanden sind.<br />
Startphase<br />
Unmittelbar nach <strong>der</strong> Problemstellung fragten einzelne<br />
Schüler nach gegebenen Werten, wie etwa<br />
dem Abstand <strong>der</strong> Straßen. Sofort kam auch<br />
<strong>der</strong> Vorschlag, dass es sicherlich hilfreich sei –<br />
manche sprachen von „notwendig”– ein Koordinatensystem<br />
einzuführen. Im Folgenden beziehen<br />
wir uns auf ein Koordinatensystem, das von einem<br />
Schüler in einer Klasse vorgeschlagen wurde<br />
und das als „verbindlich” <strong>für</strong> die ganze Klasse erklärt<br />
wurde. In <strong>der</strong> zweiten Klasse wurde die Wahl<br />
des Koordinatensystems einzelnen Schülern bzw.<br />
Gruppen überlassen.<br />
Wir beziehen uns auf ein Koordinatensystem,<br />
in dem die Endpunkte <strong>der</strong> beiden „Straßen”<br />
mit A(-3;5) und B(2;-2) festgelegt sind. Von den<br />
Schülern wurde auch vorgeschlagen, die Funktion<br />
als Darstellung <strong>für</strong> die beiden parallelen Straßen<br />
zu nehmen. Keine <strong>der</strong> Gruppen verwendete<br />
ein Koordinatensystem bei dem die beiden Straßen<br />
punktsymmetrisch zum Ursprung waren.<br />
Erste Lösung – Lineare Verbindung<br />
Für die Konstruktion einer „linearen” Verbindung<br />
<strong>der</strong> beiden Endpunkte traten drei verschiedene<br />
Strategien auf. Die geradlinige Verbindung wurde<br />
durch<br />
1. die Bestimmung <strong>der</strong> Steigung des „Steigungsdreiecks”<br />
und des y-Abschnitts<br />
2. das Zeichnen einer Strecke zwischen den beiden<br />
Endpunkten im Geometriefenster<br />
3. das Lösen eines Gleichungssystems<br />
erhalten.<br />
96<br />
Abbildung 16.3: Geradlinige Verbindung, erhalten<br />
durch den Zugmodus <strong>der</strong> Geraden<br />
Wenn wir diese drei Strategien im Rahmen<br />
unseres Kompetenzmodells beurteilen, dann erhält<br />
man die folgende Zuordnung. Das „intuitive<br />
Begriffsverständnis” tritt bei dieser – doch etwas<br />
komplexeren Problemstellung – nicht auf, deshalb<br />
haben wir es in <strong>der</strong> Tabelle nicht berücksichtigt.<br />
Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />
1. Inhaltl. Stat.<br />
2. Inhaltl. Dyna.<br />
3. Inhaltl. Symb.<br />
Nach einer kurzen Diskussion in <strong>der</strong> Klasse<br />
wurde diese Lösung verworfen. Dabei trat erstmals<br />
<strong>der</strong> Aspekt einer „ruckartigen Lenkbewegung”<br />
bzw. eines „plötzlichen Richtungswechsels”<br />
auf. Im Hinblick auf die Verkehrssituation<br />
kann das keine optimale Lösung sein.<br />
Zweite Lösung – Ein experimenteller Zugang<br />
mit trigonometrischen Funktionen<br />
Diese Lösung verwendet den Graph <strong>der</strong> Sinusfunktion<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kosinusfunktion, <strong>der</strong> dann – mit<br />
<strong>der</strong> Maus – so „verzogen” wird, bis eine optische<br />
Übereinstimmung <strong>der</strong> Verbindungsstraße mit den<br />
Geradenstücken vorhanden ist. Dieser experimentelle<br />
Zugang nutzt also die dynamischen Möglichkeiten<br />
des TC. Die Gleichung des Graphen wird<br />
dabei automatisch angezeigt. Die folgenden Abbildungen<br />
zeigen den Start mit dem Graphen einer<br />
Sinusfunktion. Das letzte Bild zeigt dann den<br />
Graph, <strong>der</strong> nur noch „zwischen” den beiden Straßenenden<br />
definiert ist.<br />
Abbildung 16.4: Start mit <strong>der</strong> Sinusfunktion
Wozu brauche ich ein Computeralgebra System (CAS), wenn ich zwei Straßen verbinden soll?<br />
Abbildung 16.5: Verziehen des Graphen bis er optisch<br />
„passt”<br />
Abbildung 16.6: Einschränken des Definitionsbereichs<br />
Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />
Inhaltl. Dyna.<br />
Dritte Lösung – Ein experimenteller Zugang<br />
mit trigonometrischen Funktionen II<br />
Diese Lösung stellt die Beziehung zwischen <strong>der</strong><br />
Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Graphen <strong>der</strong> Sinus- bzw. Kosinusfunktion<br />
und <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Parameter<br />
<strong>der</strong> Funktionsgleichung auf <strong>der</strong> symbolischen<br />
Ebene her. Diese Strategie erfor<strong>der</strong>t die Kenntnis<br />
<strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Parameter <strong>der</strong> Funktionsgleichung<br />
<strong>für</strong> die entsprechenden Graphen.<br />
Abbildung 16.7: Trigonometrische Verbindung –<br />
Verwendung von Schiebereglern<br />
Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />
Integr. Dyna.<br />
Vierte Lösung – Experimenteller Zugang mit<br />
quadratischen Funktionen I<br />
Anstelle <strong>der</strong> trigonometrischen Funktionen (wie<br />
bei <strong>der</strong> 2. und 3. Lösung) können <strong>für</strong> einen experimentellen<br />
Zugang auch quadratische Funktionen<br />
gewählt werden. Auch hier gibt es verschiedene<br />
Strategien. Man kann die Parabeln zeichnen und –<br />
mit <strong>der</strong> Maus – so lange „verziehen”, bis sie optisch<br />
passend sind.<br />
Abbildung 16.8: Quadratische Verbindung Ia<br />
Abbildung 16.9: Quadratische Verbindung Ib<br />
Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />
Integr. Dyna.<br />
Fünfte Lösung – Experimenteller Zugang mit<br />
quadratischen Funktionen II<br />
Man kann auch von <strong>der</strong> Funktionsgleichung<br />
f (x) = a(x − b)2 + c<br />
ausgehen und die Parameter passend verän<strong>der</strong>n.<br />
Bei <strong>der</strong> hier dargestellten Lösung wurden zwei<br />
Parabeln mit gleichem Öffnungsfaktor und den<br />
Scheitelpunkten in den beiden Endpunkten <strong>der</strong><br />
„Straßen” gewählt. Die Parameter wurden dann<br />
so gewählt, dass sich die Parabeln in einem Punkt<br />
schneiden.<br />
97
Hans-Georg Weigand, Würzburg<br />
Abbildung 16.10: Quadratische Verbindung II (a)<br />
Abbildung 16.11: Quadratische Verbindung II (b)<br />
Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />
Integr. Symb.<br />
Sechste Lösung – Kreise<br />
Bei <strong>der</strong> Verwendung von Kreisen o<strong>der</strong> Kreisteilen<br />
<strong>für</strong> die Verbindungsstraße gab es verschiedene<br />
Strategien <strong>für</strong> das Auffinden <strong>der</strong> Mittelpunkte<br />
und Radien <strong>der</strong> Kreise. Die Mittelpunkte wurden<br />
dabei stets auf eine Senkrechte zu den gegebenen<br />
Straßen durch die Endpunkte gelegt.<br />
Abbildung 16.12: Diese Strategie verwendet Kreise<br />
und eine Strecke<br />
Abbildung 16.13: Eine Strategie die zunächst versucht,<br />
die Radien <strong>der</strong> Kreise zu bestimmen<br />
98<br />
Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />
Inhaltl. Integr. Dyna.<br />
Wir beobachteten auch einen Schüler, <strong>der</strong> nach<br />
anfänglichen Versuchen mit dem TC zu Zirkel und<br />
Lineal (als reale Gegenstände) griff, um die Lösung<br />
zunächst auf <strong>der</strong> enaktiven Ebene zu finden.<br />
Siebte Lösung – Polynome I<br />
Es lassen sich auch Polynomfunktionen als Verbindungsstücke<br />
wählen.<br />
Abbildung 16.14: Eine interessante (!) Strategie:<br />
Es werden drei Punkte auf je<strong>der</strong> „Straße” genommen<br />
und. . .<br />
Abbildung 16.15: . . . mit dem solve-Befehl. . .<br />
Abbildung 16.16: . . . erhält man eine erstaunliche<br />
Lösung: f (x) = −0.0086...x 5 + 0.0217...x 4 +<br />
0.1956...x 3 + 0.3152...x 2 − 2.2589...x 1 +<br />
0.3172...<br />
Achte Lösung – Polynome II<br />
Diese Lösung setzt „optisch passende Punkte” <strong>für</strong><br />
eine mögliche Verbindung und findet die Lösung<br />
– eine Polynomfunktion 4. Grades – dann durch<br />
das Lösen eines Gleichungssystems.
Wozu brauche ich ein Computeralgebra System (CAS), wenn ich zwei Straßen verbinden soll?<br />
Abbildung 16.17:<br />
Abbildung 16.18: Verbindung mit Polynomen II<br />
Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />
Inhaltl. Stat. Symb.<br />
Neunte Lösung – Ableitungen I<br />
Diese Lösung verwendet den Graph einer Polynomfunktion<br />
mit einem differenzierbaren Übergang<br />
zu den „linearen Straßenstücken” in den<br />
Endpunkten A und B. Hier wird ein Polynom 3.<br />
Grades verwendet:<br />
f (x) = ax 3 + bx 2 + cx + d<br />
und die Bedingungen: f (−3) = 5, f ′ (−3) = 0,<br />
f (2) = −2, f ′ (2) = 0.<br />
Das Gleichungssystem kann auf <strong>der</strong> symbolischen<br />
Ebene gelöst werden. Als Graph erhält man<br />
das Ergebnis:<br />
Abbildung 16.19: Verbindung mit Hilfe von Ableitungen<br />
I<br />
Zehnte Lösung – Ableitungen II<br />
Das ist dieselbe Strategie wie bei <strong>der</strong> 9. Lösung,<br />
allerdings mit einem Polynom 4. Grades:<br />
f (x) = ax 4 + bx 3 + cx 2 + dx + e<br />
Es traten zwei verschiedene Strategien auf.<br />
Abbildung 16.20: Verbindung mit Ableitungen –<br />
Erste Strategie: f (−3) = 5, f ′ (−3) = 0, f (0) = 0,<br />
f (2) = −2, f ′ (2) = 0<br />
Abbildung 16.21: Verbindung mit Ableitungen –<br />
Zweite Strategie: f (−3) = 5, f ′ (−3) = 0, f (2) =<br />
−2, f ′ (2) = 0, f ′′ (2) = 0<br />
Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />
Integr. Stat. Symb.<br />
3.3 Funktionen als Objekte – Der<br />
Modellkreislauf<br />
Strukturelles Begriffsverständnis bedeutet Arbeiten<br />
mit Funktionen als Objekten. Dieses Begriffsverständnis<br />
entwickelt sich bei Schülern allerdings<br />
nicht o<strong>der</strong> kaum selbstständig aus intuitiven<br />
o<strong>der</strong> auch inhaltlichen Überlegungen, son<strong>der</strong>n es<br />
bedarf <strong>der</strong> Unterstützung und Hilfen des Lehrers.<br />
Eine Polynomlösung vom Grad 3<br />
Bezugnehmend auf die Lösung 3.2.10 lässt sich<br />
eine Funktion so definieren, dass <strong>der</strong>en Graph die<br />
gesamte Straßenverbindung darstellt, die beiden<br />
Geradenstücke und die Verbindung. Man erhält<br />
die Funktion:<br />
99
Hans-Georg Weigand, Würzburg<br />
Abbildung 16.22: Eine Lösung mit einem Polynom<br />
3. Grades<br />
Der Vorteil einer <strong>der</strong>artigen Definition ist es,<br />
dass die erste und zweite Ableitung <strong>der</strong> Funktion<br />
durch den Befehl „Ableitung” „auf Knopfdruck”<br />
erhalten werden kann.<br />
Abbildung 16.23: Bestimmung <strong>der</strong> Ableitungen<br />
mit dem TC<br />
Damit erhält man die Graphen dieser Funktionen<br />
unmittelbar „auf Knopfdruck”.<br />
Abbildung 16.24: Der Graph <strong>der</strong> Straßenfunktion<br />
und die 1. Ableitung<br />
100<br />
Abbildung 16.25: Der Graph <strong>der</strong> Straßenfunktion<br />
und die 2. Ableitung<br />
Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />
Integr. Strukt. Stat. Symb.<br />
Die Graphen zeigen die Unstetigkeit <strong>der</strong> 2.<br />
Ableitung <strong>der</strong> Funktion „Straße” in den Punkten<br />
A und B.<br />
Interpretation des mathematischen Modells<br />
Die 2. Ableitung einer Funktion ist ein Maß <strong>für</strong> die<br />
Krümmung <strong>der</strong> Kurve. Für positive Werte ist <strong>der</strong><br />
Graph links-, <strong>für</strong> negative Werte rechtsgekrümmt.<br />
Was bedeutet das <strong>für</strong> die reale Situation des Fahrens<br />
entlang <strong>der</strong> „Straße”? Wenn man mit einem<br />
Fahrzeug entlang einer Straße fährt, so treten – bei<br />
einer gekrümmten Kurve – Zentrifugalkräfte auf.<br />
Fährt man entlang <strong>der</strong> Geradenstücke auf Punkt A<br />
zu, so gibt es keine Zentrifugalkraft, sobald aber<br />
Punkt A passiert wird, treten plötzlich Zentrifugalkräfte<br />
auf. Es erfolgt ein „Ruck” auf das Fahrzeug.<br />
Eine „gute” Lösung des Problems sollte in<br />
den Punkten A und B „ruckfrei” verlaufen und<br />
einen allmählichen Anstieg <strong>der</strong> Zentrifugalkräfte<br />
ergeben.<br />
Eine erste „gute” Lösung des Problems<br />
Bei <strong>der</strong> folgenden Lösung ist das Verbindungsstück<br />
<strong>der</strong> Punkte A und B <strong>der</strong> Graph eines Polynoms<br />
5. Grades:<br />
f (x) = ax 5 + bx 4 + cx 3 + dx 2 + ex + g<br />
Eine in A und B „ruckfreie” Lösung sollte<br />
den folgenden Bedingungen genügen: f (−3) = 5,<br />
f ′ (−3) = 0, f ′′ (−3) = 0, f (2) = −2, f ′ (2) = 0,<br />
f ′′ (2) = 0.
Wozu brauche ich ein Computeralgebra System (CAS), wenn ich zwei Straßen verbinden soll?<br />
Abbildung 16.26: Eine Lösung mit einem Polynom<br />
5. Grades<br />
Abbildung 16.27: Das Polynom und seine Ableitungen<br />
Hier ist insbeson<strong>der</strong>e die 2. Ableitung <strong>der</strong><br />
Funktion „Straße” in den Punkten A und B stetig.<br />
Bei <strong>der</strong> entsprechenden realen Situation liegt ein<br />
„ruckfreier” Übergang an diesen Punkten vor.<br />
Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />
Integr. Strukt. Stat. Symb.<br />
Straßenverbindungen in <strong>der</strong> Realität<br />
Das Verbinden zweier Straßenstücke ist ein häufig<br />
auftretendes Problem auf Autobahnen o<strong>der</strong> bei<br />
Sraßenkreuzungen. Es ist ein sehr komplexes Problem,<br />
das etwa in <strong>der</strong> Ausbildung von Ingenieuren<br />
des Straßenbauwesens sehr ausführlich behandelt<br />
wird (vgl. Lambert & Peters 2005). Es gibt dabei<br />
viele Aspekte zu berücksichtigen: Die Breite <strong>der</strong><br />
Straßen, die Entfernung <strong>der</strong> Endpunkte, die Geschwindigkeit,<br />
mit <strong>der</strong> die Autos durch die Kurve<br />
fahren (sollen), eine evtl. Straßenneigung und ob<br />
die Endpunkte auf einer Höhe liegen o<strong>der</strong> nicht.<br />
Um die auftretenden Zentrifugalkräfte berechnen<br />
zu können, muss die Krümmung κ <strong>der</strong> Kurve in<br />
einzelnen Punkten bekannt sein. Diese wird durch<br />
1 http://de.wikipedia.org/wiki/Klothoide<br />
den Krümmungskreis in diesen Punkten <strong>der</strong> Kurve<br />
angegeben. Ein Kreis mit dem Radius r hat die<br />
Krümmung 1 r (in jedem Kreispunkt). Der Graph<br />
einer Funktion f hat die Krümmung κ:<br />
κ =<br />
f ′′<br />
(1 + ( f ′ ) 2 ) 3<br />
Für eine möglichst ruckfreie Fahrt durch die Kurve<br />
sollte sich die Krümmung nicht sprunghaft<br />
und darüber hinaus möglichst gleichmäßig än<strong>der</strong>n.<br />
Unter diesem Gesichtspunkt ist es seine „gute”<br />
Lösung, wenn sich die Krümmung einer Kurve<br />
proportional zur Bogenlänge <strong>der</strong> Kurve än<strong>der</strong>t.<br />
Das erfor<strong>der</strong>t dann eine gleichmäßige Verän<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Lenkung. Eine Kurve, die dieser Bedingung<br />
genügt ist die „Klothoide” 1 . Für eine professionelle<br />
Konstruktion <strong>der</strong> Verbindung zweier Straßen<br />
werden Geraden-, Kreisstücke verwendet, die<br />
durch Klothoidenstücke verbunden werden [vgl.<br />
Gläser, 1972; Osterloh, 1991].<br />
4 Folgerungen<br />
Das hier entwickelte Kompetenzmodell (Abschnitt<br />
2) ist ein theoretisches o<strong>der</strong> normatives<br />
Modell. Es zeigt die Beziehung zwischen verschiedenen<br />
Stufen des Verständnisses des Funktionsbegriffs<br />
(VF) und <strong>der</strong> Werkzeugkompetenz<br />
(WK). Diese Beziehung lässt sich durch 12 = 3 ×<br />
4 Fel<strong>der</strong> ausdrücken. Dabei lassen sich <strong>für</strong> jedes<br />
Feld Probleme konstruieren, die verschiedene kognitive<br />
Anfor<strong>der</strong>ungen stellen. Wir sind dabei von<br />
drei verschiedenen Anfor<strong>der</strong>ungsbereichen (AB)<br />
ausgegangen: Grundwissen und Grundfähigkeiten,<br />
Fortgeschrittenes Wissen bzw. Fortgeschrittene<br />
Fähigkeiten sowie Komplexes Wissen. Damit<br />
besteht das Kompetenzmodell aus 36 = 12×3<br />
„Zellen” in einem dreidimensionalen Kompetenzmodell,<br />
von denen sich jede Zelle durch ein Tripel<br />
(VF, WK, AB) charakterisieren lässt. Die nächsten<br />
Schritte bezgl. <strong>der</strong> Evaluation dieses Modells<br />
sind:<br />
Für jede Zelle werden Problemstelllungen entwickelt,<br />
von denen erwartet wird, dass sie eine<br />
Schülerin o<strong>der</strong> ein Schüler löst, wenn sie o<strong>der</strong> er<br />
die entsprechende Kompetenz besitzt. Es ist gegenwärtig<br />
eine offene Frage, ob es tatsächlich <strong>für</strong><br />
jede Zelle eine solche Problemstellung gibt. Die<br />
Hypothese ist, dass höhere Stufen <strong>der</strong> Kompetenz<br />
VF und WK mit höheren Stufen von AB einhergehen.<br />
Das Modell kann zu einem empirischen Kompetenzstufenmodell<br />
weiterentwickelt werden. Die<br />
PISA–Studien verwenden eine numerische Kompetenzskala<br />
(<strong>für</strong> die Achse <strong>der</strong> Anfor<strong>der</strong>ungsbereiche),<br />
die auf <strong>der</strong> relativen Häufigkeit beruht,<br />
mit <strong>der</strong> Probanden entsprechende Testaufgaben<br />
lösen. Die erfolgreich gelösten Aufgaben stellen<br />
101
Hans-Georg Weigand, Würzburg<br />
ein Maß <strong>für</strong> die Schwierigkeit <strong>der</strong> Problemstellung<br />
dar. Die Skala wird mit einem Mittelwert von<br />
500 und einer Standardabweichung von 100 normiert.<br />
Der Hauptgrund <strong>für</strong> die Konstruktion des<br />
Kompetenzmodells ist <strong>der</strong> Wunsch, Leistungen,<br />
Wissen, Fähigkeiten und Arbeitsweisen von Schülerinnen<br />
und Schüler beim Arbeiten mit dem TC<br />
im Rahmen des Funktionsbegriffs einstufen o<strong>der</strong><br />
bewerten zu können. Das Kompetenzmodell soll<br />
<strong>der</strong> Diagnose von Schülerleistungen dienen. Die<br />
Diagnose ist jedoch nur <strong>der</strong> erste Schritt, wenn<br />
wir die Kompetenz von Schülerinnen und Schüler<br />
verbessern wollen. Der zweite Schritt ist das<br />
Entwickeln von För<strong>der</strong>programmen. Es stellt sich<br />
also die Frage, wie und welche För<strong>der</strong>maßnahmen<br />
ergriffen werden können.<br />
Das M 3 -Projekt wird in den nächsten Jahren<br />
mit einer größeren Anzahl an Modellklassen fortgesetzt<br />
werden. Diese Klassen werden ihre Abschlussprüfung<br />
mit dem TC ablegen, erstmals im<br />
Jahr 2012. Ab 2011 ist es allen bayerischen Gymnasien<br />
erlaubt zu wählen, ob sie den TC einsetzen<br />
o<strong>der</strong> nicht. Die Klassen mit TC werden dann in <strong>der</strong><br />
10. Klasse mit dem TC-Einsatz beginnen und ihr<br />
Abitur im Jahr 2013 ablegen. Das Kompetenzmodell<br />
wird im Rahmen dieses fortgeführten Projekts<br />
evaluiert werden.<br />
Literatur<br />
Gläser, Hans (1972): Trassierung von Straßen und Gewässern.<br />
Berlin: VEB Verlag <strong>für</strong> Verkehrswesen.<br />
KMK, Kultusministerkonferenz (2004): Bildungsstan-<br />
102<br />
dards im Fach <strong>Mathematik</strong> <strong>für</strong> den Mittleren Schulabschluss.<br />
URL http://www.kmk.org/fileadmin/<br />
veroeffentlichungen_beschluesse/2003/2003_12_<br />
04-Bildungsstandards-Mathe-Mittleren-SA.pdf.<br />
Lambert, Anselm & Uwe Peters (2005): Straßen sind keine<br />
Splines. Technischer Bericht 139, Universität das Saarlandesr,<br />
URL http://www.math.uni-sb.de/PREPRINTS/<br />
preprint139.pdf.<br />
Organisation for Economic Co-operation and Development<br />
(Hg.) (1999): Programme for International Student Assessment.<br />
The PISA Assessment Framework. OECD.<br />
Osterloh, Horst (1991): Straßenplanung mit Klothoiden und<br />
Schleppkurven. Einrechnung mit Trasse und Gradiente. 5.<br />
Auflage, Wiesbaden, Berlin: Bauverlag.<br />
Steinberg, Günter (1995): Sanft krümmt sich, was ein Gleis<br />
werden will. mathematik lehren, 69, 61–64.<br />
Vollrath, Hans-Joachim & Hans-Georg Weigand (2006): Algebra<br />
in <strong>der</strong> Sekundarstufe. Spektrum.<br />
Weigand, Hans-Georg (2006): Der Einsatz eines Taschencomputers<br />
in <strong>der</strong> 10. Jahrgangsstufe - Evaluation eines einjährigen<br />
Schulversuchs. Journal <strong>für</strong> <strong>Mathematik</strong>-<strong>Didaktik</strong>, 27(2), 89–<br />
112.<br />
Weigand, Hans-Georg (<strong>2008</strong>): Teaching with a Symbolic Calculator<br />
in 10th Grade - Evaluation of a One Year Project. International<br />
Journal for Technology in Mathematics Education,<br />
15(1), 19–32.<br />
Weigand, Hans-Georg (<strong>2009</strong>): Towards a competence model<br />
for working with symbolic calculators in the frame of the function<br />
concept. Teaching Mathematics and its Applications, 28,<br />
196–207, URL http://teamat.oxfordjournals.org/<br />
content/28/4/196.abstract.<br />
Weigand, Hans-Georg & Ewald Bichler (2010): Symbolic Calculators<br />
in Mathematics Education - The Case of Functions.<br />
International Journal for Technology in Mathematics Education,<br />
17(1).<br />
und Wilhelm Weiskirch, Heiko Knechtel (2001): Abituraufgaben<br />
mit Graphikrechnern und Taschencomputern. Schroedel.
• Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum<br />
Analysisunterricht des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts?<br />
Lutz Führer, Frankfurt<br />
Wie die Überschrift andeutet, werden im Folgenden drei recht globale Behauptungen zur Analysisdidaktik<br />
aufgestellt und – notgedrungen teilweise eklektisch – untermauert:<br />
1. Der übliche Analysisunterricht an heutigen Sekundarstufen II und seine didaktischen Motive folgen<br />
bis heute anhaltenden Zeitgeistströmungen des frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />
2. Es gibt angeborene und seitdem erworbene Missverhältnisse zwischen schulischen Rollen <strong>der</strong><br />
Analysis und ihren vorgeblichen Aus-/Bildungsfunktionen.<br />
3. Eine konsensfähige inhaltliche Begründung <strong>für</strong> allgemein verpflichtenden Analysisunterricht ist<br />
heute nicht mehr gegeben. Damit wird die propädeutische Funktion <strong>der</strong> Mittelstufenalgebra zumindest<br />
fragwürdig. Dieses Doppelproblem könnte durch „Berechnen, um zu verstehen“ gelöst<br />
werden, konkreter: mittels Computermodellierungen bedeutsamer Realdaten.<br />
Alle drei Behauptungen sind spekulativ, und ich erwarte nicht, Kollegen zu bekehren, die sie nicht<br />
zumindest bedenkenswert finden. Wer zu ähnlichen Einschätzungen <strong>der</strong> Lage neigt, wird einige plakative<br />
Resümees den Exegesen vorziehen, um angeregt Kraft zu schöpfen und sich <strong>der</strong> dringen<strong>der</strong>en<br />
Aufgabe gemäß Punkt 3 zu widmen. Diese Aufgabe herauszuarbeiten ist das leitende Ziel <strong>der</strong> folgenden<br />
Untersuchung. Mehr als einige Zwischen-Überblicke und Anstöße kann sie freilich nicht<br />
bieten – schon um sich nicht im Enzyklopädischen zu verlieren.<br />
1 Analysisunterricht des 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts?<br />
„Das neue Jahrhun<strong>der</strong>t wird beherrscht<br />
durch die Wissenschaft, inbegriffen die Technik,<br />
und nicht wie das vorige durch die Philosophie.<br />
Dem müssen wir entsprechen.“<br />
Wilhelm II., Görlitz 29. November 1902<br />
[zit. n. Ullrich, 1999, S. 341]<br />
Gewöhnlich wird die flächendeckende Einführung<br />
pflichtmäßigen Analysisunterrichts an Höheren<br />
Schulen auf zwei Ereignisse zurückgeführt: seine<br />
Einfor<strong>der</strong>ung auf <strong>der</strong> gewichtigen Naturforscherversammlung<br />
in Meran 1905 und seine (endgültige?)<br />
Festschreibung im Richertschen Lehrplan <strong>für</strong><br />
Preußen 1925. Oft gibt man sich mit <strong>der</strong> – insbeson<strong>der</strong>e<br />
bei Fachmathematikern beliebten – Auskunft<br />
zufrieden, beides sei dem didaktischen Impetus<br />
und <strong>der</strong> Verhandlungskunst Felix Kleins entsprungen.<br />
Etwas genaueres Hinsehen bringt aber<br />
noch einen aktuelleren Aspekt zutage: Weil nämlich<br />
alle entscheidenden Ideen, Argumente und<br />
For<strong>der</strong>ungen, die fachlichen sowieso, aber auch<br />
die didaktischen und bildungspolitischen, deutlich<br />
älter als die Meraner Bewegung („Breslauer Unterrichtskommission“<br />
<strong>der</strong> GDNÄ 1904) sind, stellt<br />
sich die spannende Frage, warum den einschlägig<br />
engagierten Persönlichkeiten um Felix Klein die<br />
bis heute wirksame Durchsetzung gerade zu Beginn<br />
des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts gelang. Um diese Frage<br />
– natürlich spekulativ – zu beantworten, genügen<br />
einige bequem erreichbare Informationen zur<br />
1.1 Vorgeschichte<br />
Die Rede vom „heutigen Analysisunterricht“ ist<br />
gewiss nur deshalb einigermaßen sinnvoll, weil<br />
dieser Unterricht in erheblichem Umfang von Behördenvorschriften,<br />
Schulbuch- und Ausbildungstraditionen<br />
vorbestimmt und konserviert wird.<br />
Das war nicht immer so; insbeson<strong>der</strong>e nicht im 19.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t. Obwohl damals die rasante Entwicklung<br />
des Höheren Schulwesens lange von <strong>der</strong> Perspektive<br />
auf ein Berufsleben als Staatsdiener geprägt<br />
war 1 , können heutige Oberschulen von <strong>der</strong><br />
damaligen Autonomie <strong>der</strong> Lehre nur träumen. 2<br />
1 siehe zum Beispiel [Böttcher et al., 1994, S. 89f]<br />
2 Die weitgehende Lehrfreiheit des Oberlehrers war bei Wilhelm von Humboldt Programm, wurde aber im weiteren 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
auch unabhängig vom Neuhumanismus vom Primat <strong>der</strong> „Formalbildung“, d. h. <strong>der</strong> individualisierenden, aber staatsbezogenen<br />
Persönlichkeitsbildung, gestützt. (Mit Lehrfreiheit ist natürlich nicht Freiheit von politischen und Standeszwängen o<strong>der</strong> großmaschigen<br />
Rahmenplänen und Zielvorgaben gemeint [vgl. etwa Kraul, 1984, Kap. 2].) Hinzu kamen Personalprobleme: Erst 1810 wurde in<br />
Preußen mit <strong>der</strong> Einführung des Referendarexamens Philosophie zum Fach ersten Ranges, von dem sich allmählich Einzelfächer wie<br />
<strong>Mathematik</strong> abspalteten. Der zunehmenden Mathematisierung des Unterrichts an Höheren Schulen standen so bis in die 60er Jahre des<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>ts nur wenige Oberlehrer mit einem Examen in <strong>Mathematik</strong>/Naturwissenschaften gegenüber. In dieser Lage konnten<br />
die staatlichen Lehrpläne natürlich nur Wünsche äußern, Umrisse zeichnen und im Detail unverbindlich bleiben [vgl. Lorey, 1916,<br />
S. 22] – Eine halbwegs sinngemäße neudeutsche Übersetzung von „Formalbildung“ wäre vielleicht „mentale Formung“. Das hätte<br />
immerhin den Charme, die Erziehungsabsichten (o<strong>der</strong> -wirkungen) unseres Oberschulwesens offen zu legen und infrage zu stellen. –<br />
Handfestere Belege <strong>für</strong> meine Autonomiebehauptung bieten Einblicke in die Lehrplangeschichte und in die des Vorschriftenwesens<br />
im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. Die Literatur dazu ist Legion. Ich nenne hier nur [Hermann, 1977; Jeismann, 1996; Schubring, 1983, 1986; Kraul,<br />
1984; Mandel, 1989; Röhrs, 1969; Lundgreen, 1980/1981], sowie die bei [Steiner, 1978] angegebene Literatur.<br />
3 [Klein, 1904, S. 3]<br />
103
Lutz Führer, Frankfurt<br />
Wenn also Kleins „alter Studienfreund“ 3 Max<br />
Simon den Meraner Reformern auf dem <strong>Mathematik</strong>erkongress<br />
in Rom 1908 entgegen hielt:<br />
„Das Gute ist nicht neu, und das Neue ist<br />
nicht gut!“ 4<br />
konnte er einerseits mit vollem Recht darauf verweisen,<br />
dass es während des ganzen 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
schon Analysisunterricht an Höheren Schulen<br />
gegeben hat, und auch For<strong>der</strong>ungen nach<br />
genetischem Unterricht; Anwendungs-, Technikund<br />
Naturwissenschaftsorientierung; Betonung<br />
des Funktionsbegriffs u. v. a. m. 5<br />
An<strong>der</strong>erseits unterschätzte Simon gewiss die<br />
jedes Mal notwendige Einschränkung „. . . – hier<br />
o<strong>der</strong> dort.“ So haben die Meraner Reformer mit<br />
ebenso viel Recht betont: „Das Vielerlei <strong>der</strong> mathematischen<br />
Gebiete, die auf <strong>der</strong> Schule zu Wort<br />
kommen, musste unter eine einheitliche Grundidee<br />
gebracht werden. [. . . ] wenn die Schulmathematik<br />
nicht als ein Konglomerat verschiedener<br />
Dinge auseinan<strong>der</strong>fallen sollte.“ 6 Aus heutiger<br />
Sicht lässt sich auch die naheliegende Frage<br />
einleuchten<strong>der</strong> beantworten, warum die Reformer<br />
das Auseinan<strong>der</strong>fallen <strong>der</strong> Unterrichtsinhalte<br />
unbedingt bekämpfen wollten, obwohl es doch<br />
bei mittleren Köpfen im Dreiviertelstundentakt –<br />
trotz des schon damals gern beschworenen psychogenetischen<br />
Prinzips (heute: „Schülerorientierung“)<br />
– kaum vermeidbar ist: Ziel <strong>der</strong> Meraner<br />
Reformvorschläge war die flächendeckende Umformung<br />
des analytisch-algebraischen <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
in eine Vorschule <strong>der</strong> Analytischen<br />
Geometrie und Analysis. 7 Dieses Ziel konnte im<br />
aufblühenden staatlichen Reglementierungswesen<br />
des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts nur erreicht werden, wenn es<br />
sich den Entscheidungsträgern als plakatives Gesamtkonzept<br />
mundgerecht präsentieren ließ. Je-<br />
denfalls hatten die verstreuten Beispiele <strong>für</strong> Analysisunterricht<br />
im 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts kaum überregionalen<br />
Nachhall gefunden. Und die öffentlichen<br />
Bemühungen eines du Bois-Reymond, Gallenkamp<br />
o<strong>der</strong> Reuleaux hatten lediglich die zugkräftigen<br />
Formulierungen <strong>für</strong> „fortschrittliche“, aber<br />
randständige Kreise des Bildungsbürgertums entwickelt,<br />
mit denen sie dem aufstrebenden Wirtschaftsbürgertum<br />
staatliche Unterstützung <strong>für</strong> die<br />
Zweite Industrielle Revolution andienen konnten.<br />
Wir begnügen uns hier mit einer personalisierten<br />
Skizze <strong>der</strong> damaligen Aufbruchstimmung:<br />
Karl Wilhelm Gallenkamp, seit 1861 Direktor<br />
<strong>der</strong> Friedrichs-Wer<strong>der</strong>schen Oberrealschule<br />
in Berlin, die dem einflussreichen hugenottischen<br />
Großbürgertum nahe stand 8 , vertrat im<br />
Herbst 1873 auf einer Konferenz des Königlich<br />
Preußischen Unterrichtsministeriums über verschiedene<br />
Fragen des Höheren Schulwesens die<br />
(Min<strong>der</strong>heits-) Auffassung, „dass die Bildungsaufgabe<br />
des Gymnasiums die Aufnahme <strong>der</strong> Elemente<br />
<strong>der</strong> analytischen Geometrie und <strong>der</strong> Differentialrechnung<br />
for<strong>der</strong>e; nur dadurch könne <strong>der</strong><br />
Gymnasial-Abiturient eine Vorstellung von <strong>der</strong><br />
großen Cultur-Arbeit auf dem Gebiete <strong>der</strong> Naturwissenschaft<br />
erhalten; nur so könne die Erweiterung<br />
einer immer bedenklicher werdenden Kluft<br />
zwischen den Gebildeten in <strong>der</strong> Nation vermieden<br />
werden; auch sei das wissenschaftliche Studium<br />
<strong>der</strong> Medizin ohne die Kenntnis dieser mathematischen<br />
Disziplinen nicht möglich.“ Von mehreren<br />
Seiten wurde das mit Überbürdungsbe<strong>für</strong>chtungen<br />
(heute: Überbeanspruchung, Schulstress)<br />
zurückgewiesen. „Dagegen stimmte Herr Bonitz<br />
Direktor Gallenkamp soweit bei, dass er die Erreichung<br />
<strong>der</strong> von diesem aufgestellten Ziele <strong>für</strong><br />
sehr wünschenswert hielt, aber auch er hatte Zweifel<br />
an <strong>der</strong> Durchführbarkeit . . . “ 9 Dr. Hermann<br />
4 Vgl. [Krüger, 2000, S. 163]<br />
5 Schülke [1905] berichtet von Unterricht in Infinitesimalrechung an Herbarts Pädagogium (um 1810 und 1824). Im berühmten<br />
Süvernschen Lehrplan, dessen mathematischer Teil von Bernhardi stammt, war <strong>für</strong> die Höheren Schulen Infinitesimalrechnung vorgesehen<br />
(1816; veröff. 1819; Schubring [1988]). Ebenfalls bei Schubring [1988] findet man Angaben über Schellbachs einschlägige<br />
Praxis als Gymnasialfachleiter in Berlin 1855-1892. [Lietzmann, 1919/1916, S. 386 f.] verweist auf Traugott Müller 1845. [Führer,<br />
1981a, S. 63 f.] gibt die vier Abituraufgaben wie<strong>der</strong>, die Gallenkamp 1889 gestellt hat, und belegt damit das hohe Niveau, das Gallenkamps<br />
Analysisunterricht seit etwa 1870 gehabt haben muss. [Schumann, 1999] nennt Extremwertbestimmungen bei Schaffer (1816),<br />
Martus (1861), Schra<strong>der</strong> (1862), Förster (1866). Klein [1904, S. 11f.] schreibt: „Mehr beiläufig will ich anführen, dass es eine Reihe<br />
Anstalten gibt, welche seit Jahren einen regelmäßigen Unterricht in Differential- und Integralrechnung erteilen. Es sind dies vor allen<br />
Dingen die Württembergischen Oberrealschulen, aber auch manche einzelne Schulen sonst.“ (Gleich anschließend geht Klein auf<br />
die Umgehung des zeitweiligen Unterrichtsverbots <strong>für</strong> dieses Gebiet mittels <strong>der</strong> „Schellbachschen Methode“ als Tarnung ein, die im<br />
Wesentlichen schon in Fermats Abhandlung von 1629 über Maxima und Minima steht: Ausdividieren nach x − x ′ und anschließendes<br />
Nullsetzen. . . [de Fermat, 1934]) – Zum genetischen Unterricht s. [Schubring, 1978].<br />
6 [Lietzmann, 1919/1916, S. 236]; ähnlich [Simon, 1885] sowie Hauck und Klein auf <strong>der</strong> Berliner Schulkonferenz 1900 sowie<br />
eindrucksvoller Götting [1902, S. 50 f], <strong>der</strong> an das Prinzip <strong>der</strong> Denkökonomie appelliert.<br />
7 Lietzmann [1919/1916, S. 233] beklagt im Geiste aller Reformer den Meraner Kompromiss, nach dem es nur hieß, die Schule solle<br />
„an die Schwelle <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung heranführen“. – Das seinerzeit gebräuchliche Wort „Infinitesimalrechnung“ umfasste noch<br />
alle Varianten einer Einführung in die Analysis. Heute bezeichnet es eher eine spezifisch mit Konvergenzfragen durchwobene Sichtweise,<br />
während <strong>der</strong> klassische Calculus des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts den unendlichen Reihenkalkül betonte, <strong>der</strong> spätere amerikanische Calculus<br />
endlich-algebraische Plausibilitätsbetrachtungen und Anwendungstechniken, die Hochschulanalysis einen systematisch-formalen<br />
Begründungszusammenhang einschließlich Differential- und Integralgleichungen auch im Mehrdimensionalen. Klein sprach vorzugsweise<br />
(nur) von Differential- und Integralrechnung. Im heutigen schulischen Gebrauch ist „Analysis“ so ambivalent wie zu Meraner<br />
Zeiten „Infinitesimalrechnung“.<br />
8 Vgl. etwa http://de.wikipedia.org/wiki/Hugenotten_in_Berlin<br />
9 Diskussions-Protokoll vom Oktober 1873, zit. n. [Gallenkamp, 1877, S. 2]<br />
104
Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />
Bonitz war nicht irgendwer: 1873 noch Gymnasialdirektor<br />
und Mitglied <strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften,<br />
war er seit 1875 schon Vortragen<strong>der</strong><br />
Rat im Unterrichtsministerium mit starkem Einfluss<br />
auf die neu zu entwickelnden Lehrpläne, als<br />
Gallenkamp seinen Standpunkt in <strong>der</strong> Zeitschrift<br />
<strong>für</strong> das Gymnasial-Wesen öffentlich machte und<br />
ausführlicher begründete, u. a. auch mit dem Hinweis<br />
auf fortschrittlichere Zustände in Frankreich<br />
und vor allem auf Reuleaux’ böse Briefe von <strong>der</strong><br />
Weltausstellung in Philadelphia 1876, wo Preußen<br />
sich – ausgerechnet während <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong>krise –<br />
als grobschlächtig und technisch rückständig präsentiert<br />
hatte. 10<br />
Der damals sehr angesehene Berliner Physiologe<br />
und Medizintheoretiker Emil du Bois-<br />
Reymond hat dann gleichfalls 1877 in einer reichsweit<br />
beachteten Kölner Rede in dieselbe Kerbe geschlagen<br />
und <strong>für</strong> „mo<strong>der</strong>ne“ Analytische statt traditionell<br />
Synthetischer Geometrie auf den Höheren<br />
Schulen plädiert. Seine Argumente sind später<br />
oft <strong>für</strong> pflichtmäßigen Unterricht in Analytischer<br />
Geometrie und Analysis ins Feld geführt worden.<br />
Erst Analytische Geometrie, so du Bois-Reymond<br />
in jener Rede, erschließe „die mathematische Bildung“.<br />
Sie müsse in den Höheren Schulen zur allgemeinen<br />
Studierbefähigung gelehrt werden, weil<br />
sie so dienlich <strong>für</strong> Verwaltungsbeamte, Nationalökonomen,<br />
Physiker, Meteorologen und Mediziner<br />
sei. „Die Darstellung von Functionen in Curven<br />
o<strong>der</strong> Flächen aber eröffnet eine neue Welt<br />
von Vorstellungen und lehrt den Gebrauch einer<br />
<strong>der</strong> fruchtbringendsten Methoden, durch welche<br />
<strong>der</strong> Geist seine eigene Leistungsfähigkeit erhöhte.<br />
. . . ein <strong>für</strong> das Leben epochemachen<strong>der</strong><br />
Lichtblick. Diese Methode wurzelt in den letzten<br />
Tiefen menschlicher Erkenntnis und hat dadurch<br />
an sich ganz an<strong>der</strong>e Bedeutung, als <strong>der</strong> sinnreichste,<br />
einem beson<strong>der</strong>en Falle dienende analytische<br />
Kunstgriff.“ Die Rede endet mit <strong>der</strong> früher<br />
oft zitierten For<strong>der</strong>ung: „Kegelschnitte, kein<br />
griechisches Skriptum mehr!“ Unterwegs machte<br />
du Bois-Reymond geltend, Geometrie und Algebra<br />
gewöhnten ans scharfe Denken, und die Infinitesimalrechnung<br />
sei wegen <strong>der</strong> nichtlinearen Gesetzmäßigkeiten<br />
unbedingt einzuschließen: „Dass<br />
analytische Geometrie durch Differential- und In-<br />
tegralrechnung den Weg zu den letzten und höchsten<br />
Zielen <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>, also auch zu <strong>der</strong>en<br />
schwierigsten Teilen bahnt, kann doch nur einen<br />
Grund mehr abgeben, schon auf dem Gymnasium<br />
damit anzufangen.“ 11<br />
Obwohl schon Gallenkamps erweiterte Argumentation<br />
so ziemlich alle Argumente vorweggenommen<br />
hatte, die bis heute zur Begründung des<br />
schulischen Analysisunterricht ins Feld geführt<br />
werden, versandete sein und du Bois-Reymonds<br />
Vorstoß mitsamt Bonitz’ Einfluss in den Reputationskämpfen<br />
<strong>der</strong> 1880er- und 90er-Jahre. 12<br />
Erst auf <strong>der</strong> Schulkonferenz, die im Jahr 1900<br />
<strong>der</strong> formellen Gleichstellung <strong>der</strong> Höheren Schultypen<br />
vorausging, nahmen die mathematischen<br />
Hochschulvertreter Klein, Hauck, Lexis und Slaby<br />
den Faden mit beson<strong>der</strong>em Hinweis auf den<br />
Mangel an Technikernachwuchs wie<strong>der</strong> auf, wobei<br />
Gallenkamps Strategie, provozierend auf den<br />
Vorsprung – ausgerechnet – <strong>der</strong> Franzosen hinzuweisen,<br />
jetzt mit Schulbüchern von E. Borel und<br />
den Brü<strong>der</strong>n Tannéry untermauert werden konnte.<br />
13 Hauck warf den Realschulen ein „Herumnippen<br />
an allerlei auf gleichbleibendem Niveau vor“<br />
und Felix Klein erklärte: „Je<strong>der</strong> Sachverständige<br />
wird bestätigen, dass man selbst die Grundlinien<br />
<strong>der</strong> wissenschaftlichen Naturerklärung nur verstehen<br />
kann, wenn man wenigstens die Anfangsgründe<br />
<strong>der</strong> Differential- und Integralrechnung, sowie<br />
<strong>der</strong> analytischen Geometrie – also den sogenannten<br />
nie<strong>der</strong>en Teil <strong>der</strong> höheren <strong>Mathematik</strong> –<br />
kennt.“ 14 Unmittelbarer Nutzen sei die Entlastung<br />
vor allem <strong>der</strong> Studiengänge, die wenig <strong>Mathematik</strong><br />
bräuchten: Architektur, Chemie, beschreibende<br />
Naturwissenschaften, Medizin (Physiologie),<br />
Maschinen- und Bauingenieurwesen und sogar<br />
Jura (Versicherungswesen). 15 „Eine Hauptsache<br />
ist doch auch, die Überzeugung entstehen zu<br />
lassen, dass richtiges Nachdenken auf Grund richtiger<br />
Prämissen die Außenwelt beherrschen lässt.<br />
Dann aber muss von Beginn an <strong>der</strong> Blick auf<br />
die Außenwelt gerichtet werden.“ 16 „Ich wünsche<br />
(<strong>für</strong> die Oberklassen <strong>der</strong> Realanstalten) eine praktische<br />
Differential- und Integralrechnung, welche<br />
sich auf die einfachsten Beziehungen beschränkt<br />
und diese an <strong>der</strong> Hand <strong>der</strong> dem Schüler bereits<br />
geläufigen Naturvorgänge fortgesetzt veranschau-<br />
10 [Reuleaux, 1877]<br />
11 [du Bois-Reymond, 1974, S. 151]<br />
12 Vgl. [San<strong>der</strong>, 1903; Pahl, 1913] sowie [Führer, 1981b, S. 85]<br />
13 Bei Gallenkamp hieß es noch: „. . . es existiert meines Wissens kein Lehrbuch, welches Wegweiser sein könnte, und es dürfte<br />
schwer sein, ein solches mit irgend einem Anspruche auf Allgemeingültigkeit abzufassen.“ [Gallenkamp, 1877, S. 19]. Klein war sich<br />
dieses großen Hin<strong>der</strong>nisses <strong>für</strong> eine schulpolitische Durchsetzung zweifellos sehr bewusst [vgl. Klein, 1904, S. 11f]. Nachdem er auf<br />
einschlägige Erfahrungen und Ausarbeitungen <strong>der</strong> Göttinger Gymnasiallehrer Behrendsen und Götting verweisen konnte [Lietzmann,<br />
1919/1916, S. 233], fand er die französischen Lehrbücher von Borel und den Tannérys nur noch bemerkenswert in ihrer „Gesamtdisposition“,<br />
nicht mehr unmittelbar auf deutsche Verhältnisse übertragbar [Klein, 1904, S. 5].<br />
14 [Klein, 1900, S. 36]<br />
15 [Klein, 1900, S. 36 f] bzw. [Klein, 1904, S. 17f].<br />
16 [Klein, 1900, S. 35]<br />
17 [Klein, 1900, S. 43]<br />
105
Lutz Führer, Frankfurt<br />
licht.“ 17 „Eine gewisse Kenntnis <strong>der</strong> Differentialund<br />
Integralrechnung ist unerlässlich, wenn man<br />
auch nur die einfachsten Gesetzmäßigkeiten <strong>der</strong><br />
uns umgebenden Natur verstehen will.“ 18 Natürlich<br />
soll hier den Philologen und Verwaltungsbeamten<br />
suggeriert werden, dass Leitungsfunktionen<br />
<strong>für</strong> die aufstrebende Technik und Industrie<br />
künftig solche Kenntnisse voraussetzen würden.<br />
Klein meidet aber dieses Glatteis, auf dem<br />
die angestrebte Aufwertung <strong>der</strong> mathematischnaturwissenschaftlichen<br />
Bildung zu leicht ins Abseits<br />
<strong>der</strong> rein materialen Berufsvorbereitung abgleiten<br />
könnte, und betont stattdessen lieber den<br />
kompensatorischen Bildungsanteil vor allem <strong>für</strong><br />
spätere Nichtmathematiker: „Im mathematischen<br />
Unterricht kommt wesentlich das deduktive Denken<br />
zu seinem Recht; <strong>der</strong> naturwissenschaftliche<br />
Unterricht hat ergänzend das induktive Denken<br />
und die Gewöhnung an vorurteilsfreie Beobachtung<br />
zu üben. Beide zusammen sollen zu einem<br />
Verständnis <strong>der</strong> uns umgebenden Natur anleiten,<br />
von <strong>der</strong> wir selbst ein Teil sind.“ 19 Dieser Satz<br />
könnte wörtlich von Herbart stammen und spielt<br />
gewiss auch nicht unabsichtlich auf Kants Erkenntniskritik<br />
an. Wenig später nimmt Klein dann<br />
diesem Frontalangriff die Schärfe: Es sei „keinerlei<br />
Verkümmerung <strong>der</strong> sprachlichen und sonstigen<br />
grundlegenden Fächer“ beabsichtigt. „Denn<br />
niemand wird einer ausschließlich mathematischnaturwissenschaftlichen<br />
Vorbildung das Wort reden<br />
wollen.“ 20<br />
1.2 „Funktionales Denken“<br />
Die Konjunktureuphorie zu Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
hat zweifellos ein sehr viel günstigeres<br />
Umfeld <strong>für</strong> diese Argumente abgegeben als<br />
die Grün<strong>der</strong>krise <strong>der</strong> späteren 70er-Jahre des 19.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts. Hinzu kam ein sehr wirkungsvoller<br />
Schachzug, um dem zuvor so erfolgreichen<br />
Überbürdungsvorwurf <strong>der</strong> konservativen Philologen<br />
Paroli bieten zu können:<br />
Mit einem fadenscheinigen Kompliment an<br />
den preußischen Lehrpläne von 1901, die zwar<br />
nicht die gewünschte Infinitesimalrechnung enthielten,<br />
aber immerhin <strong>für</strong> die oberen Klassen „ein<br />
eingehendes Verständnis des Funktionsbegriffs“<br />
vorschrieben, missversteht Klein ganz gezielt die<br />
Pflege des Funktionsbegriffs als die gewünschte<br />
Erneuerung: „Mein Ziel ist, überzeugend darzulegen,<br />
dass die hiermit gegebenen Gesichtspunkte,<br />
von Untersekunda [Klassenstufe 10] beginnend,<br />
in richtiger methodischer Steigerung den ganzen<br />
mathematischen Unterricht entscheidend beeinflussen<br />
sollen, dass <strong>der</strong> Funktionsbegriff in geometrischer<br />
Fassung den übrigen Lehrstoff wie ein<br />
Ferment durchdringen soll. Hierin ist eine gewisse<br />
Berücksichtigung <strong>der</strong> analytischen Geometrie, an<strong>der</strong>erseits<br />
aber auch <strong>der</strong> Anfänge <strong>der</strong> Differentialund<br />
Integralrechnung von selbst mit eingeschlossen.<br />
Letzteres erscheint [!] also sozusagen als Korollar<br />
einer allgemeineren Thesis.“ 21 Elf Seiten<br />
später skizziert Klein dann auch gleich, wie er sich<br />
ab Untersekunda „die Sache durchgeführt denke“,<br />
nämlich so, wie es dann – bald über beide Sekundarstufen<br />
ausgestreckt – während des ganzen<br />
20. Jahrhun<strong>der</strong>ts Standard wurde: Ausgehend von<br />
Geraden, Parabeln und Hyperbeln in graphischer<br />
Darstellung über etwas Theorie <strong>der</strong> algebraischen<br />
Gleichungen sowie Trigonometrie hin zu komplizierteren<br />
Funktionen und Kurven, auch empirisch<br />
gewonnenen und in <strong>der</strong> Physik auftretenden (Fallgesetze,<br />
Pendelbewegung, Wellen). „In <strong>der</strong> Prima<br />
möge man dann aus den bereits zur Gewohnheit<br />
gewordenen Auffassungen die allgemeinen<br />
Gedanken <strong>der</strong> Differential- und Integralrechnung<br />
herausschälen. [. . . ] Aber <strong>der</strong> Formalismus darf<br />
nicht überwuchern; die Hauptsache ist eine klare<br />
Erfassung <strong>der</strong> Grundbegriffe und ihrer anschauungsmäßigen<br />
Bedeutung.“ 22<br />
Bei Timerding steht – nicht ohne diplomatische<br />
Verrenkungen – über die umgekehrte, sachlich<br />
wohl richtigere, aber politisch nicht unbedingt<br />
nützlichere Abhängigkeit zwischen Funktionsbegriff<br />
und Infinitesimalrechnung zu lesen: „Wenn<br />
auf die Begriffe <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung eingegangen<br />
wird, dann müssen sie den ganzen mathematischen<br />
Unterricht von Anfang an beeinflussen;<br />
nicht so, dass etwa schon in <strong>der</strong> Tertia mit<br />
Differentialen herumgeworfen werden soll, son<strong>der</strong>n<br />
nur so, dass die Gewöhnung an den Funktionsbegriff,<br />
<strong>der</strong> ja die Grundlage <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung<br />
ist und <strong>der</strong> [den?] sie geradezu zu<br />
seiner [ihrer?] vollen Ausbildung notwendig erfor<strong>der</strong>t,<br />
schon frühzeitig eintritt. – So erst kann<br />
überhaupt <strong>der</strong> Schüler lernen, das Wesen <strong>der</strong> mathematischen<br />
Größen richtig zu verstehen, und so<br />
18 [Klein, 1900, S. 45]<br />
19 [Klein, 1900, S. 47]. Eine Einordnung als reine Berufsvorbereitung hätte den Besitzstandswahrern unter den in Schule und Schulverwaltung<br />
führenden Philologen in die Hände gespielt. In [Klein, 1904, S. 6] heißt es: „Ich bin tief durchdrungen von <strong>der</strong> Aufgabe<br />
<strong>der</strong> Schule, eine große Zahl nicht son<strong>der</strong>lich begabter und dabei dem mathematischen Denken zunächst abgeneigter Schüler zu einem<br />
bestimmten Niveau wissenschaftlichen Verständnisses hinzuführen . . . Die späteren <strong>Mathematik</strong>er sind mir bei den folgenden Darlegungen<br />
ganz gleichgültig: mit ihnen kommen wir an <strong>der</strong> Universität zurecht, wie immer die beson<strong>der</strong>e Art ihrer Vorbildung beschaffen<br />
sein mag. Vielmehr sind es gerade die an<strong>der</strong>en, um die ich mich sorge und auf die ich im folgenden exemplifizieren werde: die Mediziner,<br />
die Chemiker, die Juristen!“ Die Oberlehrer, denen dieser Vortrag galt und die ja den Löwenanteil <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>studierenden<br />
stellten, wurden hier klugerweise nicht erwähnt.<br />
20 Ebenda<br />
21 [Klein, 1904, S. 4].<br />
22 [Klein, 1904, S. 16].<br />
106
Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />
allein kann er begreifen, was <strong>der</strong> mathematischen<br />
Größenlehre ihre reale Bedeutung gibt. Die Notwendigkeit<br />
des Funktionsbegriffes <strong>für</strong> den mathematischen<br />
Unterricht gerade in diesem Sinne <strong>der</strong><br />
Verkettung mit den Anwendungen und <strong>der</strong> Schulung<br />
des Denkens überhaupt erkannt zu haben, ist<br />
das große Verdienst von Herbart . . . “ 23<br />
„Wesentliche Grundgedanken <strong>der</strong> Kleinschen Unterrichtsreform wurden in die amtlichen Lehrpläne<br />
von 1925 übernommen. Diese stellten als allgemeines Lehrziel folgende For<strong>der</strong>ungen<br />
auf:<br />
1. Schulung im logischen Schließen und Beweisen.<br />
2. Übung im funktionalen Denken.<br />
3. Entwicklung des räumlichen Anschauungsvermögens.<br />
4. Verständnis <strong>für</strong> den philosophischen Gehalt <strong>der</strong> mathematischen Verfahren und die geistesgeschichtliche<br />
Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>.<br />
Die For<strong>der</strong>ung nach Schulung des logischen Denkens bot nichts Neues gegenüber <strong>der</strong> traditionellen<br />
Gestalt des Unterrichts. Zur Durchführung <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach Übung im funktionalen<br />
Denken wurde die Differential- und Integralrechnung in den Lehrstoff <strong>der</strong> Prima aller höheren<br />
Schulen, auch des Gymnasiums, aufgenommen. Der Unterricht sollte dabei einen Mittelweg suchen<br />
zwischen berechtigten Anfor<strong>der</strong>ungen an wissenschaftliche Strenge und <strong>der</strong> Rücksicht auf<br />
die praktischen Bedürfnisse und ausgiebig das Hilfsmittel geometrischer Veranschaulichung<br />
benutzen. Am Gymnasium sollte <strong>der</strong> Unterricht sich auf die Ableitung rationaler und trigonometrischer<br />
Funktionen, beson<strong>der</strong>s zur Bestimmung von Extremwerten, und die Berechnung<br />
von Flächen- und Rauminhalten mit Hilfe <strong>der</strong> Integralrechnung beschränken und in <strong>der</strong> Prima<br />
beginnen. Am Realgymnasium traten hinzu: Die Untersuchung transzendenter Funktionen,<br />
Reihenentwicklungen und Näherungsmethoden zur Lösung von Gleichungen. Auf <strong>der</strong> Oberrealschule<br />
wurde <strong>der</strong> Beginn <strong>der</strong> Differential- und Integralrechnung nach <strong>der</strong> Obersekunda [11.<br />
Klassenstufe] vorverlegt und so die Bedingung <strong>für</strong> eine vertiefte Behandlung dieses grundlegenden<br />
Gebietes geschaffen.“<br />
[Rüping, 1954, S. 37]; vgl. [Siemon, 1980] sowie ausführlicher [Lietzmann, 1926, Kap. 5]<br />
Das 4. Lehrziel <strong>der</strong> Richertschen Reformlehrpläne<br />
erinnert noch an das eifrige Bemühen<br />
<strong>der</strong> Vorkämpfer von du Bois-Reymond bis<br />
Klein, den mo<strong>der</strong>nisierten <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
nicht als Berufspropädeutik, son<strong>der</strong>n als notwendige<br />
Ergänzung zeitgemäßer Geistesbildung auszugeben.<br />
In <strong>der</strong> Schulpraxis dürfte das damals<br />
wie heute – schon aufgrund <strong>der</strong> Vor- und Ausbildung<br />
normaler Gymnasiallehrer – keine wesentliche<br />
Rolle gespielt haben.<br />
Lietzmann hat später immer wie<strong>der</strong> betont,<br />
<strong>der</strong> Funktionsbegriff sei als den ganzen Schulstoff<br />
in <strong>Mathematik</strong> wie ein Ferment durchdringendes<br />
„didaktisches Prinzip“ (heute etwa „Leitidee“) das<br />
eigentlich Neue am Meraner Aufbruch gewesen<br />
– und als Konzentrationsprinzip, dem vieles an<strong>der</strong>e<br />
aus dem traditionellen Schulstoff großmütig<br />
geopfert werden konnte, das eigentlich schulpolitisch<br />
Schlagkräftige gegen den Überbürdungsvorwurf.<br />
24 In dieser stoffdidaktischen und scheinbar<br />
rein innerschulischen Sichtweise konnte die flächendeckende<br />
Durchsetzung des Analysisunter-<br />
richts 1925 als eindeutiger Sieg <strong>der</strong> Meraner Reformstrategen<br />
um Felix Klein ausgegeben werden,<br />
obwohl das Konzentrationsprinzip nicht „nur“ Inhalte<br />
und Sichtweisen 25 , son<strong>der</strong>n auch Stundenanteile<br />
gekostet hatte.<br />
Folgt man <strong>der</strong> bei Timerding anklingenden<br />
Auffassung Herbarts, dass mit <strong>der</strong> frühzeitigen<br />
„Gewöhnung an funktionales Denken“<br />
Differential- und Integralrechnung leichter erlernbar<br />
würden, dann ist noch keineswegs ausgemacht,<br />
dass diese Gebiete in die allgemeinbildende<br />
Schule gehörten. So hatte Max Simon 1884 im<br />
Vorwort seines Lehrbuchs [Simon, 1885] durchaus<br />
wie später Lietzmann formuliert: „Was dem<br />
Unterricht in <strong>der</strong> Arithmetik heutzutage viel mehr<br />
fehlt als die Strenge im Einzelnen, ist nach meiner<br />
Überzeugung, welche ich bereits im Jahre<br />
1877 auszusprechen Gelegenheit hatte, ein festes<br />
Ziel. . . Dieses Ziel finde ich in <strong>der</strong> Vorbereitung<br />
auf die Functionentheorie“ – allerdings ohne diese<br />
Propädeutik <strong>der</strong> „Functionentheorie“ als Leitidee<br />
durchsetzen zu können o<strong>der</strong> gar Analysis <strong>für</strong> alle<br />
23 [Timerding, 1911, S. 132 f.] – In <strong>der</strong> anschließenden Fußnote werden aus Herbarts ABC <strong>der</strong> Anschauung von 1802 zwei Stellen<br />
zitiert. Die zweite lautet: „Gewöhnt den Jüngling, die Dinge dieser Welt als Größen und ihre Verän<strong>der</strong>ungen als Funktionen <strong>der</strong> bewegenden<br />
Kräfte, d. h. als notwendige, bei aller scheinbaren Unregelmäßigkeit doch höchst gesetzmäßige und in jedem ihrer Fortschritte<br />
genau bestimmte Erfolge <strong>der</strong> wirkenden Ursachen, zu betrachten!“<br />
24 Lietzmann hat das sehr oft betont, so z. B. in [Lietzmann, 1919/1916, S. 236]. Vgl. in diesem Sinne auch [Schmidt, 1906]. – Eine<br />
umfassende Darstellung <strong>der</strong> Reformeinflüsse und -strategien findet sich in [Krüger, 2000].<br />
25 Vgl. [Timerding, 1911; Toeplitz, 1927, 1929].<br />
107
Lutz Führer, Frankfurt<br />
Höheren Schulen zu for<strong>der</strong>n. Warum war Kleins<br />
Umkehrstrategie nach 1905 erfolgreich?<br />
Die umfangreiche Untersuchung von Krüger<br />
[2000] bescheinigt dem Kaiserreich um 1905 ein<br />
– nicht ungeteiltes und auch bald vorüber gehendes<br />
– optimistisches <strong>Gesellschaft</strong>s- und Kulturklima<br />
mit beson<strong>der</strong>er Affinität zu „funktionalen“<br />
Beziehungen und Verän<strong>der</strong>ungen, genauer:<br />
eine von Wirtschaftsboom, Technikbegeisterung,<br />
Mobilitätszuwachs und Kinematographie gestützte<br />
Aufbruchstimmung. Über die vorsichtigeren<br />
Schlussfolgerungen Krügers hinaus, vermute ich,<br />
dass das Schlagwort „funktional“ um 1905 in<br />
seiner Ambivalenz zwischen Metamorphose, gezielter<br />
Variation, Naturgesetzlichkeit und Funktionieren<br />
beson<strong>der</strong>s gut zum offiziösen Common<br />
Sense des Wirtschaftsbürger- und Soldatentums<br />
passte, wie er in Preußen etwa vom „Kartell <strong>der</strong><br />
schaffenden Hände“ zwischen Ruhrindustriellen<br />
und ostelbischen Landjunkern repräsentiert wurde.<br />
26 Mit dieser Vermutung ließe sich die merkwürdige,<br />
schon vor 1910 nachweisbare Reduktion<br />
des „funktionalen Denkens“ auf Naturgesetzlichkeit<br />
und (Input–BlackBox–Output-) Funktionieren<br />
plausibler aus dem historischen Umfeld erklären<br />
als durch den seit Lietzmann gebräuchlichen<br />
Verweis auf die Widrigkeit <strong>der</strong> schulpraktischen<br />
Verhältnisse.<br />
Es ist ja auch heute verblüffend: Obwohl<br />
wir, ein Jahrhun<strong>der</strong>t nach <strong>der</strong> Meraner Versammlung,<br />
mit dem Zugmodus von DGS ein viel bequemeres<br />
Anschauungs- und Experimentierwerkzeug<br />
<strong>für</strong> funktionale Variationen als die damaligen<br />
Veranschaulichungsapparate und Daumenkinos<br />
besitzen 27 , wird von „funktionalem Denken“<br />
zwar heute wie<strong>der</strong> sehr viel geredet, aber doch<br />
in aller Regel nicht im eigentlich Meraner Sinne<br />
von Metamorphosen und gezielten Variationsbezügen,<br />
son<strong>der</strong>n gegenstandslastig und statischkatalogisierend<br />
reduziert auf „eine Denkweise, die<br />
typisch <strong>für</strong> den Umgang mit Funktionen ist“. 28<br />
Funktionen und Input-Output-Variationen als<br />
Gedankenformen bzw. Denkwerkzeuge, d. h. als<br />
Erkenntnismittel, die die wissenschaftliche Wahrnehmung<br />
und Beherrschung unserer natürlichen<br />
o<strong>der</strong> technischen Umwelt leiten sollten 29 , hatten<br />
den Bildungspolitikern etwas ganz an<strong>der</strong>es<br />
und Bedeuten<strong>der</strong>es versprochen als Wissensver-<br />
mittlung über Standardelemente mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong><br />
enger Funktionenräume, die man abiturgerecht<br />
aus irgendwelchen Anwendungsverkleidungen<br />
herauslesen und dann nach den üblichen Abund<br />
Aufleitungsregeln malträtieren lehrt. War die<br />
Einführung des Analysisunterrichts von vornherein<br />
eine Mogelpackung? Wenn ja, in wessen Interesse,<br />
auf wessen Kosten, um welchen Preis?<br />
Abbildung 17.1: Zugmodus 1896. Quelle:<br />
http://www.ansichtskarten-pankow.de/<br />
pankowfilm.htm. Abdruck mit freundlicher<br />
Genehmigung von Frau Karin Manns.<br />
Ich möchte diesen Fragen hier nicht weiter<br />
nachgehen. Für unser Thema reicht <strong>der</strong> Beleg,<br />
dass die Durchsetzung und „klassische“ Ausgestaltung<br />
des allgemeinverbindlichen Analysisunterrichts<br />
nicht einfach die Frucht guter Argumente<br />
o<strong>der</strong> wissenschaftlicher Fortschritte war, dass die<br />
Durchsetzung vielmehr gelang, weil Analysis bewusst<br />
als harmonisierende Universalbefriedigung<br />
<strong>für</strong> ein ganzes Konglomerat konfligieren<strong>der</strong> Interessen<br />
ausgegeben und mit dem ebenso vageunverbindlichen<br />
wie politisch konformen Schlagwort<br />
„Erziehung zur Gewohnheit [!] des funktionalen<br />
Denkens“ marktgerecht plakatiert werden<br />
konnte. Nach Lietzmann war es das einigende<br />
Konzentrationsprinzip, das den Analysisunterricht<br />
schließlich flächendeckend durchsetzte. Vielleicht<br />
lohnt es sich hinzuzufügen: . . . Gewohnheit des<br />
funktionalen Denkens und <strong>der</strong> Zeitgeist um 1905,<br />
<strong>der</strong> noch Glanz im Funktionieren sah. Die anschließende<br />
Kanonisierung des Analysiscurriculums<br />
zur elementaren Funktionsarithmetik mit op-<br />
26Zur psychologischen Charakteristik des älteren funktionalen Denkens s. [Struntz, 1949]; zur Geschichte z. B. [Ullrich, 1999,<br />
Kap. III] und [Krüger, 2000, Kap. 2] sowie die dort angegebene Literatur. Auch bei [Inhetveen, 1976] finden sich zahlreiche Details<br />
zum Zeitgeist <strong>der</strong> Wilhelminischen Ära. Inhetveens anregende Perspektive, funktionales Denken und Infinitesimalrechnung überwiegend<br />
als Zwangsfolge ökonomischer Entwicklungen sehen zu wollen, erscheint mir als zu eng, weil sie Eigendynamiken <strong>der</strong> beteiligten<br />
Staatssysteme ausblendet (Schule, Universität, Bürokratie, „System Althoff“, Militär, „Kartell <strong>der</strong> schaffenden Hände“ usw.).<br />
27Vgl. z. B. [Roth, 2005, S. 71ff.] sowie neuere Arbeiten desselben Autors. Roth zieht das unverfänglichere, aber auch vagere<br />
Begriffsfeld „Bewegliches Denken“ vor – und handelt sich damit an<strong>der</strong>e Konnotationen ein.<br />
28 [Vollrath, 1989, S. 6]. Selbst <strong>der</strong> Aspekt Naturgesetzlichkeit ist inzwischen weitgehend <strong>der</strong> liberalisierten <strong>Mathematik</strong>lehrerausbildung<br />
zum Opfer gefallen.<br />
29Der heute <strong>für</strong> die <strong>Mathematik</strong>- und Naturwissenschaftsdidaktik sowie <strong>für</strong> alle sciences fundamentale Modellbegriff wurde zwischen<br />
1891 und 1894 von Heinrich Hertz eingeführt und von P. Lennard mit einem erläuternden Vorwort von H. von Helmholtz 1894<br />
posthum veröffentlicht [Hertz, 1996].<br />
108
Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />
tional vor- und nachgeschalteten Grenzwertbetrachtungen<br />
in Trivialfällen (Folgen; Arbeitsintegral,<br />
Rotationskörper) gab dem sehr rasch jene bürokratische<br />
Form, die das Maschinen- und Dienstleistungsjahrhun<strong>der</strong>t<br />
schadlos überdauern sollte.<br />
Der Schulpraktiker Philipp Weinmeister ahnte es<br />
schon 1907:<br />
„Wohl kaum hat eine Frage die mathematische<br />
Lehrerwelt Deutschlands so in Erregung versetzt<br />
als die zur Zeit schwebende über die Einführung<br />
<strong>der</strong> Infinitesimalrechnung in die höheren Lehranstalten.<br />
Viel ist da<strong>für</strong> und dagegen gesprochen<br />
worden; Berufene und Unberufene sind zum Wort<br />
gekommen; fast je<strong>der</strong> hat energisch im Grundton<br />
<strong>der</strong> Überzeugung geredet, so dass man an einem<br />
friedlichen Übereinkommen zweifeln sollte. . .<br />
Bekanntlich enthält die Unendlichkeitsrechnung<br />
sehr viel Formeln, die dem Schüler in<br />
Fleisch und Blut übergehen müssen, soll <strong>der</strong> Unterricht<br />
seinen Zweck erfüllen. Da liegt denn die<br />
Gefahr nahe, dass <strong>der</strong> Schüler glaubt, das Wesen<br />
des Unterrichts liege in diesen Formeln, und es genüge<br />
<strong>der</strong>en Kenntnis und ihre Anwendung zu seiner<br />
mathematischen Ausbildung.“ 30<br />
1.3 Der schulische Analysiskanon<br />
Es ist hier nicht <strong>der</strong> Ort, auf alle Verästelungen<br />
<strong>der</strong> Schulbuch-Lehrgänge 31 und fachmethodischen<br />
Besserungsvorschläge seit dem Meraner<br />
Aufbruch einzugehen. Ganz typisch <strong>für</strong> die vom<br />
Kreis um Klein propagierte Neugestaltung ist jedoch<br />
die erhebliche Abkürzung des algebraischen<br />
Vorspanns zugunsten graphischer Einstiege und<br />
die Verlagerung <strong>der</strong> anspruchsvolleren Teile <strong>der</strong><br />
Reihenlehre hinter die Differentialrechnung. Kubische<br />
und goniometrische Gleichungen entfie-<br />
len, ebenso mancherlei geometrische Konstruktionskunststücke.<br />
Arithmetische und geometrische<br />
Reihen blieben zwar, aber statt <strong>der</strong> Binomischen<br />
Reihe sollten, Kleins Vorbild entsprechend, am<br />
Lehrgangsende Taylorreihen induktiv eingeführt<br />
werden. Bei Behrendsen & Götting [1912] heißt<br />
es zu Beginn des Oberstufenbandes: „Viel ersichtlicher<br />
dürfte die Oberstufe erkennen lassen, wie<br />
vieles Belastende aus dem früheren Pensum verschwunden<br />
ist. So vor allem das Kapitel <strong>der</strong> Kombinationslehre,<br />
<strong>der</strong> Wahrscheinlichkeitslehre, die<br />
langen schwierigen Ableitungen des binomischen<br />
Lehrsatzes <strong>für</strong> beliebige Exponenten sowie <strong>für</strong> die<br />
übrigen unendlichen Reihen, die nunmehr mühelos<br />
aus dem Taylorschen Lehrsatze herausfließen,.<br />
. . “ 32<br />
Bei Behrendsen & Götting findet sich denn<br />
auch schon 1912 – wenn zunächst auch noch<br />
Differential- und Integralrechnung verflochten<br />
sind 33 – all das, was noch heute den fachlichen<br />
Gegenstand des üblichen Analysisunterrichts ausmacht,<br />
soweit er aus Schulbüchern und Lehrplänen<br />
ersichtlich ist 34 , siehe Abb. 17.2<br />
Insofern unser Thema nicht „Schulbücher“<br />
o<strong>der</strong> „Lehrpläne“ heißt, son<strong>der</strong>n „Analysisunterricht<br />
des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts“, geben fachliche Inhaltsangaben<br />
und Reihenfolgen natürlich nur ein<br />
vages Bild des tatsächlichen Geschehens. Ich<br />
bin allerdings überzeugt, dass auch empirische<br />
Mikro- und Makrostudien, die uns heute so lieb<br />
und teuer sind, nicht das zeigen, ja zeigen könnten<br />
35 , was uns <strong>für</strong> eine sinnvolle Zukunftsplanung<br />
interessieren muss: bei aller spezifischen Ausprägung<br />
jedes realen Unterrichts im Einzelnen, den<br />
Geist o<strong>der</strong> die Geister, die intentionalen pädagogischen<br />
Bezüge und die mitwirkenden Alltagsbe-<br />
30 [Weinmeister, 1907, S. 1 und 13].<br />
31Krüger [<strong>2009</strong>] unterscheidet 3 Lehrbuchgruppen bis in die Weimarer Zeit: „1. zaghafte Neubearbeitungen mit allmähliche Aufnahme<br />
des neuen Stoffes in die alten Lehrbücher (z. B. Kambly-Languth, Heilermann-Diekmann, H. Müller, Pietzker). 2. Entwicklung<br />
‚mo<strong>der</strong>ner’ Lehrbücher <strong>für</strong> die Oberstufe (z. B. Schwab-Lesser, [Behrendsen & Götting, 1912]). 3. Lehrbücher zum neuen preußischen<br />
Lehrplan, den ‚Richertschen Richtlinien’ von 1925 (z.B. Reidt-Wolf-Kerst, Schülke-Dreetz, Malsch-Maey-Schwerdt)“. Als charakteristisch<br />
<strong>für</strong> die erste Gruppe nennt sie die gründliche Abhandlung <strong>der</strong> Themen kubische Gleichungen, Kombinatorik, Arithmetische<br />
und geometrische Reihen (incl. Rentenrechnung), Binomischer Lehrsatz und Unendliche Reihen vor Einstieg in die Differentialrechnung.<br />
Demgegenüber betonten die neuen Werke <strong>der</strong> 2. Gruppe den frühen Einstieg mit Graphische Darstellungen von Funktionen,<br />
kämen dann möglichst rasch zum Differentialquotienten mit Anwendung in <strong>der</strong> Extremwertbestimmung und stießen schließlich bis<br />
zur Taylorschen Reihe vor.<br />
32 [Behrendsen & Götting, 1912, zit. n. Krüger, <strong>2009</strong>] – Kleins Einführung <strong>der</strong> Taylorreihe [Klein, 1904, S. 11] – Wahrscheinlichkeitsrechnung<br />
im Lehrplan von 1901 siehe [Inhetveen, 1976, S. 206 f]<br />
33jedenfalls in <strong>der</strong> 1. Auflage. In späteren wurden die beiden Aspekte – wie heute üblich – getrennt. (So in <strong>der</strong> mir vorliegenden<br />
dritten Aufl. von 1921.)<br />
34Das heutige Minimalprogramm ist lei<strong>der</strong> von <strong>der</strong> KMK noch nicht definiert, immerhin geben die noch gültigen EPAs einen –<br />
reichlich enttäuschenden – Eindruck. Ich werde das noch im nächsten Abschnitt belegen [KMK, 2010]<br />
35Das erkenntniskritische Dilemma des naiven Empirismus heißt „Sein-Sollen-Fehlschluss“ (Hume) o<strong>der</strong> auch „Naturalistischer<br />
Trugschluss“ (Moore). In [Führer, <strong>2009</strong>] wird das mit Blick auf den modischen Boom <strong>der</strong> empirischen Unterrichtsforschung ausführlich<br />
erläutert. Im Grunde hat Kants Analyse <strong>der</strong> menschlichen Brain-Hardware die wichtigste Grenze des Empirismus herausgearbeitet:<br />
„Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war! – Außer <strong>der</strong> Verstand selbst.“ Heute wohl zu ergänzen mit: „... Außer<br />
<strong>der</strong> Verstand selbst, und die angeeigneten Deutungsmuster des jeweils bewohnten soziokulturellen Milieus.“ In <strong>der</strong> Physik entspricht<br />
dem seit fast einhun<strong>der</strong>t Jahren die Heisenbergsche Unschärferelation, in den Humanwissenschaften <strong>der</strong> „Hermeneutische Zirkel“ und<br />
in den Medienwissenschaften Brechts Theorie <strong>der</strong> „Verfremdung“.<br />
Die Empirische Sozialforschung ignoriert das heute lei<strong>der</strong> oft und gern – freilich mit exzellentem Markterfolg, sowohl finanziell<br />
und personell als auch forschungsideologisch und reputativ. Ob dabei <strong>der</strong> einzelne Unterrichtsforscher bewusst theoriegeleitet arbeitet<br />
o<strong>der</strong> nicht, ist <strong>für</strong> unser Thema nicht entscheidend, denn auf den Unterricht wirkt regelmäßig über Presse, Bildungs-, Hochschul- und<br />
Schulpolitik nur die politisch nützliche, empirisch oft ganz ungedeckte Interpretation <strong>der</strong> „Befunde“ über die sog. „Politikberatung“.<br />
109
Lutz Führer, Frankfurt<br />
dingungen, aus denen heraus Unterricht verwirklicht<br />
wird und auf Schülerseite geistig und mental<br />
formend nachwirkt 36 . In diesem Sinne möchte<br />
ich einige Leitfragen und Zielsetzungen in Erinnerung<br />
bringen, die die didaktische Diskussion<br />
um den Analysisunterricht des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
schon früh und doch anhaltend charakteristisch<br />
beherrscht haben. 37<br />
Um ein typisches konservatives Beispiel <strong>der</strong><br />
Übergangszeit nach 1905 zu geben, wähle ich<br />
die Heis’sche Aufgabensammlung in ihrer 113.,<br />
von J. Druxes „zeitgemäß“ überarbeiteten Auflage<br />
aus dem Jahre 1908. 38 Im Vorwort werden fünf<br />
Aspekte, offenbar schon damals konsensfähige didaktische<br />
Überzeugungen, hervorgehoben, die ich<br />
Abbildung 17.2: Aus [Behrendsen & Götting, 1912]<br />
<strong>für</strong> spätere Bezugnahmen mit A1 bis A5 nummeriere<br />
und mit heutigen Überschriften und Anmerkungen<br />
versehe:<br />
A1. Motivation durch Lebensweltbezug<br />
„An Stelle <strong>der</strong> ausgeschiedenen Aufgaben sind<br />
durchweg solche getreten, die dem mo<strong>der</strong>nen Leben<br />
Rechnung tragen und das Interesse <strong>der</strong> Jugend<br />
zu fesseln geeignet sind.“ (Hervorhebungen<br />
jeweils im Original.) Die säkularisierte Formulierung<br />
„mo<strong>der</strong>nes Leben“ statt <strong>der</strong> politisch üblicheren<br />
„(Gesamt-) Kultur <strong>der</strong> Gegenwart“ lässt den<br />
bescheideneren Schulpraktiker ebenso erkennen,<br />
wie die vorsichtig schülerorientierte Motivationshoffnung.<br />
(Es war ja zugleich die Jungfernzeit <strong>der</strong><br />
36 Es ist diese mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> gelungene Nachwirkung, <strong>der</strong> „Geist“ <strong>der</strong> Funktionalisierung und approximativen, aber kontrollierten<br />
lokalen Linearisierung, auf die die nachfolgenden Akzentsetzungen des jeweils ganzen Analysisdurchgangs zielen. Natürlich ist<br />
je<strong>der</strong> Unterricht an<strong>der</strong>s, möglicherweise auch auf eine mehr <strong>für</strong> den Lehrer als <strong>für</strong> die jeweilige Lerngruppe charakteristische Weise.<br />
Ich glaube aber (nach einigen hun<strong>der</strong>t Unterrichtsbesuchen), dass sich realer Unterricht recht gut in einem „qualitativen Koordinatensystem“<br />
aus den noch folgenden Punkten A1-A10 verorten lässt.<br />
37 Ich stütze mich dabei auf Leitgedanken älterer Schulbücher, weil die schon im Verkaufsinteresse gewöhnlich von Praktikern mit<br />
Blick <strong>für</strong> das Machbare im Wünschenswerten verfasst wurden.<br />
38 [Heis, 1914]<br />
110
Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />
damals noch gesellschaftskritischen bürgerlichen<br />
Reformpädagogik, die inzwischen zum medien-,<br />
schul- und gesellschaftspolitischen Allheilmittel<br />
umstilisiert wurde.)<br />
A2. Funktionspropädeutik <strong>für</strong> die Anfangs<br />
gründe <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung<br />
„Der Funktionsbegriff, <strong>der</strong> schon in <strong>der</strong> Unterstufe<br />
vorbereitet ist, durchdringt in ausgiebiger Weise<br />
den Lehrstoff, so dass es nicht schwierig sein<br />
dürfte, die Schüler mit den Anfangsgründen <strong>der</strong><br />
Infinitesimalrechnung vertraut zu machen. . . “ 39<br />
A3. Anschaulichkeit ja, aber Gründlichkeit<br />
wichtiger als Vollständigkeit<br />
„. . . Dabei sollen – in anschaulichster Form – nur<br />
die einfachsten Funktionen behandelt werden, so<br />
dass die formal mathematische Ausbildung <strong>der</strong><br />
Schüler auch in ihrer Gründlichkeit keinen Schaden<br />
erleidet.“ Das Anschauungsprinzip, das die<br />
Meraner mit graphischen Zugängen und psychogenetischen<br />
Rücksichtnahmen stark betont hatten,<br />
kollidierte im Schulbetrieb natürlich sofort mit<br />
dem universitär veredelten Fach- und Standesbewusstsein<br />
<strong>der</strong> meisten Oberlehrer, und mit <strong>der</strong>en<br />
Hochschätzung einer ebenso fachlichen wie preußischen<br />
Tugend „Gründlichkeit“. 40<br />
A4. Anwendungsbezug bringt Vertiefung und<br />
Motivation<br />
„Dass <strong>der</strong> Unterricht durch geeignete Behandlung<br />
<strong>der</strong> einfachen Funktionen an Vertiefung gewinnt<br />
und durch die Anwendbarkeit auf viele Gebiete<br />
<strong>der</strong> Wissenschaft und Praxis bedeutend das Interesse<br />
zu för<strong>der</strong>n vermag, erscheint dem Herausgeber<br />
gesichert. Benutzt werden die Anfangsgründe<br />
<strong>der</strong> Differential- und Integralrechnung bei <strong>der</strong><br />
Behandlung <strong>der</strong> Gleichungen höheren Grades, ferner<br />
zu Aufgaben aus <strong>der</strong> analytischen Geometrie,<br />
<strong>der</strong> Physik, zu Berechnungen von Flächen- und<br />
Körperinhalten sowie zur Berechnung von Trägheitsmomenten<br />
und zu Untersuchungen über den<br />
Verlauf von Funktionen. . . Die Berücksichtigung<br />
des ‚Wechselstromes’ bei den zahlreichen Aufgaben<br />
aus <strong>der</strong> Elektrizitätslehre erfolgte im Interesse<br />
solcher Anstalten, bei denen Wechselstrom<br />
zur Verfügung steht.“ Mit den arithmetischen und<br />
geometrischen Reihen werden die Paradebeispiele<br />
Zinseszinsrechnung und Versicherungsmathe-<br />
matik hervorgehoben: „Die Darstellungen dieses<br />
Abschnittes sollen lediglich die Möglichkeit bieten,<br />
den Schülern einen Einblick in die interessanten<br />
Grundlagen <strong>der</strong> Versicherungsmathematik zu<br />
gewähren und zugleich ihr Verständnis <strong>für</strong> die<br />
große Bedeutung des Versicherungswesens in <strong>der</strong><br />
Volkswirtschaft rechtzeitig zu wecken. . . Durch<br />
passende Aufgaben wurde auch die Anwendung<br />
<strong>der</strong> Wahrscheinlichkeitsrechnung auf dem Gebiete<br />
<strong>der</strong> Versicherungstechnik klargelegt.“ 41<br />
Bei den erklärten Anhängern <strong>der</strong> Meraner<br />
Vorschläge reichten die For<strong>der</strong>ungen nach Anwendungsbezug<br />
– nicht nur <strong>für</strong> Oberrealschulen<br />
– noch deutlich weiter. Götting verlangte schon<br />
1902: Geschwindigkeiten, Analytische Geometrie<br />
und Infinitesimalrechnung parallel, Funktionen<br />
von zwei Verän<strong>der</strong>lichen und Darstellung ihrer<br />
Flächen, Approximationen und Interpolationen<br />
u. v. a. m. „Auch hier sind wie überall zahlreiche<br />
Beispiele aus <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>, Physik, Chemie,<br />
den Naturwissenschaften, <strong>der</strong> Geographie,<br />
Statistik usw. heranzuziehen.“ 42 In <strong>der</strong> Tat stellten<br />
die Lehrbücher im neueren Stil, angefangen<br />
bei Behrendsen & Götting, bis in die sechziger<br />
Jahre dem Gymnasiallehrer außerordentlich<br />
vielseitige Anwendungsbeispiele bereit. – Echte<br />
Anwendungsorientierung, bei <strong>der</strong> die mathematischen<br />
Inhalte aus realitätsnahen Problemen<br />
gewonnen und in ihrer Bedeutsamkeit hypothetisch<br />
gewichtet werden, verfochten bis zur Weimarer<br />
Zeit freilich wenige, so z. B. A. Rohrberg,<br />
Witting und einige Anhänger <strong>der</strong> Projektmethode.<br />
Im Dritten Reich galt dagegen bald Anwendungsorientierung<br />
als Staatsdoktrin – und als G8-<br />
Konzentrationsmittel. Zunächst als kompensatorische<br />
Gegenbewegung zur übertrieben wissenschaftsorientierten<br />
„Strukturwelle“ wie<strong>der</strong>belebt,<br />
rückte sie seit den 80er Jahren wie<strong>der</strong> in die vor<strong>der</strong>ste<br />
Reihe des didaktischen Prinzipienkatalogs<br />
auf.<br />
A5. Geschichtliche Bedeutungszuweisung<br />
„Schließlich sind wichtige geschichtliche Notizen,<br />
die einen Einblick in die Entwicklung <strong>der</strong> mathematischen<br />
Wissenschaft gewähren, im Anhange<br />
zusammengestellt. . . “<br />
Diese Bemerkung liest sich eher wie eine lästige<br />
Pflichtübung. Dabei ist freilich zu bedenken,<br />
39 Bei [Götting, 1902, S. 50 f] findet sich ein längerer Versuch, dem herkömmlichen Unterricht nachzuweisen, dass er durch Explizierung<br />
des Funktionsbegriffs nur ehrlicher und klarer würde. Die ursprüngliche Bindung an die „Algebraische Analysis“ wird<br />
freilich unterschlagen. (Vgl. dazu Timerdings Überblick über diverse erkenntnistheoretische Auffassungen <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung<br />
[Timerding, 1911], insbeson<strong>der</strong>e S. 128 f.)<br />
40 Vgl. dazu die sehr deutlichen Stichworte zum „Typus des Gymnasiallehrers“ in [Ullrich, 1999, S. 346f.]<br />
41 Mit <strong>der</strong> älteren Voran- und Herausstellung <strong>der</strong> allgemeinen binomischen Reihe, die Klein – aus Gründen <strong>der</strong> Strenge – unbedingt<br />
zum Korollar des Taylorschen Satzes degradieren wollte, waren allmählich Kombinatorik und Wahrscheinlichkeitsrechnung um die<br />
Binomialverteilung herum Standardstoff geworden. Das fiel dann auch prompt bis in die siebziger Jahre dem Meraner Konzentrationsprinzip<br />
„Funktion“ zum Opfer.<br />
42 zit. n. dem Abdruck des Vortrags von 1902 in [Götting, 1902, S. 58]. In einem Zusatz erklärte Götting am Ende des Abdrucks<br />
ausdrücklich, dass sein Programm nach Erfahrungen am Göttinger Gymnasium „nicht bloß bei den Realanstalten, son<strong>der</strong>n ebensogut<br />
auch im Gymnasialunterricht ausführbar ist.“ [Ebenda, S. 60]<br />
111
Lutz Führer, Frankfurt<br />
dass es sich beim zitierten Werk von Heis und<br />
Druxes um eine Aufgabensammlung handelt. In<br />
den fünfzigjährigen Bemühungen um pflichtmäßigen<br />
Analysisunterricht, nicht nur <strong>für</strong> Realschulen<br />
mit Oberstufe, son<strong>der</strong>n <strong>für</strong> die bildungspolitisch<br />
tonangebenden (altsprachlichen) Gymnasien,<br />
spielten natürlich historische Zugänge und<br />
Einordnungen eine wichtige, im Bildungssystem<br />
selbst vielleicht die wichtigste, weil angesehenste<br />
und damit identitätsstiftende Rolle. Dass die Infinitesimalaspekte<br />
in bildungstheoretischen Erklärungen<br />
<strong>für</strong> junge und alte Nichtmathematiker und<br />
-physiker stets eher historisch als erkenntnistheoretisch<br />
untermauert wurden, spricht <strong>für</strong> sich. Das<br />
dürfte auch heute noch <strong>der</strong> einfachste Weg sein,<br />
<strong>Mathematik</strong>abstinenzlern und Antimathematikern<br />
die gesellschaftliche Relevanz analytischer Denkweisen<br />
und Methoden nahezubringen – auch und<br />
beson<strong>der</strong>s den oft kreativen und klugen Oberstufenschülern,<br />
die in Mathe keine Eins haben (wollen)<br />
und vielleicht später zu Entscheidungsträgern<br />
<strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> werden. Aber die erkenntnistheoretischen,<br />
begriffsbildenden und sogar anwendungsträchtigen<br />
Vorzüge des Infinitesimalen<br />
an <strong>der</strong> „Infinitesimalrechnung“ konnten sich bekanntlich<br />
trotz vehementer Fürsprache erstklassiger<br />
Fachwissenschaftler mit Herz <strong>für</strong> die Schule<br />
nicht durchsetzen. 43<br />
Um 1925 war eine erste Konsolidierung <strong>der</strong><br />
Meinungen zum deutschen Analysisunterricht erreicht,<br />
einschließlich <strong>der</strong> Offenlassung einiger bis<br />
heute hartnäckiger Geschmacksfragen. Ich möchte<br />
das (in fortgesetzter Nummerierung <strong>der</strong> zusätzlichen<br />
Aspekte) am Tenor des ca. 1925 von Wolff<br />
und Kerst neu bearbeiteten Analysisbandes <strong>der</strong><br />
Reidtschen „Elemente <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>“ erläutern,<br />
die sich bis heute in vielen Auflagen und mancherlei<br />
– teilweise auch weniger glücklichen – Neubearbeitungen<br />
als anscheinend unsterbliche Bestseller<br />
erwiesen haben. 44 :<br />
A6. Lebendiger Unterricht: Anwendungen –<br />
Anschauung – Experiment<br />
„Für die Bearbeitung <strong>der</strong> Algebra-Oberstufe waren<br />
zunächst die Leitgedanken maßgebend, die<br />
auch <strong>der</strong> Unterstufe [Sek. I] zugrunde gelegt wurden:<br />
<strong>der</strong> Unterricht soll lebensvoll durchdrungen<br />
werden von den Anwendungen <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />
auf die Umwelt; Anschauung und Experiment sollen<br />
den Weg zum Stoff erleichtern.“<br />
A7. Zum Grenzwert hin!<br />
„Beson<strong>der</strong>er Wert wurde, wie bereits in <strong>der</strong> Unterstufe,<br />
darauf gelegt, den Grenzbegriff allmählich<br />
herauszuarbeiten, so bei den unendlichen geometrischen<br />
Reihen und beim Aufbau von Zahl und<br />
Funktion, damit er dem Schüler bei <strong>der</strong> Besprechung<br />
<strong>der</strong> Differential- und Integralrechnung hinreichend<br />
geläufig ist.“<br />
A8. Stoffbeschränkung<br />
„Differential- und Integralrechnung kann gegenwärtig<br />
auf <strong>der</strong> Schule wohl nur dann mit Erfolg<br />
behandelt werden, wenn sie sich auf eine möglichst<br />
geringe Stoffmenge einschränkt und dieser<br />
eine recht ausführliche Behandlung widmet. Deshalb<br />
ist die vorliegende Darstellung durchaus anschaulich<br />
gehalten. . . “ Die Infinitesimalrechnung<br />
exemplarisch statt systematisch aufzubauen, hatte<br />
im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t wohl in Deutschland nur Toeplitz<br />
genügend wissenschaftliches Ansehen und<br />
pädagogisches Engagement.<br />
A9. Anschaulichkeit o<strong>der</strong> Strenge?<br />
„. . . . Sie beabsichtigt nicht, den Schüler zu irgendeiner<br />
‚Fertigkeit’ im Differenzieren und Integrieren<br />
zu erziehen; [. . . ; s. nächster Punkt] Dabei<br />
wird dem Schüler recht oft deutlich und offen ausgesprochen,<br />
dass eine strenge Beweisführung Sache<br />
<strong>der</strong> Hochschule ist. Der ehrliche Grundsatz:<br />
‚Besser gar kein Beweis als ein Scheinbeweis’ hat<br />
sich nach vielfältigen Erfahrungen immer wie<strong>der</strong><br />
bewährt; <strong>der</strong> rechte Glaube [!] an die Strenge <strong>der</strong><br />
<strong>Mathematik</strong> wird auf diesem Wege keineswegs erschüttert.“<br />
Dieses freimütige Bekenntnis zu unstrengem,<br />
aber schülerorientiertem Vorgehen entsprach<br />
zweifellos den üblichen Alltagsbeschränkungen,<br />
stieß aber natürlich auch bei vielen – standesbewussteren<br />
o<strong>der</strong> nur strenger als Reine <strong>Mathematik</strong>er<br />
ausgebildeten Kollegen – auf Wi<strong>der</strong>spruch.<br />
So hieß es in [Schülke & Dreetz, 1927]:<br />
„Mit Recht verlangen die [Richertschen] Richtlinien<br />
von unserem Unterricht die Führung zu geistiger<br />
Selbstständigkeit in <strong>der</strong> Behandlung mathematischer<br />
Fragen. Dazu ist die von <strong>der</strong> Wissenschaft<br />
namentlich <strong>für</strong> die Infinitesimalrechnung<br />
gefor<strong>der</strong>te größere Strenge im Schulbetrieb unentbehrlich.“<br />
Warum sich geistige Selbstständigkeit<br />
und größere Strenge so friedlich verbinden sollten,<br />
wird hier nicht erklärt.<br />
Vielleicht wurde das im Buch <strong>der</strong> Katalyse<br />
durch Abbildungsgeometrie im Geiste des Erlanger<br />
Programms zugetraut, eine didaktische Auf-<br />
43 Jenseits <strong>der</strong> taktischen Erklärungen vieler Meraner Reformer verweise ich auf infinitesimal-begriffliche Betrachtungen bei [Timerding,<br />
1911; Toeplitz, 1927, 1929, 1972] und – aus neuerer Zeit – auf [Freudenthal, 1973a,b; Hischer & Scheid, 1982; Laugwitz<br />
& Schnitzspan, 1983]. – Von den eigentlichen Infinitesimalbedeutungen geblieben sind heute allenfalls noch Anleihen beim naiven<br />
Grenzwert„begriff“ zur Definition <strong>der</strong> Momentangeschwindigkeit bzw. Sekantensteigungs-Tangente. Der heute beliebte Terminus<br />
„lokale Än<strong>der</strong>ungsrate“ verdeckt mehr, als er erklärt. Und das erkenntnistheoretisch brisante Impetus-Rätsel ist verschwunden. Man<br />
denke nur an die elaboriert-naive Entsorgung <strong>der</strong> übrigen Zenonschen Paradoxa durch geometrische Reihen. (Zur Impetusidee s. z. B.<br />
[Wolff, 1978]; zu Infinitesimalien findet sich viel in Büchern über mathematische Paradoxien, z. B. [Konforowitsch, 1990].)<br />
44 Ich zitiere aus dem Vorwort <strong>der</strong> 1. Auflage, das – lei<strong>der</strong> undatiert – in [Reidt, 1928] wie<strong>der</strong>gegeben ist.<br />
112
Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />
fassung geometrisch-funktionalen Denkens, die<br />
erst in <strong>der</strong> Weimarer Zeit aufkam 45 . Für die<br />
Geometrie wird dort jedenfalls dasselbe Begründungsmuster<br />
vorgetragen, das uns schon aus dem<br />
Kampf <strong>für</strong> die Analysis geläufig ist: „In <strong>der</strong> Geometrie<br />
war es unsere Hauptaufgabe, den Stoff unter<br />
einheitliche, größere Gesichtspunkte zu stellen.<br />
Wir folgen dem Weg, den F. Klein in seinem<br />
berühmten und bahnbrechenden Erlanger Programm<br />
<strong>der</strong> geometrischen Forschung [!] gewiesen<br />
hat. Auch die Schule darf sich diesem Fortschritt<br />
<strong>der</strong> Methode [!], den Kleins Programm darstellt,<br />
auf die Dauer nicht entziehen. Bei aller liebevoller<br />
Pflege <strong>der</strong> Einzelheiten muss <strong>der</strong> Blick immer auf<br />
die großen Zusammenhänge, auf das Ganze gerichtet<br />
sein. Durch die Hervorkehrung <strong>der</strong> Transformationsgruppen<br />
(Schiebung, Drehung, Spiegelung,<br />
Affinität, Perspektive) werden die scheinbar<br />
so auseinan<strong>der</strong>strebenden verschiedenen geometrischen<br />
Methoden geeint. Anschauung, Zeichnung,<br />
Synthese und Analyse vereinigen sich zu einem<br />
einheitlichen Ganzen [1926!], die natürlichen<br />
Zusammenhänge treten in den Vor<strong>der</strong>grund und<br />
verhelfen zu vertiefter Einsicht. Die so erreichte<br />
erhöhte Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit<br />
führt zu vereinfachter Darstellung und befähigt<br />
den Schüler dadurch besser zur erstrebten selbsttätigen<br />
Erarbeitung des Lehrstoffes. Den Gedankeninhalt<br />
zu entwickeln, nicht nur Formeln herzuleiten,<br />
ist <strong>der</strong> Hauptgrundsatz des Buches.“ 46 Zwischen<br />
hochschulorientierter Strenge und Selbsttätigkeit<br />
auf Schülerseite klaffe demnach gar keine<br />
Lücke, weil mo<strong>der</strong>ne Begriffe (heute vielleicht:<br />
Computerwerkzeuge?) die „Gedankeninhalte“ zugleich<br />
repräsentierten und übersichtlich strukturierten.<br />
Je<strong>der</strong> ältere Praktiker, <strong>der</strong> die wisssenschaftliche<br />
Läuterung <strong>der</strong> Schule durch Abbildungsgeometrie<br />
und -gruppen erlebt hat, weiß<br />
dass das so nicht wahr ist. 47<br />
Nach dem zweiten Weltkrieg knüpften viele<br />
an diese formelle und standesbewusste Sicht „<strong>der</strong>“<br />
(wahren und ewigen) <strong>Mathematik</strong> an, und diese<br />
Auffassung flammte dann noch einmal in den wissenschaftsorientiertenMo<strong>der</strong>nisierungsbestrebungen<br />
<strong>der</strong> 68er- und frühen 70er-Jahre kurz auf. Einige<br />
MU-Hefte waren in dieser Zeit dem Thema<br />
„Anschaulichkeit und Strenge in <strong>der</strong> Analysis“ gewidmet<br />
48 , bis im vierten dieser Hefte 1979 ein damals<br />
mutiger Artikel von W. Blum und A. Kirsch<br />
den – von älteren Lehrern ohnehin anhaltend praktizierten<br />
– liberaleren Standpunkt <strong>der</strong> Klein, Lietzmann<br />
und Reidt-Wolff auch didaktisch wie<strong>der</strong> salonfähig<br />
machte [Blum & Kirsch, 1979]. 49<br />
A10. Verständnis vor Fertigkeiten!<br />
Der eben nur teilweise zitierte Satz lautet vollständig:<br />
„Sie beabsichtigt nicht, den Schüler zu irgendeiner<br />
‚Fertigkeit’ im Differenzieren und Integrieren<br />
zu erziehen; vielmehr will sie ihn nur bekanntmachen<br />
mit den wichtigsten Tatsachen und<br />
ihrem Zusammenhange.“<br />
Die hier zusammengestellten zehn Aspekte o<strong>der</strong><br />
methodischen Dimensionen, in denen sich wirklicher<br />
Unterricht artikuliert und um bildende Erziehung<br />
bemüht, sollen im nun folgenden Kapitel auf<br />
ihre didaktischen Quellen, Gewichtsetzungen und<br />
<strong>der</strong>en aktuelle Bedeutungsverschiebungen untersucht<br />
werden.<br />
2 Angeborene und erworbene<br />
Missverhältnisse<br />
Mit <strong>der</strong> Rede vom „Analysisunterricht des 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts“ ist suggestiv die Unterstellung verbunden,<br />
Geist und Gehalt dieses Unterrichts seien<br />
im Wesentlichen über das vorige Jahrhun<strong>der</strong>t gültig<br />
geblieben. Ganz falsch ist das gewiss nicht, wie<br />
Abb. 17.3 zeigt. 50<br />
Meine bisherigen Ausführungen wollten diese<br />
Unterstellung des Kanonischen auch durchaus<br />
belegen – so weit als eben möglich.<br />
Ganz treffen kann so ein konstant gültiges Bild<br />
des Analysisunterrichts natürlich nie, denn es enthält<br />
von vornherein Risse, und sein Gehalt wird<br />
natürlich immer vom Ambiente, in das es gehängt<br />
wird, mitbestimmt, nicht zuletzt auch von<br />
<strong>der</strong> Deutung <strong>der</strong> jeweiligen Betrachter und ihrem<br />
Zeitgeist. Es kann uns ja nicht daran gelegen sein,<br />
den naturalistischen Fehlschluss auf literarischer<br />
Ebene zu wie<strong>der</strong>holen. Kurz: Ein noch so treffendes<br />
Bild wandelt mit <strong>der</strong> Zeit seine Bedeutung(en).<br />
45Vgl. [Ben<strong>der</strong>, 1982]<br />
46 [Schülke & Dreetz, 1927, Vorwort S. III f.] – Toeplitz hat sich in Vorträgen 1926 und 1928 sehr gründlich mit <strong>der</strong> Frage nach<br />
dem jeweils rechten Weg in die Infinitesimalrechnung auf <strong>der</strong> Hochschule und auf <strong>der</strong> Schule auseinan<strong>der</strong>gesetzt und kam zu dem<br />
Ergebnis, mindestens <strong>für</strong> die Schule sei allein ein „genetischer“ (an <strong>der</strong> Geschichte orientierter, aber nicht historiographischer) Zugang<br />
angemessen. Insbeson<strong>der</strong>e <strong>für</strong> Lehramtsstudierende arbeitete er an einer genetischen Einführung in die Infinitesimalrechung,<br />
von <strong>der</strong> lei<strong>der</strong> nur <strong>der</strong> erste Band 1949 posthum erscheinen konnte [Nachdruck: Toeplitz, 1972]. – Wittmann [1973] vertritt einen<br />
psychologisch-genetischen Zugang zur Analysis.<br />
47Man vgl. dazu die bissigen Bemerkungen von Wittenberg [1963].<br />
48Die Hefte 1957, 1968 und 1969 diskutierten vorwiegend Fragen <strong>der</strong> optimalen „fachlichen Sorgfalt“ (Strenge) im Unterricht.<br />
49Auch die „Elemente <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>“ kehrten durch Mitarbeit dieser Autoren wie<strong>der</strong> zur älteren bodenständigen Auffassung<br />
zurück.<br />
50Die Tabelle ist den aktuellen „EPAs“ KMK 1989/2002 entnommen [KMK, 2010], weil die schon länger angekündigten KMK-<br />
Standards <strong>für</strong> die Oberstufe immer noch nicht veröffentlicht sind und die daran anschließenden „kompetenzorientierten Bildungspläne“<br />
<strong>der</strong> Bundeslän<strong>der</strong> teils noch fehlen, teils nur vorläufig gelten. Von den neuen Lehr- o<strong>der</strong> „Bildungsplänen“ sind freilich keine<br />
Überraschungen zu erwarten, weil sie dem real-existierenden Unterricht, Ausbildungs- und Schulsystem Rechnung tragen müssen.<br />
113
Lutz Führer, Frankfurt<br />
!<br />
„Zum Ziele <strong>der</strong> Erziehungskunst, das uns<br />
vorher klar und groß vorstehen muss, ehe<br />
wir die bestimmten Wege dazu messen, gehört<br />
die Erhebung über den Zeitgeist. Nicht<br />
<strong>für</strong> die Gegenwart ist das Kind zu erziehen –<br />
denn diese tut es ohnehin unaufhörlich und<br />
gewaltsam – son<strong>der</strong>n <strong>für</strong> die Zukunft, ja oft<br />
noch wi<strong>der</strong> die nächste. Man muss aber den<br />
Geist kennen, den man fliehen will. . . “<br />
Abbildung 17.3: „EPAs“ <strong>der</strong> KMK 1989/2002<br />
Jean Paul 1807, § 30 51<br />
So zeigt die EPA-Tabelle in Stoff und Gehalt<br />
eine deutliche Rücknahme <strong>der</strong> Ansprüche<br />
<strong>für</strong> den Analysisbereich 52 , zumindest gegenüber<br />
<strong>der</strong> Schulbuch-Literatur zwischen Behrendsen &<br />
Götting 1912 und etwa dem Auslaufen <strong>der</strong> sog.<br />
„Strukturwelle“ um 1980. Abgesehen vom bildungspolitischen<br />
Ehrgeiz, die Abiturientenquote<br />
51 [Paul, 1909, S. 53]<br />
52 je nach Ausdeutung evtl. abgesehen von EPA 1.2.3.<br />
114<br />
Deutschlands ohne größere Umstrukturierungen,<br />
Aus-/Bildungsziele und Investitionen auf „europäisches<br />
Niveau“ zu heben, gibt es zwei offensichtliche<br />
Gründe <strong>für</strong> die Anspruchsreduktion:<br />
⊲ die fast unüberschaubare Heterogenität <strong>der</strong><br />
Lehramtsausbildung (Lehrfreiheit <strong>der</strong> Universitäten,<br />
Steckenpferde <strong>der</strong> Forscher, Traditionen<br />
in Hochschule und Schule, Beliebigkeit <strong>der</strong> Fächerkombinationen,<br />
Seiteneinsteiger) und<br />
⊲ die Streuung <strong>der</strong> Zuständigkeiten <strong>für</strong> Lehrplanvorgaben<br />
(Bildungsfö<strong>der</strong>alismus, Stärkung <strong>der</strong><br />
sog. „Schulautonomie“, „Schulprofil“, Privatschulwesen).<br />
Durch die bundesweite Hinwendung zu Zentralabitur<br />
und externer Testindustrie werden anspruchsvollere<br />
Unterrichtsinhalte nicht mehr von<br />
den Anfor<strong>der</strong>ungen des Schulabschlusses gedeckt<br />
und als „Zusatzangebote“ optional. Zwar bieten
Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />
die einschlägigen Schulbücher und Lehrerzeitschriften<br />
(noch) ganze Füllhörner von Themen<br />
und Aufgaben auf unterschiedlichsten Niveaus an,<br />
in bescheidenerem Umfang tun das inzwischen<br />
auch Lehrpläne, aber jede Behandlung von „Zusatzthemen“<br />
– sei es auch auf Beschluss <strong>der</strong> örtlichen<br />
Fachgruppe – kostet Zeit, die <strong>der</strong> Abiturvorbereitung<br />
und damit den Chancen auf einen gehobenen<br />
Numerus clausus o<strong>der</strong> auf erfolgreiche<br />
Bewerbungen um einen „Brotberuf“ fehlt, und <strong>der</strong><br />
sanfte pädagogische Nachdruck, <strong>der</strong> von entsprechenden<br />
Klausuren ausgeht, stößt nicht überall auf<br />
Verständnis <strong>der</strong> jungen Erwachsenen und ihrer Eltern.<br />
Angesichts <strong>der</strong> bescheidenen Lehrplanvorgaben<br />
und <strong>der</strong> heterogenen Vorbildung <strong>der</strong> Lehrer<br />
können Schulbücher ihre „Zusatzangebote“ nicht<br />
zu fortschreitenden Vertiefungen nutzen und nur<br />
noch postmo<strong>der</strong>n diversifizieren, als gelte <strong>für</strong> eine<br />
Einführung in die Analysis das Motto „Anything<br />
goes – somehow“.<br />
2.1 Angeborene Missverhältnisse<br />
Es gab und gibt durchaus eine Reihe von Gesichtspunkten,<br />
die von vornherein ausgeblendet<br />
o<strong>der</strong> zu unterrichtsmethodischen Akzentuierungsfragen<br />
verharmlost wurden, bis 1925 gewiss überwiegend<br />
aus Gründen <strong>der</strong> schul- und hochschulpolitischen<br />
Durchsetzungsstrategie verständlich.<br />
Im Laufe des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts hat sich dann jedoch<br />
immer wie<strong>der</strong> gezeigt, dass die zunächst<br />
strategischen Marginalisierungen den Analysisunterricht<br />
mit nichttrivialen pädagogischen und didaktischen<br />
Problemen belastet haben, indem sie<br />
in den Kanon einflossen und mit ihm perpetuiert<br />
wurden. Dazu möchte ich eine kleine Reihe von<br />
Thesen vortragen.<br />
„Cultur-Arbeit“ als Bildungsaufgabe des<br />
Gymnasiums?<br />
Die Wegbereiter flächendeckenden Analysisunterrichts<br />
<strong>für</strong> Höhere Schulen bemühten in den gut<br />
fünfzig Jahren bis zu den Richertschen Lehrplänen<br />
einen bildungsbürgerlichen Konsens, nach<br />
dem – wie es Gallenkamp 1873 ausdrückte – „die<br />
Bildungsaufgabe des Gymnasiums die Aufnahme<br />
<strong>der</strong> Elemente <strong>der</strong> analytischen Geometrie und <strong>der</strong><br />
Differentialrechnung for<strong>der</strong>e; nur dadurch könne<br />
<strong>der</strong> Gymnasial-Abiturient eine Vorstellung von<br />
<strong>der</strong> großen Cultur-Arbeit auf dem Gebiete <strong>der</strong> Naturwissenschaften<br />
erhalten; nur so könne die Erweiterung<br />
einer immer bedenklicher werdenden<br />
Kluft zwischen den Gebildeten <strong>der</strong> Nation vermieden<br />
werden; . . . .“ 53 Es fällt auf, dass hier stillschweigend<br />
mehrere Voraussetzungen wie selbstverständlich<br />
gemacht werden:<br />
⊲ Pflichtmäßiger Analysisunterricht war nur<br />
durchsetzbar, wenn die noch lange bildungspolitisch<br />
tonangebenden Philologen <strong>der</strong> (altsprachlichen)<br />
Gymnasien und Schulbehörden<br />
überzeugt o<strong>der</strong> zumindest neutralisiert werden<br />
konnten. Die Meraner Vorschläge legten dann<br />
auch folgerichtig erst einmal einen Musterlehrplan<br />
<strong>für</strong> das Gymnasium vor und verlangten nur<br />
sehr behutsam, „an die Schwelle“ <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung<br />
zu führen. Bei Richert wird denn<br />
auch noch ausdrücklich Verständnis <strong>für</strong> den<br />
philosophischen Gehalt <strong>der</strong> mathematischen<br />
Verfahren und die geistesgeschichtliche Bedeutung<br />
<strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> gefor<strong>der</strong>t, und das jetzt<br />
<strong>für</strong> alle Typen Höherer Schulen.<br />
⊲ Um bildungspolitisch erfolgreich sein zu können,<br />
musste man sich <strong>der</strong> pathetisch klassizistischen<br />
Ausdrucksweise bedienen, in <strong>der</strong> universelle<br />
Bildung des ganzen Menschen, genauer:<br />
Bürgers, zum zweifelsfreien Corpsgeist gehörte.<br />
⊲ Ob die Naturwissenschaften zur Gesamtkultur<br />
zu rechnen seien, und damit zum potentiellen<br />
Bildungskanon, o<strong>der</strong> „nur“ zur brotberuflichen<br />
Zivilisation, war und ist bis heute eine heikle<br />
Frage 54 , <strong>der</strong> man geschickt aus dem Wege<br />
ging, indem man lieber von „Kulturarbeit“<br />
statt von „Kultur“ redete. Dass viele angesehene<br />
Naturwissenschaftler wie du Bois-Reymond<br />
o<strong>der</strong> von Helmholtz und (vor allem?) Mediziner<br />
wie Virchow tatsächlich Kulturarbeit leisteten,<br />
wagten auch die konservativsten Bildungsbürger<br />
nicht mehr anzuzweifeln.<br />
⊲ Mehr als ein Gebiet <strong>der</strong> Gesamtkultur sollte die<br />
mathematisierte Naturwissenschaft nicht repräsentieren.<br />
Usurpation war nie beabsichtigt.<br />
⊲ Es gebe ohnehin schon eine wachsende „Kluft<br />
zwischen den Gebildeten <strong>der</strong> Nation“, und dieser<br />
wäre entgegenzuarbeiten, und zwar am<br />
Gymnasium. Der Realschulmann Gallenkamp<br />
und auch viele <strong>der</strong> später führenden Köpfe <strong>der</strong><br />
mathematischen Reformbewegung bis in die<br />
Weimarer Zeit tolerierten zumindest die vor<strong>der</strong>gründige<br />
Illusion, die altsprachlich Gebildeten<br />
seien die eigentlichen Denker und Lenker <strong>der</strong><br />
<strong>Gesellschaft</strong>.<br />
⊲ Unter dieser Voraussetzung war natürlich die<br />
53Protokoll von Bonitz über Gallenkamps Ausführungen im Preußischen Unterrichtsministerium 1873 [zit. n. Gallenkamp, 1877,<br />
S. 2].<br />
54Ich verweise nur auf die öffentlichen, ebenso geistreichen wie folgenlosen Auseinan<strong>der</strong>setzungen mit C. P. Snows These von den<br />
zwei Kulturen und mit <strong>der</strong> Unterstellung von Schwanitz’ Bestseller, mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung sei auch heute noch<br />
gesellschaftlich marginal und gehöre nicht zum salonfähigen „Guten Ton“. (Vgl. [Kreuzer, 1987] bzw. [Schwanitz, 1999] versus [Fischer,<br />
2001].) Die Reihenfolge <strong>der</strong> Unterrichtsfächer auf Schulzeugnissen und in den „Aufgabenfel<strong>der</strong>n“ <strong>der</strong> Oberstufe spricht Bände,<br />
und unsere Spitzenpolitiker lassen sich alleweil lieber bei den Wagner-Festspielen als auf wissenschaftlichen Symposien ablichten.<br />
Von <strong>der</strong> physikalischen Kompetenz unserer Kanzlerin o<strong>der</strong> Oskar Lafontaines hat man in <strong>der</strong>en öffentlichem Auftreten noch wenig<br />
gespürt.<br />
115
Lutz Führer, Frankfurt<br />
unterstellte Pflicht des Gymnasiums zur Ausbildung<br />
allgemeiner Urteilsfähigkeit erstrangig,<br />
selbstverständlich nicht ohne gezielt formend<br />
„an Klarheit und Bestimmtheit [!] <strong>der</strong> Begriffe<br />
und an Consequenz im Denken zu gewöhnen“.<br />
55<br />
⊲ Dass „die [?] Elemente [!] <strong>der</strong> analytischen<br />
Geometrie und <strong>der</strong> Differentialrechnung“,<br />
bei du Bois-Reymond dann auch schon<br />
zusätzlich <strong>der</strong> Integralrechnung, überhaupt geeignet<br />
seien, die damalige mathematischnaturwissenschaftliche<br />
Kulturarbeit unverzerrt<br />
zu repräsentieren, wurde nicht infrage gestellt.<br />
Und so ist es bis heute geblieben, trotz <strong>der</strong><br />
Wissenschaftsverherrlichung <strong>der</strong> sechziger und<br />
siebziger Jahre.<br />
Toeplitz entlarvt denn auch die Fadenscheinigkeit<br />
des Versprechens, Urteilsvermögen zur gegenwärtige<br />
Kulturarbeit vermitteln zu wollen 56 : „Im Rahmen<br />
<strong>der</strong> wirklichen <strong>Mathematik</strong> ist die Rolle <strong>der</strong><br />
Infinitesimalrechnung doch etwas an<strong>der</strong>s. Sie und<br />
insbeson<strong>der</strong>e die Exhaustion in jedwe<strong>der</strong> Form ist<br />
schließlich doch nur ein Handwerkszeug, das erst<br />
in den höheren Teilen <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> seine Auswirkung<br />
findet. Welchen methodischen Wert hat<br />
dieses Handwerkszeug, wenn es Menschen dargeboten<br />
wird, <strong>der</strong>en größter Teil nie zu seinem<br />
Gebrauch im tieferen Sinn gelangt? Dann wird<br />
aus dem Handwerkszeug ein Spielzeug. Lassen<br />
Sie die Begeisterung vergehen, mit <strong>der</strong> heute diese<br />
Dinge, als etwas Neues, in <strong>der</strong> Schule probiert<br />
werden. Lassen Sie sie so abgetragen und schäbig<br />
aussehen, wie die Dreiecksaufgaben aussahen,<br />
nachdem man sie mehrere Jahrzehnte traktiert hatte.<br />
Dann wird <strong>der</strong> Drill dieser Dinge eine viel unerträglichere<br />
Last <strong>für</strong> das Gros <strong>der</strong> Schüler darstellen,<br />
als jetzt diejenigen Gegenstände, die zur Zeit<br />
verstaubt aussehen, aber didaktisch immerhin gesün<strong>der</strong><br />
veranlagt waren.“ Schon am Anfang des<br />
GDNÄ-Vortrags hieß es zum Ausbildungssystem:<br />
„Die Mehrzahl <strong>der</strong> Hochschulprofessoren denkt<br />
gar nicht an die Schule und an die späteren Lehraufgaben<br />
ihrer Hörer, von denen doch – was die<br />
Universitäten betrifft – etwa 95% später in den<br />
Schuldienst treten. . . Die Schulbehörden zeigen<br />
im allgemeinen keine beson<strong>der</strong>e Vorliebe da<strong>für</strong>,<br />
wenn ihre Studienräte und Referendare sich noch<br />
wissenschaftlich betätigen. . . Die Lehrer in ihrer<br />
heute bestehenden außerordentlichen Überlastung<br />
verlieren zu einem großen Teil den Blick auf das<br />
Urbild des Faches, in dem sie unterrichten.“ Man<br />
mag heute an<strong>der</strong>e Prozentzahlen bevorzugen, die<br />
allgemeinbildungsabstinente Ausbildung ist weitgehend<br />
erhalten geblieben. Kurz gesagt:<br />
These 1. Der Analysisunterricht des zwanzigsten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts konnte und wollte sein Versprechen,<br />
den mathematisch-naturwissenschaflichen<br />
Teil <strong>der</strong> Gesamtkultur o<strong>der</strong> gar <strong>der</strong> aktuellen Kulturarbeit<br />
zu repräsentierten, nicht einlösen – jedenfalls<br />
deutlich weniger als <strong>der</strong> Naturwissenschaftsunterricht.<br />
57<br />
Gibt es eine mathematisch-naturwissenschaftlich<br />
geprägte allgemeine Bildungsauffassung?<br />
1904 erklärt Klein ärgerlich: „Bei <strong>der</strong> Schulreform<br />
1900 war als Parole ausgegeben, dass hinfort jede<br />
Schulart im Hinblick auf die allgemeine an ihr<br />
zu gewinnende Bildung ihr beson<strong>der</strong>es Lehrziel<br />
spezifisch ausgestalten sollte . . . Inzwischen habe<br />
ich den Eindruck gewonnen, dass jene Parole<br />
von 1900 viel zu fein ist, um in allgemeineren<br />
Kreisen verstanden zu werden. Nur die Altphilologen<br />
scheinen aus <strong>der</strong>selben wirklichen Nutzen<br />
zu ziehen. Die <strong>Mathematik</strong>er und Naturwissenschaftler<br />
sind merkwürdig stumm geworden. Anstatt<br />
mit Bestimmtheit und gleichzeitig mit Maß<br />
die beson<strong>der</strong>e Bedeutung zu vertreten, welche ihre<br />
Fächer im Kreise <strong>der</strong> übrigen <strong>für</strong> eine zeitgemäße<br />
allgemeine Bildung besitzen, weichen sie<br />
vor dem Geschrei <strong>der</strong> Unwissenden zurück, die<br />
eine bescheidene Steigerung <strong>der</strong> mathematischnaturwissenschaftlichen<br />
Ausbildung [!] sofort als<br />
Fachbildung stigmatisieren!“ 58 Tatsächlich sind<br />
Klein selbst und auch die übrigen Reformanhänger<br />
– trotz aller gutwilligen Bemühungen, beispielsweise<br />
Lietzmanns – eine Klärung schuldig<br />
geblieben, was denn „die beson<strong>der</strong>e Bedeutung<br />
<strong>für</strong> eine zeitgemäße allgemeine Bildung“ unter<br />
schulischen Bedingungen und über utilitäre Vorzüge<br />
hinaus bedeuten könnte. Kurz:<br />
These 2. Ein ausgeprägtes mathematischnaturwissenschaftliches<br />
Bildungsideal kam nicht<br />
zustande.<br />
Allgemeine Studierfähigkeit<br />
Der pragmatische Zielkonsens <strong>für</strong> die Höheren<br />
Schulen hieß und heißt noch: Allgemeine Hochschulreife.<br />
Bei Gallenkamp las es sich so: „Das<br />
Gymnasium hält den Anspruch aufrecht, die angemessene<br />
Vorbildung <strong>für</strong> alle Facultätsstudien<br />
auf <strong>der</strong> Universität und <strong>für</strong> die wissenschaftlichen<br />
Studien auf den technischen Hochschulen<br />
zu geben.“ 59 Klein verwahrt sich zwar gegen<br />
55 [Gallenkamp, 1877, S. 9], als beifälliges Zitat einer Ministerialverfügung vom September 1834.<br />
56 [Toeplitz, 1929, S. 14 bzw. 1. f.] Der antike Begriff „Exhaustion“ meint hier etwa beliebig gute Approximation.<br />
57 Ausführliche Belege zu heutigen repräsentativen Bildungsabsichten im <strong>Mathematik</strong>- und Naturwissenschaftsunterricht habe ich<br />
in [Führer, <strong>2009</strong>] gegeben.<br />
58 [Klein, 1904, S. 7].<br />
59 [Gallenkamp, 1877, S. 6 f]<br />
60 [Klein, 1904, S. 6].<br />
116
Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />
reinen Fachpatriotismus mit einer Sympathieerklärung<br />
an künftige Wissenschaftler an<strong>der</strong>er Fächer<br />
60 , aber er argumentiert zugleich und auch<br />
später stets so, als wären diese Schüler die einzigen,<br />
um die es dem Gymnasium o<strong>der</strong> auch den<br />
Höheren Realschulen zu gehen habe. Dass überhaupt<br />
nur ein Teil <strong>der</strong> Mittelstufenschüler <strong>der</strong><br />
Gymnasien und Höheren Realschulen das Abitur<br />
o<strong>der</strong> gar ein Studium anstrebten, zeitweilig sogar<br />
nur ein kleiner Teil, je nach Erlasslage <strong>für</strong><br />
das „Einjährige“ o<strong>der</strong> in Ermangelung „besserer“<br />
lokaler Schulalternativen, wurde (und wird) in<br />
<strong>der</strong> gymnasialen <strong>Mathematik</strong>didaktik höchst selten<br />
berücksichtigt. 61 Die Grün<strong>der</strong> und späteren<br />
Ausgestalter des Analysisunterrichts fühlten sich<br />
nicht gehin<strong>der</strong>t, dieses Spezialgebiet immer mehr<br />
zum exklusiv bestimmenden Ziel allen <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
an Höheren Schulen umzufunktionieren.<br />
Angesichts <strong>der</strong> zunehmenden Verkümmerung<br />
<strong>der</strong> Synthetischen Geometrie und <strong>der</strong> lange<br />
währenden Verdrängung <strong>der</strong> Wahrscheinlichkeitsrechnung<br />
und ihrer versicherungswirtschaftlichen<br />
Anwendungen kann sogar behauptet werden:<br />
These 3. Die allgemeine Studierfähigkeit erwies<br />
sich als schärfste Waffe im Kampf um den allgemein<br />
pflichtmäßigen Analysisunterricht auf den<br />
Oberstufen. Auf dieses Ziel wurde an den Höheren<br />
Schulen immer mehr – und ohne wirkliche<br />
Rücksicht auf die zeitweilig vielen späteren<br />
Nichtstudierenden – <strong>der</strong> vorangehende <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
ausgerichtet und kanalisiert.<br />
Damit wurde zugleich <strong>der</strong> Repräsentativitätsanspruch<br />
<strong>für</strong> kompensatorische mathematische Allgemeinbildung<br />
aufgeweicht.<br />
Primat <strong>der</strong> Fertigkeitsschulung<br />
(Kalkülzentrierung)<br />
„Eines kann nicht verschwiegen werden: Die Tendenz<br />
. . . auf das Methodische ist die unbequemere;<br />
die Bequemlichkeit wird stets auf die stoffliche<br />
Seite hindrängen“, erklärte Toeplitz am Ende<br />
seines GDNÄ-Vortrags von 1928, und am Anfang<br />
des schulbezogenen Teils hieß es (S. 13 f.):<br />
„Soweit ich mir einen Überblick über die sehr<br />
bunte, schwer zu übersehende Praxis des jetzigen<br />
Augenblicks habe beschaffen können, überwiegt<br />
in <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung <strong>der</strong> Schulen die<br />
formale Seite <strong>der</strong> Sache, die Rechentechnik des<br />
Differenzierens und Integrierens, um ein kurzes<br />
Wort zu gebrauchen: <strong>der</strong> Kalkül. Dieser Kalkül<br />
ist ein ungemein bequemer Unterrichtsgegenstand<br />
<strong>für</strong> die Schule . . . “ Und Toeplitz nennt gleich auch<br />
den tieferen Grund, fast eine Aporie: „Der didaktische<br />
Wert einer Materie [nichtrivialen Wissens<br />
und Denkens; L. Fü.] <strong>für</strong> die Schule ist weitgehend<br />
dadurch bestimmt, inwieweit sie sich in Serien<br />
von Aufgaben ansteigen<strong>der</strong> Schwierigkeit aufspalten<br />
und umbrechen lässt. Das gilt von einer<br />
exakten Behandlung <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung in<br />
beson<strong>der</strong>s geringem Maße.“ Kein Zweifel, die<br />
Aufsplitterung wenn nicht in Aufgabensequenzen<br />
dann jedenfalls in ein paar Dreiviertelstunden<br />
je Woche, ist schulorganisatorisch unvermeidlich,<br />
jedenfalls in normalen Schulen. Und die potentiell<br />
allgemeinbildenden bzw. erkenntnisleitenden<br />
Gehalte sind kaum „operationalisierbar“. So<br />
verstehe ich auch Pietzkers Be<strong>für</strong>chtungen von<br />
1904, die die Meraner Reformer an <strong>der</strong> Schwelle<br />
zur Infinitesimalrechnung zögern ließen: „. . .<br />
eine Aufnahme <strong>der</strong> Systematik <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung<br />
in den Unterricht [wird] im allgemeinen<br />
nur darauf hinauslaufen, den Schülern eine formelle<br />
Technik mehr beizubringen, ohne dass sie<br />
dadurch befähigt werden, nun mit dieser Technik<br />
gegebenenfalls viel anzufangen; statt <strong>der</strong> Erhöhung<br />
<strong>der</strong> geistigen Durchbildung, die man ihnen<br />
dadurch verschaffen möchte, wird eine gewisse<br />
äußerliche Fertigkeit erzielt werden, die bei allen,<br />
die nachher keine Veranlassung zur Beschäftigung<br />
mit den exakten Wissenschaften haben, bald genug<br />
vergessen werden wird.“ 62 Gewiss würde sich<br />
Pietzker aufs Großartigste bestätigt fühlen, wenn<br />
er heute die Rubriken 1.2.1, 1.2.2 und 1.2.4 <strong>der</strong><br />
EPAs lesen könnte. Der Aspekt A10, „Verständnis<br />
vor Fertigkeiten“, ist inzwischen klaglos auf<br />
„Verständnis von Fertigkeiten“ reduziert.<br />
These 4. Die hun<strong>der</strong>tjährigen Predigten gegen<br />
„einseitige“ Kalkülzentrierung des Analysisunterrichts<br />
mussten auf taube Ohren stoßen, denn<br />
<strong>der</strong> Kalkülprimat folgt aus dem Aufgaben- und<br />
Zerlegungszwang im qualifizierenden und also<br />
prüfenden Schulsystem (heute „Outputorientierung“).<br />
63<br />
61 Bei [Timerding, 1911, S. 112] ahnt man es nur: „Das wenige, was ich an Erfahrung gesammelt habe, hat mich doch das eine<br />
gelehrt, wie ungeheuer vorsichtig man mit wissenschaftlichen For<strong>der</strong>ungen pädagogischen Aufgaben gegenüber sein muss. Jedes<br />
Individuum verträgt nur ein bestimmtes wissenschaftliches Niveau.“ Toeplitz findet dann auf <strong>der</strong> GDNÄ-Hauptversammlung 1928<br />
sehr klare Worte [Toeplitz, 1929]: „Die Erfahrung zeigt, dass ein erheblicher Teil <strong>der</strong> Abiturienten <strong>der</strong> höheren Schulen gar nicht zur<br />
Hochschule übergeht, son<strong>der</strong>n sich dem Handel, <strong>der</strong> Industrie o<strong>der</strong> mittleren Beamtenlaufbahnen zuwendet. Die höhere Schule ist also<br />
keinesfalls ausschließlich Vorbereitungsanstalt <strong>für</strong> die Hochschule.“ [Ähnlich Lony, 1929, S. 18] Daraus zieht dann Toeplitz wie zuvor<br />
schon Timerding [1911] die (inzwischen recht einsame, von <strong>der</strong> Lehrerausbildung her auch gar nicht mehr ermöglichte) For<strong>der</strong>ung,<br />
spezifisch mathematische Erkenntnisweisen an historischen Vorlagen exemplarisch aufzuarbeiten und allgemeinbildend zu vertiefen.<br />
Man vergleiche Timerdings und Toeplitz’ historisch-genetische Ansätze mit dem belangslosen, aber noch heute imponierenden Event-<br />
Data-Dropping gemäß A5.<br />
62 [Pietzker, 1904], zit. n. [Krüger, 2000].<br />
63 Will man den Predigern nicht einfach Realitätsblindheit unterstellen, dann fragt sich natürlich, ob mit den Predigten mehr als<br />
politische o<strong>der</strong> medienwirksame Geschäftsinteressen verfolgt wurden/werden. Wir brauchen darauf hier glücklicherweise nicht einzugehen.<br />
117
Lutz Führer, Frankfurt<br />
Anschaulichkeit und<br />
Plausibilitätsbetrachtungen versus Strenge<br />
Auch Toeplitz’ Bezugnahme auf „exakte Behandlung“<br />
bietet keinen bequemen Ausweg, denn auf<br />
eine – wie auch immer geartete – „unexakte“<br />
o<strong>der</strong> informelle, aber nicht sinnwidrige Behandlung<br />
<strong>der</strong> Analysis ist <strong>der</strong> heutige Lehrer durch<br />
seine Hochschulausbildung ebenso unvorbereitet<br />
wie sein Kollege in <strong>der</strong> Weimarer Zeit. Damals<br />
wie heute verdanken sich überdies dem Anspruch,<br />
„eigentlich“ exakt behandeln zu wollen und es<br />
auch zu können, wenn nur die „schwachen“ Schüler<br />
nicht wären, nicht unwesentliche Teile des<br />
Standesbewusstseins des <strong>Mathematik</strong>lehrers, seiner<br />
öffentlichen Reputation und <strong>der</strong> disziplinierenden<br />
Wirkung seines Auftretens. Reine <strong>Mathematik</strong>er,<br />
die heute noch vorzugsweise die fachwissenschaftliche<br />
Lehramtsausbildung bestreiten,<br />
haben damit gewöhnlich keine Probleme. PISA-<br />
Klagen hin, Schülerzentierung her, es ist auch im<br />
begonnenen 21. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht ungewöhnlich,<br />
dass sogar Haupt- und Realschullehrer am Studienbeginn<br />
mit Cauchy-Folgen und absoluter Reihenkonvergenz<br />
gesalbt werden. Im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
hat es trotzdem nicht an Bemühungen gefehlt,<br />
den Schülern nicht mit einer „wissenschaftlich<br />
aufgeputzten Systematik ins Gesicht zu springen“<br />
Klein [1908], die „wissenschaftlichen Ansprüche“<br />
erst einmal zurückzustellen, die zentralen Grundgedanken<br />
illustriert darzubieten und in informeller<br />
Sprache auf echte Probleme anzuwenden. Dazu<br />
gehörten schon sehr früh beispielsweise qualitative<br />
Kurvenbeschreibungen, grafische Differentiation<br />
und Integration, später dann auch Ausschnittsvergrößerungen,<br />
um Differentiale und die Linearisierung<br />
zu veranschaulichen 64 .<br />
Abbildung 17.4: aus [Seeley, 1968, S. 75]<br />
Es gibt freilich Veranschaulichungen und Veranschaulichungen<br />
– solche, die den Kern eines<br />
gedanklichen Zusammenhangs zeigen, und solche,<br />
die es nicht tun. Das Funktionenmikroskop ist<br />
zweifellos von <strong>der</strong> ersteren Natur, weil es zugleich<br />
die lokale Linearität als Kern des Ableitungsbegriffs<br />
„Trend“ (o<strong>der</strong> neudeutsch: „lokale Än<strong>der</strong>ungsrate“)<br />
zeigt und in <strong>der</strong> Handlung des Ver-<br />
!<br />
größerns das Kontrollbedürfnis bzgl. <strong>der</strong> Qualitätseinschätzung<br />
<strong>für</strong> die Linearisierung stimuliert.<br />
(Das tun Overhead-Folien immer noch besser als<br />
die Zoom-Taste, weil sie langsamer sind und unterwegs<br />
Denken provozieren.) Die analoge Unterscheidung<br />
empfiehlt sich auch <strong>für</strong> Plausibilitätsbetrachtungen,<br />
die Wesentliches bis hin zur Methodensuggestion<br />
vermitteln können, o<strong>der</strong> es verdecken.<br />
In <strong>der</strong> DMV-Denkschrift von 1976, die<br />
sich gegen szientistische Übertreibungen <strong>der</strong> sogenannten<br />
„Strukturwelle“ wandte, werden da<strong>für</strong><br />
substanzielle Beispiele genannt:<br />
„Die Sehnensteigung <strong>der</strong> Exponentialfunktion<br />
x ↦→ 2 x ist im Intervall [x,x + h] bei festem h proportional<br />
zu 2 x , nämlich<br />
2 x+h − 2 x<br />
h<br />
= 2 x · 2h − 1<br />
.<br />
h<br />
Daher ist plausibel, dass auch die Tangentensteigung<br />
bei x proportional zu 2 x ist.<br />
O<strong>der</strong> zur Kettenregel: Verkettung <strong>der</strong> affinen<br />
Funktionen<br />
li(x) = ai + mi · x (i = 1,2)<br />
zeigt, dass die affine Funktion<br />
l1 ◦ l2(x) = m1(a2 + m2 · x) + a1<br />
= (m1a2 + a1) + m1m2 · x<br />
die Steigung m1 · m2 hat. Berücksichtigt man, wie<br />
gut Tangenten approximieren, so ist es plausibel,<br />
dass sich beim Verketten differenzierbarer Funktionen<br />
die Steigungen (genommen an den richtigen<br />
Stellen) multiplizieren . . . “ 65<br />
Wendet man dieselbe Plausibilitätsbetrachtung<br />
auf das Produkt l1 · l2 an, so stößt man auf<br />
die wichtigste Grundidee <strong>der</strong> Analysis, nämlich<br />
die <strong>der</strong> kontrollierten Approximation:<br />
l1 · l2(x) = (a1 + m1 · x) · (a2 + m2 · x)<br />
= a1a2 + (a1m2 + a2m1) · x<br />
+m1m2 · x 2<br />
zeigt, was vernachlässigt wird, wenn man den<br />
letzten Summanden „vergisst“, um die Produktregel<br />
<strong>der</strong> Differentialrechnung zu bekommen. Und<br />
es deutet an, wie entsprechende Verluste beim<br />
Multiplizieren krümmerer Funktionen sich lokal<br />
an Null anschmiegen.<br />
Mit <strong>der</strong> Kalkülbetonung standen Infinitesimalgesichtspunkte<br />
wie Konvergenz-, Definitionso<strong>der</strong><br />
Beweisfragen schon früh zur Disposition.<br />
64 Kirsch [1979] stiftete den suggestiven Namen „Funktionenmikroskop“, und <strong>der</strong> Schroedel-Verlag beanspruchte <strong>für</strong> seine Folienbil<strong>der</strong><br />
Copyright [Kirsch, 1980]. Heute gehört die „Zoom-Taste“ zu jedem Funktionenplotter.<br />
65 [Deutsche <strong>Mathematik</strong>er-Vereinigung e. V., 1976, S. 434]. Der mittlere Term in <strong>der</strong> Formelzeile <strong>für</strong> l1 ◦l2 wurde zum bequemeren<br />
Lesen ergänzt.<br />
118
Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />
Dabei verstellte die Sozialisation <strong>der</strong> Lehrer als<br />
überwiegend Reine <strong>Mathematik</strong>er den Blick: Die<br />
Infinitesimalgesichtspunkte wurden nicht, wie es<br />
Timerding und Toeplitz vergeblich for<strong>der</strong>ten, als<br />
ursprüngliche Quellen und Zugänge zum Analysistreiben<br />
gesehen, zum „Methodischen“ wie es<br />
Toeplitz ausdrückte, son<strong>der</strong>n als triumphale Begriffsschöpfungen<br />
<strong>der</strong> jeweils mo<strong>der</strong>nsten mathematischen<br />
Wissenschaft zur Klärung von Grundlagenproblemen<br />
– bzw. zu <strong>der</strong>en Abschiebung in<br />
an<strong>der</strong>e Wissenschaften, wie z. B. bei Zenos Paradoxa<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Rota Aristotelis. Das ist heute<br />
insofern problematisch, weil damit Zugänge zum<br />
Entwurf außer- und innermathematischer Modellbildungen<br />
und natürlich auch zu echten innermathematischen<br />
Beweisbedürfnissen versperrt wurden.<br />
Man denke nur an den anwen<strong>der</strong>typischen<br />
heuristischen Ansatz von Differentialgleichungen,<br />
an Extremwertbestimmungen nach „Schema Effzwei-Strich“<br />
o<strong>der</strong> an die absurden Versuche, in<br />
die Flächen-Integralrechnung ausgerechnet über<br />
so offensichtlich schlechte Treppenfunktionsnäherungen<br />
mit äquidistanten Stützstellen einzuführen,<br />
statt über angepasste Trapez- o<strong>der</strong> Parabelbogennäherungen<br />
66 , die bekanntlich auch dann noch<br />
etwas taugen (und weit verallgemeinert werden<br />
können), wenn Aufleitungen nicht bekannt o<strong>der</strong><br />
möglich sind.<br />
Das folgende Zitat aus [Hauck, 1905] spricht<br />
zwar über die Angewandte <strong>Mathematik</strong>, um die es<br />
noch im nächsten Absatz gehen soll, bis auf den<br />
letzten Satz lässt sich aber alles fast wörtlich auf<br />
die Frage nach etwaigem Verrat <strong>der</strong> „angemessenen<br />
Strenge“ durch Anschaulichkeit übertragen.<br />
„Von den mannigfachen Urteilen über das<br />
Wesen <strong>der</strong> reinen und <strong>der</strong> angewandten <strong>Mathematik</strong>,<br />
die mir zu Ohren gekommen sind,<br />
greife ich die zwei extremsten heraus. Das<br />
eine Urteil lautet: Die angewandte <strong>Mathematik</strong><br />
opfert die wissenschaftliche Strenge<br />
<strong>für</strong> das Linsengericht <strong>der</strong> praktischen Anwendung.<br />
. . . Das an<strong>der</strong>e Urteil lautet: . . .<br />
Die reine <strong>Mathematik</strong> opfert die Übereinstimmung<br />
mit <strong>der</strong> Wirklichkeit <strong>für</strong> das Linsengericht<br />
<strong>der</strong> formalen Methode. . . . Fassen<br />
wir nicht die Verschiedenheiten, son<strong>der</strong>n<br />
das beiden Gemeinsame ins Auge, so ist vor<br />
allem hervorzuheben, dass die Art und Weise<br />
des Operierens in <strong>der</strong> angewandten <strong>Mathematik</strong><br />
genau nach den gleichen Grundsätzen<br />
erfolgt wie in <strong>der</strong> reinen <strong>Mathematik</strong>. Es<br />
gibt keine zwei verschiedenen Arten mathe-<br />
matischen Denkens. – Was <strong>der</strong> angewandten<br />
<strong>Mathematik</strong> eigentümlich ist, ist lediglich<br />
das, dass zu <strong>der</strong> eigentlichen Handlung, in<br />
<strong>der</strong> sich die Operationen abspielen, noch ein<br />
Vorspiel und noch ein Nachspiel hinzukommen.“<br />
[Hauck, 1905, Vorwort]<br />
Der letzte Satz, <strong>der</strong> die Modellbildung wun<strong>der</strong>bar<br />
schlicht charakterisiert, wäre hinsichtlich<br />
<strong>der</strong>/einer seriösen Anschaulichen <strong>Mathematik</strong><br />
vielleicht so abzuän<strong>der</strong>n: „Was <strong>der</strong> ernsthafteren<br />
anschaulichen <strong>Mathematik</strong> eigentümlich ist,<br />
ist lediglich das, dass sie den eigentlich abiturrelevanten<br />
Kompetenzen, mit denen die Operationen<br />
abgewickelt werden, noch <strong>der</strong>en Absichten, Ideen<br />
und Intuitionen beifügt.“<br />
These 5. Anschaulichkeit ist im Analysisunterricht<br />
kein Wert an sich, und Plausibilitätsbetrachtungen<br />
sind keine Sakrilege. Im besten Fall zeigen<br />
sie Wesentliches treffen<strong>der</strong>, im schlechtesten entstellen<br />
sie den Sinn <strong>der</strong> Sache. (Vgl. A3.)<br />
Vom schlechtesten Fall gibt <strong>der</strong> Anfang von<br />
Teil 1.2.2 <strong>der</strong> EPAs ein geradezu extremes Beispiel,<br />
zumal die in A7 aufgestellte psychogenetische<br />
For<strong>der</strong>ung, zum Grenzwertbegriff hin und<br />
nicht von ihm ausgehend zu arbeiten, innerhalb<br />
<strong>der</strong> heutigen materialen Outputorientierung ganz<br />
unrealistisch geworden ist.<br />
2.2 Erworbene Missverhältnisse<br />
Anwendungsorientierung?<br />
Götting schrieb dazu 1902: „Noch mehr als in <strong>der</strong><br />
reinen <strong>Mathematik</strong> verwendet man die Grundbegriffe<br />
<strong>der</strong> höheren Analysis in den Anwendungen.<br />
Im Physikunterricht kommt man ohne sie garnicht<br />
aus; ich nenne nur Geschwindigkeit, Beschleunigung,<br />
Richtung des Linienelements und Bahntangente,<br />
Krümmung <strong>der</strong> Bahn eines Punktes, Potentialgefälle,<br />
elektromotorische Kraft <strong>der</strong> Induktion<br />
etc., überall braucht man Differentialquotienten.<br />
Wie einfach würden die schwerfälligen Bestimmungen<br />
von Weglängen, Schwerpunkten und<br />
Trägheitsmomenten bei Anwendung <strong>der</strong> Integralrechnung.“<br />
67<br />
Verstünde man Anwendungsbezug so wie im<br />
Hauck-Zitat, dann gäbe es <strong>für</strong> allgemeinbildende<br />
Schulen keine Alternative zu (immer noch diversen)<br />
Formen des Analysisunterrichts im Geiste<br />
<strong>der</strong> Angewandten <strong>Mathematik</strong> 68 , und die seit A1<br />
und A4 vielbeschworenen Motivationsschübe auf<br />
Schülerseite wären, so sie denn wirklich einträten,<br />
66 Fermat konnte alle ganzrationalen Funktionen integrieren, indem er die Integrationsbereiche geometrisch und nicht arithmetisch<br />
unterteilte – ohne formelle Einführung irgendeines Integralbegriffs.<br />
67 [Götting, 1902, S. 51]<br />
68 Vgl. etwa [Blum & Toerner, 1983, S. 196]. – In [Führer, 1997, Abschnitt 7.2] habe ich das als „Formale Anwendungsorientierung“<br />
bezeichnet und näher erläutert. – Nicht zu vernachlässigen auch die universitäre Hierarchie bis ins späte 20. Jahrhun<strong>der</strong>t: Im<br />
Hrsg.-Vorwort von [von Sanden, 1914] schreibt Timerding auf S. VIII: „Ich will nur an Kummer erinnern, <strong>der</strong> einmal gesagt hat, es<br />
müsse eigentlich nicht reine und angewandte <strong>Mathematik</strong>, son<strong>der</strong>n reine und schmutzige <strong>Mathematik</strong> heißen“.<br />
119
Lutz Führer, Frankfurt<br />
willkommen – wenn auch nicht Bedingung. Dabei<br />
wäre natürlich noch reichlich unentschieden, welche<br />
Anwendungen und welche Anwen<strong>der</strong>methoden<br />
warum behandelt werden sollten. Hier freilich<br />
rächt sich die fö<strong>der</strong>ale Diversifizierung <strong>der</strong> Lehrerausbildung<br />
und die erziehungswissenschaftliche<br />
Ächtung <strong>der</strong> Bildungstheorie während des 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />
Die erkenntnisleitenden Rollen, die im 17.<br />
und 18. Jahrhun<strong>der</strong>t traditionsreiche geometrische<br />
Probleme und die aufblühende dynamische Mechanik<br />
und Astronomie spielten, waren schon<br />
am Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts überstrahlt, einerseits<br />
von <strong>der</strong> Algebraisierung und Formalisierung<br />
<strong>der</strong> wissenschaftlichen <strong>Mathematik</strong>, an<strong>der</strong>seits<br />
von Elektrodynamik, Energieerhaltungssatz<br />
und aufkommen<strong>der</strong> Mikro- und Makrophysik.<br />
Hinzu kommt: „Die Wirklichkeit <strong>der</strong> mathematischen<br />
Forschung ist ein Wechselspiel zwischen<br />
Stoff und Methode.“ 69 Und Methode zu erwerben,<br />
kostet in jedem Gebiet Zeit, Kraft und<br />
Durchhaltewillen. Es war von vornherein eine<br />
Überfor<strong>der</strong>ung gerade <strong>der</strong> jüngeren Lehrer, sich<br />
statt den mo<strong>der</strong>nen Hauptfragen hinreichend elementaren,<br />
aber exemplarischen Problemen und<br />
methodischen Ansätzen zu widmen, die einstmals<br />
zur Definition <strong>der</strong> Ableitung o<strong>der</strong> gar des Integrals<br />
geführt und dann Bedeutung durch Leistungsfähigkeit<br />
bei „einstmals spannenden“ (Toeplitz) Fragen<br />
gezeigt hatten. 70<br />
Es sollte auch nicht mehr lange dauern, bis die<br />
Naturwissenschaften sich soweit ausdifferenzierten,<br />
dass eine allgemeine Lehrbefähigung in <strong>Mathematik</strong><br />
und Naturwissenschaften sinnlos wurde.<br />
Hinzu kam dann, allmählich noch zunehmend, die<br />
Liberalisierung <strong>der</strong> zulässigen Fächerkombinationen,<br />
so dass heute kein Schulbuch und kein Lehrplan<br />
davon ausgehen kann, dass „<strong>der</strong> Oberstufen-<br />
<strong>Mathematik</strong>er“ etwas Sinnvolles über bestimmte<br />
ursprüngliche o<strong>der</strong> auch nur außermathematische<br />
Erkenntnisinteressen weiß und lehren kann. Damit<br />
ist die öffentliche Wertschätzung <strong>der</strong> Analysis,<br />
die sie ihren unübersehbaren Erfolgen in <strong>der</strong><br />
Mechanik/Astronomie des 18. und 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
verdankte 71 und – mit vagem Technikbezug<br />
– noch verdankt, heutigen Schülern nur noch ausnahmsweise<br />
zugänglich. Ein eklektisches Anwendungspotpourri<br />
aus abstrakteren Physikgebieten,<br />
Sportmechanik, Chemie, Biologie o<strong>der</strong> Medizin<br />
kann das nicht ersetzen, und typische qualitative<br />
Modellbildungsansätze, etwa aus den Wirtschaftswissenschaften,<br />
aus <strong>der</strong> Stochastik o<strong>der</strong> aus dem<br />
Steuerrecht, rechtfertigen jedenfalls die schulorganisatorisch<br />
zwingend bevorzugten Rechentechniken<br />
nicht. (Vgl. die EPA-Tabelle oben.)<br />
These 6. Konstitutiver Anwendungsbezug schulischer<br />
Einführung in die Analysis stand von<br />
vornherein im Wi<strong>der</strong>spruch zu Anschaulichkeitsund<br />
psychogenetischen Postulaten. Anwendungsorientierung<br />
als Charakteristikum des Analysisunterricht<br />
hätte Schüler und Lehrer überfor<strong>der</strong>t,<br />
und würde sie heute oft noch mehr überfor<strong>der</strong>n.<br />
Wo charakteristische Anwendungsmotive <strong>der</strong> unterrichtbaren<br />
Ideen und Modellierungsmethoden<br />
fehlen, ist die wichtigste Stütze <strong>der</strong> gesamtkulturellen,<br />
allgemeinbildenden Begründung des Analysisunterrichts<br />
zerbrochen.<br />
Es gibt zudem eine lang anhaltende Grundsatzdiskussion<br />
über die Realitätsnähe, die dem<br />
Schulunterricht mit erträglichem Zusatzaufwand<br />
überhaupt erreichbar ist. Diese teilweise recht<br />
skeptisch geführte Debatte nachzuzeichnen, würde<br />
hier auf allzu ausgedehnte Nebengeleise führen.<br />
Ich verweise auf die bekannten ISTRON-<br />
Bände sowie auf [Blum & Toerner, 1983] und<br />
[Tietze et al., 1997]. Die These 6 dürfte auch<br />
schon aus dem Vorstehenden einleuchten.<br />
Funktionales Denken<br />
Im Abschnitt 1.2 habe ich schon dargelegt, dass<br />
und warum sich (möglicherweise) die Konnotationen<br />
des Schlagworts „funktionales Denken“<br />
rasch nach 1905 und dann mehr noch ab 1925<br />
auf Funktionen als Objekte des Kalküls verengten.<br />
Im [Klein, 1907] lässt sich diese Verengung<br />
schon beobachten – 1907, als <strong>der</strong> Mohr seine politische<br />
Schuldigkeit getan hatte und sich nun in<br />
allerlei Schulalltagen bewähren sollte. 72 Das Methodische<br />
verschwand, was blieb und sich bis heute<br />
zunehmend auswirkte, war die Konzentration<br />
des gesamten gymnasialen <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
auf den Funktionsbegriff zwecks allmählicher Anfreundung<br />
mit Analysis und Analytischer Geometrie.<br />
Diese Wendung des Konzentrationsgedankens<br />
auf das Materiale, den Vermittlungsstoff, hat <strong>der</strong><br />
Schulpraktiker Götting schon 1902/1904 <strong>für</strong> den<br />
bestehenden Unterricht an Höheren Schulen als<br />
beson<strong>der</strong>s nahe liegend beschrieben: „Charakteristisch<br />
<strong>für</strong> die Elementarmathematik ist ja die<br />
69 [Toeplitz, 1929, S. 4]<br />
70 Die weittragende methodische Lehre aus dem aus dem Kepler-Beispiel von Toeplitz (s. Abb. 17.5) dürften heute zu wenige Lehrer<br />
auf Anhieb erkennen. Zu viele empfehlen immer noch die blinde Methode Eff-zwei-Strich zur „exakten“ Extremwertbestimmung als<br />
Standard. Vermutlich missriete spätestens morgen Toeplitz’ Musterbeispiel ohnehin dank einiger Schulbuch- o<strong>der</strong> Lehrplanschreiber<br />
rasch zur belanglosen Kompetenz-Trainingsaufgabe.<br />
71 „Ich fasse also kurz zusammen: eine gründliche und fruchtbare Behandlung des Funktionsbegriffs sowie <strong>der</strong> Grundbegriffe <strong>der</strong><br />
Mechanik involviert ganz naturgemäß die Hereinnahme <strong>der</strong> elementaren Infinitesimalrechnung in den Unterricht <strong>der</strong> höheren Schulen.“<br />
[Klein, 1907, S. 113].<br />
72 Genaueres in [Krüger, 2000].<br />
120
Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />
Abbildung 17.5: Problem- und anwendungsorientierte Nachentdeckung <strong>der</strong> Stationarität nahe Extrema. Aus<br />
[Toeplitz, ! 1972, S. 78 f]<br />
Starrheit und Unverän<strong>der</strong>lichkeit ihrer Gebilde.<br />
Für den Anfangsunterricht ist das wertvoll. Aber<br />
niemand behält sie im weiteren Unterricht bei.<br />
Man führt geometrische Beweise durch Bewegung,<br />
und wenn man aus <strong>der</strong> stetigen Verän<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Figuren neue geometrische Sätze und tieferen<br />
Einblick in ihren Zusammenhang gewinnt, so erkennt<br />
man darin den Einfluss <strong>der</strong> neueren Geometrie.<br />
73 Verän<strong>der</strong>liche Größen und ‚Funktionen’<br />
werden o<strong>der</strong> sollten wenigstens schon früh in <strong>der</strong><br />
Arithmetik wie in <strong>der</strong> Geometrie benutzt werden,<br />
die Trigonometrie nötigt zu ihrer Verwendung im<br />
Unterricht. . . Grenzwerte bildet man auch in <strong>der</strong><br />
Stereometrie, bei den Reihen und in <strong>der</strong> Lehre<br />
vom Maximum und Minimum. Dass man hier Differentialquotienten<br />
von Funktionen bildet, ebenso<br />
wie man bei <strong>der</strong> Berechnung <strong>der</strong> Volumina,<br />
Schwerpunkte [Mittelwerte; L. Fü.] und Trägheitsmomente<br />
[Varianzen] durch Reihensummierung<br />
Integrationen ausführt, vermeidet man zu sagen.<br />
Man führt alle die Grenzübergänge und Reihensummierungen<br />
bei jedem Beispiel von neuem<br />
durch und scheut sich, die allgemeine Methode<br />
herauszuarbeiten. Durch Umgehung des Funktionsbegriffs<br />
erschwert man sich die Arbeit noch.<br />
So bleibt alles <strong>für</strong> den Schüler schwer verständlich<br />
und noch schwerer anzuwenden. Das ganze<br />
Verfahren aber ist unmathematisch, eben weil es<br />
beim Speziellen verweilt und sich von <strong>der</strong> allgemeinen<br />
Methode abwendet; es wi<strong>der</strong>spricht dem<br />
Grundprinzip <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> wie je<strong>der</strong> Wissenschaft,<br />
dem Prinzip von <strong>der</strong> Ökonomie des Denkens.“<br />
74<br />
Die EPAs (und vermutlich auch die kommenden<br />
Bildungspläne) sprechen im längsten und deshalb<br />
wohl gewichtigsten Kasten 1.2.1 nicht mehr<br />
schillernd von „funktionalem Denken“, son<strong>der</strong>n<br />
ganz bescheiden von einer „Leitidee funktionaler<br />
Zusammenhang“. Abgesehen vom Appendix „Zufallsgrößen“<br />
75 , wird dort nur ein materialer Stoffplan<br />
aufgelistet, bei dem das Begriffliche auf das<br />
aufgabendidaktisch Notwendige abgespeckt ist,<br />
d. h. auf (Dirichlets) Funktions„begriff“, Än<strong>der</strong>ungsrate/Steigung<br />
und Aufleitung/Flächeninhalt.<br />
Methodische Reflexionen sind nicht verlangt, also<br />
wohl auch nicht vorgesehen – es sei denn, man<br />
unterschiebt sie den ausnahmsweise konstruktiven<br />
Modellierungen des dritten Punktes 1.2.3.<br />
These 7. Die heutige Rede von einer „Leitidee<br />
funktionaler Zusammenhang“ wird aus schulsystemischen<br />
Gründen (Lehrervorbildung, Zeitnot,<br />
Kompetenzorientierung) dann und nur dann mehr<br />
bieten als abprüfbare Kenntnisse und Fertigkeiten<br />
(z. B. Kurvenkonstruktion, eigenständiges Denken,<br />
Begriffs- und Methodenbewusstsein, außermathematische<br />
Vernetzung), wenn echte Modell-<br />
73 Mit „neuere Geometrie“ war bis in die Weimarer Zeit Geometrie <strong>der</strong> projektiven Verwandtschaften im Geiste Jakob Steiners gemeint<br />
[vgl. etwa Gallenkamp, 1877, S. 16], nicht Kleins Erlanger Programm, nicht Dinglers operatives Programm und auch nicht die<br />
spätere synthetische Abbildungsgeometrie Bachmanns.<br />
74 [Götting, 1902, S. 50 f]; vgl. auch [Klein, 1907, S. 34 ff] o<strong>der</strong> auch noch viel später: [Blum & Toerner, 1983], die <strong>für</strong> die „Ziele des<br />
Analysisunterrichts“ gerade noch 4 Seiten übrig haben. (S. 196-199. – Bei <strong>der</strong> verfänglichen Wortschöpfung „infinitesimales Denken“<br />
zeigte sich deutlich eine damals zeitgemäße Abneigung rein stoffdidaktisch-material orientierter Autoren gegen Rechtfertigungen von<br />
Bildungsfunktionen.)<br />
75 über <strong>der</strong>en epistemologischen Status als „funktionale Zusammenhänge“ man wohl streiten sollte . . .<br />
76 In dieser Stoßrichtung stimme ich vielen einschlägigen Äußerungen von [Fischer & Malle, 1985] zu.<br />
121
Lutz Führer, Frankfurt<br />
bildungszyklen zum Mittelpunkt des Analysisunterrichts<br />
werden. 76<br />
Vom Schüler aus?<br />
In <strong>der</strong> Pädagogik wird das 20. Jahrhun<strong>der</strong>t immer<br />
noch als „das Jahrhun<strong>der</strong>t des Kindes“ hochgehalten,<br />
als das Jahrhun<strong>der</strong>t, in dem das Rousseausche<br />
Entdeckenlassen „endlich“ schulpolitisch ernst<br />
genommen wurde: Schülerorientierung, nicht einfach<br />
kin<strong>der</strong>freundlich und ihrer Zukunft wohlwollend,<br />
son<strong>der</strong>n als Denken „vom Kinde aus“ 77 .<br />
Als um die Meraner Reformzeit, in <strong>der</strong> Sturmund-Drang-Phase<br />
<strong>der</strong> bürgerlichen Reformpädagogik<br />
vor dem Ersten Weltkrieg, die meisten<br />
<strong>der</strong> unterrichts- und fachmethodischen Ansätze<br />
aufkamen, die heute noch, wenn auch mit viel<br />
eindrucksvolleren Bezeichnungen, in trauter Gemeinsamkeit<br />
von Schulwissenschaft, -forschung,<br />
-aufsicht und -presse als methodische Heilmittel<br />
gegen alle vermeintlichen Schwächen des Schulsystems<br />
verordnet werden, waren sie Teil des<br />
gemeinsamen Protestes einer temperamentvollen<br />
Min<strong>der</strong>heit innerhalb des Schulsystems, die sich<br />
– bei allen Meinungsverschiedenheiten über den<br />
rechten Weg – gegen die Vereinnahmung <strong>der</strong><br />
Schulpraxis durch Obrigkeitsdenken, Militärgeist<br />
und Zulieferung <strong>für</strong> die Ökonomie wandte. Wie<br />
weit hat diese Strömung den Analysisunterricht<br />
des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts mitgeprägt?<br />
Ich habe mir bei <strong>der</strong> Beschreibung des Analysiskanons<br />
im Abschnitt 1.3 Mühe gegeben,<br />
ihm alle jene pädagogischen Rücksichten zuzuschreiben,<br />
wenigstens als didaktische Stachel<br />
im Fleisch <strong>der</strong> Schulmathematik, die ihn dauerhaft<br />
geprägt haben, und zwar von vornherein.<br />
Es waren und sind noch: A1 (Lebensweltbezug),<br />
A3 und A9 (Anschaulichkeit), A4 (Anwendungsbezug),<br />
A6 (Lebendigkeit: Anwendungsbezug –<br />
Anschaulichkeit – Experimente), A7 (Behutsamkeit<br />
bzgl. <strong>der</strong> Grenzwerte: Zum Grenzwert hin!),<br />
A8 (Stoffbeschränkung gegen Überbürdungsgefahren).<br />
Bei je<strong>der</strong> dieser pädagogischen Rücksichtnahmen<br />
fehlte es aber auch nie an expliziten<br />
Grenzziehungen: Lebensweltbezug, Anschaulichkeit,<br />
Lebendigkeit und Stoffbeschränkung ja,<br />
aber nicht „auf Kosten <strong>der</strong> Strenge“, immer in<br />
spezifischer Art „gründlich“ und nie ohne aus-<br />
drückliche Hinweise auf konzidierte Ungenauigkeiten<br />
o<strong>der</strong> Lücken. . . Der Analysisunterricht<br />
wurde eben nicht vom Kinde her o<strong>der</strong> im Interesse<br />
<strong>der</strong> Schülerzukunft gedacht, propagiert und<br />
durchgesetzt, son<strong>der</strong>n vom Gelehrtenstand, dem<br />
es mit viel Überzeugungsarbeit gelang, die eigenen<br />
Interessen mit denen <strong>der</strong> Staatsbürokratie und<br />
des aufstrebenden Wirtschaftsbürgertums zu vereinen.<br />
Dass es sich um elitäre Interessen handelte,<br />
habe ich schon ausführlich begründet, und auch<br />
die Statistik in Abb. 17.6 belegt es. 78<br />
!<br />
Abbildung 17.6: Relativer Schulbesuch <strong>der</strong> Schuljahrgänge<br />
11 bis 13 auf höheren Schulen im Deutschen<br />
Reich und in <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />
Insofern <strong>der</strong> Analysisunterricht von vornherein<br />
auf universell-universitäre Bildungsbereitschaft<br />
und Urteilsfähigkeit <strong>für</strong> Lenkungsaufgaben<br />
einer künftigen Staats-, Wirtschafts- und Wissenschaftselite<br />
zielte, war die inhärente Schwierigkeit<br />
<strong>der</strong> Materie Infinitesimalrechnung nicht nur<br />
Hin<strong>der</strong>nis in den Durchsetzungskämpfen, son<strong>der</strong>n<br />
auch standesbewusster Mo<strong>der</strong>nitätsausweis. Die<br />
Schwierigkeit <strong>der</strong> Materie „höhere“ Analysis 79 ,<br />
die in ihrer absichtlichen Universalität, begrifflichen<br />
und logischen Raffinesse, Komplexität und<br />
abstrahieren<strong>der</strong> Allgemeinheit lag und liegt, belastet<br />
den Unterricht von vornherein mit erheblichen<br />
Motivations-, Konzentrations- und Verständigungsanfor<strong>der</strong>ungen,<br />
die im Unterricht wie<strong>der</strong>um<br />
zu Vermittlungszwängen und Zeitproblemen<br />
führen – noch verstärkt, wie Toeplitz dargelegt<br />
hatte, von <strong>der</strong> schulmethodisch unvermeidlichen<br />
77 „Obgleich die Formel „vom Kinde aus“ schon 1902 in Rilkes begeisterter Besprechung von Ellen Keys berühmt gewordenem<br />
Buch ‚Das Jahrhun<strong>der</strong>t des Kindes’ Verwendung findet, gelangt sie erst im Umkreis <strong>der</strong> reformpädagogisch aufgeschlossenen Hamburger<br />
Lehrerbewegung zu Bekanntheit. Wie Edgar Weiss im ‚Archiv <strong>für</strong> Reformpädagogik’ 1998 berichtet, entsteht die Wendung<br />
1908, also vor genau einhun<strong>der</strong>t Jahren, in einem Omnibus während <strong>der</strong> Fahrt zur Gründung des Bundes <strong>für</strong> Schulreform, ehe sie von<br />
Heinrich Wolgast als Sammelbezeichnung <strong>für</strong> die For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Bewegung benutzt wird.“ [Wehner, <strong>2009</strong>, S. 2] – Dabei ist vielleicht<br />
hinsichtlich <strong>der</strong> gesellschaftlichen Rolle <strong>der</strong> deutschen Reformpädagogik bemerkenswert, dass Ellen Key und Rilke wie später<br />
Geheeb und seine Odenwaldschule über Eva Solmitz/Cassirer bzw. Edith Cassirer zum Freundes- und Gönnerkreis <strong>der</strong> Bankiersfamilie<br />
Cassirer gehörten.<br />
78 Aus [Lundgreen, 1980/1981, S. 119]. [Inhetveen, 1976, S. 153] gibt eine noch eindrucksvollere, aber nur unsicher interpretierbare<br />
Tabelle aus dem amtlichen Statistischen Jahrbuch von 1915 wie<strong>der</strong>.<br />
79 Das Adjektiv wurde vor hun<strong>der</strong>t Jahren gebraucht, um die Infinitesimalrechnung – je nach Kontext – von <strong>der</strong> Algebraischen<br />
Analysis im Umfeld <strong>der</strong> Binomischen Reihe o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Analysis bei den Konstruktionsaufgaben abzuheben. Ganz unabhängig sind<br />
diese Namensvettern natürlich nicht: Bei Winter [1989, Abschnitt 6.1] findet sich eine, sehr im Gegensatz zur Originalquelle, leicht<br />
fassliche Darstellung <strong>der</strong> Beziehungen zwischen <strong>der</strong> letzteren und Vietas systematischem Ausbau <strong>der</strong> Buchstabenrechnung.<br />
122
Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />
Zersplitterung und Sequenzierung aller komplexeren<br />
Inhalte. Dies zwang und zwingt offenbar<br />
zu fachkundiger Vermittlung im gelenkten Unterrichtsgespäch<br />
o<strong>der</strong> Lehrervortrag. Die notorischen<br />
Zeit-, Sprach- und Orientierungsprobleme<br />
bei „weicheren“, schülerzentrierten Unterrichtsformen<br />
scheinen <strong>für</strong> den Analysisunterricht im<br />
Wesentlichen nur die unterrichtsmethodische Abfe<strong>der</strong>ung<br />
durch Beispiele, Aufgaben und Routineprobleme<br />
zu erlauben, ausnahmsweise vielleicht<br />
auch durch Projekte o<strong>der</strong> wenigstens projektorientierten<br />
Unterricht. Also das, was Lenné<br />
in seiner scharfen Analyse vermeintlich endgültig<br />
als „Aufgabendidaktik <strong>der</strong> Traditionellen <strong>Mathematik</strong>“<br />
disqualifiziert hat. 80 We<strong>der</strong> Gaudig, noch<br />
sein <strong>Mathematik</strong>us Scheibner, noch Kerschensteiner,<br />
noch die Wettbewerbssieger von 1930 81 , noch<br />
Wagenscheins Sokratik, Winters und Wittmanns<br />
Entdeckungslernen o<strong>der</strong> die heutigen Bestsellerautoren<br />
mathematischer Unterrichtsmethodiken 82<br />
haben dem aufgabenzentrierten Vermittlungsunterricht<br />
<strong>der</strong> Schulanalysis etwas anhaben können.<br />
Die traditionelle Konzession des gymnasialen <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
an die Reformpädagogik war<br />
in <strong>der</strong> Zeit vor und nach dem Dritten Reich lediglich<br />
marktgerechte Verpackung, man sprach modebewusst<br />
von „Arbeitsunterricht“ und begriff sie<br />
in höchst eklektischer Anlehnung an Kerschensteiners<br />
Arbeitstugenden. Sachlich und in <strong>der</strong> didaktischen<br />
Intention blieb es bei <strong>der</strong> Lennéschen<br />
Aufgabendidaktik im Rahmen frontaler Belehrung.<br />
Die heutige „Sicherstellung des Kompetenzoutputs“<br />
ist da<strong>für</strong> nur ein sprachverhunzen<strong>der</strong>,<br />
aber politisch korrekter Euphemismus.<br />
„Es bleibt mir ein Rätsel – und ist mir noch nie<br />
durch langfristige stabile Lernerfolge belegt untergekommen<br />
–, wie ‚gewöhnliche’ Lernende ohne<br />
massive Intervention durch Lehrende (sowohl<br />
direkt persönlich, als auch indirekt durch Bücher,<br />
Internet o.ä.) ein solches Gebiet wie die Gaußschen<br />
Flächenformeln o<strong>der</strong> gar die Integralrechnung<br />
in sogenannten konstruktivistischen Lernumgebungen<br />
sich selbstständig erarbeiten können<br />
sollen.“ 83<br />
These 8. Analysisunterricht ist aus schulsystemischen<br />
und lernpsychologischen Gründen weitgehend<br />
an Aufgabendidaktik im Ordnungsrahmen<br />
von Frontalunterricht gekettet. Das mag heute<br />
mit mancherlei Gründen bedauert werden 84 ,<br />
aber Analysisunterricht kann nicht beliebig kin<strong>der</strong>freundlich<br />
„radikal konstruktiviert“ werden,<br />
weil er seine Legitimation und seinen gesellschaftlichen<br />
Sinn vorgefundener Wissenschaftsbedeutung<br />
und ständischer Hochschulbildung verdankt,<br />
und eben nicht naiv zugänglichen Reflexionen auf<br />
Naturphänomene, sei es auch im geistreichsten<br />
Stile Wagenscheins.<br />
Für welche Schüler?<br />
Die aus wirtschaftlichen, technischen und demokratischen<br />
Motiven gewünschte Verbreiterung <strong>der</strong><br />
Bildungsbeteiligung im Laufe des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
hat die elitären Begründungen <strong>für</strong> Analysisunterricht<br />
weitgehend in die Feiertagsdidaktik abschieben<br />
müssen (Abb. 17.7).<br />
Da keine substanziell neuen Begründungen<br />
gefunden wurden, hätte das eigentlich zur Revision<br />
<strong>der</strong> Bildungsziele <strong>für</strong> die Höheren Schulen<br />
führen müssen. In den Jahren des Wie<strong>der</strong>aufbaus<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg gab es<br />
aber dringen<strong>der</strong>e Probleme. Als die Neubesinnung<br />
dann in <strong>der</strong> wirtschaftlichen Hochkonjunktur<br />
<strong>der</strong> 60er Jahre einsetzte, entstanden in rascher<br />
Folge ebenso tiefgreifende wie wissenschaftseuphorische<br />
Schulreformen, die vorübergehend zur<br />
bewussten Anpassung <strong>der</strong> Oberstufenanalysis an<br />
universitäre Anfängervorlesungen führte. 86 Dieser<br />
Gesichtspunkt ist heute nur noch Geschich-<br />
80 [Lenné, 1969] – An<strong>der</strong>s als seine heute fortschrittlichsten Bewun<strong>der</strong>er hatte Hugo Gaudig, Prophet des methodenzentrierten Arbeitsunterrichts,<br />
gar kein Problem mit <strong>der</strong> mathematischen Aufgabendidaktik. Zum Beispiel eines 2-2-Gleichungssystems schrieb er:<br />
„Die <strong>Mathematik</strong>, die ‚beneidenswerte’ Disziplin <strong>der</strong> Aufgaben, zeigt uns an ihrem Verfahren, was es heißt, wenn das Denken Willensakt<br />
ist... In <strong>der</strong> neuen Aufgabe wird dem Schüler ein scharf bestimmtes Ziel seines Wollens gesteckt. Das Ziel erregt seine geistige<br />
Energie. Es folgt die Prüfung <strong>der</strong> Lösungswege und die Wahl <strong>der</strong> Subtraktionsmethode. In schneller Rechenarbeit wird das Ergebnis<br />
... gewonnen. Ein Blick zeigt die Richtigkeit <strong>der</strong> Arbeit. – Diese Tätigkeit wird begleitet von einem lebendigen Spiel <strong>der</strong> Gefühle: ...“<br />
[Gaudig, 1922, S. 5]<br />
81 [Lietzmann, 1931]. Der Sieger-Aufsatz von Gurski ist in [Siemon, 1980] wie<strong>der</strong>abgedruckt. – Scheibners Abgrenzung des „freitätigen<br />
Arbeitsunterrichts“ [Scheibner, 1980], Auszug aus [Scheibner, 1928], schließt ihn praktisch <strong>für</strong> den Analysisunterricht aus.<br />
82 Durchweg traditionelle Aufgabenbeispiele mit Bezug zum Analysisunterricht fand ich auf den Seiten 74, 93, 117, 132, 137, 161,<br />
171, 185, 213 und 235 von [Barzel et al., 2007]. Diese Beispiele <strong>für</strong> Unterrichtsmethoden richten sich – natürlich – nicht gegen<br />
die aufgabendidaktische Parzellierung <strong>der</strong> Inhalte. Inwiefern am Ende die ebenso löblichen wie optionalen Absichten in den Kästen<br />
von S. 246-253 wirklich zu „Schülertätigkeiten“ werden könnten, steht sehr dahin. In <strong>der</strong> Schulpraxis dürfte es sich um nützlichen<br />
Vokabelvorrat <strong>für</strong> Lehrprobenüberbauten handeln.<br />
83 [Ben<strong>der</strong>, 2010, S. 55]. Natürlich können geschickte Lehrer viel direktive Belehrung in Aufgaben, Experimentieraufträge o<strong>der</strong><br />
auch „Lernumgebungen“ wie Freiarbeit, Wochenplan u.ä. verpacken. Ob das mündig werdende Oberstufenschüler nicht durchschauen<br />
(sollten)? [Vgl. Führer, 1997, Kap. 4]<br />
84 Das Standardwerk [Tietze et al., 1997, Abschnitt 236-240] bringt zum Thema „Schüler im Analysisunterricht“ kaum mehr als<br />
Lernschwierigkeiten und Fehleranalyse. Tiefer geht Andelfinger [1991]. Seine Einschätzung <strong>der</strong> Schülerperspektiven deckt auch meine<br />
noch folgenden Thesen 9-10.<br />
85 Tabelle nach [Geißler, 2006, S. 38]. Die neueren PISA- o<strong>der</strong> auch die Studentenwerk-Daten (s. z. B. 2. Deutscher Bildungsbericht)<br />
sind tendenziell nicht an<strong>der</strong>s, aber deutlich gröber klassifiziert. – Honi soit qui mal y pense!<br />
86 Details zu dieser Entwicklung in [Führer, 1997, Abschnitt 6.1.]<br />
123
Lutz Führer, Frankfurt<br />
!<br />
Abbildung 17.7: Relativer Schulbesuch <strong>der</strong> 13- bzw. 14jährigen nach Schularten 1952–1991 – BRD bzw.<br />
alte Bundeslän<strong>der</strong>. Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 1991 sowie Fachserie 11,<br />
Reihe 1, Allgemeinbildende Schulen 1991 und frühere Jahre. Zit. nach [Arbeitsgruppe Bildungsbericht am<br />
Max-Planck-Institut <strong>für</strong> Bildungsforschung, 1997, S. 201].<br />
Schicht <strong>der</strong> Bezugsperson Son<strong>der</strong>schule Hauptschule Realschule IGS Gymnasium<br />
Obere Dienstklasse (1,6) 13 29 4 52<br />
Untere Dienstklasse (0,3) 14 32 9 45<br />
Selbstständige (bis 9 Mitarbeiter) (0,8) 29 35 8 28<br />
Routinedienstleistungen (4) 28 32 12 24<br />
Facharbeiter (3) 34 37 10 16<br />
Un-/angelernte Arbeiter (7) 41 30 12 11<br />
( ) kleine Fallzahlen<br />
Obere Dienstklasse: führende Angestellte, höhere Beamte, freie akademische Berufe, Selbstständige ab 10 Mitarbeiter<br />
Untere Dienstklasse: mittlere und gehobene Angestellte und Beamte<br />
Abbildung 17.8: Schulbesuch von 15-jährigen im Jahr 2000 (in Prozent) 85<br />
te und braucht uns hier nicht mehr zu interessieren.<br />
Im Zuge dieser Reformstimmung spielte<br />
jedoch die Parole „Ausschöpfung <strong>der</strong> Bildungsreserven“<br />
eine in <strong>der</strong> „Westlichen Welt“ <strong>der</strong> Industriestaaten<br />
zugleich konjunkturell erwünschte<br />
und sozial-emanzipatorische Hauptrolle. In den<br />
Schulreformen schlug sie sich im beinahe unabdingbaren<br />
Gebot <strong>der</strong> „horizontalen Durchlässigkeit“<br />
nie<strong>der</strong>. Damit entstand ein starker Druck (zusätzlich<br />
zu standespolitischen Wünschen <strong>der</strong> Pädagogischen<br />
Hochschulen), die Volksschuldidaktik<br />
abzuschaffen und durch schultypspezifisch verdünnte,<br />
nun aber „wissenschaftliche“ (:= univer-<br />
sitäre) Gymnasialdidaktik zu ersetzen. 87 In den<br />
KMK-Empfehlungen von 1968 (Abb. 17.9) wurde<br />
horizontale Durchlässigkeit implizit zum Programm,<br />
und abgesehen von den damals modischen<br />
strukturmathematischen Themen schlug es<br />
seitdem auf alle Lehrpläne durch, auch – natürlich<br />
weiter ausgedünnt – auf den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
<strong>der</strong> Hauptschulen bis herunter zum Bürgerlichen<br />
Rechnen.<br />
Damerow [1977] hat sich ausführlich mit den<br />
„Empfehlungen und Richtlinien <strong>der</strong> KMK zur<br />
Mo<strong>der</strong>nisierung des <strong>Mathematik</strong>unterrichts“ von<br />
1968 auseinan<strong>der</strong> gesetzt. Die Integration <strong>der</strong><br />
87 Das Realschulwesen war ohnehin bei seiner erfolgreichen Traditionslinie geblieben, die handwerklich-technisch-kaufmännische<br />
Fertigkeitsorientierung eklektisch aus Real(ien)zielen <strong>der</strong> Höheren Schulen zusammenzustellen. (Vgl. etwa [Arbeitsgruppe Bildungsbericht<br />
am Max-Planck-Institut <strong>für</strong> Bildungsforschung, 1997, Kap. 10], sowie [Damerow, 1977, Kap. 2.6])<br />
124
Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />
Schullehrpläne <strong>für</strong> <strong>Mathematik</strong> habe damals als<br />
relativ unproblematisch gegolten: Bei den Stoffplänen<br />
bis Klasse 6 hätten zwischen den Schultypen<br />
ohnehin kaum Unterschiede bestanden, <strong>für</strong><br />
Realschulen und Gymnasien sogar bis einschließlich<br />
Klasse 10. „Mit dem Aufbau <strong>der</strong> Hauptschule<br />
[anstelle <strong>der</strong> alten Volksschule] wurde eine<br />
Entwicklung eingeleitet, durch die – zumindest<br />
in dem oberen Leistungskurs – <strong>der</strong> Stoffplan<br />
des <strong>Mathematik</strong>unterrichts <strong>der</strong> Hauptschule den<br />
Plänen von Realschule und Gymnasium weitgehend<br />
angeglichen wurde.“ 88 Das Ziel <strong>der</strong> „wissenschaftsorientierten<br />
Mo<strong>der</strong>nisierung des <strong>Mathematik</strong>unterrichts“<br />
(einschließlich <strong>der</strong> gehobenen akademischen<br />
Lehrerausbildung) habe aus Sicht <strong>der</strong><br />
KMK ohnehin als „Reformziel <strong>für</strong> alle Schularten“<br />
gegolten. Es war ja – wir erinnern uns – vom<br />
ökonomischen Ziel <strong>der</strong> „Ausschöpfung aller Bildungsreserven“<br />
getragen. Zudem gab es heftige<br />
Kämpfe um die Einführung von Gesamtschulen,<br />
um die „horizontale Durchlässigkeit des Schulsystems“<br />
aus sozialen Gründen zu erleichtern. Anhänger<br />
und Gegner des dreigliedrigen Schulsystems<br />
konnten sich so im Schlagwort von <strong>der</strong> anstehenden<br />
„Mo<strong>der</strong>nisierung durch Wissenschaftsorientierung“<br />
einigen. Für <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
und <strong>Mathematik</strong>didaktik erzeugte das geradezu<br />
kampflos ein bis heute gültiges Moratorium: „Auf<br />
Abbildung 17.9: Aus: KMK [1968]<br />
dieser Grundlage stellte sich die Integration <strong>der</strong><br />
Lehrpläne <strong>für</strong> die KMK vor allem als die Frage,<br />
welche Unterrichtsstoffe des Gymnasiums <strong>für</strong> die<br />
Realschule und <strong>für</strong> die Hauptschule nicht verbindlich<br />
sein sollten.“<br />
Dass die Parole von <strong>der</strong> horizontalen Durchlässigkeit<br />
unseres Schulsystems die Ausrichtung<br />
<strong>der</strong> Mittelstufenmathematik auf späteren Analysisunterricht<br />
in <strong>der</strong> Sekundarstufe II nicht ernsthaft<br />
rechtfertigt, zeigt die Grafik in Abb. 17.10.<br />
Sie überschätzt dabei die Übergangsquoten aus<br />
Haupt-, Real-, Gesamt- und Privatschulen in<br />
Gymnasien bzw. Gymnasialzweige, weil alle<br />
„Aufsteiger“ berücksichtigt sind.<br />
These 9. Funktionale Propädeutik des Analysisunterrichts<br />
wurde ausgerechnet in <strong>der</strong> Zeit, in <strong>der</strong><br />
er das elitäre Bildungsziel und damit seine nichtutilitären<br />
Begründungen verloren hatte, <strong>für</strong> den abstraktesten<br />
und damit unterrichtsmethodisch heikelsten<br />
Algebra-Teil des Mittelstufenprogramms<br />
aller Schultypen bestimmend. Dass manche Inhalte<br />
dieses Unterrichts fachlich nur als Analysispropädeutik<br />
gerechtfertigt sind, muss angesichts <strong>der</strong><br />
geringen Aufsteigerquoten in die gymnasiale Sek.<br />
II ungerecht, demotivierend und als notenrelevantes<br />
Wissenschaftsgehabe sozial destruktiv wirken.<br />
88 Dieses und das nächste Zitat aus [Damerow, 1977, S. 236 bzw. S. 238]. – Zum Begründungsverlust beim „Auskämmen“ <strong>der</strong> Gymnasialpläne<br />
<strong>für</strong> die Lehrpläne <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Schultypen vgl. auch [Damerow, 1977, S. 324], [Schupp, 1972] und [Buckschat, 1975].<br />
!<br />
125
Lutz Führer, Frankfurt<br />
Tab. 15<br />
15-Jährige, die innerhalb <strong>der</strong> Sekundarstufe I<br />
die Schulform gewechselt haben in % (2000)<br />
Kein<br />
Anteil <strong>der</strong><br />
Aufstiege an<br />
allen<br />
Wechsel Aufstieg Abstieg Wechseln<br />
Baden-Württemberg 90,2 2,9 6,9 29,6<br />
Hessen 79,6 5,2 15,3 25,4<br />
Nie<strong>der</strong>sachsen 89,2 1,1 9,8 10,1<br />
Nordrhein-Westfalen 86,2 1,6 12,1 11,7<br />
Rheinland-Pfalz 86,8 2,2 11,0 16,7<br />
Saarland 82,6 3,9 13,5 22,4<br />
Schleswig-Holstein 81,0 1,3 17,7 6,8<br />
Brandenburg 83,1 10,1 6,8 59,8<br />
Mecklenburg-Vorpommern 80,7 3,9 15,4 20,2<br />
Sachsen 85,6 5,2 9,2 36,1<br />
Sachsen-Anhalt 83,0 3,8 13,2 22,4<br />
Thüringen 81,4 5,1 13,6 27,3<br />
Deutschland 85,6 3,2 11,2 22,2<br />
Deutschland ohne Bayern, Berlin und Hamburg<br />
Baumert/Trautwein/Artelt 2003, S. 310 und eig. Berechnungen<br />
Abbildung 17.10: Aus [Bellenberg et al., 2004,<br />
S. 81]<br />
Von großem Interesse ist die Relation zwischen Aufstiegs- und<br />
Abstiegswahrscheinlichkeit. Sie gibt Auskunft darüber, wie viele Aufsteiger auf einen<br />
Absteiger kommen. Allerdings ist die Aussagekraft <strong>der</strong> Aufstiegs-Abstiegs-Relation<br />
Warum noch Analysisunterricht des 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts?<br />
begrenzt bzw. von an<strong>der</strong>en Faktoren abhängig. Die Basiswahrscheinlichkeiten des<br />
Schulerfolgs sind vom jeweiligen relativen Schulbesuch abhängig; ein Beispiel: Wenn<br />
ohnehin nur wenige, tendenziell beson<strong>der</strong>s leistungsstarke Schüler zum Gymnasium<br />
zugelassen werden, könnte die Rückläuferquote geringer sein als wenn viele,<br />
durchschnittlich nicht ganz so leistungsstarke Schüler diese Chance erhalten.<br />
Dadurch ist sowohl <strong>der</strong> Vergleich zwischen den Bundeslän<strong>der</strong>n als auch die<br />
Entwicklung innerhalb <strong>der</strong> Bundeslän<strong>der</strong> in Verbindung mit dem relativen<br />
Schulbesuch zu beurteilen.<br />
Die innerdeutsche PISA-Studie unterscheidet die Rückläuferquoten auch nach<br />
<br />
den Schulformen Gymnasium, Realschule und Gesamtschule hin zu Realschulen,<br />
Gesamtschulen und Hauptschulen erfasst. Wechsel zur Son<strong>der</strong>schule sind nicht<br />
berücksichtigt. Berücksichtigt sind Schülerinnen und Schüler, die im Laufe ihres<br />
Sekundarschulbesuchs auf die Realschule, Gesamtschule bzw. die Hauptschule<br />
!<br />
81<br />
Abbildung 17.11: Bildungsbarrieren: Fünf<br />
Schwellen <strong>der</strong> Bildungsbeteiligung <strong>2008</strong> 89<br />
These 10. Die wirksamste Funktion des heutigen<br />
Analysisunterrichts ist die einer etablierten<br />
Pflichthürde im ständisch gewachsenen Prüfungs-,<br />
Berechtigungs- und (Dis-) Qualifizierungswesens<br />
des Höheren Schulwesens. Soweit<br />
die übrigen Begründungen <strong>für</strong> Analysispflicht im<br />
Oberstufenunterricht während des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
verblasst sind, gilt: Analysisunterricht ist<br />
und bleibt Pflicht, weil es ihn gibt.<br />
3 Ein realistischer Ausweg <strong>für</strong> die<br />
Informationsgesellschaft?<br />
„Würde <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>der</strong> höheren<br />
Schulen sich auf die Elementarmathematik<br />
in dem eingangs erwähnten Sinne beschränken,<br />
dann ginge dieser Unterricht gerade<br />
an denjenigen Schöpfungen, Denkmitteln<br />
und Arbeitsmethoden vorüber, die <strong>für</strong><br />
die Neuzeit beson<strong>der</strong>s charakteristisch und<br />
ihr ureigenstes Produkt sind, und ohne die z.<br />
89 [Bundesministerium <strong>für</strong> Forschung und Wissenschaft, 2010, S. 88]<br />
126<br />
B. das heutige astronomische Weltbild in seiner<br />
feineren Ausgestaltung und die geistige<br />
und technische Naturbeherrschung von heute<br />
überhaupt nicht denkbar wären. Soll also<br />
<strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht an unseren höheren<br />
Schulen nicht nur eine Art geistiger<br />
Gymnastik sein, son<strong>der</strong>n soll er auch den<br />
Schülern einen klaren Einblick in das Wesen<br />
<strong>der</strong> heutigen Kulturbedeutung <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />
vermitteln, so kann er die wichtigste<br />
mathematische Schöpfung <strong>der</strong> Neuzeit,<br />
die Differential- und Integralrechnung nicht<br />
gänzlich beiseite lassen, son<strong>der</strong>n muss den<br />
Schüler wenigstens in ihre Anfangsgründe<br />
einführen.<br />
Noch ein zweiter Gesichtspunkt nötigt zu <strong>der</strong>selben<br />
Folgerung. Die Erfahrung lehrt, dass<br />
die große Mehrzahl <strong>der</strong> Schüler auch in reiferem<br />
Alter abstrakt logischen Betrachtungen<br />
nur schwer zugänglich ist. Wohl aber nehmen<br />
sie mit stärkstem Interesse alle Stoffe auf,<br />
bei denen sie von vornherein wissen, dass<br />
sie von hoher praktischer Bedeutung sind,<br />
dass man damit etwas anfangen kann, insbeson<strong>der</strong>e<br />
dann, wenn sie wissen, dass sie in<br />
den Stoff so weit eingeführt werden können,<br />
dass sie selbst etwas damit anfangen können.<br />
Deshalb ist zum mindesten <strong>der</strong> sicherste, bei<br />
vielen Schülern zweifellos sogar <strong>der</strong> einzige<br />
Weg, ihnen die <strong>Mathematik</strong> mit Erfolg nahe<br />
zu bringen, <strong>der</strong>, dass sie ihnen von <strong>der</strong> Seite<br />
<strong>der</strong> Anwendungen her dargeboten wird.“<br />
G. Lony [1929, S. 18f.]<br />
(Hervorhebungen vom Autor)<br />
„Einzelne Regeln ohne den Geist <strong>der</strong> Erziehung<br />
sind ein Wörterbuch ohne Sprachlehre<br />
. . .<br />
Wie viel besser wäre hier ein Lückenmacher<br />
als ein Lückenbüßer.“<br />
J. Paul, Vorwort von 1806<br />
[zit. n. Paul, 1909, S. 25 u. 27]<br />
3.1 Randbedingungen des heutigen<br />
Begründungsproblems<br />
Im vorigen Kapitel habe ich zum traditionellen<br />
Analysisunterricht je zehn methodische Akzente<br />
(A) und allgemeindidaktische Problembereiche<br />
mit gewissen Thesen (P&T) erörtert. In<br />
Abb. 17.12 gebe ich noch einmal eine Übersicht<br />
mit Stichworten in <strong>der</strong> Reihenfolge ihrer Abhandlung<br />
(dabei dienen die Nummern nur dem bequemen<br />
Rückbezug).<br />
Bei den Aspekten A1, A4, A6, P&T2, P&T6<br />
und P&T9 zum Thema „Anwendungsbezug“
Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />
A: didaktisch-methodische Akzente P&T: Problembereiche und Thesen<br />
1. Lebensweltbezug als Motivation Kulturarbeit als elitäre Bildungsaufgabe<br />
2. langfristige Funktionspropädeutik mathematisch-naturwissenschaftlich<br />
geprägte Allgemeinbildung?<br />
3. Anschaulichkeit und Gründlichkeit,<br />
notfalls auf Kosten <strong>der</strong> Vollständigkeit<br />
allgemeine Studierfähigkeit<br />
4. Anwendungsbezug als Vertiefung und<br />
Motivation<br />
Fertigkeitsprimat – Kalküldominanz<br />
5. Geschichtliche Bedeutung „strenge“ Funktionen von Anschaulichkeit und<br />
Plausibilitätsbetrachtungen<br />
6. lebendiger Unterricht durch<br />
Anwendungsorientierung?<br />
Anwendung – Anschauung – Experiment<br />
7. Zum Grenzwert hin! Funktionen als Konzentrationsprinzip und Stoff<br />
8. Stoffbeschränkung Schülerorientierung?<br />
9. Anschaulichkeit versus Strenge Zielgruppen des Funktions- und<br />
Analysisunterrichts<br />
10. Verständnis vor Fertigkeiten! systemische Funktion des Analysisunterrichts<br />
Abbildung 17.12: Methodische Akzente und allgemeindidaktische Problembereiche mit Thesen<br />
schwingt natürlich immer auch die pädagogische,<br />
schulpraktische und schulpolitische Einsicht<br />
P&T8 mit, schwächeren Schülern den Zugang zur<br />
Analysis und Lehrern das Unterrichten erleichtern<br />
zu müssen. Gleiches gilt <strong>für</strong> die Aspekte A3, A6,<br />
A9, P&T5 und P&T9 insofern sie das Bemühen<br />
um „Anschaulichkeit“ betreffen. Und dieses Bemühen<br />
stützt sich ja auch gern auf Anwendungsbezüge.<br />
Kein Zweifel, dass diese beiden Gesichtspunkte<br />
<strong>für</strong> den heutigen und <strong>für</strong> jeden künftigen<br />
Analysisunterricht unverzichtbare Verbündete<br />
sind.<br />
Es gibt jedoch mindestens drei Vorbehalte:<br />
⊲ Zum einen ist Anwendungsbezug belanglos,<br />
wenn er nicht mit paradigmatischen Beispielen<br />
und Begriffsbildungen „orientierend“ wirkt.<br />
⊲ Zum zweiten wäre „Anschauungsorientierung“<br />
gewiss kein guter Ratgeber. So etwas ist auch<br />
meines Wissens nie <strong>für</strong> die Sekundarstufenmathematik<br />
vorgeschlagen worden.<br />
⊲ Zum dritten würde einer Einführung in die<br />
Analysis, die mit virtuoser Unterrichtsmethodik<br />
und viel Anschaulichkeit im Inhaltlichen nur<br />
auf Anwendungsorientierung zielte, etwas sehr<br />
Wesentliches entgehen, nämlich <strong>der</strong> vielleicht<br />
einzige heute noch tragfähige Rechtfertigungsgrund<br />
<strong>für</strong> allgemeine Pflichtbindung: Analysis<br />
generalisiert und strukturiert Modelle. Das<br />
ist ihr fachübergreifend kommunikativer Charakter<br />
und macht ihre pragmatische Leistungsfähigkeit<br />
aus, ihre überfachliche Wirksamkeit,<br />
Reichweite und Bedeutung. Überlässt man das<br />
<strong>der</strong> Hochschule, dann reduziert sich die schulische<br />
Funktion des Analysisunterrichts auf ein<br />
„Teaching to the Test“, dessen Sinn und Nutzen<br />
bestenfalls ein Viertel <strong>der</strong> Betroffenen je erleben<br />
werden.<br />
Ob Analysisunterricht mehr bedeutet als Fertigkeitstraining<br />
<strong>für</strong> „kompetenzorientierte“ Hürdenläufe<br />
vor dem höheren Arbeitsmarkt hängt im Wesentlichen<br />
davon ab, wie viel dieser Unterricht<br />
an Bedeutung und an Standardmethodik zu <strong>der</strong>en<br />
Gewinnung über die Fachgrenzen hinaus lehren<br />
kann – o<strong>der</strong> wenigstens lehren will. Diese Frage<br />
nach zeitgemäßem Sinn des Analysisunterrichts<br />
jenseits seines Funktionierens im (dis-) qualifizierenden<br />
Bildungssystem 90 kann schon deswegen<br />
nicht ausgesessen werden, weil inzwischen die<br />
Mittelstufen aller Schultypen von (Rudimenten)<br />
<strong>der</strong> Funktionenlehre „wie mit einem Ferment“<br />
durchdrungen sind, hauptsächlich um einen Analysisunterricht<br />
vorzubereiten, den von drei Schülern<br />
nur einer je zu sehen bekommt und den von<br />
drei „Sehenden“ nur einer später brauchen wird<br />
(A2). 91 Lehrer und Schüler leiden unter Sinnentleerung,<br />
und das schadet am Ende <strong>der</strong> ganzen<br />
90 Um nur zwei Beispiele zu nennen: proportionale Funktionen statt Dreisatz und quadratische Algebra statt robuster Näherungsmethoden.<br />
– Der Kollege K. P. Wolff schlug kürzlich <strong>für</strong> die <strong>Mathematik</strong>didaktik <strong>der</strong> heutigen Hauptschulen die drastische Bezeichnung<br />
„Soda-<strong>Didaktik</strong>“ vor – in Anlehnung an die sog. „Soda-Brücken“, die als Denkmäler aufgegebener Autobahnbauten vielerorts herumstehen<br />
und „einfach so da sind“. (Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Soda-Brücke) Die motivatorisch-disziplinarischen<br />
Schäden sind erheblich.<br />
91 Die vermeintlichen künftigen Denker und Lenker in den Oberstufen <strong>der</strong> Höheren Schulen, um <strong>der</strong>en mo<strong>der</strong>nere Aus-/Bildung<br />
die Meraner Reformer sich sorgten, machten damals etwa 2%, höchstens 5% <strong>der</strong> entsprechenden Altersjährgänge aus (s. Abb. 17.6).<br />
Heute geht es – regional sehr unterschiedlich – um 30% bis über 50%, von denen weniger als die Hälfte überhaupt studieren, während<br />
etwa ein Drittel <strong>der</strong> Studierenden „harte <strong>Mathematik</strong>“ incl. Analysis braucht, ein weiteres Drittel „weiche <strong>Mathematik</strong>“ wie<br />
Spezialmethoden und handwerkliche Statistik (s. Abb. 17.7).<br />
127
Lutz Führer, Frankfurt<br />
<strong>Gesellschaft</strong>. Das Sinnproblem <strong>für</strong> den heutigen<br />
und künftigen Analysisunterricht muss dringend<br />
gelöst werden, weil dieser Unterricht erhebliche,<br />
prüfungstechnisch sogar dominante Teile des gesamten<br />
<strong>Mathematik</strong>unterrichts <strong>der</strong> Sekundarstufen<br />
direkt o<strong>der</strong> indirekt trägt.<br />
Dass es keine einfache und plötzlich wirksame<br />
Lösung geben dürfte, stand zu erwarten.<br />
Aber es mag helfen, einige <strong>der</strong> notwendig zu beachtenden<br />
Randbedingungen zu klären. So habe<br />
ich begründet, warum Kalküleuphorie (P&T4)<br />
zur Natur unseres Schulsystems gehört, vermutlich<br />
auch viel Aufgabendidaktik und sachkompetent<br />
flankieren<strong>der</strong> Frontalunterricht zur sinngerechten<br />
Begegnung mit Analysis. Und ich habe<br />
erklärt, warum ich glaube, dass fachwissenschaftliche<br />
Strenge (A3, A9), Vertiefung <strong>der</strong> Analysis<br />
aus Anwendungsbezügen (A4, P&T6), geschichtliche<br />
Bedeutungsklärungen (A5) und ernsthafte<br />
Infinitesimalprobleme (A7) heute nicht mehr<br />
weit tragen können. Erst recht verfehlen hochgesteckte<br />
Bildungsziele wie Aufklärung über aktuelle<br />
Kulturarbeit (P&T1) o<strong>der</strong> mathematischnaturwissenschaftlich<br />
akzentuierte Allgemeinbildung<br />
(P&T2) die heutige Schulsituation und Bildungspolitik,<br />
weil sie nur <strong>für</strong> einen kleinen Teil<br />
<strong>der</strong> Jugend gedacht und im Rahmen von bildungsbürgerlicher<br />
Elitebildung gerechtfertigt waren. –<br />
Bei aller Anerkennung <strong>der</strong> Schwierigkeit, allgemeinbildenden<br />
Analysisunterricht mit seinen unvermeidlichen<br />
Rückwirkungen auf alle Mittelstufen<br />
neu zu entwickeln und zu rechtfertigen, ist<br />
noch keinesfalls zugestanden, das Erkenntnismethodische<br />
im Sinne Toeplitz’ o<strong>der</strong> Freudenthals<br />
zugunsten affirmativer Unterrichtsmethodik und<br />
(Dis-) Qualifikationsverwaltung zu marginalisieren,<br />
und werde das auch noch so schülerfreundlich<br />
kaschiert und verbal aufgehübscht. 92<br />
Was ist im Rahmen des heutigen Schulsystems<br />
an Erneuerung möglich, ohne wie<strong>der</strong> fünfzig<br />
Jahre auf eine Richertsche Reform und noch<br />
einmal fünfzig Jahre auf die Säkularisierung eines<br />
ökonomisch-demokratischen Aufbruchs zu warten?<br />
3.2 Skizze einer Lösung durch<br />
Schwerpunkteverlagerung<br />
Der überkommene Analysisunterricht steckt in einer<br />
Sinnkrise. Folgerichtig sind die Pflichtbindungen<br />
an diesen Unterricht in <strong>der</strong> Oberstufe<br />
und an diesbzgl. Propädeutik in allen Mittelstufen<br />
schwach legitimiert. Will o<strong>der</strong> kann man den Ana-<br />
lysisunterricht nicht zur unverbindlichen Wahlveranstaltung<br />
schrumpfen lassen, dann muss er einen<br />
an<strong>der</strong>en Sinn bekommen als vor hun<strong>der</strong>t Jahren.<br />
Hier mein Vorschlag:<br />
1. Im Schulrahmen soll Analysis von Kurvenkonstruktionen<br />
ausgehen und zum Studium von<br />
Datendynamik führen.<br />
2. In den Mittelstufen werden Funktionen vorwiegend<br />
unter Erkenntnisinteressen <strong>der</strong> Beschreibenden<br />
Statistik <strong>für</strong> bedeutungshaltige<br />
Daten aus <strong>der</strong> Realwelt, die sich vorwiegend<br />
außerhalb <strong>der</strong> Schule abspielt, entwickelt, kritisch<br />
gewürdigt und in ihrer Bedeutung gewichtet.<br />
93<br />
3. In <strong>der</strong> Oberstufe wird das mit wissenschaftsorientiertem<br />
Anspruch fortgesetzt. Beim Studium<br />
echter statistischer, auch experimentell gewonnener<br />
Realdaten werden zunehmend Funktionsmodelle<br />
mit hypothetischen Modellannahmen<br />
dynamisiert, als Wirkungen gedeutet und<br />
auf ihre Erklärungsqualität hin diskutiert (Einund<br />
Abschätzung „unerklärter Residuen“).<br />
Dies könnte, so bin ich überzeugt, dem künftigen<br />
Analysisunterricht – über die heutige Propädeutik<br />
<strong>für</strong> einen Teil <strong>der</strong> Hochschulfächer hinaus<br />
– einen schuleigenen Gesamtsinn geben, d.<br />
h. eine <strong>für</strong> alle Schüler durchgängig verbindliche<br />
Leitidee, die aus guten Gründen den gesamten<br />
Algebra- und Stochastik-Unterricht bei<strong>der</strong> Sekundarstufen<br />
„wie ein Ferment durchdringen“ und<br />
als Konzentrationsprinzip Beiläufiges verdrängen<br />
dürfte. Das Leitmotiv, bessere Modelle zur Beschreibung<br />
wichtiger Datenzusammenhänge entwickeln<br />
zu wollen, ist – natürlich mit angemessenen<br />
Rücksichtnahmen – <strong>für</strong> alle Schultypen vertretbar:<br />
Daten sind überall, und Dateninterpretationen,<br />
die unser persönliches Leben mitbestimmen,<br />
steuern o<strong>der</strong> steuern sollen, haben längst<br />
die Hauptrolle bei <strong>der</strong> Begründung von eigenen<br />
und fremden Entscheidungen mit größeren Folgen<br />
übernommen. 94<br />
Mehr als eine Skizze, wie ich mir eine Realisierung<br />
im bestehenden Schulsystem und in endlicher<br />
Zeit vorstelle, kann und will ich nicht geben.<br />
Ich kann es nicht, weil es passend zu dieser<br />
Programmskizze schon viele gute alte und neue<br />
Ideen gibt – so auch in diesem Tagungsbericht<br />
–, die ich hier nicht angemessen würdigen und<br />
zugleich curricular einbinden könnte. All das bedürfte<br />
gemeinsamer Anstrengungen vieler, um das<br />
Vorhandene – zieloptimiert und repräsentativ – zu<br />
fusionieren, polititikgerecht zu ver„dichten“ und<br />
92 Um die Gefahr an einem <strong>der</strong>zeit beson<strong>der</strong>s prominenten Fall zu erläutern: Die meisten <strong>der</strong> Analysis-Beispiele aus <strong>der</strong> aktuellen<br />
Methoden-Bibel [Barzel et al., 2007], s. Fußnote 80, taugen als Beleg <strong>für</strong> die Verselbstständigung motivieren<strong>der</strong> Showeffekte<br />
„<strong>für</strong>“ Schüler und bildungspolitisch opportuner Performanzkünste „<strong>für</strong>“ Lehrer, beides um rezeptives Einüben isolierter, wenn auch<br />
vielleicht prüfungsrelevanter Belanglosigkeiten zu kaschieren.<br />
93 In <strong>der</strong> Sek. I wird es sich vorwiegend um bivariate Daten handeln müssen. Aber auch sachlich gehaltvolle dreidimensionale<br />
Datenwolken lassen sich mit ebenen Zusammenhangsgraphen „perspektivisch“ deuten.<br />
94 Vgl. etwa [Ullmann, <strong>2008</strong>].<br />
128
Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />
in Wechselwirkung <strong>für</strong> den Alltag methodisch zu<br />
sequenzieren. Ich möchte auch keineswegs den<br />
Eindruck erwecken, ich glaubte an eine Patentlösung<br />
aller zuvor dargestellten Probleme, denen<br />
sich heute Unterricht in Schul- und Hochschulbetrieb,<br />
Traditionsgerangel, Besitzstandswahrung,<br />
Finanz-, Sozial-, Bildungspolitik u.v.a.m. zu unterwerfen<br />
hat. Ich bin allerdings überzeugt, dass<br />
uns die heutige Informations- und Datenverarbeitungstechnik<br />
erstmals und endlich in die Lage<br />
versetzt, Schulanalysis als Erkenntnis- und Denkwerkzeug<br />
eigenen Rechts zu reanimieren.<br />
Warum „Kurvenkonstruktion“ als Einstieg?<br />
Die Antwort liegt nahe: Im Gegensatz zur Kurvendiskussion<br />
und ihrem heimlichen Vorspann<br />
in <strong>der</strong> Funktionenlehre <strong>der</strong> Mittelstufen sollten<br />
Funktionen – an Allgemeinbildenden Schulen,<br />
wie im Folgenden immer einschränkend vorausgesetzt<br />
sei – nicht als „irgendwie“ vorgefundene<br />
Erkenntnis- o<strong>der</strong> Umgangsobjekte hingestellt<br />
werden, son<strong>der</strong>n als Instrumente <strong>für</strong> „funktionale“<br />
Modellkonstruktionen. Stichworte dazu:<br />
Daten„gestalten“ (Beschreibung, Entwürfe,<br />
stückweise Konstruktion), Bestandsentwicklungen,<br />
Zusammenhangsgraphen, Faustregeln, Glättungen<br />
(z. B. durch gleitende Mittelwerte), Ausgleichskurven,<br />
Natur„gesetze“, Approximationen,<br />
Regressionskurven, Interpolationen . . . 95 Es geht<br />
um Gedankenmodelle, entwickelt in ernsthaften<br />
Kontexten, um Datenmaterial zu Verständnis-,<br />
Beurteilungs- o<strong>der</strong> Prognosezwecken zu ordnen.<br />
Gedankenmodelle sind nicht falsch o<strong>der</strong> richtig<br />
wie Kurvendiskussionen, son<strong>der</strong>n besser o<strong>der</strong><br />
schlechter als an<strong>der</strong>e Modelle. Ihre Funktionalität<br />
misst sich an Zwecken, nicht an Vorgaben<br />
– „<strong>der</strong>“ Wissenschaft, „<strong>der</strong>“ Kultur, des Kaisers<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Testindustrie. Zwecke sind nicht wertfrei,<br />
son<strong>der</strong>n begründ-, diskutier- und kritisierbar.<br />
Das könnte sogar eine mo<strong>der</strong>ne Sichtweise<br />
„funktionaler“ Erziehung hergeben, „Gewohnheit<br />
funktionalen Denkens“ im vielleicht ursprünglichsten<br />
Sinne – jetzt aber: an Stelle <strong>der</strong> ständischen<br />
Erziehung von vor hun<strong>der</strong>t Jahren, die unterschwellig<br />
zum Funktionieren und zum Bewun<strong>der</strong>n<br />
von„Natur“-Gesetzen erziehen wollte. Generell<br />
bieten sich deshalb auch im stärker psychogenetisch<br />
experimentell-konstruktiv angelegten Zugang<br />
zur Analysis und „zum Grenzwert hin“ eher<br />
sinnvolle Gelegenheiten zu schülerzentrierten Unterrichtsformen<br />
als im klassischen Analysisprogramm.<br />
Sie sind hier sogar erfor<strong>der</strong>lich, weil <strong>für</strong><br />
die Fachmethodik <strong>der</strong> Modellkreisläufe sinnstiftend.<br />
Warum die Funktionenlehre von vornherein<br />
auf Erkenntnisinteressen <strong>der</strong> Beschreibenden Sta-<br />
tistik stützen? Einiges habe ich oben schon gesagt.<br />
Eine Überlegung Freudenthals soll das noch einmal<br />
unterstreichen und vertiefen: 96<br />
„Noch weniger als an<strong>der</strong>e Gebiete soll die<br />
Analysis als eine Struktur behandelt werden, die<br />
ehr<strong>für</strong>chtiges Staunen erweckt, und noch mehr als<br />
an<strong>der</strong>e als ein Werkzeug, das die, die es zu hantieren<br />
lernen, dringend nötig haben und hantieren<br />
können, wenn sie es müssen. Dazu ist dann etwas<br />
an<strong>der</strong>es erfor<strong>der</strong>lich, als dass man wohlgebildete<br />
sprachliche Ausdrücke kennt, die definieren was<br />
eine offene Menge, ein Limes, ein Differentialquotient<br />
und ein Integral ist; man muss vielmehr<br />
solche Begriffe geometrisch und numerisch erlebt<br />
haben, auch wenn man sie gerade nicht in eine<br />
über jeden Einwand erhabene Definition fassen<br />
kann . . . Ich hörte einmal einen mit viel Begeisterung<br />
den Satz verteidigen, man müsse den Differentialquotienten<br />
als Geschwindigkeit einführen;<br />
er war stolz auf die Wirklichkeitsnähe dieses Ansatzes.<br />
Doch war er viel weniger wirklichkeitsnahe,<br />
als er glaubte; er sah die Wirklichkeit nur<br />
durch einen schmalen Spalt, und unter den Spalten<br />
ist <strong>der</strong> eine kaum breiter als <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e. Es<br />
hilft auch nichts, wenn man den Lernenden durch<br />
viele Spalte schauen lässt; er wird ja so nur erzogen,<br />
durch Spalte zu sehen. Warum soll man den<br />
Angriff in breiter Front, <strong>der</strong> sich im Rechnen als<br />
erfolgreich erwiesen hat, nicht auch hier vollziehen,<br />
wo man sich wie<strong>der</strong> so nahe an <strong>der</strong> Realität<br />
befindet? Was Differentialquotient und Integral einer<br />
Funktion bedeuten, hängt ganz davon ab, was<br />
die Funktion selber bedeutet, und das kann sehr<br />
vieles sein.“<br />
Daran schließt Freudenthal sofort einen Abschnitt<br />
mit <strong>der</strong> Überschrift „Der numerische Anlauf“<br />
an und beginnt ihn mit den Worten: „Die<br />
Funktion kann erst einmal numerisch, etwa als Tabelle<br />
gegeben sein. Man kann zu ihr die Differenzen<br />
bilden, ein etwa bei Interpolationen sinnvoller<br />
Prozess . . . “ Und dann schlägt er vor, die<br />
Maschenweite zu thematisieren, um sich – vorerst<br />
– schließlich durch Grenzübergang [zu Trends]<br />
von ihr zu befreien. Die Ausgangstabelle könne<br />
dann selbst aus <strong>der</strong> o<strong>der</strong> irgendeiner abgeleiteten<br />
[mittels gesammelter Trendeffekte] rekonstruiert<br />
werden. „Um diese Prozeduren zu demonstrieren,<br />
wähle man geeignete Tabellen, Logarithmen,<br />
Quadrate, Sinus, um interessante Gesetzmäßigkeiten<br />
zu entdecken, aber auch Funktionen,<br />
wie sie gerade einem konkreten Problem<br />
entspringen, eignen sich, wenn das Problem die<br />
Differentialquotient- o<strong>der</strong> Integralbildung erfor<strong>der</strong>t.<br />
Es versteht sich, dass Aufgaben dieser Art<br />
wirklich und nicht nur fingiert numerisch durch-<br />
95 Eine ausführliche Darstellung des Modellbildens von Daten her gibt (<strong>für</strong> die Lehrerausbildung) [Engel, <strong>2009</strong>]. Seine zahlreichen<br />
Beispiele stammen vorzugsweise aus den Naturwissenschaften.<br />
96 [Freudenthal, 1973b, S. 470 f.]<br />
129
Lutz Führer, Frankfurt<br />
geführt werden sollen. Mindestens eine Handrechenmaschine<br />
ist dazu erfor<strong>der</strong>lich, aber ausführlichere<br />
Tabellen-Konstruktionen sollten lieber mit<br />
Rechenanlagen ausgeführt werden . . . “<br />
Freudenthals Ausführungen sind ausdrücklich<br />
dem Analysisunterricht gewidmet und stehen weit<br />
hinten in seinem fachmethodischen Klassiker. Er<br />
würde es mir gewiss nicht verübeln, dass ich<br />
dem temperamentvollen und überzeugenden Einstieg<br />
in die Welt <strong>der</strong> Wertetabellen mit zwei ernsten<br />
Vorbehalten begegne: Freudenthal setzt stillschweigend<br />
voraus, und das passt ja durchaus<br />
auch zum eigentlichen Thema in seinem Buch,<br />
dass wir auf <strong>der</strong> Oberstufe einsteigen und dass<br />
es dort nur um <strong>Mathematik</strong> zu gehen habe. Aber<br />
so ist es ja im realen <strong>Mathematik</strong>unterricht nicht<br />
gleich und sofort, und auch nicht überwiegend.<br />
Lange vor je<strong>der</strong> Annäherung an Differentialquotienten<br />
und Interpolationen 97 werden häppchenweise<br />
Proportionalitäten eingeführt, und quadratische<br />
Funktionen, und Wurzelfunktionen, trigonometrische<br />
Funktionen, vielleicht auch schon „Potenzfunktionen“<br />
und exponentielles o<strong>der</strong> gar logarithmisches<br />
Wachstum. Und jedes Mal fällt es schwerer,<br />
„den“ Schülern, wenigstens den wohlwollenden<br />
„guten“, das Gefühl zu vermitteln, dass es sie<br />
mehr anginge als die nächste Klassenarbeit.<br />
Dass die Funktionspropädeutik die späteren<br />
Nichtabiturienten und von den späteren Abiturienten<br />
die späteren Nichtstudierenden und die akademischen<br />
<strong>Mathematik</strong>abstinenzler etwas angeht,<br />
muss schon mit den ersten Annäherungen glaubhaft<br />
werden. Dass proportionale Funktionen das<br />
rechte Mittel seien, mit Dreisatz- o<strong>der</strong> Prozentaufgaben<br />
im Alltag klarzukommen, glauben we<strong>der</strong><br />
aufgeweckte Schüler noch erfahrenere Lehrer<br />
98 , und Optiker, Landvermesser, Tontechniker<br />
o<strong>der</strong> Ozeanographen wollen immer nur wenige<br />
werden. Daten mit Belang, vielleicht gar von aktuellem<br />
Interesse, fallen überall an, unabhängig vom<br />
Alter und vom Sozialstatus <strong>der</strong> Zeitungsleser o<strong>der</strong><br />
Surfer. Da braucht Überblick, wer gewaltfrei einschätzen,<br />
mitreden, planen, beeinflussen, wählen,<br />
. . . will o<strong>der</strong> muss. Wohlfeile Ansichten liefern<br />
zwar die Medien pausenlos ins Haus, aber da sprechen<br />
nicht die Daten selbst, und auch nicht unbedingt<br />
die berechtigten Interessen <strong>der</strong> Rezipienten<br />
. . . 99<br />
Funktionen beschreiben Zusammenhänge;<br />
punktweise Zuordnungen sind Mittel da<strong>für</strong>, nicht<br />
Zweck. Schüler sollen das vielfältig „nacherfinden,<br />
unter mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> deutlicher Führung“,<br />
wie es Freudenthal ausgedrückt hat. 100 Aber sie<br />
müssen lernen, dass es ernste Arbeit ist, und keine<br />
Spielerei, auch wenn es Spaß machen sollte.<br />
Deshalb braucht es gewichtige Einstiege und fortwährende<br />
Betonung von Modellkreisläufen an<br />
offensichtlich relevanten Realdaten, sei es aus <strong>der</strong><br />
Armutsstatistik, aus <strong>der</strong> Bildungsbeteiligung, aus<br />
<strong>der</strong> Ökologie, aus dem Versicherungswesen, aus<br />
öffentlichen Haushalten, aus <strong>der</strong> Kreditwirtschaft,<br />
aus <strong>der</strong> Marktforschung und auch aus den Laboren<br />
<strong>der</strong> Techniker, Naturwissenschaftler, Psychologen,<br />
Ökonomen, Großstatistiker. 101 Nur <strong>für</strong> Routinetraining,<br />
Detailillustrationen o<strong>der</strong> Zusatzaspekte<br />
sind Fertigkeitsübungen an Rechenaufgaben<br />
o<strong>der</strong> „weichen“ Meinungsumfragen recht, denn<br />
sie dürfen keinesfalls die ernsthafteren Bildungsund<br />
Erziehungszwecke verharmlosen, marginalisieren<br />
o<strong>der</strong> gar konterkarieren. Diese Zwecke,<br />
hypothetische Übersichten, differenzierte Urteile<br />
und vorsichtige Prognosen aus Beobachtetem zu<br />
gewinnen, müssen hinter dem alltäglichen Unterricht<br />
als Legitimatoren sichtbar bleiben, weil datenorientierter<br />
Unterricht den Schülern relevanten<br />
Sachbezug ihrer Urteile zumutet, sie im Beobachten,<br />
Beschreiben und Argumentieren schult, und<br />
weil er die Kopplung von Variablen als Hineinlesen<br />
von Kausalbeziehungen darstellt, ohne das<br />
Streuen von Realdaten zu kaschieren.<br />
Dabei wird es auf den Mittelstufen überwiegend<br />
sein Bewenden mit ad-hoc-Prognosen<br />
und „empirischen Gesetzen“ aus Technik und<br />
Sciences haben müssen. In <strong>der</strong> Oberstufe erlauben<br />
jedoch Auf- und Ableitungen theoretische<br />
Unterbauten <strong>für</strong> Funktionsmodelle. In Verbindung<br />
mit Vor- und Parallelarbeiten an<strong>der</strong>er<br />
Schulfächer werden sich allmählich und schon<br />
überwiegend auf <strong>der</strong> Sekundarstufe II dynamische<br />
Deutungen einiger Funktionsmodelle anbieten.<br />
Das bedeutet: über die „möglichst guten“<br />
(:= gut approximierenden) Beschreibungen<br />
vermeintlicher Datenzusammenhänge hinaus, auf<br />
denkbare Ursachen <strong>für</strong> nichttriviale Kurvenver-<br />
97 Die Logarithmentafeln und Rechenschieber sind ja längst entsorgt.<br />
98 Vgl. etwa die einschlägigen Befunde von Andelfinger [1981] und Meißner [1982].<br />
99 Ein drastisches Beispiel findet sich in [Ullmann, 2010]. – Zur didaktischen For<strong>der</strong>ung nach Betonung <strong>der</strong> Deskriptiven Statistik<br />
in <strong>der</strong> Sekundarstufe I verweise ich gerne auf das Thesenpapier des Arbeitskreis Stochastik in <strong>der</strong> GDM [2002], auch wenn dort<br />
noch zu diplomatisch bescheiden formuliert werden musste. Meines Erachtens gibt es in <strong>der</strong> heutigen Informationsgesellschaft kein<br />
wichtigeres Gebiet <strong>der</strong> Schulmathematik, wenn sie allen Bürgern zu Aufklärung und demokratischer Mündigkeit im Kantschen Geiste<br />
helfen soll. Allerdings kann man auch diesen Ansatz sehr leicht schul- und bildungbürokratisch sterilisieren. Darauf komme ich am<br />
Ende dieses Aufsatzes zurück.<br />
100 [Freudenthal, 1973a, Kap. 5/6 sowie S. 151.]<br />
101 Sehr viele Anregungen bringen [Eichler & Vogel, <strong>2009</strong>] und [Engel, <strong>2009</strong>]. – Für den Unterricht wäre es hilfreich, über einen<br />
Pool Links zu laufend aktualisierten schulrelevanten Datensammlungen zu verfügen, insbeson<strong>der</strong>e aus <strong>der</strong> Sozialstatistik und am besten<br />
auch mit Diskussionsvorschlägen <strong>für</strong> den Unterricht. Die öffentlichen Datenbanken wie destatis.de, de.statista.com, Deutsches<br />
Studentenwerk, Angebote von Ministerien, Presse, Verbänden und Parteien usw. erfor<strong>der</strong>n immer noch viel Auswahlarbeit und Spezialistenwissen.<br />
130
Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />
läufe mithilfe von „Trend“beeinflussungen und<br />
Gesamteffekten zu sprechen kommen (Beschleunigung,<br />
Grenzkosten, Steuerprogression, Wachstum/Verfall,<br />
Schwingungsdämpfung/Modulation,<br />
Wirtschaftszyklen usw.). Von hypothetischen,<br />
vielleicht zunächst eher globalen „Gestaltungskräften“<br />
<strong>für</strong> Beschreibungsmodelle (dynamische<br />
Theoriemodelle) würden sich dabei gewiss ganz<br />
zwanglos verfeinerte Betrachtungen <strong>der</strong> lokalen<br />
Bedeutung von Trends (benachbarte Ableitungen)<br />
aufdrängen, die schließlich – zum Grenzwert hin!<br />
– in <strong>der</strong>en (infinitesimaler!) Grenzbedeutung erfasst<br />
werden könnten.<br />
Freudenthal schil<strong>der</strong>t denn auch nach dem<br />
numerischen Anlauf in bunter Folge graphische<br />
Zugänge, Geschwindigkeiten, Dichten, Gradienten,<br />
Kapazitäten, Fachwerke und Getriebe, Kraftfel<strong>der</strong>,<br />
Größenordnungen, Differentiale [Trends]<br />
. . . 102 Unsere computergraphischen Möglichkeiten<br />
bieten inzwischen schmerzlosere Übergänge<br />
mit Splines, grafischen Ab- und Aufleitungen und<br />
vielleicht sogar mit funktionalen Strukturlinien in<br />
Richtungsfel<strong>der</strong>n (vgl. Abb. 17.14).<br />
Differential- und Integralrechnung wären<br />
technisch, wissenschaftlich und epistemologisch<br />
belanglos, wenn sie nur lokal linearisierten o<strong>der</strong><br />
global aufsummierten. Dass sie es ernsthaft und<br />
machtvoll tun, liegt daran, dass sie immer auch die<br />
bewusst riskierten Fehler im Auge behalten und<br />
notfalls streng abschätzen (Restglied, Einschließung<br />
des Funktionsgraphen in Parallelstreifen 103 ,<br />
Konvergenzgeschwindigkeit, Robustheit des Verfahrens<br />
usw.). Analysis ist keine Erfindung von<br />
Anfängern. Das muss man Schülern gewiss nicht<br />
in den Weg stellen, aber man sollte sie auch darüber<br />
nicht täuschen. Und es ist inzwischen dank<br />
<strong>der</strong> Neuen Medien auch auf den Mittelstufen unnötig.<br />
Der zitierte Freudenthal-Text war 1973 erschienen,<br />
bevor noch Taschenrechner verbreitet<br />
waren, erst recht PCs. „Wirkliche und nicht nur<br />
numerisch fingierte Durchführungen“ waren noch<br />
<strong>für</strong> die Schule unerreichbar, so auch ernsthafte<br />
Streuungsberechnungen und Residuenanalysen.<br />
Das ist heute ganz an<strong>der</strong>s: Wir können fingierte<br />
und sogar reale Datenmassen problemlos im Klassenzimmer<br />
erzeugen o<strong>der</strong> abrufen, wir können<br />
sogar mäßige Mittelstufenschüler ein paar Stunden<br />
lang motivieren, eine Datenwolke algebraisch<br />
nach Lust und Laune von einem kostenlosen<br />
TKP o<strong>der</strong> CAS misshandeln zu lassen. Wir können,<br />
sollten und dürfen ihnen aber auch mit guten<br />
Gründen mehr zumuten: eine zeitgemäße Erziehung<br />
zur Datenbeschreibung und Residuen- bzw.<br />
Fehleranalyse.<br />
Das alles bleibt freilich solange zusammenhanglos<br />
und eklektisch wie kein leiten<strong>der</strong> Gesichtspunkt<br />
die einzelnen Untersuchungen motiviert<br />
und legitimiert. Mit Respekt vor den Erkenntnisinteressen<br />
<strong>der</strong> Grün<strong>der</strong>väter im 17. und<br />
18. Jahrhun<strong>der</strong>t und vor <strong>der</strong> anschließenden sowohl<br />
wissenschaftlichen als auch kulturellen Erfolgsgeschichte<br />
schlage ich vor, das Trägheitsprinzip<br />
in informell säkularisierter Form zum leitenden<br />
Gesichtspunkt theoretischer „Dynamisierung“<br />
von Datenmodellen zu machen:<br />
Wo keine Kräfte wirken<br />
geht alles im gleichen Trott weiter.<br />
Abbildung 17.15: Grafik von http://www.faz.<br />
net/ (Strizz vom 24.01.<strong>2009</strong>) mit freundlicher<br />
Genehmigung des Künstlers Volker Reiche.<br />
Die zentrale Botschaft hinter dem eigentlichen<br />
Analysisunterricht wäre demgemäß – frei<br />
nach Newton, aber über alle quantitativ arbeitenden<br />
Fächer und Gebiete hinweg: Was wir über<br />
Datenpunkte hinaus sicher beobachten o<strong>der</strong> messen<br />
können, sind in aller Regel „nur“ Trends. Deren<br />
Verän<strong>der</strong>ung(en) können wir modellhaft als<br />
Wirkungen gedachter Maßnahmen o<strong>der</strong> „Kräfte“<br />
deuten, um aus „dynamisierten Modellen“ Handlungsempfehlungen<br />
o<strong>der</strong> Prognosen zu gewinnen.<br />
Funktionen sind mit ihren Auf- o<strong>der</strong> Ableitungen<br />
da<strong>für</strong> geeignete Werkzeuge. Der wissenschaftliche<br />
Wert <strong>der</strong> Analysis <strong>für</strong> die Sciences steckt in<br />
genau diesem Gedanken. Auf <strong>der</strong> Hochschule mögen<br />
daraus dann allgemeine Techniken werden,<br />
<strong>für</strong> Funktionalgleichungen, Differential- und Integralgleichungen<br />
u.v.A.m. Für die Schule ist etwas<br />
an<strong>der</strong>es wichtiger: Funktionen sind Bausteine von<br />
Modellen, die zu Klärungen <strong>der</strong> wirklichen Welt<br />
helfen sollen.<br />
102 Viele Anregungen bekommt man aus [Engel, <strong>2009</strong>] und aus einer Tabelle von Blum & Toerner [1983, S. 92], zu verschiedenen<br />
Bedeutungen <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ungsraten in Anwen<strong>der</strong>kontexten beson<strong>der</strong>s wenn man sie von rechts nach links interpretiert, also von den<br />
Ableitungen o<strong>der</strong> (Funktions-) Werten her.<br />
103 Cauchy-Integral! (Approximation mit stückweisen Näherungsfunktionen unter gleichmäßiger Konvergenz.)<br />
131<br />
!
Lutz Führer, Frankfurt<br />
Abbildung 17.13: Summierungen und Trendän<strong>der</strong>ungen – (fast) infinitesimal<br />
Abbildung 17.14: Graphische Integration einer konkreten Differentialgleichung [von Sanden, 1914, S. 162]<br />
3.3 Schüler-, Daten- und<br />
<strong>Gesellschaft</strong>sorientierung<br />
Nur zu gern zitieren mo<strong>der</strong>ne Handbücher <strong>für</strong><br />
werdende Lehrer eine schrecklich bürokratisch<br />
anmutende Tabelle von Heinrich Winter aus dem<br />
Jahre 1975 (Abb. 17.16 auf <strong>der</strong> nächsten Seite).<br />
Ja, diese Tabelle fand sich am Ende von Winters<br />
nachdenklichem Aufsatz. Unglücklicherweise,<br />
wie sich heute zeigt, weil in dieser Tabelle das<br />
Wichtigste fehlte: was lebendiger Unterricht tun<br />
kann, ohne sich um Bildungsschablonen zu scheren.<br />
Genau da<strong>für</strong> enthielt aber Winters Text vorher<br />
ausführliche Überlegungen in vier Kapiteln,<br />
die eben nicht „von oben“ katalogisierten und festschrieben,<br />
son<strong>der</strong>n zu denken und zu handeln geben<br />
wollten. Und ganz am Ende gab er noch eine<br />
passende Warnung dazu, eine inzwischen lei<strong>der</strong><br />
ganz unmodische. Beides sollten wir erinnern –<br />
und die vermeintliche Ablasstafel <strong>für</strong> flachdidaktische<br />
Sünden einfach vergessen:<br />
Winters vier Kapitel und seine Warnung am<br />
Ende<br />
„L1 Der Unterricht soll dem Schüler Möglichkeiten<br />
geben, schöpferisch tätig zu sein.<br />
L2 Der Unterricht soll dem Schüler Möglichkei-<br />
132<br />
ten geben, rationale Argumentation zu üben.<br />
L3 Der Unterricht soll dem Schüler Möglichkeiten<br />
geben, die praktische Nutzbarkeit <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />
zu erfahren.<br />
L4 Der <strong>Mathematik</strong>unterricht soll dem Schüler<br />
Möglichkeiten geben, formale Fertigkeiten zu erwerben.<br />
[. . . ] Es sei noch einmal betont: Allgemeine Lernziele<br />
lassen sich nicht so abtesten wie operationalisierte<br />
Feinlernziele; sie beziehen sich auf die<br />
ganze Schulzeit, und <strong>der</strong> Grad ihrer Verwirklichung<br />
lässt sich eher in einer gewissen Haltung<br />
erkennen, in <strong>der</strong> ein Schüler an mathematische<br />
Fragen herangeht.“<br />
H. Winter [1975]<br />
. . . o<strong>der</strong> ein Erwachsener an richtig ernste . . .<br />
Mit zunehmen<strong>der</strong> Computerausrüstung <strong>der</strong><br />
Schulen wird schüleraktive Modellbildung im<br />
Rahmen datenorientierter Stochastik immer leichter<br />
zugänglich. Ich trete da<strong>für</strong> ein, diesen Unterricht<br />
durch engere Verflechtung von Algebra,<br />
Funktionenlehre und Mittelstufenstochastik erheblich<br />
zu verstärken. Zugleich möchte ich aber<br />
im Sinne Winters vor zwei Gefahren warnen, denen<br />
Stochastik im all- und sonntäglichen Schul-<br />
!
Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />
betrieb nur zu gern erliegt. Arthur Engel hat sie<br />
1982 so formuliert 104 , wobei wir getrost DS (:=<br />
Deskriptive Statistik) statt WT lesen dürfen:<br />
1. „Die Wahrscheinlichkeitstheorie (WT) fand<br />
Eingang in die Schule unter dem Vorwand,<br />
dass sie <strong>für</strong> die Statistik unentbehrlich ist.“<br />
und<br />
2. „Statistik handelt von Daten, und sie zerfällt in<br />
drei Teile: Sammlung, Beschreibung und Deutung<br />
von Daten.“<br />
Es wäre <strong>für</strong> eine Reanimation <strong>der</strong> Funktionenlehre<br />
in den Mittelstufen und <strong>der</strong> Analysis in den<br />
Oberstufen wenig gewonnen, wenn künftig lediglich<br />
Aufgaben zu Funktionstypen und kombinatorischen<br />
Wahrscheinlichkeiten durch behavioristische<br />
Rechen- und Zeichenkompetenznachweise<br />
anhand irgendwelcher Excel-Tabellen ersetzt würden.<br />
Realdatenorientierung und schüleraktive Modellbildung<br />
sind nicht als Alibi <strong>für</strong> Fertigkeitsdressuren<br />
in Beschreiben<strong>der</strong> Statistik gedacht!<br />
Hier wäre einigen aktuellen fachwissenschaftlichen<br />
und auch didaktischen Lehrbüchern zur<br />
Schulstochastik bzw. Beschreibenden Statistik<br />
mehr Entschiedenheit zu wünschen. Zu oft steht<br />
die Vermittlung irgendwelcher „Basiskompetenzen<br />
<strong>der</strong> [!] Statistik/Stochastik“ im Vor<strong>der</strong>grund<br />
– sehr wohl mit Rücksicht auf Lernende gestuft<br />
nach technischen Schwierigkeitsgraden, aber in<br />
betont fachwissenschaftlich-systematischer Glie<strong>der</strong>ung,<br />
Diktion und Kontextuierung. Zwischen<br />
eigentlich ernste lebens- o<strong>der</strong> gesellschaftsrelevante<br />
Beispiele drängen sich dort immer wie<strong>der</strong><br />
schulkin<strong>der</strong>freundlich verharmlosende Belanglosigkeiten,<br />
denen – in Dreiviertelstunden, Hausaufgaben<br />
und Klassenarbeiten zerhackt – scheinbar<br />
genau so viel Bedeutung zukommt wie sie<br />
104 [Engel, 1982, S. 3 und S. 58]<br />
105 s. z. B. [Freudenthal, 1973a, S. 100 f]<br />
Abbildung 17.16: Aus [Winter, 1975]<br />
innerfachliche Begriffe o<strong>der</strong> Techniken illustrieren.<br />
Das mag hochschuldidaktisch sinnvoll halten<br />
wer will; nach einem Ausdruck von Freudenthal<br />
ist es <strong>für</strong> die Schule als „a[nti]didaktische Inversion“<br />
schädlich 105 , weil Unterrichtskonstruktion<br />
vom systematisch verallgemeinerten und ohnehin<br />
unerreichbaren Ende her als dosierte Verlautbarung<br />
das Gegenteil von wohlwollend einfühlen<strong>der</strong><br />
Schülerorientierung ist. In notorisch<br />
knapper Unterrichtszeit suggeriert es zudem eine<br />
falsche Botschaft, weil „grundlegende“ (im<br />
Fachjargon: „triviale“) mathematische Techniken<br />
über Wirklichkeitssinn und -wert zu bestimmen<br />
scheinen. Es hieße den Teufel Funktionsformalismus<br />
mit Beelzebub im Gewand statistischer Methodenleere<br />
austreiben und statt Verantwortlichkeitserziehung<br />
politische Enthaltsamkeit mit datengepanzerten<br />
„Alternativlosigkeiten“ (A. Merkel)<br />
begünstigen. Daten, Funktionen und dynamische<br />
Modelle sind unersetzliche Entscheidungshilfen,<br />
aber die dürfen keine eigene Wertsetzungsund<br />
erst recht keine Alleinentscheidungsbefugnis<br />
bekommen.<br />
Im Soester Vortrag Ende September <strong>2009</strong> habe<br />
ich mir erlaubt, meinen bildungstheoretischen<br />
Ansatz einschließlich <strong>der</strong> nötigen Be<strong>für</strong>chtungen<br />
als Variation des Wilhelminischen Eingangszitats<br />
unserer Kanzlerin in den Mund zu legen:<br />
„Das neue Jahrhun<strong>der</strong>t wird beherrscht<br />
durch das Geld <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, inbegriffen die<br />
Informationsindustrie, und nicht wie das vorige<br />
durch die Wissenschaft. Dem werden wir<br />
weiter entsprechen.“<br />
133
Lutz Führer, Frankfurt<br />
Literatur<br />
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<strong>2009</strong>/2010 konnte daher nicht mehr berücksichtigt werden.
• Musik mit Funktionsgraphen – Wissen kreativ nutzen<br />
Stefanie Anzenhofer, Würzburg<br />
Im <strong>Mathematik</strong>unterricht nimmt das Arbeiten mit Funktionsgraphen eine zentrale Rolle ein. Auch im<br />
Musikunterricht bilden graphische Darstellungen als Überlieferungsform von Musik die Basis vieler<br />
Tätigkeiten. Dennoch ist bekannt, dass Schülerinnen und Schüler in beiden Bereichen gleichermaßen<br />
Schwierigkeiten beim Interpretieren, Analysieren und Erstellen dieser Darstellungen aufweisen.<br />
In einer empirischen Untersuchung wurde getestet, inwiefern das Wissen als auch das Nutzen dieses<br />
Wissens im Zusammenhang mit Funktionsgraphen und funktionsgraphähnlichen Notationsweisen<br />
(Musik) erweitert werden kann. Dabei sollten in einem fächerübergreifenden Unterricht Graphen<br />
hörend erkannt, funktionsgraphähnliche Notationsweisen musizierend sowie Graphen kompositorisch<br />
umgesetzt werden.<br />
Es soll gezeigt werden, dass Schülerinnen und Schüler durch diese auditive Darbietung von Funktionsgraphen<br />
zum einen ihre Wahrnehmung verstärkt auf Eigenschaften und Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />
<strong>der</strong> verschiedenen Funktionstypen lenken sowie die verschiedenen Funktionstypen vergleichend in<br />
Beziehung setzen; zum an<strong>der</strong>en soll das Wissen über verschiedene Funktionstypen genutzt werden,<br />
um funktionsgraphähnliche Notationsformen musikalisch umzusetzen. Erweitert wird dies durch die<br />
Notwendigkeit des Begründens und präzisen Formulierens aufgrund <strong>der</strong> auditiven Wahrnehmung,<br />
welche eine ausschließlich subjektive und zudem nicht eindeutige Identifizierung erlaubt. Indem <strong>der</strong><br />
Klang von Graphen als Mittel beim Komponieren verwendet wird, eröffnet sich auch im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
<strong>der</strong> Bereich des expressiv kreativen Arbeitens.<br />
1 Motivation<br />
Das Arbeiten mit Funktionsgraphen nimmt eine<br />
zentrale Rolle im <strong>Mathematik</strong>unterricht ein. Einen<br />
wichtigen Teil bildet dabei das Erstellen, Interpretieren<br />
und Analysieren von Funktionsgraphen.<br />
Ebenso stellen graphische Darstellungen als Überlieferungsform<br />
von Musik die Basis vieler Tätigkeiten<br />
im Musikunterricht dar. Nach den Ergebnissen<br />
einiger Studien weisen Schülerinnen und<br />
Schüler dennoch in beiden Bereichen gleichermaßen<br />
Schwierigkeiten beim Interpretieren, Analysieren<br />
und Erstellen dieser Darstellungen auf<br />
[vgl. Kalwies, 2001; Hadjidemetriou & Williams,<br />
2002; Kösters, 1996; Malle, 2000].<br />
Ausgehend von dieser gemeinsamen Problematik<br />
wurde ein fächerübergreifen<strong>der</strong> Ansatz entwickelt,<br />
in dem sowohl Funktionsgraphen als<br />
auch graphische Notationen des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
im Mittelpunkt stehen. Bei diesen musikalischen<br />
Notationsformen wird Tonhöhe und Dauer nicht<br />
mehr zwingend durch Standardnotationselemente<br />
wie beispielsweise Notenköpfe o<strong>der</strong> -linien übermittelt.<br />
Stattdessen kann <strong>der</strong> Komponist jegliche<br />
graphische Elemente und Darstellungsformen<br />
wählen, welche er <strong>für</strong> dieses Stück zur Übermittlung<br />
<strong>der</strong> gewünschten Klangwirkung und -form<br />
als passend empfindet (siehe Abb. 18.1). Demzufolge<br />
ist aber diese Notation bei jedem Stück nach<br />
den Regeln des jeweiligen Komponisten zu interpretieren.<br />
In diesem Zusammenhang werden Funktionsgraphen<br />
als Zeit-Frequenz- bzw. Zeit-Tonhöhen-<br />
Diagramme interpretiert, so dass jedem x-Wert<br />
als Zeitpunkt ein bestimmter y-Wert als Tonhöhe<br />
bzw. Frequenz zugeordnet wird. Indem nun diese<br />
Interpretation von Funktionsgraphen mit mu-<br />
sikalischen Kompetenzen wie Musik hören, Musik<br />
lesen und schreiben, Musik analysieren und<br />
interpretieren sowie musizieren und komponieren<br />
[Gallus, 2005] kombiniert werden, entstehen musikalische<br />
Graphen mit den Themenfel<strong>der</strong>n Graphen<br />
hören, Graphen lesen und schreiben, mit<br />
Graphen analysieren und interpretieren sowie mit<br />
Graphen musizieren und komponieren.<br />
Abbildung 18.1: Aus „Süßer Tod“ von K. Stahmer<br />
[Frey et al., 1983]<br />
2 Musikalische Graphen<br />
Im Folgenden soll an einem Unterrichtskonzept,<br />
welches <strong>für</strong> eine empirische Studie <strong>für</strong> die zehnte<br />
Jahrgangsstufe des Gymnasiums (G8) entwickelt<br />
wurde, exemplarisch aufgezeigt werden, inwiefern<br />
das Arbeiten mit musikalischen Graphen<br />
mit Schülerinnen und Schülern möglich ist. Allerdings<br />
wird hierbei ausschließlich auf die Themenfel<strong>der</strong><br />
Graphen hören, Graphen lesen und schreiben,<br />
sowie mit Graphen komponieren eingegangen.<br />
Ein Schwerpunkt wird auf den Bereich mit<br />
Graphen komponieren gelegt, da den Schülerinnen<br />
und Schülern hier die Möglichkeit <strong>für</strong> expressiv<br />
kreatives Arbeiten gegeben wird, worauf im<br />
Anschluss genauer eingegangen werden soll.<br />
137
Stefanie Anzenhofer, Würzburg<br />
2.1 Graphen hören<br />
In den ersten Stunden mit Schwerpunkt <strong>Mathematik</strong><br />
sollten Funktionsgraphen mittels Cin<strong>der</strong>ella 1<br />
hörend erkannt werden. Schülerinnen und Schüler<br />
überlegten in diesem Zusammenhang, inwiefern<br />
die Lage des Graphen im Koordinatensystem ausschließlich<br />
durch Hören bestimmt werden kann.<br />
Außerdem analysierten sie eigenständig, welche<br />
Bedeutung den Eigenschaften und dem Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />
eines Graphen beim Identifizieren<br />
des Funktionstyps zukommt. Im Zuge dessen<br />
wurden die verschiedenen ihnen bekannten Eigenschaften<br />
zudem dahingehend untersucht, welche<br />
Charakteristika von Funktionsgraphen generell<br />
auditiv wahrgenommen werden können. Dabei<br />
zeigte sich beispielsweise in <strong>der</strong> Diskussion,<br />
dass ein punktsymmetrisches Verhalten sehr wohl<br />
visuell kaum aber auditiv wahrgenommen werden<br />
kann.<br />
2.2 Graphen lesen und schreiben<br />
Im Mittelpunkt <strong>der</strong> anschließenden Stunden mit<br />
Schwerpunkt Musik stand das Chorstück „Der<br />
Phlegmatiker” von Heinz Kratochwil [Kratochwil,<br />
1972]. Dieses Stück ist notiert mit einer<br />
graphischen Notationsform, in <strong>der</strong> Tonhöhe und<br />
Dauer mittels eines funktionalen Zusammenhangs<br />
übermittelt werden (siehe Abb. 18.2). Für die Unterrichtskonzeption<br />
fiel die Wahl auf dieses Stück,<br />
da einzelne Stimmverläufe zum einen eine gewisse<br />
Ähnlichkeit zu Ausschnitten aus Standard-<br />
138<br />
Abbildung 18.2: Ausschnitt aus [Kratochwil, 1972]<br />
funktionsgraphen aufweisen (siehe beispielsweise<br />
Bass in Abb. 18.2), zum an<strong>der</strong>en ähnliche Stimmverläufe<br />
in verschiedenen Stimmen innerhalb dieses<br />
Stückes auftreten (vgl. Sopran, Alt, Tenor mit<br />
Bezug zum Bass in Abb. 18.2). Schülerinnen und<br />
Schüler übernahmen in Gruppen eigenständig die<br />
praktische Umsetzung eines längeren Auszuges.<br />
Dabei waren die einzelnen Gruppenmitglie<strong>der</strong> sowohl<br />
<strong>für</strong> die musikalische Interpretation dieser bis<br />
dahin <strong>für</strong> sie unbekannten Notationsform als auch<br />
<strong>für</strong> die Koordination ihres Ensembles verantwortlich.<br />
Nachdem jede Gruppe ihr Ergebnis in <strong>der</strong><br />
Klasse vorgestellt hatte, analysierten, interpretierten<br />
und deuteten Schülerinnen und Schüler das<br />
Stück im anschließenden Klassengespräch anhand<br />
<strong>der</strong> Klangwirkung, des Titels und des Notentextes.<br />
Dabei erkannten sie, dass <strong>der</strong> Titel des Stücks<br />
mithilfe klanglicher Mittel musikalisch umgesetzt<br />
wurde.<br />
2.3 Mit Graphen komponieren<br />
In Anlehnung an Der Phlegmatiker, bei dem Emotionen<br />
und Bewegungsverhalten eines Charaktertyps<br />
mittels Klang an den Hörer übermittelt wird,<br />
stellte die Entwicklung einer Klangcollage zum<br />
Thema „gefühlte Zeit“ die zentrale Aufgabe in einer<br />
abschließenden Einheit dar. Dabei wird „gefühlte<br />
Zeit“ als funktionaler Zusammenhang zwischen<br />
realer Zeit und Än<strong>der</strong>ungsrate <strong>der</strong> subjektiv<br />
wahrgenommenen Zeit aufgefasst. Schülerinnen<br />
und Schüler leiteten diese Interpretationsmöglichkeit<br />
im Klassengespräch anhand eines Film-<br />
1 Alle zum Unterrichtskonzept gehörenden Cin<strong>der</strong>ella-Dateien sind auf http://www.stefanie-reiter.de verfügbar
ausschnittes ab, in dem auf den Betrachter eine<br />
verschiedene Zeitwahrnehmung mithilfe unterschiedlicher<br />
Stilmittel übertragen wird. Dabei<br />
stellten sie fest, dass bei einem bestimmten y-<br />
Wert die „gefühlte Zeit“ gleich schnell vergeht<br />
wie die reale Zeit, bei den Werten oberhalb dieses<br />
y-Wertes schneller, darunter langsamer. Im Anschluss<br />
daran erhielten Schülerinnen und Schüler<br />
die Aufgabe ein persönliches Erlebnis mit unterschiedlich<br />
vergehenden Zeitabschnitten zu wählen<br />
und dazu einen Funktionsgraphen zu zeichnen.<br />
Nachdem in diesem Unterrichtskonzept vor allem<br />
Funktionsgraphen jedoch weniger Funktionsgleichungen<br />
und -terme thematisiert werden sollten,<br />
wurde ein Kompositionstool (siehe Abb. 18.3)<br />
zur Verfügung gestellt, mithilfe dessen über Buttons<br />
die bekannten Standardfunktionen (Nr. 1) gewählt<br />
und über Punkte entsprechend <strong>der</strong> persönlichen<br />
Vorstellung mittels Zugmodus angepasst<br />
werden konnten. Dieser Graph sollte als ein Zeit-<br />
Frequenz-Diagramm interpretiert die Grundlage<br />
<strong>für</strong> die Klangcollage bilden, weswegen ein Export<br />
des Graphenklangs als Wave-Datei möglich<br />
ist (Nr. 2). Desweiteren kann verschiedenen Graphenabschnitten<br />
eine unterschiedliche Klangfarbe<br />
zugewiesen werden (Nr. 3), um beispielsweise<br />
in Abhängigkeit von <strong>der</strong> Situation subjektive<br />
Empfindungen dem Hörer übermitteln zu können.<br />
Der Klang des Graphen wurde in einem Wave-<br />
Editor mit weiteren klanglichen Mitteln wie Musik,<br />
Geräuschen, gesprochenen Texten, Klängen<br />
usw. kombiniert, so dass dem Hörer sowohl Situation<br />
als auch Emotionen des persönlichen Erlebnisses<br />
weitergegeben werden sollten. Der Klang<br />
des Graphen bietet eine Orientierungsmöglichkeit<br />
<strong>für</strong> die zeitliche Anordnung <strong>der</strong> Klangereignisse<br />
innerhalb <strong>der</strong> Klangcollage, nachdem er <strong>der</strong> Träger<br />
und Übermittler des funktionalen Zusammenhangs<br />
in Abhängigkeit von <strong>der</strong> Zeit ist. In diesem<br />
Sinne stellt er eine hörbare Partitur dar. Im gleichen<br />
Zug ist er selbst ein Klangereignis, das musikalisch<br />
zum Beispiel im Hinblick auf Lautstärke,<br />
Klangfarbe o<strong>der</strong> Klangeffekte weiterverarbeitet<br />
werden kann. Dabei darf aber nicht übersehen<br />
werden, dass die Parameter <strong>der</strong> Tonhöhe und Dauer<br />
nicht abschnittsweise verän<strong>der</strong>t werden dürfen,<br />
da sie den funktionalen Zusammenhang übermitteln.<br />
Eine Streckung und Stauchung als Ganzes<br />
wird natürlich nicht ausgeschlossen. Demzufolge<br />
stellt <strong>der</strong> Klang des Graphen sowohl eine hörbare<br />
Partitur dar als auch ein musikalisches Klangereignis.<br />
3 Kreatives Arbeiten mit<br />
Musikalischen Graphen<br />
In <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik wurden verschiedene<br />
Arten des kreativen Arbeitens entwickelt und diskutiert<br />
[vgl. Neuhaus, 2001]. In <strong>der</strong> Form des<br />
Musik mit Funktionsgraphen – Wissen kreativ nutzen<br />
Problemlösens o<strong>der</strong> Beweisens stellen diese bereits<br />
ein Standardelement des heutigen <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
dar. Jedoch erörterten beispielsweise<br />
Vollrath [1987] und Weth [1999] eine weitere<br />
Möglichkeit <strong>für</strong> kreative Prozesse im Bereich <strong>der</strong><br />
Begriffsbildung. Nach Leu<strong>der</strong>s [2005] können die<br />
kreativen Prozesse des <strong>Mathematik</strong>unterrichts in<br />
folgende drei Modi geteilt werden:<br />
1. Explorative Kreativität beinhaltet sinnvolle<br />
Probleme zu finden, mögliche Zusammenhänge<br />
aufzudecken und fruchtbare Begriffe zu<br />
konstruieren.<br />
2. Heuristische Kreativität beinhaltet Probleme<br />
zu lösen und Behauptungen zu beweisen.<br />
3. Expressive Kreativität beinhaltet das Produzieren<br />
schöpferischer Darstellung und Transformationen<br />
mit persönlichem Ausdruck und individuellem<br />
Sinn.<br />
In <strong>der</strong> Musik nehmen Ausdruck und persönlicher<br />
Sinn eine elementare Rolle im Schaffen ein.<br />
Wenn nun im Konzept <strong>der</strong> musikalischen Graphen<br />
Schülerinnen und Schülern sowohl im Bereich <strong>der</strong><br />
<strong>Mathematik</strong> als auch <strong>der</strong> Musik die Möglichkeit<br />
zu kreativem Arbeiten geboten werden soll, eröffnet<br />
sich nun die Frage, welche Voraussetzungen<br />
in <strong>der</strong> Musikdidaktik ein kreativer Lernprozess zu<br />
erfüllen hat. Hier<strong>für</strong> führt Meyer-Denkmann an:<br />
„Im Mittelpunkt eines kreativen Lernprozesses<br />
steht die Verlagerung von funktionalen<br />
Bindungen im Wahrnehmen, Denken<br />
und Handeln auf mobile Methoden, die zur<br />
Selbsttätigkeit und Selbstentdeckung führen.<br />
Diese implizieren ein produktives Denken<br />
und Handeln, das nicht auf Resultate eingestellt<br />
ist, son<strong>der</strong>n auf operative Prozesse“.<br />
[Meyer-Denkmann, 1972, S. 21]<br />
Dies kann dahingehend gedeutet werden, dass<br />
jegliche Produktion einer Aufgabenlösung, welche<br />
mit einem Transfer verbunden ist, eine kreative<br />
Handlungsform darstellt. Auf diese Weise unterscheidet<br />
sich ein musikalisch-kreativer Prozess<br />
in den Anfor<strong>der</strong>ungen nicht von einem mathematischen<br />
[vgl. Meyer-Denkmann, 1972, S. 21 f].<br />
Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse<br />
wurde eine Auslegung <strong>für</strong> eine kreative Tätigkeit<br />
<strong>für</strong> den <strong>Mathematik</strong> und Musikunterricht gleichermaßen<br />
formuliert:<br />
Expressiv kreatives Arbeiten stellt eine kreative<br />
Tätigkeit dar, die jemanden schöpferisch etwas<br />
zum Ausdruck bringen lässt.<br />
Als Grundlage soll dabei stets die Begriffsdefinition<br />
von Drevdahl dienen, wonach Kreativität<br />
„die Fähigkeit des Menschen [ist], Denkergebnisse<br />
beliebiger Art hervorzubringen,<br />
die im wesentlichen neu sind und demjenigen,<br />
<strong>der</strong> sie hervorgebracht hat, vorher un-<br />
139
Stefanie Anzenhofer, Würzburg<br />
Abbildung 18.3: Kompositionstool zur Erstellung eines Graphs mit Soundexport in wav-Format<br />
bekannt waren. Es kann sich dabei um Imagination<br />
o<strong>der</strong> um eine Gedankensynthese, die<br />
mehr als eine bloße Zusammenfassung ist,<br />
handeln. Kreativität kann die Bildung neuer<br />
Systeme und neuer Kombinationen aus<br />
bekannten Informationen involvieren sowie<br />
die Übertragung bekannter Beziehungen auf<br />
neue Situationen und die Bildung neuer Korrelate.“<br />
[Drevdahl, 1956, S. 22] 2<br />
Diese Definition bietet sich als Ausgangspunkt<br />
<strong>für</strong> kreatives Arbeiten im Unterricht an,<br />
da herausgestellt wird, dass es ausschließlich <strong>für</strong><br />
den Hervorbringenden also <strong>für</strong> Schülerinnen und<br />
Schüler etwas Unbekanntes, Neues o<strong>der</strong> Neuartiges<br />
sein muss. Es besteht kein Bezug zu <strong>der</strong> Definition<br />
<strong>für</strong> expressive creativity nach Taylor, <strong>der</strong><br />
darunter die erste Ebene bei <strong>der</strong> Ausbildung eines<br />
kreativen Prozesses versteht, und diese die<br />
qualitativ niedrigste Stufe kreativen Verhaltens<br />
im Vergleich zu productive, inventive, innovative<br />
und emergentive creativity einnimmt [vgl. Taylor,<br />
1959]. Der Begriff expressiv bezieht sich in dieser<br />
Auslegung ausschließlich auf den Inhalt des hervorgebrachten<br />
Produkts, wodurch keine Niveaubildung<br />
im Hinblick auf die verschiedenen Modi<br />
stattfindet. Der Begriff schöpferisch soll dabei<br />
einen produktiv-schaffenden Vorgang beschreiben,<br />
welcher eigentätig von <strong>der</strong> hervorbringenden<br />
Person gesteuert ist.<br />
Durch diese Art des kreativen Prozesses soll<br />
Schülerinnen und Schülern auch im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
die Chance geboten werden, sich als<br />
Individuum zum Ausdruck zu bringen und persönliche<br />
Einstellungen zu vermitteln. Zum einen<br />
140<br />
kann dadurch ein persönlicher Bezug zum Fach<br />
<strong>Mathematik</strong> aufgebaut werden, indem mathematische<br />
Sachverhalte mit subjektiver Bedeutung erfüllt<br />
werden. Zum an<strong>der</strong>en können Begriffe und<br />
Begriffsnetze durch eine an<strong>der</strong>sartige Zugangsweise<br />
o<strong>der</strong> in einem breiteren Kontext betrachtet<br />
werden. Mit diesem geöffneten Blickwinkel einhergehend<br />
kann eine Umdeutung <strong>der</strong> Begriffe und<br />
Begriffsnetze stattfinden, wodurch das Verständnis<br />
erweitert werden kann. Hierdurch kann <strong>der</strong> zumeist<br />
logisch-kognitive <strong>Mathematik</strong>unterricht eine<br />
Erweiterung durch eine subjektiv-emotionale<br />
Komponente erfahren.<br />
Im Musikunterricht eröffnet diese Form des<br />
kreativen Arbeitens Schülerinnen und Schülern<br />
mittels <strong>der</strong> Interpretation eines Funktionsgraphen<br />
als Zeit-Tonhöhen-Diagramm eine weitere Möglichkeit<br />
<strong>der</strong> Klanggenerierung. Diese Klangerzeugung<br />
bietet den Vorteil, dass sie zudem von jeglicher<br />
Schülerin und jeglichem Schüler bewusst und<br />
zielgerichtet eingesetzt werden kann und es keine<br />
Unterschiede aufgrund von Instrumentalspielkenntnissen<br />
und -fähigkeiten gibt.<br />
Im Folgenden soll nun dargelegt werden, inwiefern<br />
musikalische Graphen expressiv kreatives<br />
Arbeiten auch im Bereich <strong>der</strong> Algebra unterstützen.<br />
Durch die Zusammenführung von musikalischen<br />
Klangereignissen und mathematischen Elementen<br />
wie Funktionen ist bereits im Konzept mit<br />
Graphen komponieren die Basis gelegt, um Schülerinnen<br />
und Schülern die Chance zu geben, ihre<br />
Kreativität zu zeigen, indem sie sich mit einer <strong>für</strong><br />
sie neuartigen Form <strong>der</strong> Kombination von Inhalten<br />
beschäftigen. Sie müssen nun eigenständig und<br />
2 In diesem Artikel wird auf eine Übersetzung ins Deutsche von Ulmann [1968, S. 68] zurückgegriffen.
nach individuellen Maßstäben diese beiden Bereiche<br />
verbinden und das jeweilige Wissen aufeinan<strong>der</strong><br />
übertragen. So sollte <strong>der</strong> Graphenklang am<br />
Ende nicht ausschließlich ohne Verbindung neben<br />
den musikalischen Klangereignissen stehen, son<strong>der</strong>n<br />
miteinan<strong>der</strong> verwoben eine Einheit bilden.<br />
Dies beinhaltet die Aufgabe, dass <strong>der</strong> Graphenklang<br />
nicht nur als hörbare Partitur die Basis <strong>der</strong><br />
Klangcollage bildet, son<strong>der</strong>n klanglich weiterverarbeitet<br />
wird, so dass <strong>der</strong> Klang des Graphen neben<br />
<strong>der</strong> Übermittelung des funktionalen Zusammenhangs<br />
auch Träger weiterer Informationen ist.<br />
Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass<br />
eine Eigenschaft des Graphen metaphorisch umgedeutet<br />
wird, unterschiedliche Klangfarben eingesetzt<br />
werden, verschiedene Abschnitte des Graphen<br />
dynamisch an<strong>der</strong>sartig gestaltet werden o<strong>der</strong><br />
Teile des Graphen mit klanglichen Effekten verarbeitet<br />
werden, um dem Hörer zudem Emotionen<br />
o<strong>der</strong> situative Gegebenheiten klanglich zu übermitteln.<br />
So kann Funktionen sowie <strong>der</strong>en Eigenschaften<br />
eine über die <strong>Mathematik</strong> hinausweisende<br />
Bedeutung zukommen. Werden diese Ansprüche<br />
jedoch nicht erfüllt, bietet mit Graphen komponieren<br />
zwar aus musikdidaktischer Sicht über<br />
die Gestaltung von Klangcollagen den Freiraum<br />
auch <strong>für</strong> Schülerinnen und Schüler Kreativität zu<br />
zeigen [Hansen, 1975; Meyer-Denkmann, 1972],<br />
nicht aber nach den vorausgehenden Ausführungen<br />
zu expressiv kreativem Arbeiten im <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />
Nun stellt sich als weitere <strong>für</strong> den Unterricht<br />
relevante Frage, welche Kriterien kreative Tätigkeiten<br />
demzufolge zu erfüllen haben. Auch dies<br />
führt Drevdahl weiter aus:<br />
„Eine kreative Tätigkeit muss absichtlich und<br />
zielgerichtet sein, nicht nutzlos und phantastisch<br />
– obwohl das Produkt nicht unmittelbar<br />
praktisch anwendbar, nicht perfekt o<strong>der</strong><br />
gänzlich vollendet sein muss. Es kann eine<br />
künstlerische, literarische o<strong>der</strong> wissenschaftliche<br />
Form annehmen o<strong>der</strong> durchführungstechnischer<br />
o<strong>der</strong> methodologischer Art sein.“<br />
[Drevdahl, 1956, S. 22]<br />
Gerade <strong>der</strong> Zusatz des nicht zwingenden Anspruchs<br />
des Perfekten o<strong>der</strong> gänzlich Vollendeten<br />
ist im Hinblick auf das Arbeiten im Unterricht<br />
elementar. Nachdem Schülerinnen und Schülern<br />
beispielsweise die Fähigkeit o<strong>der</strong> Kenntnisse<br />
<strong>für</strong> eine vollkommene Umsetzung fehlen können,<br />
darf <strong>der</strong> Tätigkeit selbst auf diese Weise <strong>der</strong> Anspruch<br />
<strong>der</strong> Kreativität nicht abgesprochen werden.<br />
So kann im Hinblick auf mit Graphen komponieren<br />
<strong>der</strong> Plan o<strong>der</strong> Wunsch, den Schülerinnen und<br />
Schüler <strong>für</strong> die Ausführungen gefasst haben, an<br />
den technischen Möglichkeiten im Computerraum<br />
o<strong>der</strong> an den technischen Kenntnissen im Umgang<br />
Musik mit Funktionsgraphen – Wissen kreativ nutzen<br />
mit <strong>der</strong> Software beim Erstellen einer Klangcollage<br />
scheitern; die Aktivitäten <strong>der</strong> Schülerinnen<br />
und Schüler erfüllen trotzdem den Anspruch einer<br />
kreativen Tätigkeit. Ausschlaggebend bleibt<br />
desweiteren die Absichtlichkeit und Zielgerichtetheit.<br />
Mit Bezug auf mit Graphen komponieren<br />
muss <strong>der</strong> Einsatz jedes Klangereignisses o<strong>der</strong><br />
die Wahl eines Funktionstyps demzufolge ein bestimmtes<br />
Ziel verfolgen bei <strong>der</strong> Erzeugung und<br />
Übermittlung eines Höreindrucks. Es wird folglich<br />
ein bestimmter Klang – Lautstärke, Klangfarbe,<br />
Klangeffekt – angestrebt. Aber nicht nur<br />
das Ziel muss angegeben werden können, son<strong>der</strong>n<br />
auch <strong>der</strong> Zweck, um die Absicht darzulegen.<br />
Mit dem angestrebten Klang soll eine Klangwirkung<br />
beim Hörer absichtlich hervorgerufen werden.<br />
Folglich darf die Klangcollage kein zufälliges<br />
Ergebnis sein, son<strong>der</strong>n muss von den Schülerinnen<br />
und Schülern begründet und erläutert werden<br />
können. In diesem Sinne wird auch nach Hansen<br />
die Bedingung <strong>für</strong> kreatives Arbeiten im Musikunterricht<br />
erfüllt:<br />
„Kreatives Verhalten setzt ein, wenn . . .<br />
[Schülerinnen und Schüler] die gewonnenen<br />
Eindrücke und Informationen innerhalb eines<br />
spezifischen Materials nach selbständigen<br />
Konstellationen und neuen Strukturen zu<br />
ordnen beginnen.“ [Hansen, 1975, S. 20]<br />
Der Begriff des Zufälligen muss allerdings<br />
im Hinblick auf das Experimentieren und kreative<br />
Spielen eingeschränkt werden. Diese beiden<br />
Tätigkeiten stellen durchaus eine Grundlage des<br />
kreativen Arbeitens dar [vgl. Weth, 1999; Hansen,<br />
1975; Meyer-Denkmann, 1972; Paynter & Aston,<br />
1972], doch muss <strong>der</strong> Einsatz <strong>der</strong> auf diese Weise<br />
entdeckten Klangformen wie<strong>der</strong>um absichtlich<br />
und zielgerichtet erfolgen. Demzufolge kann eine<br />
Klangform mit entsprechen<strong>der</strong> Klangwirkung<br />
zufällig beim Experimentieren und Spielen mit<br />
Klängen beim Testen <strong>der</strong> Software entdeckt werden,<br />
doch <strong>der</strong> tatsächliche anschließende Einsatz<br />
dieses Klangeffektes muss überlegt an einer ausgewählten<br />
Stelle mit einem bezweckten Höreindruck<br />
geschehen.<br />
Kreativität wird in <strong>der</strong> traditionellen amerikanischen<br />
Kreativitätsforschung zumeist in die Teile<br />
kreative Person, kreativer Prozess, kreatives Produkt<br />
und kreative Umwelt geteilt [vgl. Neuhaus,<br />
2001]. In den Ausführungen wurde bisher auf den<br />
Prozess im Hinblick auf Aufgabenstellung und Eigenschaften<br />
<strong>der</strong> Tätigkeit eingegangen. Die Struktur<br />
und Glie<strong>der</strong>ung dieses Prozesses wurde außer<br />
Acht gelassen, da ausschließlich <strong>der</strong> Frage nachgegangen<br />
werden soll, inwiefern expressiv kreatives<br />
Arbeiten mit musikalischen Graphen generell<br />
möglich ist, nicht aber in welcher Form dieser<br />
Prozess vollzogen wird. Aus diesem Grund<br />
141
Stefanie Anzenhofer, Würzburg<br />
rückt auch die kreative Umwelt aus dem Blickfeld,<br />
da <strong>der</strong> Inhalt des Unterrichtskonzeptes näher<br />
untersucht werden soll, nicht aber die Voraussetzungen<br />
und Gegebenheiten in <strong>der</strong> Umwelt.<br />
Aus musikdidaktischer Sicht wurde bei diesem<br />
Konzept angestrebt, dass jede einzelne Schülerin<br />
und je<strong>der</strong> einzelne Schüler expressiv kreativ arbeiten<br />
können soll. Daher wird an dieser Stelle<br />
auch nicht näher auf die individuellen Eigenschaften<br />
einer kreativen Person eingegangen, nachdem<br />
Schülerinnen und Schüler im Allgemeinen als<br />
Handelnde mit heterogenen Eigenschaften in den<br />
Blick rücken, denen allen eine Grundfähigkeit zu<br />
kreativem Handeln eigen ist. Nachdem das Unterrichtskonzept<br />
mit Schülerinnen und Schülern<br />
durchgeführt wurde, soll an die kreativen Produkte<br />
nicht <strong>der</strong> Anspruch wie Originalität, Einzigartigkeit<br />
o<strong>der</strong> Genialität gestellt werden. Stattdessen<br />
wird auch hier auf die Definition nach Drevdahl<br />
zurückgegriffen, wonach das Produkt eben nicht<br />
perfekt o<strong>der</strong> vollkommen sein soll, jedoch beabsichtigt<br />
und zielgerichtet. Den Anspruch des neuartigen<br />
Ergebnisses wird aufgrund <strong>der</strong> <strong>für</strong> Schülerinnen<br />
und Schüler neuartigen Kombination von<br />
Musik und Funktionsgraphen erfüllt. Wenn nun<br />
also <strong>der</strong> Frage nachgegangen wird, inwiefern das<br />
Konzept <strong>der</strong> musikalischen Graphen ein expressiv<br />
kreatives Arbeiten ermöglicht, werden ausschließlich<br />
die Kriterien <strong>der</strong> Zielgerichtetheit, Absichtlichkeit,<br />
Neuartigkeit und die Bildung neuer Beziehungen<br />
<strong>für</strong> den Ausschluß einer bloßen Zusammenfassung<br />
herangezogen. Im Folgenden soll dies<br />
exemplarisch an einigen Ergebnissen <strong>der</strong> empirischen<br />
Studie näher ausgeführt werden.<br />
4 Design <strong>der</strong> Studie<br />
Das siebenstündige Unterrichtskonzept wurde in<br />
einer Hauptstudie mit zwei zehnten Klassen an einem<br />
Gymnasium (G8) durchgeführt, <strong>der</strong> eine Vorstudie<br />
mit ebenfalls zwei zehnten Klassen vorausging<br />
und eine Nachstudie mit einer elften Klasse<br />
(G9) einer Freien Waldorfschule mit sechs Unterrichtsstunden<br />
folgte. Den Themenbereichen Graphen<br />
hören und Graphen lesen und schreiben wurde<br />
ein Zeitfenster von jeweils einer Doppelstunde<br />
eingeräumt, die von <strong>der</strong> Lehrkraft mit dem entsprechenden<br />
Schwerpunktfach unterrichtet wurde.<br />
Daran schloss sich eine dreistündige Unterrichtseinheit<br />
zu mit Graphen komponieren an, bei<br />
<strong>der</strong> beide Lehrer zur Verfügung standen. Nach<br />
je<strong>der</strong> Themeneinheit wurden jeweils pro Klasse<br />
vier qualitative Schülerinterviews nach <strong>der</strong> Methode<br />
des Experteninterviews nach Gläser & Laudel<br />
[2006] durchgeführt. Dabei wurde den folgenden<br />
Fragen nachgegangen:<br />
⊲ Inwiefern wird das Wissen über Funktionen genutzt,<br />
um Gegebenes 3 „adäquat“ beschreiben<br />
142<br />
bzw. darstellen zu können?<br />
⊲ Inwiefern ist ein Zugang zu graphischen Notationen<br />
und damit zu Neuer Musik durch den Bezug<br />
zu Funktionen möglich?<br />
Um sicherzustellen, dass die Interviewfragen<br />
aufgrund des Unterrichtsverlaufs beantwortet<br />
werden können, wurden die Schülerinterviews<br />
durch Unterrichtsbeobachtung trianguliert. Auf<br />
diese Weise sollte zudem eine Vergleichbarkeit<br />
<strong>der</strong> einzelnen Interviews trotz <strong>der</strong> Unterschiede<br />
beim Unterrichtsverlauf aufgrund <strong>der</strong> verschiedenen<br />
Lehrpersonen gewährleistet werden.<br />
Die 24 Schülerinterviews <strong>der</strong> Hauptstudie<br />
wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach<br />
Mayring [<strong>2008</strong>] ausgewertet. Aufgrund <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitigen<br />
Forschungslage in diesem Themenfeld<br />
ist Ziel dieser Studie die Hypothesengenerierung.<br />
Die Kategorien wurden dabei induktiv anhand des<br />
Textes im Hinblick auf Schülertätigkeiten definiert,<br />
wobei bei <strong>der</strong> anschließenden Bündelung<br />
<strong>der</strong> Kategorien versucht wurde, dass ein Bezug<br />
zu den drei Aspekten des funktionalen Denkens<br />
[Vollrath, 1989] o<strong>der</strong> zu musikalischen Kompetenzfel<strong>der</strong>n<br />
[Gallus, 2005] hergestellt wird. Im<br />
Hinblick auf expressiv kreatives Arbeiten sollten<br />
die Richtlinien <strong>für</strong> eine expressiv kreative Tätigkeit<br />
(siehe Kreatives Arbeiten mit Musikalischen<br />
Graphen) aufgegriffen werden.<br />
5 Ergebnisse<br />
Die Ergebnisse können anhand <strong>der</strong> Schwerpunktlegung<br />
<strong>der</strong> Fächer Musik und <strong>Mathematik</strong> bei <strong>der</strong><br />
Konzeption des Unterrichts in drei Bereiche geglie<strong>der</strong>t<br />
werden. Zum einen wurde beobachtet, inwiefern<br />
die drei Aspekte des funktionalen Denkens<br />
durch den auditiven Einsatz angesprochen<br />
werden. Zum an<strong>der</strong>en wurden die Schülertätigkeiten<br />
dahingehend untersucht, in welchem Maß die<br />
Kriterien <strong>für</strong> expressiv kreatives Arbeiten erfüllt<br />
werden. Zusätzlich rückten musikalische Ziele in<br />
den Blickpunkt, bei denen auch nach dem Nutzen<br />
und dem Aufgreifen von Wissen zu Funktionen<br />
geachtet wurde.<br />
5.1 Mit Graphen komponieren<br />
3 Gegebenes wird dabei einerseits als Gehörtes an<strong>der</strong>erseits als „gefühlte Zeit“ interpretiert.<br />
Bei mit Graphen komponieren begründeten alle<br />
interviewten Schülerinnen und Schüler die Wahl<br />
und Zusammensetzung ihres Funktionsgraphen.<br />
Dabei thematisierten alle Interviewten das Kategorienbündel<br />
„Das Än<strong>der</strong>ungsverhalten eines<br />
Funktionstyps wird als Grund <strong>für</strong> die Wahl verwendet.“.<br />
Hierbei wurden die folgenden Kategorien<br />
unterschieden:<br />
⊲ Das grobe Än<strong>der</strong>ungsverhalten eines Funktionstyps<br />
wird als Grund <strong>für</strong> die Wahl verwendet.<br />
⊲ Das differenzierte Än<strong>der</strong>ungsverhalten eines<br />
Funktionstyps wird als Grund verwendet,. . .
◦ . . . diesen zu wählen<br />
◦ . . . diesen auszuschließen<br />
Bei <strong>der</strong> Angabe des groben Än<strong>der</strong>ungsverhaltens<br />
wurde ausschließlich zwischen Fallen und<br />
Steigen unterschieden. Die Begründung durch ein<br />
differenziertes Än<strong>der</strong>ungsverhalten <strong>für</strong> die Wahl<br />
o<strong>der</strong> den Ausschluss eines Funktionstyps zeigte<br />
sich, indem Schülerinnen und Schüler den Grad<br />
des Steigens bzw. Fallens als ausschlaggebend<br />
auswiesen. Nachdem fast alle (7 von 8) Interviewten<br />
<strong>der</strong> Kategorie des differenzierten Än<strong>der</strong>ungsverhaltens<br />
zugeordnet werden konnten, wird folgende<br />
Hypothese generiert:<br />
⊲ Durch die gezielte Betrachtung des Än<strong>der</strong>ungsverhaltens<br />
kann eine Grundvorstellung <strong>für</strong> den<br />
Ableitungsbegriff entwickelt werden.<br />
Dabei muss allerdings einschränkend hinzugefügt<br />
werden, dass nicht geklärt werden kann,<br />
inwiefern diese Hypothese auch auf die Themenwahl<br />
<strong>der</strong> Klangcollage zurückgeführt werden<br />
muss. Eine Voraussetzung kann folglich ein Thema<br />
mit funktionalem Zusammenhang zum Antragen<br />
eines Än<strong>der</strong>ungsverhaltens darstellen.<br />
Um die Wahl eines Funktionstyps zu begründen,<br />
führten mehr als die Hälfte (5 von 7) <strong>der</strong> interviewten<br />
Schülerinnen und Schüler zudem als<br />
Ausschluss- o<strong>der</strong> Auswahlkriterium eine Eigenschaft<br />
des Funktionstyps an.<br />
Diese beiden Kriterien Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />
und Eigenschaften einer Funktion rückten zudem<br />
bei dem Kategorienbündel „Tätigkeitsformen expressiv<br />
kreativen Arbeitens werden gezeigt.“ in<br />
den Blickpunkt. Die Interviews wurden dahingehend<br />
untersucht, inwiefern diese beiden Kriterien<br />
mit musikalischen Kategorien o<strong>der</strong> Elementen in<br />
Beziehung gesetzt wurden. Dabei zeigten sich folgende<br />
Kategorien:<br />
⊲ Klangfarbe wird in Abhängigkeit vom Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />
des Graphen verwendet.<br />
⊲ Stücke des Graphen werden wie<strong>der</strong>holt eingesetzt,<br />
um ähnliche Verläufe zu charakterisieren.<br />
⊲ Der Graph wird als klangliches Mittel gezielt in<br />
die Klangcollage integriert.<br />
⊲ Eine charakteristische Eigenschaft eines Funktionstyps<br />
wird abstrahiert metaphorisch umgedeutet.<br />
⊲ Dynamische Mittel werden berücksichtigt.<br />
Anhand dieser Kategorien kann aufgezeigt<br />
werden, dass <strong>der</strong> Klang des Funktionsgraphen<br />
nicht unverarbeitet neben die musikalischen Klangereignisse<br />
gesetzt wird, son<strong>der</strong>n mit diesen gezielt<br />
in Beziehung gesetzt werden. Dieses Kategorienbündel<br />
thematisierten sechs von acht Schülerinnen<br />
und Schüler im Interview. Allerdings muss<br />
angemerkt werden, dass die Zeit <strong>für</strong> eigenständiges<br />
Arbeiten an <strong>der</strong> Klangcollage anfangs zu gering<br />
bemessen wurde. Schülerinnen und Schüler<br />
benötigten mehr Zeit als erwartet, um sich in die<br />
Musik mit Funktionsgraphen – Wissen kreativ nutzen<br />
zumeist <strong>für</strong> sie neue Software einzuarbeiten. Daher<br />
wurde in einer Klasse die Stundenzahl beim<br />
Themenfeld mit Graphen komponieren spontan<br />
aufgestockt. Die Interviewten dieser Klasse erfüllten<br />
alle das Kategorienbündel mittels irgendeines<br />
<strong>der</strong> oben angeführten Kategorien.<br />
Im Hinblick auf kreatives Arbeiten muss nun<br />
<strong>der</strong> Einsatz <strong>der</strong> klanglichen Mittel aus musikalischer<br />
Sicht näher betrachtet werden. Hansen stellte<br />
wie oben angemerkt die Bedingung an kreatives<br />
Verhalten beim Verwenden des Materials ein<br />
gewisses Ordnungsprinzip zu verfolgen. Die Interviews<br />
wurden nun dahingehend untersucht, inwiefern<br />
die Möglichkeiten zur Wahl und Variation<br />
von Klangereignissen in Betracht gezogen wurde<br />
und ob ein absichtlicher und zielgerichteter Einsatz<br />
<strong>der</strong> ausgewählten Elemente stattfand.<br />
Unter Berücksichtigung eines erhöhten Zeitkontingents<br />
wird folgende Hypothese generiert:<br />
⊲ Das Komponieren mit Graphen eröffnet die<br />
Möglichkeit <strong>für</strong> expressiv kreatives Arbeiten im<br />
Hinblick auf eine absichtliche und zielgerichtete<br />
Verbindung von Funktionsgraphen und Musik.<br />
Komponieren wird dabei als eine Weise des<br />
Musik Machens nach Elliot aufgefasst, welche<br />
sich vom Ausführen, Arrangieren, Improvisieren<br />
sowie Einstudieren und Leiten unterscheidet [Vgl.<br />
Elliott, 1995].<br />
Im Folgenden soll nun an zwei konkreten<br />
Beispielen Anna und Moritz die Vorgehensweise<br />
beim Themenfeld mit Graphen komponieren ausschnittsweise<br />
rekonstruiert werden.<br />
Anna<br />
Die Schülerin Anna wählt <strong>für</strong> ihre Klangcollage<br />
das Thema Urlaub mit Hin- und Rückflug<br />
(Abb. 18.4). Bei <strong>der</strong> Auswahl <strong>der</strong> Funktionstypen<br />
<strong>für</strong> die Erstellung ihres Funktionsgraphen zum<br />
Thema „gefühlte Zeit“ entscheidet sie sich zusammen<br />
mit ihrer Partnerin <strong>für</strong> Ausschnitte einer<br />
Exponential- und Sinusfunktion sowie einer<br />
linearen Funktion. Dies begründet sie durch die<br />
Betrachtung des differenzierten Än<strong>der</strong>ungsverhaltens,<br />
wie an diesem Auszug deutlich wird:<br />
„wir haben uns eben überlegt, die Exponentialfunktion<br />
ging etwa bis zu dieser Linie<br />
hier, . . . es muss aber noch weiter nach oben<br />
gehen. Da die Exponentialfunktion aber irgendwann<br />
zu steil wird, weil sie ja dann fast<br />
im 90 ◦ -Winkel zu dieser Linie hier steht, haben<br />
wir uns überlegt, wir wollen schon ne<br />
Schräge haben und haben deswegen den Sinus<br />
genommen, weil das eben nicht ganz gerade<br />
ist, son<strong>der</strong>n eben noch ne Steigung hat,<br />
die eben hier passt.“<br />
143
Stefanie Anzenhofer, Würzburg<br />
Abbildung 18.4: Funktionsgraph zum Thema Urlaub von Anna<br />
Den Klang des Graphen fügte sie mit Flugzeuggeräuschen<br />
und afrikanischer Musik als typische<br />
Klangereignisse <strong>für</strong> die jeweilige Situation in<br />
<strong>der</strong> Klangcollage zusammen. Diese starke Reduktion<br />
<strong>der</strong> Mittel fußte in <strong>der</strong> Erkenntnis von Anna<br />
und ihrer Partnerin, dass diese Ereignisse die einzig<br />
ausschlaggebenden Bedingungen <strong>für</strong> die Verän<strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Zeitwahrnehmung sind.<br />
„Das war <strong>für</strong> uns nicht wichtig, weil wir ja<br />
nur verdeutlichen wollten, dass zuerst beim<br />
Hinflug, wir hatten ja auch den Graphen im<br />
Hintergrund, wir wollten einfach nur verdeutlichen,<br />
dass die Tonhöhe praktisch beim<br />
Hinflug niedriger ist, dann ansteigt und hier<br />
konstant ist. Und es war einfach, es war<br />
nichts An<strong>der</strong>es dabei wichtig. Es ist richtig<br />
dass man im Urlaub o<strong>der</strong> im Flugzeug noch<br />
an<strong>der</strong>e Geräusche hört, aber <strong>für</strong> uns stand<br />
<strong>der</strong> Flug, dass es da die Zeit langsamer vergeht<br />
beziehungsweise schneller <strong>für</strong> uns, das<br />
stand da im Vor<strong>der</strong>grund.“<br />
Die afrikanische Musik diente zudem dazu die<br />
entspannte und ruhige Atmosphäre im Urlaub zu<br />
vermitteln. Demzufolge wird ein Ordnungsprinzip<br />
bei <strong>der</strong> Wahl <strong>der</strong> Klangereignisse gewählt. In<br />
Anbetracht des hohen Maßes an Reduktion kann<br />
dies bereits als ein Stilmittel gedeutet werden.<br />
Die Voraussetzung <strong>für</strong> expressiv kreatives Arbeiten<br />
im <strong>Mathematik</strong>unterricht wird allerdings nur<br />
ansatzweise erfüllt. Der Klang des Graphen wird<br />
ausschließlich neben die Klangereignisse gesetzt.<br />
Allerdings wird es dynamisch bearbeitet, wie im<br />
vorausgehenden Zitat durch die Hierarchiebildung<br />
angedeutet wird.<br />
Durch die zielgerichtete und absichtliche<br />
Wahl <strong>der</strong> eingesetzten Elemente und einer über die<br />
Fachgrenzen hinausgehenden Arbeitsweise kann<br />
Anna noch als ein Beispiel <strong>für</strong> expressiv kreatives<br />
Arbeiten gewertet werden. Einschränkend muss<br />
allerdings angeführt werden, dass nicht eindeu-<br />
144<br />
tig geklärt werden kann, ob tatsächlich alle klanglichen<br />
Mittel beim Entwerfen <strong>der</strong> Klangcollage<br />
in Betracht gezogen wurden, und dass die Einarbeitung<br />
des Graphen an ein Nebeneinan<strong>der</strong>stellen<br />
grenzt.<br />
Moritz<br />
Das Thema, welches von Moritz behandelt wurde,<br />
ist Schule. Bei <strong>der</strong> Erstellung seines Funktionsgraphen<br />
(Abb. 18.5) wählt er die Funktionstypen<br />
Logarithmus- und Exponentialfunktion, wobei<br />
er das differenzierte Än<strong>der</strong>ungsverhalten als<br />
Grund anführt. Ferner folgert Moritz die Lage <strong>der</strong><br />
Extrempunkte aus dem Wechsel zwischen Unterrichtstunden<br />
und Pausen. Als Verbesserungsvorschläge<br />
führt er eine Erweiterung des Graphen<br />
um eine weitere Logarithmusfunktion zu Beginn<br />
an, um auch das Aufstehen in die Klangcollage<br />
zu integrieren. Auch die Gerade die er <strong>für</strong> den<br />
Schluss gewählt hatte, würde er teilweise durch<br />
eine Sinus- o<strong>der</strong> Kosinusfunktion ersetzen:<br />
„Ich würde es dann vermutlich mit ner Sinuso<strong>der</strong><br />
Kosinusfunktion machen. . . [. . . ] Hier,<br />
Schwankung hat, die zwar dann eigentlich<br />
nicht natürlich ist, aber darstellt, dass man<br />
danach dann auch noch Schwankungen hat.<br />
Dass das nicht völlig aufhört, dass man dann<br />
gleich happy, und die Zeit vergeht völlig<br />
schnell, son<strong>der</strong>n das Ganze auch noch seine<br />
Höhen und Tiefen hat.“<br />
Demzufolge dient das Charakteristikum <strong>der</strong><br />
Periodizität als metaphorisches Stilmittel. Die Eigenschaft<br />
eines Funktionstyps wird somit in einem<br />
erweiterten Kontext gesehen. Ähnlich verhält<br />
es sich auch bei dem letzten großen Anstieg zum<br />
Maximum vor <strong>der</strong> Sinus-/Kosinusfunktion:<br />
„gegen Ende hin, hat das Ganze dann bei <strong>der</strong><br />
Umsetzung dann irgendwie doch eher den<br />
Effekt bekommen, dass das Ganze das Aufwachsignal<br />
dann doch wie<strong>der</strong> ist, nach dem
Musik mit Funktionsgraphen – Wissen kreativ nutzen<br />
Abbildung 18.5: Funktionsgraph von Moritz zum Thema Schule<br />
Ende <strong>der</strong> Schulzeit und das geht dann nach<br />
nem kurzen Durchhänger, eben dem Vorspiel<br />
diesem letzten dann doch in die richtige Freizeit<br />
über.“<br />
Dieser Anstieg übermittelt folglich in <strong>der</strong><br />
Klangcollage nicht nur den funktionalen Zusammenhang,<br />
son<strong>der</strong>n wird durch Spielen mit Klängen<br />
zu einem zielgerichtet eingesetzten und absichtlichen<br />
Klangmittel. Daneben verwendet Moritz<br />
in seiner Klangcollage absichtlich ausschließlich<br />
Musik und verschiedene Klangeffekte zur Bearbeitung<br />
des Graphenklangs und <strong>der</strong> unterlegten<br />
Musik sowie dynamische Verän<strong>der</strong>ungen. In Moritz‘<br />
Klangcollage<br />
„zeigt des [<strong>der</strong> Funktionsgraph] eben die<br />
Schwankungen in <strong>der</strong> Schule, während die<br />
Hintergrundmusik, die Schule als Ganzes<br />
letztendlich zeigt.“<br />
Insgesamt beinhaltet Moritz‘ Arbeitsweise ein<br />
hohes Maß an expressiv kreativen Tätigkeiten.<br />
5.2 Graphen hören sowie Graphen lesen und<br />
schreiben<br />
Bei <strong>der</strong> Themeneinheit Graphen hören zeigte sich,<br />
dass die interviewten Schülerinnen und Schüler<br />
den Verlauf des Gehörten zumeist (22 von 24<br />
Versuche) richtig aufzeichneten und den Funktionstyp<br />
daraufhin bestimmten. Nachdem die angefertigten<br />
Skizzen und die anschließende Wahl<br />
aufgrund <strong>der</strong> individuell verschiedenen Höreindrücke<br />
begründet werden mussten, wurde das Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />
des Tonhöhenverlaufs durch jeden<br />
Interviewten thematisiert. Das Kategorienbündel<br />
„Anhand des Tonhöhenverlaufes wird ein<br />
Bezug zum Än<strong>der</strong>ungsverhalten des Graphen hergestellt.“<br />
konnte in folgende Kategorien unterteilt<br />
werden:<br />
⊲ Tonhöhenverlauf wird nur durch ein grobes Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />
beschrieben.<br />
⊲ Tonhöhenverlauf wird durch ein differenziertes<br />
Än<strong>der</strong>ungsverhalten beschrieben.<br />
Nachdem die Krümmungen graphisch stets<br />
wie<strong>der</strong>gegeben o<strong>der</strong> mit an<strong>der</strong>en Begriffen wie<br />
Welle, Bogen o.ä. umschrieben wurden, darf davon<br />
ausgegangen werden, dass das differenzierte<br />
Än<strong>der</strong>ungsverhalten durchaus von je<strong>der</strong> Schülerin<br />
und jedem Schüler wahrgenommen wird, doch<br />
die Formulierungen nicht bei allen gleichermaßen<br />
präzise sind. Daraus wurden folgende Hypothesen<br />
abgeleitet:<br />
⊲ Durch die gezielte Betrachtung des Än<strong>der</strong>ungsverhaltens<br />
kann eine Grundvorstellung <strong>für</strong> den<br />
Ableitungsbegriff entwickelt werden.<br />
⊲ Zur Präzisierung <strong>der</strong> Übermittlung des subjektiven<br />
Höreindrucks kann bei <strong>der</strong> Beschreibung<br />
des Gehörten die mathematische Fachsprache<br />
geför<strong>der</strong>t werden.<br />
Für das Themenfeld Graphen lesen und schreiben<br />
wurde auf entsprechende Art diese Hypothese<br />
generiert:<br />
⊲ Das Wie<strong>der</strong>erkennen von Funktionsgraphen<br />
und damit einhergehend das Übertragen des<br />
dazugehörenden Wissens auf graphische Notationsformen<br />
kann beim Musizieren und bei <strong>der</strong><br />
musikalischen Analyse von Tonhöhenverläufen<br />
helfen.<br />
145
Stefanie Anzenhofer, Würzburg<br />
5.3 Resümee<br />
Demzufolge wird das Wissen über verschiedene<br />
Funktionstypen mit den dazugehörenden Eigenschaften<br />
und Än<strong>der</strong>ungsverhalten in allen drei<br />
Themenfel<strong>der</strong>n auf verschiedene Weise genützt,<br />
angewendet und übertragen. Außerdem bietet das<br />
Konzept die Möglichkeit zu expressiv kreativem<br />
Arbeiten, wodurch Schülerinnen und Schüler<br />
auch im <strong>Mathematik</strong>unterricht eine emotionalsubjektive<br />
Komponente erfahren dürfen.<br />
Literatur<br />
Drevdahl, John E. (1956): Factors of Importance for Creativity.<br />
Journal of Clinical Psychology, 12(1), 21–26.<br />
Elliott, David J. (1995): Music Matters. A New Philosophy of<br />
Music Education. New York: Oxford.<br />
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Chor aktuell. Chorbuch <strong>für</strong> Gymnasien. Regensburg: Bosse.<br />
Gallus, Hans Ulrich (2005): Musikalische Fähigkeiten aufbauen.<br />
In: Jank, Werner (Hg.): Musik-<strong>Didaktik</strong>: Praxishandbuch<br />
<strong>für</strong> die Sekundarstufe I und II, Berlin: Cornelsen Scriptor, 101–<br />
113.<br />
Gläser, Jochen & Grit Laudel (2006): Experteninterviews<br />
und qualitative Inhaltsanalyse als Instrumente rekonstruieren<strong>der</strong><br />
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Hadjidemetriou, Constantia & Julian Williams (2002): Children‘s<br />
Graphical Conceptions. Research in Mathematics Education,<br />
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Hansen, Nils (1975): Kreativität im Musikunterricht. Wien:<br />
Universal Edition.<br />
Kalwies, Hannelore (2001): Notation im Schulmusikunterricht:<br />
ein Beitrag zur historisch-systematischen Musikdidaktik.<br />
Dissertation, Universität Oldenburg, Oldenburg, URL http:<br />
//oops.uni-oldenburg.de/volltexte/2001/354/.<br />
146<br />
Kösters, Claudia (1996): Was stellen sich Schüler unter Funktionen<br />
vor? mathematik lehren, 75, 9–13.<br />
Kratochwil, Heinz (1972): Der Phlegmatiker. Aus: Die vier<br />
Temperamente – Komödiantische Szenen <strong>für</strong> gemischten<br />
Chor, Kontrabass, Vibraphon, Becken und Gong (op. 81). Wien:<br />
Doblinger.<br />
Leu<strong>der</strong>s, Timo (2005): Kreativitätsför<strong>der</strong>n<strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />
In: Leu<strong>der</strong>s, Timo (Hg.): <strong>Mathematik</strong>-<strong>Didaktik</strong>, Berlin:<br />
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Malle, Günther (2000): Zwei Aspekte von Funktionen: Zuordnung<br />
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Mayring, Philipp (<strong>2008</strong>): Qualitative Inhaltsanalyse. Weinheim:<br />
Beltz.<br />
Meyer-Denkmann, Gertrud (1972): Struktur und Praxis neuer<br />
Musik im Unterricht. Wien: Universal Edition.<br />
Neuhaus, Kornelia (2001): Die Rolle des Kreativitätsproblems<br />
in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik. Berlin: Köster.<br />
Paynter, John & Peter Aston (1972): Klang und Ausdruck: Modelle<br />
einer schöpferischen Schulmusikpraxis. Nummer 51 in<br />
Rote Reihe, Wien: Universal Edition.<br />
Taylor, Irving A. (1959): The nature of the creative process.<br />
In: Creativity. An Examination of the Creative Process, New<br />
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Ulmann, Gisela (1968): Kreativität. Neue amerikanische Ansätze<br />
zur Erweiterung des Intelligenzkonzeptes. Weinheim:<br />
Beltz.<br />
Vollrath, Hans-Joachim (1987): Begriffsbildung als schöpferisches<br />
Tun im <strong>Mathematik</strong>unterricht. Zentralblatt <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>, 19(3), 123–127.<br />
Vollrath, Hans-Joachim (1989): Funktionales Denken. Journal<br />
<strong>für</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik, 10(1), 3–37.<br />
Weth, Thomas (1999): Kreativität im <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />
Hildesheim: Franzbecker.
• Von Daten zur Funktion: Skizzen eines anwendungsorientierten<br />
Analysisunterricht<br />
Joachim Engel, Ludwigsburg<br />
Der Aufsatz umreisst Perspektiven eines technologiegestützten Analysisunterrichts, von <strong>der</strong> Propädeutik<br />
einer elementaren Funktionenlehre in <strong>der</strong> Sekundarstufe I bis hin zur Hochschulausbildung<br />
in angewandter Analysis. Didaktische Intention ist die Entwicklung von Kompetenzen, funktionale<br />
Zusammenhänge aus <strong>der</strong> uns umgebenden Erfahrungswelt mit mathematischen Methoden zu modellieren.<br />
Kennzeichen des vorgestellten Ansatzes sind reale Daten als Grundlage <strong>für</strong> authentische<br />
und glaubwürdige Modellierungen, <strong>der</strong> Einsatz von Technologie als Werkzeug zum Problemlösen<br />
und zur Illustrierung von Konzepten und Zusammenhängen sowie die Vernetzung von Analysis mit<br />
(Schul-) Algebra, Stochastik und Numerik.<br />
1 Analysisunterricht in <strong>der</strong><br />
Diskussion<br />
Analysis zählt seit über 100 Jahren zum Curriculum<br />
an allgemeinbildenden Gymnasien [Führer,<br />
1981, 2012] und gehört zu den Grundpfeilern<br />
des <strong>Mathematik</strong>unterrichts in <strong>der</strong> Sekundarstufe<br />
II, denen eine unverän<strong>der</strong>t zentrale Bedeutung<br />
zukommt [Kultusministerkonferenz, 2002].<br />
Allerdings äußert sich gerade am Analysisunterricht<br />
seit vielen Jahren eine massive Kritik (siehe<br />
z.B. Henn, 2000): Er sei zu stark verfahrensorientiert<br />
und zu wenig vorstellungsorientiert; formales<br />
Vorgehen dominiere gegenüber inhaltlichen Überlegungen;<br />
zudem sei <strong>der</strong> Unterricht nur wenig vernetzend,<br />
sowohl was Wie<strong>der</strong>holungen und Fortsetzungen<br />
als auch was Bezüge zu Alltag, Umwelt<br />
und an<strong>der</strong>en Fächern anbetrifft. Gerade <strong>für</strong><br />
den real existierenden Analysisunterricht gelte die<br />
allseits beklagte übermäßige Kalkülorientierung,<br />
die mangelnde Vernetzung und <strong>der</strong> unzureichende<br />
Sinnbezug. Damit stellt sich die Frage, was<br />
angesichts leicht verfügbarer elektronischer Hilfsmittel<br />
„allgemeinbilden<strong>der</strong>“ Lehrstoff in Analysis<br />
sein soll und was nicht. Gewiss gibt es zahlreiche<br />
innovative Vorschläge und Konzepte, den Analysisunterricht<br />
sowohl in seiner Zielsetzung wie<br />
auch methodischen Ausrichtung neu zu gestalten.<br />
Im Folgenden umreißen wir Skizzen eines technologiegestützten<br />
anwendungsorientierten Analysisunterrichts.<br />
Die Eckpfeiler dieses Unterrichts lassen<br />
sich mit den drei Begriffen Technologie, Daten<br />
und Vernetzungen beschreiben.<br />
1.1 Technologie<br />
Die meisten Anwendungen von <strong>Mathematik</strong> sind<br />
im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht mehr ohne Computertechnologie<br />
denkbar. Dabei findet eine weitgehende<br />
Arbeitsteilung statt: Während sich die Maschine<br />
hervorragend dazu eignet, aufwändige Berechnungen<br />
durchführen, wendet sich <strong>der</strong> Mensch gerade<br />
den Fragen zu, die <strong>der</strong> Computer nicht entscheiden<br />
kann. Technologie erlaubt uns nicht nur<br />
lästige – aber im Prinzip verstandene – Routineaufgaben<br />
an den ”Rechenknecht” zu delegieren,<br />
son<strong>der</strong>n didaktisch konzipierte Software dient vor<br />
allem auch als multimediales Mittel zur Veranschaulichung<br />
und Illustration, um konzeptionelles<br />
Verstehen zu för<strong>der</strong>n. Es ermöglicht lernerzentrierte<br />
Unterrichtskonzepte und erlaubt einen experimentellen<br />
und entdeckenden Arbeitsstil. Zentrale<br />
Ideen <strong>der</strong> angewandten <strong>Mathematik</strong> können<br />
so illustriert und multimedial dargestellt werden,<br />
was den Erwerb eines verständnisvollen Umgangs<br />
mit diesen Konzepten entscheidend unterstützen<br />
kann. Schließlich erlaubt uns die mo<strong>der</strong>e Kommunikationstechnologie<br />
wichtige Information zu<br />
beschaffen, die in einem problemorientierten Unterricht<br />
nutzbar gemacht werden kann.<br />
1.2 Daten<br />
Umwelterschließung und Anwendungsorientierung<br />
sind im <strong>Mathematik</strong>unterricht streng genommen<br />
selten ohne reale Daten denkbar. Daten bilden<br />
die wissenschaftlich akzeptierte Grundlage<br />
des Erkenntnisgewinnes und sind beim Aufbau<br />
evidenzbasiertem neuen Wissens unverzichtbar,<br />
denn sie sind weitaus glaubwürdiger als Anekdoten<br />
o<strong>der</strong> bloße Meinungen. Anwendungsbezogener<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht, <strong>der</strong> diesen Namen verdient,<br />
sollte sich weitgehend auf reale Daten beziehen,<br />
nicht auf erfundenes Zahlenmaterial.<br />
Lei<strong>der</strong> sind Daten aus dem Leben oft krumm,<br />
und ihre arithmetische Verarbeitung endet selten<br />
in einem numerisch einfachen Ergebnis. Traditionelle<br />
Schulbücher umgehen diese Problematik<br />
einfach mit erfundenen Anwendungsbeispielen.<br />
Zu einer mehr o<strong>der</strong> weniger belanglosen Story<br />
werden bequeme Daten fingiert, um eine bestimmte<br />
(meist auf den vorangegangenen Seiten<br />
gerade eingeführte) Technik zu benutzen – ganz<br />
in <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> eingekleideten Textaufgaben.<br />
Die auftretenden Zahlen sind leicht handhabbar,<br />
rund und das Ergebnis selten mehr als dreistellig.<br />
Das davon erzeugte Bild von mathematischen Anwendungen<br />
ist verzerrt, weil es – heimlich o<strong>der</strong> offen<br />
– das Werkzeug über die Sache stellt und reale<br />
Kontexte verharmlost.<br />
Intellektuell redlicher anwendungsorientierter<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht verlangt wirkliche Fragestellungen<br />
und die Arbeit mit realen (nicht nur<br />
147
Joachim Engel, Ludwigsburg<br />
realistischen) Daten. Allerdings haben reale Daten<br />
oft Probleme: Messwerte fehlen o<strong>der</strong> sind inkorrekt.<br />
Berechnungen mit <strong>der</strong> Hand sind ermüdend<br />
und führen selten zu ,runden’ Ergebnissen. Manche<br />
Daten sind auch verfälscht aufgrund fehlerhafter<br />
Erhebungen, unehrlicher Antworten <strong>der</strong> Befragten<br />
o<strong>der</strong> missverständlicher Notationen. Die<br />
zur Analyse anzuwendenden Methoden sind selten<br />
eindeutig erkennbar o<strong>der</strong> bestimmt. Oft müssen<br />
noch verschiedene weitere Annahme formuliert<br />
werden, bevor eine Analyse beginnen kann.<br />
Hier werden PCs und leistungsfähige Taschenrechner<br />
zum wichtigen Werkzeug, das von lästiger<br />
Rechenroutine entlastet und hilft, sich auf<br />
die wesentlichen Elemente des Anwendens von<br />
<strong>Mathematik</strong> zu konzentrieren. Gewiss ist es instruktiv,<br />
aber auch zeitaufwändig, im Unterricht<br />
Daten zu erheben. Mo<strong>der</strong>ne Technologie erlaubt<br />
uns nicht nur, erhobene Daten effektiv zu verwalten<br />
und darzustellen, son<strong>der</strong>n ermöglicht Daten zu<br />
fast jedem interessierenden Themengebiet zu beschaffen<br />
[Engel, 2007].<br />
1.3 Vernetzungen<br />
<strong>Mathematik</strong> ist eine höchst kumulative Wissenschaft,<br />
<strong>der</strong>en Erkenntnisse stark auf Querbezügen<br />
und Kausalbezügen aufbauen, die sich bei je<strong>der</strong><br />
Mathematisierung aus den notwendigen Abstraktionen<br />
einstellen. Mathematisches Denken ist<br />
Denken in abstrahierten Zusammenhängen. Das<br />
Herstellen von Querbezügen zu schon Gelerntem<br />
hilft dabei, neues mathematisches Wissen aufzubauen.<br />
Guter <strong>Mathematik</strong>unterricht hebt Verbindungen<br />
zu an<strong>der</strong>en Lehrstoffen hervor, und för<strong>der</strong>t<br />
so mathematisches Verstehen und das Verständnis<br />
da<strong>für</strong> wie mathematische Ideen aufeinan<strong>der</strong> aufbauen<br />
und ein zusammenhängendes Ganzes bilden.<br />
Daher wird anwendungsbezogener Analysisunterricht<br />
seine Inhalte mit an<strong>der</strong>en Gebieten<br />
vernetzen, z. B. mit elementarer Funktionenlehre,<br />
(Linearer) Algebra, Stochastik, Anwen<strong>der</strong>geometrie,<br />
Numerik, . . .<br />
2 Beispiele<br />
Im Folgenden umreißen wir einige Beispiele, die<br />
angefangen in <strong>der</strong> elementaren Funktionenlehre<br />
<strong>der</strong> Sekundarstufe I bis hin zu numerisch anspruchsvollen<br />
Methoden <strong>für</strong> die Oberstufe und die<br />
Hochschulausbildung ein Ziel verfolgen: Schüler<br />
dazu befähigen, funktionale Zusammenhänge<br />
zu modellieren. Viele weitere Beispiele und vor<br />
allem eine Darlegung geeigneter mathematischer<br />
Methoden finden sich in einem kürzlich erschienen<br />
Lehrbuch [Engel, <strong>2009</strong>].<br />
2.1 Schriftgröße und Textlänge<br />
Wenn man einen festen Textabschnitt in einem<br />
Textverarbeitungssystem schreibt, dann kann man<br />
148<br />
1 http://es.wikisource.org/wiki/El_ingenioso_Hidalgo_Don_Quijote_de_la_Mancha<br />
die Länge des Textes beeinflussen, indem man unterschiedliche<br />
Schriftgrößen verwendet. Aber um<br />
wie viel än<strong>der</strong>t sich die Textlänge bei Vergrößerung<br />
<strong>der</strong> Schriftgröße? Wir haben einen Text<br />
genommen (den ersten Abschnitt aus Don Quijote<br />
von Cervantes auf Spanisch 1 ) und haben<br />
die Schriftgröße (pt) variiert. Die Variablen sind<br />
Schriftgröße und Textlänge. Abb. 19.1 zeigt ein<br />
Streudiagramm <strong>der</strong> Daten, in das nach Augenmaß<br />
sowohl eine Gerade<br />
y = 1,43x − 7,2<br />
wie auch eine quadratische Funktion<br />
y = 0,0572x 2<br />
eingepasst wurde. Man sieht sofort, dass die Gerade<br />
kein angemessenes Modell liefert und dass die<br />
Parabel ein sehr gutes Modell darstellt.<br />
Offensichtlich wächst mit ansteigen<strong>der</strong><br />
Schriftgröße nicht nur die Breite, son<strong>der</strong>n auch<br />
die Höhe <strong>der</strong> Buchstaben. Dies liefert eine plausible<br />
Begründung <strong>für</strong> die Eignung des quadratischen<br />
Modells. Wird die Schriftgröße um das<br />
1,5-fache erhöht, vergrößert sich die Textlänge<br />
etwa um das 1,5 2 = 2,25-fache. Wird die Schriftgröße<br />
verdoppelt, so wird sich die Textlänge in<br />
etwa vervierfachen.<br />
Abbildung 19.1: Schriftgröße und Textlänge eines<br />
vorgegebenen Textes mit eingepasster Gerade und<br />
Parabel. Im unteren Teil: Residuendiagramm <strong>für</strong><br />
die eingepasste Parabel.<br />
Dennoch kommt es zu Abweichungen zwischen<br />
Daten und Modell, wie dem Residuendiagramm<br />
im unteren Teil von Abb. 19.1 zu entnehmen<br />
ist. Diese Abweichungen sind kein Anzeichen<br />
da<strong>für</strong>, dass das Parabelmodell ungeeignet<br />
ist. Modell und „Realität“ stimmen bei realen<br />
mathematischen Anwendungen nie überein.<br />
Diese vielleicht wichtigste Lektion des Novizen<br />
beim Erlernen <strong>der</strong> Kunst des mathematischen Modellierens<br />
ist im vorliegenden Fall sehr plausibel:
Von Daten zur Funktion: Skizzen eines anwendungsorientierten Analysisunterricht<br />
Das Textverarbeitungssystem än<strong>der</strong>t bei verschiedenen<br />
Schriftgrößen den Zeilenumbruch. Und ein<br />
Wort, das einmal gerade noch in die Zeile passt,<br />
kommt bei verän<strong>der</strong>ter Schriftgröße in eine neue<br />
Zeile, während <strong>der</strong> Text <strong>der</strong> alten Zeile gestreckt<br />
wird. Es lohnt sich durchaus, eine entsprechende<br />
Datenerhebung mit einem Text eigener Wahl<br />
durchzuführen und dabei die Abweichungen <strong>der</strong><br />
Messdaten vom Parabelmodell zu beachten.<br />
2.2 Verteilung von Anfangsziffern<br />
Sind bestimmte Ziffern im Alltag bevorzugt, o<strong>der</strong><br />
kommen alle zehn Ziffern ungefähr gleich oft vor?<br />
Zur Untersuchung dieser Frage haben wir willkürlich<br />
irgendeine zweistellige Zahl genommen, z.B.<br />
17, und dann mittels Suchmaschine im Internet die<br />
Anzahl <strong>der</strong> Seiten ermittelt, auf denen jeweils die<br />
Ziffern 117, 217, 317 bis 917 auftreten. Kommen<br />
die Anfangsziffern von 1 bis 9 etwa gleich häufig<br />
vor, o<strong>der</strong> werden bestimmte Zahlen bevorzugt?<br />
Abbildung 19.2: Google-Suche mit Angabe <strong>der</strong><br />
Anzahl <strong>der</strong> Seiten, auf denen die Ziffer 117 vorkommt<br />
Von den im Internet ermittelten Werten wurden<br />
die relativen Häufigkeiten berechnet und in<br />
ein Streudiagramm eingetragen (Abb. 19.3). Dabei<br />
lässt sich zunächst feststellen, dass die Ziffern<br />
keineswegs gleichverteilt sind. In den meisten Fällen<br />
liefert eine Funktion <strong>der</strong> Form<br />
<br />
y = log 1 + 1<br />
<br />
x<br />
eine hervorragende Anpassung. Dahinter steckt<br />
ein Gesetz, das nach Frank Benford (1883-1948)<br />
benannt ist.<br />
Abbildung 19.3: Streudiagramm <strong>der</strong> relativen<br />
Häufigkeiten dreistelliger Zahlen mit Endziffern<br />
17 inkl. Benford-Funktion<br />
!<br />
!<br />
Bei unserer Internet-Recherche konnte man<br />
jedoch auch auf markante Ausreißer – wen überrascht<br />
es bei statistischen Zahlen – stoßen: Geht<br />
man z.B. von <strong>der</strong> Ziffer 65 aus, so fällt eine beson<strong>der</strong>e<br />
Häufigkeit <strong>der</strong> Zahl 365 auf (warum wohl?),<br />
die gar nicht dem Benford-Gesetz entsprechen<br />
mag, siehe Abb. 19.4. Eine elementare Erklärung<br />
dieses Gesetzes findet sich z.B. bei [Humenberger,<br />
<strong>2008</strong>].<br />
Abbildung 19.4: Streudiagramm <strong>der</strong> relativen<br />
Häufigkeiten dreistelliger Zahlen mit Endziffern<br />
65 inkl. Benford-Funktion<br />
Abbildung 19.5: Temperaturzuwachs von unterschiedlichen<br />
Volumina Wasser nach 30 Sekunden<br />
in <strong>der</strong> Mikrowelle mitsamt per Augenmaß angepasster<br />
antiproportionaler Funktion und Residuendiagramm<br />
(unterer Teil)<br />
2.3 Wasser in Mikrowelle erhitzen<br />
Verschiedene Mengen Wasser wurden jeweils <strong>für</strong><br />
30 Sekunden in <strong>der</strong> Mikrowelle erhitzt. Wie hängt<br />
<strong>der</strong> Temperaturzuwachs in diesem Experiment<br />
von <strong>der</strong> Wassermenge ab? Die Daten bestehen<br />
aus zehn Messwerten <strong>der</strong> jeweiligen Temperatur<br />
!<br />
!<br />
149
Joachim Engel, Ludwigsburg<br />
in Grad Celsius vor und nach dem Erhitzen in<br />
<strong>der</strong> Mikrowelle sowie <strong>der</strong> jeweiligen Wassermenge<br />
(in ml).<br />
Hierbei wird schnell ersichtlich, dass eine einfache<br />
Antiproportionalität <strong>der</strong> Form y = a x den<br />
Daten nicht gerecht wird, da im Residuendiagramm<br />
systematische Abweichungen zwischen<br />
Daten und Modell erkennbar sind. Die Daten sind<br />
zwar offensichtlich gekrümmt, aber eine Antiproportionalität<br />
scheint nicht geeignet, diese Krümmung<br />
angemessen zu erfassen.<br />
Bevor wir weitere Parameter einführen und<br />
dann per Schieberregler probieren, bis eine halbwegs<br />
zufrieden stellende Anpassung erzielt ist,<br />
schlagen wir einen an<strong>der</strong>en Weg ein: Durch Logarithmierung<br />
bei<strong>der</strong> Variablen erhalten wir ein<br />
Streudiagramm mit einem annähernd linearen<br />
Trend (siehe Abb. 19.6). In dieses Streudiagramm<br />
wird nach <strong>der</strong> kleinsten-Quadrate-Methode eine<br />
Gerade eingepasst, was von vielen Softwarepaketen<br />
problemlos vollzogen werden kann:<br />
logTZuwachs = a · logVol + b,<br />
wobei logTZuwachs = log(TZuwachs) und<br />
logVol = log(Volumen) bezeichnet.<br />
Aus Steigung und Achsenabschnitt dieser eingepassten<br />
Geraden lässt sich jetzt per Rücktransformation<br />
ein geeignetes Modell <strong>für</strong> die Ursprungsdaten<br />
ermitteln:<br />
TZuwachs = b · Volumen b .<br />
Abbildung 19.6: Streudiagramm <strong>der</strong> logarithmierten<br />
Daten mitsamt eingepasster kleinster-<br />
Quadrate-Geraden.<br />
150<br />
Im vorliegenden Fall ergibt sich hieraus<br />
y = 270,43<br />
,<br />
x0,607 !<br />
dargestellt in Abb.19.7. Auch hier beobachten<br />
wir im Residuendiagramm Abweichungen zwischen<br />
Daten und Modell. Diese weisen jedoch<br />
keine systematische Struktur auf, son<strong>der</strong>n mögen<br />
durch weitere Störgrößen wie z.B. unterschiedliche<br />
Anfangstemperaturen des zu erhitzenden<br />
Wasser bzw. durch Messungenauigkeiten entstanden<br />
sein.<br />
Abbildung 19.7: Eingepasste Potenzfunktion, erhalten<br />
nach Rücktransformation <strong>der</strong> in die logarithmierten<br />
Daten eingepassten Geraden<br />
Als Alternative kann man auch versuchen, direkt<br />
ein kleinste Quadrate-Kriterium zu minimieren.<br />
Basierend auf <strong>der</strong> Modellannahme y = a<br />
xb sucht man nach Werten <strong>für</strong> die Parameter a und<br />
b, so dass<br />
F(a,b) =<br />
n<br />
∑<br />
i=1<br />
<br />
yi − a<br />
x b i<br />
2<br />
minimal wird.<br />
Nichtlineare Regression läuft auf die Anwendung<br />
numerisch sehr anspruchsvoller Verfahren<br />
wie z.B. den iterativen Gauß-Newton Algorithmus<br />
hinaus, einer mehrdimensionalen Verallgemeinerung<br />
des auch in <strong>der</strong> Schule bekannten Newton-<br />
Verfahrens zur approximativen Bestimmung einer<br />
Nullstelle. Einige Softwarepakete führen curve<br />
fitting <strong>für</strong> eine kleine im Programm vorgegebene<br />
Menge nichtlinearer Funktionen aus. Eine flexible<br />
Anwendung des Gauß-Newton-Algorithmus<br />
verlangt jedoch den Einsatz professioneller Software.<br />
wie z.B. die statistische Analysesoftware<br />
!
Von Daten zur Funktion: Skizzen eines anwendungsorientierten Analysisunterricht<br />
R, die sich im akademischen Bereich in <strong>der</strong> Stochastik<br />
durchgesetzt hat und als open source unter<br />
http://cran.r-project.org frei erhältlich<br />
ist.<br />
Zur Bestimmung <strong>der</strong> Parameter a und b müssen<br />
Nullstellen <strong>der</strong> partiellen Ableitungen <strong>der</strong><br />
Funktion F zweier Verän<strong>der</strong>licher ermittelt werden.<br />
Mit den Anfangsschätzern a = 250, b =<br />
0,5 endet <strong>der</strong> in R implementierte Gauß-Newton-<br />
Algorithmus nach 6 Iterationen mit den Werten<br />
a = 270,88 und b = 0,609.<br />
Man beachte, dass wir beim direkten Minimieren<br />
eines kleinste-Quadrate-Kriteriums ein (hier<br />
geringfügig) an<strong>der</strong>es Resultat erhalten haben als<br />
beim Einpassen einer Gerade in die per Logarithmieren<br />
linearisierten Daten mit folgen<strong>der</strong> Rücktransformation.<br />
Mag die Konstante a maßgeblich von <strong>der</strong> Beschaffenheit<br />
und Leistungsfähigkeit <strong>der</strong> Mikrowellenherdes<br />
bestimmt sein, so fällt eine Interpretation<br />
des Exponenten b recht schwer. Wir wagen<br />
folgende spekulative Erklärung: <strong>der</strong> ermittelte<br />
Wert von b = 0,609 bzw. 0,607 liegt nicht weit<br />
vom Wert 2 3 , ein Wert also, <strong>der</strong> das Verhältnis <strong>der</strong><br />
Dimensionen von Wärme speicherndem Volumen<br />
und Wärme abgeben<strong>der</strong> Oberfläche des Wasserbehälters<br />
wie<strong>der</strong>gibt.<br />
2.4 Bevölkerung von Sao Paulo<br />
Sao Paulo gehört mit ca. 11 Millionen Einwohnern<br />
zu den bevölkerungsstärksten Metropolen<br />
<strong>der</strong> Welt. Die hohe Bevölkerungszahl ist auf einen<br />
rasanten Zuwachs im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t zurück zu<br />
führen (Abb. 19.8).<br />
Abbildung 19.8: Entwicklung <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
von Sao Paulo<br />
Im Streudiagramm nehmen wir eine sehr hohe<br />
Zuwachsrate <strong>der</strong> Bevölkerung zwischen 1920 und<br />
1970 war, die dann etwas abgemil<strong>der</strong>t wird und<br />
sich (möglicherweise) einer oberen Grenze annähert.<br />
Eine Klasse von Funktionen, die zu dieser<br />
Beschreibung passt, ist die Menge <strong>der</strong> logistischen<br />
Funktionen<br />
y =<br />
y0S<br />
y0 + (S − y0)exp(−kSx)<br />
!<br />
(1)<br />
mit den drei Parametern y0 als Anfangswert, dem<br />
Wachstumsfaktor k sowie <strong>der</strong> Sättigungsgrenze S.<br />
Im Folgenden stellen wir eine elementare Methode<br />
vor, wie man diese drei Parameter aus den Daten<br />
schätzen kann. Zunächst linearisieren wir die<br />
Daten, indem wir (1) umformen zu<br />
<br />
1 1<br />
S − y0<br />
ln − = ln − kSx, (2)<br />
y S<br />
Sy0<br />
woraus geschlossen werden kann, dass – falls das<br />
logistische Modell gilt – das Streudiagramm <strong>der</strong><br />
logarithmierten Daten (xi,y∗ i ) mit<br />
y ∗ <br />
1<br />
i = ln − 1<br />
<br />
(3)<br />
S<br />
eine lineare Struktur hat. Mit Hilfe einer Geradenanpassung<br />
im Streudiagramm (x1,y∗ 1 , . . . ,<br />
(xn,y∗ n)<br />
yi<br />
y ∗ = mt + b (4)<br />
lassen sich dann die fehlenden Parameter y0 und<br />
k aus dem Achsenabschnitt und <strong>der</strong> Steigung <strong>der</strong><br />
eingepassten (kleinsten-Quadrate-) Gerade schätzen.<br />
Per Rücktransformation folgt <strong>für</strong> die Parameter<br />
k und y0 im ursprünglichen logistischen Modell<br />
dann<br />
k = − m<br />
y0 =<br />
S<br />
S<br />
1 + Sexp(b)<br />
(5)<br />
Die dargestellte Vorgehensweise hat jedoch<br />
lei<strong>der</strong> noch einen entscheidenden Mangel: Wir haben<br />
so getan, als würden wir die Obergrenze S<br />
kennen. In den allermeisten Anwendungen des logistischen<br />
Wachstumsmodells ist aber gerade die<br />
Frage nach <strong>der</strong> Obergrenze die inhaltlich am meisten<br />
interessierende Frage, die keineswegs a priori<br />
bekannt ist („Wie viele Leute werden von <strong>der</strong> Epidemie<br />
betroffen?“).<br />
Bei folgen<strong>der</strong> Modellierung kommen wir,<br />
dank Einsatz von Technologie, ohne Vorgabe <strong>der</strong><br />
Obergrenze S aus [Engel, 2010]. Wir definieren<br />
einen Schieberegler, dem wir den Wert von S zuweisen<br />
und führen – basierend auf diesem S – die<br />
Transformation (3) aus. Die transformierten Daten<br />
(x1,y ∗ 1 ), . . . , (xn,y ∗ n) werden in einem Streudiagramm<br />
dargestellt. Jetzt wird <strong>der</strong> Schieberegler<br />
S so lange variiert, bis die Daten eine möglichst<br />
gute lineare Struktur haben, z.B. bis die Summe<br />
<strong>der</strong> Abweichungsquadrate so klein wie möglich<br />
ist. Da hier nur eine Stellgröße verän<strong>der</strong>t wird,<br />
führt dieser Schritt zu einem robusten Ergebnis.<br />
Mit diesem Wert von S werden die Daten so gut es<br />
nur irgend geht (im Sinne des kleinste-Quadrate-<br />
Kriteriums) in eine lineare Struktur überführt. Den<br />
so erzielten Wert <strong>für</strong> S nehmen wir als Schätzwert<br />
<strong>für</strong> die Populationsobergrenze. Die Schätzung von<br />
151
Joachim Engel, Ludwigsburg<br />
k und y0 erfolgt dann wie oben unter (4) beschrieben.<br />
Angewandt auf die vorliegenden Bevölkerungsdaten<br />
aus Sao Paulo, ergibt sich <strong>für</strong> einen<br />
Wert von S = 12202093 eine eingepasste Gerade<br />
von<br />
y ∗ = −0,06177x + 105,4 ,<br />
woraus nach Einsetzen in (5) schließlich y0 =<br />
45480 und k = 5,105 × 10−9 resultiert (siehe<br />
Abb. 19.9 und 19.10).<br />
Man kann sich auch hier direkt an einem<br />
kleinste-Quadrate Kriterium orientieren und versuchen<br />
die Funktion<br />
n <br />
2 y0S<br />
F(y0,k,S) = ∑ yi −<br />
y0 + (S − y0)exp(−kSxi)<br />
i=1<br />
zu minimieren.<br />
Mit <strong>der</strong> Software R erhält man, wenn man<br />
mit den Anfangsschätzern y0 = 45480, k = 0,06<br />
und S = 12000000 startet, nach 7 Iterationen <strong>für</strong><br />
die Parameter die folgenden Werte: y0 = 12202,<br />
k = 6,7718 × 10 −9 und S = 11443770.<br />
Abbildung 19.9: Linearisierte Daten zur Bevölkerungsentwicklung<br />
von Sao Paulo mit einergepasster<br />
kleinste-Quadrate-Gerade<br />
Abbildung 19.10: Sich ergebende Anpassung einer<br />
logistischen Funktion<br />
152<br />
!<br />
3 Zusammenfassung<br />
Die vorgestellten Beispiele sollten illustrieren,<br />
was technologiegestützter datenbezogener Unterricht<br />
in Analysis meint. Dabei geht es nicht nur<br />
darum, per curve fitting passende Werte <strong>für</strong> bestimmte<br />
Parameter zu ermitteln o<strong>der</strong> eine Kurvenanpassung<br />
zu finden, bei <strong>der</strong> möglichst keine<br />
Abweichungen zwischen Daten und Modell<br />
auftreten, denn jede mathematische Modellierung<br />
steht im Spannungsfeld zwischen mathematischem<br />
Modell und Kontext. Bei datenbezogenem<br />
Modellieren funktionaler Zusammenhänge<br />
geht es einerseits um die Auswahl geeigneter und<br />
zugleich interpretierbarer Funktionstypen und an<strong>der</strong>erseits<br />
um verständige Bestimmung von Parametern.<br />
Dabei spielen Standardfunktionen (linear,<br />
Polynom, Exponential, etc.) die Rolle von wichtigen<br />
Bausteinen. Ebenso bedeutend wie die instrumentelle<br />
Tätigkeit des Kurvenanpassens sind jedoch<br />
Fragen <strong>der</strong> Sinngebung und Interpretation:<br />
Was bedeutet <strong>der</strong> ausgewählte Funktionstyp <strong>für</strong><br />
das Ausgangsproblem? Welche Rolle und Bedeutung<br />
nehmen die ermittelten Parameter ein? Ein<br />
noch so gut passendes mathematisches Modell,<br />
das <strong>für</strong> den Kontext keinerlei Plausibilität besitzt,<br />
mag genauso wertlos sein wie eine noch so überzeugend<br />
erscheinende Theorie, die aber einer empirischen<br />
Prüfung nicht standhält.<br />
Literatur<br />
Engel, Joachim (2007): Daten im <strong>Mathematik</strong>unterricht: Wozu?<br />
Welche? Woher? MU, 51(3), 12–22.<br />
Engel, Joachim (<strong>2009</strong>): Anwendungsorientierte <strong>Mathematik</strong>:<br />
Von Daten zur Funktion. Eine Einführung in die mathematische<br />
Modellbildung <strong>für</strong> Lehramtsstudierende. Heidelberg,<br />
Berlin: Springer Verlag.<br />
Engel, Joachim (2010): Parameterschätzen in logistischen<br />
Wachstumsmodellen. Stochastik in <strong>der</strong> Schule, 30(1), 13–18.<br />
Führer, Lutz (1981): Zur Entstehung und Begründung des<br />
Analysis-Unterrichts an allgemeinbildenden Schulen. MU,<br />
27(5), 81–122.<br />
Führer, Lutz (2012): Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong><br />
Computer zum Analysisunterricht des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts? In:<br />
Kortenkamp, Ulrich & Anselm Lambert (Hg.): Medien Vernetzen<br />
/ Zur Zukunft des Analysisunterrichts vor dem Hintergrund<br />
<strong>der</strong> Verfügbarkeit Neuer Medien (und Werkzeuge), Hildesheim:<br />
Franzbecker, 103–146.<br />
Humenberger, Hans (<strong>2008</strong>): Eine elementarmathematische Begründung<br />
des Benford-Gesetzes. MU, 54(1), 24–34.<br />
Kultusministerkonferenz (2002): Einheitliche Prüfungsanfor<strong>der</strong>ungen<br />
in <strong>der</strong> Abiturprüfung <strong>Mathematik</strong> (Beschluss<br />
<strong>der</strong> Kultusministerkonferenz vom 01.12.1989 i.d.F. vom<br />
24.05.2002). München: Luchterhand.
• Analysis in <strong>der</strong> Schule zwischen Präzision und Approximation –<br />
Ein Plädoyer <strong>für</strong> Algorithmik und Animation<br />
Bodo von Pape, Oldenburg<br />
„In dem gesamten Lehrstoff waltet in sehr auffallen<strong>der</strong> Weise das Interesse an <strong>der</strong> formalen Gleichungstheorie<br />
vor. . . . künstliche höhere Gleichungen, die so gemacht sind, dass sie sich durch gewisse<br />
Kniffe auf quadratische zurückführen lassen. Die höheren Gleichungen, meine Herren, die<br />
man in <strong>der</strong> Physik o<strong>der</strong> sonst irgendwo gebraucht, werden diese wun<strong>der</strong>bare Eigenschaft meistens<br />
nicht haben. Von <strong>der</strong> angenäherten Auflösung numerischer Gleichungen aber, die praktisch allein<br />
Bedeutung hat und zudem viel Anregung gibt, ist nicht die Rede.“<br />
„Die Approximationsmathematik ist <strong>der</strong>jenige Teil unserer Wissenschaft, den man in den Anwendungen<br />
hat.“<br />
„Der Fehler, an welchem <strong>der</strong> heutige Betrieb <strong>der</strong> Wissenschaft krankt, ist <strong>der</strong>, dass sich die Theoretiker<br />
zu einseitig mit <strong>der</strong> Präzisionsmathematik beschäftigen, während die Praktiker die Approximationsmathematik<br />
gebrauchen, ohne mit <strong>der</strong> Präzisionsmathematik Fühlung zu haben.<br />
Überhaupt aber bleibt fraglich, ob das Wesen einer richtigen Naturerklärung auf präziser mathematischer<br />
Basis zu suchen ist, ob man je über eine geschickte Verwendung <strong>der</strong> Approximationsmathematik<br />
hinausgelangen kann.“<br />
Felix Klein in seinem Eintreten <strong>für</strong> die Analysis an den Schulen 1901/07<br />
1 Kurvendiskussion<br />
Beispiel 1.<br />
f (x) = 2 x 4 − x<br />
+ 2 · cos(2x)<br />
2<br />
Für die Nullstellensuche bietet sich ein Algorithmus<br />
an, bei dem man sich die Nullstelle erwan<strong>der</strong>t<br />
mit einer kleinen Schrittweite ∆x = s:<br />
Begib dich an den Startpunkt.<br />
Tu Folgendes:<br />
Geh auf <strong>der</strong> Kurve voran um s.<br />
Falls dabei ein VZW vorliegt, dann<br />
kehre um mit Schrittweite s/2.<br />
Das tu so lange, bis s hinreichend klein ist.<br />
Mit diesem Algorithmus kann man sich die<br />
VZW-Stellen einer Funktion in x-Richtung auflisten<br />
lassen. Konkret umsetzen lässt sich das mit einer<br />
benutzerdefinierten VBA-Funktion in Excel.<br />
Pendelsuche DERIVE-Werte<br />
-1,8678063 -1,867806293<br />
-1,1741375 -1,174137519<br />
0,9641237 0,9641236782<br />
2,2689503 2,268950298<br />
3,9297233 3,929723330<br />
5,5373673 5,537367293<br />
7,0352000 7,035199974<br />
8,6044803 8,604480256<br />
10,4392643 10,43926425<br />
11,3634196 11,36341958<br />
Algebraisch kommt natürlich auch ein CAS-<br />
System wie DERIVE nicht zum Ziel. Dessen Numerik<br />
kann man allerdings ohne weiteres Nachdenken<br />
100 geltende Ziffern abgewinnen. Der<br />
Vergleich zeigt jedoch, dass die Werte, die die<br />
selbst erklärte Excel-Funktion liefert, <strong>für</strong> jeden<br />
praktischen Zweck in ihrer Genauigkeit ausreichen.<br />
(Ein theoretischer Zweck, <strong>für</strong> den mehr Stellen<br />
wichtig wären, ist auch nicht leicht auszumachen.)<br />
Für die Extremstellen <strong>der</strong> Funktion – wie<br />
auch die <strong>der</strong> zugehörigen Steigungsfunktion<br />
(herkömmlich: „Wendestellen“ <strong>der</strong> Funktion) –<br />
kommt man mit einer leichten Abwandlung <strong>der</strong><br />
VZW-Funktion zum Ziel:<br />
Function ftop(start)<br />
schritt = 0.01<br />
stelle = start<br />
Do<br />
topli = f(stelle) >= f(stelle - schritt)<br />
topre = f(stelle) >= f(stelle + schritt)<br />
top = topli And topre<br />
stelle = stelle + schritt<br />
If top Then schritt = -(schritt / 5)<br />
fertig = Abs(schritt)1E-3<br />
Loop Until fertig<br />
If Abs(stelle) > 1E3 Then stelle = start<br />
TopP = stelle<br />
End Function<br />
Was sich hinter „f(x)“ verbirgt ist dabei unerheblich.<br />
Vielleicht handelt es sich um die Steigungsfunktion<br />
o<strong>der</strong> die Krümmungsfunktion unserer<br />
Beispielsfunktion f :<br />
Const h = 1E-8<br />
Function fstei(x))<br />
fstei = (f(x+h) - f(x)) / h<br />
End Function<br />
Function fkr (x)<br />
dy = f(x + h) - f(x)<br />
dl = (h^2 + dy^2)^0.5<br />
m1 = fstei(x+h)<br />
m2 = fstei(x)<br />
dwin = Atn(m1) - Atn(m2)<br />
fkr = dwin / dl<br />
End Function<br />
153
Bodo von Pape, Oldenburg<br />
Der klassische Weg zu den Stellen maximaler<br />
Krümmung führt über das Nullsetzen <strong>der</strong> Ableitung<br />
<strong>der</strong> Krümmungsfunktion<br />
k(x) =<br />
f ′′ (x)<br />
1 + f (x) 2 .<br />
DERIVE liefert hier einen beeindruckenden<br />
Term – einen Quotienten, <strong>der</strong> sich über 3 Zeilen<br />
hinzieht.<br />
Beim Nullsetzen dieses Terms und <strong>der</strong> Eingabe<br />
eines geeigneten Intervalls liefert DERIVE<br />
genauere Werte - allerdings auch „nur“ numerische<br />
Näherungen. Die Tabelle vermittelt einen<br />
Eindruck von <strong>der</strong> Verlässlichkeit <strong>der</strong> selbst definierten<br />
Funktion krmax:<br />
krmax DERIVE<br />
1,604 1,604<br />
4,725 4,726<br />
7,832 7,833<br />
10,915 10,916<br />
13,955 13,956<br />
Für schulische und sonstige unspezifische<br />
Zwecke dürfte auch diese Genauigkeit noch ausreichen.<br />
In jedem Fall wird deutlich, dass ein algebraisches<br />
Vorgehen nicht zielführend und damit<br />
bereits im Ansatz verfehlt ist.<br />
2 Optimierung und Anpassung<br />
Als Universaltool <strong>für</strong> <strong>der</strong>artige Problemstellungen<br />
bietet Excel den Solver. Er ist aber - insbeson<strong>der</strong>e<br />
mit seinen Optionen - sehr undurchsichtig und<br />
zudem nicht sehr verlässlich. Ein Makro, das <strong>für</strong><br />
die Reichweite <strong>der</strong> Schulmathematik in <strong>der</strong> Leistungsstärke<br />
gleichwertig ist, ist – auf <strong>der</strong> Basis des<br />
Wan<strong>der</strong>-Algorithmus – leicht erstellt: Zielwertsuche<br />
zur Anpassung<br />
Sub finde()<br />
schritt = 0.1<br />
[stelle] = 0<br />
Min = 100<br />
Do<br />
[stelle] = [stelle] + schritt<br />
krit = Abs([wert] - [ziel])<br />
umkehr = krit > Min<br />
If umkehr Then schritt = -schritt / 5<br />
Min = krit<br />
Loop Until Abs(schritt) < 1E-8<br />
End Sub<br />
Voraussetzung <strong>für</strong> den Einsatz dieses Makro<br />
ist die Benennung von 3 Zellen: „stelle“, „wert“<br />
und “ziel“ (Über „ziel = 0“ kann man Minimierungsprobleme<br />
lösen.) Basis <strong>für</strong> das Vorgehen ist<br />
in <strong>der</strong> Regel eine Schaufigur. Sie impliziert durch<br />
Durchrechnen eines Beispiels.<br />
Beispiel 2: Leiterproblem<br />
2 Leitern verschiedener Länge lehnen an gegenüberliegende<br />
Wände. Sie überschneiden sich in ei-<br />
154<br />
ner gegebenen Höhe h = 40. Wie groß ist <strong>der</strong> Abstand<br />
<strong>der</strong> Wände?<br />
Martin Gardner schreibt dazu: „Der Charme<br />
dieser Aufgabe liegt in <strong>der</strong> scheinbaren Einfachheit<br />
<strong>der</strong> Lösung, die schnell in einen algebraischen<br />
Dschungel führt.“<br />
!<br />
Abbildung 20.1: Das Leiterproblem<br />
Die analytische Lösung führt – je nach Ansatz<br />
– auf eine Gleichung vom Grad 4 o<strong>der</strong> 3. Einfacher<br />
kommt man mit dem Finde-Makro zum Ziel:<br />
Für „stelle“ nimmt man den Abstand <strong>der</strong> Leitern<br />
und <strong>für</strong> „wert“ die Höhe des Schnittpunkts. Dann<br />
geht es darum, durch Heranschieben von rechts<br />
die Höhe auf den „ziel“-Wert 40 zu justieren.<br />
Ein algebraischer Einstieg in die Lösung – bis<br />
hin zu einer Gleichung, die einem nicht etwa zu<br />
einem Lösungsterm verhilft, son<strong>der</strong>n auch nur zu<br />
einem Zahlwert – bedarf hier wohl einer beson<strong>der</strong>en<br />
Rechtfertigung.<br />
Beispiel 3: Minimierung <strong>der</strong> Fläche unter<br />
einer Kurve<br />
Gegeben ist ein Funktionsgraph, <strong>der</strong> oberhalb <strong>der</strong><br />
x-Achse verläuft. Gesucht ist <strong>der</strong> linke Rand eines<br />
Streifens <strong>der</strong> Breite 3, <strong>für</strong> den die Fläche unterhalb<br />
<strong>der</strong> Kurve minimal wird.<br />
Für die Funktion<br />
f (x) = x 2<br />
+<br />
8 8<br />
erhält man etwa mit DERIVE o<strong>der</strong> MAPLE über<br />
Nullsetzen <strong>der</strong> Ableitung <strong>der</strong> Zielfunktion <strong>für</strong> die<br />
Startstelle des x-Intervalls den Ausdruck<br />
3 √ 73<br />
16<br />
− 2 · ln<br />
<br />
41 − 3 √ 73<br />
32<br />
Durch Hin- und Herschieben <strong>der</strong> Fläche zur<br />
Minimierung des numerischen Wertes <strong>für</strong> den
Flächeninhalt liefert das Finde-Makro den Wert<br />
3,068899118.<br />
Nur wer bei <strong>der</strong> letzten Stelle anstelle <strong>der</strong> 8<br />
eine 9 haben möchte kann den Wert <strong>der</strong> algebraischen<br />
Lösung würdigen. Ansonsten wird man nur<br />
mit Interesse registrieren, dass ein nichttriviales<br />
Beispiel gefunden ist, bei dem man algebraisch<br />
tatsächlich zum Ziel kommt: Die Probleme ab <strong>der</strong><br />
10. Stelle wird man gern in Kauf nehmen, wenn<br />
man über einen Algorithmus verfügt, <strong>der</strong> mit einer<br />
kurzen Animation <strong>der</strong> Schaufigur zum Ziel führt –<br />
ganz unabhängig vom Funktionstyp.<br />
Abbildung 20.2: Minimierung <strong>der</strong> Fläche unter<br />
einer Kurve<br />
Beispiel 4: Abstand eines Punktes von einer<br />
Kurve<br />
Im einfachsten Fall geht es um den Abstand eines<br />
Punktes von einer Parabel. Der klassische Weg<br />
führt – über das Nullsetzen <strong>der</strong> Ableitung des<br />
Terms <strong>für</strong> den Abstand – auf eine Gleichung 3.<br />
Grades. Eine Alternative führt über die Orthogonalität<br />
von Verbindungsstrecke und Tangente an<br />
die gleiche Hürde.<br />
Das Problem lässt sich erweitern zu <strong>der</strong> Frage<br />
nach den Fußpunkten <strong>der</strong> Lote eines Punktes P auf<br />
eine Kurve. Hier ist man gut beraten, sich das Herleiten<br />
einer komplexeren Gleichung (durch Ableiten)<br />
zu ersparen: Besser arbeitet man von vornherein<br />
numerisch und minimiert die Distanz von P zu<br />
dem Kurvenpunkt A(x, f (x)). Wie <strong>der</strong> Term zu f<br />
aussieht, das ist auch hier ganz egal.<br />
Abbildung 20.3: Abstand eines Punktes zu einer<br />
Kurve<br />
Analysis in <strong>der</strong> Schule zwischen Präzision und Approximation<br />
Beispiel 5: Logistisches Wachstum<br />
445 Teilnehmer waren beim 12. City-Lauf am<br />
Start. Im Vorjahr hatte die Teilnehmerzahl noch<br />
bei 315 gelegen, davor bei 210.<br />
⊲ Wieviele Teilnehmer haben den Lauf beim ersten<br />
Start begründet?<br />
⊲ Wird die Teilnehmerzahl noch die 1000er-<br />
Grenze erreichen?<br />
Um die Hochrechnung einer logistischen Entwicklung<br />
macht die Oberstufen-Analysis einen<br />
großen Bogen. Dabei könnte sich doch gerade hier<br />
die Leistungskraft <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> unter Beweis<br />
stellen! Selbst falsche Unterstellungen müssen als<br />
Ausrede herhalten: „Die Sättigungsgrenze S muss<br />
sich aus <strong>der</strong> Problemstellung direkt ergeben o<strong>der</strong><br />
es sind weitere Vorgaben bzw. Annahmen nötig.“<br />
(Zitat aus einem Schulbuch)<br />
Eine Strategie mit dem Finde-Makro führt<br />
leicht zum Ziel: Die beiden ersten Punkte und ein<br />
fiktiver Sättigungswert legen eine Kurve fest. Der<br />
Sättigungswert wird so eingestellt, dass die Kurve<br />
durch den dritten Punkt geht. (NB: Mit Excels<br />
Solver bekommt man hier große Probleme.)<br />
Abbildung 20.4: Logistisches Wachstum<br />
Tatsächlich führt auch ein System von Formeln<br />
zum Ziel. Der genaue Wert ergibt sich damit<br />
als 1059,54545.<br />
155
Bodo von Pape, Oldenburg<br />
3 Funktionen in 2 Variablen<br />
Beispiel 6: Abstand Kreis-Ellipse<br />
Abbildung 20.5: Abstand Kreis-Ellipse<br />
Mit unterschiedlichen Ansätzen kommt man<br />
auf eine Gleichung 4. Grades. Da führt dann nur<br />
noch Numerik weiter.<br />
Direkter und weiterführend ist die Strategie,<br />
den Abstand zweier Punkte als Funktion <strong>der</strong> Abszissenwerte<br />
xK = a und xE = b zu schreiben:<br />
<br />
d = (xE − xK) 2 + (yE − yK) 2<br />
o<strong>der</strong> mit dem Werten aus dem Beispiel:<br />
<br />
(a − b) 2 <br />
4−a2 + 4 −<br />
<br />
2 − 1 − (b − 2) 2<br />
2 .<br />
Diese Funktion stellt eine mathematische<br />
Landschaft dar. Deren Talsohle erwan<strong>der</strong>t man<br />
sich leicht – mit Hilfe einer Tabelle o<strong>der</strong> besser<br />
noch mit einer Funktion:<br />
Function minist(a, b, stelle)<br />
inc = 1<br />
hmin = 100<br />
Do<br />
For na = -1 To 1<br />
For nb = -1 To 1<br />
hstep = h(a + na*inc, b + nb*inc)<br />
If hstep bis<br />
fMittel = summe / anzahl<br />
End Function<br />
Wichtigeres – Grundsätzliches – zum Thema<br />
„Integration“ gibt es an dem folgenden Beispiel<br />
zu lernen:<br />
4.1 Beispiel 8: Martin und Maria<br />
„Maria lebt 2 km von <strong>der</strong> Schule entfernt, Martin<br />
5 km. Wie weit leben Maria und Martin voneinan<strong>der</strong><br />
entfernt?“<br />
Der Aha-Effekt, den diese Geschichte auslöst,<br />
sollte – laut „Der Spiegel“ 14/2001 – „unter deutschen<br />
Pädagogen . . . irgendwann einmal als die
kopernikanische Wende im deutschen Bildungswesen“<br />
erkannt werden.<br />
Mangels genauerer Angaben kann man zunächst<br />
nur Unter- und Obergrenze festlegen. Als<br />
nächstes stellt sich dann die Frage nach dem Erwartungswert.<br />
Auch die Berechnung von Quartilswerten<br />
drängt sich auf.<br />
Eine fachgerechte Lösung führt über eine Integration<br />
über den Bereich <strong>der</strong> möglichen Abstände.<br />
Dazu muss man sich algebraisch zu einer<br />
Verteilungsdichte voranarbeiten. Dann stellt man<br />
fest, dass man nur numerisch weiterkommt. So bekommt<br />
man heraus:<br />
⊲ Die zu erwartende Entfernung beträgt 5 km und<br />
202 m.<br />
⊲ Das oberste Quartil beginnt bei 6 km und 568<br />
m.<br />
Abbildung 20.7: Martin und Maria<br />
Gegenüber <strong>der</strong> Lösung mit einer Simulation<br />
– Zufallspunkte auf den Kreisen von Martin und<br />
Maria (jeweils 500), Mittelwert <strong>der</strong> Abstände –<br />
hat man einen Vorteil in <strong>der</strong> Genauigkeit von 3 m.<br />
Auch <strong>der</strong> ist aber hinfällig, wenn man auf Marias<br />
Kreis einen Punkt beliebig wählt und auf Martins<br />
Kreis 80 Punkte gleichmäßig verteilt. Für die Entfernung<br />
liefert das wie<strong>der</strong> genau 5 km und 202 m.<br />
Was eine „kopernikanische Wende“ im Bereich<br />
<strong>der</strong> Schulmathematik angeht, so zeichnet<br />
sich die Einsicht ab: Sofern es um konkrete Problemstellungen<br />
geht, sollte man vor dem Einsatz<br />
diffiziler Integrationsregeln und komplexer<br />
Termumformungen erst einmal über eine Gitterpunktzählung<br />
nachdenken. Dieser Ansatz bewährt<br />
sich insbeson<strong>der</strong>e auch bei Integrationen im<br />
Raum.<br />
Die Monte-Carlo-Methode sei zusätzlich als<br />
Kontrolle ans Herz gelegt.<br />
5 Bogenlänge / Krümmung<br />
Das Thema „Bogenlänge“ drängt sich bei <strong>der</strong><br />
Behandlung von Kurven – dazu gehören auch<br />
Funktionsgraphen! – als erstes auf. Bekanntlich<br />
führt aber bereits die Berechnung eines Parabel-<br />
Analysis in <strong>der</strong> Schule zwischen Präzision und Approximation<br />
abschnitts auf Terme, die man niemandem mehr<br />
zumuten kann. Bei <strong>der</strong> Sinuslinie kommt man ohnehin<br />
nur noch numerisch zum Ziel. In <strong>der</strong> Schule<br />
ist dies Thema deshalb tabu. Nur mit Eichstrichen<br />
auf Weizenbiergläsern kann die Analysis in diesem<br />
Rahmen noch punkten. (Warum wohl?)<br />
An sich liegt ein Längenvergleich zweier Wege<br />
aber viel näher!<br />
Beispiel 9: Wegmarken<br />
! Abbildung 20.8: Längenvergleich zweier Wege<br />
An<strong>der</strong>s steht es um das Thema “Krümmung“:<br />
In den letzten Jahren ist es in das Blickfeld gerückt,<br />
allerdings exklusiv im Kontext von Trassierungsaufgaben,<br />
bei denen <strong>der</strong> Einsatz von CAS-<br />
Routinen sich bezahlt macht. (Stichwort: „krümmungsruckfrei“)<br />
Das Konzept <strong>der</strong> Krümmung als Än<strong>der</strong>ungsrate<br />
(Än<strong>der</strong>ungsrate <strong>der</strong> Richtung mit <strong>der</strong> Bogenlänge)<br />
kommt dabei – trotz eines verstärkten Interesses<br />
<strong>für</strong> Än<strong>der</strong>ungsraten! – zu kurz.<br />
Die Aufgabe, die sich in diesem Rahmen als<br />
erste aufdrängt, wäre – in Analogie zum Grundanliegen<br />
<strong>der</strong> Integralrechnung – die <strong>der</strong> (Re-<br />
)Konstruktion einer Kurve aus <strong>der</strong> Startkonfiguration<br />
und dem Krümmungsverlauf.<br />
Hier muss man bereits bei <strong>der</strong> ersten nichttrivialen<br />
Frage – <strong>der</strong> nach einer Kurve, <strong>der</strong>en Krümmung<br />
linear anwächst – passen: Die Parameterdarstellung<br />
<strong>der</strong> Klothoide enthält Integrale, die<br />
„nicht durch elementare Funktionen ausgedrückt<br />
werden“ können.<br />
Neue Aufgabenstellungen bieten sich an:<br />
Beispiel 10: Modellierung zu Ornament<br />
Abbildung 20.9: Krümmungsfunktion vom Grad 3<br />
157
Bodo von Pape, Oldenburg<br />
5.1 Beispiel 11: Kurven zu gegebener<br />
Krümmung<br />
!<br />
Abbildung 20.10: Krümmungsverlauf linear<br />
Abbildung 20.11: Krümmungsverlauf sinusförmig<br />
158<br />
5.2 Beispiel 12: Krümmungsverhalten<br />
Abbildung 20.12: Skizziere den Krümmungsverlauf<br />
„Gebt <strong>der</strong> Numerik in <strong>der</strong><br />
Schule eine Chance!“<br />
Literatur<br />
Diese und zahlreiche weitere Beispiele sind im Inter-<br />
net abrufbar unter http://excelecke.wordpress.com/<br />
category/analysis/.
• Der Computer macht’s möglich — Funktionen als Werkzeug zum<br />
Modellieren von Daten<br />
Markus Vogel, Heidelberg<br />
Phänomene aus Natur und Technik lassen sich über Daten abbilden. Kern <strong>der</strong> Datenanalyse ist,<br />
im Rauschen <strong>der</strong> Daten Gesetzmäßigkeiten ausfindig zu machen. Solche Gesetzmäßigkeiten lassen<br />
sich oftmals durch elementare Funktionen modellieren. Mit dem Einsatz von Software werden diese<br />
Modellierungsaktivitäten sehr gut unterstützt. Die dynamische Verknüpfung von Streudiagramm,<br />
Funktionsgraph und Residuenplot hilft dabei, Funktionsparameter bestmöglich zu spezifizieren. Der<br />
Datenkontext erlaubt, die verwendeten Parameter inhaltlich zu deuten. Dies kann dazu beitragen,<br />
dass <strong>der</strong> Funktionsbegriff weiter erschlossen und vertieft wird.<br />
1 Datenanalyse zu Phänomenen aus<br />
Natur und Technik<br />
Im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht<br />
lernen die Schülerinnen und Schüler über<br />
mehrere Klassenstufen hinweg verschiedene naturwissenschaftliche<br />
Gesetzmäßigkeiten, die in<br />
Formeln eingefasst sind kennen. Beispiele sind<br />
das Gesetz des freien Falls<br />
s = 1<br />
· g ·t2<br />
2<br />
(ohne Berücksichtigung des Luftwi<strong>der</strong>standes)<br />
o<strong>der</strong> die Grundgleichung <strong>der</strong> Mechanik F =<br />
m · a. Solche Formeln und die darin verwendeten<br />
parametrischen Funktionen beschreiben das<br />
„deterministische Konzentrat“ einer vorausgegangen<br />
mathematisch-naturwissenschaftlichen Modellierung.<br />
Das Nach-Entdecken <strong>der</strong> zugrunde<br />
liegenden Gesetzmäßigkeit ist ein wesentlicher<br />
Aspekt mathematisch-naturwissenschaftlicher <strong>Didaktik</strong>.<br />
Dies schließt das Erheben und Auswerten<br />
von Daten mit ein. Daten sind Kontextzahlen,<br />
über die Beobachtungen quantifiziert werden.<br />
Die Datenmenge <strong>der</strong> Beobachtungspunkte bildet<br />
ein Realmodell des zugrunde liegenden Phänomens<br />
[vgl. Vogel, 2006a; Eichler & Vogel, <strong>2009</strong>].<br />
Die Daten stehen zwischen Phänomen und Gesetzmäßigkeit<br />
und vermitteln zwischen beiden.<br />
In <strong>der</strong> inhaltlichen Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Daten,<br />
die einem naturwissenschaftlichen Zusammenhang<br />
zugrunde liegen, ergeben sich Strukturen<br />
bzw. Strukturvermutungen aus dem eigenen<br />
Suchvorgang. Eine funktionale Beschreibung<br />
erwächst aus dem Bemühen, sich im Rauschen<br />
<strong>der</strong> Daten zurechtzufinden. Dabei wird akzeptiert,<br />
dass geeignete Funktionen die Daten nicht exakt<br />
abbilden, son<strong>der</strong>n lediglich einen Trend wie<strong>der</strong>geben.<br />
Abweichungen werden bewusst in Kauf<br />
genommen. Aus dem, was Borovcnik [2005] als<br />
Strukturgleichung bezeichnet, lässt sich folgende<br />
Modellierungsgleichung ableiten [Vogel, 2006a]:<br />
Daten = Funktion + Residuen<br />
Mit <strong>der</strong> Betrachtung <strong>der</strong> Residuen steht ein Maß<br />
<strong>für</strong> die Güte <strong>der</strong> funktionalen Anpassung zur Verfügung.<br />
Sind die Residuen klein und zufällig (im<br />
Sinne von trendfrei) und gleichen sie sich insgesamt<br />
nach oben und unten aus, lässt dies auf eine<br />
angemessene funktionalen Anpassung schließen<br />
[vgl. Biehler & Schweynoch, 1999].<br />
2 Modellieren mit elementaren<br />
Funktionen<br />
Die Beobachtung und Bewertung naturwissenschaftlicher<br />
Phänomene erfolgen beim Nach-<br />
Entdecken nicht voraussetzungsfrei. Kontextuelles<br />
Vorwissen zum phänomenologischen Hintergrund<br />
einerseits und strukturelles Wissen zu elementaren<br />
Standardfunktionen werden in den Mathematisierungsprozess<br />
miteinbezogen. Durch die<br />
strukturelle Entkleidung des Phänomens wird die<br />
Vermutung über die funktionale Beziehung zwischen<br />
den Daten herausgearbeitet.<br />
Parametrische Standardmodelle von Funktionen<br />
sind wesentlich <strong>für</strong> die Anpassung funktionaler<br />
Zusammenhänge an Daten, da sie in vielen<br />
Situationen adäquate Modelle liefern. Der Ansatz<br />
des Kurvenanpassens basiert auf <strong>der</strong> Annahme,<br />
dass die unbekannte Funktion f (x) = f (x,θ)<br />
zu einer im voraus spezifizierten o<strong>der</strong> bekannten<br />
Klasse von Funktionen gehört, die durch einen<br />
endlich-dimensionalen Parameter θ charakterisiert<br />
ist (z.B. Klasse <strong>der</strong> linearen, exponentiellen,<br />
logistischen etc. Funktion). Dann besteht das<br />
Ziel darin, den Wert des unbekannten Parameters<br />
θ zu bestimmen, so dass sich die Modellfunktion<br />
möglichst gut den Daten anpasst. Dieses Vorgehen<br />
führt beispielsweise im linearen Fall unter<br />
dem Ziel <strong>der</strong> Minimierung <strong>der</strong> Summe <strong>der</strong> Abweichungsquadrate<br />
zur linearen Regression.<br />
Werden Daten durch elementare Funktionen<br />
angenähert, besteht <strong>der</strong> Mathematisierungsvorgang<br />
in einem Zweischritt:<br />
⊲ Zunächst muss eine (o<strong>der</strong> müssen mehrere) geeignete<br />
Funktionsklasse(n) ausgewählt werden.<br />
Für die Auswahl sind kontextuelles und mathematisches<br />
Wissen bedeutsam. Dabei können<br />
elementare Funktionen durch Verknüpfungen<br />
zu neuen Funktionen zusammengesetzt werden.<br />
⊲ Nach <strong>der</strong> Bestimmung einer funktionalen Modellierung<br />
werden die verwendeten Parameter<br />
159
Markus Vogel, Heidelberg<br />
! !<br />
Abbildung 21.1: Funktionale Modellierungen zum Zusammenhang von Körpergröße und Gewicht<br />
so spezifiziert, dass <strong>der</strong> Datentrend funktional<br />
möglichst gut erfasst wird. Die Güte <strong>der</strong> funktionalen<br />
Anpassung ergibt sich aus den Residuen<br />
(s.o.).<br />
Neben <strong>der</strong> möglichst guten Datenanpassung ist<br />
auf die Handhabbarkeit <strong>der</strong> funktionalen Anpassung<br />
zu achten. Je mehr Parameter miteinbezogen<br />
werden, umso schwieriger wird die Handhabung<br />
des mathematischen Modells, insbeson<strong>der</strong>e<br />
bei Wechselwirkungen von Funktionsparametern.<br />
Für den Mathematisierungsschritt gilt es,<br />
zwei wesentlichen Merkmale eines mathematischen<br />
Modells im Blick zu behalten: das Abbildungsmerkmal<br />
(ein Modell steht <strong>für</strong> das Original<br />
und bildet es aus einer bestimmten Perspektive ab)<br />
wie das Verkürzungsmerkmal (bei <strong>der</strong> Abbildung<br />
verzichtet das Modell auf all diejenigen Aspekte<br />
des Originals, die <strong>für</strong> den konkreten Zweck (vor<strong>der</strong>rangig)<br />
nicht von Belang sind, vgl. [Stachowiak,<br />
1973]). Bei einer parametrischen Überfrachtung<br />
leidet das Verkürzungsmerkmal. Ist dagegen<br />
ein Funktionenmodell leicht handhabbar, aber<br />
wenig stimmig mit den Daten, findet das Abbildungsmerkmal<br />
nicht genügend Berücksichtigung.<br />
Insofern sollten in die Mathematisierung nur solche<br />
Funktionsparameter eingebaut werden, <strong>für</strong> die<br />
mathematische und kontextuelle Gründe sprechen<br />
– so legitimiert sich das Modell. [Erickson, 2005,<br />
S. 65] gibt als Faustregel aus: „Make your models<br />
with as many parameters as you need – but no more.“<br />
Wird diese Regel nicht beachtet, hieße das<br />
im Extremfall, dass die bestmögliche funktionale<br />
Datenmodellierung immer darin besteht, dass<br />
alle Abweichungen zwischen Modell und Daten<br />
– die Residuen – verschwinden und <strong>der</strong><br />
Funktionsgraph genau durch alle n Datenpunkte<br />
(x1,y1),...,(xn,yn) verläuft. Über die Interpolation<br />
durch ein Polynom <strong>der</strong> Form p(x) = a0 +a1x+<br />
a2x 2 + ... + akx k wäre mit k = n − 1 eine solche<br />
160<br />
Funktion p(x) <strong>für</strong> n Datenpunkte prinzipiell immer<br />
zu finden, im Datenkontext betrachtet ist ein<br />
solches Modell jedoch mitunter kaum sinnvoll zu<br />
interpretieren. Das Beispiel in Abb. 21.1 kann dies<br />
verdeutlichen.<br />
Durch die vollständige Datenerfassung verliert<br />
das funktionale Modell im linken Beispiel <strong>der</strong><br />
Abb. 21.1 die Möglichkeit, einen sachlich sinnvoll<br />
begründbaren Zusammenhang zwischen Körpergröße<br />
und Gewicht trendgemäß abzubilden. Dadurch<br />
büßt es sein Abbildungsmerkmal ein. Dagegen<br />
erweckt die rechts dargestellte Regressionsgerade,<br />
welche auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Minimierung <strong>der</strong><br />
quadratischen Abweichungen durch den Computer<br />
ermittelt wurde, hinsichtlich einer Trendabbildung<br />
eine größere Glaubwürdigkeit deshalb, weil<br />
sie nichtvorhandene Messwerte in ihrer Größenordnung<br />
besser abschätzen lässt. Kontextuell betrachtet<br />
kommt hier die einfache Annahme zum<br />
Ausdruck, dass größere Menschen auch schwerer<br />
sind. Wird dieser Gedanke weiter spezifiziert,<br />
nämlich darin, dass das Gewicht (in proportionalem<br />
Zusammenhang mit dem Volumen gedacht)<br />
in Abhängigkeit von <strong>der</strong> Größe kubisch wächst,<br />
könnte <strong>der</strong> Zusammenhang in einem noch detaillierteren<br />
Modell, einer entsprechenden Polynomfunktion<br />
dritten Grades, beschrieben werden.<br />
Auch dieses Modell ist auf seine Grenzen hin zu<br />
reflektieren.<br />
Es ist ein wichtiges Ziel, dass die Schülerinnen<br />
und Schüler lernen zwischen <strong>der</strong> kontextfreien<br />
Punkte-Erfassung und <strong>der</strong> funktionalen Anpassung<br />
zu unterscheiden, welche die kontextuelle<br />
Bedeutung <strong>der</strong> Datenwolke im Blick hat. Werden<br />
zur funktionalen Modellierung parametrische<br />
Standardmodelle verwendet, liefern die Funktionsparameter<br />
Informationen über die erfasste Gesetzmäßigkeit.<br />
Umgekehrt trägt <strong>der</strong> naturwissenschaftliche<br />
Datenkontext dazu bei, die funktionale<br />
Anpassung verstehen und beurteilen zu können.
Der Computer macht’s möglich — Funktionen als Werkzeug zum Modellieren von Daten<br />
Abbildung 21.2: Daten greifen und ablegen<br />
Abbildung 21.3: Residuenplot und Abweichungsquadrate<br />
Die funktionale Modellierung naturwissenschaftlicher<br />
Daten dient so zur Erschließung von Umwelt<br />
und mathematischer Begrifflichkeit.<br />
3 Computergestützte<br />
Repräsentationen<br />
Eine explorative Vorgehensweise erfor<strong>der</strong>t Werkzeuge,<br />
die erlauben im Datenkontext forschend<br />
tätig zu werden. Statistiksoftware wie z. B. FA-<br />
THOM leistet hier sehr gute Dienste, da über<br />
einfachste Handhabung Streudiagramme, Funktionsgraphen<br />
und Residuenplots dargestellt werden<br />
können. Die intuitive Bedienbarkeit ist von beson<strong>der</strong>er<br />
Bedeutung: Werden keine nennenswerten<br />
kognitiven Ressourcen <strong>für</strong> die Programmbedienung<br />
benötigt, verbleibt mehr an Potenzial <strong>für</strong><br />
die inhaltliche Arbeit. Zentrales Bedienelement ist<br />
<strong>der</strong> Greif– und Zugmodus, mit dem beispielsweise<br />
Punkte bewegt, Schieberegler erstellt und bedient<br />
o<strong>der</strong> Achsen umskaliert werden können. In FA-<br />
THOM ist nahezu die gesamte Programmbedienung<br />
über den Greif- und Zugmodus realisierbar,<br />
so lassen sich auch z. B. Daten greifen und in einem<br />
Diagramm so ablegen, dass sie sofort visualisiert<br />
werden (vgl. Abb. 21.2). Eine vergleichswei-<br />
se aufwändige Diagrammerstellung, bei <strong>der</strong> mitunter<br />
aufgrund <strong>der</strong> langen Dauer das inhaltliche<br />
Ziel aus den Augen verloren wird, entfällt dadurch.<br />
Dies ist insbeson<strong>der</strong>e hinsichtlich <strong>der</strong> vergleichsweise<br />
knappen Zeitressourcen in einer Unterrichtsstunde<br />
von unmittelbarer schulpraktischer<br />
Bedeutung.<br />
3.1 Einzelaspekte<br />
⊲ Im Residuenplot werden die „Reste“ <strong>der</strong> funktionalen<br />
Modellierung, i. e. die Differenz zwischen<br />
den Datenwerten yi und den modellierten<br />
Werten f (xi), vergrößert fokussiert. Dadurch<br />
sind Informationen über die Modellgüte erhältlich:<br />
je zufälliger die Residuen im Sinne von<br />
trendfrei und je kleiner, umso besser die Datenanpassung<br />
(s.o.). Durch die dynamische Verknüpfung<br />
von Streudiagramm und Residuenplot<br />
wird die rechnergestützte Datenanpassung<br />
dadurch erleichtert, dass bei <strong>der</strong> Spezifizierung<br />
<strong>der</strong> Parameter <strong>der</strong> gewählten Funktion sofort<br />
die Güte <strong>der</strong> Anpassung im Residuenplot sichtbar<br />
wird (vgl. Abb. 21.3).<br />
⊲ Werden die Abweichungsquadrate sichtbar gemacht,<br />
kann dies den Modellierungsprozess in<br />
!<br />
!<br />
161
Markus Vogel, Heidelberg<br />
zweifacher Hinsicht unterstützen: Hinsichtlich<br />
<strong>der</strong> Datenanpassung geben die Abweichungsquadrate<br />
wie auch <strong>der</strong> Residuenplot ein Maß<br />
<strong>für</strong> die Modellierungsgüte. Je kleiner die Fläche,<br />
welche die Abweichungsquadrate einnehmen,<br />
umso besser <strong>der</strong> Fit <strong>der</strong> Daten (vgl.<br />
Abb. 21.3). Überdies kann die Darstellung <strong>der</strong><br />
Abweichungsquadrate Schülerinnen und Schüler<br />
eine anschauliche Vorstellung davon vermitteln,<br />
was bei einem rechnergestützten Verfahren,<br />
wie dem <strong>der</strong> linearen Regression, „vor sich<br />
geht“: es geht um die Suche nach <strong>der</strong> Geraden,<br />
die so in <strong>der</strong> Datenwolke zu liegen kommt, dass<br />
eben die Abweichungsquadrate in ihrer Summe<br />
möglichst klein werden.<br />
⊲ Beim „Daten-Zooming“ kann ein Datensatz in<br />
verschieden großen Bildausschnitten betrachtet<br />
werden (vgl. Abb. 21.4). Das ist bei <strong>der</strong> explorativen<br />
Datenanalyse dann von Belang, wenn<br />
Informationen <strong>der</strong> funktionalen Anpassung erst<br />
ablesbar werden, wenn sie aus einer größeren<br />
Distanz betrachtet werden. Dies ist beispielsweise<br />
bei Fragen <strong>der</strong> Gültigkeit von Modellgrenzen<br />
von Belang: Wie weit kann die modellierende<br />
Funktion hinsichtlich ihrer Eigenschaften<br />
im Verhältnis zum Datenkontext sinn-<br />
162<br />
Abbildung 21.4: Daten-Zooming<br />
Abbildung 21.5: Beispiel einer Datentransformation<br />
voll interpretiert werden? In gleicher Weise wie<br />
das Aus-Zoomen, kann das Ein-Zoomen weitere<br />
Informationen bringen: Wie sehen Modellabweichungen<br />
im Detail aus, weisen die Daten<br />
in Teilbereichen bei fokussierter Betrachtung<br />
noch unerkannte Muster auf?<br />
⊲ Wenn die Achsen eines Streudiagramms interaktiv<br />
umskaliert werden können, lässt sich die<br />
Datenwolke aus unterschiedlich großer Distanz<br />
betrachten (s.o.). In Erweiterung dazu liegt ein<br />
Perspektivenwechsel auf die Daten dann vor,<br />
wenn die Datenpunkte logarithmiert betrachtet<br />
werden können (vgl. Abb. 21.5). Dies ist<br />
insbeson<strong>der</strong>e <strong>für</strong> Modellierungstechniken interessant,<br />
bei denen eine nichtlineare Datenstruktur<br />
durch eine angemessene Transformation linearisiert<br />
werden soll, um auf die transformierten<br />
Daten Techniken <strong>der</strong> Geradenanpassung anzuwenden<br />
und schließlich das erhaltene Resultat<br />
wie<strong>der</strong> zurück zu transformieren. Mit<br />
<strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> logarithmierten Datenbetrachtung<br />
können die Erfolgsaussichten <strong>für</strong> das<br />
rechnerische Verfahren im Modellierungsprozess<br />
vorab abschätzbar werden.<br />
Der Computer ermöglicht explorative Vorgehensweisen<br />
bei <strong>der</strong> Datenanalyse, die den Mathe-<br />
!<br />
!
Der Computer macht’s möglich — Funktionen als Werkzeug zum Modellieren von Daten<br />
matikunterricht in seiner paradigmatischen Ausrichtung<br />
grundsätzlich bereichern kann. Es geht<br />
weniger um das Anwenden fertiger statistischer<br />
Verfahren auf Daten und die Überprüfung, was bei<br />
solchen standardisierten Verfahren aus den Daten<br />
herauszuholen ist. Die explorative Datenanalyse<br />
beginnt möglichst vorurteilsfrei bei den Daten<br />
[Tukey, 1977] und versucht, die Daten in unterschiedlichen<br />
Darstellungen, Abständen und Perspektiven<br />
zu betrachten, um tatsächlich vorhandene<br />
Strukturen im Nebel <strong>der</strong> Datenwolke aufzuspüren,<br />
also nicht durch fertige Verfahren Strukturen<br />
von außen hineinzutragen. Die vorgenannten Elemente<br />
<strong>der</strong> multimedialen Unterstützung sind hierbei<br />
von wesentlicher Bedeutung, sie machen den<br />
Computer zu einem Werkzeug <strong>der</strong> Datenexploration.<br />
Literatur<br />
Biehler, Rolf & Stefan Schweynoch (1999): Trends und Abweichungen<br />
von Trends. <strong>Mathematik</strong> lehren, 97, 17–22.<br />
Borovcnik, Manfred (2005): Probabilistic and statistical<br />
thinking. URL http://cerme4.crm.es/Papers%<br />
20definitius/5/Borovcnik.pdf.<br />
Eichler, Andreas & Markus Vogel (<strong>2009</strong>): Leitidee Daten und<br />
Zufall. Wiesbaden: Vieweg & Teubner.<br />
Erickson, Tim (2005): The model shop. Using data to learn<br />
about elementary functions. Oakland: eeps media, third fieldtest<br />
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Stachowiak, Herbert (1973): Allgemeine Modelltheorie. Berlin:<br />
Springer-Verlag.<br />
Tukey, John W. (1977): Exploratory data analysis. Massachusetts:<br />
Addison-Wesley.<br />
Vogel, Markus (2006a): Mathematisieren funktionaler Zusammenhänge<br />
mit multimediabasierter Supplantation. Hildesheim:<br />
Franzbecker.<br />
163
Markus Vogel, Heidelberg<br />
164
• Reinhard Hochmuth und Pascal Fischer, Kassel<br />
eLearning in mathematischen Vorkursen mit Beispielen zur Analysis<br />
Mathematische Vorkurse sehen sich als Brücke zwischen Schule und Universität mit einer Reihe<br />
von Problemen konfrontiert, denen in Kassel durch ein neu entwickeltes eVorkurskonzept seit Jahren<br />
erfolgreich begegnet wird. Im Vortrag werden die zentralen Bestandteile des Kurskonzeptes, das<br />
Präsenz- und Selbstlernphasen durch den Einsatz einer Lernplattform innovativ kombiniert, vorgestellt.<br />
An Beispielen aus <strong>der</strong> Analysis werden Elemente <strong>der</strong> Vorkursmaterialien illustriert. Basierend<br />
auf Ergebnissen einer angelagerten Studie zur Evaluation <strong>der</strong> Kurse sowie zur Analyse <strong>der</strong> Teilnehmer<br />
und ihrer Leistungen wird diskutiert, unter welchen Bedingungen und in welchen Kontexten das<br />
Kurskonzept sinnvoll in <strong>der</strong> Hochschule eingesetzt werden kann.<br />
1 Einleitung<br />
Ausgangspunkt ist das Projekt „Multimediavorkurs<br />
MathematiK“/„VEMA“ das in Kooperation<br />
<strong>der</strong> Universitäten Kassel und Pa<strong>der</strong>born sowie<br />
<strong>der</strong> Technischen Universität Darmstadt seit 2004<br />
durchgeführt wird und multimedial angereichertes<br />
Material zur Unterstützung <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>vorkurse<br />
entwickelt und beforscht [vgl. Biehler &<br />
Fischer, 2006]. Das auf CD und zur Einbettung<br />
in Lernplattformen auch im SCORM-Fomat vorliegende<br />
Material wurde im Projektverlauf fortlaufend<br />
überarbeitet und erweitert. Es umfasst<br />
in <strong>der</strong> im Oktober <strong>2009</strong> veröffentlichten Version<br />
[vgl. Biehler & Fischer, 2006] sechs Kapitel zu<br />
den Themengebieten „Rechengesetze“, „Potenzen“,<br />
„Funktionen“, „Höhere Funktionen“, „Analysis“<br />
und „Vektorrechnung“. Die Inhalte konzentrieren<br />
sich dabei bewusst im Wesentlichen auf<br />
den Schulstoff <strong>der</strong> Klassen 5-13 und liegen <strong>der</strong>zeit<br />
in Form von 50 Modulen als in sich abgeschlossenen<br />
Inhaltspaketen vor. Jedes dieser Module weist<br />
eine identische Struktur von Unterbereichen auf,<br />
die dem Lerner einen entdeckenden, deduktiven<br />
o<strong>der</strong> selektiven Zugang zum Lernmaterial ermöglicht<br />
[vgl. Biehler & Fischer, 2006]. Das Material<br />
wurde zur Nutzung als Selbstlernmaterial und<br />
zum gezielten Nachschlagen konzipiert, so dass<br />
nicht nur ein Einsatz im Rahmen von Vorkursen,<br />
son<strong>der</strong>n auch eine Semester begleitende Nutzung<br />
möglich ist.<br />
Vorkurse weisen üblicherweise ein hohes Maß<br />
an Heterogenität innerhalb <strong>der</strong> Lerngruppe auf.<br />
Dies ergibt sich u. a. durch das unterschiedliche<br />
Alter <strong>der</strong> Teilnehmer, durch verschiedenartige<br />
Hochschulzugangsberechtigungen, aus unterschiedlichen<br />
Bedürfnissen je nach angestrebtem<br />
Studiengang und nicht zuletzt auch durch verschiedene<br />
individuelle Defizite aufgrund persönlicher<br />
schulischer „Leidenswege“. Zudem ist am<br />
Standort Kassel seit Jahren ein Anstieg <strong>der</strong> Teilnehmerzahlen<br />
zu verzeichnen: Waren es z.B. in<br />
2007 noch 600 Teilnehmer, so haben in <strong>2009</strong> bereits<br />
1020 Studienanfänger die Vorkurse besucht.<br />
Zudem ist in Hessen <strong>für</strong> das Jahr 2013 mit einem<br />
Doppeljahrgang und damit mit überproportional<br />
höheren Zuwächsen zu rechnen.<br />
Betrachtet man die Ergebnisse aus den jährlichen<br />
Evaluationen <strong>der</strong> Vorkurse so stehen <strong>der</strong><br />
wachsenden Zahl an Vorkursteilnehmern <strong>der</strong><br />
Wunsch und das Bedürfnis <strong>der</strong> Studierenden nach<br />
einer möglichst individuellen Betreuung gegenüber<br />
[vgl. Fischer, 2007]. Vor diesem Hintergrund<br />
wurde im Rahmen des Dissertationsprojekts von<br />
Herrn Fischer unter Betreuung von Herrn Prof. Dr.<br />
Rolf Biehler die Idee eines neuartigen Vorkurskonzeptes<br />
entwickelt und beforscht [vgl. Fischer,<br />
<strong>2009</strong>; Fischer & Biehler, 2010]. Dieses Kurskonzept<br />
wird seit 2007 eingesetzt und fortlaufend optimiert.<br />
Dieser Artikel diskutiert einige Aspekte des<br />
interaktiven Lernens im Allgemeinen und illustriert<br />
einige Aspekte an Beispielen aus <strong>der</strong> Analysis<br />
im Speziellen. Er versucht aufzuzeigen, wie<br />
zum einen das Material selbst aber auch spezifische<br />
Kurszenarien in an<strong>der</strong>en Lehrveranstaltungen<br />
an <strong>der</strong> Hochschule einsetzbar bzw. <strong>für</strong> diese<br />
übertragbar sind und inwieweit auch ein Einsatz<br />
in schulischen Kontexten denkbar ist.<br />
Der Artikel beginnt mit einem kurzen Überblick<br />
über das multimediale Lernmaterial und illustriert<br />
einige Elemente an Beispielen aus <strong>der</strong><br />
Analysis (Kapitel 2). Im dritten Kapitel werden<br />
verschiedene Einsatzszenarien im Rahmen <strong>der</strong><br />
Kasseler Brückenkurse beschrieben. In diesem<br />
Kontext werden auch ausgewählte zentrale Ergebnisse<br />
<strong>der</strong> angelagerten Studie präsentiert. Im abschließenden<br />
vierten Kapitel wird zusammenfassend<br />
diskutiert, inwieweit die Konzepte und die<br />
bisherigen Evaluationsergebnisse auf den schulischen<br />
wie auch auf den universitären Bereich<br />
übertragbar sind, ehe abschließend <strong>der</strong> Artikel mit<br />
<strong>der</strong> Benennung von Forschungs- und Projektperspektiven<br />
endet.<br />
2 Das Kapitel Analysis<br />
Das Kapitel Analysis besteht aus den Unterkapiteln<br />
„Folgen und Grenzwerte“, „Grenzwerte<br />
von Funktionen und Stetigkeit“, „Differentialrechnung“<br />
und „Integralrechnung“, wobei die ersten<br />
drei Unterkapitel von Frau Isabelle Kuhnke-<br />
Lerch von <strong>der</strong> TU Darmstadt unter Betreuung von<br />
Prof. Dr. Hochmuth verfasst wurden, während das<br />
165
eLearning in mathematischen Vorkursen mit Beispielen zur Analysis<br />
Unterkapitel zur Integralrechnung von dem Kasseler<br />
Mitarbeiter Stefan Podworny unter Betreuung<br />
<strong>der</strong> dortigen Vorkursgruppe erstellt wurde.<br />
Insgesamt liegen elf Module zur Analysis vor.<br />
Den Inhalt eines solchen Moduls beschreiben<br />
wir nachfolgend exemplarisch an Hand des Moduls<br />
„Differenzierbarkeit von Funktionen“ [vgl.<br />
Biehler et al., <strong>2009</strong>, 2010]: In <strong>der</strong> genetischen<br />
Hinführung sollen die Lernenden zunächst an die<br />
<strong>für</strong> das Thema zentralen Fragestellungen herangeführt<br />
werden. Dabei wird dem Lerner zuerst ein<br />
kurzer Überblick über die Themen des Moduls gegeben.<br />
Danach wird ihm ein Dialog zwischen drei<br />
Studierenden, die über die Geschwindigkeit einer<br />
Achterbahn am Ende ihres „First Drops“ diskutieren,<br />
präsentiert. In <strong>der</strong> anschließenden Mathematisierung<br />
dieses Beispiels wird <strong>der</strong> Lerner an<br />
die Vorstellung des Differentialquotienten als lokaler<br />
Än<strong>der</strong>ungsrate herangeführt. Am Ende <strong>der</strong><br />
Hinführung soll <strong>der</strong> Lerner in einer Aufgabe die<br />
konkrete Geschwindigkeit <strong>der</strong> Bahn zu einem vorgegebenen<br />
Zeitpunkt berechnen.<br />
Im darauf folgenden Bereich „Info“ findet<br />
sich eine Sammlung aller im Modul formulierten<br />
Definitionen und Sätze, wie z.B. eine Definition<br />
des Differentialquotienten, <strong>der</strong> Differenzierbarkeit<br />
einer Funktion sowie die Differentiationsregeln.<br />
Diese werden als „Infos“ mit einem<br />
entsprechenden Symbol markiert, sowie optisch<br />
durch einen roten Kasten hervorgehoben. Diese<br />
Darstellungsweise dient <strong>der</strong> besseren Übersichtlichkeit<br />
und soll die Orientierung des Lerners erleichtern.<br />
Der „Info“-Bereich kann später auch<br />
zum gezielten Nachschlagen einzelner Sätze verwendet<br />
werden.<br />
Im anschließenden Bereich „Begründung/ Interpretation/<br />
Herleitung“ werden alle Sätze durch<br />
Beweise, Beispiele und Interaktionen begründet,<br />
erläutert bzw. illustriert. Im Bereich Anwendungen<br />
werden inner- und außermathematische Anwendungsbeispiele<br />
des eben Gelernten gezeigt.<br />
So findet sich hier u. a. auch ein Beispiel zur linearen<br />
Approximation. Speziell dieses Beispiel soll<br />
dazu beitragen, die Vielfalt an grundlegenden Vorstellungen<br />
zum Differentiationsbegriff zu erweitern<br />
und adäquat zu vernetzen.<br />
Im nächsten Bereich „Typische Fehler“ findet<br />
sich eine Sammlung fehlerhafter Aufgabenlösungen<br />
und Aussagen, die <strong>der</strong> Lerner korrigieren und<br />
„didaktisch“ analysieren soll. Auf diesem Wege<br />
soll er Standardfehler nicht nur im Vorfeld vermeiden,<br />
son<strong>der</strong>n auch einen ersten Einblick in didaktische<br />
Hintergründe erhalten. Der das Modul abschließende<br />
Bereich Aufgaben ist zum Üben <strong>der</strong><br />
neu gelernten Konzepte gedacht und enthält Aufgaben<br />
sowie <strong>der</strong>en Musterlösungen, die vom Lerner<br />
optional angezeigt werden können. Zusätzlich<br />
finden sich im Bereich „Visualisierungen“ alle in-<br />
166<br />
teraktiven Elemente und Animationen des Moduls<br />
noch einmal zusammengetragen.<br />
Schließlich hat <strong>der</strong> Lerner die Möglichkeit,<br />
sich im Bereich „Ergänzungen“ über das in diesem<br />
Modul erwartete Wissen hinaus zu informieren.<br />
In dem von uns beschriebenen Modul werden<br />
hier u. a. Funktionsklassen thematisiert.<br />
Im Folgenden wollen wir uns etwas näher mit<br />
einigen ausgewählten Interaktionsbeispielen aus<br />
dem Kapitel Analysis beschäftigen. Dabei wird<br />
insbeson<strong>der</strong>e auf die fachliche Einbettung <strong>der</strong> jeweiligen<br />
Interaktion, den anschaulichen bzw. formalen<br />
Charakter <strong>der</strong> „erwarteten“ Antworten und<br />
auf <strong>der</strong>en Anschlussfähigkeit im Kontext aktiventdeckenden<br />
Lernens in heterogenen Lerngruppen<br />
eingegangen. So werden gegenstandsbezogene<br />
Möglichkeiten des Lernens <strong>für</strong> verschiedene<br />
Einsatzszenarien aufgezeigt. Welche davon in spezifischen<br />
Situationen von Lernenden „typischerweise“<br />
realisiert werden, ist eine empirische Frage,<br />
die an<strong>der</strong>norts beantwortet werden wird.<br />
2.1 Beispiele zur Differentialrechnung<br />
In <strong>der</strong> Interaktion „Differenzierbarkeit einer stetigen<br />
Funktion“ (Abb. 22.1) geht es um eine Beispielfunktion,<br />
die zwar überall stetig aber an einem<br />
Punkt nicht differenzierbar ist. Darüber hinaus<br />
wird in dieser Interaktion thematisiert, dass es<br />
sich bei <strong>der</strong> Differenzierbarkeit um eine lokale Eigenschaft<br />
handelt. Der Satz, <strong>der</strong> besagt, dass jede<br />
differenzierbare Funktion stetig ist, ist Gegenstand<br />
einer „Info“.<br />
Auf anschauliche Weise soll sich <strong>der</strong> Lernende<br />
insbeson<strong>der</strong>e mit dem folgenden (hier nur skizzierten)<br />
mathematischen Zusammenhang auseinan<strong>der</strong>setzen:<br />
Stimmen an einer Stelle links- und<br />
rechtsseitige Sekantensteigungsgrenzwerte, also<br />
die links- und rechtseitigen Tangentensteigungen,<br />
überein, so existiert „<strong>der</strong> Sekantensteigungsgrenzwert“,<br />
in an<strong>der</strong>en Worten, ist die Funktion an<br />
dieser Stelle differenzierbar. Analytisch lässt sich<br />
dies „leicht“ zeigen. Im Kontext <strong>der</strong> Interaktion<br />
wird allerdings kein formaler Beweis verlangt. Es<br />
ist vielmehr ausreichend, wenn <strong>der</strong> Lernende anschaulich<br />
argumentiert. Selbst wenn es dem Lernenden<br />
hier nicht gelänge die „Warum“-Frage anschaulich<br />
(o<strong>der</strong> eben formal-analytisch) zu beantworten,<br />
wird er sich im Zuge des einfachen „Machens“<br />
dessen, was in <strong>der</strong> Interaktion von ihm verlangt<br />
wird, mit dem Phänomen vertraut machen<br />
können, dass es so etwas wie links- und rechtsseitige<br />
Tangenten gibt, und dass es Stellen geben<br />
kann, an denen diese übereinstimmen, und solche,<br />
bei denen dies nicht <strong>der</strong> Fall ist.<br />
Es sei darauf hingewiesen, dass die Funktion<br />
hier lediglich in Gestalt eines Graphen und nicht<br />
als Term „<strong>für</strong> alle reellen x“ aus einem Intervall<br />
o<strong>der</strong> auf R gegeben ist. So legt schon die Repräsentation<br />
<strong>der</strong> Funktion anschauliche Argumenta-
Reinhard Hochmuth und Pascal Fischer, Kassel<br />
Abbildung 22.1: Differenzierbarkeit und stetige Funktionen<br />
tionen nahe und rahmt gewissermaßen das fachlich<br />
vom Lernenden hier Erwartete. Typischerweise<br />
kennen Schüler und Studierende als Beispiel<br />
<strong>für</strong> eine stetige aber nicht differenzierbare Funktion<br />
lediglich die sog. Betragsfunktion. Lernenden,<br />
denen grundsätzlich die eben beschriebenen Zusammenhänge<br />
bekannt sind, bietet diese Interaktion<br />
also zumindest die Möglichkeit zur Vorstellungserweiterung.<br />
Schließlich könnten Lernende, angeregt durch<br />
die Interaktion, auch auf die Frage stoßen, ob etwa<br />
Folgendes richtig ist: Gilt an einer Stelle x0<br />
lim f<br />
x↑x0<br />
′ (x) = lim f<br />
x↓x0<br />
′ (x),<br />
so existiert f ′ (x0) und stimmt mit dem gemeinsamen<br />
Grenzwert überein. Analytisch lässt sich dies<br />
beispielsweise mit dem Mittelwertsatz beweisen.<br />
Der genannte Zusammenhang lässt sich auch anschaulich<br />
begründen, was aber wohl nur wenigen<br />
Studienanfängern gelingen dürfte.<br />
Zusammenfassend bietet diese Interaktion<br />
Lernenden die Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns<br />
auf sehr unterschiedlichem Niveau. Damit<br />
ist zumindest eine gegenstandsbezogene Voraussetzung<br />
<strong>für</strong> individualisiertes Lernen in heterogenen<br />
Gruppen erfüllt.<br />
Die Interaktion in Abb. 22.2 besitzt einen<br />
schlichteren mathematischen Hintergrund: Wie<br />
eben bemerkt, handelt es sich bei <strong>der</strong> Differen-<br />
zierbarkeit um eine lokale Eigenschaft. Die Ableitung<br />
einer (reellwertigen. . . ) Funktion an einer<br />
Stelle ist eine reelle Zahl. Die Zuordnung von <strong>der</strong><br />
Stelle und <strong>der</strong> Ableitung an dieser Stelle liefert<br />
<strong>für</strong> eine etwa auf einem Intervall differenzierbare<br />
Funktion selbst wie<strong>der</strong> eine Funktion, die sog. Ableitungsfunktion.<br />
Bedeuten<strong>der</strong> als dieser Zusammenhang<br />
ist es, sich eine qualitative Vorstellung<br />
von <strong>der</strong> Ableitungsfunktion in Abhängigkeit von<br />
<strong>der</strong> Ursprungsfunktion machen zu können. Hierbei<br />
ist das „Einzeichnen“ <strong>der</strong> Tangente, an <strong>der</strong><br />
die Steigung in gewissen Sinne einfach abgelesen<br />
werden kann, hilfreich. Dies erleichtert auch<br />
zu erkennen, dass Stellen <strong>der</strong> Ursprungsfunktion,<br />
in denen diese einen lokalen Extremwert besitzt,<br />
Nullstellen <strong>der</strong> Ableitungsfunktion bilden.<br />
Des Weiteren soll erkannt werden, dass Stellen, in<br />
denen sich die Krümmung <strong>der</strong> Ursprungsfunktion<br />
än<strong>der</strong>t, Extremwertstellen <strong>der</strong> Ableitungsfunktion<br />
bilden. Diese Zusammenhänge lassen sich auch<br />
auf <strong>der</strong> Grundlage umgangssprachlicher Beschreibungen<br />
des Graphenverlaufs, wie sie etwa in <strong>der</strong><br />
Sekundarstufe I thematisch worden sein könnten,<br />
formulieren. Es kann erwartet werden, dass bei<br />
hinreichen<strong>der</strong> Beschäftigung mit <strong>der</strong> Interaktion,<br />
das Verfolgen <strong>der</strong> jeweils eingezeichneten Tangente<br />
nicht mehr notwendig ist, und zunehmend<br />
direkt vom Verlauf des Graphen <strong>der</strong> Ursprungsfunktion<br />
auf den Graphen <strong>der</strong> Ableitungsfunktion<br />
geschlossen werden kann.<br />
167
eLearning in mathematischen Vorkursen mit Beispielen zur Analysis<br />
Auch in dieser Interaktion stehen weniger formale<br />
als qualitativ-anschauliche Aspekte im Vor<strong>der</strong>grund.<br />
Und auch hier ist <strong>der</strong> Lernende in den<br />
Prozess des Entstehens des „Phänomens“ durch<br />
sein „Machen“ involviert: So entsteht hier <strong>der</strong><br />
Graph einer Funktion, ohne dass <strong>der</strong> Lernende explizit<br />
über das, was er da „mathematisch“ tut, reflektieren<br />
muss. Selbstverständlich sollte <strong>der</strong> Lernende<br />
dies spätestens im Studium noch leisten.<br />
Als Brücke zwischen „Gar nichts wissen“ und<br />
einem tieferen Verständnis des hier behandelten<br />
Phänomens kann diese Interaktion durch sein Bekanntmachen<br />
mit <strong>der</strong> Ableitungsfunktion und ein<br />
(potentielles) Anknüpfen an Inhalte <strong>der</strong> Sekundarstufe<br />
I aber allemal dienen.<br />
Beim Newton-Verfahren handelt es sich um<br />
ein numerisches Verfahren zur Bestimmung von<br />
Nullstellen nichtlinearer Funktionen. Es lässt sich<br />
auf kanonische Weise auf die Situation unendlich<br />
dimensionaler Räume verallgemeinern und ist in<br />
<strong>der</strong> Gestalt des Heron-Verfahrens, das Näherungswerte<br />
<strong>für</strong> die Quadratwurzel einer positiven reeller<br />
Zahl bestimmt, gelegentlich Gegenstand des<br />
<strong>Mathematik</strong>unterrichts <strong>der</strong> Sekundarstufe I. Es<br />
besitzt eine Vielzahl nichttrivialer Erweiterungen<br />
etwa zur Pfadbestimmung nichtlinearer parameterabhängiger<br />
Differentialgleichungssysteme und<br />
lässt sich mit topologischen Argumenten „kombinieren“.<br />
Darüber hinaus kann die Grundidee des<br />
Newton-Verfahrens auch auf bestimmte Probleme<br />
übertragen werden, bei denen die zugrunde liegende<br />
Funktion nicht differenzierbar ist. All dies<br />
168<br />
Abbildung 22.2: Ableitungsfunktion<br />
weist darauf hin, dass das Newton-Verfahren und<br />
seine Grundidee von großer Bedeutung <strong>für</strong> die<br />
<strong>Mathematik</strong> und ihre Anwendungen ist – viele<br />
Probleme <strong>der</strong> Anwendung führen letztlich auf das<br />
Problem, die Nullstellen nichtlinearer Gleichungen<br />
näherungsweise zu berechnen.<br />
Die Grundidee des Newton-Verfahrens lässt<br />
sich bekanntermaßen anschaulich einfach darstellen<br />
und <strong>der</strong> sich ergebende Algorithmus lässt sich<br />
mit Hilfe heutiger Taschenrechner leicht „programmieren“.<br />
Darüber hinaus lassen sich einige<br />
zentrale Probleme des Newton-Verfahrens bereits<br />
auf Schulniveau behandeln. So liegt <strong>der</strong> Anwendung<br />
des Newton-Verfahrens schon im eindimensionalen<br />
Fall in <strong>der</strong> Regel „lediglich“ ein Existenzsatz<br />
zu Grunde. Dieser besagt im Wesentlichen,<br />
dass Startwerte hinreichend nah an <strong>der</strong><br />
Nullstelle so gewählt werden können, dass das<br />
Newton-Verfahren Iterationswerte erzeugt, welche<br />
die wahre Lösung beliebig genau approximieren.<br />
Was „hinreichend nah“ heißt, ist nur in beson<strong>der</strong>en<br />
Situationen a priori zu klären. Eine ungünstige<br />
Wahl des Startwerts führt jedenfalls zu Iterationswerten,<br />
die das Verfahren zum Abbruch führen,<br />
eine „ungewünschte“ Nullstelle approximieren<br />
o<strong>der</strong> gar nicht konvergieren. Die Interaktion in<br />
Abb. 22.3 erlaubt, einige dieser Möglichkeiten zu<br />
„entdecken“. Eine erfolgreiche Aufgabenbearbeitung<br />
verlangt nicht die Elaboration aller denkbaren<br />
Möglichkeiten. Wie<strong>der</strong> reicht es durchaus aus,<br />
in dieser Situation und im Kontext <strong>der</strong> zugrunde<br />
liegenden <strong>Mathematik</strong> mittels <strong>der</strong> Interaktion Phä-
nomene (o<strong>der</strong> das Phänomen) zu entdecken und<br />
die dabei auftretenden geometrischen Situationen<br />
„sinnvoll“ zu interpretieren.<br />
Auch diese Interaktion bietet die Möglichkeit<br />
zu nichttrivialen Anschlussüberlegungen. So können<br />
<strong>für</strong> den Fall <strong>der</strong> Konvergenz <strong>der</strong> Iterationswerte<br />
gegen die Nullstelle Beobachtungen über<br />
die Konvergenzgeschwindigkeit angestellt werden.<br />
Des Weiteren könnte in diesem Kontext Einiges<br />
über a priori und a posteriori Fehlerabschätzungen<br />
und <strong>der</strong>en grundlegenden Unterschied erfahren<br />
werden.<br />
Neben dem Erfahrbarmachen des Newton-<br />
Verfahrens erlaubt die Interaktion in Abb. 22.3,<br />
über eine grundlegende häufig in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />
auftretende Situation, die Bedeutung und Grenze<br />
von Existenzaussagen, zu reflektieren. Auch <strong>für</strong><br />
dieses Interaktionsbeispiel ist seine „Brücken“-<br />
Funktion quasi „greifbar“.<br />
2.2 Beispiele zur Integralrechnung<br />
Die Iteration in Abb. 22.4 erlaubt es, ein durchaus<br />
relevantes Näherungsverfahren zur Berechnung<br />
bestimmter Integrale kennen zu lernen. Es lässt<br />
sich anschaulich begründen und rekurriert darauf,<br />
dass man aus <strong>der</strong> Sekundarstufe I noch weiß, wie<br />
Abbildung 22.3: Das Newton-Verfahren<br />
Reinhard Hochmuth und Pascal Fischer, Kassel<br />
man den Flächeninhalt eines Trapezes berechnet.<br />
Außerdem muss man endliche Summen berechnen.<br />
Mit heutigen Taschenrechnern lässt sich auch<br />
dieses Verfahren „leicht“ programmieren. Diese<br />
würde unter an<strong>der</strong>em die Bedeutung <strong>der</strong> Summenschreibweise<br />
verdeutlichen.<br />
In <strong>der</strong> vorliegenden Interaktion lassen sich<br />
darüber hinaus gewisse Phänomene beobachten,<br />
die durch die ergänzenden Bemerkungen quasi<br />
in Frage gestellt werden. So führt beispielsweise<br />
die Frage, warum bei <strong>der</strong> vorliegenden Funktion<br />
die Näherungswerte immer größer als <strong>der</strong> wahre<br />
Wert sind, zu <strong>der</strong> Frage, wie denn <strong>der</strong> Graph einer<br />
Funktion (und damit die Funktion) aussehen mögen,<br />
bei <strong>der</strong> dies nicht <strong>der</strong> Fall ist. Die Redewendung<br />
„in <strong>der</strong> Regel“ könnte darüber hinaus zu <strong>der</strong><br />
Überlegung Anlass geben, ob es denn Fälle gibt,<br />
bei denen zwar mehr Trapeze zur Berechnung eines<br />
Näherungswertes herangezogen werden, <strong>der</strong><br />
Näherungswert aber „schlechter“ wird. Weitergehend<br />
könnte etwa die Frage aufgeworfen werden,<br />
ob solche Fälle etwa bei <strong>der</strong> Wahl von Zweierpotenzen<br />
nicht auftreten können. Auch hier stehen<br />
anschauliche Überlegungen im Vor<strong>der</strong>grund.<br />
Die Herleitung des Begriffs des Riemannschen<br />
Integrals ist an sich ja eine eher techni-<br />
169
eLearning in mathematischen Vorkursen mit Beispielen zur Analysis<br />
Abbildung 22.4: Beispiel <strong>der</strong> näherungsweisen Berechnung mit Trapezen<br />
sche Angelegenheit. Die Interaktion in Abb. 22.5<br />
erlaubt es, die Berechnung von Ober- und Untersummen<br />
und <strong>der</strong>en Differenz an einem Beispiel<br />
konkret durchzuführen. Außerdem kann das<br />
Phänomen zur Kenntnis genommen werden, dass<br />
es etwa <strong>für</strong> stetige Funktionen letztlich (also im<br />
Grenzwert) egal ist, ob man Obersummen, Untersummen,<br />
Linkssummen o<strong>der</strong> Rechtssummen zur<br />
Grenzwertbildung verwendet. Auch hier erlauben<br />
die Fragen anschaulich argumentierende Antworten.<br />
Wie<strong>der</strong>um können aber auch weitergehende<br />
Fragen aufgeworfen werden. So kann gefragt werden,<br />
ob es denn wirklich notwendig ist, dass die<br />
zu integrierende Funktion stetig ist. Zumindest<br />
die Entdeckung, dass es <strong>für</strong> bestimme stückweise<br />
konstante Funktionen „gut geht“, könnte im Kontext<br />
dieser Interaktion angeregt werden.<br />
170<br />
3 Einsatzszenarien <strong>der</strong> Kasseler<br />
Brückenkurse<br />
3.1 Kurszenarien<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> Kasseler <strong>Mathematik</strong>brückenkurse<br />
können die Studienanfänger zwischen zwei alternativen<br />
Kursvarianten, einer P- und einer E-<br />
Kursvariante, wählen. Die Kurse in beide Varianten<br />
erstrecken sich über einen Zeitraum von 4<br />
Wochen, unterscheiden sich jedoch bzgl. einzelner<br />
Aspekte des Lernens, auf die wir im Folgenden<br />
kurz vergleichend eingehen wollen.<br />
P-Kurse<br />
Die P-Kurse glie<strong>der</strong>n sich in 12 Präsenz- und 8<br />
Selbstlerntage, wobei sich jeweils drei Präsenztage<br />
pro Woche mit 2 Selbstlerntagen abwechseln,<br />
wie es in <strong>der</strong> nachfolgenden Tabelle zu sehen ist.<br />
Mo Di Mi Do Fr Sa & So<br />
VL&Ü S VL&Ü S VL&Ü S<br />
VL&Ü S VL&Ü S VL&Ü S<br />
VL&Ü S VL&Ü S VL&Ü S
Die Teilnehmer werden dabei nach Studiengängen<br />
sortiert in vier Teilkurse aufgeteilt und<br />
von je einem Dozenten sowie mindestens zwei<br />
Übungsgruppenleitern je Teilkurs betreut. Die Dozenten<br />
sind in ihren Kursen im klassischen Sinne<br />
<strong>für</strong> die Auswahl <strong>der</strong> Inhalte sowie <strong>für</strong> die Taktung<br />
und das Tempo des Kurses verantwortlich. Sie orientieren<br />
sich dabei an den Bedürfnissen <strong>der</strong> jeweiligen<br />
Studiengänge, versuchen aber auch den Kurs<br />
soweit wie möglich an den spezifischen Bedürfnissen<br />
und Defiziten <strong>der</strong> Lerngruppe auszurichten.<br />
Eine Orientierung an den individuellen Bedürfnissen<br />
<strong>der</strong> einzelnen Teilnehmer ist jedoch schon<br />
aus rein praktischen Gründen nicht möglich: Je<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> vier Dozenten ist <strong>für</strong> 70 bis 300 Studienanfänger<br />
verantwortlich, so dass eine Individualdiagnose<br />
als Ausgangspunkt <strong>für</strong> eine individuelle<br />
Betreuung praktisch ausgeschlossen ist.<br />
Die Präsenztage umfassen in den P-Kursen 3<br />
Stunden vormittäglicher Vorlesungen und 2 Stunden<br />
Übungen am Nachmittag. Für die Selbstlerntage<br />
werden vom Dozenten Hausaufgaben ausgewählt,<br />
die zum einen zur Nachbereitung des vergangenen,<br />
zum an<strong>der</strong>en aber auch <strong>der</strong> inhaltlichen<br />
Vorbereitung auf den nächsten Kurstag dienen.<br />
So können bestimmte Inhalte aus den Vorlesungen<br />
auf Phasen selbstständigen Lernens „verlagert“<br />
werden. Dies führt einerseits zu einem ef-<br />
Abbildung 22.5: Interaktion Riemannsches Integral<br />
Reinhard Hochmuth und Pascal Fischer, Kassel<br />
fizienterem Einsatz <strong>der</strong> vorhandenen personellen<br />
und räumlichen Ressourcen, darüber hinaus aber<br />
auch durch die selbstständigere Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
des Lernenden mit dem Stoff zu einem potentiell<br />
aktiveren und damit effektiveren Lernprozess.<br />
Die Hausaufgaben werden in den Übungen<br />
des nächsten Präsenztages zusammen mit dem<br />
Tutor besprochen. Darüber hinaus werden dort<br />
Übungsaufgaben gemeinsam bearbeitet und/o<strong>der</strong><br />
Teilnehmer präsentieren gegenseitig ihre Lösungen.<br />
E-Kurse<br />
Auch die E-Kurse werden nach Studiengängen<br />
sortiert und in vier Gruppen aufgeteilt. Allerdings<br />
bilden diese vier Gruppen als Teilgruppen einen<br />
gemeinsamen Kurs, <strong>der</strong> lediglich durch einen Dozenten,<br />
einen Übungsgruppenleiter sowie einen<br />
Online-Tutor betreut wird. Dieser noch effizientere<br />
Einsatz von Lehrpersonal und auch von Räumen<br />
wird erreicht durch eine Reduzierung <strong>der</strong><br />
Präsenztage auf zwei gemeinsamen Einführungstage<br />
sowie einen kursgruppenspezifischen Präsenztermin<br />
pro Woche. So können die vier Teilgruppen<br />
an unterschiedlichen Tagen betreut werden.<br />
Die nachfolgende Tabelle illustriert den Stundenplan<br />
<strong>für</strong> eine <strong>der</strong> vier Teilgruppen.<br />
171
eLearning in mathematischen Vorkursen mit Beispielen zur Analysis<br />
Mo Di Mi Do Fr Sa & So<br />
VL&Ü VL&Ü S S VL&Ü S<br />
S S S S VL&Ü S<br />
S S S S VL&Ü S<br />
S S S S VL&Ü S<br />
Die Einführungstage dienen dabei sowohl dem<br />
Kennlernen <strong>der</strong> Studierenden untereinan<strong>der</strong>, sowie<br />
einer Einführung in die Uni, in den Ablauf<br />
von Vorlesungen und vor allem einer Einführung<br />
in das Lernen im E-Kurs. An den kursgruppenspezifischen,<br />
wöchentlichen Präsenzterminen findet<br />
stets zunächst eine einleitende Fragestunde<br />
statt, in <strong>der</strong> die Studierenden alle organisatorischen<br />
Fragen, Fragen zum Studium und auch gezielte<br />
inhaltliche Fragen stellen können. Anschließend<br />
wird eine Vorlesung gehalten, <strong>der</strong>en Themen<br />
im Vorfeld vom Dozent und den Studierenden gemeinsam<br />
festgelegt wurde. Auf diese Weise wird<br />
sichergestellt, dass unterstützt durch den Dozenten<br />
genau die Themen besprochen werden, die <strong>für</strong><br />
die jeweiligen Studiengänge maßgeblich sind, zudem<br />
jedoch auch die individuellen Wünsche <strong>der</strong><br />
Lerner bei <strong>der</strong> Gestaltung mit einbezogen werden<br />
können. In den nachmittäglichen Übungen werden<br />
dann wie bei den P-Kursen zusammen mit dem<br />
Tutor Aufgaben gerechnet und Lösungen vorgestellt.<br />
Auch an den Selbstlerntagen können die<br />
Studierenden ihr individuelles Lernen sowohl an<br />
den Bedürfnissen des Studiengangs als auch an<br />
ihren eigenen Wünschen und Defiziten ausrichten:<br />
Einerseits erhalten alle Kursteilnehmer studiengangsspezifische<br />
Empfehlungen zur Auswahl<br />
<strong>der</strong> Inhalte und zur Taktung des Kurses, an<strong>der</strong>seits<br />
werden ihnen elektronische selbstdiagnostische<br />
Tests in <strong>der</strong> Lernplattform Moodle bereitgestellt,<br />
mit denen sie sich eigenständig Testen können.<br />
Insgesamt sind im E-Kurs die Studierenden<br />
frei in <strong>der</strong> Gestaltung ihres Lernens. Es werden<br />
keine verpflichtenden Hausaufgaben festgelegt<br />
und auch die Nutzung <strong>der</strong> diagnostischen<br />
Tests ist freigestellt. Als zentraler Lernort steht<br />
den Teilnehmern die Lernplattform Moodle zur<br />
Verfügung (Abb. 22.6). Hier sind nicht nur die<br />
interaktiven Materialen <strong>der</strong> CD noch einmal als<br />
SCORM-Module verlinkt, auch die diagnostischen<br />
Tests sowie zusätzliches Informationsmaterial<br />
stehen hier bereit, wie es das nachfolgende<br />
Bild illustriert. Darüber hinaus werden Kommunikationstools<br />
wie Chat, Mitteilungen und Foren<br />
intensiv zur gegenseitigen Kommunikation und<br />
zum Austausch mit Dozent, Übungsgruppenleiter<br />
und dem Online-Tutor genutzt. Letzterer steht wochentags<br />
von 9-17 Uhr in <strong>der</strong> Lernplattform zur<br />
Verfügung und ist damit Ansprechpartner <strong>für</strong> alle<br />
Fragen. Alle Teilgruppen werden bei den E-<br />
Kursen in einem gemeinsamen Kursbereich in<br />
Moodle betreut.<br />
172<br />
3.2 Diagnostische Tests<br />
Das interaktive Vorkursmaterial des Projekts VE-<br />
MA ist durch seine modularisierte Inhaltsstruktur<br />
an sich sehr gut zum selbstständigen Lernen in<br />
E-Learning Szenarien geeignet. Allerdings bietet<br />
das Material Feedback lediglich in Form von Musterlösungen<br />
zu Aufgaben. Diese ermöglichen dem<br />
Lernenden zwar einen Vergleich mit <strong>der</strong> eigenen<br />
Lösung, eine gezielte Diagnose <strong>der</strong> individuellen<br />
Defizite o<strong>der</strong> gar das „Aussprechen“ persönlicher<br />
Empfehlungen zum Nacharbeiten sind allerdings<br />
nicht möglich. Da eine individuelle Diagnose von<br />
Defiziten (und Stärken) jedoch eine wichtige Voraussetzung<br />
<strong>für</strong> eine am individuellen Bedarf ausgerichtete<br />
Festlegung des Curriculums ist, wurden<br />
<strong>für</strong> die E-Kurse selbstdiagnostische Tests entwickelt.<br />
Diese wurden <strong>für</strong> die Lernplattform Moodle<br />
als automatisch auswertbare Tests realisiert. Dadurch<br />
wurde es möglich, dass je<strong>der</strong> Teilnehmer<br />
sich selbst testet und so individuelles Feedback<br />
sowie persönliche Bearbeitungsempfehlungen erhält.<br />
Insgesamt wurden 50 Tests mit rund 250 Aufgaben<br />
entwickelt, die als Vor- und Nachtests zu<br />
den VEMA-Modulen dienen. Je<strong>der</strong> dieser Tests<br />
orientiert sich inhaltlich am jeweiligen Modul, <strong>für</strong><br />
das er entwickelt wurde und umfasst mindestens<br />
je eine Aufgabe zu technischen Aspekten des Moduls,<br />
zum Verständnis, zur Anwendung des Stoffes<br />
und zur Fehlerdiagnose. Entsprechend <strong>der</strong> individuellen<br />
Ergebnisse gibt das System dem Lerner<br />
nicht nur allgemeine Empfehlungen zur Auswahl<br />
eines Moduls, son<strong>der</strong>n darüber hinaus gezielte<br />
Bearbeitungsempfehlungen <strong>für</strong> das Lernen<br />
in dessen Unterbereichen.<br />
Um auch Modellierungs- und Beweisaufgaben<br />
adäquat in die Tests aufnehmen zu können, wurde<br />
bei einzelnen Aufgaben ein offenes Eingabeformat<br />
verwendet, das eine Bewertung durch den<br />
Online-Tutor erfor<strong>der</strong>te. An<strong>der</strong>e Aufgaben wurden<br />
so gestaltet, dass <strong>der</strong> Studierende sich unter<br />
Zuhilfenahme eines Bewertungsschemas selbst<br />
bewerten musste, die Punkte in das System eintrug<br />
und erst dann ein Feedback mit Empfehlungen erhielt.<br />
Bei allen Aufgaben wurde stets eine Musterlösung<br />
in das automatische Feedback integriert.<br />
So erhielt <strong>der</strong> Lernende nicht nur ein Feedback<br />
hinsichtlich <strong>der</strong> Ergebnisse seines Tests, son<strong>der</strong>n<br />
konnte auch mögliche Fehler in seinem Lösungsweg<br />
durch den Vergleich mit <strong>der</strong> Musterlösung<br />
identifizieren (Abb. 22.7).<br />
Die so konstruierten Selbsttests konnten von<br />
den Studierenden genutzt werden, um sich vor und<br />
nach <strong>der</strong> Bearbeitung eines Moduls eigenständig<br />
zu diagnostizieren und individuelle Beareitungsempfehlungen<br />
zu erhalten. Auf diesem Weg war<br />
es trotz Einsparung von Personal möglich, den
Studienanfängern ein Maß an Individualdiagnose<br />
zu ermöglichen, welches in einem klassischen<br />
Präsenzkurs nicht realisierbar wäre.<br />
3.3 Zentrale Ergebnisse <strong>der</strong> angelagerten<br />
Dissertationsstudie<br />
An dieser Stelle möchten wir nur einige <strong>für</strong> diesen<br />
Artikel zentrale Ergebnisse <strong>der</strong> angelagerten<br />
Dissertationsstudie thematisieren und verweisen<br />
<strong>für</strong> weitere Ergebnisse und Details auf [Fischer,<br />
<strong>2009</strong>] sowie auf [Fischer & Biehler, 2010].<br />
Abbildung 22.6: Einbindung des E-Kurses in Moodle<br />
Abbildung 22.7: Testaufgabe inklusive Feedback<br />
Reinhard Hochmuth und Pascal Fischer, Kassel<br />
Die Kursteilnehmer bei<strong>der</strong> Varianten wurden<br />
zu den Gründen ihrer Kurswahl befragt. Die Auswertung<br />
<strong>der</strong> Ergebnisse zeigt dabei <strong>für</strong> den E-<br />
Kurs, dass äußere Rahmenbedingen wie Urlaub,<br />
berufliche Gründe, eine (noch) fehlende Wohnung<br />
am Studienort o<strong>der</strong> sonstige äußere Gründe<br />
laut eigener Angaben eher nicht <strong>für</strong> die Entscheidung<br />
gegen die P-Variante (mit erhöhtem Präsenzanteil)<br />
bestimmend sind. So wurden vor allem<br />
die freie Zeiteinteilung, und die Möglichkeit<br />
173
eLearning in mathematischen Vorkursen mit Beispielen zur Analysis<br />
zu selbstständigerem Lernen sowie das Interesse<br />
an <strong>der</strong> „Lernmethode eLearning“ selbst von den<br />
E-Kursteilnehmern als Gründe angegeben. Wie zu<br />
erwarten, spielte insbeson<strong>der</strong>e die reduzierte Anzahl<br />
<strong>der</strong> Präsenztage jedoch auch eine große Rolle.<br />
Die P-Kursteilnehmer gaben ebenfalls an, dass<br />
externe Gründe wie die Nicht-Verfügbarkeit von<br />
Internet, Flatrate o<strong>der</strong> PC eher nicht als Gründe<br />
<strong>für</strong> ihre Kursentscheidung maßgeblich waren.<br />
Stattdessen gaben die Teilnehmer vor allem an,<br />
dass <strong>der</strong> persönliche Kontakt und Austausch mit<br />
Studierenden und Dozent sowie das Kennen lernen<br />
von „Vorlesungen“ im Vor<strong>der</strong>grund ihrer Entscheidung<br />
gegen den E-Kurs standen.<br />
Darüber hinaus zeigten die Daten, dass entgegen<br />
<strong>der</strong> Erwartungen die E- und die P-<br />
Kursteilnehmer bzgl. <strong>der</strong> schulischen Erfahrungen<br />
im Lernen am PC, <strong>der</strong> Erfahrungen mit <strong>der</strong> Methode<br />
eLearning und auch hinsichtlich ihres Interesses<br />
am Arbeiten mit dem Computer sehr ähnliche<br />
Angaben machten. Offensichtlich scheinen<br />
diese impliziten Aspekte bei <strong>der</strong> Entscheidung <strong>für</strong><br />
eine <strong>der</strong> Kursvarianten keine große Rolle zu spielen.<br />
Zudem zeigte die Befragung <strong>der</strong> Teilnehmer<br />
vergleichbar positive Ergebnisse in <strong>der</strong> Bewertung<br />
des Kurses: Je<strong>der</strong> scheint mit <strong>der</strong> von ihm gewählten<br />
Kursvariante zufrieden zu sein.<br />
Das im Rahmen <strong>der</strong> Studie ebenfalls durchgeführte<br />
Testing zeigte <strong>für</strong> beide Kursvarianten<br />
vergleichbare Ergebnisse im Einganstest bei einer<br />
leicht höheren Streuung <strong>der</strong> Ergebnisse in den E-<br />
Kursen. Auch die Ausgangstestergebnisse sind <strong>für</strong><br />
beide Varianten vergleichbar bei einem im Mittel<br />
leicht besseren Ergebnis in den E-Kursen. Auffällig<br />
ist jedoch, dass die Streuung (und damit auch<br />
ein Maß <strong>der</strong> Heterogenität <strong>der</strong> Leistung im Kurs)<br />
bei den E-Kursen im Ausgangstest höher war als<br />
zuvor [vgl. Fischer, <strong>2009</strong>].<br />
4 Gesamtfazit und Diskussion<br />
4.1 Fazit zu den E- und P-Vorkursen<br />
Die E-Kurse sind als Alternative zu den P-Kursen<br />
einsetzbar und sowohl aus pädagogischen wie<br />
auch aus organisatorischen Gründen sinnvoll: Beide<br />
Kurse liefern vergleichbare Ergebnisse in <strong>der</strong><br />
Kursbewertung durch die Teilnehmer, beim Testing<br />
sind die Ergebnisse ebenfalls vergleichbar.<br />
Die Kursteilnehmer bei<strong>der</strong> Varianten zeigen sich<br />
im Wesentlichen mit <strong>der</strong> von Ihnen gewählten<br />
Kursvariante sehr zufrieden. Dies spricht da<strong>für</strong>,<br />
beide Kurse durchaus auch alternativ anzubieten.<br />
Gleichzeitig können durch die effizientere Betreuung<br />
<strong>der</strong> Teilnehmer unter Einsatz elektronischer<br />
Unterstützung auch Raum- und Personalprobleme<br />
gelin<strong>der</strong>t werden.<br />
Unter den Gründen <strong>für</strong> die Entscheidung <strong>für</strong><br />
174<br />
die P-Variante ist mit dem Wunsch nach „persönlichem<br />
Kontakt“ ein Aspekt angesprochen,<br />
<strong>der</strong> durch die Gestaltung <strong>der</strong> Präsenztage in den<br />
E-Kursen sowie durch die zusätzliche Online-<br />
Betreuung und die Peer-Kommunikation in den<br />
Foren hier prinzipiell auch gegeben ist. Dennoch<br />
darf nicht unterschätzt werden, dass selbstständiges<br />
Lernen, insbeson<strong>der</strong>e bei Studienanfängern,<br />
an eine Reihe von personalen und situativen Bedingungen<br />
geknüpft ist, <strong>der</strong>en Erfülltsein nicht<br />
einfach vorausgesetzt werden können. Das Angebot<br />
einer stärker durch einen Dozenten geleiteten<br />
P-Kursvariante als Alternative zum E-Kurs erscheint<br />
deshalb ebenso wichtig und trägt den von<br />
den Teilnehmern geäußerten Wünschen nach unterschiedlichen<br />
Betreuungsformen Rechnung.<br />
4.2 Zur Übertragbarkeit auf schulischen<br />
Kontext<br />
Einige Schulverlage bieten bereits Begleitmaterial<br />
zu ihren Schulbüchern an, die auf CDs bereitgestellt<br />
werden. Diese Materialien umfassen zusätzliches<br />
interaktives Lernmaterial und elektronische<br />
Übungsaufgaben [vgl. u. a. Klett Verlag, 2007;<br />
Schroedel Verlag, 2006]. Inwieweit dieses ergänzende<br />
Material in Schulen bereits eingesetzt wird,<br />
ob es wie bei dem oben vorgestellten Brückenkursen<br />
in ein passendes Kurskonzept integriert o<strong>der</strong><br />
den Schülern lediglich zum Lernen <strong>für</strong> zu hause<br />
an die Hand gegeben wird, ist bislang unklar. Für<br />
die Schule müssen gegebenenfalls erst noch adäquate<br />
Einsatzszenarien entwickelt und beforscht<br />
werden.<br />
Auch das interaktive Vorkursmaterial inklusive<br />
<strong>der</strong> diagnostischen Tests ist bislang nicht an<br />
Schulen getestet worden, so dass empirisch belegbare<br />
Aussagen über dessen Verwendbarkeit bislang<br />
nicht getroffen werden können. In <strong>der</strong> vorliegenden<br />
Form erscheint jedenfalls nur ein Einsatz<br />
in <strong>der</strong> Oberstufe denkbar, z.B. zum gezielten<br />
individuellen Nacharbeiten von Defiziten bezüglich<br />
Themen aus <strong>der</strong> Sekundarstufe I o<strong>der</strong> bezüglich<br />
bereits behandelter Inhalte <strong>der</strong> Sekundarstufe<br />
II. In diesem Sinne könnte das interaktive Lernund<br />
Testmaterial als Alternative zum o<strong>der</strong> zumindest<br />
als ein Element von Nachhilfeunterricht genutzt<br />
werden. Ein Einsatz des Lernmaterials in <strong>der</strong><br />
Oberstufe hätte zudem möglicherweise den Effekt,<br />
dass die Schüler auf das mehr selbstständigkeitsorientiertere<br />
Lernen an <strong>der</strong> Hochschule vorbereitet<br />
werden. Einzelne Bestandteile des Materials<br />
können sicherlich auch <strong>für</strong> den Unterricht <strong>der</strong><br />
Mittelstufe genutzt werden.<br />
Auch eine (Weiter-)Entwicklung <strong>der</strong> diagnostischen<br />
Selbsttests <strong>für</strong> die Schule wäre denkbar:<br />
Bei Einsatz einer entsprechenden Lernplattform<br />
könnte so schnell und effizient eine inhalts- und<br />
kompetenzbezogene Diagnose über das Wissen<br />
<strong>der</strong> Schüler erstellt werden, die dem Lehrer bei
<strong>der</strong> zielgerichteten Gestaltung seines Unterrichts<br />
unterstützen könnte. Sicherlich haben die diagnostischen<br />
Tests nicht den Charakter und auch nicht<br />
den Anspruch einer umfassenden und vollständigen<br />
Diagnose <strong>der</strong> Fähigkeiten und Kenntnisse eines<br />
Schülers. Sie geben aber einen groben Überblick<br />
über mögliche Defizite und klären dementsprechenden<br />
Handlungsbedarf. Auf diesem Weg<br />
könnten Teile des Unterrichts in PC-Räumen stattfinden<br />
o<strong>der</strong> es könnte, ähnlich wie in den P-<br />
Kursen, das Bearbeiten von Inhalten etwa zur individuellen<br />
Vorbereitung von Unterrichtsstunden<br />
zur Hausaufgabe erklärt werden. Dabei muss allerdings<br />
beachtet werden, dass diese und auch an<strong>der</strong>e<br />
Studien zwar eine hohe Verbreitung von Internet<br />
und PCs unter den Schülern belegen, generell<br />
vorausgesetzt werden kann dies bei Schülern<br />
allerdings (noch) nicht.<br />
Dass Moodle bereits an vielen Schulen angeboten<br />
wird [vgl. Waßner, <strong>2009</strong>] und als OpenSource<br />
Plattform kostenlos zur Verfügung steht, zeigt<br />
das Potential, das hier allen Schulen zur individuelleren<br />
Gestaltung des Lernens zur Verfügung<br />
steht und sicherlich noch nicht ausgeschöpft ist.<br />
4.3 Zur Übertragbarkeit auf an<strong>der</strong>e<br />
Hochschullehrkontexte<br />
Brückenkurse sind geeignete Kontexte <strong>für</strong> den<br />
Einsatz von eLearning, da die Lerner in <strong>der</strong> Regel<br />
motiviert sind, spezifische Inhalte nachzuarbeiten.<br />
Zudem kann darauf „vertraut“ werden, dass die<br />
Lerner aus Eigeninteresse bei den Tests nicht betrügen.<br />
Auch im Hochschulkontext können sowohl<br />
das Material als auch die Tests parallel zu<br />
den Vorlesungen etwa zum individuellen Nacharbeiten<br />
von Defiziten sowie zum Üben eingesetzt<br />
werden.<br />
Um das oben vorgestellte E-Kurskonzept auf<br />
an<strong>der</strong>e Lehrveranstaltungen übertragen zu können,<br />
ist jedoch in <strong>der</strong> Regel eine Neuentwicklung<br />
von interaktivem Material und diagnostischen<br />
Tests notwendig. Dies erfor<strong>der</strong>t mittelfristig<br />
zwar einen hohen Arbeits- und Kostenaufwand,<br />
sorgt langfristig jedoch sowohl personell wie auch<br />
materiell <strong>für</strong> eine effizientere Nutzung <strong>der</strong> Ressourcen.<br />
Attraktiv ist dies vor allem <strong>für</strong> Lehrveranstaltungen<br />
mit einer hohen Teilnehmerzahl sowie<br />
einem relativ konstant bleibenden Inhaltsrepertoire.<br />
Bei einer Diskussion <strong>der</strong> Übertragbarkeit auf<br />
an<strong>der</strong>e Bereiche <strong>der</strong> Hochschullehre müssen insbeson<strong>der</strong>e<br />
die folgenden Fragestellungen berücksichtig<br />
werden:<br />
1. Wie verhält sich ein solches Konzept bezogen<br />
auf die Bildungsziele <strong>der</strong> Hochschule?<br />
2. Wie sollte ein E-Learning Kurs gestaltet wer-<br />
1 http://lima-pb-ks.de<br />
2 http://www.math-bridge.org<br />
Reinhard Hochmuth und Pascal Fischer, Kassel<br />
den, wenn es sich um eine „normale“ Pflichtlehrveranstaltung<br />
handelt?<br />
3. Sind die positiven Evaluierungsergebnisse bezüglich<br />
<strong>der</strong> Vorkurse auch bezüglich Hochschullehrveranstaltungen<br />
reproduzierbar?<br />
4. Wie müssten diagnostische Tests <strong>für</strong> Hochschullehrveranstaltungen<br />
aussehen?<br />
4.4 Forschungs- und Projektperspektive<br />
Im Hinblick auf die Weiterentwicklung des interaktiven<br />
Materials sowie weiterer hochschuldidaktischer<br />
Forschungen kann im Kooperationsverbund<br />
<strong>der</strong> Universitäten Kassel und Pa<strong>der</strong>born<br />
auf Erfahrungen aus einer Reihe von Projekten zurückgriffen<br />
werden.<br />
So sei hier einerseits das Projekt „LIMA“ genannt,<br />
in dem eine Studie zur Lehrinnovation <strong>der</strong><br />
mathematischen Anfangsausbildung <strong>für</strong> das Studium<br />
von Haupt- und Realschullehramt durchführt<br />
wird. 1 Dabei findet ein studienbegleiten<strong>der</strong><br />
Einsatz von eLearning statt, auch unter Rückgriff<br />
auf Erfahrungen, Erkenntnissen und zum Teil<br />
auch auf Material aus dem Vorkursprojekt.<br />
Im Kontext des EU-Projekts Math-Bridge 2<br />
wird unter Beteiligung <strong>der</strong> Universitäten Kassel<br />
und Pa<strong>der</strong>born das vom DFKI initiierte Projekt<br />
ActiveMath weitergeführt und internationalisiert.<br />
Hier gehen nicht nur das interaktive VEMA-<br />
Material sowie die Tests ein, insbeson<strong>der</strong>e wird<br />
auch das wissenschaftliche und speziell das pädagogische<br />
Know-how im Projekt eingebracht und<br />
auf internationaler Ebene vertieft. Ziel des Projekts<br />
ist die Entwicklung und Beforschung eines<br />
interaktiven Brückenkurses <strong>für</strong> Studienanfänger<br />
insbeson<strong>der</strong>e im Bereich Ingenieurwesen, aber<br />
auch <strong>für</strong> an<strong>der</strong>e mathematikhaltige Studiengänge.<br />
Des Weiteren haben die beiden Autoren dieses<br />
Artikels geplant, im Rahmen einer kleinen Studie<br />
ein interaktives Lernobjekt zum Grenzwertbegriff<br />
bei Folgen <strong>für</strong> den universitären Einsatz zu entwickeln<br />
und zu beforschen. Die Studie soll im Kontext<br />
<strong>der</strong> Veranstaltung „Grundzüge II“ im Sommersemester<br />
2011 durchgeführt werden.<br />
Die interaktiven Kursmaterialien werden im<br />
Projekt VEMA kontinuierlich weiterentwickelt<br />
und im Rahmen <strong>der</strong> jährlichen Vorkurse beforscht.<br />
In Kassel wird <strong>der</strong>zeit das Kapitel zur Vektorrechnung<br />
ausgebaut und die TU Darmstadt arbeitet<br />
an einem Ausbau des Kapitels zur Analysis. Die<br />
Universität Pa<strong>der</strong>born plant die Entwicklung eines<br />
Kapitels zur Stochastik.<br />
Auf Basis <strong>der</strong> im Vorkurs <strong>2008</strong> gesammelten<br />
Daten werden zudem differenziertere Auswertungen<br />
im Rahmen <strong>der</strong> Dissertationsstudie erfolgen.<br />
175
eLearning in mathematischen Vorkursen mit Beispielen zur Analysis<br />
Literatur<br />
Biehler, Rolf, Bernd Billhardt, Regina Bru<strong>der</strong>, Reinhard Hochmuth,<br />
Wolfram Koepf & Walter Strampp (<strong>2009</strong>): CD Multimediavorkurs<br />
<strong>Mathematik</strong>. Version 3.1.<br />
Biehler, Rolf, Bernd Billhardt, Regina Bru<strong>der</strong>, Reinhard Hochmuth,<br />
Wolfram Koepf, Walter Strampp, Isabell Bausch, Pascal<br />
Rolf Fischer & Thomas Wassong (2010): CD Multimediavorkurs<br />
<strong>Mathematik</strong>. Version 3.2.<br />
Biehler, Rolf & Pascal Rolf Fischer (2006): VEMA – Virtuelles<br />
Eingangstutorium <strong>Mathematik</strong>. In: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
2006. Vorträge auf <strong>der</strong> 40. Tagung <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> vom 6. 3. bis 10. 3. 2006 in Osnabrück, Hildesheim:<br />
Franzbecker.<br />
Fischer, Pascal Rolf (2007): E-Learning als effizienteres Mittel<br />
<strong>für</strong> den Brückenschlag zwischen Schule und Universität?<br />
In: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht 2007. Vorträge auf <strong>der</strong><br />
41. Tagung <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>, Hildesheim: Franzbecker.<br />
Fischer, Pascal Rolf (<strong>2009</strong>): E-Learning zwischen Schule und<br />
Universität? Ergebnisse einer empirischen Studie zum Einsatz<br />
176<br />
einer E-Variante mathematischer Brückenkurse. In: Beiträge<br />
zum <strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>2009</strong>. Vorträge auf <strong>der</strong> 40. Tagung<br />
<strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> in Oldenburg, Münster: WTM.<br />
Fischer, Pascal Rolf & Rolf Biehler (2010): Ein individualisierter<br />
eVorkurs <strong>für</strong> 400 Studierende und mehr. Ein Lösungsansatz<br />
<strong>für</strong> mathematische Brückenkurse mit hohen Teilnehmerzahlen.<br />
In: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht 2010. Vorträge auf <strong>der</strong><br />
44. Tagung <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> in München, Münster:<br />
WTM.<br />
Klett Verlag (2007): Lambacher-Schweizer 6. Neubearbeitung<br />
Ausgabe Hessen. Arbeitsheft plus Lösungsheft und Lernsoftware.<br />
Ernst Klett Schulbuchverlag.<br />
Schroedel Verlag (2006): Lernsoftware MatheBits. Dreisatz,<br />
Prozente, Zinsen. CD-ROM.<br />
Waßner, Christoph (<strong>2009</strong>): E-Learning in <strong>der</strong> Unterrichtspraxis.<br />
In: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>2009</strong>. Vorträge auf<br />
<strong>der</strong> 40. Tagung <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> in Oldenburg,<br />
Münster: WTM.