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Tagungsband 2008/2009 - Gesellschaft für Didaktik der Mathematik

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proceedings<br />

Ulrich Kortenkamp und Anselm Lambert<br />

(Hrsg.)<br />

Medien Vernetzen<br />

Zur Zukunft des Analysisunterrichts<br />

vor dem Hintergrund <strong>der</strong><br />

Verfügbarkeit<br />

Neuer Medien (und Werkzeuge)<br />

Lösungen<br />

vorstellen<br />

Aufgaben<br />

stellen<br />

Zufallszahlen<br />

Themen<br />

zusammenfassen<br />

Themen<br />

vorstellen<br />

Mittelwert,<br />

Median<br />

Aufgaben /<br />

Präsentation<br />

Wirtschaftsmathematik<br />

Standardabweichung,<br />

Varianz<br />

Stochastik<br />

und Statistik<br />

DifferentialundIntegralrechnung<br />

Regression<br />

Konstruktionen<br />

Geometrie<br />

CAS<br />

Berechnungen<br />

Funktionen<br />

geometrische<br />

Zusammenhänge<br />

Addition,<br />

Multiplikation,<br />

. . .<br />

Programmiersprache<br />

LGS, Matrizen,<br />

. . .<br />

Graphen<br />

2D<br />

Tabellenkalkulation<br />

3D<br />

komplexe<br />

Verfahren<br />

Algorithmen<br />

Messreihen<br />

aufnehmen<br />

Datensätze<br />

auswerten<br />

Datenerhebungen<br />

Bericht über die<br />

26. und 27. Arbeitstagung des Arbeitskreises<br />

„<strong>Mathematik</strong>unterricht und Informatik“<br />

in <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> e.V.<br />

vom 26.–28.9.<strong>2008</strong> in Fuldatal und 25.–27.9.<strong>2009</strong> in Soest


Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliografie;<br />

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.<br />

ddb.de abrufbar.<br />

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Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie;<br />

detailed bibliographic data is available on the Internet at http://dnb.ddb.de.<br />

Ulrich Kortenkamp; Anselm Lambert (Hrsg.)<br />

Medien Vernetzen / Zur Zukunft des Analysisunterrichts vor<br />

dem Hintergrund <strong>der</strong> Verfügbarkeit Neuer Medien (und Werkzeuge)<br />

Bericht über die 26. und 27. Arbeitstagung des Arbeitskreises<br />

„<strong>Mathematik</strong>unterricht und Informatik“ in <strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> e.V. vom 26.-28.9.<strong>2008</strong> in Fuldatal und<br />

25.-27.9.<strong>2009</strong> in Soest<br />

ISBN 978-3-88120-823-9<br />

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbeson<strong>der</strong>e die <strong>der</strong> Vervielfältigung<br />

und Übertragung auch einzelner Textabschnitte, Bil<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Zeichnungen<br />

vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Zustimmung des<br />

Verlages in irgendeiner Form reproduziert werden (Ausnahmen gem. §§53, 54<br />

URG). Das gilt sowohl <strong>für</strong> die Vervielfältigung durch Fotokopie o<strong>der</strong> irgendein an<strong>der</strong>es<br />

Verfahren als auch <strong>für</strong> die Übertragung auf Filme, Bän<strong>der</strong>, Platten, Transparente,<br />

Disketten und an<strong>der</strong>e Medien.<br />

c○ 2012 by Verlag Franzbecker, Hildesheim


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort <strong>der</strong> Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

I Medien vernetzen 5<br />

„Medien vernetzen“ – Leitgedanken und -fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />

Henrik Kratz, Oberursel: Warum ist <strong>der</strong> Einsatz Neuer Medien so schwierig? . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

Horst Hischer, Saarbrücken: Medien und Vernetzungen – eine didaktische Positionsbestimmung . . . . 17<br />

Andreas Goebel und Reinhard Oldenburg, Frankfurt: Konstruktionsbegriffe <strong>für</strong> die<br />

3D-Raumgeometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />

Rolf Neveling, Wuppertal: Neue Technologien und ihre Vernetzung im Rahmen curricularer<br />

Überlegungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<br />

Sebastian Kuntze und Christine Bescherer, Ludwigsburg: Überzeugungen von Studierenden zum<br />

Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht und <strong>der</strong>en Weiterentwicklung in einer Lehrveranstaltung. . 31<br />

II Zur Zukunft des Analysisunterrichts 41<br />

Zur Zukunft des Analysisunterrichts vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Verfügbarkeit Neuer Medien (und<br />

Werkzeuge) – Leitgedanken und -fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />

Hannes Stoppel, Gladbeck: CAS ist nicht gleich CAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45<br />

Andrea Hoffkamp, Berlin: Funktionales Denken mit dem Computer unterstützen – Empirische<br />

Untersuchungen im Rahmen des propädeutischen Unterrichts <strong>der</strong> Analysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />

Guido Pinkernell, Darmstadt: Qualitatives Modellieren mit <strong>der</strong> Funktionenbox und an<strong>der</strong>en<br />

schwarzen Kästen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57<br />

Gilbert Greefrath, Köln: Vielfältiger Computereinsatz im Analysisunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />

Fritz Nestle, Ulm: Kühe, Kin<strong>der</strong> und Kultusminister(innen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />

Andreas Fest, Schwäbisch Gmünd & Marc Zimmermann, Ludwigsburg: Werkzeuge <strong>für</strong> das<br />

individuelle Lernen in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77<br />

Reinhard Oldenburg, Frankfurt: Die Analysis in den Zeiten <strong>der</strong> Computerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83<br />

Hans-Georg Weigand, Würzburg: Wozu brauche ich ein Computeralgebra System (CAS), wenn ich<br />

zwei Straßen verbinden soll? – Überlegungen zum (sinnvollen) Einsatz eines CAS im<br />

Analysisunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />

1


Lutz Führer, Frankfurt: Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum<br />

Analysisunterricht des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103<br />

Stefanie Anzenhofer, Würzburg: Musik mit Funktionsgraphen – Wissen kreativ nutzen . . . . . . . . . . 137<br />

Joachim Engel, Ludwigsburg: Von Daten zur Funktion: Skizzen eines anwendungsorientierten<br />

Analysisunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147<br />

Bodo von Pape, Oldenburg: Analysis in <strong>der</strong> Schule zwischen Präzision und Approximation – Ein<br />

Plädoyer <strong>für</strong> Algorithmik und Animation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153<br />

Markus Vogel, Heidelberg: Der Computer macht’s möglich — Funktionen als Werkzeug zum<br />

Modellieren von Daten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159<br />

eLearning in mathematischen Vorkursen mit Beispielen zur Analysis: Reinhard Hochmuth und<br />

Pascal Fischer, Kassel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165<br />

2


• Vorwort <strong>der</strong> Herausgeber<br />

Anselm Lambert, Saarbrücken und Ulrich Kortenkamp, Halle-Wittenberg<br />

Der Arbeitskreis <strong>Mathematik</strong>unterricht und Informatik<br />

wurde 1978 gegründet, so dass die Herbsttagung<br />

<strong>2008</strong> in Fuldatal das 30jährige Jubiläum<br />

markiert. Die inzwischen regelmäßig durchgeführten<br />

jährlichen Arbeitstagungen Ende September<br />

sind das institutionelle Zentrum <strong>der</strong> umfangreichen<br />

themengeleiteten und zielorientierten<br />

Diskussionen.<br />

<strong>Mathematik</strong>didaktik ist <strong>für</strong> den Arbeitskreis<br />

dabei eine Wissenschaft mit zahlreichen Bezugsdisziplinen,<br />

von <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> und <strong>der</strong> Informatik<br />

über die pädagogische Psychologie bis zu den<br />

empirischen und den normativen Bildungswissenschaften.<br />

Auch <strong>der</strong> Begriff Informatik selbst wird<br />

darin vom Arbeitskreis breit ausgelegt – von ihren<br />

theoretischen Grundlagen im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

bis zur Computernutzung im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

– mit jeweils persönlich geprägten inhaltlichen<br />

Schwerpunkten. Diese Bandbreite spiegelt<br />

sich in den Beiträgen zu den Tagungsthemen<br />

„Medien Vernetzen“ (<strong>2008</strong>) und „Zur Zukunft<br />

des Analysisunterrichts vor dem Hintergrund<br />

<strong>der</strong> Verfügbarkeit Neuer Medien (und Werkzeuge)“<br />

(<strong>2009</strong>) wi<strong>der</strong>.<br />

Darüber hinaus ist <strong>der</strong> Arbeitskreis ein dem<br />

fruchtbaren Austausch dienen<strong>der</strong> Treffpunkt von<br />

an <strong>Mathematik</strong>unterricht und Informatik Interessierten<br />

aus Schule und Hochschule mit ihren unterschiedlichen<br />

persönlichen Zugängen zum Gebiet:<br />

pragmatisch konstruktiven, empirisch deskriptiven,<br />

theoretisch fundierenden, visionär weisenden,<br />

alltäglich gestaltenden. Auch diese Bandbreite<br />

spiegelt sich in den Beiträgen wi<strong>der</strong> – mit<br />

jeweils eigener (Präsentations- und) Veröffentlichungskultur.<br />

Wir haben uns als Herausgeber entschlossen,<br />

diese Vielfalt hier in diesem <strong>Tagungsband</strong><br />

wie<strong>der</strong> originalgetreu zu dokumentieren.<br />

Es gibt nicht zu allen Vorträgen <strong>der</strong> Tagungen<br />

auch einen Artikel in diesem <strong>Tagungsband</strong>.<br />

Gerade daher möchten wir all den hier versammelten<br />

Autorinnen und Autoren danken, die uns<br />

helfen, das breite Spektrum <strong>der</strong> Arbeitstagung <strong>für</strong><br />

den Rest <strong>der</strong> Kommunität zugänglich und sichtbar<br />

zu machen. Ohne ihre tatkräftige und geduldige<br />

Unterstützung bei <strong>der</strong> Herstellung gäbe es diesen<br />

<strong>Tagungsband</strong> nicht. Wir hoffen, mit den Beiträgen<br />

einen Beitrag zur mathematikdidaktischen<br />

Diskussion um die Beziehung zwischen Informatik<br />

und <strong>Mathematik</strong>unterricht zu liefern und wünschen<br />

Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, viel Anregung<br />

und Freude bei <strong>der</strong> Lektüre.<br />

3


Anselm Lambert, Saarbrücken und Ulrich Kortenkamp, Halle-Wittenberg<br />

4


Teil I<br />

Tagung <strong>2008</strong><br />

Medien vernetzen<br />

5


• „Medien vernetzen“ – Leitgedanken und -fragen<br />

Anselm Lambert, Saarbrücken, und Ulrich Kortenkamp, Schwäbisch Gmünd<br />

Medien vernetzen. Zwei Worte. Eine Aussage. Eine<br />

Frage? Eine Hoffnung? Eine For<strong>der</strong>ung? Eine<br />

Vision? Ein (?) Tagungsthema – unser Tagungsthema!<br />

Medien vernetzen.<br />

Medien vernetzen? Wen o<strong>der</strong> Was vernetzen<br />

Medien? Inhalte des <strong>Mathematik</strong>unterrichts,<br />

Methoden des <strong>Mathematik</strong>unterrichts, und/o<strong>der</strong><br />

alte/neue Inhalte mit alten/neuen Methoden des<br />

<strong>Mathematik</strong>unterrichts? Lern- und Leistungssituationen?<br />

Vernetzen Medien gar Personen des<br />

<strong>Mathematik</strong>unterrichts mit- und untereinan<strong>der</strong>:<br />

Lehrende und Lernende. Und auch Lernende über<br />

geeignete Methoden (welche?) mit Inhalten (welchen)?<br />

Können/sollten Sie dies? Seit wann vernetzen<br />

Medien? Weshalb vernetzen Medien? Von allein?<br />

O<strong>der</strong> durch Lehrende? O<strong>der</strong> durch die Lernenden<br />

selbst? Da ist auch eine an<strong>der</strong>e Perspektive<br />

wichtig: Wer vernetzt Medien, macht Medien<br />

vernetzen – und warum? Können/sollten auch<br />

Medien Medien vernetzen?<br />

Genauere Blicke lohnen, dazu differenzieren<br />

wir Begriffe, um weiter zu fragen. Ein Vorschlag<br />

– <strong>der</strong> gerne hinter- und gegengefragt werden darf!:<br />

Medien und Werkzeuge wirken zwischen Mensch<br />

und Welt. Medien vermitteln Menschen Welt, speziell<br />

auch die o<strong>der</strong> bescheidener eine Welt <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>.<br />

Werkzeuge lassen umgekehrt Menschen<br />

Einfluss auf die Welt nehmen. Medien und Werkzeuge<br />

sind damit zwei Gesichter einer Interaktion<br />

von Mensch und Welt, unterschieden durch ihre<br />

Interaktionsrichtung.<br />

(Nicht nur) Mathematische Gedanken bedürfen<br />

externer, isomorpher (was kann/soll das heißen<br />

müssen/dürfen?) Darstellungen zur Kommunikation.<br />

<strong>Mathematik</strong>, die nicht singulär in ihrem<br />

individuellen Entdecker o<strong>der</strong> je nach Standpunkt<br />

Erfin<strong>der</strong> bleiben soll, bedarf externer Darstellungen,<br />

die Sen<strong>der</strong> und Empfänger verstehen<br />

(lernen), die diesen ein Wechselspiel symmetrischer<br />

Kommunikation ermöglichen. Auch zwischen<br />

Menschen und Computern?!?<br />

Wir nutzen im Unterricht Darstellungen, die<br />

helfen (mathematische) Welt(sicht) zu erfahren<br />

und zu erschließen. Schon immer verwenden<br />

Menschen dazu Handlungen (mit und ohne Werkzeugen),<br />

Zeichen und Symbole (die vereinbarten<br />

Regeln folgen) als Medien und nicht zuletzt gesprochene<br />

Sprache. Können wir letztere mitvernetzen?<br />

Zwangsläufig beeinflusst stets <strong>der</strong> uns zur<br />

Verfügung stehende Teil des denkbaren Universums<br />

aller Darstellungen, die Fragen welcher <strong>Mathematik</strong><br />

wir uns zuwenden (können) und welche<br />

<strong>Mathematik</strong> wir interessant finden (wollen).<br />

Das Spektrum gewünschter Darstellungen sollte<br />

von Gegenstand, Zweck und Ziel abhängig<br />

sein und ist praktisch von den Möglichkeiten<br />

<strong>der</strong> vernetzten und vernetzenden Neuen Medien<br />

und Werkzeuge abhängig – was können diese<br />

leisten, was nicht? Welche (neuen?) Darstellungen<br />

schenken uns Computer und welche enthalten<br />

Sie uns (prinzipiell?) vor? Darstellungen<br />

eines mathematischen Sachverhaltes können enaktiv<br />

o<strong>der</strong> ikonisch o<strong>der</strong> symbolisch sein – können/sollten<br />

Medien dies vernetzen? Darstellungen<br />

eines mathematischen Sachverhaltes können<br />

formal-analytisch o<strong>der</strong> visuell-geometrisch o<strong>der</strong><br />

konzeptuell-begrifflich sein – können/sollten Medien<br />

dies vernetzen?<br />

Darstellungen eines mathematischen Sachverhaltes<br />

können prädikativ o<strong>der</strong> funktional sein<br />

– können/sollten Medien dies vernetzen? Kurz:<br />

können/sollten wir versuchen bestimmten Kategorien<br />

und/o<strong>der</strong> Skalen didaktisch unterscheidbarer<br />

mathematischer Zugänge durch vernetzte<br />

und vernetzende Neue Medien und Werkzeuge<br />

gerecht(er?) zu werden. Können/wollen wir dazu<br />

immer/manchmal/nie Computer als Maschinen<br />

gewordene <strong>Mathematik</strong> sinnstiftend, sinntragend,<br />

sinnvoll nutzen/netzen?<br />

Wir laden Sie herzlich ein, diese, weitere, engere,<br />

an<strong>der</strong>e Fragen und denkbare, mögliche, bescheidene<br />

o<strong>der</strong> euphorische Antwortversuche gemeinsam<br />

mit an<strong>der</strong>s o<strong>der</strong> ähnlich denkenden an<br />

„Medien vernetzen“ Interessierten auf <strong>der</strong> diesjährigen<br />

Herbsttagung des AKMUI in <strong>der</strong> GDM auszutauschen,<br />

zu diskutieren, zu unterstützen o<strong>der</strong><br />

zu bestreiten.<br />

7


Anselm Lambert, Saarbrücken, und Ulrich Kortenkamp, Schwäbisch Gmünd<br />

Vorträge <strong>der</strong> Tagung <strong>2008</strong><br />

8<br />

Niegemann, Helmut Lernen im Netz <strong>der</strong> Medien (Hauptvortrag)<br />

Greefrath, Gilbert Digitale Medien im <strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>für</strong> unterschiedliche Zugänge<br />

nutzen – Erfahrungen aus <strong>der</strong> Lehrerbildung<br />

Monnerjahn, Rolf Vernetzung des <strong>Mathematik</strong>unterrichts (durch Mupad) mit Sinnund<br />

Kulturzusammenhängen<br />

Nestle, Fritz Mathe und WoW<br />

Hischer, Horst Was sind und was sollen Medien und Netze? – Eine didaktische Positionsbestimmung<br />

(Hauptvortrag)<br />

Kuntze, Sebastian Überzeugungen von Studierenden zum Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

und <strong>der</strong>en Weiterentwicklung in einer Lehrveranstaltung<br />

Vogel, Markus <strong>Mathematik</strong>lernen im Lehramtsstudium – Medien unterstützen, Medien<br />

verbinden<br />

El-Demerdash, Mohamed A Suggested Enrichment Program Using DGS in Developing Geometric<br />

Creativity<br />

Labs, Oliver Parameterisierte Kurven als Ortskurven von Geradenkonstruktionen<br />

in Cin<strong>der</strong>ella<br />

Kratz, Henrik Warum ist <strong>der</strong> Einsatz neuer Medien so schwierig?<br />

Stepancik, Evelyn Medienvielfalt im <strong>Mathematik</strong>unterricht – Konzepte <strong>für</strong> eine „ideale“<br />

Medien-Kombination im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

Oldenburg, Reinhard Konstruktionsbegriffe <strong>für</strong> die dynamische Raumgeometrie (mit Andreas<br />

Göbel)<br />

Neveling, Rolf Neue Technologien und Aspekte ihrer Vernetzung im Rahmen curricularer<br />

Überlegungen (Hauptvortrag)<br />

Lehmann, Eberhard Vernetzen – eine fundamentale Idee <strong>für</strong> bessere Curricula – <strong>der</strong><br />

Computer macht’s möglich<br />

Roth, Jürgen <strong>Mathematik</strong> rund um den Bagger – Medien vernetzen, Modellieren<br />

erleichtern


• Warum ist <strong>der</strong> Einsatz Neuer Medien so schwierig?<br />

Henrik Kratz, Oberursel<br />

Im hessischen Landesabitur kann zwischen Aufgaben gewählt werden, bei denen verschiedene Technologien<br />

(TR, GTR, CAS) zugelassen sind. Trotz einer prinzipiellen Aufgeschlossenheit gegenüber<br />

Neuen Medien setzt bisher nur ein sehr kleiner Teil <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>lehrerinnen und -lehrer GTR<br />

o<strong>der</strong> CAS im Unterricht bzw. Abitur ein. Im Vortrag wird hinterfragt, warum das so ist und wie<br />

<strong>Mathematik</strong>-Kolleginnen und -kollegen an den Schulen dabei unterstützt werden können, ihre bisherigen<br />

Unterrichtskonzepte mit <strong>der</strong> Einführung digitaler Werkzeuge zu vernetzen.<br />

Abschließend wird diskutiert, welche Folgerungen sich <strong>für</strong> die Konstruktion von Abituraufgaben<br />

ergeben. Dabei wird auch die These <strong>der</strong> AG „Prüfungsaufgaben“ des AKMUI 2007 hinterfragt, dass<br />

„es in <strong>der</strong> Prüfungssituation nicht unbedingt <strong>der</strong> digitalen Werkzeuge“ zur Überprüfung mathematischer<br />

Kompetenzen bedarf.<br />

1 Auswertung eines<br />

Lehrerfragebogens zum Einsatz<br />

Neuer Medien<br />

Seit 2007 gibt es in Hessen ein Landesabitur in<br />

<strong>Mathematik</strong>, das drei Arten von digitalen Werkzeugen<br />

1 unterscheidet, die die Schülerinnen und<br />

Schüler im Abitur durchgängig verwenden dürfen:<br />

⊲ Taschenrechner (TR)<br />

⊲ Graphikfähiger Taschenrechner (GTR)<br />

⊲ Computer-Algebra-Systeme (CAS)<br />

Um einen Überblick zu bekommen, in welchem<br />

Umfang und in welcher Weise Neue Medien<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht eingesetzt werden, wurden<br />

84 Lehrer aus dem Hochtaunus- und Wetteraukreis<br />

im Winter 06/07 befragt. Alle Befragten<br />

nutzten bisher mit ihren Klassen und Kursen kein<br />

handheld-Gerät son<strong>der</strong>n ausschließlich den Computerraum.<br />

⊲ Wie oft bin ich mit Klassen/Kursen insgesamt<br />

im Computerraum, um mit mathematischen<br />

Programmen zu arbeiten? (Angaben pro<br />

Halbjahr)<br />

Antwort Anzahl<br />

nie 22<br />

1 - 2 mal 30<br />

3 - 5 mal 11<br />

mehr als 5 mal 21<br />

⊲ Welche Programme setze ich dabei ein?<br />

Antwort Anzahl<br />

Tabellenkalkulation 44<br />

Dynamische Geometrie 40<br />

Computeralgebrasysteme 26<br />

Sonstiges 16<br />

⊲ Welche Jahrgangsstufen wähle ich <strong>für</strong> den<br />

Computereinsatz aus?<br />

Antwort Anzahl<br />

5 und 6 28<br />

7 und 8 42<br />

9 und 10 34<br />

Sek. II 29<br />

⊲ Ich würde neue Medien im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

gerne öfters einsetzen, als ich es tue.<br />

Antwort Anzahl<br />

ja 53<br />

nein 15<br />

vielleicht 16<br />

Die Antworten zeigen, dass die meisten <strong>Mathematik</strong>lehrerinnen<br />

und -lehrer zum Computereinsatz<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht ein ambivalentes<br />

Verhältnis haben. Einerseits wird <strong>der</strong> Computer<br />

nur selten eingesetzt, an<strong>der</strong>erseits wünscht<br />

sich die Mehrheit einen intensiveren Einsatz. Das<br />

Potenzial des Computers wird offensichtlich erkannt.<br />

Ergänzend wurde gefragt, welche Gründe<br />

aus Sicht <strong>der</strong> Lehrer gegen den Computereinsatz<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht sprechen? Die folgenden<br />

Gründe wurden jeweils 5 mal o<strong>der</strong> öfter genannt:<br />

⊲ äußere bzw. organisatorische Gründe<br />

◦ Zu viele Schüler pro Klasse / Kurs<br />

◦ Fehlende technische Voraussetzungen (zu<br />

wenig Computer, defekte Geräte)<br />

◦ Unterschiedliche Voraussetzungen <strong>der</strong> Schüler<br />

◦ Probleme <strong>der</strong> Organisation (Raumbelegung)<br />

⊲ Inhaltliche Gründe<br />

◦ Zu großer Zeitbedarf / Lehrplanfülle (18mal)<br />

◦ Schüler könnten es als Spielerei betrachten<br />

◦ Rechentechniken und Konstruktionen müssen<br />

geübt werden<br />

◦ Kein Erfassen mathematischer Inhalte<br />

1 Die Begriffe „Neue Medien“ und „digitale Werkzeuge“ werden in diesem Beitrag weitgehend synonym verwendet.<br />

9


Henrik Kratz, Oberursel<br />

Ein Teil <strong>der</strong> Gründe bezieht sich auf äußere<br />

bzw. organisatorische Schwierigkeiten, die den<br />

Computereinsatz im Unterrichtsalltag behin<strong>der</strong>n.<br />

Daneben gibt es einen zweiten Typ von Gründen,<br />

die stärker inhaltliche Vorbehalte <strong>der</strong> befragten<br />

Lehrerinnen und Lehrer gegenüber dem Computereinsatz<br />

zum Ausdruck bringen. Insbeson<strong>der</strong>e<br />

wird deutlich, dass viele Lehrerinnen und Lehrer<br />

den Computer eher als zusätzliche Visualisierungsmöglichkeit<br />

o<strong>der</strong> Unterstützung <strong>für</strong> beson<strong>der</strong>e<br />

Projekte sehen, aber nicht als zentrales Hilfsmittel<br />

zum Erreichen ihrer Unterrichtsziele. In den<br />

Augen vieler Kolleginnen und Kollegen trägt <strong>der</strong><br />

Computereinsatz auch nicht zu einer Entlastung<br />

z.B. von Rechenroutinen bei, son<strong>der</strong>n führt eher<br />

zu einem erhöhten Zeitbedarf. Dies ist mit <strong>der</strong> Be<strong>für</strong>chtung<br />

verbunden, dass die entsprechende Zeit<br />

zum Üben von Rechentechniken o<strong>der</strong> Konstruktionen<br />

fehlt.<br />

Die Verteilung <strong>der</strong> drei Technologien im hessischen<br />

Landesabitur <strong>der</strong> beiden ersten Jahre spiegelt<br />

die Vorbehalte <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>lehrerinnen<br />

und -lehrer wi<strong>der</strong>:<br />

2007 <strong>2008</strong><br />

TR 95,9% 94,7%<br />

GTR 1,4% 2,5%<br />

CAS 2,7% 2,8%<br />

Da <strong>der</strong> Vorlauf zum ersten Landesabitur-<br />

Durchgang im Jahr 2007 sehr kurz war, ist davon<br />

auszugehen, dass die GTR- und CAS-Anteile<br />

dieses Jahres von Lehrerinnen und Lehrern stammen,<br />

die bereits vorher in ihrem Unterricht diese<br />

Werkzeuge eingesetzt haben. Dagegen kann die<br />

Zunahme im Jahr <strong>2008</strong> als erste Reaktion auf die<br />

Möglichkeit des Technologieeinsatzes im Abitur<br />

gesehen werden. Es steht allerdings zu be<strong>für</strong>chten,<br />

dass es bei den gegenwärtigen Rahmenbedingungen<br />

in den nächsten Jahren in Hessen bei einer<br />

ähnlich geringen Zunahme bleiben wird: Im Rahmen<br />

von Fortbildungen zum Landesabitur, die <strong>der</strong><br />

Autor betreut hat, bekundeten nur etwa 4 von 50<br />

Schulen die Absicht, in den nächsten Jahren GTR<br />

o<strong>der</strong> CAS einführen zu wollen.<br />

2 Balance zwischen klassischen und<br />

digitalen Werkzeugen<br />

Angesichts <strong>der</strong> Ergebnisse des Fragebogens stellt<br />

sich folgende Frage: Warum sind Lehrerinnen und<br />

Lehrer trotz ihrer prinzipiellen Aufgeschlossenheit<br />

gegenüber digitalen Medien so zurückhaltend<br />

in <strong>der</strong> Einführung von GTR o<strong>der</strong> CAS? Ein Kernproblem<br />

sieht <strong>der</strong> Autor darin, dass das Potenzial<br />

von GTR bzw. CAS eine grundlegend neue Balance<br />

zwischen den drei Werkzeugbereichen verlangt,<br />

mit denen <strong>Mathematik</strong> betrieben wird:<br />

10<br />

1. im Kopf<br />

2. mit Papier und Bleistift, Zeichengeräten,<br />

Steckbrettern etc. (klassischer Werkzeugbereich)<br />

3. mit digitalen Werkzeugen (TR, GTR, CAS,<br />

Tabellenkalkulation, Dynamische Geometrie<br />

etc.)<br />

Im Bereich des Taschenrechnereinsatzes haben<br />

sich in den letzten Jahrzehnten bereits Vorstellungen<br />

von einer Balance zwischen diesem Werkzeug<br />

und Kopf- bzw. Papier- und Bleistiftrechnungen<br />

herausgebildet, die von <strong>der</strong> großen Mehrheit<br />

<strong>der</strong> Lehrerinnen und Lehrer geteilt werden. Nach<br />

den Erfahrungen des Autors ist es beispielsweise<br />

fast allen <strong>Mathematik</strong>lehrerinnen und -lehrern ein<br />

Gräuel, wenn Schüler <strong>für</strong> die Aufgabe „Berechne<br />

75% von 80 Euro“ zum Taschenrechner greifen,<br />

da diese Aufgabe viel angemessener durch eine<br />

Aktivierung von Grundvorstellungen <strong>der</strong> Prozentrechnung<br />

gelöst werden kann. An<strong>der</strong>erseits wünschen<br />

sie sich, dass ihre Schülerinnen und Schüler<br />

erkennen, dass die Mehrwertsteuerberechnung eines<br />

krummen Betrags, etwa „Berechne 19% von<br />

328,49 Euro“ sinnvoller mit dem Taschenrechner<br />

durchgeführt werden kann. Um alle Werkzeugbereiche<br />

gleichermaßen zu trainieren, wechseln erfahrene<br />

Lehrkräfte deshalb gezielt zwischen Phasen,<br />

in denen TR verwendet werden dürfen und<br />

Phasen, in denen TR nicht verwendet werden dürfen,<br />

das heißt Lehrkräfte führen bewusst eine Regie<br />

des Ein- und Ausblendens des Mediums TR.<br />

Dies betrifft auch Prüfungssituationen. Beispielsweise<br />

werden in einer Klassenarbeit zur Potenzrechnung<br />

Aufgaben gestellt, bei denen die Schülerinnen<br />

und Schüler Zwischenschritte notieren sollen.<br />

Dadurch sollen sie dokumentieren, dass sie<br />

einen Term mit Hilfe <strong>der</strong> Potenzgesetze vereinfachen<br />

können und nicht nur in den TR eingegeben<br />

haben, etwa: Berechne 2 6 · 5 6 .<br />

Die zentrale These des Autors lautet nun:<br />

These 1. Sowohl bei den Lehrkräften als auch<br />

in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>-<strong>Didaktik</strong> herrscht noch keine<br />

ausreichende Klarheit darüber, wie eine stimmige<br />

Vernetzung und Balance <strong>der</strong> Werkzeugbereiche<br />

im Unterricht und in Prüfungen erreicht werden<br />

kann, wenn nicht nur <strong>der</strong> TR son<strong>der</strong>n stärkere digitale<br />

Werkzeuge wie GTR o<strong>der</strong> CAS zur Verfügung<br />

stehen.<br />

Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie<br />

die verschiedenen Werkzeugbereiche im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

ineinan<strong>der</strong> greifen und welche<br />

Werkzeugverwendung jeweils am Ende eines bestimmten<br />

Lernprozesses angestrebt wird. Dies soll<br />

anhand von Standardsituationen geschehen, das<br />

heißt anhand von Lernprozessen, die auf Basiskompetenzen<br />

zielen.<br />

Beispiel 1. Einführung einer neuen Funktions-


klasse (quadratische Funktionen)<br />

Nachdem anhand eines Anwendungskontexts motiviert<br />

wurde, warum es interessant ist, die neue<br />

Funktionsklasse zu untersuchen, sollten folgende<br />

Schritte durchlaufen werden 2 :<br />

1. Schülerinnen und Schüler zeichnen die Normalparabel<br />

per Hand mit Hilfe einer selbst<br />

erstellten Wertetabelle. Dies ist ein wichtiger<br />

Schritt, um den Einfluss des Funktionsterms<br />

auf die Grundform <strong>der</strong> Funktion zu erfassen.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e wird die Covariation <strong>der</strong> Funktion<br />

numerisch begriffen: Wie än<strong>der</strong>t sich <strong>der</strong><br />

Funktionswert, wenn ich den x-Wert um 1 erhöhe?<br />

2. Der Einfluss von Parametern auf die Lage <strong>der</strong><br />

Funktion wird durch das Plotten unterschiedlicher<br />

Funktionen mit GTR, CAS o<strong>der</strong> DGS experimentell<br />

untersucht und systematisiert.<br />

3. Schülerinnen und Schüler formulieren allgemein,<br />

wie Parameter den Funktionsverlauf beeinflussen.<br />

4. Schülerinnen und Schüler können Lage und<br />

Form von Parabeln im Kopf bestimmen.<br />

Innerhalb des Lernprozesses werden in diesem<br />

Fall Denkoperationen zunächst medial unterstützt,<br />

das Ziel des Lernprozesses besteht aber darin, dass<br />

sich die Schülerinnen und Schüler wie<strong>der</strong> von den<br />

Medien, insbeson<strong>der</strong>e vom digitalen Werkzeug lösen.<br />

Für den Lehrer ergibt sich in Klassenarbeiten,<br />

in denen GTR o<strong>der</strong> CAS zugelassen sind, die<br />

Schwierigkeit, dass die entsprechende Basiskompetenz<br />

(„Gib an, ob die Parabel y = 0,5(x−3) 2 +<br />

7 nach oben o<strong>der</strong> unten geöffnet ist und bestimme<br />

die Lage des Scheitelpunkts.“) nicht mehr valide<br />

überprüft werden kann, da die Schülerinnen und<br />

Schüler die Aufgabe durch Plotten des Graphen<br />

lösen können.<br />

Beispiel 2. Lösen linearer Gleichungssysteme mit<br />

mehreren Unbekannten<br />

1. Schülerinnen und Schüler lösen LGS in Stufenform<br />

und einfache 3x3-Systeme durch Gauß-<br />

Verfahren per Hand. Dadurch wird das Grundprinzip<br />

des Gauß-Verfahrens erfasst. Gleichzeitig<br />

wird transparent, warum unterschiedliche<br />

Lösungsfälle auftreten und wie diese sinnvoll<br />

notiert werden.<br />

2. Die Lösung von LGS mit GTR o<strong>der</strong> CAS wird<br />

eingeführt. Schülerinnen und Schüler vergleichen<br />

die Darstellung <strong>der</strong> Lösungsfälle durch<br />

das digitale Werkzeug mit <strong>der</strong> vorherigen Notation.<br />

3. Schülerinnen und Schüler sind in <strong>der</strong> Lage a)<br />

einfache Systeme als solche zu erkennen und<br />

Warum ist <strong>der</strong> Einsatz Neuer Medien so schwierig?<br />

schnell mit Papier und Bleistift zu lösen b)<br />

komplexere Systeme mit digitalem Werkzeug<br />

zu lösen.<br />

In diesem Fall zielt <strong>der</strong> Lernprozess darauf, dass<br />

die Schülerinnen und Schüler selbst entscheiden<br />

können, welches Werkzeug sie zur Lösung eines<br />

bestimmten LGS sinnvollerweise verwenden. Angestrebt<br />

wird also ein paralleles Lösen per Hand<br />

und mit digitalem Werkzeug 3 .<br />

Beispiel 3. Grenzwerte<br />

Aufgabe: Bestimme den Grenzwert <strong>der</strong> Folge:<br />

an = e −2n · (n 2 + 3n)<br />

Im Gegensatz zu den beiden obigen Beispielen<br />

ist es bei <strong>der</strong> Bestimmung von Grenzwerten nicht<br />

sinnvoll, eine bestimmte Schrittfolge des Werkzeugeinsatzes<br />

<strong>für</strong> die Erarbeitung festzulegen.<br />

Möglich wäre, dass die Schülerinnen und Schüler<br />

zunächst die Teilterme <strong>der</strong> Folge graphisch o<strong>der</strong><br />

numerisch darstellen und dadurch zu einer Vermutung<br />

gelangen, welchen Grenzwert die Folge<br />

annimmt. Die Vermutung kann dann mit Hilfe eines<br />

CAS überprüft werden. Aber auch an<strong>der</strong>e Wege<br />

sind denkbar, etwa <strong>der</strong> umgekehrte Weg: Die<br />

Schülerinnen und Schüler bestimmen den Grenzwert<br />

zunächst mit Hilfe von CAS und begründen<br />

anschließend durch eine analytische Betrachtung<br />

<strong>der</strong> Bestandteile des Terms, warum die Folge<br />

diesen Grenzwert annimmt. Insgesamt sollte<br />

<strong>der</strong> Lernprozess darauf zielen, dass die Schülerinnen<br />

und Schüler alle drei Werkzeugbereiche in einem<br />

flexiblen Zusammenspiel verwenden können.<br />

Aufgaben in Prüfungssituationen sollten auf dieses<br />

Zusammenspiel zielen und dürfen sich nicht<br />

darauf beschränken, dass ein Grenzwert mit Hilfe<br />

eines CAS bestimmt wird.<br />

Beispiel 4. Binomialverteilungen<br />

Nachdem Binomialverteilungen im Unterricht erarbeitet<br />

wurden, sollten Schülerinnen und Schüler<br />

diese in weiteren Anwendungen routinemäßig nur<br />

noch mit GTR o<strong>der</strong> CAS berechnen. Dies führt<br />

ungleich schneller und sicherer zum Ergebnis als<br />

eine Berechung mit TR. Gegenüber <strong>der</strong> Verwendung<br />

von fertigen Tabellen besteht <strong>der</strong> Vorteil,<br />

dass Ablesefehler vermieden werden und beliebige<br />

Wahrscheinlichkeiten und Kettenlängen möglich<br />

sind. Ziel des Unterrichts ist hier also die ausschließliche<br />

Verwendung des digitalen Werkzeugs.<br />

Trotzdem kann in einer Klausur eine verstehensorientierte<br />

Aufgabe darin bestehen, Binomialverteilungen<br />

in Termform zu notieren und <strong>der</strong>en Bedeutung<br />

zu erläutern.<br />

2Die Schritte sollten nicht im Sinne eines strengen Rezepts verstanden werden, selbstverständlich sind Variationen dieser Abfolge<br />

denkbar.<br />

3Ein ähnliches Vorgehen schlägt Eberhard Lehmann im Rahmen seiner Unterscheidung von black-box, grey-box und white-box vor<br />

Lehmann [2007].<br />

11


Henrik Kratz, Oberursel<br />

Graphische<br />

und numerische<br />

Darstellung<br />

<strong>der</strong> Folge<br />

Die Beispiele zeigen: Es hängt stark vom jeweiligen<br />

Kontext ab, welches Ineinan<strong>der</strong>greifen<br />

<strong>der</strong> verschiedenen Werkzeugbereiche sinnvoll ist.<br />

Dies gilt sowohl <strong>für</strong> den Erarbeitungsprozess als<br />

auch <strong>für</strong> den anschließenden routinemäßigen Einsatz<br />

einer Basiskompetenz.<br />

Dementsprechend sollten Konzepte zum Einsatz<br />

des GTR und CAS im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

⊲ weniger auf den völligen Ersatz <strong>der</strong> klassischen<br />

Werkzeugbereiche durch GTR o<strong>der</strong> CAS zielen,<br />

son<strong>der</strong>n<br />

⊲ stärker auf die stimmige Vernetzung und Balance<br />

<strong>der</strong> drei Werkzeugbereiche (Kopf, Papier-<br />

Bleistift, digitale Werkzeuge) achten<br />

Inhaltliche Kompetenzen versus<br />

Bedienungskompetenzen<br />

In Prüfungssituationen, in denen GTR o<strong>der</strong> CAS<br />

als Werkzeuge zugelassen sind, entsteht die<br />

grundlegende Schwierigkeit, wie inhaltliche mathematische<br />

Kompetenzen von Bedienungskompetenzen<br />

abgegrenzt werden können. Die LK-<br />

Analysis-Aufgabe A1 (GTR) aus dem hessischen<br />

Landesabitur <strong>2008</strong> lautete:<br />

Aufgabe. 4. Begründen Sie, dass f1 <strong>für</strong> x > 0 eine<br />

Umkehrfunktionen y1 besitzt.<br />

f1(x) = 1<br />

2 (ex − e −x − 2)<br />

Die folgenden Bearbeitungen stammen von 2<br />

Schülerinnen aus dem <strong>Mathematik</strong> LK des Autors.<br />

Die erste Argumentation ist inhaltlich orientiert,<br />

allerdings enthält die erste Ableitung einen<br />

Vorzeichenfehler. Dagegen stützt sich die zweite<br />

Lösung im Wesentlichen auf die Bedienungskompetenz<br />

<strong>der</strong> Schülerin, wobei <strong>der</strong> Einsatz des GTR<br />

durch Angabe des verwendeten Befehls und eine<br />

Skizze des Plots korrekt dokumentiert ist. Der<br />

Vergleich wirft Fragen auf: Ist das Plotten <strong>der</strong> Umkehrfunktion<br />

als Begründung <strong>für</strong> <strong>der</strong>en Existenz<br />

12<br />

Berechnung<br />

des Grenzwerts<br />

mit CAS<br />

Abbildung 3.1: Zusammenspiel aller Werkzeugbereiche<br />

Analytische<br />

Betrachtung<br />

des Terms<br />

ausreichend? Wie bewertet man die beiden Lösungen<br />

in Relation zueinan<strong>der</strong>?<br />

Abbildung 3.2: Schülerlösung 1<br />

Abbildung 3.3: Schülerlösung 2<br />

Zusammenfassend soll im Sinn einer These<br />

festgestellt werden:<br />

These 2. Ein wesentlicher Grund <strong>für</strong> die Skepsis<br />

(hessischer) Lehrer gegenüber <strong>der</strong> Einführung<br />

von GTR o<strong>der</strong> CAS resultiert daraus, dass Abiturprüfungen,<br />

in denen diese Werkzeuge als durchgängige<br />

Hilfsmittel zugelassen sind, nicht die im<br />

Unterricht notwendige Balance zwischen den drei<br />

Werkzeugbereichen wi<strong>der</strong>spiegeln.<br />

Für Lehrkräfte, die bisher im Unterricht nur<br />

den TR eingesetzt haben, entsteht eine hohe psychologische<br />

Hürde bei <strong>der</strong> Entscheidung <strong>für</strong> GTR<br />

o<strong>der</strong> CAS, wenn sie Schwerpunktsetzungen ihres<br />

bisherigen Unterrichts im Abitur nicht angemessen<br />

wie<strong>der</strong> finden. Dies wird verstärkt, wenn alle<br />

Abituraufgaben so konstruiert sind, dass die Lösung<br />

nur noch mit GTR o<strong>der</strong> CAS möglich ist.


Vor dem Hintergrund dieser Problematik hat sich<br />

im Rahmen <strong>der</strong> AKMUI Tagung des Jahres 2007<br />

eine AG Prüfungsaufgaben gebildet, die sich mit<br />

<strong>der</strong> Frage auseinan<strong>der</strong>setzte, ob es möglich ist,<br />

in (Abitur-) Prüfungen auf digitale Werkzeuge zu<br />

verzichten. Die AG bündelt ihre Überlegungen in<br />

folgen<strong>der</strong> These:<br />

These 3. Zur Überprüfung von mathematischen<br />

Kompetenzen, die im Unterricht mit digitalen<br />

Werkzeugen erworben wurden, bedarf es in <strong>der</strong><br />

Prüfungssituation nicht unbedingt <strong>der</strong> digitalen<br />

Werkzeuge. [Greefrath et al., <strong>2008</strong>]<br />

Im Anschluss stellt die AG Abituraufgaben<br />

vor, die ohne digitale Werkzeuge bearbeitet werden<br />

können, aber einen Unterricht mit CAS,<br />

Tabellenkalkulation und dynamischer Geometrie<br />

herausfor<strong>der</strong>n. Gleichzeitig weist die AG auf ungünstige<br />

Konsequenzen hin, die sich aus einer<br />

Entscheidung gegen digitale Werkzeuge in Prüfungen<br />

ergeben würden:<br />

These 4. Werden digitale Medien nur <strong>für</strong> den Unterricht,<br />

aber nicht <strong>für</strong> die Prüfung zugelassen, so<br />

wird auch ihr systematischer Einsatz im Unterricht<br />

sowie die dazu notwendige fachliche Diskussion<br />

in Fachkonferenzen gehemmt. (ebd.)<br />

Ergänzend sollen hier weitere Argumente angeführt<br />

werden, die aus Sicht des Autors gegen<br />

den Verzicht auf digitale Werkzeuge in Abiturprüfungen<br />

sprechen:<br />

⊲ Fähigkeiten <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler werden<br />

nur unzureichend erfasst, denn <strong>der</strong>en Kompetenzen<br />

zeigen sich gerade darin, wie sie Aufgaben<br />

mit Werkzeugen (Geodreieck, . . . , CAS)<br />

bewältigen können.<br />

⊲ Abiturprüfungen werden nicht gerechter, da<br />

mathematische Kompetenzen und Werkzeugkompetenzen<br />

miteinan<strong>der</strong> verwoben sind.<br />

Diese Gegenargumente sollen mit <strong>der</strong> folgenden<br />

Aufgabe zur fundamentalen Idee Approximation<br />

illustriert werden, die ohne digitale Werkzeuge<br />

zu bearbeiten ist.<br />

Aufgabe. Gegeben sind 4 Punkte, die durch eine<br />

quadratische Funktion angenähert werden sollen:<br />

A(0|0), B(1,2|0,4), C(2,3|1,6), D(3,1|5,4)<br />

Welche <strong>der</strong> folgenden quadratischen Funktionen<br />

(Abb. 3.4) nähert sich am besten an die Punkte<br />

an, welche am schlechtesten? Begründen Sie Ihre<br />

Wahl.<br />

Der Autor hat diese Aufgabe einer 10. Klasse<br />

vorgelegt, die Regression im Unterricht noch nicht<br />

kennen gelernt hat. Auf die Frage, welche Annäherung<br />

am besten ist, wählten von den 28 Schülerinnen<br />

und Schüler <strong>der</strong> Klasse 17 mal die erste,<br />

1 mal die zweite, 6 mal die dritte und 4 mal die<br />

vierte.<br />

Warum ist <strong>der</strong> Einsatz Neuer Medien so schwierig?<br />

Schülerinnen und Schüler, die Funktion 1<br />

wählten, begründeten ihre Entscheidung in <strong>der</strong><br />

Regel damit, dass <strong>der</strong> Graph drei <strong>der</strong> vorgegebenen<br />

Punkte trifft und <strong>der</strong> vierte Punkt noch verhältnismäßig<br />

nahe am Graphen liegt - im Gegensatz<br />

zu Funktion 4. Die 6 Schülerinnen und<br />

Schüler, die Funktion 3 gewählt hatten, beschrieben<br />

diese Funktion zum Beispiel als „guten Kompromiss“,<br />

weil <strong>der</strong> Graph von keinem Punkt sehr<br />

weit entfernt ist. Sie verwendeten also Argumente,<br />

die dem Verfahren <strong>der</strong> Regression qualitativ nahe<br />

kommen.<br />

Auf die Frage, welche Annäherung am<br />

schlechtesten ist, wählten jeweils 8 die zweite und<br />

vierte, 12 die dritte und niemand die erste. Die<br />

Ablehnung von Funktion 3 wurde in erster Linie<br />

damit begründet, dass <strong>der</strong> Graph keinen <strong>der</strong> vorgegebenen<br />

Punkte enthält und <strong>der</strong> Scheitelpunkt<br />

deutlich unterhalb <strong>der</strong> x-Achse liegt.<br />

Insgesamt lässt sich festhalten: Primäre Schülervorstellungen<br />

darüber, wann eine Funktion eine<br />

gute Annäherung an vorgegebene Punkte darstellt,<br />

sind stark gestaltpsychologisch orientiert. Durch<br />

die Behandlung <strong>der</strong> Regression im Unterricht, etwa<br />

mit Hilfe einer Tabellenkalkulation o<strong>der</strong> eines<br />

CAS, än<strong>der</strong>n sich diese Vorstellungen dramatisch.<br />

Es ist zu erwarten, dass die meisten Schülerinnen<br />

und Schüler sich dann <strong>für</strong> Funktion 3 als beste Annäherung<br />

entscheiden, auch wenn sie kein digitales<br />

Werkzeug zu Verfügung haben, um eine Regression<br />

tatsächlich durchzuführen. Die Vorstellung,<br />

dass und wie ein solches Werkzeug verwendet<br />

werden kann, reicht aus, um die Entscheidung<br />

zu begründen.<br />

Fazit:<br />

⊲ Die Auffassung davon, was eine „gute Approximation“<br />

ist, än<strong>der</strong>t sich in einem Unterricht mit<br />

digitalen Werkzeugen dramatisch.<br />

⊲ Auch <strong>der</strong> nur vorgestellte Werkzeuggebrauch<br />

verän<strong>der</strong>t die Wahrnehmung von <strong>Mathematik</strong><br />

und damit die Bearbeitung von Aufgaben.<br />

⊲ Mathematische Kompetenzen sind unlösbar mit<br />

dem Gebrauch von Werkzeugen und Medien<br />

verbunden.<br />

In <strong>der</strong> Diskussion im Anschluss an den Vortrag<br />

hat Gilbert Greefrath angemerkt, dass die<br />

obige Aufgabe das Anliegen <strong>der</strong> AG Prüfungsaufgaben<br />

des AKMUI 2007 sogar unterstreicht.<br />

Sie lässt sich ohne digitale Werkzeuge bearbeiten,<br />

for<strong>der</strong>t aber einen Unterricht mit digitalen Werkzeugen<br />

heraus. Das ist sicherlich richtig. Allerdings<br />

ist die Aufgabe <strong>für</strong> Schülerinnen und Schüler,<br />

die Regression im Unterricht nicht kennen gelernt<br />

haben, in einer Prüfungssituation praktisch<br />

nicht mehr zu bewältigen bzw. führt lediglich dazu,<br />

dass sie ihre intuitiven Vorstellungen formulieren.<br />

Die mathematische Kompetenz, auf die die<br />

Aufgabe zielt, kann überhaupt nur in einem Unter-<br />

13


Henrik Kratz, Oberursel<br />

(1)<br />

(3)<br />

1 1 2<br />

2<br />

(2)<br />

1 1 2<br />

2<br />

(4)<br />

3 3 4<br />

4<br />

3 3 4<br />

4<br />

Abbildung 3.4: Verschiedene quadratische Funktionen in einer Aufgabe zur Approximation<br />

richt mit digitalen Werkzeugen erworben werden.<br />

Das bedeutet: Selbst wenn im Abitur keine digitalen<br />

Werkzeuge zugelassen sind, müsste ein Teil<br />

<strong>der</strong> Aufgaben nach <strong>der</strong> vorher von den Schülerinnen<br />

und Schülern verwendeten Technologie unterschieden<br />

werden.<br />

Abschließende Thesen<br />

⊲ Der Einsatz digitaler Werkzeuge in zentralen<br />

(Abitur-) Prüfungen ist unbedingt anzustreben,<br />

wenn digitale Werkzeuge Teil <strong>der</strong> Unterrichtskultur<br />

werden sollen.<br />

⊲ Um die Balance zwischen den Werkzeugbereichen<br />

abzubilden, die auch im Unterricht erfor<strong>der</strong>lich<br />

ist, sollte das Abitur geteilt sein (Sachsener<br />

Modell)<br />

◦ erster Teil: ohne digitale Werkzeuge (auch<br />

ohne TR)<br />

◦ zweiter Teil: unter Einsatz digitaler Werkzeuge,<br />

die nach Typen gestuft sind.<br />

Der Anteil des werkzeugfreien Teils beträgt in<br />

den Beispielaufgaben 4 <strong>für</strong> das Sachsener Zentralabitur<br />

25% . Um <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong> im Unterricht<br />

eingesetzten Werkzeuge gerecht zu werden,<br />

sollte dieser Anteil nach Ansicht des Autors<br />

sogar 50% betragen.<br />

Wie können Lehrkräfte bei <strong>der</strong> Einführung<br />

digitaler Werkzeuge unterstützt werden? Fortbildungen<br />

im Bereich digitaler Werkzeuge sollten<br />

drei Aspekte erfassen:<br />

1. Wie bedient man das Werkzeug?<br />

14<br />

4 http://www.sachsen-macht-schule.de/schule/6247.htm (letzter Zugriff: 13.10.<strong>2008</strong>)<br />

2. In welcher Weise unterstützt das Werkzeug den<br />

Zugang zu mathematischen Inhalten?<br />

3. In welchem Verhältnis sollen die Verwendung<br />

des Werkzeugs und Kopfmathematik bzw. das<br />

Arbeiten mit Papier- und Bleistift zueinan<strong>der</strong><br />

stehen?<br />

Die meisten Fortbildungen konzentrieren sich<br />

auf den ersten und zweiten Aspekt, <strong>der</strong> dritte<br />

Aspekt wird lei<strong>der</strong> oft vernachlässigt.<br />

Sofern Bundeslän<strong>der</strong> an einem detaillierten inhaltlichen<br />

Lehrplan festhalten, ist es notwendig,<br />

neben dem TR-Curriculum, ein GTR- bzw. CAS-<br />

Curriculum zu entwickeln, das auf bestimmte Kalkülinhalte<br />

verzichtet (z.B. Polynomdivision, Näherungsformeln<br />

<strong>für</strong> die Binomialverteilung etc.)<br />

und technologieaffine Inhalte verbindlich vorgibt<br />

(z.B. Verfahren zur Regression / Approximation<br />

von Funktionen, Simulationen etc.).<br />

Nach Ansicht des Autors ist <strong>für</strong> viele Kollegien<br />

<strong>der</strong> GTR als Zwischenstufe zurzeit deutlich<br />

sinnvoller als ein CAS o<strong>der</strong> ein hochvernetztes<br />

Werkzeug, das CAS, Tabellenkalkulation und dynamische<br />

Geometrie verbindet, wie etwa <strong>der</strong> TI-<br />

Nspire. Der GTR<br />

⊲ erlaubt „im Kleinen“ die Entwicklung einer<br />

neuen Balance <strong>der</strong> Werkzeugbereiche, <strong>der</strong><br />

große Konflikt Computeralgebra vs. händische<br />

Algebra wird weitgehend ausgespart.<br />

⊲ vermeidet Überfor<strong>der</strong>ung von Kolleginnen und<br />

Kollegen, die noch „auf Kriegsfuß“ mit dem


Technologieeinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

stehen. Dies ist beson<strong>der</strong>s wichtig, da die Fachschaft<br />

einer Schule in <strong>der</strong> Regel eine einheitliche<br />

Entscheidung zum Technologieeinsatz<br />

treffen muss, damit Schülerinnen und Schüler<br />

Klassen und Kurse problemlos wie<strong>der</strong>holen<br />

o<strong>der</strong> wechseln können.<br />

⊲ eröffnet bereist wesentliche neue Unterrichtsmöglichkeiten<br />

(z.B. den Wechsel <strong>der</strong> Darstellungsebenen)<br />

Das hessische Kultusministerium hat im Frühsommer<br />

<strong>2008</strong> überlegt, auf das Angebot von<br />

GTR-Aufgaben im Landesabitur zu verzichten.<br />

Diese Überlegung ist sicherlich verständlich,<br />

wenn man sich vor Augen führt, welche Vielzahl<br />

verschiedener Abituraufgaben durch die Technologieunterscheidung<br />

erstellt werden müssen. Vor<br />

dem Hintergrund <strong>der</strong> obigen Überlegungen ist davon<br />

aber abzuraten, wenn <strong>der</strong> Technologieeinsatz<br />

so geför<strong>der</strong>t werden soll, dass die Kollegien Zeit<br />

zur Entwicklung einer neuen Balance <strong>der</strong> Werkzeugbereiche<br />

erhalten sollen.<br />

Warum ist <strong>der</strong> Einsatz Neuer Medien so schwierig?<br />

Vorschlag <strong>für</strong> Hessen<br />

Für Hessen bzw. Bundeslän<strong>der</strong> in einer vergleichbaren<br />

Situation schlägt <strong>der</strong> Autor vor:<br />

⊲ verpflichtende Einführung des GTR ab Klasse 7<br />

o<strong>der</strong> 8, Projektschulen können schon CAS wählen<br />

(wie in Baden-Württemberg)<br />

⊲ entsprechende Übergangsphase, in denen im<br />

Abitur zwischen allen drei Technologien (TR,<br />

GTR, CAS) gewählt werden kann<br />

◦ danach: Wahl zwischen GTR und CAS im<br />

Abitur<br />

◦ erst sehr langfristig: verpflichten<strong>der</strong> Einsatz<br />

von CAS o<strong>der</strong> vernetzten Werkzeugen wie<br />

dem TI-Nspire<br />

Literatur<br />

Greefrath, Gilbert, Timo Leu<strong>der</strong>s & Andreas Pallack (<strong>2008</strong>):<br />

Gute Abituraufgaben – (ob) mit o<strong>der</strong> ohne Neue Medien.<br />

MNU, 61(2), 80–83.<br />

Lehmann, Eberhard (2007): Nachhaltige CAS-Konzepte <strong>für</strong><br />

den Unterricht. Leh-Soft.<br />

15


Henrik Kratz, Oberursel<br />

16


• Medien und Vernetzungen – eine didaktische<br />

Positionsbestimmung<br />

Horst Hischer, Saarbrücken<br />

Über „Medien“ und „Netze“, insbeson<strong>der</strong>e über „Vernetzung“, wird allenthalben in Politik, Presse<br />

und Wissenschaft diskutiert und geschrieben. „Medien“ spielen in den Bildungswissenschaften –<br />

und hier vornehmlich in <strong>der</strong> medienpädagogischen Forschung – eine wichtige Rolle; auch in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik<br />

werden sie angesprochen, wenn auch meist nicht in <strong>der</strong> ihnen gebührenden Rolle<br />

eines Fachbegriffs, son<strong>der</strong>n dann eher in <strong>der</strong> eines „selbstredenden“ Alltagsbegriffs. Für den Terminus<br />

„Vernetzen“ gilt Ähnliches: Er erfreut sich zwar zunehmen<strong>der</strong> Beliebtheit bei <strong>der</strong> Beschreibung<br />

von Unterrichtszielen und Bildungskonzepten – auch in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik, jedoch scheint er<br />

wegen fehlen<strong>der</strong> inhaltlicher Analyse fachlich nicht definitionswürdig zu sein und also (noch?) nicht<br />

die Rolle eines <strong>für</strong> diese Disziplin wichtigen fachwissenschaftlichen Begriffs zu spielen.<br />

In diesem Beitrag wird zunächst <strong>der</strong> Versuch einer Klärung bzw. Sammlung bereits vorliegen<strong>der</strong><br />

pädagogisch bzw. didaktisch orientierter fachwissenschaftlicher Begriffsinterpretationen (insbeson<strong>der</strong>e:<br />

„Medium“) bzw. auch „alltagsüblicher“ Deutungen, Bedeutungen und Verwendungszusammenhänge<br />

(vor allem: „Netz“ und „vernetzen“) vorgenommen, um daraus zu <strong>für</strong> den<br />

(mathematik-)didaktischen Kontext zweckmäßigen Begriffsbestimmungen zu gelangen und diese<br />

zur Diskussion zu stellen.<br />

1 Vorbemerkung<br />

Dies ist die komprimierte Fassung eines am<br />

26.09.<strong>2008</strong> gehaltenen Vortrags zum vieldeutigen<br />

Tagungsthema „Medien vernetzen“. Dieses<br />

Tagungsthema war geradezu eine Auffor<strong>der</strong>ung<br />

zur Klärung seiner Konstituenten im pädagogischdidaktischen<br />

Kontext.<br />

Im Vortrag wurde daher eine Sammlung sowohl<br />

„alltagsüblicher“ Deutungen, Bedeutungen<br />

und Verwendungszusammenhänge (vor allem:<br />

„Netz“, „Vernetzen“ und „Vernetzungen“) als<br />

auch vielfältiger fachwissenschaftlicher Interpretationen<br />

(vor allem: „Medium“) vorgestellt. Darauf<br />

gründeten sich Definitionsvorschläge <strong>für</strong> „Medium“,<br />

„Netz“ und „Vernetzung“ im pädagogischdidaktischen<br />

Kontext mit dem Ziel von Begriffsbestimmungen<br />

wie z. B. „vernetzen<strong>der</strong> Unterricht“.<br />

Eine sowohl weitreichen<strong>der</strong>e als auch detailliertere<br />

Ausarbeitung <strong>der</strong> Vortragsfassung erschien<br />

mittlerweile als Buch [Hischer, 2010].<br />

2 Medien<br />

Zum Thema „Medien“ kann <strong>für</strong> den pädagogischdidaktischen<br />

Kontext bereits auf eine reichhaltige<br />

Literatur zurückgegriffen werden, die allerdings<br />

aus <strong>der</strong> fachspezifischen Sichtweise und Sozialisation<br />

<strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> und ihrer <strong>Didaktik</strong> nicht<br />

<strong>für</strong> je<strong>der</strong>mann stets leicht zugängig wirken mag.<br />

Daher wurde <strong>der</strong> Versuch einer Synopse mit <strong>der</strong><br />

Konzentration auf Wesentliches und <strong>der</strong> Strukturierung<br />

in neuer Sichtweise unternommen, wobei<br />

sich <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Bezeichnung „Medium“ verbundene<br />

Begriff bereits in diesem Kontext überraschen<strong>der</strong>weise<br />

als sehr weit reichend erweist, beschreibbar<br />

durch folgende Aspekte: Medien begegnen<br />

uns sowohl in einer „engen Auffassung“<br />

(u. a. als sog. technische Medien) als auch in einer<br />

„weiten Auffassung“ (Medien als Vermittler von<br />

Kultur, als dargestellte Kultur, als Werkzeuge o<strong>der</strong><br />

Hilfsmittel zur Weltaneignung, als künstliche Sinnesorgane<br />

und als Umgebungen bei Handlungen).<br />

Zusammenfassend bedeutet das: In und mit<br />

Medien setzt <strong>der</strong> lernende und erkennende<br />

Mensch seine Welt und sich selbst in Szene. Damit<br />

kann z. B. die oft nebulös verwendete Bezeichnung<br />

„Lernumgebung“ sinnvoll als ein Medium<br />

gedeutet werden.<br />

3 Netz, Vernetzen?<br />

Der Terminus „Vernetzen“ erfreut sich großer Beliebtheit<br />

bei <strong>der</strong> Beschreibung von Unterrichtszielen<br />

und Bildungskonzepten (auch in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik),<br />

spielt aber wegen bisher fehlen<strong>der</strong><br />

inhaltlicher Analyse (noch?) nicht die Rolle eines<br />

<strong>für</strong> diese Disziplin wichtigen fachwissenschaftlichen<br />

Terminus, weil er nicht eindeutig und nicht<br />

einheitlich verwendet wird. Ein Brainstorming liefert<br />

eine große Fülle des „naiven“ Bedeutungsumfangs<br />

von „Netz“, die sich z. B. zu folgen<strong>der</strong> Liste<br />

verdichten lässt:<br />

Ein Netz – . . . dient dem Fangen und Einfangen,<br />

aber auch dem Trennen – . . . stellt Zusammengehörigkeit<br />

her – . . . dient <strong>der</strong> Verbindung – . . . gibt<br />

(als Geflecht) Menschen Sicherheit – . . . schützt<br />

Menschen o<strong>der</strong> Dinge gegen äußere Angriffe bzw.<br />

Feinde – . . . hält Menschen o<strong>der</strong> Dinge zusammen<br />

im Sinne von „Sammeln“ – . . . verbindet Menschen,<br />

Dinge o<strong>der</strong> Begriffe – . . . kann sowohl undurchdringlich<br />

als auch durchlässig sein – . . . hat<br />

Maschen und Knoten – . . . ist wegen <strong>der</strong> Maschen<br />

(<strong>für</strong> hinreichend kleine Objekte) nicht dicht – . . .<br />

ist (im Gegensatz zu einem Gitter) flexibel und<br />

meist leicht – . . . zeigt einerseits Zusammenhänge<br />

auf und – . . . dient an<strong>der</strong>erseits über das Verbinden<br />

dem Herstellen von Zusammenhängen –<br />

17


Horst Hischer, Saarbrücken<br />

. . . vermag „an<strong>der</strong>e“ über seinen „Inhalt“ zu täuschen.<br />

Dem „Vernetzen“ liegt etymologisch das „Netz“<br />

zugrunde. Eine Analyse <strong>der</strong> o. g. Liste führt<br />

zu einer Begriffsbestimmung von „Netz im<br />

pädagogisch-didaktischen Kontext“, die ein Zusammenspiel<br />

von drei Trägermengen beschreibt,<br />

nämlich: Bestandteile, Benutzer und Betrachter.<br />

Das sei kurz erläutert:<br />

Ein materielles Netz wie beispielsweise ein Fischernetz<br />

kann als maschenartiges Gebilde aufgefasst<br />

werden, das aus Kanten und Knoten zu bestehen<br />

scheint. Betrachten wir z. B. in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />

Definitionen, Sätze, Beispiele usw. als Knoten<br />

und Zusammenhänge bzw. Beziehungen zwischen<br />

diesen als Kanten, so liegt es nahe, diese in ihrer<br />

Gesamtheit als Bestandteile eines abstrakten Netzes<br />

aufzufassen. Allerdings ist ein solches „Netz“<br />

<strong>für</strong> sich genommen im pädagogisch-didaktischen<br />

Kontext uninteressant, weil es dort nämlich um<br />

Menschen geht, die damit umgehen, etwa um die<br />

Schülerinnen und Schüler, die als Benutzer des<br />

Netzes gewissermaßen dessen Inhalt bilden und<br />

sich durchaus in den Maschen dieses Netzes „verfangen“<br />

können. Dieser Prozess <strong>der</strong> Netzbenutzung<br />

wird ferner meist von „außerhalb“ durch<br />

Betrachter wahrgenommen und ggf. von diesen<br />

gesteuert, etwa durch die Lehrerinnen und Lehrer.<br />

Die sich darauf gründende Definition <strong>für</strong> „Netz<br />

im pädagogisch-didaktischen Kontext“ basiert auf<br />

drei nachfolgend angedeuteten Aspektgruppen:<br />

Ein Netz (im pädagogisch-didaktischen Kontext)<br />

ist eine strukturierte Zusammenfassung von Bestandteilen,<br />

Benutzern und Betrachtern, durch die<br />

Zwecke, Handlungen und Zustände beschrieben<br />

werden:<br />

Zweck-Aspekte eines Netzes in Bezug auf<br />

Bestandteile: Aufzeigen bzw. Herstellen von<br />

Verbindungen bzw. Zusammenhängen gedachter<br />

bzw. dinglicher Objekte<br />

Benutzer: <strong>der</strong>en Sammeln, Zusammenhalten<br />

und Gewährung von Schutz bzw. Sicherheit<br />

durch die Bestandteile<br />

Betrachter: Beeinflussung von <strong>der</strong>en Wahrnehmung<br />

<strong>der</strong> Benutzer (durch Beschönigen, Täuschen,<br />

Verführen, . . . )<br />

Handlungs-Aspekte eines Netzes <strong>für</strong> dessen Benutzer<br />

in Bezug auf<br />

Vernetzen: gedachte bzw. dingliche Objekte als<br />

Bestandteile eines Netzes deuten bzw. dazu machen<br />

vernetztes Denken: vorhandene Netze bei<br />

Analysen, Planungen und Entwicklungen nutzen<br />

vernetzendes Denken: Objekte eigenen Denkens<br />

vernetzen o<strong>der</strong> als Bestandteile eines Netzes<br />

deuten<br />

18<br />

Zustands-Aspekte eines Netzes in Bezug auf<br />

Vernetzt-Sein: Bestandteil eines Netzes sein<br />

Im-Netz-Sein: Benutzer eines Netzes sein<br />

Aus pädagogischer Sicht ist zu beachten: Wie bei<br />

einem Spinnennetz o<strong>der</strong> einem Fischernetz können<br />

die Benutzer „Opfer“ eines Netzes werden<br />

o<strong>der</strong> sein, wenn sie sich z. B. in den „Maschen des<br />

Netzes“ verfangen, etwa beim Surfen im World-<br />

WideWeb. So kann ein Netz <strong>für</strong> seine Benutzer<br />

(schicksalhaft) zum Gefängnis werden, aus dem<br />

es sich zu befreien gilt.<br />

Menschliche Benutzer eines Netzes laufen damit<br />

Gefahr, zum Bestandteil dieses Netzes zu<br />

werden – wenn sie etwa bei dessen Benutzung<br />

nicht hinreichend „emotionale Distanz“ wahren!<br />

Und weiterhin können menschliche Benutzer eines<br />

Netzes zu Betrachtern dieses Netzes werden<br />

und umgekehrt, wobei das Netz diese (und ggf.<br />

an<strong>der</strong>e) Gruppen (ggf. „durchlässig“) trennt. Die<br />

begriffliche Unterscheidung zwischen Bestandteilen,<br />

Benutzern und Betrachtern eines Netzes ist also<br />

we<strong>der</strong> scharf noch absolut, sie ist relativ, meint<br />

eine zweckbezogene Tendenz, und es ist ein Rollenwechsel<br />

möglich.<br />

4 Netzgraphen und Netzwerke<br />

Während ein materielles, „greifbares“ Netz mathematisch<br />

bei Bedarf oft als Graph beschreibbar<br />

ist, <strong>der</strong> aus Kanten und Knoten besteht, scheint<br />

dies nach dem hier vorliegenden Ansatz <strong>für</strong> ein<br />

„Netz“ im pädagogisch-didaktischen Kontext unpassend<br />

zu sein. Vielmehr liegen zunächst Assoziationen<br />

mit dem soziologischen „System“ nahe<br />

(bei dem ebenfalls die „Betrachter“ eine wichtige<br />

Rolle spielen). Dennoch benötigt man hier den<br />

Systembegriff nicht: So bieten sich zur strukturellen<br />

Beschreibung <strong>der</strong> Bestandteile (den „Knoten“<br />

und ihren „Verbindungen“, genannt „Kanten“)<br />

sog. „einfache“ („mehrfachkantenfreie“) Graphen<br />

an, die man sich überlagert bzw. kombiniert denken<br />

kann, um auf diese Weise ggf. vorhandene<br />

Mehrfachkanten zu erfassen.<br />

Die (ebenfalls vielfältig denkbaren) Beziehungen<br />

<strong>der</strong> Benutzer zu den Knoten <strong>der</strong> Bestandteile<br />

(o<strong>der</strong> zu <strong>der</strong>en Verbindungen) und <strong>der</strong> Benutzer<br />

untereinan<strong>der</strong> lassen sich dann bei Bedarf<br />

durch weitere Graphen beschreiben. Hinzu kommen<br />

noch Beziehungen <strong>der</strong> Betrachter untereinan<strong>der</strong>,<br />

zu den Benutzern und zu den Bestandteilen,<br />

so dass etliche Graphen vorliegen können,<br />

die insgesamt in ihrer Kombination ein Netz<br />

im pädagogisch-didaktischen Kontext ausmachen.<br />

Das führt dazu, in einem ersten Schritt spezielle<br />

einfache Graphen <strong>für</strong> das graphentheoretisch „Innerste“<br />

<strong>der</strong> Netze (nämlich <strong>für</strong> ihre Bestandteile)<br />

axiomatisch zu charakterisieren:


Im idealtypischen Fall ist dies ein Netzgraph als<br />

endlicher, zusammenhängen<strong>der</strong> Graph, bei dem<br />

jede Kante „Teil einer Masche“ ist, ergänzt durch<br />

die sinnvolle Zusatzfor<strong>der</strong>ung, dass je<strong>der</strong> Knoten<br />

mindestens den Grad 3 hat. In Netzgraphen gibt<br />

es damit zwischen je zwei Knoten stets mindestens<br />

zwei verschiedene Wege.<br />

Ein endlicher, „maschenhaltiger“ Graph (<strong>der</strong><br />

also mindestens eine Masche enthält) heißt Netzwerk<br />

und ist eine Bezeichnung <strong>für</strong> das strukturelle<br />

Insgesamt <strong>der</strong> Bestandteile eines Netzes im<br />

pädagogisch-didaktischen Kontext (s. o.). Damit<br />

ist je<strong>der</strong> Netzgraph ein spezielles Netzwerk. (Die<br />

Bezeichnung „Netzwerk“ ist auf zusammenhängende<br />

Graphen beschränkbar, was in einer entsprechenden<br />

Theorie zu erörtern wäre.)<br />

Benutzer und Betrachter können jeweils ein<br />

soziales Netzwerk bilden: Zwei Knoten (z. B.<br />

zwei Benutzer) sind genau dann durch eine Kante<br />

verbunden, wenn sie Mitglied <strong>der</strong>selben „Zugehörigkeitsgruppe“<br />

sind (z. B. Freundschafts- o<strong>der</strong><br />

Interessengruppe), wobei je<strong>der</strong> Gruppentyp ein eigenes<br />

soziales Netzwerk generiert. Soziale Netzwerke<br />

sind (hinsichtlich eines Gruppentyps) mathematisch<br />

als bipartite Graphen („zweigeteilte<br />

Graphen“) darstellbar, bei denen also ihre Knotenmengen<br />

in zwei Teilmengen <strong>der</strong>art zerlegbar<br />

sind, dass jede dieser Teilmengen kantenfrei ist<br />

und Kanten somit nur zwischen den Knoten verschiedener<br />

Teilmengen existieren. „Soziale Netze“<br />

sind keine „sozialen Netzwerke“, son<strong>der</strong>n<br />

„Netze“ (s. o.) mit Bestandteilen (Gesetze, Verordnungen,<br />

Versicherungen, . . . ), Benutzern (Bürger)<br />

und Betrachtern (Legislative, Exekutive, Jurisprudenz,<br />

Bürger, . . . ).<br />

5 Vernetzungsgradmaße und Kleine<br />

Welten<br />

Das „Vorliegen eines Netzgraphen“ ist ein qualitatives<br />

Maß <strong>für</strong> das Vorliegen einer Vernetzung.<br />

Aber auch Netzwerke können als „vernetzt“ angesehen<br />

werden, enthalten sie doch mindestens eine<br />

Masche. Daher benötigt man auch ein quantitatives<br />

Maß, genannt „Vernetzungsgrad“, <strong>der</strong>en<br />

in <strong>der</strong> sog. „Netzwerkanalyse“ <strong>der</strong> letzten beiden<br />

Jahrzehnte mehrere eingeführt worden sind,<br />

insbeson<strong>der</strong>e sind zu nennen: mittlerer Knotenabstand,<br />

Clusterkoeffizient, mittlerer Knotengrad<br />

und Durchmesser des Graphen [vgl. Hischer,<br />

2010, Kap. 5]. Diese sog. Netzwerkstatistiken können<br />

sowohl in ihrer Gesamtheit als auch in ihrer<br />

Verschiedenartigkeit zur Beurteilung <strong>der</strong> jeweils<br />

konkreten „Vernetzungsgüte“ herangezogen werden.<br />

So bildet ein konkretes Netzwerk z. B. eine<br />

sog. „Kleine Welt“ (“Small world”), falls <strong>der</strong><br />

mittlere Abstand zwischen zwei beliebigen Knoten<br />

„klein“ ist und sich auch bei Anwachsen des<br />

Netzwerks kaum än<strong>der</strong>t (vgl. das Phänomen “Six<br />

Medien und Vernetzungen – eine didaktische Positionsbestimmung<br />

degrees of separation”). Das Entstehen Kleiner<br />

Welten wird durch Bildung sog. „Naben“ begünstigt,<br />

also Knoten mit (im Vergleich zu den restlichen<br />

Knoten) extrem hohem Knotengrad. Das<br />

ist im Zusammenhang mit <strong>der</strong> „Stabilität“ eines<br />

Netzwerks zu sehen: Ein solches Netzwerk ist relativ<br />

stabil gegenüber <strong>der</strong> zufälligen Zerstörung<br />

von Knoten, jedoch extrem anfällig gegenüber<br />

<strong>der</strong> gezielten Zerstörung von Naben. Entsprechende<br />

Netzwerk-Modelle wurden eindrucksvoll empirisch<br />

bestätigt, z. B. sowohl beim Internet (einem<br />

ungerichteten Graphen) als auch beim WWW (einem<br />

gerichteten Graphen).<br />

6 Verbindung, Verzweigung,<br />

Vernetzung, „Netz-Dilemma“<br />

Verbindung: Zwei Knoten eines Graphen sind genau<br />

dann verbunden, wenn zwischen ihnen (mindestens)<br />

ein Weg existiert. Verzweigung: Ein zusammenhängen<strong>der</strong><br />

Graph ist genau dann verzweigt,<br />

wenn je zwei verschiedene Knoten durch<br />

genau einen Weg verbunden sind. Starke Vernetzung:<br />

Ein Graph ist genau dann stark vernetzt,<br />

wenn er ein Netzgraph ist. Schwache Vernetzung:<br />

Ein zusammenhängen<strong>der</strong> Graph ist genau<br />

dann schwach vernetzt, wenn er we<strong>der</strong> verzweigt<br />

noch stark vernetzt ist. Vernetzung: Ein Graph ist<br />

genau dann vernetzt, wenn er entwe<strong>der</strong> schwach<br />

vernetzt o<strong>der</strong> stark vernetzt ist. — Damit folgt<br />

u. a.: Genau in zusammenhängenden Graphen sind<br />

je zwei Knoten verbunden. „Verzweigter Graph“<br />

und „Baum“ ist dasselbe, insbeson<strong>der</strong>e gilt: Bäume<br />

sind nicht vernetzt!<br />

Kießwetter wies 1993 darauf hin, dass unser<br />

Handeln grundsätzlich in <strong>der</strong> Zeit stattfindet<br />

[vgl. Hischer, 2010, S. 185 ff.] – und damit ist<br />

dieses Handeln „linear“ und nicht vernetzt. So<br />

liegt also vermutlich eine fatale Situation vor, die<br />

„Netz-Dilemma“ genannt sei und die wie folgt<br />

beschreibbar ist: Man kann zwar ggf. „vernetzend<br />

denken“, aber nur „monokausal handeln“.<br />

7 „Vernetzen<strong>der</strong> Unterricht“ und<br />

„Offenheit“<br />

Gemäß dem ersten o. g. Zweckaspekt (bezüglich<br />

<strong>der</strong> Bestandteile) ist „Vernetzen<strong>der</strong> Unterricht“ lediglich<br />

eine prägnante, sprachliche Kurzform <strong>für</strong><br />

einen Unterricht, <strong>der</strong> durch schüleraktives Zusammenhangsdenken<br />

gekennzeichnet ist: also die Inszenierung<br />

eines Unterrichts, in dem Zusammenhänge<br />

zwischen Gebieten, Themen, Ideen, Begriffen<br />

etc. als Bestandteile eines Netzes nicht nur<br />

erkannt und entdeckt, son<strong>der</strong>n auch eigenständig<br />

hergestellt werden. Die blumige und oft nichtssagende<br />

Bezeichnung „Vernetzen“ wäre damit dann<br />

im Prinzip verzichtbar.<br />

Die Situation würde sich aber grundlegend<br />

än<strong>der</strong>n, wenn man die Benutzer (und damit den<br />

19


Horst Hischer, Saarbrücken<br />

zweiten Zweck-Aspekt) hinzuzieht, was <strong>für</strong> die<br />

Lehrerinnen und Lehrer bedeuten würde, über die<br />

fachlichen Unterrichtsziele eines solchen „vernetzenden<br />

Unterrichts“ hinaus nicht nur auf die geplanten<br />

Folgen betreffend Haltungen und Einstellungen<br />

zu achten, son<strong>der</strong>n auch die unbeabsichtigten<br />

Folgen zu berücksichtigen.<br />

Und schließlich ruft <strong>der</strong> dritte Zweck-Aspekt<br />

die Lehrerinnen und Lehrer dazu auf, sich nicht<br />

bezüglich <strong>der</strong> geplanten Wirkungen eines vernetzenden<br />

Unterrichts auf die Schülerinnen und<br />

Schüler täuschen zu lassen.<br />

Ein so verstandener „vernetzen<strong>der</strong> Unterricht“<br />

hat nicht nur eine die o. g. Bestandteile betreffende<br />

technische Bedeutung, son<strong>der</strong>n er erhält erst<br />

durch die Berücksichtigung <strong>der</strong> Benutzer (hier:<br />

Schülerinnen und Schüler) und <strong>der</strong> Betrachter<br />

(hier: Lehrerinnen und Lehrer) seine pädagogische<br />

Dimension. Der Terminus „Vernetzen<strong>der</strong> Unterricht“<br />

erhält dann also einen hohen Bildungsanspruch.<br />

Das fügt sich dann in das Allgemeinbildungskonzept<br />

von Klafki ein, <strong>der</strong> Allgemeinbildung<br />

als „Bildung im Medium des Allgemeinen“ beschreibt<br />

und dazu die „Bereitschaft und Fähigkeit<br />

zu vernetzendem Denken“ for<strong>der</strong>t. Er begründet<br />

das mit soziologisch-ökonomischen Befunden unserer<br />

Welt: „alles mit allem“ verknüpfen, vielfältige<br />

Verflechtungen, Wirkungszusammenhänge. Die<br />

ersten beiden sind idealtypisch mit einem Netzgraphen<br />

beschreibbar, und <strong>der</strong> dritte bedeutet die<br />

Modellierung durch einen gerichteten Graphen.<br />

Bei <strong>der</strong> Erörterung <strong>der</strong> Schlüsselprobleme betont<br />

Klafki „unterschiedliche Wege zur Lösung“ und<br />

„verschiedene Antworten auf die Frage nach Lösungen“<br />

im Zusammenhang mit einer Offenheit<br />

<strong>der</strong> Vorgehensweise (auch im Unterricht), womit<br />

klar wird: „Offenheit“ und „Vernetzung“ gehören<br />

in pädagogischer Sicht zusammen.<br />

Ein „Vernetzen<strong>der</strong> Unterricht“ führt zu Aufgaben<br />

<strong>für</strong> die Betrachter (insbes. Lehrpersonen)<br />

in Bezug auf die Betreuung <strong>der</strong> Benutzer (insbes.<br />

Schülerinnen und Schüler) beim Umgehen<br />

mit den Bestandteilen eines Netzes. Als Knoten<br />

sind das vor allem Themen, Ideen, Begriffe, Definitionen,<br />

Vermutungen, aber auch Beispiele und<br />

Übungsaufgaben. Als Kanten sind Beziehungen<br />

zwischen diesen Knoten denkbar: sowohl logische<br />

im Sinne des Folgerns bzw. des Folgens als auch<br />

emotionale des Entdeckens, Erlebens, Irrens, Ratlosseins<br />

usw., die in ihrer Gesamtheit zu einer<br />

individuellen lernpsychologischen „Verankerung“<br />

(<strong>der</strong> Knoten) beitragen (können). Bereits zur Erfassung<br />

bzw. Beschreibung <strong>der</strong> Bestandteile eines<br />

Netzes im pädagogisch-didaktischen Kontext<br />

können also unterschiedliche Graphen als „sich<br />

überlagernde Netzwerke“ auftreten. Hierbei sind<br />

20<br />

auch Aspekte <strong>der</strong> Netzwerkanalyse zu beachten:<br />

Kleine Welten, Naben und Stabilität.<br />

8 „Medien vernetzen“?<br />

Kann das Tagungsthema „Medien vernetzen“<br />

sinnvoll gedeutet werden? Zunächst liegt ein unvollständiger<br />

Satz vor, weil ein abschließendes Interpunktionszeichen<br />

fehlt. Zur Vervollständigung<br />

gibt es die Möglichkeiten „Medien vernetzen.“,<br />

„Medien vernetzen!“ und „Medien vernetzen?“.<br />

Per saldo muss also zwischen „Medien als Subjekt“<br />

und „Medien als Objekt“ unterschieden werden,<br />

d. h.,<br />

⊲ entwe<strong>der</strong> sollen Medien miteinan<strong>der</strong> vernetzt<br />

werden (Medien als Objekt) o<strong>der</strong><br />

⊲ an<strong>der</strong>e Objekte sollen durch Medien vernetzt<br />

werden (Medien als Subjekt).<br />

Und hierbei geht es nicht nur um „Medien in <strong>der</strong><br />

engen Auffassung“ und schon gar nicht nur um<br />

„technische Medien“, son<strong>der</strong>n auch um „Medien<br />

in <strong>der</strong> weiten Auffassung“ (s. o.) Dabei scheint <strong>der</strong><br />

erste Fall („Medien als Objekt“) <strong>der</strong> einfachere<br />

Fall zu sein, <strong>der</strong> vor allem technische Medien betrifft,<br />

während <strong>der</strong> zweite hingegen („Medien als<br />

Subjekt“) aus didaktischer Sicht <strong>der</strong> interessantere<br />

Fall ist.<br />

Beispielsweise ist <strong>der</strong> Infinitesimalkalkül ein<br />

„Werkzeug zur Weltaneignung“ [vgl. Hischer,<br />

2010, S. 30 f.] und damit ein Medium, das dann<br />

<strong>der</strong> „Vernetzung“ von etwas dienen kann. So enthält<br />

das Tagungsthema implizit nicht nur die (vor<strong>der</strong>gründige)<br />

Feststellung o<strong>der</strong> Auffor<strong>der</strong>ung zur<br />

didaktisch begründeten Vernetzung beispielsweise<br />

technischer Medien, son<strong>der</strong>n das pädagogische<br />

Fazit, dass „Vernetzung als Medium zur Weltaneignung“<br />

erscheine. Denn ein Netz zeigt Zusammenhänge<br />

auf, bzw. es kann solche vermitteln,<br />

d. h.: Ein Netz kann damit auch als ein Medium erscheinen,<br />

und dieses „Medium vernetzt“ zugleich!<br />

9 Last but not least<br />

Im Deutschen hat „Netz“ vielfältige Bedeutungen,<br />

hingegen existieren da<strong>für</strong> in an<strong>der</strong>en Sprachen<br />

viele Wörter mit unterschiedlichen Bedeutungen<br />

[vgl. Hischer, 2010, S. 53 f.]. Beispielsweise<br />

ist es problematisch, wenn etwa das englische<br />

“to connect” im Deutschen (in diesem Kontext)<br />

mit „vernetzen“ statt mit „verbinden“ wie<strong>der</strong>gegeben<br />

wird (vgl. die englische Zusammenfassung<br />

zu Beginn dieses Beitrags). Und man sollte Baumstrukturen<br />

nicht als Beispiele <strong>für</strong> „Vernetzungen“<br />

nennen, denn hier liegen nur „Verbindungen“ vor.<br />

Literatur<br />

Hischer, Horst (2010): Was sind und was sollen Medien, Netze<br />

und Vernetzungen? – Vernetzung als Medium zur Weltaneignung.<br />

Hildesheim: Franzbecker.


• Konstruktionsbegriffe <strong>für</strong> die 3D-Raumgeometrie<br />

Andreas Goebel und Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />

Die Entwicklung von Programmen <strong>für</strong> die dynamische Raumgeometrie erfor<strong>der</strong>t einen präzise definierten<br />

Begriff <strong>der</strong> geometrischen Konstruktion im Raum. Bei <strong>der</strong> Wahl eines solchen Konstruktionsbegriffs<br />

spielen technische, mathematische und didaktische Fragen eine Rolle. Einige Möglichkeiten<br />

sollen vorgestellt und didaktisch bewertet werden.<br />

1 Einleitung<br />

Dynamische Geometriesysteme erlauben dem Benutzer,<br />

geometrische Konstruktionen zu erstellen<br />

und die von ihnen bestimmten Figuren in parametrischer<br />

Abhängigkeit (dynamisch) von <strong>der</strong> Konfiguration<br />

<strong>der</strong> Ausgangsobjekte zu untersuchen. Die<br />

geometrischen Konstruktionen gewannen dadurch<br />

wie<strong>der</strong> an Bedeutung. Allerdings haben nicht alle<br />

Schüler diese Wendung verinnerlicht und so wurde<br />

schon kurz nach <strong>der</strong> Einführung von DGS beobachtet,<br />

dass Schüler Probleme haben, korrekte<br />

Konstruktionen aufzustellen. Diese Probleme<br />

können bei bestimmten Zielen vermieden werden,<br />

indem fertige Konstruktionen vorgegeben werden,<br />

aber gerade bei <strong>der</strong> Arbeit an offenen Problemstellungen<br />

ist es nach wie vor sinnvoll, wenn die<br />

Schüler selbst Ideen durch Konstruieren ausprobieren<br />

können.<br />

Mit <strong>der</strong> Entwicklung von dynamischen Geometriessystemen<br />

<strong>für</strong> die Raumgeometrie stellt<br />

sich die Frage nach den Konstruktionen erneut:<br />

Beobachtungen von Schülern und Lehramtsstudenten<br />

zeigen, dass keineswegs intuitiv ist, wie<br />

man eine Konstruktion erstellt. Dies gilt auch<br />

dann, wenn das zu konstruierende Objekt in allen<br />

Details bekannt ist. So hat Hattermann Studenten<br />

Würfel konstruieren lassen, wo<strong>für</strong> diese recht lange<br />

brauchten und teilweise nicht zum Erfolg kamen.<br />

Da in seiner Studie die Studenten keine Einführung<br />

in Raumgeometrie bekommen haben, gibt<br />

es viel mehr erklärende Ursachen als nur die Probleme<br />

mit <strong>der</strong> Erstellung <strong>der</strong> Konstruktion. Aber<br />

auch in eigenen Versuchen zeigte sich, dass das<br />

Finden von Konstruktionen eine anspruchsvolle<br />

Tätigkeit ist. Die meisten Konstruktionsaufgaben<br />

sind <strong>für</strong> die meisten Probanden Problemlöseaufgaben.<br />

Die Erfahrung zeigt, dass Schüler und Studenten<br />

ihre Kompetenzen in diesem Bereich verhältnismäßig<br />

schnell ausbauen können. Dynamische<br />

Raumgeometrie kann also in <strong>der</strong> gegenwärtig<br />

verfügbaren Form durchaus erfolgreich eingesetzt<br />

werden und wird dies ja auch schon an vielen Orten.<br />

Trotzdem bleibt die Beobachtung bestehen,<br />

dass Schüler und Studenten häufig nicht<br />

Dinge tun können, die sie tun wollen. 3D-<br />

Konstruktionsprogramme sind sperriger als mehr<br />

am Zeichnen orientierte Programme wie Google<br />

Sketchup. Von <strong>der</strong> mentalen Vorstellung eines<br />

Körpers und <strong>der</strong> Bewusstwerdung seiner definie-<br />

renden Eigenschaften bis zu einer Konstruktion ist<br />

es ein weiter Weg. Zwei didaktische Positionen<br />

dazu:<br />

Position 1: Die Probleme sind nicht artifiziell,<br />

son<strong>der</strong>n sie sind <strong>der</strong> Konstruktion im Raum immanent.<br />

Die Schüler sollen diese Probleme lösen<br />

als wertvollen Teil ihres Lernprozesses<br />

Position 2: Die Software ist nicht perfekt, man<br />

kann es den Schülern leichter machen, Körper zu<br />

konstruieren<br />

Welche Position ist richtig? Vielleicht beide und in<br />

diesem Aufsatz soll die Frage aufgeworfen werden,<br />

ob es möglich ist, den zugrunde gelegten<br />

Konstruktionsbegriff im Sinne von Position 2 so<br />

zu modifizieren, dass die Zugänglichkeit erhöht<br />

wird, ohne (Position 1!) die Erstellung <strong>der</strong> geometrischen<br />

Konstruktionen zu trivialisieren. Geometrische<br />

Konstruktionsaufgaben sind Problemlöseaufgaben<br />

und diese können nur bildend wirken,<br />

wenn sie nicht zu einfach sind. An<strong>der</strong>erseits<br />

kommt es auf die richtige Balance an zwischen<br />

<strong>der</strong> Problemschwierigkeit und dem Motivationseffekt,<br />

d.h. die Schwierigkeit sollte so eingestellt<br />

werden, dass das Konstruieren we<strong>der</strong> demotiviert<br />

noch so einfach ist, dass kein Problemlöseprozess<br />

mehr angeregt wird.<br />

2 Konstruktionen<br />

Geometrische Konstruktionen sind Algorithmen,<br />

die die Erzeugung einer Konfiguration geometrischer<br />

Objekte aus bestimmten Anfangsdaten auf<br />

elementare Schritte zurückführen. In <strong>der</strong> Regel<br />

löst eine Konstruktion ein bestimmtes Problem,<br />

d.h. die konstruierten Objekte stehen untereinan<strong>der</strong><br />

in einer bestimmten Relation. Eine Konstruktion<br />

bestimmt eine Folge A1,A2,A3,...,An<br />

von geometrischen Objekten. Dabei sind die ersten<br />

Objekte als Ausgangsdaten gegeben (Startkonfiguration).<br />

Die Konstruktion bestimmt die folgenden<br />

Objekte aus den vorhergehenden jeweils<br />

durch einen elementaren Konstruktionsschritt, <strong>der</strong><br />

eine funktionale Abhängigkeit darstellt: Ak =<br />

fk(A1,A2,...,An−1). Was ein elementarer Konstruktionsschritt<br />

ist, also welche Funktionen hier<br />

zugelassen sind, hängt einerseits von den zugelassenen<br />

Konstruktionswerkzeugen ab, ist an<strong>der</strong>erseits<br />

eine Frage <strong>der</strong> Bequemlichkeit. Wie auch in<br />

an<strong>der</strong>en Bereichen <strong>der</strong> Algorithmik werden häufig<br />

gebrauchte Teilalgorithmen in eigene Modulen<br />

gekapselt (Standardkonstruktionen nach Holland;<br />

21


Andreas Goebel und Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />

Makros in DGS), die dann als ein Konstruktionsschritt<br />

erscheinen. Auch viele in DGS fest eingebaute<br />

Konstruktionsschritte könnten auf an<strong>der</strong>e,<br />

einfachere zurückgeführt werden. Eine Teilmenge<br />

<strong>der</strong> elementaren Konstruktionsschritte, die nicht<br />

weiter verkleinert werden kann, ohne die Konstruktionsmöglichkeiten<br />

einzuschränken, soll essentiell<br />

heißen.<br />

3 Der Konstruktionsbegriff in<br />

3D-DGS<br />

Bisher gibt es mit Archimedes Geo 3D und Cabri<br />

3D zwei etablierte dynamische Raumgeometriesysteme.<br />

Die jeweiligen Konstruktionsbegriffe<br />

sind nicht identisch, aber trotzdem soll hier versucht<br />

erden, eine vereinheitlichende Darstellung<br />

zu geben.<br />

Eine geometrische Konstruktion im Sinne <strong>der</strong><br />

dynamischen Raumgeometrie eine Spezialisierung<br />

des Konstruktionsbegriffs aus dem vorhergehenden<br />

Abschnitt. Hier folgt eine Auflistung<br />

von essentiellen elementaren Konstruktionsschritten.<br />

Dabei beschränken wir uns auf Konstruktionen<br />

<strong>der</strong> synthetischen Geometrie und beschränken<br />

den Objektvorrat auf Punkt, Gerade, Ebene und<br />

Kugel.<br />

⊲ Schnittpunkt Ebene-Gerade<br />

⊲ Schnittpunkt Kugel-Gerade<br />

⊲ Punkt auf Gerade, Kreis, Ebene<br />

⊲ Gerade durch zwei Punkte<br />

⊲ Lot zu Ebene durch Punkt<br />

⊲ Parallele Gerade zu an<strong>der</strong>er Gerade durch einen<br />

bestimmten Punkt<br />

⊲ Kugel aus Mittel- und Randpunkt<br />

⊲ u.s.w.<br />

Das Problem in dieser Aufzählung ist das unscheinbare<br />

„u.s.w.“: Es würde den hier zur Verfügung<br />

stehenden Platz sprengen, alle Konstruktionsmöglichkeiten<br />

im Raum aufzuzählen. Lernende<br />

müssen sich dieser Vielfalt bewusst lernen, sie<br />

müssen herausfinden, wie man all diese Operationen<br />

mit dem jeweiligen Werkzeug ausführt — und<br />

dann haben sie immer noch nicht das Problem gelöst,<br />

zu einer Konstruktionssequenz zu kommen.<br />

4 Schwierigkeiten mit halbfreien<br />

Elementen in Raumgeometrischen<br />

Konstruktionen<br />

In <strong>der</strong> dynamischen Raumgeometrie gibt es (zumindest<br />

potentiell — die real existierenden Systeme<br />

realisieren längt nicht alle Fälle) mehr halbfreie<br />

Objekte als in <strong>der</strong> 2D-DG. Dies sind Objekte,<br />

<strong>der</strong>en Lage durch die Konstruktion nicht eindeutig<br />

bestimmt wird. In zweidimensionalen Geometriesystemen<br />

sind dies vor allem: Punkt auf Gerade<br />

und Punkt auf Kreis. Im Prinzip könnte es auch<br />

Orthogonale, Parallele (jeweils ohne die Eindeutigkeit<br />

herstellende weitere For<strong>der</strong>ung durch einen<br />

22<br />

bestimmten Punkt zu gehen), sowie Gerade durch<br />

einen Punkt geben. Diese halbfreien geraden wären<br />

dann noch verschiebbar (in den ersten beiden<br />

Fällen) bzw drehbar (im letzen Fall).<br />

In 3D-DGS gibt es potentiell sehr viele halbfreie<br />

Objekte, eine Auswahl:<br />

⊲ Punkte auf Geraden und Kreisen, aber auch auf<br />

Kugel und Ebenen<br />

⊲ Geraden in Ebenen<br />

⊲ Kreise auf Kugeln<br />

⊲ Geraden g, die durch einen Punkt P auf einer<br />

Geraden h laufen und zu h orthogonal sind (diese<br />

Geraden können noch um P in <strong>der</strong> Lotebene<br />

auf h gedreht werden)<br />

⊲ Geraden g, die durch einen Punkt P verlaufen<br />

und zu einer Ebene E parallel sind (diese Geraden<br />

können noch in <strong>der</strong> Parallelebenen zu E<br />

durch P gedreht werden) Noch größer wird die<br />

Zahl <strong>der</strong> halbfreien Objekte, wenn man metrische<br />

Eigenschaften hinzunimmt (z.B. Strecken<br />

fester Länge).<br />

Die Implementierung halbfreier Elemente ist<br />

nicht einfach und es können merkwürdige Effekte<br />

resultieren (Wird ein Bestimmungsstück ein<br />

halbfreien Objektes gezogen, definiert die Konstruktion<br />

nicht eindeutig, wo das halbfreie Objekte<br />

hingeschoben werden soll. Wenn das DGS<br />

diese Freiheit stets nach einer bestimmten Strategie<br />

füllt, resultieren Zugfiguren, die mehr Relationen<br />

invariant lassen, als aus <strong>der</strong> Konstruktion<br />

logisch folgen.). Es ist daher nicht verwun<strong>der</strong>lich,<br />

dass die beiden bisher existierenden 3D-<br />

DGS nicht alle denkbaren halbfreien Objekte implementieren.<br />

Halbfreie Elemente könnten durch<br />

hinzufügen einer (o<strong>der</strong> mehrerer) weiteren Relation<br />

eindeutig spezifiziert werden. Diese Umwandlung<br />

ist in 2D-Systemen oft nicht vorgesehen, weil<br />

sie dort nur wenige Fälle betrifft: Es könnte sinnvoll<br />

sein, einen Punkt, <strong>der</strong> an eine Gerade gebunden<br />

ist, an eine weitere Gerade zu binden, also<br />

zum Schnittpunkt <strong>der</strong> beiden Geraden zu machen.<br />

Jedes sachlogisch mögliche halbfreie Objekt<br />

entspricht einem durch das Wissen des Lernenden<br />

unterbestimmten Konstruktionsschritt. Deshalb<br />

kann man folgende These formulieren:<br />

These 1. Ein Teil <strong>der</strong> Probleme von Anfängern<br />

mit <strong>der</strong> 3D-DG resultieren daraus, dass zur jeweiligen<br />

Situation passende halbfreie Objekte nicht<br />

zur Verfügung stehen o<strong>der</strong> dass halbfreie Objekte<br />

nicht weiter spezifiziert werden können.<br />

Diese These stützt sich sowohl auf die Beobachtung<br />

von Studierenden als auch auf die Introspektion<br />

(sic!) <strong>der</strong> Autoren, sie wurde aber aposteriori<br />

wegen ihrer erklärenden Kraft aufgestellt<br />

und nicht durch Interviews abgesichert. Man<br />

kann sich aber leicht davon überzeugen, dass es<br />

beim raumgeometrischen Konstruieren häufig zu


Situationen <strong>der</strong> folgenden Art kommt: Man möchte<br />

z.B. eine Strecke s konstruieren, kennt schon<br />

einen Endpunkt A und weiß dass sie senkrecht auf<br />

einer bereits existierenden Geraden g stehen muss.<br />

Damit kann die Strecke aber noch nicht eindeutig<br />

konstruiert werden. Wenn es kein Werkzeug <strong>für</strong><br />

solche halbfreien Objekte gibt, kann <strong>der</strong> Benutzer<br />

seine Idee nicht weiter verfolgen, es sei denn, er<br />

verfügt über folgend Strategie: Man erzeugt die<br />

Lot-Ebene E zu g durch P. Der Endpunkt <strong>der</strong> gesuchten<br />

Strecke S muss in E liegen. Man erzeugt<br />

also einen halbfreien Punkt Q auf E und eine halbfreie<br />

Strecke S = PQ. Die Hilfsebene E kann danach<br />

verborgen werden. Neulinge in <strong>der</strong> 3D-DG<br />

verfügen noch nicht über solche Strategien. Zudem<br />

haben sie folgenden Nachteil: Wenn man sich<br />

im weiteren Verlauf <strong>der</strong> Konstruktion klar macht,<br />

welche Länge die Strecke haben soll, kann dies<br />

nicht mehr mit s = PQ umgesetzt werden, denn<br />

dazu müsste Q umdefiniert werden (vom Punkt in<br />

<strong>der</strong> Ebene E zum Punkt auf einem Kreis in E um P<br />

mit dem passenden Radius). Dieses komplexe und<br />

evtl. mit dem jeweiligen 3D-DGS nicht durchführbare<br />

Verfahren ist fehleranfällig. Es wäre unnötig,<br />

wenn halbfreie Objekte durch hinzufügen von Eigenschaften<br />

leicht ausspezifiziert werden könnten.<br />

5 Geometrie ohne Konstruktionen?<br />

Geometriesysteme wie Geometry Expressions<br />

o<strong>der</strong> FeliX benötigen keine Konstruktionsbeschreibung:<br />

Der Benutzer spezifiziert nur, welche<br />

Objekte es gibt und welche Relationen zwischen<br />

diesen gelten sollen. Bei FeliX ist die Reihenfolge<br />

dieser Vorgänge beliebig (bis auf die triviale Bedingung,<br />

dass eine Relation nur Objekte betreffen<br />

kann, die bereits existieren). Es gibt keine prinzipiellen<br />

Probleme bei <strong>der</strong> Übertragung dieses Ansatzes<br />

auf die Raumgeometrie. Allerdings arbeitet<br />

zB FeliX mit Algorithmen, <strong>der</strong>en Laufzeit exponentiell<br />

mit <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Variablen steigt, und<br />

Raumgeometrieprobleme führen zu noch mehr<br />

Variablen und verschärfen daher die Performance-<br />

Problematik.<br />

Neben diesem technischen Argument sind es<br />

vor allem didaktische Überlegungen, die diesen<br />

Weg bei geometrischer (und nicht algebraischer!)<br />

Zielsetzung als problematisch erweisen: „Konstruktionen“<br />

werden mit solchen Systemen trivialisiert<br />

und damit wird dieses Übungsfeld des Problemlösens<br />

wertlos.<br />

Neben dem Aspekt des Problemlösens liegt<br />

die didaktische Bedeutung des Konstruierens u.E.<br />

auch wesentlich darin, dass hier Handlungsabläufe<br />

geplant und organisiert werden. Dieser Aspekt<br />

des Konstruktionsbegriffs steht Inhalten <strong>der</strong> Informatik<br />

nahe. Die exemplarische Bedeutung erstreckt<br />

sich auf viele Stellen, wo in unserer <strong>Gesellschaft</strong><br />

organisiert und geplant wird. Es kön-<br />

Konstruktionsbegriffe <strong>für</strong> die 3D-Raumgeometrie<br />

nen grundlegende Begriffe wie etwa Abhängigkeit<br />

und Unabhängigkeit von Teilschritten eingeübt<br />

werden.<br />

6 Variante 1: Konstruktion =<br />

Reihenfolge von Objekten<br />

Die oben dargestellten Schwierigkeiten mit halbfreien<br />

Objekten können ausgeräumt werden, wenn<br />

<strong>der</strong> Konstruktionsbegriff so geän<strong>der</strong>t wird, dass<br />

es keine prinzipielle Unterscheidung mehr zwischen<br />

freien, halbfreien und eindeutig konstruierten<br />

Objekten gibt. Ein solcher Konstruktionsbegriff<br />

soll hier dargestellt werden. Dabei wird eine<br />

Konstruktion verstanden als eine Tabelle <strong>der</strong> folgenden<br />

Art:<br />

Name Art Relationen<br />

P Punkt —<br />

Q Punkt Abstand zu Q = 5<br />

T Punkt Koordinaten=(1,2,3)<br />

g Gerade Geht durch P und Q<br />

s Strecke Anfangspunkt P;<br />

senkrecht zu g<br />

E Ebene Parallel zu s; parallel zu g<br />

Der zeilenweise Aufbau gibt die Schritte <strong>der</strong> Konstruktion<br />

wi<strong>der</strong>. Jedem Objekt können Relationen<br />

auferlegt werden, die es erfüllen soll. Vorteil<br />

dieses Ansatzes ist, dass die Reihenfolge, in <strong>der</strong><br />

die Relationen eingetragen werden, offen ist. Man<br />

braucht nicht gleich bei <strong>der</strong> Erzeugung eines Objektes<br />

alle Eigenschaften kennen, son<strong>der</strong>n es können<br />

schrittweise Relationen hinzugefügt werden,<br />

bis das Objekt so festgelegt ist, wie es <strong>der</strong> Intention<br />

des Benutzers entspricht. Entscheidend da<strong>für</strong>,<br />

dass es sich trotz dieser Freiheit um einen effektiv<br />

ausführbaren Konstruktionsbegriff handelt ist die<br />

Einhaltung <strong>der</strong> folgenden Regel: Die Relationen,<br />

die zu jedem Objekt angegeben werden, dürfen<br />

das Objekt nur durch Verweis auf an<strong>der</strong>e Objekte<br />

spezifizieren, die in <strong>der</strong> Tabelle vorher spezifiziert<br />

worden sind, also oberhalb stehen. Es wäre also<br />

verboten, z.B. zu g die Relation „orthogonal zu E“<br />

hinzuzufügen. Durch diese Vorschrift bleibt die<br />

Konstruktion leicht berechenbar. Wird beispielsweise<br />

mit <strong>der</strong> Maus Q an eine neue Position gezogen,<br />

kann folgen<strong>der</strong>maßen gerechnet werden: Als<br />

erstes wird versucht, dem Zugziel <strong>für</strong> Q unter Beachtung<br />

<strong>der</strong> Relationen an Q so nahe zu kommen<br />

wir möglich. Dann werden nacheinan<strong>der</strong> alle folgenden<br />

Objekte neu berechnet werden. Wenn man<br />

das Objekt in <strong>der</strong> i-ten Zeile neu berechnet, sind<br />

die Objekte in den Zeile 1,...,i−1 bereits aktualisiert,<br />

ihre neuen Koordinaten liegen also fest. Im iten<br />

Schritt ist daher nur das verhältnismäßig kleine<br />

Problem zu lösen, die an das i-te Objekte gestellten<br />

Relationen zu erfüllen bzw. <strong>der</strong>en Nichterfüllbarkeit<br />

nachzuweisen. Beides ist algebraisch<br />

leicht möglich.<br />

23


Andreas Goebel und Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />

Dieser Konstruktionsbegriff ist implementierbar<br />

(eine proof-of-concept-Implementierung existiert,<br />

siehe Screenshot) und effektiv ausführbar,<br />

denn <strong>der</strong> Zeitbedarf steigt nur linear mit <strong>der</strong> Zahl<br />

<strong>der</strong> Objekte solange die Zahl <strong>der</strong> Relationen <strong>für</strong><br />

jedes einzelne Objekt beschränkt ist.<br />

Mit einem 3D-DGS, das auf diesem Konstruktionsbegriff<br />

aufbaut, kann effektiv gearbeitet werden.<br />

Allerdings erfor<strong>der</strong>t es durchaus ein planvolles<br />

Vorgehen: Wenn man etwa zwei Punkte erzeugt<br />

und s als die Strecke zwischen ihnen definiert,<br />

dann ist es sinnlos, die Länge von s durch<br />

eine Relation an s zu spezifizieren, man würde<br />

dann nichterfüllbare Relationen postulieren, weil<br />

die Lage von s ja schon durch die Endpunkte eindeutig<br />

gegeben ist. Stattdessen könnte man eine<br />

Abstandsbedingung an die beiden Punkte stellen<br />

o<strong>der</strong> ganz auf die Eckpunkt verzichten. Allerdings<br />

zeigt das Beispiel auch eine problematische Eigenschaft:<br />

Während es naheliegend ist, Streckenlängen<br />

als Eigenschaften von Strecken zu sehen,<br />

muss man hier — bei dieser Art <strong>der</strong> Konstruktion<br />

— die Streckenlänge als Eigenschaft ihrer<br />

Endpunkte sehen. Um das zu umgehen, müsste<br />

man eine freie Strecke konstruieren, <strong>der</strong>en Länge<br />

und Anfangspunkt festlegen, und dann den zweiten<br />

Punkt als ihr Ende definieren.<br />

Man sieht: Konstruieren in diesem Sinne ist<br />

durchaus kognitiv anspruchsvoll, denn man muss<br />

eine passende Reihenfolge <strong>der</strong> Objekte finden. Da<br />

dabei dem Benutzer Fehler unterlaufen können<br />

wäre es wünschenswert, wenn ein solches System<br />

die Möglichkeit böte, die Reihenfolge umzustellen.<br />

Dazu müssen Relationen von einem Objekt<br />

auf ein an<strong>der</strong>es abgewälzt werden. Das algorithmisch<br />

umzusetzen ist möglich, aber aufwändig. Es<br />

wird hier nur an einem Beispiel illustriert:<br />

Name Art Relationen<br />

P Punkt —<br />

g Gerade Geht durch P<br />

s Strecke senkrecht zu g<br />

Um g an s vorbei nach hinten zu schieben,<br />

muss die Orthogonalitätsrelation von s auf g „umgebucht“<br />

werden. Das Ergebnis ist:<br />

Name Art Relationen<br />

P Punkt —<br />

s Strecke —<br />

g Gerade Geht durch P;<br />

senkrecht zu s<br />

Die Relationen, die in diesem Konstruktionsbegriff<br />

möglich sind, unterliegen gewissen Einschränkungen,<br />

denn n-stellige Relationen sollten<br />

bei Vorgabe von n − 1 Argumenten allein<br />

durch Variation des n-ten Argumentes erfüllt werden<br />

können. Dies ist beispielsweise bei <strong>der</strong> 3-<br />

24<br />

stelligen Relation Mittelpunkt <strong>der</strong> Fall, nicht aber<br />

bei <strong>der</strong> dreistelligen Relation auf Geraden „paarweise<br />

orthogonal“. Diese Relation kann also nicht<br />

(als eine Relation) verwendet werden, son<strong>der</strong>n<br />

muss aus zweistelligen Orthogonalitätsrelationen<br />

zusammen gebaut werden.<br />

Es ist möglich, den Konstruktionsbegriff von<br />

Archimedes Geo3D so weiter zu entwickeln, dass<br />

er sich diesem neuen Konstruktionsbegriff annähert.<br />

Dazu ist vor allem die Flexibilität des Umdefinierens<br />

zu erhöhen. In umgekehrter Richtung<br />

erscheint es denkbar, einen Algorithmus zu finden,<br />

<strong>der</strong> eine Konstruktion in diesem neuen Sinne<br />

in eine Konstruktion im alten Stil überführen<br />

kann, sofern die verwendeten Relationen mit den<br />

Werkzeugen des klassischen 3D-DGS konstruierbar<br />

sind.<br />

Bei <strong>der</strong> didaktischen Bewertung dieses Konstruktionsbegriffs<br />

sollte aber nicht vergessen werden,<br />

dass die einzelnen „elementaren“ Schritte<br />

recht komplex werden können. Zwar ist auch die<br />

Arbeit <strong>der</strong> Konstruktionswerkzeuge in einem 3D-<br />

DGS wie Archimedes Geo3D von abstrakter Natur<br />

(denn an<strong>der</strong>s als die Zirkel <strong>der</strong> ebenen Geometrie<br />

lassen sich Kugelzirkel nicht materiell umsetzen),<br />

aber die Kombination von Relationen ist eine<br />

logisch-abstrakte Operation und praktisch nur<br />

algebraisch durchführbar.<br />

7 Variante 2: Konstruktion =<br />

Reihenfolge von Relationen<br />

Die klassischen Konstruktionsbegriffe ebenso wie<br />

<strong>der</strong> im letzen Abschnitt diskutierte stellen ganz<br />

grob gesprochen vor allem eine Konstruktionsreihenfolge<br />

her, d.h. die Objekte haben eine bestimmte<br />

Reihenfolge. Dies mag auf den ersten<br />

Blick <strong>für</strong> eine Konstruktion geradezu wesensnotwendig<br />

sein, auch wenn man sich klar machen<br />

kann, dass es bei den meisten Konstruktionen<br />

unabhängige Teilschritte gibt, <strong>der</strong>en Reihenfolge<br />

umgestellt werden kann.<br />

Bei Konstruktionen mit Baukästen u.ä. gilt<br />

diese scheinbar natürliche Regel aber nicht: Die<br />

Objekte werden nicht <strong>der</strong> Reihe nach erzeugt, son<strong>der</strong>n<br />

sie sind gleich alle da (mehr o<strong>der</strong> wenig ordentlich<br />

im Baukasten, <strong>der</strong> letztlich eine Menge<br />

von Objekten ist). Beim Konstruktionsprozess<br />

klickt (im Sinne von Lego, nicht von Mausinteraktion)<br />

man die Bausteine zusammen und das bedeutet<br />

beispielsweise, dass man eine Inzidenzrelation<br />

herstellt. Beim Bauen mit Bausteinen haben<br />

also nicht die Objekte, son<strong>der</strong>n die Relationen<br />

eine Reihenfolge! Mit dem hier vorzustellenden<br />

Konstruktionsbegriff soll versucht werden, dies zu<br />

modellieren.<br />

Eine Konstruktion in diesem Sinne besteht also<br />

in einer Menge (ungeordnet) von Objekten O<br />

sowie einer geordneten Liste von Relationen R.


Konstruktionsbegriffe <strong>für</strong> die 3D-Raumgeometrie<br />

Abbildung 5.1: Experimentelle Realisierung <strong>der</strong> Variante 1. Hier ist S2 eine freie Strecke, die auf S1 senkrecht<br />

steht und die gleiche Länge hat. Sie ist aber noch um S1 drehbar.<br />

Jedes Objekt a aus O gehört zu einem bestimmten<br />

Typ (Punkt, Gerade, etc.) und besitzt entsprechend<br />

eine Menge von Variablen V(a). Bei <strong>der</strong> ersten Variante<br />

des Konstruktionsbegriffs wurden in einem<br />

Schritt alle Variablen eines Objektes bestimmt.<br />

Das ist jetzt nicht mehr möglich. Typischerweise<br />

kommen die Variablen eines Objektes in verschiedenen<br />

Relationen vor und wenn die Konstruktionsberechnung<br />

Relation-nach-Relation durchgeführt<br />

wird, braucht man eine Strategie, wann man<br />

sie än<strong>der</strong>t. Ein erster Algorithmus zur Berechnung<br />

einer Konstruktion: U die Menge aller Variablen<br />

aller Objekte. Durch die Iteration über die Relationen<br />

hinweg soll U stets die Variablen enthalten,<br />

<strong>der</strong>en Werte noch nicht neu berechnet wurden. Für<br />

jede Relation r ∈ R bildet man dann den Spezialfall<br />

r ′ , in dem die bereits bestimmten Variablen<br />

eingesetzt werden, dann bildet man die Variablen<br />

W = U ∩V(r ′ ), die evtl. aus r ′ bestimmt werden<br />

könnten. Dann sucht man eine möglichst kleine<br />

Teilmenge von Variablen aus W, die genügt, r ′ zu<br />

erfüllen. Diese werden dann neu berechnet, aus U<br />

entfernt und die nächste Relation wird erfüllt.<br />

Die einzelnen Schritte dieses Algorithmus<br />

sind recht aufwändig, aber durchführbar und das<br />

wurde in einer Testimplementierung bestätigt. Die<br />

Arbeit mit einem darauf basierenden DGS gestaltet<br />

sich recht komfortabel, weil die Reihenfolge<br />

<strong>der</strong> Relationen beliebig umgestellt werden<br />

kann. Allerdings macht sich auch in <strong>der</strong> praktischen<br />

Arbeit sehr bald folgendes Problem bemerkbar:<br />

Der Algorithmus schafft es nicht, alle<br />

Relationen zu erfüllen, obwohl dies möglich wäre.<br />

Ursache da<strong>für</strong> ist in <strong>der</strong> Regel, dass <strong>für</strong> einige<br />

Relationen zu viele Variable benötigt werden.<br />

Das hängt davon ab, durch welche Variablen<br />

die Objekte beschrieben werden. Strecken können<br />

beispielsweise durch die kartesischen Koordinaten<br />

ihrer beiden Endpunkte beschreiben werden<br />

o<strong>der</strong> durch Anfangspunkt, Länge und Richtungswinkel.<br />

Wenn bereits eine Relation erfüllt wurde,<br />

die den Anfangspunkt festlegt, erfasst eine Relation,<br />

die die Länge vorschreibt, in <strong>der</strong> ersten Beschreibungsform<br />

alle kartesischen Variablen des<br />

Endpunktes. Diese werden also (wenn auch teilweise<br />

willkürlich) neu festgelegt. Für eine spätere<br />

Relation, die die Strecke als orthogonal zu einer<br />

an<strong>der</strong>en bestimmt, bleibt dann keine Freiheit mehr<br />

über. Bei <strong>der</strong> zweiten Beschreibung tritt dieses<br />

Problem nicht auf. Nun kann man vermuten, dass<br />

die Beschreibung durch intrinsische geometrische<br />

Größen wie die Länge ohnehin besser ist. Da es<br />

aber auch Relationen gibt, die sich kartesische einfacher<br />

ausdrücken lassen, bleibt nur die aufwändige<br />

Lösung, die Beschreibung den gestellten Relationen<br />

anzupassen. Eine Lösung, die aber auch<br />

nicht alle Konfliktfälle entschärfen kann. Eine systematische<br />

Lösung könnte in <strong>der</strong> sukzessiven adhoc<br />

Einführung neuer lokaler Koordinatensysteme<br />

liegen, aber ein solches Vorhaben ist umfangreich<br />

und müsste stabil mit ausgearteten Situationen<br />

umgehen können.<br />

Nachteilig an diesem Algorithmus ist vor allem<br />

aber auch, dass sein Verhalten nicht allein<br />

25


Andreas Goebel und Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />

auf geometrischer Ebene verstanden werden kann.<br />

Es ist daher zu vermuten, dass Lernende das Verhalten<br />

eines entsprechenden DGS als willkürlich<br />

empfinden werden. Dies steht im Kontrast zu <strong>der</strong><br />

eingangs gemachten Analogie zum Bauen mit einem<br />

Baukasten. Es ist offen, ob hier ein Ausgleich<br />

erfolgen kann. Die eingangs zitierte Metapher des<br />

Baukastens legt aber nahe, dass eine Lösung <strong>der</strong><br />

technischen Probleme didaktisch reizvoll und lohnend<br />

sein könnte.<br />

26<br />

8 Fazit<br />

Ob 3D-DGS auf Basis <strong>der</strong> hier beschriebenen<br />

Konstruktionsbegriffe geeignet sind, den Schülern<br />

selbsttätiges raumgeometrisches Tun zu ermöglichen,<br />

kann <strong>der</strong>zeit noch nicht beurteilt werden.<br />

Dazu bräuchte man einerseits eine empirische<br />

Vergleichsstudie, an<strong>der</strong>erseits klare normative<br />

Zielvorstellungen <strong>für</strong> den Unterricht in Raumgeometrie.<br />

Das Erste ist ohne das Zweite nicht<br />

sinnvoll, und das Zweite ist gegenwärtig didaktisch<br />

„out“ und nicht drittmittelfähig.


• Neue Technologien und ihre Vernetzung im Rahmen curricularer<br />

Überlegungen<br />

Rolf Neveling, Wuppertal<br />

In meinem Aufsatz möchte ich nach dem Versuch einer Zustandsbestimmung<br />

zunächst exemplarisch verdeutlichen, wie<br />

sich Standardthemen im Unterricht mit neuen Technologien<br />

und ihrer Vernetzung bereichern lassen.<br />

Den Schwerpunkt meines Textes sehe ich aber darin, realistisch<br />

die Rolle einzuschätzen, die neue Technologien unter aktuellen<br />

Unterrichtsbedingungen überhaupt einnehmen können. Dabei<br />

denke ich vor allem an zentrale Prüfungen und Verkürzungen<br />

<strong>der</strong> Schulzeit. Wesentlich ist mir in diesem Zusammenhang,<br />

darauf hinweisen, dass eine <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> Computer-Algebra-<br />

Systeme <strong>der</strong>zeit fehlt, aber dringend erfor<strong>der</strong>lich wäre.<br />

1 Versuch einer<br />

Zustandsbestimmung<br />

Das erste Computer-Algebra-System, das im<br />

schulischen Rahmen eine wesentliche Rolle spielte,<br />

war das Programm Derive. Es erschien in<br />

<strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Achtzigerjahre. Weitere Programme,<br />

die speziell <strong>für</strong> den <strong>Mathematik</strong>unterricht gedacht<br />

waren wie etwa dynamische Geometriesoftware,<br />

folgten. Alle diese fast revolutionären mathematikdidaktischen<br />

Neuheiten trugen in sich die<br />

Chance, Unterricht themenreicher, dynamischer<br />

und erfolgreicher zu machen.<br />

Wer neue Technologien <strong>für</strong> Lernprozesse<br />

dienstbar machte, tat dies mit einem gewissen<br />

Pioniergeist auf <strong>der</strong> Basis seiner eigenen Ideen<br />

und Vorstellungen; er wurde in seinem Unterricht<br />

und in Prüfungen in vielen Bundeslän<strong>der</strong>n kaum<br />

durch curriculare Zwänge und Regularien eingeengt.<br />

Auf diese Weise wurden neue, schöne Themen<br />

<strong>für</strong> den <strong>Mathematik</strong>unterricht erschlossen,<br />

die sowohl im Bereich <strong>der</strong> theoretischen wie auch<br />

<strong>der</strong> angewandten <strong>Mathematik</strong> lagen.<br />

In <strong>der</strong> Zwischenzeit haben sich die Bedingungen<br />

<strong>für</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht wesentlich geän<strong>der</strong>t:<br />

Kernlehrpläne, zentrale Abiturprüfungen,<br />

Abschlussprüfungen am Ende <strong>der</strong> Sekundarstufe<br />

1, Lernstandserhebungen und insbeson<strong>der</strong>e G8,<br />

also die Einführung des achtjährigen Gymnasiums,<br />

engen die Themenbereiche des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />

und damit auch die Weite <strong>der</strong> möglichen<br />

Nutzung neuer Technologien erheblich ein;<br />

dies in nahezu allen Bundeslän<strong>der</strong>n. Was vom mathematischen<br />

Gegenstand her gesehen durchaus<br />

seine Berechtigung hat, wird so häufig zum Exoten.<br />

<strong>Mathematik</strong>unterricht befindet sich also in einer<br />

Umbruchsituation, die einerseits in <strong>der</strong> Bereicherung<br />

liegt, die sich aus den neuen Technologien<br />

ergibt, und die an<strong>der</strong>erseits durch zentrale Prüfungen<br />

bestimmt wird. Im folgenden möchte ich<br />

!<br />

zunächst auf die großen Vorteile eingehen, die in<br />

den neuen Programmen und insbeson<strong>der</strong>e in ihrer<br />

vernetzten Verwendung <strong>für</strong> den Unterricht liegen,<br />

um dann des weiteren auf die Problematik einzugehen,<br />

die sich daraus ergibt, dass natürlich insbeson<strong>der</strong>e<br />

Computer-Algebra-Systeme in Zukunft<br />

immer weiter im Unterricht Verwendung finden<br />

und dass Abschlüsse durch zentrale Prüfungen erworben<br />

werden.<br />

2 Beschleunigen o<strong>der</strong> Vorsprung<br />

durch Technik<br />

Neue Technologien setzten sich seit ihrem Aufkommen<br />

vor ca. fünfundzwanzig Jahren nur sehr<br />

zögerlich im <strong>Mathematik</strong>unterricht durch. Ich<br />

glaube, sagen zu dürfen, dass in <strong>der</strong> näheren Vergangenheit<br />

viel Chancen, Unterricht effektiver zu<br />

machen, verpasst wurden.<br />

Denn es gibt zahlreiche, mit Sicherheit nicht<br />

exotische Unterrichtsszenarios, in denen <strong>der</strong> Einsatz<br />

neuer Technologien zu erheblichen Lernfortschritten<br />

führen kann und die in jedem zeitgemäßen<br />

Oberstufenunterricht bedeutsam sein könnten.<br />

!<br />

!<br />

Abbildung 6.1: Tangentenproblem. Punkt B wan<strong>der</strong>t<br />

auf <strong>der</strong> Parabel<br />

!<br />

27


Rolf Neveling, Wuppertal<br />

Dabei unterscheide ich die beiden Bereiche<br />

Visualisieren und Werkzeuge einsetzen bzw. Explorieren.<br />

Bei dem folgenden Tangentenproblem<br />

gehe ich exemplarisch in die Details, um zu beschreiben,<br />

was ich meine, und liste dann weitere<br />

Themenbereiche ohne Vollständigkeit auf.<br />

Ich betrachte das Tangentenproblem am Anfang<br />

<strong>der</strong> Analysis als eines <strong>der</strong> schwierigsten und<br />

wichtigsten Probleme des Oberstufenunterrichts.<br />

Mit DGS etwa lässt es sich hervorragend in seiner<br />

Dynamik, hinter <strong>der</strong> sich natürlich <strong>der</strong> Grenzwert<br />

verbirgt, visualisieren: Punkt B auf dem Graphen<br />

wan<strong>der</strong>t und mit ihm die Sekante; dies nicht<br />

nur <strong>für</strong> Parabeln, son<strong>der</strong>n auch <strong>für</strong> weitere Funktion<br />

und <strong>für</strong> unterschiedliche Typen von Graphen.<br />

Bewegung för<strong>der</strong>t Verstehen, und Verstehen heißt<br />

hier, den Zusammenhang zwischen Tangente, Sekante,<br />

Differenzenquotient und Grenzwert zu sehen.<br />

Betrachten wir das Tangentenproblem aus<br />

dem Blickwinkel <strong>der</strong> linearen lokalen Approximation,<br />

so ist es naheliegend, <strong>für</strong> die Tangente<br />

und eine Sekante mit einem CAS jeweils den Fehler<br />

zwischen Funktionsterm und Geradenterm zu<br />

zeichnen, um zu sehen, wie die Approximation<br />

durch die Tangente qualitativ besser erfolgt als bei<br />

<strong>der</strong> Sekante.<br />

!<br />

Abbildung 6.2: Approximation mit Tangente und<br />

Sekante<br />

!<br />

Abbildung 6.3: Fehler bei Tangente und Sekante !<br />

Sekante<br />

28<br />

!<br />

Man sieht hier, wie die Vernetzung zweier<br />

Programme zwei Aspekte einer Idee miteinan<strong>der</strong><br />

verbindet und dadurch den Kerngedanken verdeutlicht.<br />

Q<br />

P<br />

!<br />

!<br />

Abbildung 6.4: Parabelkonstruktion in DynaGeo<br />

Ich ergänze einen weiteren Aspekt. Eine Parabel<br />

ist bekanntlich die Ortskurve aller Punkte,<br />

die von ein einer Geraden, <strong>der</strong> Leitgeraden und<br />

einem Punkt, dem Brennpunkt, die gleiche Entfernung<br />

haben. In <strong>der</strong> DynaGeo-Konstruktion ist<br />

F <strong>der</strong> Brennpunkt und g die Leitgerade. Die Gerade<br />

durch P und Q steht senkrecht auf g und wan<strong>der</strong>t<br />

rechtwinklig zu g, wenn P mit <strong>der</strong> Maus auf g<br />

bewegt wird. Da das Dreieck FQP gleichschenklig<br />

ist, zeichnet Q die Parabel. „Offensichtlich“ ist<br />

die Senkrechte durch Q zu FP die Tangente an die<br />

Parabel in Q. Man sieht, dass im Spezialfall <strong>der</strong><br />

Parabel auf sehr einfache Weise Tangenten auch<br />

elementargeometrisch nicht nur <strong>für</strong> Kreise konstruiert<br />

werden können. Der Gedanke ist natürlich<br />

auf Ellipsen und Hyperbeln ausbaufähig. Än<strong>der</strong>t<br />

man nun in DynaGeo die Lage von F o<strong>der</strong> die <strong>der</strong><br />

Leitgeraden, so kann man studieren, wie sich <strong>der</strong><br />

Graph <strong>der</strong> Parabel verän<strong>der</strong>t.<br />

Mit CAS öffnet sich zur Exploration von mathematischen<br />

Sachverhalten ein weites Feld, das<br />

ich nur in wenigen Punkten andeuten möchte, da<br />

sich dessen die schulischen Lehrbücher langsam<br />

annehmen:<br />

⊲ <strong>der</strong> weite Bereich <strong>der</strong> Kurvendiskussion mit Variation<br />

von Parametern,<br />

⊲ Krümmung und Krümmungsformel<br />

⊲ Taylorpolynome<br />

⊲ logistisches Wachstum und an<strong>der</strong>e Wachstumsprozesse,<br />

⊲ Lösung komplizierterer Gleichungen,<br />

⊲ Modellbildung mit Regression<br />

⊲ Modellbildung mit Matrizenpotenzen<br />

⊲ die Welt <strong>der</strong> Tabellenkalkulation<br />

Bremsen o<strong>der</strong> das Prinzip Bescheidenheit<br />

F<br />

g


Neue Technologien und ihre Vernetzung im Rahmen curricularer Überlegungen<br />

Generell und unter den oben angesprochenen<br />

verän<strong>der</strong>ten Bedingungen macht es keinen Sinn,<br />

die Gegenstandsbereiche des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />

beliebig auszuweiten. Die Diskussion <strong>der</strong><br />

vergangenen beiden Jahrzehnte hat meines Erachtens<br />

überzeugend gezeigt, dass die sogenannten<br />

Fundamentalen Ideen und Inhalte sinnvollerweise<br />

als Richtschnur <strong>für</strong> relevante Inhalte des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />

anzusehen sind. Dabei handelt es<br />

sich im wesentlich um die folgenden Ideen, wenn<br />

auch die fachliche Diskussion nie zu einem abschließenden,<br />

von allen akzeptierten Kanon geführt<br />

hat:<br />

⊲ Zahl und Messen,<br />

⊲ räumliches Strukturieren,<br />

⊲ funktionaler Zusammenhang,<br />

⊲ Wahrscheinlichkeit,<br />

⊲ Algorithmus,<br />

⊲ Modellieren.<br />

In diesem Zusammenhang scheint es mir angesichts<br />

<strong>der</strong> in den letzten Jahren aufgekommenen<br />

– lei<strong>der</strong> nicht genügend reflektierten – Überbetonung<br />

des Anwendungsaspekts im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

wichtig, dass die Idee des Modellierens<br />

richtig gesehen wird. Das Kernproblem in einem<br />

Modellierungsprozess liegt in <strong>der</strong> Übersetzung<br />

des realen Sachverhalts in einen mathematischen.<br />

Das erfor<strong>der</strong>t einerseits eine Abstraktion,<br />

an<strong>der</strong>erseits kann dieser Vorgang aber auch mit<br />

dem Ziel <strong>der</strong> Unterrichtbarkeit im Hinterkopf so<br />

zu Vereinfachungen führen, dass die Realisierung<br />

im Unterricht schließlich nicht überzeugt. Kurz,<br />

einer so aufkommenden Neomathematik sollten<br />

wir mit Vorsicht begegnen. Wenn dann zudem<br />

wertvolle an<strong>der</strong>e Unterrichtsinhalte geopfert werden,<br />

entsteht eine Situation, die nicht weiterführt.<br />

Der Gedanke, mit Hilfe <strong>der</strong> neuen Rechner sei<br />

endlich ein ernstzunehmen<strong>der</strong> Anwendungsbezug<br />

möglich, ist mit Vorsicht zu sehen.<br />

Sehr viel sinnvoller als <strong>der</strong> Einsatz neuer<br />

Technologien bei bedenklichen Modellierungen<br />

kann es sein, mit <strong>der</strong> rechnerischen und graphischen<br />

Unterstützung von CAS, von dynamischer<br />

Geometriesoftware und von Tabellenkalkulation<br />

mathematische Grundideen durch mehr Beispiele,<br />

an<strong>der</strong>e Funktionen o<strong>der</strong> größere Datenmengen<br />

zu konkretisieren. Das kann z. B. geschehen<br />

⊲ bei Differenzenquotienten, siehe oben,<br />

⊲ bei <strong>der</strong> Untersuchung von Funktionen in sinnvollen<br />

Anwendungen,<br />

⊲ bei numerischer Integration, etwa dem Integral<br />

die Glockenkurve,<br />

⊲ in <strong>der</strong> Stochastik<br />

⊲ in Zukunft sicher auch in <strong>der</strong> Raumgeometrie<br />

⊲ bei ganz vielen kleinen und großen Übungsaufgaben,<br />

⊲ in <strong>der</strong> Sekundarstufe I<br />

⊲ . . .<br />

3 Fundamentale Techniken und<br />

Verfahren<br />

Zu den fundamentalen Ideen gehört insbeson<strong>der</strong>e<br />

im Zeitalter von faszinierenden und weitreichend<br />

verfügbaren CAS-Taschenrechnern die Frage,<br />

über welche fundamentalen Techniken und<br />

Verfahren junge Leute heutzutage mit Papier und<br />

Bleistift verfügen sollen. O<strong>der</strong> allgemeiner ausgedrückt:<br />

Mit dynamischer Geometriesoftware, mit<br />

Tabellenkalkulation und mit Programmen <strong>für</strong> spezielle<br />

Fragestellungen haben wir Hilfsmittel, die<br />

<strong>Mathematik</strong>unterricht verän<strong>der</strong>n und bereichern,<br />

aber keine Kernqualifikationen wie etwa das Lösen<br />

von Gleichungen überflüssig machen. Mit<br />

CAS-Rechnern jedoch entsteht eine verän<strong>der</strong>te Situation,<br />

die unsere Wertvorstellungen darüber, was<br />

noch könnens- und lernenswert ist, was demzufolge<br />

mit welchem Aufwand unterrichtet werden<br />

soll, in Frage stellt.<br />

Unsere <strong>der</strong>zeitigen Vorstellungen basieren neben<br />

den fundamentalen Ideen vor allem auf <strong>der</strong><br />

Meraner Reform von 1905, und davon brauchten<br />

wir heutzutage eine weitere. Das ist nach mehr<br />

als hun<strong>der</strong>t Jahren auch nicht verwun<strong>der</strong>lich. In<br />

ihr müsste sich die Community darüber einigen,<br />

was wir von unseren Schulerinnen und Schülern<br />

mit dem Werkzeug Papier und Bleistift erwarten<br />

und was wir <strong>der</strong> Black Box CAS überlassen. Also<br />

müsste in <strong>der</strong> Tat die von Wilfried Herget formulierte<br />

Frage „Wie viel Termumformung braucht<br />

<strong>der</strong> Mensch?“ zunächst beantwortet werden, und<br />

dann erst könnte man mit Recht CAS in zentralen<br />

Prüfungen zulassen.<br />

Die nachfolgende Liste verstehe ich nur<br />

als Diskussionsbeitrag zur <strong>Didaktik</strong> von CAS-<br />

Rechnern. Auf Hergets Frage Antworten zu finden,<br />

denen viele zustimmen, dürfte nicht leicht<br />

fallen. Dass Schülerinnen und Schüler <strong>der</strong> SII<br />

Computer-Algebra-Rechner verwenden, macht<br />

aus meiner Sicht nur dann Sinn, wenn sie auch ohne<br />

CAS über folgende Qualifikationen verfügen:<br />

⊲ Terme durchschauen und sinnvoll verän<strong>der</strong>n,<br />

⊲ Gleichungen überblicken, zielorientiert umformen<br />

und lösen,<br />

⊲ dabei die Anzahl von Lösungen überblicken,<br />

⊲ Bezüge zwischen Funktion, Term, Graph und<br />

Gleichung sehen,<br />

⊲ Funktionsprototypen kennen und mit einfachen<br />

Gestalt- und Lageverän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Prototypen<br />

umgehen können,<br />

⊲ das Instrument Ableitung sinnvoll anwenden,<br />

⊲ Integrale berechnen und in geometrischen und<br />

nicht geometrischen Situationen anwenden,<br />

⊲ mit Vektoren, Skalarprodukten und Matrizen<br />

umgehen,<br />

⊲ Binomial- und evtl. Normalverteilung durchschauen<br />

und anwenden,<br />

⊲ . . .<br />

29


Rolf Neveling, Wuppertal<br />

Des weiteren: Zu einem anspruchsvollen <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

gehört es auch, junge Leute das<br />

Gefühl <strong>der</strong> Tiefe mathematischer Probleme erfahren<br />

zu lassen; die falsche Alternative wäre clicking<br />

versus thinking. So dürfte man sich etwa in <strong>der</strong> Integralrechnung<br />

bei <strong>der</strong> Suche nach Stammfunktio-<br />

nen <strong>für</strong><br />

<br />

x<br />

x2 dx und<br />

+ 4<br />

<br />

x 2<br />

x 2 + 4 dx<br />

nicht auf clicking beschränken, son<strong>der</strong>n man<br />

müsste die Unterschiede zwischen den beiden Integralen<br />

verdeutlichen, und man müsste, wenn<br />

man schon Bogenlängen thematisiert, bei ihrer<br />

Behandlung klarmachen, dass Bogenintegrale<br />

schnell in die mathematische Tiefe führen. Ich erwähne<br />

die beiden Beispiele nicht, weil ich meine,<br />

man müsste sie unbedingt unterrichten; ich will<br />

nur verdeutlichen, was ich unter Tiefe im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

verstehe.<br />

4 Und Prüfen<br />

Eine Prüfung kann ich mir <strong>der</strong>zeit mit folgenden<br />

Rechnertypen verstellen:<br />

(1) Einfacher Taschenrechner ohne Graphik: In<br />

<strong>der</strong> schriftlichen Prüfung ist nur ein einfacher<br />

Taschenrechner zugelassen. Da<strong>für</strong> spricht,<br />

dass neben dem erfor<strong>der</strong>lichen inhaltlichen<br />

Verständnis alle anfallenden Rechnungen bis<br />

auf die TR-Anwendung auf dem Papier<br />

durchgeführt werden müssen.<br />

(2) Luxus-Taschenrechner ohne Graphik: Es gibt<br />

mittlerweile TR ohne Graphik, die über viele<br />

hilfreiche numerische Routinen verfügen und<br />

wenig Geld kosten.<br />

(3) GTR: Neben <strong>der</strong> Graphik verfügen die Geräte<br />

wie in (2) über beachtliche numerische Algo-<br />

30<br />

rithmen.<br />

(4) CAS-Taschenrechner: Auch wenn <strong>der</strong> CAS-<br />

TR immer verfügbar ist, sollte bei <strong>der</strong> Konstruktion<br />

von Klausuren bedacht werden:<br />

Man könnte bei einem Teil <strong>der</strong> Aufgaben verlangen,<br />

dass alle Rechenschritte ausschließlich<br />

auf dem Papier erfolgen.<br />

(5) CAS im PC: Diese Variante ist in <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />

schulischen Situation eher die Ausnahme,<br />

da sie mit erheblichen organisatorischem<br />

Aufwand verbunden ist.<br />

Dazu noch drei Anmerkungen: Ein Problem <strong>für</strong><br />

Zentralprüfungen liegt darin, dass bei den Typen<br />

(1), (2) und (3) Abgrenzungen in Bezug auf die<br />

numerischen Fähigkeiten <strong>der</strong> Geräte schwer fallen.<br />

Die Varianten (2) bis (5) haben gegenüber<br />

Variante (1) den Charme, dass <strong>der</strong> Bereich möglicher<br />

Themen <strong>für</strong> Unterricht und Prüfung erheblich<br />

wächst. Die Verwendung von CAS im Unterricht<br />

– auch das muss man sehen – heißt zudem<br />

nicht notwendig, dass dann in <strong>der</strong> Klausur auch<br />

jeweils ein CAS-Rechner verfügbar sein müsste:<br />

Man könnte sich darauf beschränken, mögliche<br />

CAS-Anwendungen beschreiben zu lassen.<br />

Lediglich auf die konkrete Anwendung o<strong>der</strong> Exploration<br />

in <strong>der</strong> Klausur wäre in diesem Fall zu<br />

verzichten.<br />

Zusammengefasst: Der Einsatz neuer Technologien<br />

und ihre Vernetzung müsste zunehmen,<br />

weil <strong>der</strong> unterrichtliche Gewinn außer Zweifel<br />

steht – also beschleunigen. Neue Technologien<br />

sollten sinnvollerweise nur sehr begrenzt traditionelle<br />

Unterrichtsinhalte ausweiten – also bremsen.<br />

Wir müssen dringend an einer CAS-<strong>Didaktik</strong> arbeiten,<br />

um zu realistischen Vorstellungen in bezug<br />

auf Szenarios <strong>für</strong> zentrale Prüfungen zu kommen,<br />

wenn schon zentral geprüft wird.


• Überzeugungen von Studierenden zum Computereinsatz im<br />

<strong>Mathematik</strong>unterricht und <strong>der</strong>en Weiterentwicklung in einer<br />

Lehrveranstaltung<br />

Sebastian Kuntze und Christine Bescherer, Ludwigsburg<br />

Auf den Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht bezogene Überzeugungen und Fähigkeitsselbstkonzepte<br />

von Lehramtsstudierenden kommen als bedeutsame Einflussfaktoren auf die Computernutzung<br />

im späteren Unterricht <strong>der</strong> angehenden Lehrkräfte in Betracht. Aus diesem Grunde wurden<br />

in <strong>der</strong> vorliegenden Studie Befragungsinstrumente zu solchen Überzeugungen und Fähigkeitsselbstkonzepten<br />

eingesetzt. Untersucht wurden Zusammenhänge zwischen diesen Überzeugungen und<br />

Fähigkeitsselbstkonzepten sowie <strong>der</strong>en Entwicklung während fünf parallelisierter Kurse zum Computereinsatz<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht mit insgesamt über 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmern.<br />

Dabei stand auch die Evaluation des Befragungsinstruments mit im Vor<strong>der</strong>grund.<br />

1 Einführung<br />

Sowohl auf Lerngegenstände bezogene Fähigkeitsselbstkonzepte<br />

als auch auf diese Lerngegenstände<br />

gerichtete Überzeugungen können nachfolgende<br />

Wissensaufbauprozesse beeinflussen. Daher<br />

sind <strong>für</strong> die Nutzung von Lernangeboten zu<br />

Möglichkeiten des Computereinsatzes im <strong>Mathematik</strong>unterricht,<br />

wie sie im Rahmen von Lehrer(innen)bildung<br />

und -fortbildung gemacht werden,<br />

computernutzungsbezogene Überzeugungen<br />

und Fähigkeitsselbstkonzepte <strong>der</strong> Lernenden von<br />

Bedeutung.<br />

Aus diesem Grunde werden in dieser Studie<br />

<strong>der</strong>artige, auf den Einsatz von Rechnern im<br />

Unterricht bezogene Überzeugungen und computernutzungsbezogene<br />

Fähigkeitsselbstkonzepte<br />

untersucht. Die Ergebnisse geben auch Aufschluss<br />

über die Zusammenhangstruktur <strong>der</strong> betrachteten<br />

Konstrukte und über Entwicklungen computereinsatzbezogener<br />

Überzeugungen während einer<br />

Lehrveranstaltung zum Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />

Im Folgenden wird zunächst in den theoretischen<br />

Hintergrund <strong>der</strong> Studie eingeführt. Die<br />

sich daraus ergebenden Forschungsfragen und das<br />

Untersuchungsdesign werden anschließend vorgestellt,<br />

bevor Ergebnisse berichtet und diskutiert<br />

werden.<br />

2 Theoretischer Hintergrund<br />

Bei aller Vorsicht angesichts <strong>der</strong> Diversität<br />

von Ansätzen zum Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

können zentrale Ziele <strong>für</strong> die<br />

Lehrer(innen)aus- und -fortbildung in diesem Bereich<br />

darin gesehen werden, dass die angehenden<br />

o<strong>der</strong> praktizierenden Lehrkräfte<br />

⊲ möglichst gute Kenntnis von Möglichkeiten <strong>der</strong><br />

Schaffung von Lerngelegenheiten mit Softwarenutzung<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht haben und<br />

⊲ eine kritische, fachdidaktisch orientierte Perspektive<br />

auf die Gestaltung von computerbasierten<br />

Lerngelegenheiten und damit zusam-<br />

menhängenden curricularen Strukturen einnehmen<br />

können. Dazu ist es zweifellos sinnvoll,<br />

diesbezügliche fachdidaktische Ansätze zu kennen<br />

[vgl. z.B. Weigand & Weth, 2002; Heugl<br />

et al., 1996; Heugl, 2005; Peschek, 1999; Löthe,<br />

1992].<br />

Für den Wissensaufbau in diesem Bereich dürfte<br />

es eine Reihe auch spezifischer Bedingungsvariablen<br />

geben. Als mögliche Einflussfaktoren auf den<br />

Aufbau fachdidaktischen Wissens zum Computereinsatz<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht sind beispielsweise<br />

eigene Erfahrungen zum Computereinsatz<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht (aus Schüler(innen)o<strong>der</strong><br />

Lehrer(innen)perspektive), eigene Fähigkeiten<br />

und Erfahrungen im Umgang mit Computern<br />

sowie Fähigkeitsselbstkonzepte zum Umgang mit<br />

Computern zu zählen. Letztere dürften ihrerseits<br />

auch zum Aufbau unterschiedlicher Überzeugungen<br />

zum Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

beitragen können. Computereinsatzbezogenes<br />

Wissen und Überzeugungen können als bereichsspezifische<br />

Komponenten von pedagogical<br />

content knowledge bzw. pedagogical content beliefs<br />

[Shulman, 1986, 1987] eingeordnet werden<br />

und kommen als Kontextfaktoren <strong>für</strong> den Kompetenzaufbau<br />

bei Schülerinnen und Schülern in<br />

Frage [vgl. Unterrichtsmodell von Pekrun und<br />

Reiss in Reiss, 2005]. In dem Modell von Pekrun<br />

und Reiss werden als Kontextvariablen auf<br />

Seiten <strong>der</strong> Lehrkraft auch Überzeugungen und<br />

motivationale und damit selbstkonzeptbezogene<br />

Konstrukte mit berücksichtigt, zu denen die im<br />

Folgenden vorgestellten computereinsatzbezogenen<br />

Überzeugungen und computernutzungsspezifischen<br />

Fähigkeitsselbstkonzepte zählen.<br />

2.1 Überzeugungen von Lehrkräften zum<br />

Computereinsatz im<br />

<strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

Ein qualitätvoller Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

erfor<strong>der</strong>t fachdidaktisches Wissen<br />

und mit diesem Wissen korrespondierende un-<br />

31


Sebastian Kuntze und Christine Bescherer, Ludwigsburg<br />

terrichtsbezogene Überzeugungen. Eine Auswahl<br />

an Vorstellungen von <strong>Mathematik</strong>lehrkräften, die<br />

sich auf fachdidaktische Ansätze zum Computereinsatz<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht beziehen, wurden<br />

von Kuntze [2011] vorgestellt. An diese Studie<br />

schließt die vorliegende Untersuchung an. Folgende<br />

Aspekte erscheinen von Bedeutung [vgl.<br />

Kuntze, 2011]:<br />

Zu eher übergreifenden bzw. relativ unspezifischen<br />

Überzeugungen gehören die folgenden<br />

Aspekte:<br />

⊲ Inhaltsunspezifisches Motivationspotential des<br />

Computereinsatzes: Hierunter wird die Überzeugung<br />

verstanden, dass Computereinsatz inhaltsunspezifisch<br />

motivierend auf Lernende<br />

wirkt.<br />

⊲ Computereinsatz als beeinträchtigendes zusätzliches<br />

Hin<strong>der</strong>nis: Diese Überzeugung, nach <strong>der</strong><br />

Computereinsatz mathematikbezogenen Wissensaufbau<br />

beeinträchtigt und <strong>der</strong> Umgang mit<br />

dem Rechner Aufmerksamkeits- und Denkressourcen<br />

zu Lasten des mathematikbezogenen<br />

Wissensaufbaus bindet, kann in <strong>der</strong> „cognitive<br />

load theory” von Sweller [1994] verankert<br />

gesehen werden, nach <strong>der</strong> „extraneous cognitive<br />

load” möglichst vermieden werden sollte.<br />

Extraneous cognitive load kann beim Computereinsatz<br />

darin bestehen, dass die <strong>für</strong> das zu<br />

Erlernende in <strong>der</strong> Regel irrelevante Fähigkeit,<br />

ein Programm zu bedienen, erst erworben werden<br />

muss und so kognitive Ressourcen mit beansprucht.<br />

⊲ Positive Einstellung zum Computereinsatz vor<br />

dem Hintergrund eigenen Interesses am Experimentieren<br />

mit Software: Hierunter fällt<br />

die Überzeugung, Lernenden computergestützte<br />

Lerngelegenheiten zugänglich machen zu<br />

wollen, die man selbst als positiv erlebt hat, was<br />

mit <strong>der</strong> Be<strong>für</strong>wortung von Computereinsatz auf<br />

<strong>der</strong> Basis von Freude an <strong>der</strong> eigenen Beschäftigung<br />

mit <strong>Mathematik</strong>software korrespondieren<br />

kann.<br />

Überzeugungen mit stärkerem fachdidaktischen<br />

Bezug sind:<br />

⊲ Verständnisunterstützung durch Visualisierungsmöglichkeiten:<br />

Dies betrifft die Wahrnehmung<br />

von Möglichkeiten <strong>der</strong> verbesserten<br />

Verständnisunterstützung durch Visualisierung<br />

[vgl. Weigand & Weth, 2002].<br />

⊲ Lernpotential durch explorative Herangehensweisen:<br />

Hierbei ist die Wahrnehmung von<br />

Möglichkeiten gemeint, explorative und experimentelle<br />

Zugänge zu schaffen [vgl. z.B. Black-<br />

Box/White-Box-Vorgehen Heugl et al., 1996].<br />

⊲ För<strong>der</strong>ung des Lernens durch Navigation,<br />

Rückmeldungen und Hilfen: Dieser Überzeugungsbereich<br />

betrifft die Wahrnehmung, dass<br />

Rückmeldungen, Hilfen und Navigationsmög-<br />

32<br />

lichkeiten, wie sie in rechnergestützte Lernangebote<br />

integriert werden können, lernför<strong>der</strong>lich<br />

sind (Hintergrundüberlegungen z.B. bei Jacobs<br />

[2002]).<br />

⊲ Vorstellung entsprechend des Auslagerungsprinzips:<br />

Hier geht es um die Wahrnehmung<br />

von Vorteilen, entsprechend des Auslagerungsprinzips<br />

algorithmische Tätigkeiten und Prozeduren<br />

an Computerwerkzeuge auszulagern<br />

[vgl. Peschek, 1999].<br />

Überzeugungen, die sich auf fachdidaktisch relevante<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen an computergestützten <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

beziehen, sind beispielsweise:<br />

⊲ Notwendigkeit curricularer Än<strong>der</strong>ungen: Diese<br />

Überzeugung spiegelt entsprechende fachdidaktische<br />

For<strong>der</strong>ungen zum Computereinsatz<br />

wi<strong>der</strong> [z.B. Heugl, 2005; Heugl et al., 1996; Löthe,<br />

1992].<br />

⊲ Computereinsatz ohne inhaltliche Neuerungen:<br />

Dies betrifft die Sichtweise, dass Computereinsatz<br />

keine wesentlich an<strong>der</strong>sartigen Herangehensweisen<br />

und Inhalte im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

herbeiführen könne.<br />

Zu Überzeugungen bezüglich möglicher Auswirkungen<br />

spezifischer Formen des Computereinsatzes<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht gehören [vgl. Tönnies,<br />

1999]:<br />

⊲ Verlernen von Algebra-Wissen durch CAS-<br />

Einsatz: Dieser Aspekt betrifft die Ablehnung<br />

regelmäßigen CAS-Einsatzes aufgrund <strong>der</strong> Be<strong>für</strong>chtung,<br />

dass algorithmische Fähigkeiten etwa<br />

des algebraischen Umformens von Termen<br />

verlernt werden.<br />

⊲ Verlernen des Konstruierens von Hand durch<br />

DGS-Einsatz: Analog zum vorangegangenen<br />

Aspekt geht es hierbei um die Ablehnung eines<br />

regelmäßigen DGS-Einsatzes aufgrund <strong>der</strong><br />

Be<strong>für</strong>chtung, dass Fähigkeiten des Konstruierens<br />

von Hand bei den Lernenden beeinträchtigt<br />

werden.<br />

Nähere Erläuterungen zu den meisten <strong>der</strong> oben<br />

vorgestellten Aspekte finden sich in [Kuntze,<br />

2011]. Eine Erweiterung stellen die beiden letzteren<br />

Überzeugungsbeeiche dar.<br />

2.2 Selbstkonzepte zum Umgang mit<br />

Computern<br />

Fähigkeitsselbstkonzepte stellen bedeutsame Einflussgrößen<br />

auf nachfolgendes Lernen dar [Helmke<br />

& Weinert, 1997], was als Wirkungszusammenhang<br />

unter an<strong>der</strong>em mit einer erhöhten<br />

Frustrationstoleranz beim Lernen erklärt wird.<br />

Für Persönlichkeitsmerkmale in diesem Bereich<br />

gibt es verschiedene Begriffsprägungen (Selbstwirksamkeitserwartung,<br />

akademisches Selbstkonzept,<br />

Selbstwirksamkeit, Fähigkeitsselbstbil<strong>der</strong>,<br />

. . . [Bandura, 1977; Pekrun, 1983; Helmke &<br />

Weinert, 1997]), die hier im Wesentlichen synonym<br />

verwendet werden. Fähigkeitsselbstkonzep-


Überzeugungen von Studierenden zum Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

te können bereichsspezifisch ausgeprägt sein. Gerade<br />

bereichsspezifische Fähigkeitsselbstkonzepte<br />

haben sich als beson<strong>der</strong>s prädiktiv <strong>für</strong> Lernleistungen<br />

herausgestellt [Helmke & Weinert, 1997].<br />

Nicht zuletzt aus diesen Gründen wurden Fähigkeitsselbstkonzepte<br />

zum Umgang mit Computern<br />

bereits in vielen Studien untersucht [Cassidy<br />

& Eachus, 2002; Kohlmann et al., 2005; Barbeite<br />

& Weiss, 2004; Compeau & Higgins, 1995; Delcourt<br />

& Kinzie, 1991; Karsten & Roth, 1998; Miura,<br />

1987; Potosky, 2002; Murphy et al., 1989;<br />

Loyd & Gressard, 1984; Webster & Martocchio,<br />

1992; Spannagel & Bescherer, <strong>2009</strong>; Bescherer &<br />

Spannagel, i.V.]. Cassidy & Eachus [2002] rechnen<br />

bei ihrem Erhebungsinstrument unter an<strong>der</strong>em<br />

die folgenden Aspekte zur Selbstwirksamkeitserwartung<br />

bezüglich des Umgangs mit Computern<br />

(„CUSE – Computer use self efficacy“),<br />

die teilweise auch über reine Fähigkeitsselbstkonzepte<br />

hinauszugehen scheinen (vgl. die Kritik von<br />

Kohlmann et al. [2005]):<br />

⊲ Überzeugung von eigenen Fähigkeiten im Umgang<br />

mit Computern<br />

⊲ Wahrnehmung <strong>der</strong> Abwesenheit von Hürden<br />

dem Umgang mit Computern gegenüber<br />

⊲ Emotionale Aspekte wie Spaß, Freiheit von<br />

Angst o<strong>der</strong> Frust beim Umgang mit Computern<br />

⊲ Überzeugung, dass Computer Lernprozesse unterstützen<br />

können<br />

Das Fragebogeninstrument von Cassidy & Eachus<br />

[2002] wurde übersetzt und leicht abgeän<strong>der</strong>t<br />

[Spannagel & Bescherer, <strong>2009</strong>; Bescherer &<br />

Spannagel, i.V., CUSE-D] und stand <strong>für</strong> diese Studie<br />

zur Verfügung.<br />

Ein weiterer Aspekt von Selbstkonzepten im<br />

Zusammenhang mit <strong>der</strong> Nutzung von Computern,<br />

<strong>der</strong> bereits in einigen Studien untersucht worden<br />

ist, ist die so genannte Cognitive Playfulness<br />

[Webster & Martocchio, 1992; Dunn, 2004]. Dieses<br />

Selbstkonzept betrifft die Sicht des eigenen<br />

Umgangs mit Computern als spontan, kreativ, verspielt<br />

o<strong>der</strong> erfin<strong>der</strong>isch, d.h. gibt wie<strong>der</strong>, wie spielerisch<br />

Lernende ihren eigen Umgang mit dem<br />

Computer sehen [Bescherer & Spannagel, i.V.].<br />

2.3 Eigene Erfahrungen von Studierenden<br />

zum Computereinsatz im<br />

<strong>Mathematik</strong>unterricht aus <strong>der</strong><br />

Schülerperspektive<br />

Eigene Erfahrungen mit Computereinsatz im<br />

<strong>Mathematik</strong>unterricht könnten bei <strong>der</strong> Entstehung<br />

von Überzeugungen zum Computereinsatz<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht eine wesentliche Rolle<br />

spielen. Von Interesse sind daher beispielsweise<br />

die eigene Wahrnehmung o<strong>der</strong> Erfahrungen<br />

mit „gutem“ o<strong>der</strong> „schlechtem“ Computereinsatz<br />

in Unterrichtssituationen, die Studierende<br />

aus <strong>der</strong> Schülerperspektive o<strong>der</strong> auch aus <strong>der</strong> Lehrerperspektive<br />

erlebt haben. Insbeson<strong>der</strong>e Vorstel-<br />

lungen zur Qualität solcher Unterrichtssituationen<br />

könnten eine wesentliche Rolle <strong>für</strong> die in<br />

2.1 angesprochenen Überzeugungsbereiche spielen.<br />

Darüber hinaus können auch Erfahrungen<br />

mit mathematikunterrichtsrelevanter Software innnerhalb<br />

o<strong>der</strong> außerhalb von Unterrichtssituationen<br />

Überzeugungen zum Computereinsatz mitprägen.<br />

Derartige Merkmale sollten in entsprechenden<br />

Untersuchungen mit einbezogen werden,<br />

wobei sich aufgrund des Forschungsstandes eine<br />

teilweise explorative Herangehensweise empfiehlt.<br />

3 Forschungsfragen<br />

Die folgenden Forschungsfragen stehen vor dem<br />

Hintergrund <strong>der</strong> angestellten Überlegungen im<br />

Mittelpunkt:<br />

1. Können die untersuchten computerbezogenen<br />

Überzeugungen und Selbstkonzepte mit dem<br />

Fragebogeninstrument reliabel erhoben werden?<br />

2. Welche auf den Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

bezogenen Überzeugungen haben<br />

die untersuchten Lehramtsstudierenden?<br />

3. Welche computerbezogenen Selbstkonzepte<br />

haben die untersuchten Lehramtsstudierenden?<br />

4. Gibt es Zusammenhänge zwischen den erhobenen<br />

computerbezogenen Selbstkonzepten und<br />

Überzeugungen zum Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht?<br />

5. Von welchen Erfahrungen mit als positiv empfundenen<br />

Situationen des Computereinsatzes<br />

in ihrer Schulzeit können die Studierenden berichten?<br />

6. Können bei den Teilnehmenden einer fachdidaktisch<br />

orientierten Lehrveranstaltung Entwicklungen<br />

in den Überzeugungen zum Computereinsatz<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht beobachtet<br />

werden?<br />

4 Untersuchungsdesign<br />

Die Datenbasis dieser Untersuchung bezieht sich<br />

auf eine Befragung von Lehramtsstudierenden vor<br />

Beginn und am Ende von fünf inhaltlich parallelisierten<br />

Seminaren zum Thema „Computereinsatz<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht“ im Sommersemester<br />

<strong>2008</strong>. Eines dieser Seminare fand an <strong>der</strong> LMU<br />

München und vier an <strong>der</strong> PH Ludwigsburg statt.<br />

Befragt wurden insgesamt N = 73 Lehramtsstudierende<br />

(55 Studentinnen und 18 Studenten),<br />

davon 58 Realschullehramtsstudierende, 13<br />

Grund- und Hauptschullehramtsstudierende und<br />

2 Studierende <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>pädagogik. Das mittlere<br />

Alter <strong>der</strong> Teilnehmenden betrug 24,25 Jahre<br />

(SD = 4,59), die mittlere Semesteranzahl 4,78 Semester<br />

(SD = 1,25). Da bereits in <strong>der</strong> Vorläuferstudie<br />

[Kuntze, 2011] eine Vergleichsgruppenuntersuchung<br />

umgesetzt worden war und im Hinblick<br />

auf die hier verfolgten Forschungsinteres-<br />

33


Sebastian Kuntze und Christine Bescherer, Ludwigsburg<br />

sen, die in erster Linie auf Zusammenhänge zwischen<br />

Konstrukten fokussieren, wurde auf eine<br />

Non-Treatment-Kontrollgruppe verzichtet.<br />

Das Befragungsinstrument bestand in einem<br />

Paper-and-Pencil-Fragebogen mit offenen und geschlossenen<br />

Items. Einem Teil <strong>der</strong> Studierenden<br />

wurde am Ende <strong>der</strong> Veranstaltung ein zweiter Fragebogen<br />

vorgelegt. 36 Studierende beantworteten<br />

beide Fragebögen.<br />

Der Fragebogen zu Beginn <strong>der</strong> Veranstaltung<br />

enthielt die folgenden Teile:<br />

⊲ Offene Items zu Situationen mit „gutem“ und<br />

„schlechtem“ Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

<strong>der</strong> eigenen Schulzeit<br />

⊲ Standardisierte Items zu Überzeugungen hinsichtlich<br />

des Computereinsatzes im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

[Kuntze, 2011]<br />

⊲ Standardisierte Items zur computernutzungsbezogenen<br />

Selbstwirksamkeitserwartung [Spannagel<br />

& Bescherer, <strong>2009</strong>, CUSE-D]<br />

⊲ Standardisierte Items zur Cognitive Playfulness<br />

[Bescherer & Spannagel, i.V.]<br />

⊲ Items zu persönlichen Daten und zu eigenen Erfahrungen<br />

mit Computern/Software<br />

Der Fragebogen am Ende <strong>der</strong> Veranstaltung enthielt<br />

die folgenden Teile:<br />

⊲ Standardisierte Items zu Überzeugungen hinsichtlich<br />

des Computereinsatzes im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

[Kuntze, 2011]<br />

⊲ Offene Items zu Lernfortschritten und Feedback<br />

Beispielitems zu den Skalen <strong>der</strong> Multiple-<br />

Choice-Fragebogen-Teile finden sich in den Tabellen<br />

7.1 und 7.2.<br />

5 Ergebnisse<br />

Im Folgenden werden Ergebnisse <strong>der</strong> Studie geglie<strong>der</strong>t<br />

nach den Forschungsfragen zusammengefasst.<br />

5.1 Auswertungen zum<br />

Fragebogeninstrument<br />

Entsprechend <strong>der</strong> ersten Forschungsfrage wurde<br />

<strong>für</strong> die standardisierten Fragebogenteile die Reliabilität<br />

<strong>der</strong> betrachteten Skalen untersucht. In<br />

Tab. 7.1 sind die Reliabilitätswerte <strong>der</strong> Überzeugungsskalen<br />

<strong>für</strong> die beiden Befragungszeitpunkte<br />

dargestellt. Im Vergleich zur Vorgängerstudie<br />

[Kuntze, 2011] konnten die guten bis ausreichenden<br />

Reliabilitäten repliziert und teils verbessert<br />

werden. Ähnlich wie in <strong>der</strong> Vorläuferstudie gelang<br />

es nicht, die Skala „keine inhaltlichen Neuerungen<br />

durch Computereinsatz (CKN)“ zu beiden Befragungszeitpunkten<br />

reliabel zu operationalisieren.<br />

Die in Tab. 7.2 wie<strong>der</strong>gegebenen Reliabilitätswerte<br />

<strong>der</strong> CUSE-D-Skala sowie <strong>der</strong> Cognitive<br />

Playfulness sind befriedigend. Eine ergänzende<br />

Faktorenanalyse <strong>für</strong> die CUSE-D-Items, die<br />

den in 2.2 genannten Aspekten zugeordnet wer-<br />

34<br />

den können, bestätigt die Möglichkeit, Subskalen<br />

zu betrachten, <strong>der</strong>en gute Reliabilitätswerte ebenfalls<br />

in Tab. 7.2 aufgeführt sind. Aus diesem Grunde<br />

und im Sinne einer differenzierten Betrachtung<br />

werden zusätzlich zur etablierten CUSE-D-Skala<br />

die vier in Tab. 7.1 genannten Subskalen ausgewertet.<br />

5.2 Überzeugungen zum Computereinsatz<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht – deskriptive<br />

Ergebnisse<br />

Tab. 7.1 zeigt die Skalenmittelwerte <strong>der</strong> computereinsatzbezogenen<br />

Überzeugungen.<br />

Mit Ausnahme <strong>der</strong> im Mittel positiven Einschätzungen<br />

zu den Skalen „explorative Herangehensweisen<br />

(CEX)“ und „Verständnisunterstützung<br />

durch Visualisierungsmöglichkeiten (CVI)“<br />

zeigen sich durchschnittliche Einschätzungen nahe<br />

<strong>der</strong> jeweiligen Skalenmitte. Insbeson<strong>der</strong>e dürften<br />

die Werte bei den neu hinzugenommenen Skalen<br />

„Verlernen von Algebra-Wissen durch CAS-<br />

Einsatz (CVA)“ und „Verlernen des Konstruierens<br />

von Hand durch DGS-Einsatz (CVG)“ auf vorhandene<br />

Be<strong>für</strong>chtungen <strong>der</strong> Studierenden zum Verlernen<br />

von Grundfähigkeiten hindeuten.<br />

5.3 Computernutzungsbezogene<br />

Selbstkonzepte – deskriptive Ergebnisse<br />

In Tab. 7.5 sind die Skalenmittelwerte <strong>der</strong> betrachteten<br />

Selbstkonzepte inklusive <strong>der</strong> CUSE-<br />

D-Subskalen dargestellt. Die Fähigkeitsselbstkonzeptmittelwerte<br />

fielen eher positiv aus, <strong>der</strong> Umgang<br />

mit Computern wurde im Mittel als eher<br />

nicht verwirrend gesehen. Negative Emotionen<br />

beim Umgang mit Computern waren im Mittel<br />

eher gering ausgeprägt. Die mittlere Einschätzung<br />

zur Subskala „Lernunterstützung durch den Computer“<br />

war demgegenüber positiv.<br />

Die mittlere Einschätzung <strong>der</strong> eigenen Cognitive<br />

Playfulness wies einen mo<strong>der</strong>at zustimmenden<br />

Wert auf, was den Erwartungen entspricht.<br />

5.4 Zusammenhänge zwischen den<br />

erhobenen Konstrukten<br />

Um Zusammenhänge zwischen den betrachteten<br />

Skalen zu untersuchen wurden Korrelationen berechnet<br />

(vgl. Tab. 7.5). Bei den auf den Computereinsatz<br />

bezogenen Überzeugungen konnten<br />

Ergebnisse zu Zusammenhängen repliziert werden,<br />

die sich in <strong>der</strong> Vorläuferstudie gezeigt hatten.<br />

So hingen bestimmte Skalen stärker mit an<strong>der</strong>en<br />

Skalen zusammen, wie etwa „Computereinsatz<br />

beeinträchtigendes zusätzliches Hin<strong>der</strong>nis<br />

(CHI)“ o<strong>der</strong> „Computereinsatz und positive Innovationseinstellung<br />

(CIN)“. Skalen wie „Auslagerungsprinzip<br />

(CAU)“ und „Computereinsatz und<br />

Notwendigkeit curricularer Än<strong>der</strong>ungen (CCU)“<br />

zeigten nur relativ wenige signifikante Zusammenhänge<br />

mit an<strong>der</strong>en Skalen, was eine stärke-


Überzeugungen von Studierenden zum Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

Skala Beispielitem Anzahl Cronb. α Cronb. α<br />

Items 1. Befr. 2. Befr.<br />

CMO Computereinsatz<br />

inhaltsunspezifisch<br />

motivierend<br />

CHI Computereinsatz<br />

beeinträchtigendes<br />

zusätzliches Hin<strong>der</strong>nis<br />

CIN Computereinsatz und<br />

positive<br />

Innovationseinstellung<br />

Unabhängig vom Thema wirkt Computereinsatz auf<br />

Schüler(innen) im Vergleich zum Normalunterricht<br />

immer motivierend.<br />

Das Einarbeiten in eine computergestützte<br />

Lernumgebung kostet die Schüler(innen) so viel<br />

Aufmerksamkeit, dass das <strong>Mathematik</strong>-Lernen<br />

behin<strong>der</strong>t wird.<br />

Weil mir die Arbeit mit Computerprogrammen <strong>für</strong><br />

den <strong>Mathematik</strong>unterricht selbst Spaß macht,<br />

möchte ich auch meinen Schüler(innen) in<br />

<strong>Mathematik</strong> Lernerlebnisse am Computer bieten.<br />

CAU Auslagerungsprinzip Weil algorithmische Verfahren nicht „zu Fuß“<br />

ausgeführt werden müssen, können sich<br />

Schüler(innen) bei <strong>der</strong> Nutzung geeigneter<br />

Programme voll auf die Kerngedanken einer<br />

Problemlösung einlassen.<br />

CEX Explorative<br />

Herangehensweisen<br />

CVI Verständnisunterstützung<br />

durch Visualisierungsmöglichkeiten<br />

CMV För<strong>der</strong>ung des Lernens<br />

durch Navigation,<br />

Rückmeldungen und<br />

Hilfen<br />

CCU Computereinsatz und<br />

Notwendigkeit<br />

curricularer Än<strong>der</strong>ungen<br />

CKN keine inhaltlichen<br />

Neuerungen durch<br />

Computereinsatz<br />

CVA Verlernen von<br />

Algebra-Wissen durch<br />

CAS-Einsatz<br />

CVG Verlernen des<br />

Konstruierens von Hand<br />

durch DGS-Einsatz<br />

Am Computereinsatz schätze ich, dass die<br />

Schüler(innen) selbst mit mathematischen Inhalten<br />

experimentieren und sich so mathematische<br />

Lerninhalte erarbeiten können.<br />

Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht bringt<br />

Visualisierungsmöglichkeiten, die bei den<br />

Schüler(innen) zu einem verbesserten Verständnis<br />

<strong>der</strong> Lerninhalte führen.<br />

In computergestützten Lernumgebungen helfen<br />

Rückmeldungen, Navigation und Hilfe-Funktionen<br />

den Schüler(innen) dabei, besser zu lernen.<br />

Computereinsatz im Fach <strong>Mathematik</strong> erfor<strong>der</strong>t<br />

verän<strong>der</strong>te Lerninhalte, verän<strong>der</strong>te Lernziele,<br />

verän<strong>der</strong>te Aufgabenstellungen.<br />

<strong>Mathematik</strong>unterricht folgt mit o<strong>der</strong> ohne<br />

Computereinsatz letztlich dem gleichen<br />

Gedankenweg.<br />

Computeralgebrasysteme (CAS) würde ich nicht<br />

regelmäßig einsetzen, weil die Gefahr besteht, dass<br />

Schüler(innen) algebraische Umformungen<br />

verlernen.<br />

Man sollte Geometrieprogramme lieber nur selten<br />

einsetzen, damit die Schüler(innen) das Konstruieren<br />

von Hand nicht verlernen.<br />

4 0,86 0,79<br />

4 0,79 0,58<br />

3 0,89 0,88<br />

4 0,66 0,66<br />

5 0,75 0,81<br />

3 0,77 0,72<br />

4 0,70 0,70<br />

2 0,77 0,86<br />

2 (0,03) 0,60<br />

2 0,75 0,71<br />

2 0,82 0,68<br />

Tabelle 7.1: Überblick über in die Untersuchung einbezogene Skalen und Reliabilitätswerte<br />

re empirische Unabhängigkeit von den an<strong>der</strong>en<br />

Überzeugungskonstrukten impliziert. Signifikante<br />

erwartungswidrige Korrelationen konnten nicht<br />

beobachtet werden.<br />

Die Korrelationen bei den Selbstkonzept-<br />

Skalen fielen im Großen und Ganzen etwas stärker<br />

aus als bei den computereinsatzbezogenen Überzeugungen,<br />

die vergleichsweise mo<strong>der</strong>aten Größenordnungen<br />

einiger <strong>der</strong> Zusammenhänge sprechen<br />

jedoch da<strong>für</strong>, die Subskalen voneinan<strong>der</strong> getrennt<br />

auszuwerten. Die hoch mit dem CUSE-<br />

D-Wert korrelierende Skala „computerbezogenes<br />

Fähigkeitsselbstkonzept“ könnte diese Gesamtskala<br />

in Folgestudien ersetzen. Die Korrelation<br />

zwischen <strong>der</strong> CUSE-D-Skala und <strong>der</strong> Cognitive<br />

Playfulness betrug r = 0,47 (zweiseitig signifikant<br />

mit p < 0,001).<br />

Von beson<strong>der</strong>em Interesse waren Zusammen-<br />

hänge zwischen computereinsatzbezogenen Überzeugungen<br />

einerseits und Selbstkonzept-Skalen<br />

an<strong>der</strong>erseits. Hier (vgl. Tab. 7.6) zeigen sich deutliche<br />

Zusammenhänge vor allem <strong>der</strong> Überzeugungsskalen<br />

„Computereinsatz inhaltsunspezifisch<br />

motivierend (CMO)“, „Computereinsatz und<br />

positive Innovationseinstellung (CIN)“ und „Verständnisunterstützung<br />

durch Visualisierungsmöglichkeiten<br />

(CVI)“ mit computerbezogener Selbstwirksamkeitserwartung<br />

(CUSE-D), „computerbezogenem<br />

Fähigkeitsselbstkonzept“ und „negativen<br />

Emotionen zur Computernutzung“. Durchgängige<br />

signifikante Korrelationen mit allen Überzeugungsskalen<br />

ergeben sich <strong>für</strong> „Lernunterstützung<br />

durch den Computer“. Die Cognitive Playfulness<br />

korreliert demgegenüber mit keiner <strong>der</strong><br />

Überzeugungsskalen signifikant.<br />

35


Sebastian Kuntze und Christine Bescherer, Ludwigsburg<br />

Skala Beispielitem Anzahl Cronb. α<br />

CUSE-D: computerbezogene Selbstwirksamkeitserwartung<br />

[Cassidy & Eachus, 2002;<br />

Bescherer & Spannagel, i.V.]<br />

⊲ Subskala<br />

„computerbezogenes Fähigkeitsselbstkonzept“<br />

(s.u.: Beispielitems <strong>der</strong> Subskalen) 30 0,96<br />

Ich halte mich selbst <strong>für</strong> einen geschickten Computernutzer<br />

Ich bin sehr unsicher über meine Fähigkeiten im Umgang<br />

mit Computern. +<br />

⊲ Subskala „Computer verwirrend“ Hin und wie<strong>der</strong> finde ich das Arbeiten mit Computern<br />

sehr verwirrend.<br />

Ich finde es schwierig, Computer dazu zu bringen,<br />

das zu tun, was ich von ihnen will.<br />

⊲ Subskala<br />

„negative Emotionen zur Computernutzung“<br />

⊲Subskala<br />

„Lernunterstützung durch den Computer“<br />

Cognitive Playfulness im Umgang mit dem Computer<br />

[Webster & Martocchio, 1992; Bescherer &<br />

Spannagel, i.V.]<br />

+ : umzupolendes Item<br />

Ich finde das Arbeiten mit Computern sehr frustrierend.<br />

Beim Arbeiten mit Computern habe ich Spaß. +<br />

Computer sind gute Hilfsmittel beim Lernen.<br />

Ich finde, dass Computer beim Lernen behin<strong>der</strong>n. +<br />

[Selbsteinschätzung des Umgangs mit Computern als<br />

„spontan“, „kreativ“, „verspielt“, „erfin<strong>der</strong>isch“, etc.]<br />

8 0,94<br />

3 0,89<br />

5 0,90<br />

4 0,89<br />

7 0,85<br />

Tabelle 7.2: Überblick über in die Untersuchung einbezogene Skalen und Reliabilitätswerte (CUSE-D und<br />

Subskalen; Cognitive Playfulness im Umgang mit dem Computer).<br />

Betrachtete Überzeugung Mittelwert Standardabweichung<br />

CMO Inhaltsunspezifisch motivierend 2,68 0,63<br />

CHI Computereinsatz als zusätzliches Hin<strong>der</strong>nis 2,28 0,69<br />

CIN Computereinsatz und pos. Innovationseinstellung 2,51 0,82<br />

CEX Explorative Herangehensweisen 3,14 0,49<br />

CVI Verständnisunterstützung durch Visualisierungsmöglichkeiten 3,12 0,55<br />

CMV För<strong>der</strong>ung des Lernens durch Navigation, Rückmeldungen und Hilfen 2,58 0,51<br />

CAU Auslagerungsprinzip 2,65 0,48<br />

CCU Computereinsatz und Notwendigkeit curricularer Än<strong>der</strong>ungen 2,38 0,77<br />

CVA Verlernen von Algebra-Wissen durch CAS-Einsatz 2,72 0,70<br />

CVG Verlernen des Konstruierens von Hand durch DGS-Einsatz 2,50 0,85<br />

Jeweils vierstufige Likert-Skala (4: stimmt genau; 1: stimmt gar nicht)<br />

Tabelle 7.3: Ausprägungen <strong>der</strong> betrachteten Überzeugungen zum Computereinsatz (N = 73)<br />

Selbstkonzept Mittelwert Standardabweichung<br />

CUSE-D: computerbezogene Selbstwirksamkeitserwartung 4,33 0,90<br />

Subskala „computerbezogenes Fähigkeitsselbstkonzept“ 4,03 1,21<br />

Subskala „Computer verwirrend“ 2,48 1,07<br />

Subskala „negative Emotionen zur Computernutzung“ 2,00 0,99<br />

Subskala „Lernunterstützung durch den Computer“ 4,36 1,10<br />

Cognitive Playfulness im Umgang mit dem Computer 0,60 0,19<br />

CUSE-D und Subskalen: sechsstufige Likert-Skala (6: trifft völlig zu; 1: trifft überhaupt nicht zu)<br />

Cognitive Playfulness: 1: Hohe (maximale) Ausprägung; 0: geringe (minimale) Ausprägung<br />

36<br />

Tabelle 7.4: Ausprägungen <strong>der</strong> betrachteten Selbstkonzepte (N = 73).


Überzeugungen von Studierenden zum Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

Korr. (Pearson) CHI CIN CVI CMV CEX CAU CCU CVA CVG<br />

CMO -0,26 ∗ 0,19 0,34 ∗∗ 0,40 ∗∗∗ 0,30 ∗ 0,31 ∗∗ -0,10 0,00 -0,04<br />

CHI -0,47 ∗∗∗ -0,48 ∗∗∗ -0,51 ∗∗∗ -0,38 ∗∗∗ -0,07 0,54 ∗∗∗ 0,38 ∗∗∗ 0,54 ∗∗∗<br />

CIN 0,54 ∗∗∗ 0,47 ∗∗∗ 0,39 ∗∗∗ 0,23 -0,15 -0,22 -0,41 ∗∗∗<br />

CVI 0,68 ∗∗∗ 0,50 ∗∗∗ 0,42 ∗∗∗ -0,08 -0,13 -0,48 ∗∗∗<br />

CMV 0,53 ∗∗∗ 0,21 -0,28 ∗ -0,01 -0,34 ∗∗<br />

CEX 0,19 -0,24 ∗ -0,18 -0,38 ∗∗∗<br />

CAU 0,13 -0,06 -0,14<br />

CCU 0,13 0,22<br />

CVA 0,38 ∗∗∗<br />

∗ Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,05 (2-seitig) signifikant.<br />

∗∗ Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.<br />

∗∗∗ Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,001 (2-seitig) signifikant.<br />

Tabelle 7.5: Korrelationen zwischen Überzeugungen zum Computereinsatz<br />

(listenweiser Fallausschluss, N = 73)<br />

Korr. (Pearson) CMO CHI CIN CVI CMV CEX CAU CCU CVA CVG<br />

CUSE-D 0,35 ∗∗ -0,35 ∗∗ 0,63 ∗∗∗ 0,47 ∗∗∗ 0,18 0,43 ∗∗∗ 0,25 ∗ -0,14 -0,11 -0,28 ∗<br />

Subskala<br />

„computer-bez.<br />

Fähigkeitsselbstkonzept“<br />

Subskala<br />

„Computer<br />

verwirrend“<br />

Subskala<br />

„negative<br />

Emotionen zur<br />

Computernutzung“<br />

Subskala<br />

„Lernunterstützung<br />

durch<br />

Computer“<br />

Cognitive<br />

Playfulness<br />

0,27 ∗ -0,17 0,52 ∗∗∗ 0,41 ∗∗∗ 0,11 0,38 ∗∗∗ 0,23 -0,02 -0,02 -0,13<br />

-0,19 0,26 ∗ -0,45 ∗∗∗ -0,26 ∗ 0,00 -0,22 -0,13 0,08 0,13 0,18<br />

-0,38 ∗∗∗ 0,28 ∗ -0,48 ∗∗∗ -0,32 ∗∗ -0,04 -0,31 ∗∗ -0,16 0,12 0,05 0,15<br />

0,38 ∗∗∗ -0,58 ∗∗∗ 0,60 ∗∗∗ 0,60 ∗∗∗ 0,52 ∗∗∗ 0,51 ∗∗∗ 0,29 -0,30 -0,36 ∗∗ -0,53 ∗∗∗<br />

0,21 -0,12 0,21 0,11 -0,09 0,12 0,05 -0,06 0,12 0,00<br />

Tabelle 7.6: Korrelationen zwischen Überzeugungen zum Computereinsatz und Selbstkonzepten<br />

5.5 Berichtete eigene positive Erfahrungen<br />

mit Computereinsatz im<br />

<strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

(Schüler(innen)perspektive)<br />

Erste Auswertungsergebnisse zu dem offenen<br />

Item bezüglich eigener positiver Erfahrungen mit<br />

Situationen des Computereinsatzes während <strong>der</strong><br />

eigenen Schulzeit sind in Tab. 7.7 zusammengefasst.<br />

Es zeigt sich, dass die übergroße Mehrheit<br />

<strong>der</strong> Studierenden von überhaupt keiner Situation<br />

des Computereinsatzes im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

während <strong>der</strong> gesamten eigenen Schulzeit zu berichten<br />

weiß.<br />

5.6 Entwicklungen bei Überzeugungen zum<br />

Computereinsatz im<br />

<strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

In Abb. 7.1 ist <strong>der</strong> Vergleich zwischen den beiden<br />

Befragungszeitpunkten dargestellt, <strong>der</strong> sich<br />

auf die 36 Studierenden bezieht, bei denen Fragebogendaten<br />

zu beiden Befragungszeitpunkten vorlagen.<br />

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Befunde<br />

<strong>der</strong> Vorläuferstudie [Kuntze, 2011] repliziert<br />

werden konnten. Die gleichen Skalen weisen<br />

signifikant positive Entwicklungen in <strong>der</strong> Größenordnung<br />

mittlerer bis starker Effekte auf. Zusätzlich<br />

sind auch <strong>für</strong> weitere (insbeson<strong>der</strong>s fachdidaktisch<br />

relevante) Skalen signifikante Entwicklungen<br />

zu beobachten. Zu nennen ist hier bei-<br />

37


Sebastian Kuntze und Christine Bescherer, Ludwigsburg<br />

spielsweise die Skala „Computereinsatz und Notwendigkeit<br />

curricularer Än<strong>der</strong>ungen (CCU)“.<br />

Code Anzahl<br />

Kein Vorkommen von Computerein- 48<br />

satz im selbst erlebten <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

Keine Antwort 9<br />

Computereinsatz im weitesten Sin- 9<br />

ne angesprochen ohne Beschreibung<br />

<strong>der</strong> wahrgenommenen Qualität<br />

Beispiel <strong>für</strong> „guten“ Computerein- 7<br />

satz genannt<br />

Tabelle 7.7: Antworten zur offenen Frage „Schil<strong>der</strong>n<br />

Sie bitte kurz eine Situation mit ‚gutem‘<br />

Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht – mit<br />

Begründung.“<br />

6 Diskussion<br />

Insgesamt konnten die untersuchten Konstrukte<br />

mit den Fragebogenskalen mit einer Ausnahme<br />

reliabel operationalisiert werden. Insofern zeigte<br />

sich im Anschluss an die Ergebnisse <strong>der</strong> Vorgängerstudie<br />

[Kuntze, 2011], dass mit dem Fragebogen<br />

offenbar ein brauchbares Erhebungsinstrument<br />

vorliegt.<br />

Im vorangehenden Abschnitt wurden Ergebnisse<br />

zu den weiteren Forschungsfragen dargestellt.<br />

In den Bereichen, in denen diese Untersuchung<br />

Erhebungen <strong>der</strong> Vorläuferstudie [Kuntze,<br />

2011] wie<strong>der</strong>holte, konnten <strong>der</strong>en Ergebnisse<br />

im Wesentlichen repliziert werden. Dies ist insbeson<strong>der</strong>e<br />

insofern von Interesse, als die Befunde<br />

sich hier auf eine deutlich größere Stichprobe<br />

beziehen. Außerdem erlaubt diese Erhebung<br />

aufgrund ihrer universitätsstandortübertreifenden<br />

Anlage und vor dem Hintergrund des Umstands,<br />

dass die Lehrveranstaltung nicht mit <strong>der</strong> <strong>der</strong> Vorläuferstudie<br />

identisch war, vorsichtige Generalisierungen.<br />

Eine Anschlussfrage in diesen Zusammenhang<br />

ist, welche einzelnen Gestaltungsmerkmale<br />

von Lehrveranstaltungen <strong>für</strong> die beobachteten<br />

Verän<strong>der</strong>ungen in den Überzeugungen <strong>der</strong><br />

Studierenden verantwortlich sind. Außerdem wäre<br />

es interessant zu untersuchen, ob nicht auch<br />

an<strong>der</strong>e Überzeugungen, wie etwa Be<strong>für</strong>chtungen<br />

des Verlernens von Basiskompetenzen im Falle<br />

regelmäßigen Computereinsatzes beeinflusst werden<br />

könnten.<br />

Ein im Vergleich zur Vorgängeruntersuchung<br />

neues Element war die Untersuchung von computernutzungsbezogenen<br />

Selbstkonzepten <strong>der</strong> Studierenden.<br />

Hier konnten Zusammenhänge aufgedeckt<br />

werden, die da<strong>für</strong> sprechen, dass Lernende<br />

mit stärkerem Fähigkeitsselbstbild und insbeson<strong>der</strong>e<br />

höheren Erwartungen an die Lernunterstüt-<br />

38<br />

zung durch Formen <strong>der</strong> Rechnernutzung im Mittel<br />

auch positivere Einschätzungen zum Computereinsatz<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht zeigten. Angesichts<br />

weitgehend fehlen<strong>der</strong> Vorerfahrungen aus<br />

<strong>der</strong> eigenen Schulzeit könnte dieser Zusammenhang<br />

auf eine Generalisierung eigener Erfahrungen<br />

<strong>der</strong> Studierenden mit dem Computer auf Unterrichtssituationen<br />

mit Computereinsatz zurückzuführen<br />

sein. För<strong>der</strong>konzepte <strong>für</strong> fachdidaktisches<br />

Wissen und Überzeugungen zum Computereinsatz<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht könnten also<br />

mit einem vorangehenden Ermöglichen positiver<br />

eigener Erfahrungen <strong>der</strong> Studierenden mit geeigneter<br />

Software ansetzen, um den nachfolgenden<br />

Wissensaufbau bzw. die nachfolgende Entwicklung<br />

entsprechen<strong>der</strong> Überzeugungen zu unterstützen.<br />

Anschlussfragen zu dieser Studie ergeben sich<br />

insbeson<strong>der</strong>e auch im Hinblick auf praktizierende<br />

<strong>Mathematik</strong>lehrkräfte. Neben Vergleichen mit<br />

entsprechenden Überzeugungen von Lehramtsstudierenden<br />

ist auch von Interesse, wie Schülerinnen<br />

und Schüler <strong>der</strong> jeweiligen Lehrkräfte Art und<br />

Umfang des Computereinsatzes im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

wahrnehmen.<br />

Literatur<br />

Bandura, Albert (1977): Self-efficacy: Toward a unifying theory<br />

of behavioral change. Psychological Review, 84, 191–215.<br />

Barbeite, Francisco G. & Elizabeth M. Weiss (2004): Computer<br />

self-efficacy and anxiety scales for an Internet sample:<br />

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of new scales. Computers in Human Behavior, 20,<br />

1–15.<br />

Bescherer, Christine & Christian Spannagel (i.V.): Computerbezogene<br />

Selbstwirksamkeitserwartung und Cognitive Playfulness.<br />

Notes on Educational Informatics – Section A: Concepts<br />

and Techniques.<br />

Cassidy, Simon & Peter Eachus (2002): Developing the computer<br />

user self-efficacy (CUSE) scale: investigating the relationship<br />

between computer self-efficacy, gen<strong>der</strong> and experience<br />

with computers. Journal of Educational Computing Research,<br />

26(2), 133–153, URL http://baywood.metapress.com/<br />

link.asp?id=jgjr0kvlhrf7gcnv.<br />

Compeau, Deborah R. & Christopher A. Higgins (1995): Computer<br />

Self-Efficacy: Development of a Measure and Initial Test.<br />

MIS Quarterly, 19(2), 189–211.<br />

Delcourt, Marcia A. B. & Mable B. Kinzie (1991): Computer<br />

technologies in teacher education: the measurement of attitudes<br />

and self-efficacy. Journal of Research and Development in<br />

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Dunn, Lemoyne (2004): Cognitive Playfulness and Other Characteristics<br />

of Educators Who Make Enduring Changes. In:<br />

Cantoni, Lorenzo & Catherine McLoughlin (Hg.): World Conference<br />

on Educational Multimedia, Hypermedia and Telecommunications<br />

(EDMEDIA) 2004, Norfolk, VA: AACE,<br />

3553–3560.<br />

Helmke, Andreas & Franz Emanuel Weinert (1997): Bedingungsfaktoren<br />

schulischer Leistungen. In: Weinert,<br />

Franz Emanuel (Hg.): Enzyklopädie <strong>der</strong> Psychologie, Band 3,<br />

Göttingen: Hogrefe, 71–176.<br />

Heugl, Helmut (2005): CAS und Standards - eine interessante<br />

Herausfor<strong>der</strong>ung. In: Ben<strong>der</strong>, Peter, Wilfried Herget, Hans-<br />

Georg Weigand & Thomas Weth (Hg.): Neue Medien und Bildungsstandards,<br />

Hildesheim: Franzbecker, 21–35.


erlebten <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

Keine Antwort 9<br />

Computereinsatz im weitesten Sinne angesprochen<br />

9<br />

ohne Beschreibung <strong>der</strong> wahrgenommenen Qualität<br />

Beispiel Überzeugungen <strong>für</strong> „guten“ Computereinsatz von Studierenden genannt zum Computereinsatz 7 im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

Computereinsatz inhaltsunspezifisch motivierend (CMO)<br />

Computereinsatz beeinträchtigendes zusätzliches Hin<strong>der</strong>nis (CHI)<br />

Computereinsatz und positive Innovationseinstellung (CIN)<br />

Verständnisunterstützung durch Visualisierung (CVI)<br />

Explorative Herangehensweisen (CEX)<br />

Vorteile f. meth. Gestaltg. v. Lernumg. d. Comp.-einsatz (CM V)<br />

Auslagerungsprinzip (CAU)<br />

Computereinsatz u. Notwendigkeit curricularer Än<strong>der</strong>ungen (CCU)<br />

keine inhaltlichen Neuerungen durch Computereinsatz (CKN)<br />

Verlernen von Algebra-Wissen durch CAS-Einsatz (CVA)<br />

Verlernen des Konstruierens von Hand durch DGS-Einsatz (CVG)<br />

geringe<br />

Ausprägung<br />

hohe<br />

Ausprägung<br />

1,00 1,50 2,00 2,50 3,00 3,50 4,00<br />

Erste<br />

Befragung<br />

(Mittelw ert)<br />

Zw eite<br />

Befragung<br />

(Mittelw ert)<br />

**<br />

**<br />

T=2,72; df=35;<br />

p


Sebastian Kuntze und Christine Bescherer, Ludwigsburg<br />

Tönnies, Dirk (1999): Das Für und Wi<strong>der</strong> <strong>der</strong> Verwendung<br />

von Computer-Algebra-Syste-men im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

<strong>der</strong> Sekundarstufe I am konkreten Beispiel einer<br />

Einführung des TI-92 in einer 9. Klasse des Gymnasiums.<br />

Staatsexamensarbeit, URL http://www.dirk-toennies.<br />

de/Texte/Download/TI-Einsatz.zip.<br />

40<br />

Webster, Jane & Joseph J. Martocchio (1992): Microcomputer<br />

playfulness: development of a measure with workplace implications.<br />

MIS Quarterly, 16(2), 201–226.<br />

Weigand, Hans-Georg & Thomas Weth (2002): Computer im<br />

<strong>Mathematik</strong>unterricht - Neue Wege zu alten Zielen. Berlin:<br />

Spektrum Akademischer Verlag.


Teil II<br />

Tagung <strong>2009</strong><br />

Zur Zukunft des Analysisunterrichts<br />

vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Verfügbarkeit<br />

Neuer Medien (und Werkzeuge)<br />

41


• Zur Zukunft des Analysisunterrichts vor dem Hintergrund <strong>der</strong><br />

Verfügbarkeit Neuer Medien (und Werkzeuge) – Leitgedanken<br />

und -fragen<br />

Anselm Lambert, Saarbrücken, und Ulrich Kortenkamp, Karlsruhe<br />

Analysis ist in breitem Konsens (fast) aller an <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

aktiv Interessierten ein selbstverständliches<br />

quasi naturgesetzliches Gebiet <strong>der</strong><br />

<strong>Mathematik</strong> in <strong>der</strong> Schule. Das muss nicht so<br />

sein. 1882 wurde den Realgymnasien und 1892<br />

den Oberrealschulen in Preußen die Erlaubnis zu<br />

Differential- und Integralrechnung im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

ausdrücklich entzogen. Heute überwiegen<br />

die guten Gründe <strong>für</strong> Analysis. Aber welche<br />

sind das? – traditionell und/o<strong>der</strong> aktuell bzw.<br />

in (naher) Zukunft?<br />

Auf den Tagungen des Arbeitskreises wurden<br />

immer wie<strong>der</strong> konkrete Vorschläge <strong>für</strong> engagierten<br />

Analysisunterricht von engagierten Lehrpersonen<br />

gemacht. Die Ambitioniertheit dieser Vorschläge<br />

korrelierte mit den wachsenden Möglichkeiten<br />

– schneller, höher, weiter, bunter – <strong>der</strong> singulär<br />

o<strong>der</strong> idealerweise auch in <strong>der</strong> Breite (theoretisch)<br />

verfügbaren Neuen Medien (und Werkzeuge).<br />

Es liegt aber lei<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Hand, dass dies<br />

kein repräsentatives Bild des tatsächlichen Analysisunterrichts<br />

im Land zeichnet, und eine Theoriebildung<br />

steht noch aus.<br />

Analysisunterricht orientierte sich immer auch<br />

an zeitgeistigen Strömungen des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />

allgemein, etwa den graphischen Darstellungen,<br />

den Visualisierungen zur Zeit <strong>der</strong> Reformpädagogik,<br />

die wir heute vermehrt wie<strong>der</strong><br />

finden, o<strong>der</strong> später dem ver- wenn nicht gar überschärften<br />

Aufmarsch aller Epsilons zur Zeit des<br />

Bourbakismus, den wie<strong>der</strong>um einige heute vermissen.<br />

Welchen Analysisunterricht verdienen unsere<br />

jetzige und zukünftige Zeit und unsere jetzigen<br />

und zukünftigen Schülerinnen und Schüler?<br />

Neue Medien (und Werkzeuge) haben unstrittig<br />

die Darstellungsmöglichkeiten und das Methodenrepertoire<br />

vergrößert. Aber welche inhaltlichen<br />

Konsequenzen for<strong>der</strong>n sie? Keine? Können<br />

wir unsere Analysis heute endlich so unterrichten<br />

wie wir eigentlichen schon immer wollten?<br />

– „Neue Wege zu alten Zielen“? O<strong>der</strong> müssen<br />

wir dem Computer Rechnung tragen und diskreten<br />

Modellen (zu Lasten kontinuierlicher) breiteren<br />

Raum geben? O<strong>der</strong> geht das alles noch nicht<br />

weit genug? Hat nicht das 20. Jahrhun<strong>der</strong>t in einem<br />

jahrzehntelangen Feldversuch in zahllosen<br />

Variationen gezeigt, dass Analysis <strong>für</strong> „statistisch<br />

normale“ Menschen prinzipiell zu schwer ist, was<br />

Adam Riese ja auch <strong>der</strong> Algebra nachsagte. Aktuelle<br />

Eingangstests an Studienanfängern in <strong>Mathematik</strong><br />

o<strong>der</strong> in Fächern, die <strong>Mathematik</strong> benötigen,<br />

stützen dies unverän<strong>der</strong>t – ebenso wie die späteren<br />

Durchfallquoten. O<strong>der</strong> gibt es empirische Befunde<br />

zu einer Besserung <strong>der</strong> Lage durch die Verfügbarkeit<br />

(und den tatsächlichen Einsatz!) Neuer<br />

Medien (und Werkzeuge)?<br />

43


Anselm Lambert, Saarbrücken, und Ulrich Kortenkamp, Karlsruhe<br />

Vorträge <strong>der</strong> Tagung <strong>2009</strong><br />

Stefanie Anzenhofer Musik mit Funktionsgraphen – Wissen kreativ nutzen<br />

Christine Bescherer Analysis <strong>für</strong> Affen?<br />

Hans-Joachim Brenner Computer im Analysisunterricht <strong>der</strong> Sek II in Thüringen<br />

Bernhard Burgeth Höhere <strong>Mathematik</strong> vernetzend lehren - ein saarländischer Exportschlager?<br />

(Poster)<br />

Joachim Engel Von Daten zur Funktion: Skizzen eines technologiegestützten und<br />

anwendungsorientierten Analysisunterricht<br />

Andreas Fest Werkzeuge <strong>für</strong> das individuelle Lernen in <strong>Mathematik</strong> (mit Marc O.<br />

Zimmermann)<br />

Lutz Führer Verstehen o<strong>der</strong> berechnen? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts? (Hauptvortrag)<br />

Gilbert Greefrath Mit dem Computer qualitativ arbeiten?<br />

Reinhard Hochmuth eLearning in Schule und Hochschule: Beschreibung eines eLearning-<br />

Experiments zur Entwicklung des Grenzwertbegriffs bei Folgen im<br />

Rahmen <strong>der</strong> Kasseler eVorkurse (mit Pascal Rolf Fischer)<br />

Andrea Hoffkamp Funktionales Denken mit dem Computer unterstützen - Empirische<br />

Untersuchungen im Rahmen des propädeutischen Unterrichts <strong>der</strong><br />

Analysis<br />

Stefan-Harald Kaufmann Funktionen mit dem Computer neu entdecken (mit Michael Riess)<br />

Heiko Knospe <strong>Mathematik</strong> an <strong>der</strong> Schnittstelle zwischen Schule und Hochschule -<br />

Probleme und Perspektiven (Hauptvortrag)<br />

Ulrich Kortenkamp Mathe 2030 - Zukunft denken (Hauptvortrag)<br />

Anselm Lambert Finde x (Poster)<br />

Rolf Monnerjahn Bildkomposition und Zentralperspektive in Dürers MELENCOLIA I<br />

Fritz Nestle Kühe, Kin<strong>der</strong> und Kultusminister(innen)<br />

Reinhard Oldenburg Die Analysis in den Zeiten <strong>der</strong> Computerei<br />

Andreas Pallack Differenzialrechnung mit neuen Medien verstehensorientiert unterrichten<br />

Bodo v. Pape „Geht nicht.“ gibt’s nicht. - Wenn die Schulanalysis in die Bredouille<br />

kommt<br />

Guido Pinkernell „Modellierungsfunktionen entwickeln und validieren - anspruchsvolle<br />

und praxisnahe Aufgabenstellungen mit Technologie“<br />

Roland Schrö<strong>der</strong> Pixel zählen zwecks Flächenberechnung (o<strong>der</strong>: Flächenberechnung<br />

einmal an<strong>der</strong>s)<br />

Hannes Stoppel CAS ist nicht gleich CAS<br />

Markus Vogel Der Computer macht’s möglich - Funktionen als Werkzeug zum Modellieren<br />

von Daten<br />

Hans-Georg Weigand Wozu brauche ich ein Computeralgebra System (CAS), wenn ich<br />

zwei Straßen verbinden soll? – Überlegungen zum (sinnvollen) Einsatz<br />

eines CAS im Analysisunterricht<br />

Antonia Zeimetz Als die Differential- und Integralrechnung verboten wurde<br />

44


• CAS ist nicht gleich CAS<br />

Hannes Stoppel, Gladbeck<br />

Der Einsatz von Computer-Algebra-Systemen<br />

(CAS) im <strong>Mathematik</strong>unterricht regt in <strong>der</strong> <strong>Didaktik</strong><br />

seit Jahren zur Diskussion an. Dies wird<br />

weitgehend allgemein und unabhängig von <strong>der</strong><br />

Art eines CAS betrachtet [vgl. Programm Sinus-<br />

Transfer, 2007]. Ein CAS bietet eine Reihe von<br />

Anwendungsmöglichkeiten, wie in Abb. 9.1 angedeutet.<br />

In Abhängigkeit vom CAS könnten Verbindungen<br />

zwischen den Ästen gezogen werden. Diese<br />

unterscheiden sich teilweise von CAS zu CAS<br />

und sind daher <strong>für</strong> die Unterrichtsplanung, insbeson<strong>der</strong>e<br />

bei zentralen Prüfungen, zu berücksichtigen.<br />

In dem MindMap sind nur übergreifende<br />

Bereiche notiert, in denen sich CAS verwenden<br />

lassen. Wie spätestens im Zentralabitur unter Verwendung<br />

eines CAS auffällt, hängen die Art <strong>der</strong><br />

Lösung o<strong>der</strong> sogar die Lösbarkeit von Aufgaben<br />

von <strong>der</strong> Art des CAS ab [vgl. Greefrath, 2007b;<br />

Greefrath & Mühlenfeld, 2007, S. 31].<br />

Diese Umstände werden anhand von Beispielen<br />

des Zentralabiturs von NRW und allgemeiner<br />

Aufgaben zum Einsatz unterschiedlicher CAS<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht betrachtet. Die Beispiele<br />

werden jeweils <strong>für</strong> drei bis vier CAS beschrieben;<br />

es handelt sich um die mobilen CAS Casio<br />

ClassPad und TI Nspire und die stationären CAS<br />

Maple und die Computeroberfläche des ClassPad.<br />

Die Beispiele stammen aus <strong>der</strong> Analysis und werden<br />

um ein Beispiel <strong>der</strong> Kombinatorik ergänzt.<br />

Beispiel 1. In <strong>der</strong> Aufgabe LK HT 5 CAS 2007 des<br />

Zentralabiturs in NRW 1 ist die folgende Summe zu<br />

berechnen:<br />

<br />

8000<br />

597<br />

∑<br />

i=523<br />

i<br />

<br />

· 0,07 i · 0,93 8000−i ≈ 0,899726<br />

⊲ Auf dem mobilen ClassPad dauert die Berechnung<br />

etwa 30 Sekunden. Das Ergebnis wird in<br />

Form eines komplexen Terms angegeben. Die<br />

ersten Elemente des Ergebnisses sind (<strong>der</strong> Term<br />

ist deutlich länger als hier angegeben):<br />

(2.154176408E − 840 ∗ 8000!)/(7477!∗523!)<br />

+ (1.621423103E − 841 ∗ 8000!)/(7476!∗524!)<br />

+(1.220425991E(−842)∗8000!)/(7475!∗525!)+...<br />

⊲ Der stationäre ClassPad gibt das Ergebnis deutlich<br />

schneller als ein mobiler ClassPad aus. Es<br />

handelt sich hierbei jedoch um das fehlerhafte<br />

Ergebnis „0“.<br />

⊲ Der mobile TI-Nspire gibt nach 19 Sekunden<br />

das Ergebnis „0.899726“ aus.<br />

⊲ Mit Maple ergibt sich das folgende Ergebnis<br />

nach weniger als einer Sekunde<br />

> sum(binomial(8000,x)*(.07)^x<br />

*(.93)^(8000-x), x=523..597);<br />

0.8997264106<br />

Beispiel 2. Im Teil e) <strong>der</strong> Abitur-Aufgabe LK<br />

HT1 CAS <strong>2009</strong> des Zentralabiturs in Nordrhein-<br />

Westfalen ergaben sich bei <strong>der</strong> Arbeit mit verschiedenen<br />

CAS Probleme, die teilweise in <strong>der</strong> Bezeichnung<br />

von Variablen lagen. Hier wird ein Problem<br />

am Aufgabenteil e) gezeigt, in dem die Möglichkeiten<br />

mit unterschiedlichen CAS nicht gleich<br />

sind und nicht jedes CAS zu einem sinnvollen Ergebnis<br />

führt. Ein Teil <strong>der</strong> Aufgabenstellung ist gegeben<br />

durch:<br />

Die Höhe eines Strauches wird in den ersten<br />

zwanzig Jahren nach dem Auspflanzen durch die<br />

Funktion h1 mit<br />

h1(t) = 1<br />

5 e− 1 10 t+ 31<br />

10 , 0 ≤ t < 20<br />

. . .<br />

h2(t) = 2 11<br />

e 10 −<br />

25 1 1<br />

e− 10 t+ 31<br />

10 , t ≥ 20<br />

5<br />

. . .<br />

a<br />

l(t) =<br />

, t ≥ 0<br />

1 + b · e−ct . . .<br />

e) Bestimmen Sie anhand dieser Bedingungen<br />

die Werte <strong>der</strong> Parameter und im Funktionsterm<br />

von l gegebenenfalls in Abhängigkeit von c.<br />

Bei <strong>der</strong> Lösung <strong>der</strong> Aufgabe stößt man auf die Berechnung<br />

<strong>der</strong> Lösungsmenge des in <strong>der</strong> Abb. 9.2<br />

gezeigten LGS.<br />

Abbildung 9.2: Zu lösendes LGS<br />

1 http://www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/abitur-gost/faecher_aufgaben.php<br />

45


Hannes Stoppel, Gladbeck<br />

Lösungen<br />

vorstellen<br />

Aufgaben<br />

stellen<br />

Zufallszahlen<br />

Themen<br />

zusammenfassen<br />

Themen<br />

vorstellen<br />

Mittelwert,<br />

Median<br />

Aufgaben /<br />

Präsentation<br />

Wirtschaftsmathematik<br />

Standardabweichung,<br />

Varianz<br />

Stochastik<br />

und Statistik<br />

DifferentialundIntegralrechnung<br />

Regression<br />

Konstruktionen<br />

Geometrie<br />

CAS<br />

Berechnungen<br />

Funktionen<br />

geometrische<br />

Zusammenhänge<br />

Addition,<br />

Multiplikation,<br />

. . .<br />

Programmiersprache<br />

LGS, Matrizen,<br />

. . .<br />

Graphen<br />

Tabellenkalkulation<br />

komplexe<br />

Verfahren<br />

Algorithmen<br />

Abbildung 9.1: Mindmap zu Anwendungsmöglichkeiten eines CAS<br />

⊲ In <strong>der</strong> Lösungsmenge des ClassPad werden drei<br />

Lösungen ausgegeben. Die Terme <strong>der</strong> Lösungsmenge<br />

sind so groß, dass die Lösung (Abb. 9.3)<br />

unübersichtlich ist. Es kann nur b = 0 sein. Daher<br />

ist (nach langer Rechnung) nur die Lösung<br />

a = 2h1(20) und b = 2,71828182845904 20c<br />

richtig. Hier ist zu erkennen, dass b = e 20c gilt.<br />

Der ClassPad berechnet hieraus den Grenzwert<br />

x → ∞ unter <strong>der</strong> Nebenbedingung c > 0.<br />

⊲ Mit Maple lässt sich die Lösungsmenge des<br />

LGS problemlos bestimmen. Die Ausgabe <strong>der</strong><br />

Terme findet sich in Abb. 9.4:<br />

Abbildung 9.4: Ergebnis von Maple <strong>für</strong> Beispiel 2<br />

46<br />

Da b = 0 ist, kommt die zweite Lösung in Frage.<br />

Daher kann man definieren und berechnen:<br />

2D<br />

3D<br />

Messreihen<br />

aufnehmen<br />

Datensätze<br />

auswerten<br />

Datenerhebungen<br />

> a := 1/5*exp(11/10)*(e^(-c*x)<br />

+e^(-20*c))/e^(-c*x):<br />

> b := 1/e^(-c*x):<br />

> l2 := x -> l(x):<br />

Auch hier führt die einfache Berechnung des<br />

Grenzwertes <strong>für</strong> x → ∞ zu einem <strong>für</strong> Schülerinnen<br />

und Schüler unübersichtlichen Ergebnis.<br />

> limit(l2(x), x=infinity);|<br />

Abbildung 9.5: Berechnung des Grenzwerts mit<br />

Maple<br />

Die Schülerinnen und Schüler müssen den<br />

Grenzwert daher ohne CAS berechnen.


CAS ist nicht gleich CAS<br />

{{a = 0.1 · 2.71828182845904 −c·x−20·c · (2.71828182845904 c·x+20·c+1.1 + 2.71828182845904 2·c·x+1.1<br />

−(2.71828182845904 4·c·x+2.2 + 2 · 2.71828182845904 3·c·x+20·c+2.2 + 2.71828182845904 2·c·x+40·c+2.2 ) 0.5 ),<br />

b = 0.5 · 2.71828182845904 c·x − 0.5 · 2.71828182845904 −c·x−1.1 · (2.71828182845904 4·c·x+2.2<br />

+2 · 2.71828182845904 3·c·x+20·c+2.2 + 2.71828182845904 2·c·x+40·c+2.2 ) 0.5 − 0.5 · 2.71828182845904 20·c },<br />

{a = 0.600833204789286,b = 0},<br />

{a = 0.1 · 2.71828182845904 −c·x−20·c · (2.71828182845904 c·x+20·c+1.1 + 2.71828182845904 2·c·x+1.1 +<br />

(2.71828182845904 4·c·x+2.2 + 2 · 2.71828182845904 3·c·x+20·c+2.2 + 2.71828182845904 2·c·x+40·c+2.2 ) 0.5 ),<br />

b = 0.5 · 2.71828182845904 c·x + 0.5 · 2.71828182845904 −c·x−1.1 · (2.71828182845904 4·c·x+2.2<br />

+2 · 2.71828182845904 3·c·x+20·c+2.2 + 2.71828182845904 2·c·x+40·c+2.2 ) 0 .5 − 0.5 · 2.71828182845904 20·c }}<br />

⊲ Die Lösung des Gleichungssystems lässt sich<br />

mithilfe des Nspire bestimmen. Auch hier ist<br />

die Lösung unübersichtlich:<br />

b=e^(c*x) and a=0 or b=e^(piecewise(<br />

(10*ln(5*a-e^(11/10))+200*c-11)/<br />

(10*c),(5*a-e^(11/10))*e^(20*c)>0)*c) and<br />

x=piecewise((10*ln(5*a-e^(11/10))+<br />

200*c-11)/(10*c),(5*a-e^(11/10))*<br />

e^(20*c)>0) and e^(piecewise((10*<br />

ln(5*a-e^(11/10))+200*c-11)/(10*c),<br />

(5*a-e^(11/10))*e^(20*c)>0)*c)+e^(20*c) =0<br />

or b=c1 and e^(c*x)+c1=0 and a=0 and<br />

e^(20*c)+c1=0 or b=0 and a=0 or b=0 and<br />

a=e^(11/10)/5<br />

Hieraus ergibt sich die Lösung analog zur Lösung<br />

mit dem ClassPad. Jetzt lässt sich die<br />

Funktion l2 definieren. Hierbei ergibt sich mit<br />

keinem <strong>der</strong> CAS eine Fehlermeldung. Der Limes<br />

lim<br />

x→∞ l2(x), c > 0<br />

von 2 11<br />

5e 10 lässt sich, an<strong>der</strong>s als mit dem Class-<br />

Pad o<strong>der</strong> Maple, mit <strong>der</strong> Option c > 0 bilden.<br />

In diesem Beispiel ist erkennbar, dass bei <strong>der</strong> Lösung<br />

von Aufgaben mit unterschiedlichen CAS<br />

vereinzelt Probleme – teilweise jedoch in Abhängigkeit<br />

von dem CAS – auftreten.<br />

Beispiel 3. Im Aufgabenteil b) <strong>der</strong> Aufgabe LK<br />

HT 4 CAS 2007 des Zentralabiturs in NRW ist die<br />

Lösungsmenge <strong>für</strong> das folgende LGS in Verbindung<br />

zu <strong>der</strong> Funktion B und ihrer ersten Ableitung<br />

B ′ mit B(x) = k·evt−wt2 zu bestimmen: B(0) = 375,<br />

B(7) = 705 und B ′ (45) = 0.<br />

⊲ Die Bestimmung <strong>der</strong> Lösungsmenge des LGS<br />

mit dem mobilen ClassPad dauert 1 min 16<br />

sek. Hier werden vorteilhaft keine numerischen<br />

Näherungen son<strong>der</strong>n exakte Werte ausgegeben.<br />

Auch dies ist jedoch möglich, wie die letzte<br />

Zeile in Abb. 9.6 zeigt<br />

Abbildung 9.3: Ergebnis des ClassPad <strong>für</strong> Beispiel 2<br />

Abbildung 9.6: Berechnung auf dem mobilen<br />

ClassPad<br />

⊲ Mit dem TI-Nspire kann die Berechnung wie in<br />

Abb. 9.7 sichtbar durchgeführt werden. Die Berechnung<br />

dauert etwa 1 Sekunde. Das Ergebnis<br />

wird in Form eines Terms angegeben.<br />

Abbildung 9.7: Berechnung auf dem TI-Nspire<br />

⊲ Mit Maple taucht ein Problem bei <strong>der</strong> Lösung<br />

des LGS auf. Man erhält eine Fehlermeldung<br />

bei <strong>der</strong> Verwendung <strong>der</strong> Ableitung:<br />

47


Hannes Stoppel, Gladbeck<br />

> B := t -> k*exp(v*t-w*t^2):<br />

> B1 := t -> diff(B(t),t):<br />

> solve({B(0)=375, B(7)=705,<br />

B1(45)=0}, {k, v, w});<br />

ergibt<br />

Error, (in B1) invalid input:<br />

diff received 45, which is<br />

not valid for its 2nd argument<br />

Bei den Berechnungen mithilfe des zuvor eingegebenen<br />

Funktionsterms (nicht <strong>der</strong> Ableitungsfunktion)<br />

gibt Maple die Lösung unmittelbar<br />

nach <strong>der</strong> Eingabe aus (Abb. 9.8).<br />

> B1 := t -> k*(v-2*w*t)*<br />

exp(v*t-w*t^2):<br />

> solve({B(0)=375, B(7)=705,<br />

B1(45)=0}, {k, v, w});<br />

Abbildung 9.8: Korrekte Lösung mit Maple<br />

Beispiel 4. Bei Berechnungen an verketteten<br />

Funktionen können bei unterschiedlichen CAS<br />

auch unterschiedliche Ergebnisse auftreten. Dies<br />

wird <strong>der</strong> Berechnung <strong>der</strong> √ ersten Ableitung <strong>der</strong><br />

(x2−3) Funktion f mit f (x) = e geschil<strong>der</strong>t.<br />

⊲ Der ClassPad und Maple geben korrekte Ergeb-<br />

nisse x·e<br />

√<br />

x2−3 √ aus.<br />

x2−3 ⊲ Der Nspire führte zweimal zu unterschiedlichen<br />

Ergebnissen, wie in den folgenden Abbildungen<br />

zu sehen ist. Hier ist nicht erkennbar,<br />

warum ein Fehler aufgetreten ist.<br />

48<br />

Abbildung 9.9: Kein reelles Ergebnis mit y<br />

2 http://www.kmk.org/presse-und-aktuelles/pm<strong>2009</strong>.html<br />

Fazit<br />

Abbildung 9.10: Korrekte Lösung mit x<br />

Seit einiger Zeit wird über den Einsatz von CAS<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht diskutiert. Dabei gab es<br />

zahlreiche unterschiedliche Ideen, die dem <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

neue Fenster öffnen, und es ist erkennbar,<br />

dass <strong>der</strong> Einsatz eines CAS im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

sinnvoll sein kann; <strong>für</strong> Beispiele vgl.<br />

Heinrich [2007].<br />

Die Art <strong>der</strong> Umsetzung verschiedener Ideen<br />

des Einbaus von CAS in den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

ist z. Teil von <strong>der</strong> Wahl des CAS abhängig.<br />

Die Lösungswege können sich von CAS zu CAS<br />

unterscheiden und mit unterschiedlichem Zeitaufwand<br />

verbunden sein. Einige Aufgaben sind nur<br />

mit bestimmten CAS möglich. Hier müssen sich<br />

allgemeine Konzepte finden und Aufgaben stellen<br />

lassen, die den CAS-Einsatz för<strong>der</strong>n (nicht nur<br />

for<strong>der</strong>n), <strong>der</strong>en Lösungen mit unterschiedlichen<br />

CAS vom gleichen Schwierigkeitsgrad sind [vgl.<br />

Heinrich, 2007; Greefrath, 2007a].<br />

Sollte <strong>der</strong> Einsatz von CAS auf den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

ohne zugehörige zentrale Abschlussprüfrungen<br />

beschränkt werden? Hier stellt sich jedoch<br />

die Frage, ob unter diesen Bedingungen <strong>der</strong><br />

Medieneinsatz im Unterricht überhaupt stattfindet.<br />

Nach <strong>der</strong> KMK 2 ist <strong>der</strong> Medieneinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

durchzuführen. Über den Umfang<br />

und die Art des Einsatzes gibt es hier keine<br />

exakte Aussage. Bei <strong>der</strong> Formulierung von Vorschriften<br />

bzgl. des Einsatzes von Computeralgebrasystemen<br />

sollte man sich <strong>der</strong> Tatsache „CAS<br />

= CAS“ stellen.<br />

Literatur<br />

Greefrath, Gilbert (2007a): Computeralgebrasysteme und Prüfungen.<br />

In: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht 2007. Vorträge<br />

auf <strong>der</strong> 41. Tagung <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>, Franzbecker,<br />

55–58.<br />

Greefrath, Gilbert (2007b): Einsatz unterschiedlicher CAS in<br />

zentralen Prüfungen. In: Fothe, Michael & Gilbert Greefrath<br />

(Hg.): <strong>Mathematik</strong>unterricht mit digitalen Medien und Werkzeugen.<br />

Unterricht, Prüfungen und Evaluation: Bericht von <strong>der</strong>


CASIO-Veranstaltung „Round Table“ vom 13. bis 14. April in<br />

Hamburg, Münster: Monsenstein und Vannerdat.<br />

Greefrath, Gilbert & Udo Mühlenfeld (2007): Realitätsbezogene<br />

Aufgaben <strong>für</strong> die Sekundarstufe II. Bildungsverlag EINS.<br />

Heinrich, Rainer (2007): Grafikfähige Taschencomputer in<br />

zentralen Prüfungen – Chancen und Risiken. In: Beiträge zum<br />

<strong>Mathematik</strong>unterricht 2007. Vorträge auf <strong>der</strong> 41. Tagung <strong>für</strong><br />

<strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>, Hildesheim: Franzbecker, 86–89.<br />

CAS ist nicht gleich CAS<br />

Pallack, Andreas (2007): Die gute CAS-Aufgabe <strong>für</strong> die Prüfung.<br />

In: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht 2007. Vorträge<br />

auf <strong>der</strong> 41. Tagung <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>, Hildesheim:<br />

Franzbecker, 90–93.<br />

Programm Sinus-Transfer (2007): Impulse <strong>für</strong> den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

in <strong>der</strong> Oberstufe. Konzepte und Materialien aus<br />

dem Modellversuch. Stuttgart: Klett.<br />

49


Hannes Stoppel, Gladbeck<br />

50


• Funktionales Denken mit dem Computer unterstützen –<br />

Empirische Untersuchungen im Rahmen des propädeutischen<br />

Unterrichts <strong>der</strong> Analysis<br />

Andrea Hoffkamp, Berlin<br />

„Funktionales Denken beginnt bei intuitiven Vorstellungen über funktionale Zusammenhänge wie<br />

‚Wenn man die eine Größe än<strong>der</strong>t, dann än<strong>der</strong>t sich die an<strong>der</strong>e‘ o<strong>der</strong> ‚Je mehr. . . , desto mehr‘, und<br />

es ist voll entwickelt bei Denkweisen <strong>der</strong> Analysis“ [Vollrath, 1989]<br />

Die Realität ist aber ein kalkülorientierter Analysisunterricht mit wenig inhaltlichen Vorstellungen.<br />

Deswegen plädieren viele <strong>Didaktik</strong>er <strong>für</strong> einen qualitativen Zugang zur Differential- und Integralrechnung<br />

– eine For<strong>der</strong>ung die schon seit 100 Jahren besteht [Krüger, 2000]. Interaktivexperimentelle<br />

Computernutzung ermöglicht durch visuelle Dynamisierung mathematischer Objekte<br />

die Akzentuierung <strong>der</strong> dynamischen Komponente funktionalen Denkens. Basierend auf Gestaltungsprinzipien,<br />

die auf die dynamische Komponente und die Objektsicht funktionaler Abhängigkeiten<br />

zielen, wurden drei interaktive Lernumgebungen entwickelt und in Klasse 10 im Hinblick auf<br />

einen qualitativen Einstieg in die Schulanalysis im Rahmen einer qualitativen Studie eingesetzt. Eine<br />

<strong>der</strong> Lernumgebungen, die zugrunde liegenden Ideen, sowie erste Ergebnisse <strong>der</strong> Studie werden im<br />

Folgenden dargestellt.<br />

1 Funktionales Denken und<br />

Analysispropädeutik<br />

In <strong>der</strong> Meraner Reform (1905) wurde die ‚Erziehung<br />

zum funktionalen Denken‘ als Son<strong>der</strong>aufgabe<br />

herausgestellt. Gefor<strong>der</strong>t wurde, das Denken<br />

in Variationen und funktionalen Abhängigkeiten<br />

gebietsübergreifend einzuüben und zu flexibilisieren.<br />

Dabei ging es insbeson<strong>der</strong>e um den Blick auf<br />

Bewegung und Verän<strong>der</strong>lichkeit. Die Differentialund<br />

Integralrechnung, die im Zuge <strong>der</strong> Meraner<br />

Reform Einzug in die Lehrpläne gefunden hat,<br />

sollte nicht aufgesetzter Zusatzstoff, son<strong>der</strong>n Höhepunkt<br />

in einem organisch aufgebauten <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

sein. In diesem Sinne kann die<br />

‚Erziehung zum funktionalen Denken‘ als Propädeutik<br />

zur Differential- und Integralrechnung gesehen<br />

werden, in <strong>der</strong> es darum geht Funktionen<br />

als Ganzes im Zusammenhang zu sehen und Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />

mit Mitteln <strong>der</strong> Analysis zu untersuchen<br />

[Krüger, 2000].<br />

Vollrath [1989] unterscheidet drei Aspekte<br />

funktionaler Abhängigkeiten: Zuordnungsaspekt<br />

(statische o<strong>der</strong> punktweise Sicht), Aspekt <strong>der</strong><br />

Än<strong>der</strong>ung (dynamische Sicht) und Objektaspekt<br />

(Sicht auf Funktion als Ganzes). Än<strong>der</strong>ungsaspekt<br />

und Objektaspekt kommen dabei dem Meraner<br />

Begriff am nächsten. Diese Aspekte lassen sich<br />

aber nur theoretisch trennen. Tatsächlich hängen<br />

sie eng zusammen. Will man beispielsweise eine<br />

globale Objekteigenschaft wie ‚Monotonie‘ beschreiben,<br />

so benutzt man die ‚Sprache des Än<strong>der</strong>ungsaspektes‘:<br />

Ist x ≤ y, so auch f (x) ≤ f (y) <strong>für</strong><br />

alle x,y. Die Beschreibung von Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />

geht damit einher, dass man die Funktion lokal<br />

als Objekt betrachtet.<br />

Gerade die beiden letztgenannten Aspekte bereiten<br />

Schülerinnen und Schülern Schwierigkei-<br />

ten. Das äußert sich beispielsweise darin, dass<br />

Funktionsgraphen als fotographische Bil<strong>der</strong> von<br />

Realsituationen gesehen werden (Graph-als-Bild-<br />

Fehler).<br />

Abbildung 10.1 zeigt ein Beispiel aus einem<br />

Test zu Funktionen/funktionalem Denken mit Anfängerstudentinnen<br />

und -studenten <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />

an <strong>der</strong> TU Berlin, aus dem die Ideen <strong>für</strong> die<br />

in Abschnitt 2 beschriebene Lernumgebung entstanden<br />

sind. Die Studentin hat zunächst den Graphen<br />

ganz rechts angekreuzt, was als typischer<br />

Graph-als-Bild Fehler gewertet werden könnte.<br />

Dann kreuzt sie den Graphen ganz links an und<br />

verwendet <strong>für</strong> ihre Lösung Konzepte <strong>der</strong> Analysis<br />

(Integration), indem sie das Dreieck als stückweise<br />

lineare Funktion interpretiert und argumentiert,<br />

dass <strong>der</strong> Flächeninhaltsgraph quadratisch<br />

sein muss, weswegen <strong>der</strong> Graph ganz rechts ausgeschlossen<br />

ist. Hätte sie eine dynamische Sicht<br />

auf den funktionalen Zusammenhang, so hätte sie<br />

wenigstens die Monotonie erkannt. Mathematisch<br />

steckt hier <strong>der</strong> Hauptsatz <strong>der</strong> Differential- und Integralrechnung<br />

dahinter. Das Dreieck – als stückweise<br />

lineare Funktion interpretiert – ist gerade<br />

die Ableitung <strong>der</strong> Flächeninhaltsfunktion. Wird<br />

<strong>der</strong> Punkt C überschritten, so än<strong>der</strong>t sich die Qualität<br />

des Wachstums – es liegt eine Wendestelle<br />

vor.<br />

Ein oft beschriebenes Problem <strong>der</strong> Schulanalysis<br />

ist <strong>der</strong>en Kalkülorientierung, die oft losgelöst<br />

ist von inhaltlichen Vorstellungen. Viele <strong>Didaktik</strong>er<br />

plädieren deswegen <strong>für</strong> eine stärkere Gewichtung<br />

<strong>der</strong> qualitativen Anfänge <strong>der</strong> Analysis [Hahn<br />

& Prediger, <strong>2008</strong>; Stellmacher, 1986, u.v.a.].<br />

Für den Ansatz dieser Arbeit wird funktionales<br />

Denken – angelehnt an den Begriff aus <strong>der</strong> Meraner<br />

Reform – als Propädeutik zur Differentialund<br />

Integralrechnung gesehen. Die interaktiven<br />

51


Andrea Hoffkamp, Berlin<br />

Abbildung 10.1: Lösung einer <strong>Mathematik</strong>studentin zur Aufgabe: ‚Die gestrichelte Linie wird vom Punkte<br />

A um die Entfernung x nach rechts gezogen. Der Wert F(x) gibt die Größe <strong>der</strong> grau unterlegten Fläche an.<br />

Welcher Graph passt? ‘<br />

Lernumgebungen sind als Ansatz zu verstehen,<br />

<strong>der</strong> zu einem qualitativen Einstieg in die Analysis<br />

beiträgt, bevor das Kalkül entwickelt wird.<br />

2 Computernutzung – Grundideen<br />

und Gestaltungsleitlinien<br />

Basierend auf <strong>der</strong> DGS Cin<strong>der</strong>ella [Richter-<br />

Gebert & Kortenkamp, 2006] wurden im Zusammenhang<br />

mit Analysispropädeutik drei interaktive<br />

Lernumgebungen entwickelt, die zusammen<br />

mit Lehrmaterial unter Hoffkamp [<strong>2009</strong>c]<br />

frei zugänglich sind. Zur Nutzung <strong>der</strong> Lernumgebungen<br />

genügt ein Standardinternetbrowser. Spezielles<br />

Wissen zur Funktionsweise <strong>der</strong> Software<br />

ist nicht nötig (geringer technischer Overhead).<br />

Anhand einer <strong>der</strong> Lernumgebungen werden die<br />

Grundideen und Gestaltungsleitlinien im Folgenden<br />

dargestellt.<br />

Grundidee ist eine interaktiv-experimentelle<br />

Computernutzung mit dem Ziel die dynamische<br />

Komponente funktionalen Denkens hervorzuheben<br />

und inhaltliche Vorstellungen im Hinblick<br />

auf Propädeutik zur Differential- und Integralrechnung<br />

zu entwickeln. Abbildung 10.2 zeigt die<br />

Lernumgebung „Dreiecksfläche“. Hier sollen die<br />

Schülerinnen und Schüler den funktionalen Zusammenhang<br />

zwischen dem Abstand A − D und<br />

dem Flächeninhalt des dunkelblauen Flächenanteils<br />

dynamisch erkunden. Das Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />

soll charakterisiert werden. Die Wendestelle<br />

soll als Stelle, an <strong>der</strong> sich die Qualität des Wachstums<br />

verän<strong>der</strong>t, wahrgenommen werden. Wie in<br />

Abschnitt 1 beschrieben handelt es sich hierbei<br />

um eine dynamische Visualisierung des Hauptsatzes<br />

<strong>der</strong> Differential- und Integralrechnung. Inter-<br />

52<br />

pretiert man das Dreieck als stückweise lineare<br />

Funktion, so wird <strong>der</strong> Zusammenhang zwischen<br />

Bestandsgraph und Än<strong>der</strong>ungsgraph dargestellt.<br />

Die Wendestelle ist insbeson<strong>der</strong>e als Maximum<br />

<strong>der</strong> Ableitung sichtbar. Da die Ableitung im Maximum<br />

nicht differenzierbar ist, kann die Wendestelle<br />

nicht mit dem Kalkül gefunden werden.<br />

Folgende Gestaltungsleitlinien liegen allen<br />

drei Lernumgebungen zugrunde [siehe auch Hoffkamp,<br />

<strong>2009</strong>a,b]:<br />

Verknüpfung Situation – Graph:<br />

Anknüpfend an inhaltlichen Vorstellungen ist <strong>der</strong><br />

Ausgangspunkt ein funktionaler Zusammenhang<br />

innerhalb einer Situation und <strong>der</strong>en dynamische<br />

Verknüpfung mit <strong>der</strong> Darstellungsform Graph.<br />

Die graphische Darstellung wurde gewählt, weil<br />

sie sich beson<strong>der</strong>s auf die dynamische Komponente<br />

funktionalen Denkens bezieht und die gesamte<br />

Information, wie lokale und globale Funktionseigenschaften<br />

„auf einen Blick“ enthält.<br />

Zwei Variationsstufen:<br />

Die Bewegung des Punktes D erlaubt Variation innerhalb<br />

<strong>der</strong> Situation. Der Än<strong>der</strong>ungsaspekt wird<br />

dadurch simultan in den Darstellungsformen Situation<br />

und Graph visualisiert. Monotonie <strong>der</strong> Flächeninhaltsfunktion<br />

äußert sich darin, dass ‚immer<br />

mehr blau dazukommt ‘.<br />

Die Charakteristik <strong>der</strong> Wendestelle lässt sich<br />

inhaltlich beispielsweise beschreiben durch: ‚Vor<br />

dieser Stelle wächst <strong>der</strong> hinzuzuaddierende Flächeninhalt<br />

und danach sinkt er‘.<br />

Die zweite Variationsstufe – genannt Metavariation<br />

– erlaubt nun durch Bewegung <strong>der</strong> Punk-


Funktionales Denken mit dem Computer unterstützen<br />

Abbildung 10.2: Screenshot <strong>der</strong> interaktiven Lernumgebung „Dreiecksfläche“. Beweglich sind die Punkte<br />

B,C,D.<br />

te B und C das Än<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Situation und somit<br />

das Än<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Funktion als Ganzes (Abbildung<br />

10.3).<br />

Somit bezieht sich Metavariation insbeson<strong>der</strong>e<br />

auf den Objektaspekt, indem sie das Argument<br />

des Integraloperators, also <strong>der</strong> Metafunktion,<br />

die <strong>der</strong> Situation den Flächeninhaltsgraphen<br />

zuordnet, variiert. Metavariation erzwingt eine<br />

Loslösung von konkreten Werten und damit eine<br />

Hinwendung zu qualitativen Betrachtungsweisen.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e werden auffällige Charakteristika<br />

<strong>der</strong> Flächeninhaltsfunktion hervorgehoben:<br />

Monotonie ist invariant unter Metavariation, die<br />

Existenz <strong>der</strong> Wendestelle ist ‚beinahe invariant‘.<br />

Auch Begriffe wie ‚konvex‘ und ‚konkav‘ und <strong>der</strong>en<br />

inhaltlich-qualitative Unterscheidung tauchen<br />

auf.<br />

Abbildung 10.3: Metavariation<br />

Sprache als Vermittler: Die Schülerinnen und<br />

Schüler sind stets aufgefor<strong>der</strong>t ihre Beobach-<br />

tungen zu verbalisieren und auf einem dazugehörigen<br />

Arbeitsbogen zu notieren. Schon Janvier<br />

[1978] wies auf die Rolle <strong>der</strong> Sprache als<br />

Vermittler zwischen den Darstellungen und den<br />

Vorstellungen <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler hin.<br />

Sprache hat hier sowohl kognitive als auch kooperative<br />

Funktion.<br />

Kontiguität: Dies meint räumliche und zeitliche<br />

Nähe von sich aufeinan<strong>der</strong> beziehenden Darstellungsformen.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e ist die Tatsache,<br />

dass Bewegung genau dort geschieht, wo mit <strong>der</strong><br />

Maus agiert wird, hervorzuheben. Dadurch wurde<br />

eine beson<strong>der</strong>s integrative visuelle Darstellung<br />

erreicht.<br />

Praktikabilität: Die Lernumgebungen sind im<br />

Hinblick auf Nutzbarkeit im Unterricht entworfen.<br />

Sie eignen sich jeweils <strong>für</strong> eine Doppelstunde<br />

und können wegen des geringen technischen<br />

Overheads ohne Einarbeitungszeit genutzt werden.<br />

3 Forschungsfragen und<br />

Studiendesign<br />

Folgenden Forschungsfragen wurde im Rahmen<br />

einer qualitativen Studie nachgegangen:<br />

⊲ Welche Vorstellungen und Begriffe im Hinblick<br />

auf eine dynamische Sicht funktionaler<br />

Abhängigkeiten werden bei <strong>der</strong> Arbeit mit<br />

den Lernumgebungen entwickelt, wenn es um<br />

die qualitative Beschreibung lokaler und globa-<br />

53


Andrea Hoffkamp, Berlin<br />

ler Funktionseigenschaften (wie Extrema, Wendestellen,<br />

Monotonie, Steigung, nicht-lineares<br />

Wachstum) geht?<br />

⊲ Wie sehen die Interaktionsprozesse<br />

(Mensch–Mensch, Mensch–Computer) aus und<br />

welche Rolle spielen dabei die Möglichkeiten<br />

<strong>der</strong> Applikationen (Variation, Metavariation)?<br />

⊲ Welche epistemologischen Denkhürden sind erkennbar?<br />

Lerntheoretisch werden diese Fragen unter<br />

dem Conceptual-Change-Ansatz [Vosniadou &<br />

Vamvakoussi, 2006; Hahn & Prediger, <strong>2008</strong>] betrachtet.<br />

Im Lichte dieses Ansatzes bedeutet ein<br />

Graph-als-Bild-Fehler (siehe Abschnitt 1) eine<br />

Aktivierung einer nicht-situationsadäquaten Vorstellung.<br />

Im Sinne eines Conceptual-Change geht<br />

es um den Aufbau geeigneter Vorstellungen mit<br />

dem Ziel, dass die Kontexte, in denen gewisse<br />

Vorstellungen aktiviert werden, verschoben werden.<br />

Epistemologische Hürden, also Denkhürden,<br />

die in einem konstruktivistischen Lernprozess<br />

überwunden werden müssen, sind wichtige Momente<br />

beim Lernen. In <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

mit diesen Hürden liegt oft <strong>der</strong> Schlüssel <strong>für</strong> eine<br />

Erweiterung <strong>der</strong> Sicht auf mathematische Konzepte.<br />

In Sierpinska [1992] werden einige typische<br />

Hürden im Zusammenhang mit dem Funktionsbegriff<br />

identifiziert und beschrieben.<br />

Studiendesign<br />

Insgesamt wurden drei Lernumgebungen [Hoffkamp,<br />

<strong>2009</strong>c] in zwei zehnten Klassen an verschiedenen<br />

Berliner Gymnasien eingesetzt. Der<br />

zeitliche Rahmen bestand jeweils aus drei Doppelstunden<br />

plus einer Einzelstunde. Die Schülerinnen<br />

und Schüler arbeiteten in Zweiergruppen<br />

zunächst eigenständig mit <strong>der</strong> Lernumgebung. Die<br />

dabei formulierten Beobachtungen wurden in einem<br />

nachfolgendem Unterrichtsgespräch diskutiert.<br />

Pro Lernumgebung wurden vier Schülerpaare<br />

(zwei Paare pro Klasse) videographiert, und<br />

<strong>der</strong>en Gespräche und Bildschirmaktionen aufgezeichnet.<br />

Die Unterrichtsgespräche wurden ebenfalls<br />

auf Video festgehalten.<br />

Weiteres Auswertungsmaterial liegt in Form<br />

<strong>der</strong> bearbeiteten Arbeitsbögen, eines kurzen Tests<br />

und eines Fragebogens vor.<br />

4 Auswertung und ausgewählte<br />

Ergebnisse<br />

4.1 Auswertungsverfahren<br />

Hauptauswertungsmaterial sind die Videos <strong>der</strong><br />

Schülerpaare am Computer. Zunächst wurde von<br />

jedem Video ein Rohdokument angefertigt. Die<br />

Rohdokumente sind Tabellen mit folgenden Spalten:<br />

Zeit, Paraphrase, Computeraktion, Rohtran-<br />

54<br />

skript, erste Deutungen.<br />

Auf Grundlage <strong>der</strong> Rohdokumente wurden<br />

Episoden zur Transkription ausgewählt. Der<br />

Schwerpunkt liegt auf Episoden, in denen es um<br />

die Bearbeitung <strong>der</strong> Fragen Warum hat <strong>der</strong> Graph<br />

diese Gestalt? und Was geschieht o<strong>der</strong> än<strong>der</strong>t sich<br />

am schwarzen Punkt über C? geht.<br />

Zur Deutung und Analyse wurden auch die<br />

Formulierungen auf den Arbeitsbögen herangezogen.<br />

Die Auswertung orientiert sich an den Grundsätzen<br />

<strong>der</strong> interpretativen Unterrichtsforschung<br />

[Maier & Voigt, 1991]. Lehren und Lernen von<br />

<strong>Mathematik</strong> werden als Momente eines sozialen<br />

Prozesses gesehen, in dem mathematische Bedeutung<br />

aktiv konstruiert wird. Ziel ist die Re-<br />

Konstruktion <strong>der</strong> Bedeutung aus Texten (hier:<br />

Transkripte, Arbeitsbögen). Theoretisch ist dies<br />

gebunden an den Conceptual-Change-Ansatz.<br />

4.2 Ausgewählte Ergebnisse<br />

Eine Hauptschwierigkeit ist die inhaltliche und<br />

begriffliche Trennung zwischen Bestand und Än<strong>der</strong>ung.<br />

Die Än<strong>der</strong>ung des Flächeninhalts abhängig<br />

vom Abstand A − D muss dabei sowohl in<br />

<strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Situation (Zuwachs an Flächeninhalt)<br />

als auch in <strong>der</strong> Sprache des Funktionsgraphen<br />

(Steigung in einem Punkt) gefasst werden.<br />

Darüber hinaus müssen die beiden Repräsentationen<br />

Situation–Graph verbunden werden.<br />

Die Diskussionen <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler<br />

sind geprägt von einem häufigen Wechsel<br />

zwischen Bestands- und Än<strong>der</strong>ungssicht und<br />

dem gleichzeitigen begrifflichen und gedanklichen<br />

Ringen um Bestand und Än<strong>der</strong>ung. Das hat<br />

damit zu tun, dass <strong>der</strong> Ableitungsgraph (Dreieck<br />

als stückweise lineare Funktion) ja tatsächlich<br />

sichtbar ist. Die Än<strong>der</strong>ung (z.B. das Abnehmen<br />

<strong>der</strong> Steigung nach Überschreiten <strong>der</strong> Wendestelle)<br />

ist als Bestand im Ableitungsgraphen zu sehen,<br />

<strong>der</strong> ab <strong>der</strong> Wendestelle monoton sinkt. Mit<br />

an<strong>der</strong>en Worten: Der Bestand <strong>der</strong> Ableitungsfunktion<br />

spiegelt gerade die Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Bestandsfunktion<br />

wi<strong>der</strong>. In <strong>der</strong> Lernumgebung sind genau<br />

diese Ebenen dynamisch visualisiert und verbunden.<br />

Hahn & Prediger [<strong>2008</strong>, S. 177] beschreiben<br />

dies als Ebenen- und Aspektwechsel: Der Aspekt<br />

<strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung auf Ebene <strong>der</strong> Funktion f entspricht<br />

dem Zuordnungsaspekt auf Ebene <strong>der</strong> Ableitungsfunktion<br />

f ′ .<br />

Abbildung 10.4 zeigt in diesem Zusammenhang<br />

einen kleinen Ausschnitt eines Transkriptes<br />

einer längeren Diskussion zweier Schülerinnen.<br />

Der Diskussion geht voraus, dass S1 <strong>der</strong> Ansicht<br />

ist, dass <strong>der</strong> Flächeninhaltsgraph nach Überschreiten<br />

<strong>der</strong> Wendestelle sinkt, aber S2 damit nicht einverstanden<br />

ist. Schließlich schaltet sich ein Mitschüler<br />

(J) aus <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>en Bankreihe ein (82)<br />

und sagt ‚Wie wär’s, wenn ihr sagt ‚die Steigung


Funktionales Denken mit dem Computer unterstützen<br />

Abbildung 10.4: Transkriptauszug eines Schülerpaares zur Frage Warum hat <strong>der</strong> Graph diese Gestalt?<br />

nimmt ab‘. Damit war auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> graphischen<br />

Darstellung ein Begriff (Steigung) <strong>für</strong> das<br />

Än<strong>der</strong>ungsverhalten gefunden worden. Auf <strong>der</strong><br />

Seite <strong>der</strong> Situation gelang es den Schülerinnen jedoch<br />

nicht, das Än<strong>der</strong>ungsverhalten geeignet zu<br />

beschreiben. Das Transkript zeigt, dass sie von einem<br />

Verhältnis sprechen, das abnimmt (72, 75).<br />

Ihr Antwortsatz auf dem Arbeitsbogen zur Beantwortung<br />

<strong>der</strong> Frage Warum hat <strong>der</strong> Graph diese<br />

Gestalt? lautet:<br />

Da <strong>der</strong> Flächeninhalt in Abhängigkeit zu AD<br />

anfangs steigt, dann nimmt die Steigung leicht ab,<br />

da die Strecke AD im Verhältnis zum Flächeninhalt<br />

abnimmt, <strong>der</strong> Graph muss immer steigen, da<br />

<strong>der</strong> Flächeninhalt auch immer größer wird.<br />

Auf Situationsseite sprechen sie davon, dass<br />

das Verhältnis Länge AD zu Flächeninhalt nach<br />

Überschreiten <strong>der</strong> Wendestelle abnimmt, was in<br />

diesem Fall nicht korrekt ist. Statt Än<strong>der</strong>ungsraten<br />

und abschnittweiser Sicht, wird hier jeweils nur<br />

<strong>der</strong> Abschnitt vom Ursprung ausgehend gesehen.<br />

Die Monotonie erfassen sie sowohl auf graphischer<br />

als auch situativer Seite (‚<strong>der</strong> Graph muss<br />

immer steigen, da <strong>der</strong> Flächeninhalt auch immer<br />

größer wird‘).<br />

Abbildung 10.5 zeigt einen Transkriptauszug,<br />

<strong>der</strong> die Epistemologische Hürde ‚Steigung in einem<br />

Punkt‘ deutlich macht. Wie<strong>der</strong> geht es um<br />

Frage, warum <strong>der</strong> Graph diese Gestalt hat und insbeson<strong>der</strong>e,<br />

was sich bei Überschreiten des Punktes<br />

C än<strong>der</strong>t. S2 ist <strong>der</strong> Ansicht, die Funktion hätte<br />

keinen Anstieg (36,37), weil <strong>der</strong> Begriff Anstieg<br />

<strong>für</strong> Geraden reserviert ist. In (39, 40) verschiebt<br />

sie Punkt C horizontal (Metavariation) und sagt:<br />

‚da gibt es keinen Anstieg, weil <strong>der</strong> Anstieg ist<br />

überall unterschiedlich‘.<br />

Gerade das horizontale Verschieben von C<br />

scheint zu verdeutlichen, dass sich <strong>der</strong> Anstieg in<br />

jedem Punkt än<strong>der</strong>t. Die Beobachtung von S2 ist<br />

somit ein Moment, <strong>der</strong> im Lernprozess produk-<br />

tiv aufgegriffen werden kann, um das Konzept von<br />

Steigung zu erweitern. Die Notwendigkeit dieser<br />

Konzepterweiterung hat S2 im Prinzip selbst formuliert.<br />

Metavariation verdeutlicht Grapheneigenschaften<br />

und hat dadurch einen auffor<strong>der</strong>nden<br />

Charakter, wenn es um Erklärungssuche geht. Metavariation<br />

wurde von den Schülerinnen und Schülern<br />

häufig genutzt, um Vermutungen zu überprüfen<br />

und Grapheneigenschaften zu erkunden.<br />

Metavariation verdeckt aber auch oft die Variation<br />

erster Stufe, da visuell bei Bewegung<br />

von Punkt D (Variation erster Stufe) weniger geschieht,<br />

als bei Bewegung <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Punkte.<br />

Deswegen war es oft wichtig, die Schülerinnen<br />

und Schüler nochmals über die Art <strong>der</strong> Zuordnung<br />

(also auf eine punktweise Sicht) aufmerksam zu<br />

machen.<br />

Zusammenfassung<br />

Die Diskussionen <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler<br />

sind geprägt von einem begrifflichen und gedanklichen<br />

Ringen um Bestand und Än<strong>der</strong>ung. Insbeson<strong>der</strong>e<br />

fällt es schwer, das Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />

auf situativer Seite geeignet zu beschreiben. Auf<br />

graphischer Seite werden hier<strong>für</strong> meist die Begriffe<br />

Steigung o<strong>der</strong> Anstieg benutzt. Dabei ist es eine<br />

epistemologische Hürde, den Begriff <strong>der</strong> Steigung<br />

auf einzelne Punkte anzuwenden. Dies kann im<br />

Lernprozess produktiv genutzt werden, wenn es<br />

um die Erweiterung des Konzeptes Steigung geht.<br />

Metavariation verdeutlicht Grapheneigenschaften<br />

z.B. dadurch, dass gewisse Eigenschaften<br />

invariant unter Metavariation sind. Das führt<br />

zu Erklärungszwängen. Sie wird oft zur Überprüfung<br />

von Vermutungen über den funktionalen<br />

Zusammenhang genutzt, aber sie verdeckt auch<br />

die Variation erster Stufe durch den stärkeren visuellen<br />

Eindruck.<br />

55


Andrea Hoffkamp, Berlin<br />

Abbildung 10.5: Transkriptauszug eines Schülerpaares zur epistemologischen Hürde Steigung in einem<br />

Punkt<br />

Literatur<br />

Hahn, Steffen & Susanne Prediger (<strong>2008</strong>): Bestand und Än<strong>der</strong>ung<br />

– Ein Beitrag zur Didaktischen Rekonstruktion <strong>der</strong> Analysis.<br />

JMD, 29(3/4), 163–198.<br />

Hoffkamp, Andrea (<strong>2009</strong>a): Enhancing functional thinking<br />

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Hoffkamp, Andrea (<strong>2009</strong>b): Funktionales Denken und Analysispropädeutik<br />

– Ein Beitrag zu einem qualitativen Einstieg in<br />

die Schulanalysis durch Computereinsatz. Computeralgebra–<br />

Rundbrief, 45, 27–29.<br />

Hoffkamp, Andrea (<strong>2009</strong>c): Homepage Andrea Hoffkamp.<br />

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Janvier, Claude (1978): The interpretation of complex cartesian<br />

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Nottingham, Shell Centre for Mathematical Education, Nottingham.<br />

Krüger, Katja (2000): Kinematisch-funktionales Denken als<br />

Ziel des höheren <strong>Mathematik</strong>unterrichts – das Scheitern <strong>der</strong><br />

Meraner Reform. Mathematische Semesterberichte, 47, 221–<br />

241.<br />

56<br />

Maier, Hermann & Jörg Voigt (Hg.) (1991): Interpretative Unterrichtsforschung.<br />

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Richter-Gebert, Jürgen & Ulrich Kortenkamp (2006): The Interactive<br />

Geometry Software Cin<strong>der</strong>ella, Version 2.0. URL<br />

http://www.cin<strong>der</strong>ella.de.<br />

Sierpinska, Anna (1992): On un<strong>der</strong>standing the notion of function.<br />

In: Harel, Guershon & Ed Dubinsky (Hg.): The concept<br />

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Association of America, 25–58.<br />

Stellmacher, Hubertus (1986): Die nichtquantitative Beschreibung<br />

von Funktionen durch Graphen beim Einführungsunterricht.<br />

In: Harten, Gerd, Hans N. Jahnke, Thomas Mormann<br />

et al. (Hg.): Funktionsbegriff und funktionales Denken, Aulis<br />

Verlag, 21–34.<br />

Vollrath, Hans-Joachim (1989): Funktionales Denken. Journal<br />

<strong>für</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik, 10(1), 3–37.<br />

Vosniadou, Stella & Xenia Vamvakoussi (2006): Examining<br />

Mathematics Learning from a Conceptual Point of View. In:<br />

Verschaffel, Lieven et al. (Hg.): Instructional Psychology: Past,<br />

present, and future trends – Sixteen essays in honour of Eric De<br />

Conte. Advances in Learning and Instruction Series, Elsevier.


• Qualitatives Modellieren mit <strong>der</strong> Funktionenbox und an<strong>der</strong>en<br />

schwarzen Kästen<br />

Guido Pinkernell, Darmstadt<br />

Der Begriff „Qualitatives Modellieren“ nimmt solche Teiltätigkeiten eines Modellierungsprozesses<br />

in den Blick, in denen ein rechnerischer Umgang mit quantitativen Daten nur eine untergeordnete<br />

Rolle spielt. Solche Teiltätigkeiten können zum Beispiel die begründete Auswahl eines mathematischen<br />

Modells o<strong>der</strong> die Validierung einer gefundenen Lösung sein, also solche Phasen, die bei einem<br />

kalküllastigen Unterricht häufig vernachlässigt werden. Der Einsatz von mathematischer Software<br />

kann so als Chance begriffen werden, gerade die qualitativen Aspekte des Modellierens zu unterstützen,<br />

was durch zahlreiche Aufgabenbeispiele aus dem Unterricht illustriert wird.<br />

Eine gekürzte Version dieses Beitrags wurde im Rundbrief <strong>der</strong> Fachgruppe Computeralgebra, Heft<br />

46 (2010), S. 13–17, veröffentlicht.<br />

1 Was soll „Qualitatives<br />

Modellieren“?<br />

Der Rechnereinsatz im Unterricht wirkt wie<br />

ein Katalysator. “Wenn <strong>der</strong> Rechner alles übernimmt“,<br />

so die häufige Klage, „was müssen dann<br />

Schüler noch können?“ Ja was? Was bleibt denn<br />

übrig, wenn „alles“ von einer Maschine übernommen<br />

wird?<br />

Wenn das Bild von <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> durch Rechenfertigkeiten<br />

bestimmt wird, dann bleibt tatsächlich<br />

nicht mehr viel übrig. Dass da aber noch<br />

eine ganze Menge mehr ist als bloßes Rechnen<br />

können, hat ja die Diskussion über Kompetenzen<br />

und Leitideen in den letzten Jahren gezeigt.<br />

Beson<strong>der</strong>s deutlich muss das beim Modellieren<br />

werden, wo reines Rechnen nur einen kleinen<br />

Teil <strong>der</strong> Aktivitäten ausmachen. Je<strong>der</strong> bekannte<br />

Modellierungskreislauf zeigt das zur Genüge.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e fehlt im Begriff des „Mathematischen<br />

Modellierens“ von Blum [2007] mit seinen<br />

Teilkompetenzen „Vereinfachen, Mathematisieren,<br />

Interpretieren und Validieren“ gerade das<br />

„Auswählen, Schaffen und Anwenden mathematischer<br />

Werkzeuge.“ Wenn also <strong>der</strong> Rechner insbeson<strong>der</strong>e<br />

das Anwenden mathematischer Werkzeuge<br />

übernimmt, was bleibt dann noch übrig an<br />

Modellierungskompetenzen? Sehr viel!<br />

Es lohnt sich, ausgehend vom fortschreitenden<br />

Rechnereinsatz in den Schulen, diese nichtkalküllastigen<br />

Teilkompetenzen des Modellierens<br />

gezielt in den Blick zu nehmen. Und zwar unter<br />

einem gemeinsamen Oberbegriff, <strong>der</strong> als komplementär<br />

zu verstehen ist zu den vielerorts zuerst<br />

wahrgenommenen rechnerischen Fertigkeiten. Insofern<br />

soll hier das „Qualitative Modellieren“ verstanden<br />

werden als die Tätigkeiten <strong>der</strong> Modellentwicklung<br />

und -begründung, bei denen deutlich auf<br />

nicht quantifizierte Eigenschaften <strong>der</strong> Sachsituation<br />

Bezug genommen wird.<br />

Als Zwischenbemerkung sei <strong>der</strong> Hinweis eingefügt,<br />

dass <strong>der</strong> Begriff des „Qualitativen Modellierens“<br />

auch in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik nicht unbekannt<br />

ist. Ossimitz [1991] beschreibt hierun-<br />

ter spezielle Formen des Modellbildungsprozesses<br />

dynamischer Systeme. Seine Differenzierung<br />

zwischen qualitativen und quantitativen Aspekten<br />

des Modellierens deckt sich nicht in jedem Detail,<br />

aber weitgehend mit den hier geschil<strong>der</strong>ten<br />

Ausführungen, wird dort aber an an<strong>der</strong>en Inhalten<br />

konkretisiert.<br />

Drei Thesen des Qualitativen Modellierens<br />

sollen im Folgenden jeweils anhand schulnaher<br />

Aufgaben herausgearbeitet werden:<br />

⊲ Geeignete Modellfunktionen können qualitativ<br />

begründet werden bevor die Termanpassung<br />

vorgenommen wird.<br />

⊲ Quantitativ ermittelte Modelle müssen auch aus<br />

qualitativer Perspektive bestehen.<br />

⊲ Modellbildung ist auch ganz ohne quantifizierte<br />

Daten möglich.<br />

Dass hier verschiedene bekannte Teilkompetenzen<br />

des Modellierens wie „Validieren“ usw.<br />

mit angesprochen sind bleibt unbestritten. Eine<br />

differenzierte Diskussion dieser Teilkompetenzen<br />

nach dem Vorbild bekannter feinstrukturierter<br />

Prozessmodelle soll aber im Sinne <strong>der</strong> eingangs<br />

begründeten Schwerpunktsetzung unterbleiben.<br />

2 Was ist Qualitatives Modellieren?<br />

2.1 Funktionen termfrei – qualitatives vor<br />

quantitativem Modellieren<br />

Abbildung 11.1: aus Pinkernell [<strong>2009</strong>]<br />

Abb. 11.1 zeigt eine Aufgabe, die aus dem<br />

57


Guido Pinkernell, Darmstadt<br />

Bereich <strong>der</strong> Parametervariation stammen könnte.<br />

Sie ist insofern ungewöhnlich, als hier die Variation<br />

unabhängig von dem Term des gegebenen<br />

Funktionstyps erfolgt. Man beobachtet zwar weiterhin<br />

Verän<strong>der</strong>ungen hinsichtlich <strong>der</strong> Gestalt und<br />

Position des Funktionsgraphen, wenn die Werte<br />

von a, b, c, usw. verän<strong>der</strong>t werden. Aber diese<br />

Verän<strong>der</strong>ungen sind bei allen Funktionen, die<br />

als „ f (x)“ im Rechner abgelegt werden, die gleichen.<br />

Zum Beispiel ist die Wirkung des Parameters<br />

b in f (x) + b eine Verschiebung parallel zur<br />

y-Achse. Eine solche allgemeine Aussage dürfte<br />

<strong>für</strong> einen Schüler schwerer nachvollziehbar sein,<br />

wenn das „b“ in den Termen <strong>der</strong> verschiedenen<br />

Funktionstypen an unterschiedlichen Stellen auftaucht.<br />

Man vergleiche nur f (x) = ax + b und<br />

f (x) = asin(bx + c) + d [Pinkernell, <strong>2009</strong>].<br />

Abbildung 11.2: aus Pinkernell [<strong>2009</strong>]<br />

Das hat zunächst nicht viel mit Modellieren<br />

zu tun. Entscheidend ist angesichts <strong>der</strong> beiden<br />

Screenshots aber die Tatsache, dass die Auswahl<br />

eines Funktionstyps und die Quantifizierung<br />

<strong>der</strong> Parameter voneinan<strong>der</strong> getrennt ist. Und zwar<br />

chonologisch. Zuerst muss die Funktion gewählt<br />

werden, bevor die einzelnen Größen in den Blick<br />

genommen werden können. Wie dies <strong>für</strong> das Modellieren<br />

bedeutsam werden kann, zeigt die folgende<br />

Aufgabe (Abb. 11.2). Bevor die vielerorts<br />

übliche Funktionsanpassung vorgenommen werden<br />

kann, muss überhaupt eine mögliche Funktion<br />

ausgewählt und begründet werden. In dieser Reihenfolge<br />

muss die Auswahl im Wesentlichen aus<br />

qualitativen Gründen erfolgen, z. B. unter Hinweis<br />

auf die zu erwartende Periodizität <strong>der</strong> Sonnenscheindauer<br />

über mehrere Jahre hinweg. Konkrete<br />

Datenwerte müssen nicht bemüht werden. Es<br />

reichen grundsätzliche Kenntnisse über den Unterschied<br />

von Winter und Sommer, die durch den<br />

„nicht quantifizierenden“ Blick auf das Säulendiagramm<br />

ergänzt wird. Konkrete Daten – wenn<br />

überhaupt vorhanden – sind bei <strong>der</strong> Auswahl des<br />

Modells nur ein Teil <strong>der</strong> Begründung.<br />

Auch beim Erstellen von Regressionen ist diese<br />

Abfolge von Auswahl und Anpassung sichtbar<br />

(Abb. 11.3). Zuerst wird <strong>der</strong> Regressionstyp<br />

gewählt. Dann erst erfolgt vermittels <strong>der</strong> Bestä-<br />

58<br />

tigungstaste die automatisierte Anpassung. Dabei<br />

ist auch aus <strong>der</strong> „qualitativen Perspektive“ auf den<br />

Modellierungsprozess diese chronologische Reihung<br />

nicht entscheidet. Sie weist hier nur darauf<br />

hin, dass eine Differenzierung zwischen qualitativen<br />

und quantitativen Phasen möglich und sinnvoll<br />

ist.<br />

Abbildung 11.3: Die Auswahl <strong>der</strong> Regression ist<br />

ein separater Schritt vor <strong>der</strong> quantitativen Anpassung<br />

durch Betätigung <strong>der</strong> „Enter“-Taste.<br />

2.2 Regressionsfunktionen – quantitativ<br />

ermittelte Modelle werden qualitativ<br />

überprüft<br />

Regressionen werden bei <strong>der</strong> Bestimmung von<br />

Modellfunktionen häufig missbraucht. Häufig<br />

wird nach dem Muster verfahren „mal gucken was<br />

so passt“, wobei das Passgüte allein mittels <strong>der</strong><br />

Korrelation beurteilt wird. Demnach wäre diejenige<br />

Regression die beste, unter <strong>der</strong> die Datensätze<br />

eine Korrelation möglichst nahe bei 1 aufweisen.<br />

Das ist insofern problematisch, als diese rein<br />

quantitativ motivierte Begründung u. U. zu verfälschenden<br />

Aussagen über den Sachkontext veranlassen.<br />

Das Aufgabenbeispiel aus Abb. 11.4 entstammt<br />

<strong>der</strong> Einheit „Lineare Zusammenhänge“<br />

aus dem Schulprojekt CAliMERO [Bru<strong>der</strong> &<br />

Weiskirch, <strong>2008</strong>]. Die hier<strong>für</strong> relevanten nie<strong>der</strong>sächsischen<br />

Richtlinien schreiben <strong>für</strong> dieses Themengebiet<br />

auch die Behandlung von Ausgleichsgeraden<br />

vor. Bemerkenswert aus qualitiativer Perspektive<br />

ist an dieser Aufgabe, dass keine Ausgleichsgeraden<br />

zu berechnen sind, son<strong>der</strong>n zwei<br />

gegebene Modelle hinsichtlich ihrer Eignung zu<br />

beurteilen sind. Dabei lassen sich <strong>für</strong> beide Geraden<br />

gute Argumente finden. Im Sinne von „offenen<br />

Modellierungsaufgaben“ [Greefrath, 2007]<br />

gibt es hier keine „richtige Lösung“, eine wichtige<br />

Erkenntnis, die auch bei Siebtklässlern thematisiert<br />

werden kann. Studenten dagegen, denen diese<br />

Aufgabe vorgelegt wurde, zückten ihren Rechner<br />

und verwarfen beide Modelle unter Hinweis<br />

auf die vom Automaten berechnete Regressiongerade.<br />

Sie stimmte nämlich mit keiner <strong>der</strong> beiden


Qualitatives Modellieren mit <strong>der</strong> Funktionenbox und an<strong>der</strong>en schwarzen Kästen<br />

Abbildung 11.4: aus Bru<strong>der</strong> & Weiskirch [<strong>2008</strong>]: „Lineare Zusammenhänge“<br />

gegebenen überein. Qualitative Argumente wurden<br />

– ganz im Gegensatz zur Aufgabenintention<br />

– gar nicht erst bemüht.<br />

Dass die erste Auswahl eines Regressionsmodell<br />

nicht die endgültige sein muss, dürfte klar<br />

sein. Die erste Wahl zu verwerfen kann natürlich<br />

auch unter Hinweis auf eine schlechte Datenanpassung<br />

erfolgen. Eine solche Entscheidung wirkt<br />

aber überzeugen<strong>der</strong>, wenn das neue Modell auch<br />

durch qualitative Eigenschaften des Sachkontextes<br />

begründet werden kann – o<strong>der</strong> aufgrund des<br />

neuen Modells mögliche Eigenschaften des Kontextes<br />

deutlich werden lässt, die vielleicht vorher<br />

nicht übersehen o<strong>der</strong> gar ganz unbekannt waren.<br />

Von einem eindrucksvollen Beispiel berichtete<br />

Joachim Engel in seinem Vortrag auf <strong>der</strong> Soester<br />

Tagung des AK MUI [vgl. auch Engel, <strong>2009</strong>,<br />

106ff.]: In einem Experiment wurden verschiedene<br />

Volumenmengen Wasser in einer Mikrowelle<br />

<strong>für</strong> 30 Sekunden erhitzt und die Temperaturdifferenz<br />

gemessen. Einen zuerst vermuteten antiproportionalen<br />

Zusammenhang von Temperaturzuwachs<br />

∆T in Abhängigkeit <strong>der</strong> Volumenmenge<br />

V ließen die Daten nicht zu. Weitaus besser als<br />

die vermutete Potenzfunktion mit Exponenten −1<br />

passte ein Exponent nahe bei −0,65. Wie kann<br />

das sein? – eine Frage, die sich nahezu aufdrängt,<br />

ihre Antwort aber in <strong>der</strong> Sachsituation sucht. Engel<br />

selbst gibt eine mögliche Erklärung: Aufgenommen<br />

wird die Wärmeenergie über die Oberfläche<br />

(auch bei Mikrowellen ist die Eindringtiefe<br />

begrenzt). Das Dimensionenverhältnis von Oberfläche<br />

zum Volumen ist aber 2/3 ≈ 0,66. Wenn<br />

man nun zusätzlich annimmt, dass die Tempera-<br />

turdifferenz in einem antiproportionalen Zusammenhang<br />

zur Oberfläche <strong>der</strong> Wassermenge steht,<br />

ließe sich eine Funktion von <strong>der</strong> Form ∆T = k ·<br />

V −2/3 in <strong>der</strong> Sache plausibel machen.<br />

Daten allein erklären die Wirkungszusammenhänge<br />

nicht. Sie können aber Hinweise geben, wie<br />

sie zu verstehen sind. Und zwar, indem das passende<br />

Modell in seiner Bedeutung <strong>für</strong> die Sache<br />

analysiert wird. 1<br />

Abb. 11.5 zeigt schematisch diese wechselseitige<br />

Beziehung zwischen unserer Interpretation<br />

des Sachkontextes und dem gewählten Modell.<br />

Zum einen soll das Modell den Zweck erfüllen,<br />

die zur Problemlösung relevanten Aspekte des<br />

Sachkontextes abzubilden. Umgekehrt ist es möglich,<br />

dass Eigenschaften des Modells Rückschlüsse<br />

auf Eigenschaften des Sachkontextes ermöglichen,<br />

die zuvor unbekannt waren. Dass die Neuinterpretation<br />

von Wirklichkeit aufgrund von Modellen<br />

in den Naturwissenschaften gängige Praxis<br />

ist, macht dieses Schema nicht zu einem trivialen.<br />

Es ist vielmehr ein weiterer Grund da<strong>für</strong>, die qualitative<br />

Perspektive auf die Modellbildung neben<br />

die quantitative zu stellen.<br />

Abbildung 11.6: aus Körner [2003]<br />

1 Man nennt ein solches Modell auch explikativ, da es den Zweck hat, die zugehörigen Sachkontext zu erklären. Eine Abgrenzung<br />

zum Begriff des deskriptiven Modells erscheint schwierig. Und wenn man bedenkt, dass explikative bzw. deskriptive Modelle die<br />

Komplexität einer Sachsituation auf vereinfachende Weise interpretieren, wirken sie auch immer normativ. Trotzdem: schlagwortartige<br />

Terminologien sind nützlich, wenn sie helfen, den selben Gegenstand aus grundsätzlich unterscheidbaren Perspektiven in den Blick<br />

zu nehmen. Das ist ja mit dem „Qualitativen vs. Quantitativen Modellieren“ auch nicht an<strong>der</strong>s.<br />

59


Guido Pinkernell, Darmstadt<br />

Abbildung 11.5: Unsere Interpretation des Sachkontextes beeinflusst die Wahl des Modells - und umgekehrt<br />

Eine Aufgabe, das diesen wechselseitigen Einfluss<br />

auf unterhaltsame Weise verdeutlicht, ist die<br />

Aufgabe aus Abb. 11.6. Hier sind zwei Modelle<br />

möglich, die beide qualitative wie quantitative Eigenschaften<br />

<strong>der</strong> Situation berücksichtigen. Dabei<br />

ist entscheidend, dass es sich hier um ein Zufallsexperment<br />

handelt. Die eine Funktion modelliert<br />

die ideale Situation, die zweite nimmt Bezug auf<br />

die „erwürfelten“ Daten. Dass beide annehmen,<br />

dass es sich hier um einen exponentiellen Prozess<br />

handelt, ist – qualitativ – leicht zu begründen. In<br />

Körner [2003] ist zu dieser Aufgabe eine Ergebnistabelle<br />

zu finden, auf <strong>der</strong>en Grundlage Studenten<br />

eine passende Modellfunktion ermitteln sollten.<br />

Sie lieferten <strong>der</strong>en zwei (siehe Abb. 11.7) und<br />

begannen, lebhaft über die „Richtigkeit“ <strong>der</strong> einen<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zu diskutieren.<br />

Abbildung 11.7: Zwei Exponentialfunktionen modellieren<br />

das m&m-Experiment<br />

Für das Regressionsmodell spricht, dass es zu<br />

den gegebenen Daten besser passte als die an<strong>der</strong>e<br />

Funktion. Diese an<strong>der</strong>e wie<strong>der</strong>um berücksichtigt<br />

zuvor<strong>der</strong>st den Kontext, indem die beim<br />

Wurf einer Schokolinse angenommene Erfolgswahrscheinlichkeit<br />

von 50% in die Formulierung<br />

des Funktionsterms übernommen wird. Dass die<br />

Daten hiervon abweichen kann durch den Zu-<br />

60<br />

fall erklärt werden. Eine größere Versuchsreihe<br />

würde wohl eine bessere Anpassung <strong>der</strong> Daten<br />

an das ideale Modell erwarten lassen, so meinte<br />

man. Ich berichtete sodann von <strong>der</strong> Druchführung<br />

eines ähnlichen Schokolinsenexperiments in<br />

einem Leistungskurs, das die exponentielle Abnahme<br />

einführen sollte: Alle Linsen einer Tüte<br />

werden geworfen, und die Linsen mit oben liegendem<br />

Aufdruck durften gegessen werden, <strong>der</strong><br />

Rest sollte nochmal geworfen werden usw. Die<br />

Schülergruppen wurden in <strong>der</strong> großzügig bemessenen<br />

Zeit nicht fertig, denn überall blieb eine<br />

kleine Anzahl von m&ms übrig, die partout nicht<br />

ihrem Aufdruck zeigen wollten. Eine genauere<br />

Untersuchung zeigte Unerwartetes: Diese Schokolinsen<br />

hatten gar keinen Aufdruck! Aufmerken<br />

auch in <strong>der</strong> Studentengruppe: Müssen wir nun die<br />

Bewertung unserer Modelle revidieren? Kann es<br />

womöglich sein, dass die Regressionsfunktion mit<br />

52% die „wahre“ Erfolgswahrscheinlichkeit angibt?<br />

Modelle machen Aussagen über Wirklichkeit.<br />

Ein Modell kann gar Eigenschaften <strong>der</strong> Sachsituation<br />

aufdecken, die vorher nicht wahrgenommen<br />

wurden. Die quantitative und die qualitative Perspektive<br />

müssen sich ergänzen, wenn das Modell<br />

überzeugend begründet werden soll.<br />

2.3 Differenzialgleichungen – Modellbilden<br />

ohne quantifizierte Daten<br />

Ebenfalls in Körner [2003] findet sich eine Aufgabe,<br />

mittels <strong>der</strong>er man den wechselseitigen Einfluss<br />

von Modellbildung und unserer Interpretation<br />

<strong>der</strong> Sachsituation thematisieren kann. Den<br />

Schülern wird eine Tabelle (Abb. 11.8 links) vorgelegt<br />

mit <strong>der</strong> Auffor<strong>der</strong>ung, eine Prognose <strong>für</strong><br />

x = 2 zu erstellen. Offensichtlich bietet sich ein lineares<br />

Modell an, das allerdings nach Bekanntgabe<br />

weiterer Daten (Abb. 11.8 mitte) revidiert werden<br />

muss. Das hier sich anbietende exponentiale<br />

Modell wie<strong>der</strong>um erscheint nicht das einzig mögliche<br />

Modell, wenn man die dritte Tabelle in den


Qualitatives Modellieren mit <strong>der</strong> Funktionenbox und an<strong>der</strong>en schwarzen Kästen<br />

Blick nimmt. Die Datenpunkte gehen zum Schluss<br />

nahezu senkrecht nach oben. Man ist versucht,<br />

hinter x=2 eine Polgerade zu vermuten. Mit <strong>der</strong><br />

Konsequenz, dass eine Hyperbel durch die Punkte<br />

zu legen wäre.<br />

Der Sachkontext wird in <strong>der</strong> originalen Version<br />

<strong>der</strong> Aufgabe erst am Schluss genannt. Es handelt<br />

sich um das Wachstum <strong>der</strong> Weltbevölkerung<br />

mit x: Jahreszahl in 1000 und y: Anzahl <strong>der</strong> Menschen<br />

in Mrd. Das letzte Modell wirkt in diesem<br />

Sachkontext alarmierend. Ist demnächst eine globale<br />

Katastrophe zu erwarten? – O<strong>der</strong> darf man<br />

überhaupt ein hyperbolisches Wachstum annehmen?<br />

Hierzu ist es sinnvoll, auf Grundlage <strong>der</strong> ermittelten<br />

Modelle den Sachkontext erneut zu analysieren.<br />

Jedes Modell macht hierzu Aussagen<br />

zum Zusammenhang zwischen Bestand und Bestandsän<strong>der</strong>ung.<br />

Im linearen Modell wird die Än<strong>der</strong>ung<br />

zu jedem Zeitpunkt als konstant angenommen.<br />

Beim exponentiellen Modell wächst die Än<strong>der</strong>ung<br />

mit dem Bestand, genauer ist dieser Zusammenhang<br />

proportional. Die Daten veranlassen<br />

dazu, das exponentielle Modell anzuwenden,<br />

aber: Welche Gründe sind im Sachkontext sprechen<br />

hier<strong>für</strong>? Sie dürften mit <strong>der</strong> sich ausbreitenden<br />

Industrialisierung im 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts zusammen<br />

hängen. Das hyperbolische Modell geht<br />

noch weiter. Es nimmt einen überproportionalen<br />

Zusammenhang zwischen Bestand und Än<strong>der</strong>ung<br />

an. Es passt sehr gut zu den Daten, aber inwieweit<br />

spricht <strong>der</strong> Kontext da<strong>für</strong>? Hierzu müsste man<br />

Gründe da<strong>für</strong> finden, wie in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

eine größer werdende Weltbevölkerung ständig<br />

die Lebensbedingungen soweit verbessern konnte,<br />

dass auch die Reproduktionsrate weiter wächst.<br />

Aber was die Zukunft betrifft: Kann die Reproduktionsrate<br />

denn tatsächlich immer weiter wachsen?<br />

Wo Zusammenhänge zwischen Bestand und<br />

Bestandsän<strong>der</strong>ung untersucht werden sind Differenzialgleichungen<br />

nicht weit. Für jedes <strong>der</strong><br />

drei genannten Modelle ist dieser Zusammenhang<br />

auch in Form einer Gleichung schnell formuliert.<br />

Eine konstante Bestandsän<strong>der</strong>ung im linearen<br />

Fall führt zur Gleichung B ′ (t) = c mit einer<br />

reellen Konstante c. Beim exponentiellen Modell<br />

sind Än<strong>der</strong>ung und Bestand proportional, die zugehörige<br />

Differenzialgleichung lautet also B ′ (t) =<br />

pB(t), wobei <strong>der</strong> Proportionalitätsfaktor p ebenfalls<br />

reell ist. Der Zusammenhang beim hyperbolischen<br />

Modell ist überproportional. „Überproportional“<br />

heißt hier „quadratisch“: B ′ (t) = cB 2 (t).<br />

Differenzialgleichungen in dieser allgemeinen<br />

Form formulieren qualitative Zusammenhänge<br />

zwischen Wirkungsgrößen in <strong>der</strong> Sachsituation<br />

2 . Man kann die enthaltenen Parameter ggf.<br />

quantifizieren. Im Schulunterricht sind darüber<br />

hinaus die gewohnten expliziten Funktionsgleichungen<br />

zu ermitteln. Der Rechner erledigt das<br />

schnell; auch in diesem Fall sollte die Blackbox<br />

nicht geöffnet werden, wenn als Schwerpunkt <strong>der</strong><br />

Unterrichtsreihe das Modellieren verstanden wird<br />

und nicht die Behandlung analytischer Methoden<br />

und Begriffe. Bemerkenswerterweise findet man<br />

genau diese Schwerpunktsetzung im kommenden<br />

Kerncurriculum <strong>für</strong> die Oberstufe an nie<strong>der</strong>sächsischen<br />

Gymnasien wie<strong>der</strong>, wo die Arbeit mit zumindest<br />

graphikfähigen Taschenrechnern seit <strong>der</strong><br />

Jahrgangsstufe 7 Pflicht ist. Dort wird als Lernziel<br />

formuliert: „[Die Schülerinnen und Schüler]<br />

erkennen den Zusammenhang zwischen Funktion<br />

und Ableitungsfunktion und deuten die resultierende<br />

Differentialgleichung im Sachkontext<br />

<strong>der</strong> Wachstumsmodelle.“ Insbeson<strong>der</strong>e sind „Differentialgleichungen<br />

ohne Lösungsverfahren“ 3 zu<br />

behandeln [Nie<strong>der</strong>sächsisches Kultusministerium,<br />

<strong>2009</strong>].<br />

Wo <strong>der</strong> Rechner als Blackbox im Einsatz ist<br />

wird schnell deutlich, dass die intellektuelle Tätigkeit<br />

sich auf an<strong>der</strong>e Bereiche als dem Rechnen<br />

verlagern muss. Beim Modellieren bietet sich<br />

die Analyse qualitativer Eigenschaften <strong>der</strong> gegebenen<br />

Sachsituation an. Differentialgleichungen<br />

sind hier<strong>für</strong> hervorragend geeignet. Die zwei folgenden<br />

Aufgaben – stellvertretend <strong>für</strong> weitere an<strong>der</strong>e<br />

aus einer unveröffentlichten Unterrichtsreihe<br />

<strong>für</strong> Leistungskurse – sollen zeigen, wie das aussehen<br />

kann.<br />

Die erste Aufgabe (Abb. 11.9–11.11) wurde<br />

eingesetzt, nachdem die Schüler schon einige Erfahrung<br />

mit <strong>der</strong> Modellierung mit Differenzialgleichungen<br />

gemacht hatten. Insbeson<strong>der</strong>e hatten<br />

sie entsprechende Kenntnisse über Modelle von linearen,<br />

exponentiellen und beschränkten Wachstumsprozessen.<br />

Jedesmal wurde Wert darauf gelegt,<br />

dass unterschiedliche Aspekte des jeweiligen<br />

Begriffs deutlich werden, in an<strong>der</strong>en Aufgaben<br />

auch Richtungsfel<strong>der</strong>, die hier fehlen. Dieser<br />

aspektreiche Zugang wurde auch methodisch unterstützt,<br />

so auch in dieser Aufgabe in Form eines<br />

Gruppenpuzzles. Jede <strong>der</strong> drei Gruppen A, B und<br />

C hatte seinen eigenen Zugang zum neuen Wachstumsmodell,<br />

das in dieser Aufgabe das logistische<br />

ist. Die Arbeitsaufträge überlappten sich, was die<br />

abschließende Austauschrunde vereinfachte. Man<br />

2 Ossimitz [1991] versteht Wortbeschreibungen von Wirkungsgrößen und <strong>der</strong>en Zusammenhänge qualitativ. Ihre Übersetzungen in<br />

formalmathematische Ausdrücke, darunter auch Differentialgleichungen, werden dagegen quantitative Modelle genannt, auch dann,<br />

wenn den enthaltenen Parametern keine konkreten Werte zugewiesen werden.<br />

3 Mir ist keine an<strong>der</strong>e Stelle in einem Lehrplan bekannt, an <strong>der</strong> herausgestellt wird, was nicht zu unterrichten ist. Offensichtlich ist<br />

die Sorge groß, dass mit <strong>der</strong> Nennung von „Differenzialgleichungen“ wie<strong>der</strong> kalküllastige Assoziationen freigesetzt und die intendierten<br />

qualitativen Ansätze gar nicht erst wahrgenommen werden.<br />

61


Guido Pinkernell, Darmstadt<br />

Abbildung 11.8: „Erstelle eine Prognose <strong>für</strong> x = 2“ – Eine sich verän<strong>der</strong>nde Datenlage än<strong>der</strong>t unseren Blick<br />

auf die Situation<br />

62<br />

Abbildung 11.9: Einführung in das logistische Wachstumsmodell in arbeitsteiliger Gruppenarbeit (A)<br />

Abbildung 11.10: Einführung in das logistische Wachstumsmodell in arbeitsteiliger Gruppenarbeit (B)


Qualitatives Modellieren mit <strong>der</strong> Funktionenbox und an<strong>der</strong>en schwarzen Kästen<br />

Abbildung 11.11: Einführung in das logistische Wachstumsmodell in arbeitsteiliger Gruppenarbeit (C)<br />

beachte aber: Im gesamten Aufgabenmaterial findet<br />

sich keine Zahl. Die Modellentwicklung findet<br />

also auf einer rein qualitativen Ebene statt.<br />

Die zweite Aufgabe in Abb. 11.12 zeigt Auszüge<br />

aus einer Abiturklausur. Hier ist eine Datentabelle<br />

enthalten, um beide Aspekte – den qualitativen<br />

wie quantitativen – zu berücksichtigen.<br />

Die Originalaufgabe verlangte auch die Bearbeitung<br />

quantitativer Fragestellungen, hier sind nur<br />

die Teilaufgaben gezeigt, die die qualitative Perspektive<br />

betonen. Zwar sollte Bezug genommen<br />

werden auf die Tabellendaten, indem auf fallende<br />

Zuwachsraten hingewiesen wird. Letzteres könn-<br />

Abbildung 11.12: Eine Abituraufgabe<br />

te darauf hinweisen, dass die Populationsentwicklung<br />

schon vor Aufzeichnung in die Sättigungsphase<br />

eingetreten ist. Daneben steht aber auch die<br />

Angabe, dass eine wachsende Menge an Bakterien<br />

entfernt wird. Vielleicht ist dieser Eingriff <strong>für</strong><br />

die fallenden Zuwachsraten verantwortlich? Ohne<br />

diesen Eingriff hätte man mit dem Bakterienwachstum<br />

in einem beschränkten Lebensumfeld<br />

ja ein klassisches Beispiel <strong>für</strong> einen logistischen<br />

Wachstumsprozess. Gegen das logistische Wachstumsmodell<br />

spricht darüber hinaus, dass die zuge-<br />

63


Guido Pinkernell, Darmstadt<br />

hörige Differentialgleichung<br />

y ′ (x) = k · y(x) · (G − y(x))<br />

die regelmäßig wachsende Entnahme von Bakterien<br />

nicht berücksichtigt. Die in <strong>der</strong> zweiten Teilaufgabe<br />

gegebene Gleichung tut dies mit dem<br />

Teilterm −b · x, setzt aber mit dem ersten Teilterm<br />

y ′ (x) = 0,2 · y(x) grundsätzlich exponentielles<br />

Wachstumsverhalten voraus. Wie wäre das zu<br />

begründen? O<strong>der</strong> sollte man stattdessen die Differentialgleichung<br />

des logistischen Wachstums modifizieren?<br />

Wie? Der Rechner liefert ggf. explizite<br />

Funktionsterme, anhand dann auch anhand <strong>der</strong><br />

Daten überprüft werden könnten.<br />

3 Zusammenfassung<br />

Qualitatives Modellieren benennt eine bestimmte<br />

Perspektive auf den Modellbildungsprozess. Es<br />

werden mit diesem Begriff die Tätigkeiten in den<br />

Blick genommen, in denen <strong>der</strong> Kalkül keine wesentliche<br />

Rolle spielt. In diesem Sinne wirkt <strong>der</strong><br />

Begriff vereinfachend. Er ist aber dennoch sinnvoll,<br />

wenn angesichts wachsendem Rechnereinsatz<br />

im Schulunterricht gerade den kalküllastigen<br />

Phasen weniger Gewicht beigemessen werden<br />

kann. An<strong>der</strong>s gesagt: Auf die Frage „Was bleibt<br />

denn bei Rechnereinsatz noch an <strong>Mathematik</strong> übrig?“<br />

heißt die Antwort: Es sind gerade die qualitativen<br />

Aspekte des Modellbildens, denen im Unterricht<br />

mehr Raum gegeben werden kann.<br />

An mehreren Aufgabenbeispielen (von denen<br />

die meisten auch so im Unterricht verwendet wurden)<br />

ist das Qualitative Modellieren konkretisiert<br />

worden, und zwar wurden hierzu drei Thesen<br />

formuliert, die das Qualitative Modellieren wenn<br />

nicht umfassend, aber im Wesentlichen charakterisieren:<br />

⊲ Geeignete Modellfunktionen können qualitativ<br />

begründet werden bevor die Termanpassung<br />

vorgenommen wird.<br />

Eine (auch mit quantitativen Daten) gegebene<br />

Sachsituation soll mithilfe bekannter Funktionstypen<br />

modelliert werden. Bevor die Anpassung<br />

des Termes an die Daten erfolgt muss<br />

zuerst ein passen<strong>der</strong> Funktionstyp ausgewählt<br />

werden. Davon gibt es womöglich mehrere.<br />

Welche grundsätzlich geeignet sind, und welchen<br />

man schlußendlich auswählt muss begründet<br />

werden. Das ist möglich, noch bevor<br />

die rechnerische Termanpassung vorgenommen<br />

wird.<br />

⊲ Quantitativ ermittelte Modelle müssen auch aus<br />

qualitativer Perspektive bestehen.<br />

Regressionsfunktionen sind in <strong>der</strong> Regel datenbezogen<br />

berechnet und damit quantitativ begründet.<br />

Dabei muss das Höchstmaß an „Datenanpassung“<br />

nicht unbedingt das beste Mo-<br />

64<br />

dell liefern. Vielleicht beschreibt ein durch Regression<br />

ermitteltes Modell die gegebenen Daten<br />

hervorragend, aber liefert unsinnige Prognosen?<br />

Vielleicht passen auch die in einem<br />

solchermaßen berechneten Modell indirekt<br />

beschriebenen Wirkungszusammenhänge überhaupt<br />

nicht zur gegebenen Situation? Hier muss<br />

die qualitative Perspektive ggf. korrigieren.<br />

⊲ Modellbildung ist auch ganz ohne quantifizierte<br />

Daten möglich.<br />

Differentialgleichungen beschreiben Wirkungszusammenhänge,<br />

z. B. zwischen Än<strong>der</strong>ung<br />

und Bestand in einem Wachstumsprozess.<br />

Auch ohne gegebene quantifizierte Daten lassen<br />

sich sinnvolle Differentialgleichungen formulieren,<br />

an denen allein anspruchvolles Modellieren<br />

möglich ist.<br />

Die Aufgaben sind nicht neu, und auch die<br />

hier beschriebenen Modellierungs-aktivitäten sind<br />

nicht neu. Wichtig erscheint es aber, sie unter dem<br />

aussagekräftigen Begriff des „Qualitativen Modellierens“<br />

zu bündeln und so <strong>der</strong> immer noch<br />

weit verbreiteten kalkülbehafteten Sicht auf das<br />

Modellieren an die Seite zu stellen. Damit stellt<br />

sich die qualitative Perspektive auf das Modellieren<br />

nicht gegen solche Konzepte, die eine verstärkte<br />

Berücksichtigung von realistischen Daten<br />

und authentischem Aufgabenmaterial in den<br />

<strong>Mathematik</strong>unterricht for<strong>der</strong>n [vgl. z. B. Engel,<br />

<strong>2009</strong>]. Auch hier spielt die qualitative Sicht auf<br />

den Sachkontext – wie die Mikrowellenaufgabe<br />

oben deutlich zeigt – eine wesentliche Rolle im<br />

Modellierungsprozess.<br />

Literatur<br />

Blum, Werner (2007): Mathematisches Modellieren - zu<br />

schwer <strong>für</strong> Schüler und Lehrer? Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht,<br />

3–12.<br />

Bru<strong>der</strong>, Regina & Wilhelm Weiskirch (Hg.) (<strong>2008</strong>): CALiME-<br />

RO – Computeralgebra im <strong>Mathematik</strong>unterricht, Band 3. T3<br />

Deutschland.<br />

Engel, Joachim (<strong>2009</strong>): Anwendungsorientierte <strong>Mathematik</strong>:<br />

Von Daten zur Funktion. Eine Einführung in die mathematische<br />

Modellbildung <strong>für</strong> Lehramtsstudierende. Heidelberg,<br />

Berlin: Springer Verlag.<br />

Greefrath, Gilbert (2007): Modellieren lernen mit offenen realitätsnahen<br />

Aufgaben. Aulis Verlag.<br />

Körner, Henning (2003): Modellbildung mit Exponentialfunktionen.<br />

In: Henn, Hans-Wolfgang & Katja Maaß (Hg.): Materialien<br />

<strong>für</strong> einen realitätsbezogenen <strong>Mathematik</strong>unterricht,<br />

ISTRON, Band 8, Hildesheim: Franzbecker, 155–177.<br />

Nie<strong>der</strong>sächsisches Kultusministerium (<strong>2009</strong>): Kerncurriculum<br />

<strong>für</strong> das Gymnasium — gymnasiale Oberstufe. Anhörfassung.<br />

URL http://www.cuvo.nibis.de.<br />

Ossimitz, Günther (1991): Qualitatives und quantitatives systemdynamisches<br />

Modellieren. Technischer Bericht, Institut <strong>für</strong><br />

<strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>, Bielefeld, URL http://wwwu.<br />

uni-klu.ac.at/gossimit/pap/qualqua.htm.<br />

Pinkernell, Guido (<strong>2009</strong>): „Wir müssen das an<strong>der</strong>s machen“ -<br />

mit CAS funktionales Denken entwickeln. Der <strong>Mathematik</strong>unterricht,<br />

4, 37–44.


• Vielfältiger Computereinsatz im Analysisunterricht<br />

Gilbert Greefrath, Köln<br />

Funktionen kann man auf dem Computer unterschiedlich darstellen. Neben <strong>der</strong> exakten Darstellung<br />

algebraischer Funktionen kann ein Computer Funktionen auch numerisch repräsentieren, sei<br />

es in grafischer Darstellung o<strong>der</strong> in tabellarischer Darstellung. Diese Darstellungen können <strong>für</strong> unterschiedlichste<br />

Einsatzmöglichkeiten im Unterricht genutzt werden. Im ersten Teil des Beitrags<br />

werden unterschiedliche Funktionen des Computers zum vielfältigen Einsatz im Analysisunterricht<br />

beschrieben. Anschließend wird an zwei Beispielen aufgezeigt, wie Computer unterstützend auch<br />

<strong>für</strong> das qualitative und diskrete Verständnis von Funktionen im Analysisunterricht eingesetzt werden<br />

können.<br />

1 Einführung<br />

Der Analysisunterricht hat sich in den letzten Jahren<br />

stark verän<strong>der</strong>t, nicht zuletzt durch die Verfügbarkeit<br />

von Computern mit entsprechenden digitalen<br />

Werkzeugen. Eine Kurvendiskussion mit<br />

dem Ziel, die grafische Darstellung von Funktionen<br />

möglichst exakt zu erstellen, ist im Zeitalter<br />

von grafikfähigen Taschenrechnern und Funktionenplottern<br />

kein zentrales Ziel des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />

<strong>der</strong> Oberstufe mehr. Der Schwerpunkt<br />

<strong>der</strong> Arbeit mit Funktionen im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

hat sich daher einerseits in Richtung von anwendungsbezogenen<br />

Aufgaben und an<strong>der</strong>erseits<br />

zu einem stärker anschauungsorientierten Arbeiten<br />

mit Funktionen verschoben.<br />

In allen Bereichen des Analysisunterrichts, die<br />

im Diagramm (vgl. Abb. 12.1) dargestellt sind,<br />

können <strong>der</strong> Computer o<strong>der</strong> ein entsprechend ausgestatteter<br />

grafikfähiger Taschenrechner ein sinnvolles<br />

Werkzeug zur Unterstützung von Lehrenden<br />

und Lernenden sein. So werden Computer bei<br />

anwendungsbezogenen Aufgaben im Analysisunterricht<br />

häufig eingesetzt, um z. B. mit komplexen<br />

Funktionstermen zu arbeiten o<strong>der</strong> den Rechenaufwand<br />

zu vermin<strong>der</strong>n. Für den qualitativen<br />

und diskreten Zugang auf <strong>der</strong> anschauungsorientierten<br />

Seite des Diagramms scheint man auf<br />

den ersten Blick gut ohne Computer arbeiten zu<br />

können. Aber auch hier kann <strong>der</strong> Computer eine<br />

sinnvolle Unterstützung sein. Für die qualitative<br />

Arbeit mit Funktionen kann <strong>der</strong> Computer<br />

beispielsweise Graphen liefern, <strong>der</strong>en Verhalten<br />

dann untersucht wird, o<strong>der</strong> den Wechsel <strong>der</strong> Darstellungsformen<br />

als Term, Graph und Tabelle unterstützen.<br />

Für die diskrete Arbeit mit Funktionen<br />

ist die Berechnung von komplexen Summen<br />

von zentraler Bedeutung. Hier kann <strong>der</strong> Computer<br />

die Rechenarbeit übernehmen und Zeit <strong>für</strong> Begründungen<br />

und Verallgemeinerungen schaffen.<br />

Auch bei <strong>der</strong> diskreten Arbeit kann <strong>der</strong> Darstellungswechsel,<br />

etwa zwischen Tabelle und Graph,<br />

sehr vorteilhaft eingesetzt werden. Durch die Verschiebung<br />

von Schwerpunkten wird <strong>der</strong> Analysisunterricht<br />

nicht nur vielfältiger, son<strong>der</strong>n auch<br />

anspruchsvoller <strong>für</strong> Lehrende und Lernende. Ein<br />

diskreter ebenso wie ein qualitativer Zugang zur<br />

Analysis versucht, einen Beitrag zu leisten und<br />

die häufig vernachlässigte anschauungsorientierte<br />

Seite stärker zu betonen. Im Folgenden soll zunächst<br />

ein Überblick über unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten<br />

von Computern im Analysisunterricht<br />

zu Funktionen gegeben werden. Anschließend<br />

wird mit Hilfe von zwei Beispielen gezeigt,<br />

wie <strong>der</strong> Computer als Werkzeug auch zum qualitativen<br />

und diskreten Verständnis von Analysis<br />

einen sinnvollen Beitrag leisten kann.<br />

2 Funktionen des Rechners im<br />

Analysisunterricht<br />

Computer können im Analysisunterricht unterschiedlichste<br />

Aufgaben übernehmen [Barzel et al.,<br />

2005, S. 42 ff.;Hischer, 2002, S. 116 ff.]. Eine dieser<br />

Aufgaben ist das Experimentieren mit Funktionen.<br />

Die folgende Aufgabe regt beispielsweise<br />

dazu an, den Computer als Experimentierwerkzeug<br />

zu verwenden [vgl. Henn, 2004]:<br />

f sei eine ganzrationale Funktion 3.<br />

Grades mit den Nullstellen 2, 4 und<br />

5. Zeichne den Graphen von f und<br />

die Tangente an den Graphen von f im<br />

Punkt (3| f (3)). Welche Beson<strong>der</strong>heiten<br />

haben Graph und Tangente? Gilt<br />

dies <strong>für</strong> jede Tangente?<br />

Abbildung 12.2: Experimentieren mit dem Computer<br />

Die Schülerinnen und Schüler, die diese Aufgabe<br />

bearbeiten, zeichnen zunächst den Graphen <strong>für</strong><br />

65


Gilbert Greefrath, Köln<br />

Abbildung 12.1: Verlagerung von Schwerpunkten im Analysisunterricht<br />

das gegebene Beispiel, indem sie die Funktionsgleichung<br />

f (x) = (x − 2)(x − 4)(x − 5)<br />

und die Geradengleichung <strong>der</strong> Tangente im Punkt<br />

(3|2) berechnen. Sie stellen anschließend die Vermutung<br />

auf, dass die so gewählte Tangente stets<br />

durch die dritte Nullstelle führt.<br />

Diese Vermutung kann dann an an<strong>der</strong>en ganzrationalen<br />

Funktionen dritten Grades verifiziert<br />

werden. Hier ist es auch interessant, Son<strong>der</strong>fälle<br />

zu betrachten, wenn also beispielsweise zwei<br />

Nullstellen zusammenfallen. Diese Experimente<br />

können schließlich zu einer Behauptung führen,<br />

die allgemein <strong>für</strong> ganzrationale Funktionen dritten<br />

Grades gilt (und sogar geeignet auf Funktionen<br />

höheren Grades entsprechend übertragen werden<br />

kann). Hier ist die Experimentierphase zu Ende.<br />

Nun sind mathematische Begründungen <strong>für</strong><br />

dieses Verhalten erfor<strong>der</strong>lich. Auch dazu ist ein<br />

Computeralgebrasystem ein geeignetes Werkzeug<br />

Henn [2004]. So kann beispielsweise das Problem<br />

vereinfacht werden, indem die dritte Nullstelle in<br />

den Ursprung des Koordinatensystems gelegt wird<br />

und nur <strong>der</strong> Abstand <strong>der</strong> beiden an<strong>der</strong>en Nullstellen<br />

betrachtet wird (Abb. 12.3). Die Untersuchung<br />

<strong>der</strong> Funktionsgleichung<br />

f (x) = (x + a)x(x − a)<br />

und einer Geraden durch den Ursprung, die den<br />

Graph <strong>der</strong> Funktion f dort berührt, lässt dann die<br />

mathematischen Zusammenhänge deutlicher werden.<br />

Computer können auch die Aufgabe des Visualisierens<br />

im Unterricht übernehmen [Weigand<br />

& Weth, 2002, S. 36 f.]. Im Analysisunterricht<br />

ist die Darstellung von Funktionsgraphen ein zentraler<br />

Punkt. So kann etwa bei <strong>der</strong> Untersuchung<br />

66<br />

von Exponentialfunktionen <strong>der</strong> Einfluss <strong>der</strong> unterschiedlichen<br />

Parameter auf das Wachstumsverhalten<br />

grafisch dargestellt werden. Gerade bei Funktionen<br />

mit Parametern ist ein Funktionenplotter<br />

ein wichtiges Werkzeug zur Visualisierung, da<br />

diese Funktionen ohne Computer nur mit erheblichem<br />

Aufwand sichtbar gemacht werden können<br />

(Abb. 12.4).<br />

Abbildung 12.4: Visualisierung von Exponentialfunktionen<br />

Eine verbreitete Verwendung von Computeralgebrasystemen<br />

ist die Berechnung von numerischen<br />

o<strong>der</strong> algebraischen Ergebnissen, die Schülerinnen<br />

und Schüler ohne Computer nicht o<strong>der</strong><br />

nicht in angemessener Zeit bestimmen können.<br />

Ein Beispiel ist die Berechnung zur Optimierung<br />

von komplexen Verpackungsproblemen, wie etwa<br />

einer Milchverpackung [Böer, 1993]. Wird dieses<br />

Problem mit Hilfe von Funktionsgleichungen und<br />

Differenzialrechnung bearbeitet, so kommt man


Vielfältiger Computereinsatz im Analysisunterricht<br />

Abbildung 12.3: Begründungen suchen mit dem Computer<br />

leicht auf gebrochen-rationale Funktionen, bei denen<br />

die Nullstellen <strong>der</strong> ersten Ableitung mit Methoden<br />

<strong>der</strong> Schulmathematik nicht mehr zu bestimmen<br />

sind (Abb. 12.5).<br />

Abbildung 12.5: Rechnen mit komplexen Termen<br />

Zum Berechnen gehört auch das Erstellen von<br />

Termen und Gleichungen aus gegebenen Informationen.<br />

Wenn beispielsweise eine Funktionsgleichung<br />

aus vorhandenen Informationen, wie<br />

realen Daten über Wachstumsprozesse, ermittelt<br />

wird, dient <strong>der</strong> Computer ebenfalls als Rechenwerkzeug.<br />

Dieses so genannte Algebraisieren ist<br />

dadurch charakterisiert, dass reale Daten in den<br />

Computer eingegeben werden und <strong>der</strong> Rechner eine<br />

algebraische Darstellung liefert. Bakterien in<br />

einer Bakterienkultur beispielsweise wachsen in<br />

unterschiedlichen Phasen. In einer dieser Phasen<br />

vermehren sich die Bakterien sehr schnell, bis<br />

schließlich die Nährstoffe erschöpft sind und sich<br />

Stoffwechselprodukte im Nährmedium angesammelt<br />

haben. Stellt man solche Daten in einem Diagramm<br />

dar, so kann man erkennen, dass sich das<br />

Bakterienwachstum gut durch eine Exponentialfunktion<br />

beschreiben lässt. Mit Hilfe des Computers<br />

lässt sich auch direkt eine passende Funktionsgleichung<br />

erstellen. Aus den realen Daten wird<br />

also eine algebraische Darstellung hergestellt. Das<br />

verwendete funktionale Modell kann allerdings<br />

nicht allein durch die Passung <strong>der</strong> Daten gerechtfertigt<br />

werden, son<strong>der</strong>n muss auch im verwendeten<br />

Kontext hinterfragt werden.<br />

Im Kontrollieren findet <strong>der</strong> Computer ebenfalls<br />

eine sinnvolle Verwendung. So können Computer<br />

etwa bei <strong>der</strong> Bestimmung von Funktionen<br />

zu gegebenen Eigenschaften auf unterschiedliche<br />

Weise Kontrollprozesse unterstützen. Wird beispielsweise<br />

im Rahmen einer typischen Schulbuchaufgabe<br />

(s. u.) eine Funktionsgleichung mit<br />

bestimmten Bedingungen gesucht, so kann das<br />

entsprechende Ergebnis - unabhängig davon ob<br />

es mit o<strong>der</strong> ohne Computer bestimmt worden ist<br />

- sowohl durch algebraisches Nachvollziehen <strong>der</strong><br />

Rechnungen mit Hilfe des Computers (Abb. 12.6),<br />

als auch durch numerische o<strong>der</strong> grafische Verfahren<br />

kontrolliert (Abb. 12.7 u. 12.8).<br />

67


Gilbert Greefrath, Köln<br />

Beispiel <strong>für</strong> eine Schulbuchaufgabe [Brüstle et al.,<br />

1999]:<br />

Bei einem Flug mit einem Ballon liegt<br />

<strong>der</strong> Start in <strong>der</strong> Höhe 0, die Landung<br />

erfolgt 2 Stunden später auf einer Anhöhe,<br />

die 40 m höher als <strong>der</strong> Start<br />

liegt. 40 min befindet sich <strong>der</strong> Ballon<br />

im Steigflug, danach sinkt er etwas,<br />

um nach 1,5 Stunden die maximale<br />

Höhe 2000 m zu erreichen. Bestimme<br />

eine Funktion, die die Flughöhe in<br />

Abhängigkeit von <strong>der</strong> Flugdauer beschreibt.<br />

Abbildung 12.7: Numerische Kontrolle des Funktionsterms<br />

Für den kalkülorientierten innermathematischen<br />

Fall könnte man noch die Kontrolle einer<br />

Funktionsuntersuchung als Beispiel angeben.<br />

Die oben genannten Beispiele <strong>für</strong> Funktionen von<br />

Computern im Analysisunterricht können etwa<br />

wie folgt in Bezug auf mögliche Schwerpunktsetzungen<br />

des Unterrichts in das Schema eingeordnet<br />

werden (Abb. 12.9).<br />

Es zeigt sich, dass <strong>der</strong> Computer in allen Bereichen<br />

des Analysisunterrichts eingesetzt werden<br />

kann. Die Vielfalt des Computereinsatzes und<br />

ein vielfältiger Analysisunterricht können sich also<br />

gegenseitig unterstützen. Im Folgenden werden<br />

zwei Beispiele beschreiben, die die qualitative und<br />

diskrete Sicht auf Funktionen mit Computerunterstützung<br />

zeigen sollen.<br />

3 Beispiele<br />

3.1 Vermutungen äußern<br />

Das Ziel des Computereinsatzes ist stark abhängig<br />

von <strong>der</strong> Stelle im Lernprozess, an <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Computer eingesetzt wird. Im Folgenden wird ein<br />

Beispiel dargelegt, das im Analysisunterricht <strong>der</strong><br />

Oberstufe nach Kenntnis <strong>der</strong> Ableitung eingesetzt<br />

werden kann. Dabei geht es um die Erkundung<br />

68<br />

von hinreichenden und notwendigen Bedingungen<br />

<strong>für</strong> lokale Extrema sowie Zusammenhänge zwischen<br />

Monotonieverhalten und dem Verlauf <strong>der</strong><br />

ersten Ableitung. Das Ziel dieser Unterrichtssequenz<br />

ist das Entdecken <strong>der</strong> entsprechenden Zusammenhänge<br />

mit Hilfe von Funktionsgraphen.<br />

Dazu wird in Partnerarbeit am Computer gearbeitet.<br />

Der Arbeitsauftrag lautet, mit Hilfe eines<br />

Computeralgebrasystems und eines Funktionenplotters<br />

die Ableitung einer Funktion zu berechnen<br />

und anschließend beide Graphen von Funktion<br />

und Ableitung in ein Koordinatensystem zu<br />

plotten.<br />

Berechnet die Ableitungen <strong>der</strong> folgenden<br />

Funktionen und zeichnet jeweils<br />

die Graphen von Funktion und<br />

Ableitung in ein Koordinatensystem.<br />

Stellt Vermutungen auf über Zusammenhänge<br />

von Funktion und Ableitung<br />

und überprüft diese an selbstgewählten<br />

Beispielen.<br />

⊲ f (x) = 3x 3 − 21x 2 + 36x<br />

⊲ g(x) = 10x 5 − 20x 4 + 10x 3<br />

Abbildung 12.10: Graphen zum ersten Beispiel<br />

Abb. 12.10 zeigt die Graphen zum ersten<br />

Beispiel. Die Schülerinnen und Schüler können<br />

erkennen, dass <strong>der</strong> Funktionsgraph überall dort<br />

steigt, wo die Ableitung positiv ist, und dort fällt,<br />

wo die Ableitung negativ ist. An den Nullstellen<br />

<strong>der</strong> ersten Ableitung hat <strong>der</strong> Graph <strong>der</strong> Funktion<br />

waagerechte Tangenten. Um diese Zusammenhänge<br />

tatsächlich entdecken zu können, sind viele<br />

Beispiele nötig, die aber mit Hilfe des Computers<br />

schnell erzeugt werden können. Die zweite<br />

angegebene Funktionsgleichung hat eine doppelte<br />

Nullstelle und einen Sattelpunkt, damit auch<br />

diese Fälle betrachtet werden. Um einen Startpunkt<br />

mit geeigneten Beispielen zu bieten, wer-


den diese beiden Beispiele vorgegeben, gegebenenfalls<br />

kann auch darauf verzichtet werden und<br />

direkt mit selbstgewählten Beispielen gearbeitet<br />

werden. Der Computer ermöglicht dann das Finden<br />

und Bearbeiten von eigenen Beispielen in angemessener<br />

Zeit. Ein Ziel dieser Aufgabe ist, <strong>der</strong><br />

Fehlvorstellung entgegenzuwirken, dass alle Nullstellen<br />

<strong>der</strong> ersten Ableitung auch Extremstellen<br />

<strong>der</strong> Funktion sind. Das Beispiel dient dem Aufbau<br />

von qualitativen Vorstellungen und <strong>der</strong> Vorbereitung<br />

des grafischen Differenzierens, das dann ohne<br />

Computer durchgeführt werden soll. Der Computer<br />

wird in diesem Beispiel sowohl experimentell<br />

als auch zur Visualisierung eingesetzt.<br />

3.2 Verfahren entwickeln<br />

In einem zweiten Beispiel soll <strong>der</strong> Computer zur<br />

Unterstützung einer diskreten Sicht genutzt werden.<br />

Mathematisch interessant ist die Berechnung<br />

von Kurvenlängen. Diese soll hier ausgehend von<br />

<strong>der</strong> Idee bestimmt werden, dass die Kurve diskret<br />

betrachtet und die Länge <strong>der</strong> Kurve annähernd die<br />

Summe <strong>der</strong> Teilstrecken durch diskrete Punkte <strong>der</strong><br />

Kurve ist. Wir verwenden dazu einen Viertelkreis,<br />

da dessen Länge auch auf an<strong>der</strong>e Weise berechnet<br />

werden kann. So besteht zusätzlich die Möglichkeit,<br />

die Qualität des Ergebnisses zu beurteilen.<br />

Die Schülerinnen und Schüler bekommen den<br />

Graphen des Viertelkreises auf dem einige Punkte<br />

ausgewählt wurden mit <strong>der</strong> Aufgabe, ein Verfahren<br />

zu Entwickeln, die Länge eines Funktionsgraphen<br />

zu bestimmen.<br />

Entwickelt ein Verfahren, die Länge<br />

eines Graphen näherungsweise zu<br />

bestimmen. Verwendet dazu die Abbildung<br />

(Abb. 12.11).<br />

Vielfältiger Computereinsatz im Analysisunterricht<br />

Abbildung 12.6: Kontrolle mit Hilfe des Graphen<br />

Abbildung 12.11: „Diskretisierter“ Graph<br />

Das Ziel ist hier zunächst nicht, den Grenzwertprozess<br />

durchzuführen, son<strong>der</strong>n die Idee zu<br />

entwickeln, die Länge einer Kurve durch Zerlegung<br />

in Strecken zu messen. Dazu muss die Kurve<br />

durch die „diskrete Brille“ angesehen und nur ausgewählte<br />

Punkte dieser Kurve betrachtet werden.<br />

Mit dem Computer können dann die entsprechenden<br />

Streckenlängen bestimmt und addiert werden<br />

(Abb. 12.12).<br />

Abbildung 12.12: Mögliche Berechnung <strong>der</strong> Länge<br />

69


Gilbert Greefrath, Köln<br />

Abbildung 12.8: Algebraische Kontrolle mit einem Computeralgebrasystem<br />

Das Ziel ist hier nicht, den Grenzwertprozess<br />

zu motivieren. Dies kann zu einem späteren Zeitpunkt<br />

geschehen; dazu können allerdings die hier<br />

erzielten Ergebnisse wie<strong>der</strong> aufgegriffen werden.<br />

Hier soll zunächst das Konzept <strong>der</strong> Längenmessung<br />

von Kurven durch Strecken <strong>der</strong> „diskretisierten<br />

Kurve“ entdeckt werden. Die Notwendigkeit<br />

einer genaueren Berechnung ergibt sich hier nicht<br />

automatisch, da <strong>der</strong> Fehler bei 10 Punkten bereits<br />

unter einem Prozent liegt. Das Beispiel zeigt, dass<br />

auch die diskrete Arbeit mit Funktionen schon in<br />

vielen Fällen eine ausreichende Genauigkeit liefert<br />

und Konzepte besser deutlich machen kann.<br />

Der Computer wird in diesem Beispiel sowohl<br />

zur Visualisierung als auch zur Berechnung eingesetzt.<br />

4 Grenzen des Computers<br />

Die beiden Beispiele zeigen, dass Computer, zusätzlich<br />

zu den bekannten und vielfältigen Einsatzmöglichkeiten<br />

im Zusammenhang mit Funktionen,<br />

auch zur Unterstützung einer qualitativen<br />

und diskreten Sicht gewinnbringend eingesetzt<br />

werden können. Computer können also im Ma-<br />

70<br />

thematikunterricht wichtige und vielfältige Aufgaben<br />

übernehmen. Allerdings ersetzen sie nicht<br />

das inhaltliche Durchdringen <strong>der</strong> mathematischen<br />

Ideen. Dazu gehört als ein zentrales Konzept <strong>der</strong><br />

Analysis <strong>der</strong> Grenzwertprozess. Der Grenzwertprozess<br />

ist einerseits bei <strong>der</strong> Einführung <strong>der</strong> Ableitung<br />

und an<strong>der</strong>erseits bei <strong>der</strong> Einführung des<br />

Integrals eine zentrale Idee. Denkt man an die<br />

Einführung <strong>der</strong> Ableitung am Beispiel <strong>der</strong> Steigung<br />

einer Tangente in einem Punkt eines Funktionsgraphen,<br />

so können Computer zwar numerisch<br />

in nahezu beliebiger Genauigkeit die entsprechenden<br />

Werte von Sekanten in <strong>der</strong> Nähe dieses<br />

Punktes berechnen und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />

algebraisch auch Grenzwerte und Ableitungen<br />

ermitteln. Grenzwertberechnungen mit dem Computer<br />

sollten aber nicht unverstanden ausgeführt,<br />

son<strong>der</strong>n als Hilfe <strong>für</strong> das Verständnis des Grenzwertbegriffs<br />

genutzt werden. Das Verständnis selber<br />

kann aber nicht durch den Computer allein erlangt<br />

werden. Die Idee des Grenzwertes selbst beispielsweise<br />

muss von den Schülerinnen und Schülern<br />

- auch ohne Computer - zunächst erarbeitet<br />

werden.


Vielfältiger Computereinsatz im Analysisunterricht<br />

Abbildung 12.9: Einige Einsatzmöglichkeiten des Rechners im Analysisunterricht<br />

Mit Computern kann allerdings dieses Verständnis<br />

unterstützt werden, eben etwa durch Experimentieren,<br />

Visualisieren, Berechnen und Algebraisieren.<br />

Hier ist sicherlich eine Erkundungsphase<br />

mit dem Computer eine wichtige Hilfe<br />

<strong>für</strong> ein tiefgreifendes Verständnis dieses zentralen<br />

Konzepts. Dennoch bedarf es eines gedanklichen<br />

- quasi computerfreien - Schritts von einer Sekante<br />

mit sehr nahe beieinan<strong>der</strong>liegenden Punkten zu<br />

einer Tangente. Dieser gedankliche Schritt kann<br />

aber durch den Einsatz von Computern erleichtert<br />

und beson<strong>der</strong>s durch den experimentellen und<br />

visualisierenden Einsatz verkleinert werden. Der<br />

Computer kann also die Arbeit an zentralen Konzepten<br />

flankieren und sowohl zur Hinführung als<br />

auch zur weiterführenden Arbeit dienen. Er kann<br />

hier als Werkzeug zum Verstehen von <strong>Mathematik</strong><br />

und nicht nur zur Ausführung von <strong>Mathematik</strong><br />

begriffen werden.<br />

Um einen vielfältigen Analysisunterricht zu<br />

gewährleisten, sollten sowohl innermathematische<br />

und anwendungsbezogene als auch kalkülorientierte<br />

und anschauungsorientierte Aspekte<br />

einbezogen werden. Gerade <strong>der</strong> vielfältige Computereinsatz<br />

mit seinen unterschiedlichen Funk-<br />

tionen im Unterricht kann hier in allen Bereichen<br />

des Analysisunterrichts Unterstützung bieten und<br />

auf diese Weise zur breiteren und tieferen Sicht<br />

auf die Analysis beitragen.<br />

Literatur<br />

Barzel, Bärbel, Stephan Hußmann & Timo Leu<strong>der</strong>s (2005):<br />

Computer, Internet & Co. im <strong>Mathematik</strong>unterricht. Berlin:<br />

Cornelson Scriptor.<br />

Böer, Heinz (1993): Extremwertproblem Milchtüte. Eine tatsächliche<br />

Problemstellung aktueller industrieller Massenproduktion.<br />

In: Blum, Werner (Hg.): Anwendungen und Modellbildung<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht. Beiträge aus dem ISTRON-<br />

Wettbewerb, Hildesheim: Franzbecker, 1–16.<br />

Brüstle, Gerhard, Heidi Buck, Rolf Dürr, Hans Freudigmann,<br />

Rolf Reimer, Günther Reinelt, Maximilian Selinka, Jörg Stark,<br />

Manfred Zinser, Ingo Weidig & Peter Zimmermann (Hg.)<br />

(1999): Lambacher-Schweizer Analysis Grundkurs. Stuttgart:<br />

Ernst Klett Schulbuchverlag.<br />

Henn, Hans-Wolfgang (2004): Computer-Algebra-Systeme –<br />

Junger Wein o<strong>der</strong> neue Schläche? Journal <strong>für</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik,<br />

25(4), 198–220.<br />

Hischer, Horst (2002): <strong>Mathematik</strong>unterricht und Neue Medien.<br />

Hintergründe und Begründungen in fachdidaktischer und<br />

fachübergreifen<strong>der</strong> Sicht. Hildesheim: Franzbecker.<br />

Weigand, Hans-Georg & Thomas Weth (2002): Computer im<br />

<strong>Mathematik</strong>unterricht - Neue Wege zu alten Zielen. Berlin:<br />

Spektrum Akademischer Verlag.<br />

71


Gilbert Greefrath, Köln<br />

72


• Kühe, Kin<strong>der</strong> und Kultusminister(innen)<br />

Fritz Nestle, Ulm<br />

Im Beitrag werden biographische Elemente mit Argumentation zum Thema sowie zum Hintergrundthema<br />

Analysis eingebunden.<br />

1946<br />

Nachdem <strong>der</strong> Bombenkrieg und die Pläne des<br />

Herrn Morgenthau dem Autor zusammen bereits<br />

ein Unterrichtsjahr erspart hatten, beschloss er,<br />

die 12. Klasse zu überspringen und im Schuljahr<br />

1947/48 gleich die Abschlussklasse, die Klasse<br />

13, zu besuchen. Nach einigem Wi<strong>der</strong>stand wurde<br />

dieser Übergang von <strong>der</strong> Lehrerkonferenz erlaubt.<br />

Es bleibt noch anzumerken, dass er in diesem<br />

Jahr als Beitrag zur Ernährung <strong>der</strong> Familie zunächst<br />

eine, später drei Ziegen gehalten, das heißt<br />

mit Futter versorgt und gemolken hatte. Als Futtergrundlage<br />

konnte er einen Wallgraben <strong>der</strong> Bundesfestung<br />

Ulm pachten und nutzen, nachdem er<br />

dort die Kriegsfolgen mit beträchtlicher körperlicher<br />

Arbeit beseitigt hatte.<br />

Die Bundesfestung selbst hatte nie in den 150<br />

Jahren ihres Bestehens die geplanten Funktionen<br />

<strong>für</strong> die Sicherheit Deutschlands erfüllt, weil sich<br />

die Zeiten durch technische Erfindungen geän<strong>der</strong>t<br />

hatten.<br />

Dass analog Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Organisation<br />

des Lernens, speziell auch <strong>der</strong> Analysis überfällig<br />

sind, zeigt unter an<strong>der</strong>em, dass Computerspiele<br />

bei vielen Jugendlichen den Kampf um die Aufmerksamkeit<br />

gegenüber schulischem Lernen gewonnen<br />

haben.<br />

Analysis 1<br />

Die Einschätzung <strong>der</strong> Effektivität <strong>der</strong> damaligen<br />

schulischen Lernorganisation durch den Autor<br />

führte dazu, dass er glaubte, nur den damals in<br />

<strong>der</strong> 12. Klasse zu behandelnden Teil <strong>der</strong> Analysis<br />

nachlernen zu müssen. Er sah da<strong>für</strong> – bei schönem<br />

Wetter im Donaubad – 2 Wochen mit täglich<br />

zwei Stunden Arbeit im Heft eines seiner neuen<br />

Mitschüler vor. Schulbücher waren damals noch<br />

verboten.<br />

Mit dieser Vorbereitung war er zwar in allen<br />

Fächern außer Englisch, Musik und Sport an <strong>der</strong><br />

Spitze <strong>der</strong> neuen Klasse; er erzielte jedoch in <strong>der</strong><br />

ersten <strong>Mathematik</strong>klassenarbeit nur die Note 1,5.<br />

(Beste Arbeit in <strong>der</strong> Klasse). Trotzdem sah er sich<br />

in seinen Vorstellungen von selbstorganisiertem<br />

Lernen mit primitivsten Lernmedien bestätigt.<br />

Kuhhaltung in Vergangenheit und<br />

Zukunft<br />

Die Organisation <strong>der</strong> Milchwirtschaft ist weitgehend<br />

noch genauso an <strong>der</strong> Vergangenheit zurückliegen<strong>der</strong><br />

Jahrhun<strong>der</strong>te orientiert wie die Lernorganisation<br />

in den allgemeinbildenden Schulen <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik:<br />

Häufig stehen die Kühe noch an kurzen Ketten<br />

eng nebeneinan<strong>der</strong> in dumpfen Ställen. Der Tagesablauf<br />

wird extern festgelegt. Für viele Milchbauern<br />

ist <strong>der</strong> Schwemmstall <strong>der</strong> Gipfel mo<strong>der</strong>ner<br />

Milchwirtschaft. Die Kühe erhalten zum Teil<br />

keine Strohschüttung mehr, son<strong>der</strong>n liegen angekettet<br />

auf einem Spaltenboden. Durch die Spalten<br />

können Kot und flüssige Abson<strong>der</strong>ungen über<br />

einen Sammelkanal abfließen. Alle paar Monate<br />

wird die gesammelte Masse großflächig über<br />

die landwirtschaftlichen Nutzflächen verteilt. Kilometerweit<br />

kann man die entstehende Duftwolke<br />

erschnüffeln. Der Autor erspart sich und, falls<br />

vorhanden, seinen Lesern in diesem Teilaspekt die<br />

Analogie zur Lernorganisation in den Schulen.<br />

Die großen Neuerungen in <strong>der</strong> Milchwirtschaft<br />

sind Melkroboter und Laufstall:<br />

Viele vorher vom Bauern ohne Mitsprache <strong>der</strong><br />

Betroffenen gefällte Entscheidungen werden an<br />

die Kühe selbst und <strong>der</strong>en Intelligenz delegiert.<br />

Die aktive Einbeziehung <strong>der</strong> Kühe in die Milchproduktion<br />

erleichtert die Arbeit des Bauern und<br />

verbessert das Ergebnis, den Milchertrag, nach<br />

Menge und Qualität:<br />

Im Laufstall sind die Ketten gefallen; die Kühe<br />

entscheiden selbst, wann sie fressen o<strong>der</strong> gemolken<br />

werden wollen, 24 Stunden am Tag. Der<br />

Melkroboter weist Belohnungen zu, bei entsprechenden<br />

Anlässen informiert er den Bauern telefonisch<br />

über Unregelmäßigkeiten.<br />

Analysis 2<br />

Wir schreiben das Jahr 1968. Der Autor versucht<br />

sich in zwei 12., beziehungsweise ein Jahr später<br />

zwei 13. Klassen an einem Vorgriff auf eine<br />

mo<strong>der</strong>nere Lernorganisation, bei <strong>der</strong> die Intelligenz<br />

<strong>der</strong> Lernenden nicht weitgehend ausgeschaltet,<br />

son<strong>der</strong>n zur Organisation des eigenen Lernens<br />

im Fach <strong>Mathematik</strong>, speziell wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Analysis,<br />

eingesetzt wird. Das heißt, bis auf einen auf<br />

den Klassenarbeitsrhythmus und den Lehrplan abgestimmten<br />

Stoffverteilungsplan organisieren die<br />

Schüler ihren Lernprozess selbst – fast so frei wie<br />

die Kühe ihren Tag im Laufstall.<br />

Das eingeführte Schulbuch diente als Lernmedium.<br />

Die wichtigste Neuerung war <strong>für</strong> die Schüler<br />

<strong>der</strong> Zugriff auf das Lösungsheft zum Schulbuch<br />

(damals fast ein Sakrileg, weil dadurch die<br />

fachliche Überlegenheit <strong>der</strong> Lehrkräfte vermin<strong>der</strong>t<br />

werden kann) – gelegentlich wurde <strong>der</strong> Lehrer<br />

in die Diskussion <strong>der</strong> Lösungen eingeschal-<br />

73


Fritz Nestle, Ulm<br />

tet. Unter http://www.bildungsoptionen.<br />

de/allgemein/aula.htm kann man das Wichtigste<br />

über den Verlauf des Versuchs nachlesen.<br />

Noch ein Hinweis: Der Erfolg des Versuchs wurde<br />

an einem externen Kriterium, nämlich dem Zentralabitur<br />

in Baden-Württemberg, gemessen. Das<br />

Ergebnis ist vergleichbar mit dem <strong>der</strong> Befreiung<br />

<strong>der</strong> Kühe.<br />

Computerspiele und die Motivation<br />

von Kin<strong>der</strong>n<br />

Heute fliehen viele Jugendliche vor den Misserfolgen<br />

in <strong>der</strong> Schule und vor <strong>der</strong> als monoton empfundenen,<br />

obrigkeitsstaatlichen Lernorganisation<br />

<strong>der</strong> Schule in Computerspiele. Sie investieren 20<br />

bis 50 Stunden intensiver „Arbeit“ pro Woche in<br />

das Spielen. Dort fühlen sie sich akzeptiert und<br />

ernst genommen – und sie haben sichtbaren Erfolg<br />

in den Computerspielen. Kein Wun<strong>der</strong>; wurden<br />

diese doch zum Teil von früheren Lehrern entwickelt,<br />

die mit dem Versuch, auf analoge Weise<br />

mehr Rückmeldungen zum Lernen <strong>der</strong> Jugendlichen<br />

in die Arbeit <strong>der</strong> Schule zu integrieren, an <strong>der</strong><br />

Starre <strong>der</strong> Schulorganisation gescheitert waren.<br />

Aufschlussreich ist <strong>der</strong> Kommentar von Freak78.<br />

Er stammt aus einem Blog des Deutschen<br />

Bundestags (Google findet ihn unter ’Abgetaucht<br />

in die virtuelle Welt’),<br />

freak78 am 11.11.08: „Was mich an<br />

den Spielen begeistert ist das relativ<br />

einfache Erreichen von Anerkennung.<br />

Und so geht es sicher vielen<br />

Spielern. Es ist aber nicht das tolle<br />

Gefühl ‚weil ich jemanden (etwas) erschossen<br />

habe‘, son<strong>der</strong>n weil ich besser<br />

war als jemand an<strong>der</strong>er.“<br />

Die vereinigte Bremskraft <strong>der</strong> Kultusverwaltungen<br />

und <strong>der</strong> Fachdidaktiken hat bisher ausgereicht,<br />

die Lernorganisation in den Schulen und<br />

die Ausbildung <strong>der</strong> Lehrkräfte auf dem <strong>für</strong> 1880<br />

vorzüglichen Stand des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts zu halten.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e hüten sich beide davor, das <strong>für</strong><br />

selbständiges Lernen nötige kognitiv unerlässliche,<br />

mechanische Grundwissen so zu definieren,<br />

dass je<strong>der</strong> Lernende je<strong>der</strong>zeit selbst seinen Lernstand<br />

mit sofortiger Rückmeldung prüfen kann.<br />

Es ist <strong>für</strong> jeden einsichtig, dass niemand Auto<br />

fahren kann, <strong>der</strong> nachdenken muss, wo das Gaspedal<br />

liegt und welche Wirkung seine Betätigung<br />

hat. Dass man zum Beispiel die siebte Klasse eines<br />

Gymnasiums erreichen kann, ohne das kleine<br />

Einmaleins zu beherrschen, scheint indessen<br />

die wenigsten Lehrkräfte zu stören. Sind sie doch<br />

nicht verantwortlich <strong>für</strong> Schwächen <strong>der</strong> Arbeit in<br />

früheren Klassen<br />

Seit das Internet ubiquitär verfügbar ist, wäre<br />

es ein Leichtes, grundlegende Wissenselemente so<br />

74<br />

im Internet zugänglich zu machen, dass <strong>der</strong> jeweilige<br />

Lernstand vom Lernenden selbst mit sofortiger<br />

Rückmeldung überprüft werden kann.<br />

Analysis 3 – gehört das Folgende zu<br />

diesem Thema Analysis?<br />

"bei Battlefield 2 gibt es jungs, die dürfen<br />

noch nicht mal mofa fahren....können<br />

einen aber aus 800m entfernung (scharfschütze)<br />

aus einem fliegenden hubschrauber<br />

rausschießen und kalkulieren dabei<br />

mal gerade eben flugzeit des geschosses<br />

in relation zur bewegung des<br />

ziels + geschossflugbahn resultierend aus<br />

rückstoß (aufwärtsbogen) und geschwindigkeitsverlust<br />

(abwärtsbogen)....und ich<br />

glaub würde es im spiel wind geben (seitwärtskurve)<br />

würden sie den auch noch<br />

mit einkalkulieren ..... können einem aber<br />

nicht sagen was eine winkelfunktion ist!"<br />

(Daecraban im Bundestagforum ‚Abgetaucht<br />

in die virtuelle Welt‘)<br />

Gibt es intuitive Vorstellungen von den Begriffen<br />

<strong>der</strong> Analysis? Computerspiele als Lehrplanthema<br />

wie in Schottland?<br />

Die KMK und die Motivation von<br />

Kin<strong>der</strong>n<br />

Von <strong>der</strong> Südwestpresse Ulm wurde im Frühsommer<br />

<strong>2009</strong> die Frage gestellt, ob sich jemand im<br />

KM da<strong>für</strong> interessiert, warum sich auch Hauptschüler<br />

bei Computerspielen 20 bis 50 Stunden<br />

pro Woche hervorragend konzentrieren können,<br />

aber in Schulstunden die 45 Minuten nicht durchhalten.<br />

Am 11.5.<strong>2009</strong> antwortet das Kultusministerium<br />

Baden-Württemberg in <strong>der</strong> Zeitung, es sei<br />

alarmierend, wenn Jugendliche so lang am Computer<br />

sitzen könnten. Der Bezug zur Lernorganisation<br />

in <strong>der</strong> Schule wurde ignoriert o<strong>der</strong> nicht erkannt.<br />

Ist es nicht noch viel alarmieren<strong>der</strong>, wie wenig<br />

im Kultusministerium Baden-Württemberg<br />

die Fehlallokation <strong>der</strong> Zeit Jugendlicher und Wege<br />

zur Abhilfe analysiert werden?<br />

Wenn auch nur ein Teil <strong>der</strong> von Jugendlichen<br />

in Computerspiele investierten Zeit auf schulische<br />

Lerninhalte umgelenkt werden könnte, würde sich<br />

die Schule in ein echtes „Haus des Lernens“ än<strong>der</strong>n.<br />

Wie wenig die KMK die richtigen Steuerungsvariablen<br />

<strong>für</strong> selbständiges Lernens setzt, ist noch<br />

weitaus alarmieren<strong>der</strong> als die natürliche Handlungsweise<br />

Jugendlicher, sich vorrangig mit Tätigkeiten<br />

zu beschäftigen, bei denen sie positive<br />

Rückmeldungen erhalten: Die KMK<br />

⊲ dekretiert Mindestlernzeiten (statt Höchstlernzeiten;<br />

314. KMK-Sitzung), das heißt, schnelle<br />

Lerner sind nicht erwünscht (Max Planck (Ab-


itur mit 16) hätte sich an<strong>der</strong>s orientieren müssen),<br />

⊲ bietet keine objektiv überprüfbaren Bildungsziele,<br />

das heißt, <strong>der</strong> Willkür bei Stoffauswahl<br />

und Notengebung sind Tür und Tor geöffnet,<br />

⊲ erkennt selbstorganisierte Lernleistungen in<br />

<strong>der</strong> Regel nicht an, das heißt, Eigeninitiative<br />

wird erstickt,<br />

⊲ verschwendet Steuergel<strong>der</strong>, das heißt, verantwortet<br />

vermeidbare Parallelarbeit von mehr als<br />

500000 Lehrkräften.<br />

Solche Bedingungen töten die Motivation <strong>für</strong><br />

selbstorganisiertes Lernen.<br />

Analysis 4<br />

Gefragt sind von <strong>der</strong> <strong>Didaktik</strong> Antworten auf die<br />

folgenden Fragen:<br />

Kühe, Kin<strong>der</strong> und Kultusminister(innen)<br />

⊲ Welche Vorstellungen sollten die Jugendlichen<br />

mit „Analysis“ verbinden?<br />

⊲ Über welche Begriffe aus <strong>der</strong> Analysis sollten<br />

die Jugendlichen zuverlässig verfügen?<br />

⊲ Welche Routinen sollten die Jugendlichen ohne<br />

Hilfsmittel beherrschen?<br />

⊲ Wo findet man Lernkontrollen mit sofortiger<br />

Rückmeldungen dazu im Netz?<br />

⊲ Welche Hilfsmittel (Programme) sollten die Jugendlichen<br />

anwenden können?<br />

⊲ Welche Anwendungsbereiche sollen mit Mitteln<br />

<strong>der</strong> Analysis behandelt werden?<br />

Weiterführende Beiträge zum Thema findet<br />

man, von Zeit zu Zeit aktualisiert, in <strong>der</strong> Netzversion<br />

dieses Beitrags unter http://(www.<br />

bildungsstandards.de/09/kuhmi.html/<br />

quellen<br />

75


Fritz Nestle, Ulm<br />

76


• Werkzeuge <strong>für</strong> das individuelle Lernen in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />

Andreas Fest, Schwäbisch Gmünd & Marc Zimmermann, Ludwigsburg<br />

<strong>Mathematik</strong> spielt in vielen Studiengängen – auch jenseits <strong>der</strong> Diplom- und Lehramtsstudiengänge<br />

in diesem Fach – eine wesentliche Rolle. Im Gegensatz zur aktuellen Lehre, bei <strong>der</strong> häufig die<br />

Vermittlung von Arbeitstechniken im Vor<strong>der</strong>grund steht, betonen neuere didaktische Ansätze vor<br />

allem auch die Entwicklung mathematischer Kompetenzen o<strong>der</strong> Prozesse wie Problemlösen, Argumentieren,<br />

Kommunizieren usw. Entsprechend sollten auch verstärkt die Prozesse <strong>der</strong> Studierenden<br />

bewertet werden und nicht allein <strong>der</strong>en Produkte.<br />

Das Projekt SAiL-M beschreibt aktivierende Umgebungen zum <strong>Mathematik</strong>lernen in <strong>der</strong> Hochschule<br />

in Form von didaktischen Design Patterns. Diese Lernumgebungen werden in <strong>der</strong> Praxis eingesetzt<br />

und unter Berücksichtigung von Erkenntnissen aus <strong>der</strong> Lernpsychologie und <strong>Mathematik</strong>didaktik<br />

evaluiert.<br />

Als Bestandteil dieser Lernumgebungen werden prototypische Werkzeuge <strong>für</strong> die automatische Dokumentation<br />

und Analyse von mathematischen Prozessen entwickelt. Diese orientieren sich inhaltlich<br />

an den Einführungslehrveranstaltungen im <strong>Mathematik</strong>studium <strong>für</strong> Lehramtsstudenten. Sie sollen<br />

den Lernenden während ihrer Arbeit mit dem Computer individuelle und (semi-)automatische<br />

Rückmeldungen und Hilfen <strong>für</strong> ihren aktuellen Lernprozess geben. Alle Werkzeuge folgen den Prinzipien<br />

<strong>der</strong> HINT, HELP, TECHNOLOGY und FEEDBACK ON DEMAND Pattern. Zwei solcher<br />

Werkzeuge werden in diesem Beitrag exemplarisch vorgestellt: ein Lernlabor zum Thema Kongruenzabbildungen<br />

und Achsensenspiegelungen sowie ein Programm zum Führen einfacher geometrischer<br />

Beweise .<br />

1 Einleitung<br />

Seit dem Beschluss <strong>der</strong> Kultusministerkonferenz<br />

(KMK) über die Bildungsstandards 2004 spielen<br />

die mathematischen Prozesse eine immer wichtigere<br />

Rolle beim <strong>Mathematik</strong>lernen. Schülerinnen<br />

und Schüler sollen „in aktiver Auseinan<strong>der</strong>setzung“<br />

[KMK, 2004, S. 6], mathematische Kenntnisse<br />

erwerben, zum Beispiel in dem sie „Probleme,<br />

Aufgaben und Projekte“ (ebd., S. 6) bearbeiten<br />

o<strong>der</strong> über mathematische Inhalte kommunizieren.<br />

Diese reichhaltigen Lernkontexte lassen sich<br />

in <strong>der</strong> Hochschullehre und damit in <strong>der</strong> Lehramtsausbildung<br />

nur schwer finden. Es herrschen immer<br />

noch „traditionelle“ Lehr-Lernkonzeptionen<br />

zum <strong>Mathematik</strong>lernen vor, insbeson<strong>der</strong>e in Veranstaltungen<br />

mit hohen Teilnehmerzahlen [vgl.<br />

Holton, 2001]. Häufig werden in diesen Veranstaltungen<br />

wöchentlich Übungsblätter von den Studierenden<br />

bearbeitet, die zu einem bestimmten<br />

Zeitpunkt abgeben werden müssen. Tutoren o<strong>der</strong><br />

Assistenten korrigieren und bewerten die abgegebenen<br />

Lösungen. Anschließend werden diese in<br />

den wöchentlichen Präsenzübungen vorgerechnet.<br />

Individuelle Lernprozesse werden dadurch kaum<br />

geför<strong>der</strong>t und unterstützt.<br />

Das Projekt SAiL-M 1 (Semi-automatische<br />

Analyse individueller Lernprozesse in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>)<br />

entwickelt und beschriebt aktivierende<br />

Lernumgebungen zum <strong>Mathematik</strong>lernen an<br />

<strong>der</strong> Hochschule, auch in Veranstaltungen mit hohen<br />

Teilnehmerzahlen. Das Veranstaltungskonzept<br />

for<strong>der</strong>t eine hohe Eigenaktivität von den Stu-<br />

dierenden ein, zum Beispiel werden in den Übungen<br />

keine Lösungen von den Tutoren vorgerechnet<br />

son<strong>der</strong>n in Kleingruppen die Aufgaben bearbeitet.<br />

In <strong>der</strong> Veranstaltung werden dann Fragen<br />

und Probleme aus den Übungen aufgegriffen und<br />

diskutiert. Lernprozesse sollen durch diese Konzeption<br />

besser unterstützt und begleitet werden.<br />

Zur Unterstützung studentischer Lernprozesse<br />

werden darüber hinaus prototypisch <strong>für</strong> ausgewählte<br />

mathematische Aufgabenstellungen computerbasierte<br />

Tools entworfen und implementiert.<br />

Diese Tools sollen bei <strong>der</strong> Dokumentation<br />

und Auswertung <strong>der</strong> studentischen Lernprozesse<br />

durch den Dozenten helfen und gezieltes Feedback<br />

an die Studierenden geben. Dabei wird <strong>der</strong><br />

Ansatz des semi-automatischen Assessments verfolgt.<br />

2 Semi-automatisches Assessment<br />

Die Idee des semi-automatischen Assessments ergibt<br />

sich aus <strong>der</strong> Tatsache, dass die Lehrenden,<br />

d.h. die Dozentin bzw. <strong>der</strong> Dozent und die Tutorinnen<br />

und Tutoren, nicht den gesamten Lernprozess<br />

jedes einzelnen Studierenden vollständig<br />

begleiten und analysieren können, um die zur optimalen<br />

För<strong>der</strong>ung des Lernprozesses notwendige<br />

Rückmeldung zu geben.<br />

Eine solche Rückmeldung sollte jedoch immer<br />

dann – möglichst ohne zeitliche Verzögerung – erfolgen,<br />

wenn <strong>der</strong> Lernende diese erwartet [Feedback<br />

on Demand, vgl. Bescherer & Spannagel,<br />

<strong>2009</strong>], und den gesamten Lösungs- und Lernpro-<br />

1 Geför<strong>der</strong>t durch das Bundesministerium <strong>für</strong> Bildung und Forschung (BMBF), ein Gemeinschaftsprojekt <strong>der</strong> Pädagogischen Hochschulen<br />

Ludwigsburg, Schwäbisch Gmünd und Weingarten sowie <strong>der</strong> RWTH Aachen, www.sail-m.de.<br />

77


Andreas Fest, Schwäbisch Gmünd & Marc Zimmermann, Ludwigsburg<br />

zess analysieren. Ein automatisches Assessment,<br />

wie in Bescherer et al. [2010] beschrieben, ist dabei<br />

oftmals nicht realisierbar, da gerade in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />

die Mengen <strong>der</strong> möglichen Lösungswege<br />

und dabei auftretenden Fehlerquellen nahezu<br />

unbegrenzt sind und nicht bei je<strong>der</strong> Problemstellung<br />

vollständig automatisch erkannt werden können.<br />

Allerdings ist dies in unserer Situation auch<br />

gar nicht notwendig. Die Erfahrung zeigt, dass die<br />

meisten Lernenden einen Lösungsweg aus einer<br />

kleinen Auswahl von Standardlösungen verfolgen.<br />

Auch die dabei auftretenden Denk-, Recheno<strong>der</strong><br />

Schreibfehler gehören oftmals zu einer kleinen<br />

Menge von Standardfehlern. Die Idee des<br />

semi-automatischen Assessments basiert nun darauf,<br />

diese Standardlösungen und -fehler automatisch<br />

zu erkennen und zu ihnen direktes Feedback<br />

zu geben. Unübliche Lösungswege und Fehler,<br />

die von <strong>der</strong> Software nicht automatisch analysiert<br />

werden können, werden identifiziert und bei Bedarf<br />

an den Lehrenden gemeldet. Dieser kann diese<br />

Lösung dann selbst analysieren und dem Studierenden<br />

ein persönliches Feedback geben. Darüber<br />

hinaus kann <strong>der</strong> Lehrende eine statistische<br />

Auswertung über das Auftreten von Standardlösungen<br />

und -fehlern erhalten.<br />

Die Analyse gesamter Lern- und Lösungsprozesse<br />

setzt <strong>der</strong>en vollständige Aufzeichnung voraus.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e <strong>für</strong> die persönlichen Analyse<br />

durch den Lehrenden ist dies unumgänglich. Diese<br />

Aufzeichnung kann entwe<strong>der</strong> durch das Lerntool<br />

selbst o<strong>der</strong> mittels einer speziellen Capture-<br />

&-Replay-Software vollzogen werden [vgl. Spannagel<br />

& Kortenkamp, <strong>2009</strong>]. Die Speicherung <strong>der</strong><br />

aufgezeichneten Lernprozesse kann dabei entwe<strong>der</strong><br />

lokal o<strong>der</strong> auf einem Server über eine Internetverbindung<br />

erfolgen. Diese Aufzeichnung kann<br />

dem Dozenten zur Analyse bereitgestellt werden,<br />

wenn vom Benutzer persönliches Feedback erfragt<br />

wird. Herding et al. [2010] beschreiben ein<br />

Framework, dass ein solches persönliches Feedback<br />

on Demand per E-Mail umsetzt.<br />

3 Entwickelte Tools<br />

Die Ideen des semi-automatischen Assessments<br />

werden in den im Rahmen des Projekts SAiL-M<br />

entwickelten Lern-Tools umgesetzt. Erste prototypische<br />

Software wurde bisher <strong>für</strong> die Arithmetikund<br />

Geometrie-Vorlesungen <strong>der</strong> beteiligten Pädagogischen<br />

Hochschulen implementiert. Zwei<br />

dieser Tools, die geometrische Inhalte behandeln,<br />

werden im Folgenden vorgestellt. Weitere in <strong>der</strong><br />

Entwicklung befindliche Programme behandeln<br />

Themen wie Mengenlehre [Zimmermann & Herding,<br />

2010], Zuordnungen und Funktionen [Hiob-<br />

Viertler & Fest, 2010], Gruppentafeln sowie vollständige<br />

Induktion.<br />

78<br />

Die Programme setzen zur Unterstützung des<br />

Lernprozesses die Design-Pattern FEEDBACK-<br />

ON-DEMAND, HINT-ON-DEMAND und<br />

HELP-ON-DEMAND [Bescherer & Spannagel,<br />

<strong>2009</strong>] um.<br />

3.1 MoveIt!-M<br />

Die Lernsoftware MoveIt!-M soll das Verständnis<br />

von ebenen Kongruenzabbildungen und ihrer<br />

Komposition för<strong>der</strong>n. Der zentrale Aspekt dieser<br />

laborbasierten Lernumgebung ist <strong>der</strong> Reduktionssatz,<br />

nach dem jede Kongruenzabbildung als<br />

Komposition von maximal drei Achsenspiegelungen<br />

dargestellt werden kann [Dreispiegelungssatz,<br />

Krauter, 2005].<br />

Das Programm besteht aus bisher 6 Lernlaboren,<br />

die je nach Lernstand und Lernziel einzeln<br />

o<strong>der</strong> in Folge bearbeitet werden können. Jedes Labor<br />

enthält eine Auswahl vordefinierter Beispiele,<br />

die durch den Benutzer abgewandelt werden<br />

können. Zusätzlich können eigene Beispiele konstruiert<br />

werden, indem eine Folge von Spiegelachsen<br />

ausgewählt wird. Durch die Verknüpfungen<br />

<strong>der</strong> entsprechenden Achsenspiegelungen wird<br />

eine neue Kongruenzabbildung definiert, die dann<br />

untersucht werden kann. Der Abbildungstyp und<br />

die charakterisierenden Eigenschaften <strong>der</strong> so definierten<br />

Abbildung wird von <strong>der</strong> Software automatisch<br />

erkannt.<br />

Die Lernlabore bestehen jeweils aus einem<br />

Steuer-Panel und einer interaktiven Zeichenfläche,<br />

in <strong>der</strong> die Kongruenzabbildung graphisch<br />

durch Urbild und Bild einer Figur sowie definieren<strong>der</strong><br />

Elemente (z.B. Spiegelachsen) dargestellt<br />

wird (vgl. Abbildung 14.1). Je nach Aufgabe<br />

kann die Urbildfigur in <strong>der</strong> Zeichenfläche frei bewegt<br />

(verschoben, gedreht bzw. umgeklappt) werden<br />

und die Än<strong>der</strong>ungen auf die Urbildfigur beobachtet<br />

werden. Weiterhin werden Kongruenzabbildungen<br />

entwer<strong>der</strong> als textliche Beschreibung<br />

o<strong>der</strong> symbolisch als Verknüpfung von Spiegelachsen<br />

dargestellt.<br />

Labor 1 Zum Kennenlernen <strong>der</strong> verschiedenen<br />

Typen von Kongruenzabbildungen werden diese<br />

dargestellt. Der Lernende erforscht die Effekte<br />

<strong>der</strong> Abbildung auf eine geometrische Figur und<br />

entwickelt dabei ein Gefühl <strong>für</strong> die verschiedenen<br />

Abbildungen.<br />

Labor 2 Hier ist die verbale Beschreibung einer<br />

Kongruenzabbildung gegeben. Der Benutzer soll<br />

nun die Lage des Bildes einer Figur unter dieser<br />

Abbildung schätzen und eine weitere Figur<br />

an die entsprechende Position bewegen. Mit diesem<br />

Labor soll das Gefühl <strong>für</strong> Kongruenzabbildungen<br />

vertieft werden.<br />

Labor 3 In diesem Labor soll zu einer gegebenen<br />

Bild-Figur unter einer Kongruenzabbildung<br />

die Position des Urbildes bestimmt werden.<br />

Hierbei sind die Effekte <strong>der</strong> Kongruenzab-


Werkzeuge <strong>für</strong> das individuelle Lernen in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />

Abbildung 14.1: MoveIt!-M – Kongruenzabbildungen und Achsenspiegelungen<br />

bildung umzukehren. Dieses Labor dient somit<br />

als Einführung des Begriffs <strong>der</strong> inversen Abbildung.<br />

Labor 4 Zu zwei gegebenen Figuren soll die<br />

Kongruenzabbildung bestimmt werden, die die<br />

erste Figur auf die zweite abbildet. Dazu müssen<br />

passende Spiegelachsen konstruiert und die korrekte<br />

Verknüpfung <strong>der</strong> Achsenspiegelungen definiert<br />

werden.<br />

Labor 5 Bei dieser Übung soll wie<strong>der</strong>um zu gegebener<br />

Urbild- und Bild-Figur <strong>der</strong> Typ und<br />

die definierenden Parameter <strong>der</strong> entsprechenden<br />

Kongruenzabbildung erkannt und eingegeben<br />

werden.<br />

Labor 6 Eine gegebene Verknüpfung von Achsenspiegelungen<br />

soll entsprechend dem Reduktionssatz<br />

<strong>für</strong> Kongruenzabbildungen vereinfacht<br />

werden. Dazu können verschiedene geometrische<br />

und algebraische Operationen ausgeführt<br />

werden (z.B. simultanes Drehen zweier Spiegelachsen<br />

um ihren Schnittpunkt, Weglassen von<br />

Achsenspiegelungen im Term).<br />

Alle Labore enthalten angepasste Feedback-<br />

Mechanismen. Entsprechend <strong>der</strong> verschiedenen<br />

Aufgaben sind unterschiedliche Feedback-Typen<br />

implementiert. Aufgrund des Aufbaus <strong>der</strong> ersten<br />

drei Labore sowie des fünften Labors sind<br />

entwe<strong>der</strong> keine automatischen Analysen erfor<strong>der</strong>lich,<br />

o<strong>der</strong> diese können die Korrektheit ein-<br />

zelner Lösungen sogar vollautomatisch überprüfen.<br />

Demgegenüber eröffnen die Labore 4 und<br />

6 eine große Bandbreite möglicher Lösungswege,<br />

die durch semi-automatisches Feedback analysiert<br />

werden können. Allen Laboren gemein ist,<br />

dass <strong>der</strong> Einzelaufgaben-übergreifende Lösungsprozess<br />

durch semi-automatische Rückmeldungen<br />

begleitet wird.<br />

Es ist offensichtlich, dass sich in geometrischen<br />

Lernumgebungen die Implementation eines<br />

visuellen Feedbacks anbietet. Dementsprechend<br />

wurde in den Laboren ein animiertes visuelles<br />

Feedback immer dann verwirklicht, wenn dies<br />

ausreichend Informationen liefert. So wird zum<br />

Beispiel im zweiten und dritten Labor die Korrektheit<br />

<strong>der</strong> Lösung durch einen kurzzeitigen Farbwechsel<br />

<strong>der</strong> Lösungsfigur signalisiert. Bei richtiger<br />

Lage wird die Figur grün gefärbt, bei falscher<br />

Position entsprechend rot. In einer Umgebung <strong>der</strong><br />

richtigen Lage wird eine abgestufte Mischfarbe<br />

verwendet. Darüber hinaus kann <strong>der</strong> Lernende<br />

sich die richtige Position <strong>der</strong> Bild-Figur auf Verlangen<br />

anzeigen lassen. Schließlich können auch<br />

die Zwischenschritte angezeigt werden, die entstehen,<br />

wenn auf die Urbild-Figur nacheinan<strong>der</strong> die<br />

einzelnen Achsenspiegelungen <strong>der</strong> definierenden<br />

Komposition angewandt werden.<br />

In Fällen, in denen ein visuelles Feedback<br />

nicht realisierbar ist, wird auf ein elaborierendes,<br />

79


Andreas Fest, Schwäbisch Gmünd & Marc Zimmermann, Ludwigsburg<br />

textuelles Feedback zurückgegriffen. Dies ist insbeson<strong>der</strong>e<br />

dann <strong>der</strong> Fall, wenn vertiefende Informationen<br />

geliefert werden sollen, z.B. warum eine<br />

Lösung noch nicht korrekt ist. Zu diesem Zweck<br />

soll das Modul Feedback-M [Herding et al., 2010]<br />

verwendet werden. Entsprechende Implementationen<br />

sind zur Zeit in <strong>der</strong> Entwicklung.<br />

Für das letzte Labor, das die komplexeste<br />

Aufgabenstellung in dieser Sammlung beinhaltet,<br />

wurden verschiedene algebraische und numerische<br />

Analyse-Algorithmen implementiert, um ein<br />

möglichst informatives Feedback liefern zu können.<br />

Die algebraischen Analyse-Algorithmen erlauben<br />

sowohl die Korrektheitsprüfung als auch<br />

die Erkennung des Typs einer Termumformung<br />

und sind somit die Grundlage <strong>für</strong> die automatische<br />

Analyse des Lösungsprozesses. Es können<br />

jedoch nicht sämtliche möglichen Umformungsschritte<br />

mit diesen algebraischen Heuristiken<br />

analysiert und bewertet werden. In diesem<br />

Fall wird ein rein numerischer Korrektheits-Test<br />

ausgeführt, <strong>der</strong> jedoch nicht zwischen verschiedenen<br />

Typen von Umformungsschritten unterscheiden<br />

kann. Der numerische Analyse-Algorithmus<br />

ist somit <strong>der</strong> Startpunkt <strong>für</strong> eine manuelle Analyse<br />

des Lösungsprozesses durch die Lehrenden.<br />

3.2 ColProof-M<br />

Mit <strong>der</strong> Anwendung ColProof-M können Studierende<br />

das Führen direkter elementargeometrischer<br />

Beweise lernen und üben. Dabei wird das Schema<br />

des Zwei-Spalten-Beweises [vgl. Holland, 1988;<br />

Herbst, 1999] verfolgt. Jede Zeile des Beweises<br />

beinhaltet in <strong>der</strong> linken Spalte die Aussagen eines<br />

einzelnen Beweisschrittes, wie zum Beispiel „Das<br />

Dreieck ABC ist gleichschenklig“ (Abb. 14.2).<br />

In <strong>der</strong> rechten Spalte stehen die Begründungen<br />

<strong>der</strong> jeweiligen Aussage auf <strong>der</strong> linken Seite. Die<br />

Begründungen setzen sich aus Definitionen o<strong>der</strong><br />

mathematischen Sätzen aus dem virtuellen Buch<br />

(vgl. Abbildung 14.2) o<strong>der</strong> zuvor im Beweis verwendeten<br />

Aussagen zusammen. Indem <strong>für</strong> jeden<br />

Beweisschritt auf bereits bewiesene Sätze o<strong>der</strong><br />

Definitionen zurückgegriffen werden muss, wird<br />

das Prinzip des deduktiven Schließens bei Beweisen<br />

[Fischer & Malle, 1985] betont. Das Begründen<br />

<strong>der</strong> einzelnen Beweisschritte ist nur ein kleiner<br />

Aspekt des Beweisens. Im Gegensatz zu vielen<br />

Studiengängen, die <strong>Mathematik</strong> beinhalten, ist<br />

das Begründen insbeson<strong>der</strong>e <strong>für</strong> Lehramtsstudierende<br />

wichtig [vgl. Reiss, 2002].<br />

Zu Beginn stehen alle verfügbaren Aussagen,<br />

darunter auch <strong>für</strong> den Beweis irrelevante (sog.<br />

Distraktoren), in einer Gedankenwolke zur Auswahl.<br />

Der Lernende muss geeignete Aussagen<br />

durch Verschieben <strong>der</strong> Aussagen per Drag & Drop<br />

an die jeweils passende Stelle den Beweis zusammenstellen.<br />

Diese Papierschnipselmethode wurde<br />

von Silver [<strong>2009</strong>] zur Führung von Beweisen an-<br />

80<br />

geregt.<br />

Durch eine interaktive Abbildung, die mit Hilfe<br />

<strong>der</strong> Geometrie-Software Cin<strong>der</strong>ella [Richter-<br />

Gebert & Kortenkamp, 2006] realisiert wird, kann<br />

jede Aussage veranschaulicht werden. Wählt man<br />

eine Aussage des Beweises aus, werden in <strong>der</strong> Abbildung<br />

entsprechende Elemente <strong>der</strong> Aussage hervorgehoben<br />

[vgl. hierzu auch Hartmann, 2007].<br />

Der Benutzer kann je<strong>der</strong>zeit Hilfe und Rückmeldung<br />

zu seinem aktuellen Beweis über das<br />

integrierte „Feedback-M“-Modul einholen. Wird<br />

Feedback angefor<strong>der</strong>t, wird eine Reihe von Testverfahren<br />

gestartet, welche den Beweis auf unterschiedlichen<br />

Fehlertypen überprüft. Fehler, zum<br />

Beispiel Zirkelschlüsse o<strong>der</strong> fehlende Begründungen<br />

in <strong>der</strong> Beweisführung, werden anhand des zugrunde<br />

liegenden Beweisgraphen [Holland, 1988]<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Musterlösung erkannt und dem Anwen<strong>der</strong><br />

in einem Dialogfenster zurückgemeldet.<br />

Ebenso werden auch positive Aspekte <strong>der</strong> Lösung<br />

dem Benutzer angezeigt, zum Beispiel, dass <strong>der</strong><br />

Beweis soweit korrekt ist, jedoch noch Begründungen<br />

<strong>für</strong> Aussagen fehlen. Der Lernende kann<br />

aufgrund des Hinweises versuchen, das Problem<br />

selbständig zu beheben, o<strong>der</strong> den Beweis fortsetzen.<br />

Ist die Rückmeldung nicht detailliert genug<br />

o<strong>der</strong> kommt <strong>der</strong> Anwen<strong>der</strong> im Beweis nicht weiter,<br />

kann er sich einen Tipp geben lassen. Um<br />

einen Missbrauch <strong>der</strong> Tippfunktion vorzubeugen,<br />

kann die Anzahl verfügbarer Tipps begrenzt werden.<br />

Ein weiteres Feature ermöglicht es dem Benutzer,<br />

eine E-Mail mit einer Frage und dem aktuellen<br />

Beweisstand an den jeweiligen Tutor zu schicken<br />

und von ihm eine Rückmeldung einzuholen.<br />

4 Fazit & Ausblick<br />

Die vorgestellten Tools wurden im Sommersemester<br />

<strong>2009</strong> an den Pädagogischen Hochschulen<br />

Ludwigsburg und Schwäbisch Gmünd in <strong>der</strong><br />

Modulveranstaltung Geometrie eingesetzt. Dabei<br />

wurde die konzeptionelle Entwicklung und die<br />

technische Realisierung <strong>der</strong> Software in einer Vorstudie<br />

qualitativ durch Beobachtung <strong>der</strong> Verwendung<br />

durch die Studierenden und einen abschließenden<br />

Fragebogen evaluiert.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e wurde <strong>der</strong> Schwerpunkt <strong>der</strong> Untersuchung<br />

auf die Akzeptanz und Verwendung<br />

des automatischen Feedbacks gelegt. So wurde<br />

in dem abschließenden Fragebogen gefragt: „Was<br />

gefällt Ihnen beim Lernen am Computer beson<strong>der</strong>s<br />

gut?“ In vielen Antworten wurde das Angebot<br />

eines automatischen Feedbacks als beson<strong>der</strong>s<br />

hilfreich betont: „Schnelle Rückmeldung, ob<br />

’mein’ Ergebnis richtig ist.“ Insbeson<strong>der</strong>e wird<br />

ein graphisches, visuelles Feedback, wie es zum<br />

Teil in MoveIt!-M implementiert ist, geschätzt:<br />

„Ideen können schnell graphisch ausgeführt werden<br />

→ auf Richtigkeit kann untersucht werden. “


Fragt man tiefer nach, „Wie hat Ihnen das automatische<br />

Feedback geholfen?“, so erfährt man,<br />

wie das Feedback verwendet wird. Ein häufiger<br />

Vorbehalt gegen ein weitreichendes Feedback,<br />

das auch Lösungsschritte o<strong>der</strong> sogar vollständige<br />

Lösungen vorgeben kann, ist, dass <strong>der</strong> Lernende<br />

dann nicht mehr selbst mitdenkt, son<strong>der</strong>n sich<br />

stattdessen nur noch bis zur Lösung „durchklickt“.<br />

Es stellt sich jedoch heraus, dass das Feedback in<br />

unserem Kontext von den meisten Studierenden<br />

viel differenzierter eingesetzt wird. Dabei ist entscheidend,<br />

dass Feedback in abgestufter Ausführlichkeit<br />

präsentiert wird: „Dadurch, dass es verschiedene<br />

’Richtigkeitsstufen’ gibt, wird das Lösen<br />

<strong>der</strong> Aufgabe leichter.“ So kann den Lernenden<br />

über kleinere Schwierigkeiten, die beim Bearbeiten<br />

auftreten können, hinweggeholfen werden:<br />

„Wenn man nicht mehr weiter kommt, ist es nützlich,<br />

wenn <strong>der</strong> Computer den nächsten Schritt angibt.“<br />

Aber auch das Vorgeben einer Lösung kann<br />

den Lernprozess unterstützen, sofern <strong>der</strong> Lernende<br />

über die gegebene Lösung reflektiert: „Wenn<br />

falsch, konnte ich es mir nach Lsg erklären“.<br />

Semi-automatisches Assessment kann somit<br />

Werkzeuge <strong>für</strong> das individuelle Lernen in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />

Abbildung 14.2: ColProof-M – Zwei-Spalten-Beweise<br />

helfen den Lernenden und den Lehrenden helfen.<br />

Unterstützt es auf <strong>der</strong> einen Seite den Lernprozess<br />

<strong>der</strong> Studierenden, entlastet es auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Seite den Lehrenden bei <strong>der</strong> Kontrolle von Standardlösungen<br />

und gibt ihm somit mehr Zeit, interessante<br />

und unübliche Lösungen und Probleme zu<br />

identifizieren und zu analysieren.<br />

Die bisherigen Analysemechanismen untersuchen<br />

einzelne Schritte im studentischen Lernprozess.<br />

Unser Ziel ist es jedoch, die Lernprozesse<br />

im Ganzen zu analysieren. Dazu gehört z.B.<br />

Fragen wie „Welche Beispiele und Spezialfälle<br />

werden vom Lernenden untersucht?“ o<strong>der</strong> „Welche<br />

Wege verfolgt er im Lösungsprozess, bevor er<br />

einen zum Ziel führenden Lösungsweg beschreitet?“.<br />

Auf Grundlage solcher Beobachtungen können<br />

gezielt Denkanregungen gegeben werden, die<br />

den Lernprozess weiter för<strong>der</strong>n können.<br />

Für die Umsetzung einer solchen prozessorientierten<br />

Analyse sind jedoch noch weitere Untersuchungen<br />

<strong>der</strong> Lernprozesse notwendig. Darüber<br />

hinaus ist <strong>der</strong> Mehrwert unserer Lernumgebungen<br />

und Lernwerkzeuge <strong>für</strong> den Lernprozess<br />

sowie ihr Einfluss auf die mathematische Selbst-<br />

81


Andreas Fest, Schwäbisch Gmünd & Marc Zimmermann, Ludwigsburg<br />

wirksamkeit <strong>der</strong> Studierenden zu erforschen.<br />

Eine aktuelle Version <strong>der</strong> Software kann von<br />

<strong>der</strong> Projekt-Homepage www.sail-m.de heruntergeladen<br />

werden.<br />

Literatur<br />

Bescherer, Christine & Christian Spannagel (<strong>2009</strong>): Design<br />

Patterns for the Use of Technology in Introductory Mathematics<br />

Tutorials. In: Proceedings of the 9th IFIP World Conference<br />

on Computers in Education (WCCE <strong>2009</strong>), Brazil.<br />

Bescherer, Christine, Christian Spannagel, Ulrich Kortenkamp<br />

& Wolfgang Müller (2010): Research in the field of intelligent<br />

computer-aided assessment. In: McDougall, Anne, John<br />

Murnane, Anthony Jones & Nick Reynolds (Hg.): Researching<br />

IT in Education: Theory, Practice and Future Directions, Routledge.<br />

Fischer, Roland & Günther Malle (1985): Mensch und <strong>Mathematik</strong>.<br />

Mannheim: Bibliographisches Institut.<br />

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Alexan<strong>der</strong>-Universität Erlangen-Nürnberg.<br />

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teaching and the two-column proof format. International<br />

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semi-automatisches Feedback zur Unterstützung bei Lernprozessen.<br />

In: DELFI 2010: <strong>Tagungsband</strong> <strong>der</strong> 8. e-Learning Fachtagung<br />

Informatik, <strong>Gesellschaft</strong> <strong>für</strong> Informatik, 145–156.<br />

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mathematischen Experimentierumgebung im Bereich <strong>der</strong><br />

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2010. Vorträge auf <strong>der</strong> 44. Tagung <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Mathematik</strong> in München, Münster: WTM.<br />

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URL http://www.kmk.org/fileadmin/<br />

veroeffentlichungen_beschluesse/2003/2003_12_<br />

04-Bildungsstandards-Mathe-Mittleren-SA.pdf.<br />

Krauter, Siegfried (2005): Erlebnis Elementargeometrie. Ein<br />

Arbeitsbuch zum selbständigen und aktiven Entdecken. Heidelberg:<br />

Spektrum Akademischer Verlag.<br />

Reiss, Kristina (2002): Argumentieren, Begründen, Beweisen<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht. URL http://blk.mat.<br />

uni-bayreuth.de/material/db/59/beweis.pdf.<br />

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Geometry Software Cin<strong>der</strong>ella, Version 2.0. URL<br />

http://www.cin<strong>der</strong>ella.de.<br />

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Systems. In: Bardini, C., C. Fortin, A. Oldknow & D. Vagost<br />

(Hg.): Proceedings of the 9th International Conference on<br />

Technology in Mathematics Teaching (ICTMT-9), Metz.<br />

Zimmermann, Marc & Daniel Herding (2010): Entwicklung<br />

einer computergestützten Lernumgebung <strong>für</strong> bidirektionale<br />

Umformungen in <strong>der</strong> Mengenalgebra. In: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

2010. Vorträge auf <strong>der</strong> 44. Tagung <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> in München, Münster: WTM.


• Die Analysis in den Zeiten <strong>der</strong> Computerei<br />

Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />

In diesem Beitrag werden Defizite des aktuellen Computereinsatzes im Analysisunterricht beleuchtet<br />

und ein curricularer Vorschlag unterbreitet, <strong>der</strong> eine Alternative aufzeigen soll.<br />

1 Defizite des aktuellen<br />

<strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />

Es ist Allgemeingut, dass es im gegenwärtigen<br />

Analysisunterricht zu viel um das Beherrschen<br />

von Kalkülen und zu wenig um Verständnis und<br />

um Kompetenz geht. Es ist sicher auch richtig,<br />

dass zu viel Wert auf das Abarbeiten und zu wenig<br />

Wert auf das Entwickeln und Bewerten von Verfahren<br />

gelegt wird. Darüber hinaus will ich einige<br />

weitere Defizite benennen:<br />

Defizit 1: Es gibt fast keine Modellbildung in <strong>der</strong><br />

Analysis!<br />

Dieser Befund mag überraschen, denn es gibt<br />

durchaus Aufgaben, die auf den ersten Blick wie<br />

Modellbildungsaufgaben wirken. Das Beispiel in<br />

Abb. 15.1 zeigt ein typisches Muster: Die Aufgabe<br />

besteht aus zwei Schritten, wobei im ersten<br />

Schritt modelliert wird (hier: Das Ufer wird<br />

durch ein Polynom modelliert) und erst im zweiten<br />

innermathematischen Schritt (hier: Bestimmung<br />

<strong>der</strong> Fläche unter dem Graphen <strong>der</strong> Polynomfunktion<br />

durch Integration) Analysis verwendet<br />

wird. Es wäre aber wünschenswert zu<br />

zeigen, dass in <strong>der</strong> Tat Analysis ein hervorragendes<br />

Modellbildungswerkzeug ist. Freudenthal<br />

[1973] hat in seinem Klassiker „<strong>Mathematik</strong><br />

als pädagogische Aufgabe” eine ganze Reihe<br />

von Beispielen zusammen gestellt, in denen mit<br />

Analysis modelliert wird.<br />

Defizit 2: Funktionsgraph-bezogene Vorstellungen<br />

dominieren<br />

Ob dies überhaupt ein Defizit darstellt, kann kontrovers<br />

diskutiert werden. Es scheint mir aber<br />

sicher, dass die „ganzheitliche” Sicht, die <strong>der</strong><br />

Graph bietet, neben Vorteilen auch Nachteile hat,<br />

weil dabei <strong>der</strong> dynamische Aspekt <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung<br />

zweier Größen statisch repräsentiert wird.<br />

Defizit 3: Konzeptentwicklung kommt zu kurz<br />

[vgl. auch Danckwerts & Vogel, 2006]<br />

Dieser Diagnose dürften sich die meisten <strong>Didaktik</strong>er<br />

anschließen. Ein wesentlicher Punkt zur<br />

Abhilfe liegt m. E. darin, konsequent auf Konzeptreduktion<br />

zu setzen: Wenn etwa die Konzepte<br />

des Grenzwerts und <strong>der</strong> Summation bekannt<br />

sind, kann das Riemannintegral darauf reduziert<br />

werden. Dies wird durch Computeralgebrasysteme<br />

(CAS) unterstützt.<br />

Die Rolle von CAS ist aber ambivalent. Einige<br />

Reformhoffnungen stützen sich auf Computernutzung,<br />

allerdings gibt es auch kritische Stimmen.<br />

Exemplarisch sei als CASsandra ein Kollege zitiert:<br />

„Das mit den CAS-Rechnern ist die totale<br />

Katastrophe. Die Lehrer machen genau den gleichen<br />

Unterricht wie vorher, mit dem Erfolg, dass<br />

die Kin<strong>der</strong> gar nichts mehr lernen.”<br />

Das Zitat benennt zwei Probleme: Zum einen<br />

sind alte Ziele und neue Wege nicht automatisch<br />

kompatibel. Darüber hinaus gibt es einen erheblichen<br />

Unterschied zwischen dem, was Standardlehrer<br />

erreichen, und dem, was „Exzellenz-<br />

Lehrer” in wohlüberlegten Schulversuchen bewältigen.<br />

Angesichts dieser unübersichtlichen Lage<br />

tun die beiden folgenden Thesen u.U. bestimmten<br />

Lehrern und ihrem Unterricht Unrecht:<br />

These 1. Der <strong>Mathematik</strong>unterricht ignoriert<br />

Computer fast vollständig.<br />

These 2. Das gilt auch bei Einsatz von GTR,<br />

DGS, TK, CAS.<br />

Begründung <strong>für</strong> These 2: Der Computer wird<br />

fast nur benutzt zur Visualisierung von Graphen.<br />

Allerdings sind Graphen ein statisches Medium<br />

aus <strong>der</strong> Vor-Computerzeit. Immerhin kann man<br />

durch dynamische Funktionsgraphen einen gewissen<br />

Mehrwert erzeugen, aber man versucht auch<br />

dabei, den Computer als reines Werkzeug zu benutzen.<br />

Insgesamt kann man festhalten, dass Computer<br />

bisher vor allem die Unterrichtsmethodik<br />

beeinflusst haben, nicht aber Inhalte o<strong>der</strong> Operationsmodi.<br />

Dabei könnten Computer gerade auch<br />

in den Kompetenzbereichen nützlich sein, die von<br />

<strong>der</strong> KMK nicht mit einer K-Nummer geadelt wurden,<br />

etwa „Planen” und „Beurteilen”.<br />

Computer sollten genutzt werden als<br />

⊲ Problemlösewerkzeug<br />

⊲ Problemaufwerfer<br />

⊲ Kognitives Werkzeug [Jonassen et al., 1998]<br />

2 Empirik<br />

Die Kombination von Computern und <strong>Mathematik</strong><br />

transformiert fast alle wissenschaftlichen Disziplinen<br />

und noch weitere Bereiche unseres Lebens.<br />

Um herauszufinden, ob Schüler zumindest<br />

eine grobe Vorstellung vom Nutzen <strong>der</strong> Computer<br />

<strong>für</strong> die <strong>Mathematik</strong> haben, wurden von Markus<br />

Vogel und mir Studierende des Lehramts zu Beginn<br />

<strong>der</strong> Veranstaltung „Computer im <strong>Mathematik</strong>unterricht”<br />

mittels eines Fragebogens befragt.<br />

86% dieser Studierenden haben im eigenen<br />

Schulunterricht Computereinsatz im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

erlebt, vor allem Tabellenkalkulation<br />

(81%) und Computeralgebra (27%). Fast alle waren<br />

überzeugt, dass <strong>der</strong> Computer im MU eingesetzt<br />

werden sollte. Aber bei <strong>der</strong> Frage nach „Bei-<br />

83


Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />

spielen, wo Computer nützlich sind <strong>für</strong> die <strong>Mathematik</strong><br />

allgemein und ihre Anwendungen.” gaben<br />

16% keine Antwort, 19% nannten schnelles<br />

Rechnen (ohne weitere Erläuterung, auf mündliche<br />

Nachfrage wurde gesagt, das sei nötig, damit<br />

man an <strong>der</strong> Supermarktkasse nicht lange auf<br />

die Rechnung warten müsse – ein groteske Fehleinschätzung<br />

<strong>der</strong> Geschwindigkeit von Computern),<br />

11% nannten komplizierte Formeln zu berechnen,<br />

ohne aber Beispiele <strong>für</strong> Gebiete nennen<br />

zu können, in denen diese Formeln auftreten,<br />

und schließlich sagten sehr viele, Computer seien<br />

nützlich zur Veranschaulichung. Bei <strong>der</strong> Frage<br />

„Haben Sie schon einmal mit Gewinn Mathe<br />

mit dem Computer gemacht? Geben Sie ggf. Beispiele.”<br />

zeigte sich in den Antworten ein ähnliches<br />

Bild: 65% antworteten mit „Nein“, 8%: nannten<br />

„DGS in Geometrievorlesung”, 8% nannten den<br />

„Numerikschein”.<br />

3 Das Curriculum<br />

Dieser Beitrag ist motiviert vom Wunsch, die beschriebene<br />

Situation zu än<strong>der</strong>n. Dazu soll ein curricularer<br />

Vorschlag unterbreitet werden, <strong>der</strong> durch<br />

folgende Charakteristika ausgezeichnet ist:<br />

⊲ Die Leitidee „Än<strong>der</strong>ung” steht am Anfang<br />

und wird durchgängig verwendet [vgl. Körner,<br />

2005].<br />

⊲ Vom Rechnen wird zu den Konzepten fortgeschritten<br />

– Probleme lösen; authentische Fragen<br />

beantworten; Modellbildungen, in denen<br />

die Analysis eine Rolle spielt<br />

⊲ Grundvorstellungen betonen [Malle]<br />

⊲ Diff’rechnung und Integration „integrieren”<br />

84<br />

Abbildung 15.1: Die Kanu-Aufgabe aus Sinus-NRW<br />

(auch als eine Antwort auf den Dauerbrenner<br />

„I-Rechnung vor D-Rechnung?”, siehe Blum &<br />

Toerner [1983])<br />

⊲ Neben Graphen weitere Repräsentationsformen<br />

<strong>für</strong> Funktionen verwenden<br />

⊲ Computereinsatz – aber nicht immer und überall<br />

Wenn Än<strong>der</strong>ung als Leitidee das gesamte Curriculum<br />

durchziehen soll, dann hat das gewichtige<br />

Auswirkungen: Funktionales Denken erscheint<br />

(nur) als ein wichtiger Spezialfall. Denken in Än<strong>der</strong>ungen<br />

ist <strong>für</strong> Schüler keine leichte Übung. Es<br />

zeigt sich, dass etwa die Aufgabe „Angenommen,<br />

es gilt immer a = 2b+3. Was passiert mit b, wenn<br />

a um 2 größer wird?” nur von 31% gymnasialer<br />

Elftklässler gelöst wird (n > 200). Schon in<br />

<strong>der</strong> Sekundarstufe I können Än<strong>der</strong>ung und Akkumulation<br />

Computer-orientiert behandelt werden,<br />

etwa mit <strong>der</strong> Turtle-Grafik bei <strong>der</strong> Unterscheidung<br />

von forward und moveTo (relative vs. absolute<br />

Positionierung). Abb. 15.2 zeigt ein kleines<br />

Scratchprogramm, das die waagrechte Position einer<br />

Figur durch die aktuelle Lautstärke bestimmt.<br />

Wenn stattdessen die Lautstärke die Schrittweite<br />

des nächsten Schrittes bestimmt, erhält man eine<br />

Figur, die in ihrer Position die Lautstärke akkumuliert.<br />

Viele Dinge bleiben in seinem solchen Curriculum<br />

unverän<strong>der</strong>t, u.a.<br />

⊲ Ableitung, Ableitungsregeln<br />

⊲ Integral, Hauptsatz<br />

⊲ Bogenlänge<br />

Es gibt auch neue Bestandteile:<br />

⊲ Differentialgleichungen


Die Analysis in den Zeiten <strong>der</strong> Computerei<br />

Abbildung 15.2: Än<strong>der</strong>ung und Akkumulation von Lautstärke mit Scratch<br />

⊲ Numerische Optimierung<br />

⊲ Multivariate Analysis<br />

Zum Ausgleich kann auch auf einige traditionelle<br />

Inhalte verzichtet werden:<br />

⊲ Stammfunktionskalkül (Produktregel, Substitutionsregel<br />

. . . )<br />

⊲ Rotationskörper<br />

⊲ Taylorreihen<br />

All das wäre zu begründen, aber dazu bräuchte<br />

es einer längeren Arbeit als <strong>der</strong> vorliegenden.<br />

Damit ein Curriculum wie das hier vorgestellte<br />

erfolgreich durchlaufen werden kann, sollten<br />

die Schüler über folgende Idealvoraussetzungen<br />

aus <strong>der</strong> Sekundarstufe I verfügen:<br />

⊲ Approximationsidee bei Reellen Zahlen<br />

⊲ Einfache Algorithmen<br />

◦ Heron<br />

◦ Archimedes’sche Kreisapproximation<br />

⊲ Funktionen in mehreren Variablen<br />

◦ Bei PC-Einsatz ist dies ohnehin sinnvoll, da<br />

z. B. TK, CAS solche verwenden.<br />

◦ Funktionen als Bausteine im Sinne von Lehmann<br />

⊲ Vertrautheit mit einer Programmiersprache<br />

o<strong>der</strong> sogar mit CAS<br />

3.1 Folgen und Funktionen<br />

In <strong>der</strong> Sekundarstufe II kann auch ein innovativer<br />

Lehrgang ganz klassisch beginnen, nämlich mit<br />

Folgen. Diese sind als Selbstzweck interessant,<br />

nicht als Mittel zur Exaktifizierung des Grenzwerts.<br />

Eigenständig interessant sind z. B. Wachstumsprozesse,<br />

auch beschränktes Wachstum und<br />

evtl. logistisches Wachstum [siehe Körner, 2005;<br />

Danckwerts & Vogel, 2006]. Dabei ist <strong>der</strong> zentrale<br />

Begriff <strong>der</strong> <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung:<br />

∆N = f (t + ∆t) − f (t)<br />

Auch numerische Verfahren können als Quelle<br />

von Folgen fungieren. Schließlich treten Folgen<br />

bei zeitlichen Prozessen auf (Weigand), etwa als<br />

Messwerte von zeitlichen Prozessen (Abkühlung<br />

einer Kaffeetasse, etc.).<br />

Bei <strong>der</strong> Behandlung solcher Prozesse sollte<br />

durchweg viel numerisch gearbeitet werden, u.a.<br />

um Vorstellungen von Größenordnungen zu entwickeln,<br />

was letztlich wichtig ist um zentrale Ideen<br />

<strong>der</strong> Analysis zu verstehen. Bei diesen numerischen<br />

Erkundungen kann man schon eine Reihe<br />

von Konzepten kennen lernen:<br />

⊲ Konzepte: Intervallschachtelung, monotone<br />

Folge, beschränkte Folge<br />

⊲ Grenzwert einer Folge (etwa am Beispiel eines<br />

beschränkten Wachstums)<br />

◦ Kreisfläche nach Archimedes damit betrachten<br />

In Untersuchung mit CAS kann <strong>der</strong> limit-Befehl<br />

als Anreger und Unterstützer von Grenzwertüberlegungen<br />

dienen, die sich an inhaltlichen<br />

Wachstumsüberlegungen festmachen. Ein einfaches<br />

Beispiel <strong>für</strong> solche Überlegungen kodiert im<br />

CAS Maxima ist limit(1/(1+1/n),n,inf).<br />

An dieser Stelle reicht eine informelle Grenzwertdefinition<br />

aus: Für ausreichend späte Werte <strong>der</strong><br />

Folge werden die Abstände zum Grenzwert beliebig<br />

klein. Damit werden viele Wachstumsprozesse<br />

– im Rahmen des Modells – langfristig prognostizierbar<br />

(Symbolik macht Asymptotik beherrschbar).<br />

Als Initialproblem da<strong>für</strong> kann die Abkühlung<br />

einer Tasse als Folge von Temperaturwerten<br />

gemessen und als Folge o<strong>der</strong> Funktion mo-<br />

85


Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />

delliert werden. Das Beispiel zeigt gleichzeitig,<br />

dass ähnliche Fragestellungen auch bei Funktionen<br />

relevant sind. Konzepte und Techniken zu Folgen<br />

wie Än<strong>der</strong>ungsverhalten und Monotonie können<br />

dann am Graphen gedeutet werden und die<br />

Grenzwertüberlegungen mit CAS unterstützt werden,<br />

etwa limit((3*x^2+5)/(4*x^2-x), x,<br />

inf). Als methodisches Ziel wird hiermit eine<br />

Vertrautheit mit dem Limit-Befehl <strong>für</strong> spätere Anwendungen<br />

angestrebt.<br />

Funktionen sollten in verschiedenen Darstellungsformen<br />

(Graph, Dynagraph) untersucht werden<br />

und in je<strong>der</strong> Form sollten die grundlegenden<br />

Än<strong>der</strong>ungseigenschaften interpretiert werden.<br />

Eine weitere Form von Funktionen, bei <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Aspekt <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung schön thematisiert werden<br />

kann, ist <strong>der</strong> Bildstrom, den eine WebCam liefert.<br />

Er kann als Funktion B(t) des Bildes von <strong>der</strong><br />

Zeit aufgefasst werden. In Abb. 15.3 ist ein Beispiel<br />

zu sehen, wo dieser Bildstrom live ins Negativ<br />

konvertiert wird und um 2 Sekunden verzögert<br />

wird. Än<strong>der</strong>ungen im Bildstrom findet man durch<br />

Differenzen wie B(t) − B(t − 0.2), was man zur<br />

Verstärkung noch vergrößern sollte, z. B. indem<br />

man durch 0.2 teilt. Das Programm zeigt dann bei<br />

statischen Urbil<strong>der</strong>n nur ein schwarzes Bild, sobald<br />

aber Bewegung ins Urbild kommt, werden<br />

die Konturen deutlich erkennbar: Der Differenzenquotient<br />

detektiert Än<strong>der</strong>ungen.<br />

3.2 Flächen<br />

Flächeninhalte sind durch die vielfältigen Erfahrungen<br />

aus <strong>der</strong> Sekundarstufe I ein sehr greifbarer<br />

Inhalt. In <strong>der</strong> Sekundarstufe II macht man<br />

sich auf den Weg zur Integralrechnung, und wie<br />

das Sinus-Beispiel aus dem ersten Abschnitt zeigt,<br />

werden gelegentlich (Pseudo-)Anwendungen <strong>der</strong><br />

Integralrechnung zur Flächenbestimmungen verwendet.<br />

Im Gegensatz dazu sollte ein Lehrgang,<br />

<strong>der</strong> Computer als Werkzeuge ernst nimmt, die Flächenberechnung<br />

von Polygonen an den Anfang<br />

stellen. Eine Möglichkeit ist ein Miniprojekt zur<br />

Berechnung von Flächeninhalten aus Landkarten<br />

o<strong>der</strong> aus Google-Earth-Daten. Die Problemformulierung<br />

führt über Abstraktion zur Frage <strong>der</strong> Fläche<br />

eines Polygons. Über eine schrittweise Entwicklung<br />

(Dreieck; Stern-Zerlegung; . . . ) mit etwas<br />

Programmierung gelangt man zu einer Lösung<br />

(dies ist die Endform!) wie in den Abb. 4 und<br />

5 dargestellt. Flächeninhalte unter Funktionsgraphen<br />

spielen dabei nur die Rolle eines Son<strong>der</strong>falls.<br />

Mehr „Integralrechnung” ist an dieser Stelle noch<br />

gar nicht nötig und auch nicht sinnvoll. Beachtung<br />

verdient aber, wie mathematische Konzepte (Summation<br />

und Grenzwert) im CAS umgesetzt werden<br />

können.<br />

86<br />

3.3 Optimierung<br />

Das übliche Curriculum behandelt Optimierungsprobleme<br />

als Anwendung <strong>der</strong> Differentialrechnung,<br />

man kann die Reihenfolge aber auch umkehren<br />

und Extremwertprobleme vor Ableitungen<br />

thematisieren! Es gibt viele sinnvolle Fragestellungen,<br />

von <strong>der</strong> „alten Schachtel” bis zur<br />

Milchtüte [Boer] in denen sich eine Sachsituation<br />

auf die Frage verdichten lässt, das Minimum<br />

o<strong>der</strong> Maximum einer Funktion zu bestimmen. Allerdings<br />

verschenkt man etwas, wenn man die<br />

Funktion gleich als Graph zeichnen lässt. Besser<br />

scheint mir, mit Zahlenwerten zu starten. Als<br />

konkretes Beispiel sei die Frage gestellt, bei welchem<br />

Durchmesser ein Zylin<strong>der</strong> des Volumens<br />

850 minimale Oberfläche hat. Man startet mit einem<br />

konkreten Zahlenwert <strong>für</strong> den Durchmesser<br />

(z. B. den einer tatsächlich vorhandenen Dose;<br />

dies liefert den Startwert) und berechnet die<br />

zugehörige Oberfläche. In einem Koordinatensystem<br />

würde das einen einzigen Punkt liefern. Der<br />

Wunsch nach Optimierung lässt sich jetzt so konzeptualisieren:<br />

Kann man den Durchmesser so än<strong>der</strong>n,<br />

dass die Oberfläche abnimmt? Ein probeweises<br />

Vergrößern des Durchmessers um einen kleinen<br />

Schritt liefert einen zweiten Punkt und anhand<br />

<strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Oberfläche lässt sich sofort<br />

sagen, ob man in diese Richtung gehen sollte<br />

o<strong>der</strong> lieber in die an<strong>der</strong>e. Damit ist ein iteratives<br />

Verfahren zur Berechnung vorbereitet. Ziel <strong>für</strong><br />

die Schülerinnen und Schüler sollte eine bequeme<br />

und schnelle maschinelle Suche sein. Das leistet<br />

im analogen Problem einer Maximierung z. B. <strong>der</strong><br />

folgende Algorithmus:<br />

def f(x): return 1.0/(x*x+3*x+10)<br />

x0=0<br />

delta=0.00001<br />

while True:<br />

if f(x0-delta)>f(x0): x0+= -delta<br />

else:<br />

if f(x0+delta)>f(x0): x0+= delta<br />

else: break<br />

print "Maximum bei:", x0<br />

Numerische Algorithmen sind durch die begrenzte<br />

Sicht des Computers auf die Funktion gekennzeichnet,<br />

<strong>der</strong> eben den Graphen nicht ganzheitlich<br />

wahrnehmen kann. Die Umsetzung in ein<br />

Programm ist – bei Kenntnis einiger Konzepte einer<br />

Programmiersprache, wie sie in etwa 15 Unterrichtsstunden<br />

erworben werden können – sehr<br />

einfach.<br />

Damit erschließt man sich sehr viele Anwendungen,<br />

insbeson<strong>der</strong>e können praktisch alle<br />

schulüblichen Optimierungsprobleme behandelt<br />

werden. Denkbare Varianten zum Algorithmus<br />

gibt es viele, so lässt sich z. B. mit Einschachtelungsalgorithmen<br />

(siehe Istron-Band 9) die Genauigkeit<br />

noch wesentlich erhöhen.


Der Algorithmus kann auch zum Gegenstand<br />

einer Problematisierung gemacht werden: Wenn<br />

eine Funktion mehrere Maxima/Minima besitzt,<br />

welches wird gefunden? Wodurch wird die Genauigkeit<br />

bestimmt?<br />

Da alle schulüblichen Probleme (und viele<br />

mehr) lösbar sind, stellt sich die Frage, wozu<br />

die Theorie überhaupt noch notwendig ist. Antwort:<br />

Theorie ist nötig, um theoretisch fundiertes<br />

Wissen zu gewinnen. Aber Schüler kennen jetzt<br />

die Theorie noch nicht! Können sich theoretische<br />

Konzepte aus <strong>der</strong> numerischen Anwendungssituation<br />

entwickeln lassen? Dazu eignen sich Prinzipfragen,<br />

zum Beispiel: Hat f (x) = 1.0/(x · x +<br />

3 · x + 10) nur ein Maximum? Eine Antwort kann<br />

über Ungleichungen gegeben werden, aber das<br />

hat ein hohes algebraisches Anfor<strong>der</strong>ungsniveau.<br />

Man kann aber auch den Algorithmus neu betrachten:<br />

(x0;y0) ist das einzige Maximum, wenn<br />

rechts davon <strong>der</strong> Algorithmus immer nach links<br />

und links davon immer nach rechts läuft, und das<br />

ist <strong>für</strong> f (x + ∆) > f (x) bzw. f (x + ∆) < f (x) <strong>der</strong><br />

Fall.<br />

Das Wachstumsverhalten entscheidet sich also<br />

an f (x + ∆) − f (x) > 0 o<strong>der</strong> < 0. Monoton<br />

steigend bzw. fallend können so algebraisch definiert<br />

werden, wobei aber sofort die Frage nach<br />

<strong>der</strong> geeigneten Größe <strong>für</strong> ∆ aufkommt. Bei zu<br />

großem Wert könnte man beim „Bergsteigen”<br />

einen Schritt über ein Minimum hinweg machen.<br />

Also ergibt sich die Zielformulierung „delta möglichst<br />

klein zu wählen”.<br />

Damit ist die Bühne <strong>für</strong> den Differenzenquotienten<br />

vorbereitet. Es bietet sich an, jetzt auf<br />

die Experimente zum Ableitungsbegriff [Oldenburg,<br />

2007] zu wechseln, um die zentralen Grundvorstellungen<br />

möglichst früh und koordiniert zu<br />

entwickeln. Ergebnisse davon sind: Differenzenquotient;<br />

Grundvorstellungen zu Tangente, Än-<br />

Abbildung 15.3: Ein Web-Cam-Funktions-Programm<br />

Die Analysis in den Zeiten <strong>der</strong> Computerei<br />

<strong>der</strong>ungsrate, linearer Approximierbarkeit; „Differentialquotient<br />

bestimmt Än<strong>der</strong>ungen”.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e die Grundvorstellung zur „Linearen<br />

Approximation” f (x+∆x) = f (x)+ f ′ (x)·<br />

∆x+Fehler, die durch das Experiment mit <strong>der</strong> Kugelbahn<br />

und durch das Funktionsmikroskop entwickelt<br />

werden kann, ist <strong>für</strong> numerische Anwendungen<br />

wichtig. Man fasst sie z. B. in Än<strong>der</strong>ungssprache<br />

als: Die Ableitung ist eine Näherung des<br />

Verstärkungsfaktor <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ungen:<br />

∆ f (x) ≈ f ′ (x) · ∆x<br />

Diese Sichtweise ist nützlich bei <strong>der</strong> Berechnung<br />

von Getriebemaschinen und kann anschaulich<br />

bei Dynagraph-Anwendungen erfahren werden<br />

(mit Felix1D ist auch gleich die Umkehrfunktion<br />

erfassbar). Dabei wird auch die Grundvorstellung<br />

„Ableitung detektiert Än<strong>der</strong>ung” entwickelt<br />

(das WebCam-Programm kann hier aufgegriffen<br />

werden).<br />

Das Kugelbahn-Experiment [siehe Oldenburg,<br />

2007] illustriert die lineare Prognose, die man zu<br />

folgen<strong>der</strong> allgemeiner Definition ausbauen kann:<br />

Zu einer Funktion y = f (x) sind an einem Punkt<br />

(x0;y0) die Differentiale dx, dy die bestmögliche<br />

lineare Prognose <strong>für</strong> die Än<strong>der</strong>ungen von x und<br />

y um diesen Punkt. Demnach sind ∆x = dx willkürlich<br />

(nicht infinitesimal) und die Ableitung ist<br />

<strong>der</strong> Proportionalitätsfaktor <strong>der</strong> linearisierten Än<strong>der</strong>ungen.<br />

Das Funktionsmikroskop zeigt die lokale<br />

Linearität: ∆y ≈ dy nahe bei (x0;y0).<br />

Man beachte, dass die Formulierung Anleihen<br />

beim Wahrscheinlichkeitsbegriff nimmt. Eine<br />

weitere berücksichtigte Erkenntnis ist, dass Än<strong>der</strong>ungsraten<br />

schwieriger als Än<strong>der</strong>ung sind (0/0-<br />

Problem). Historisch gesehen gibt es viele Lehrbücher,<br />

die ganz unbefangen mit Differentialen<br />

arbeiten, z.B. indem sie „Leibniz”-Differentiale<br />

(Definition dy = f ′ (x)dx) einführen. Infinitesima-<br />

87


Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />

le im Sinne <strong>der</strong> Nichtstandardanalysis sind nicht<br />

nötig, aber eine interessante Option [Wun<strong>der</strong>ling,<br />

2007; Artigue, 2002]. Differentiale sind nützliche<br />

Beschreibungswerkzeuge in Theorie (z. B. totales<br />

Differential bei algebraischen Kurven) und Modellbildung<br />

(Klassiker bei Freudenthal; Roboterbewegung).<br />

3.4 Differentialgleichungen<br />

Differentialgleichungen werden im heutigen Analysisunterricht<br />

nur selten behandelt. Trotzdem<br />

spielen sie eine Rolle, wenn auch implizit. Unter<br />

dem Gesichtspunkt „Rekonstruktion des Bestandes<br />

aus <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ungsrate” werden etwa Aufgaben<br />

gestellt wie die Folgende:<br />

Aufgabe. En Becken ist anfangs leer, <strong>der</strong> Zufluss<br />

ist z(t) = 10+10·t (in Liter pro Sekunde) Gefragt<br />

ist <strong>der</strong> Bestand (Füllvolumen) V zur Zeit t = 20?<br />

Diese Informationen können ohne eine Differentialgleichung<br />

(DGL) nicht angemessen formalisiert<br />

werden: Die Schüler und Schülerinnen<br />

sollen also unvermittelt ein Integral hinschreiben.<br />

Die direkte Übertragung <strong>der</strong> Information <strong>der</strong> Aufgabenstellung<br />

in mathematische Formalismus lie-<br />

88<br />

Abbildung 15.4: Polygonberechnung in MuPAD I<br />

fert dagegen eine Differentialgleichung:<br />

V (0) = 0<br />

V ′ (t) = 10 + 10 ·t<br />

Gesucht: V (20)<br />

Die traditionelle Lösung mit dem Hauptsatz führt<br />

dann auf das Integral.<br />

Eine technologielastige, numerische Lösung<br />

dagegen entsteht sehr einfach aus <strong>der</strong> Differentialgleichung,<br />

die man mit Differentialen zunächst als<br />

dV = (10 + 10 · t) · dt schreibt und dann in lokaler<br />

lineare Näherung die Differentiale durch Än<strong>der</strong>ungen<br />

ersetzt. In <strong>der</strong> Programmiersprache Python<br />

sieht die Lösung dann so aus:<br />

V=0<br />

t=0<br />

dt=0.5<br />

def z(t): return 10+10*t<br />

while t


t= 1.0 V(t)= 12.5<br />

t= 1.5 V(t)= 22.5<br />

t= 2.0 V(t)= 35.0<br />

...<br />

t= 20.0 V(t)= 2150.0<br />

Das gleiche geht natürlich auch in an<strong>der</strong>en<br />

Sprachen und insbeson<strong>der</strong>e in CAS. Dort hat man<br />

eine weitere, bisher viel zu selten genutzte Option:<br />

Durch gezieltes Löschen numerische Information<br />

erhält man eine (halb)-symbolische Lösung:<br />

Die folgenden Maxima-Befehle liefern das<br />

gleiche Ergebnis wie obiges Python Programm:<br />

V:0; t:0; dt:0.5;<br />

z(t):=10+10*t;<br />

while t


Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />

# Einige Informationen aus dem Lexikon...<br />

mond = sphere(pos=(370000000,0,0), radius<br />

=1700000*blowup,<br />

color=color.red)<br />

mond.v = vector<br />

(0,0,370000000*6.28/(28*24*3600))<br />

mond.m= 7.3e22<br />

dt = 1800 # Zeitschritt 30<br />

Minuten<br />

def kraft(A,B): # Kraft, die B auf A üausbt<br />

gamma=6.6e-11<br />

r=mag(B.pos-A.pos) # äLnge des Vektors =<br />

Abstand<br />

return (B.pos-A.pos)*A.m*B.m*gamma/(r*r*r)<br />

while True:<br />

rate(48) # 1s in Simulation entspricht 48*<br />

dt=24h<br />

mond.v+= kraft(mond,erde)/mond.m *dt<br />

erde.v+= kraft(erde,mond)/erde.m *dt<br />

mond.pos+= mond.v *dt<br />

erde.pos+= erde.v *dt<br />

Mit drei weiteren Code-Zeilen lässt sich die<br />

Position des Mondes mit <strong>der</strong> Maus verschieben.<br />

3.5 Kalkül<br />

Die Idee <strong>der</strong> Konzeptreduktion ist nicht neu, aber<br />

immer noch relevant: Wenn die Schüler die Konzepte<br />

<strong>der</strong> Summation und des Grenzwertes verstanden<br />

haben (z. B. in Form <strong>der</strong> Funktionen limit<br />

und sum eines CAS), dann können sie versuchen<br />

ihre intuitiven Konzepte z. B. zum Integral<br />

o<strong>der</strong> zur Ableitung auf diese Basiskonzepte<br />

zu reduzieren. Bei <strong>der</strong> Behandlung <strong>der</strong> Ableitung<br />

ist es durch CAS-Nutzung möglich, verschiedene<br />

Ableitungsbegriffe zu untersuchen. In Oldenburg<br />

[2007] wurde berichtet, dass Schüler anhand<br />

<strong>der</strong> dort beschriebenen Experimente ganz unterschiedliche<br />

Differenzenquotienten gebildet haben,<br />

so gab es rechts-, links- und beidseitige Varianten.<br />

Abbildung 15.6: Ableitungen aus verschiedenen<br />

Differenzenquotienten I<br />

Um die Herleitung von Kalkülregeln zu üben, ist<br />

es ein großer Vorteil, verschiedene Fassungen zu<br />

haben, weil damit (leichtere) Analogieaufgaben<br />

90<br />

gestellt werden können. In diesem Sinne bietet es<br />

sich auch an, die q-Ableitung [Oldenburg, 2005]<br />

einzubeziehen. Die Arbeit damit sollte aus einer<br />

Mischung von händischen und CAS-basierten<br />

Phasen bestehen, um jeweils klar zu machen, ob<br />

tiefe Fähigkeiten <strong>der</strong> Blackbox verwendet werden<br />

o<strong>der</strong> nicht. Die folgenden Abbildungen zeigen einige<br />

Impressionen von Rechnungen im CAS Maxima.<br />

Abbildung 15.7: Ableitungen aus verschiedenen<br />

Differenzenquotienten II<br />

3.6 Integral<br />

Abbildung 15.8: q-Ableitung<br />

Eine Zusammenschau <strong>der</strong> bisher schon behandelten<br />

Fragestellungen Flächeninhaltsberechnungen<br />

und Rekonstruktion von Beständen aus Än<strong>der</strong>ungen<br />

ergeben als Gemeinsamkeit, dass Grenzwerte<br />

von Summen bestimmt werden. Damit ist auch<br />

gleich ein Verfahren zur approximativen Berechnung<br />

von Integralen verfügbar und Eigenschaften<br />

wie die Linearität und die Additivität über Integrationsintervallen<br />

lassen sich direkt ablesen. Mittels<br />

Konzeptreduktion lassen sich Integrale dann<br />

im CAS auch definieren und <strong>der</strong> Hauptsatz kann<br />

mehr o<strong>der</strong> weniger klassisch behandelt werden.<br />

Damit ist das Integralkonzept erarbeitet, reduziert<br />

auf an<strong>der</strong>e Konzepte und mit dem Lösen von<br />

DGL vernetzt. Eine weitergehende Behandlung<br />

z. B. des Stammfunktionenkalküls erscheint dagegen<br />

überflüssig, weil sie wenig neue Sachverhalte<br />

erschließt und vor allem Rechentechniken bringt.<br />

3.7 Multivariate Analysis<br />

Die durch Ausdünnung <strong>der</strong> Integralrechnung gewonnene<br />

Zeit kann in eine Behandlung von multi-


variaten Fragestellungen behandelt werden. Funktionen<br />

in mehreren Variablen und die Frage nach<br />

ihren Extremstellen lassen sich leicht aus Anwendungen<br />

gewinnen (Physik, Fermatpunkt, etc.). Die<br />

numerische Behandlung ist nicht viel schwieriger<br />

als im eindimensionalen Fall. Es erschließen sich<br />

u. a. viele Anwendungen im Bereich <strong>der</strong> Modellierung<br />

von Daten [Engel, <strong>2009</strong>; Oldenburg, <strong>2009</strong>].<br />

Auf <strong>der</strong> AKMUI-Tagung <strong>2009</strong> hat Joachim Engel<br />

gezeigt, wie eine Potenzfunktion benutzt werden<br />

kann, um Messwerte eines Mikrowellenexperimentes<br />

zu fitten (siehe Engel [2012], auf S. 149<br />

in diesem Band). Engel benutzte dazu mit dem<br />

Programm R eine mächtige Blackbox. In Erweiterung<br />

des obigen Optimierungsbeispiels kann man<br />

die Dinge aber auch algorithmisch elementar angehen:<br />

daten=[[2,19],<br />

[3,15],<br />

[4,13],<br />

[5,12],<br />

[8,10]]<br />

def S(a,b): # quadratische Fehlersumme des<br />

Modells a*x^b<br />

global daten<br />

S=0<br />

for [x,y] in daten: S+=(y-a*x**b)**2<br />

return S<br />

def optimiereInXRichtung(ab,delta):<br />

[a,b]=ab<br />

if S(a+delta,b)>S(a,b): delta=-delta<br />

while S(a+delta,b)S(a,b): delta=-delta<br />

while S(a,b+delta)


Reinhard Oldenburg, Frankfurt<br />

Oldenburg, Reinhard (2007): Experimentell zum Ableitungsbegriff.<br />

mathematik lehren, (141), 52–56.<br />

Oldenburg, Reinhard (<strong>2009</strong>): Ein Bild zerfließt. mathematik<br />

92<br />

lehren, (157), 56–59.<br />

Wun<strong>der</strong>ling, Helmut (Hg.) (2007): Analysis als Infinitesimalrechnung.<br />

Berlin: Duden Paetec.


• Wozu brauche ich ein Computeralgebra System (CAS), wenn ich<br />

zwei Straßen verbinden soll? – Überlegungen zum (sinnvollen)<br />

Einsatz eines CAS im Analysisunterricht<br />

Hans-Georg Weigand, Würzburg<br />

Der bayerische Modellversuch „Medienintegration im <strong>Mathematik</strong>unterricht - M 3 ” untersucht den<br />

Einsatz von Taschencomputern in den Jahrgangsstufen 10 – 13. In den Schuljahren 2007/08 und<br />

<strong>2008</strong>/09 wurde <strong>der</strong> Versuch in <strong>der</strong> 11. Jahrgangsstufe mit jeweils 10 Gymnasien durchgeführt. Als<br />

elektronisches Werkzeug dienten <strong>der</strong> Voyage 200 und <strong>der</strong> TI-Nspire. In zwei Klassen wurde dabei<br />

im Rahmen einer Unterrichtsreihe das – bekannte – Beispiel des Verbindens zweier Straßenendstücke<br />

durch eine „gefällige” Kurvenführung behandelt. Videoaufnahmen von diesen Stunden und<br />

Beobachtungen von Schülerarbeiten mit Hilfe des TI-Navigators geben einen guten Einblick in das<br />

weitgehend selbstständige Arbeiten <strong>der</strong> Schüler sowie die vielfältigen Lösungsmöglichkeiten dieses<br />

Problems. Die Arbeitsweisen <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler lassen sich gut im Rahmen eines<br />

Kompetenzmodells beschreiben, dass die Beziehung des Verständnisses des Funktionsbegriffs zum<br />

rechnergestützten Arbeiten aufzeigt.<br />

1 Der bayerische Modellversuch M 3<br />

Der Modellversuch „Medienintegration im <strong>Mathematik</strong>unterricht”<br />

(kurz: M 3 ) beschäftigt sich<br />

mit dem langfristigen Einsatz eines Taschencomputers<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht des Gymnasiums.<br />

Der Modellversuch wurde vom Bayerischen Kultusministerium<br />

initiiert und von Texas Instruments<br />

finanziell unterstützt. Ewald Bichler (Hans-<br />

Leinberger-Gymnasium Landshut) ist <strong>der</strong> Leiter<br />

und Koordinator des Projekts, <strong>der</strong> Lehrstuhl <strong>für</strong><br />

<strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> <strong>der</strong> Universität Würzburg<br />

ist <strong>für</strong> die Evaluation des Versuchs zuständig.<br />

In den Modellklassen wurde in den ersten Jahren<br />

mit dem Taschencomputer (TC) „TI Voyage<br />

200”, später dann mit dem „TI-Nspire” gearbeitet.<br />

Der Modellversuch begann zunächst in <strong>der</strong> 10.<br />

Jahrgangsstufe [Weigand, 2006, <strong>2008</strong>] und wurde<br />

dann auf die 11. Klassen ausgedehnt [Weigand &<br />

Bichler, 2010].<br />

Im Folgenden soll nur ein Aspekt im Rahmen<br />

dieses Versuchs herausgestellt werden. Es<br />

wird die Entwicklung eines Kompetenzmodells<br />

erläutert, dann wird gezeigt, wie sich <strong>für</strong> das Problemlösen<br />

erfor<strong>der</strong>liche Kompetenzen durch dieses<br />

Kompetenzmodell ausdrücken lassen.<br />

2 Ein dreidimensionales<br />

Kompetenzmodell<br />

2.1 Kompetenzmodelle<br />

PISA-Studien [Organisation for Economic Cooperation<br />

and Development, 1999] und KMK-<br />

Standards [KMK, 2004] verwenden ein dreidimensionales<br />

Kompetenzmodell mit den „Dimensionen”<br />

Allgemeine mathematische o<strong>der</strong> prozessbezogene<br />

Kompetenzen, Inhaltsbezogene mathematische<br />

Kompetenzen und einem dreifach unterteilen<br />

Anfor<strong>der</strong>ungsbereich.<br />

Allgemeine mathematische Kompetenzen sind dabei:<br />

⊲ mathematisch argumentieren<br />

⊲ Probleme mathematisch lösen<br />

⊲ mathematisch modellieren<br />

⊲ mathematische Darstellungen verwenden<br />

⊲ mit symbolischen formalen und technischen<br />

Elementen <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> umgehen<br />

⊲ kommunizieren<br />

Die Inhaltsbezogenen mathematischen Kompetenzen<br />

o<strong>der</strong> Mathematische Leitideen sind:<br />

⊲ Zahlen<br />

⊲ Messen<br />

⊲ Raum und Form<br />

⊲ Funktionaler Zusammenhang<br />

⊲ Daten und Zufall<br />

Der Anfor<strong>der</strong>ungsbereich unterglie<strong>der</strong>t sich in<br />

⊲ Reproduzieren<br />

⊲ Zusammenhänge herstellen<br />

⊲ Verallgemeinern und reflektieren<br />

Im Folgenden wird ein Kompetenzmodell <strong>für</strong><br />

das rechnergestützte Arbeiten mit Funktionen entwickelt.<br />

Die Hauptintention <strong>für</strong> die Konstruktion<br />

dieses Modell ist die Einordnung und Diagnose<br />

des Wissens, <strong>der</strong> Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />

von Schülerinnen und Schülern beim Arbeiten<br />

mit Funktionen. Der Funktionsbegriff wurde<br />

ausgewählt, da er ein zentraler Begriff <strong>der</strong> gesamten<br />

Schulmathematik ist und im Rahmen des<br />

M 3 -Projekts eine entscheidende Rolle spielt. Das<br />

Kompetenzmodell soll eine Diagnose <strong>der</strong> Kompetenzen<br />

von Schülerinnen und Schülern ermöglichen.<br />

Diese Diagnose ist allerdings nur <strong>der</strong> erste<br />

Schritt, <strong>der</strong> nächste Schritt ist das Entwerfen von<br />

För<strong>der</strong>möglichkeiten. Wie können Schülerinnen<br />

und Schüler dabei unterstützt werden, ihre Kompetenzen<br />

in einem bestimmten Bereich zu entwickeln?<br />

2.2 Verständnis des Funktionsbegriffs (VF)<br />

Neben dem Zahlbegriff ist <strong>der</strong> Funktionsbegriff<br />

<strong>der</strong> wohl wichtigste Begriff in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>.<br />

93


Hans-Georg Weigand, Würzburg<br />

Beim Arbeiten mit einem Computer nimmt die<br />

Bedeutung des Funktionsbegriffs noch zu, da viele<br />

Operationen im Sinne eines „Input-Output-<br />

Verhaltens” interpretiert werden können, das sich<br />

mit dem Funktionsbegriff ausdrücken lässt. Bzgl.<br />

des Verständnisses des Funktionsbegriffs beziehen<br />

wir uns auf ein 4-Stufen-Modell von Vollrath<br />

[Vollrath & Weigand, 2006, S. 160ff]. Jede Stufe<br />

(o<strong>der</strong> jedes Niveau) ist dabei durch Kenntnisse<br />

und Fähigkeiten bestimmt, die von Schülerinnen<br />

und Schülern erworben werden sollen.<br />

Stufe 1: Intuitives Begriffsverständnis<br />

Stufe 2: Inhaltliches Begriffsverständnis<br />

Stufe 3: Integriertes Begriffsverständnis<br />

Stufe 4: Strukturelles Begriffsverständnis<br />

2.3 Werkzeugkompetenz (WK)<br />

Die Fähigkeit (o<strong>der</strong> Kompetenz) den Taschencomputer<br />

problemadäquat einsetzen zu können erfor<strong>der</strong>t<br />

Wissen über die Bedienung des Gerätes,<br />

aber vor allem erfor<strong>der</strong>t es Wissen über den –<br />

im Hinblick auf die mathematische Problemstellung<br />

– sinnvollen Einsatz o<strong>der</strong> die problemadäquate<br />

Benutzung des Rechners. Im Folgenden<br />

unterscheiden wir beim TC-Einsatz hinsichtlich<br />

<strong>der</strong> verwendeten Komponenten des Rechners drei<br />

verschiedene Gebiete o<strong>der</strong> Niveaus.<br />

Stufe 1: Einsatz des TC als Funktionenplotter<br />

o<strong>der</strong> Graphik-Rechner. (StaticMode).<br />

Stufe 2: Einsatz des TC als ein Werkzeug zur Erzeugung<br />

dynamischer Darstellungen. (DynaMode).<br />

Stufe 3: Einsatz des TC auf <strong>der</strong> symbolischen<br />

Ebene. (SymbMode).<br />

2.4 Die VF-WK-Beziehung<br />

Wenn wir das 4-Stufen-Modell des Verständnisses<br />

des Funktionsbegriffs (VF) mit dem 3-Stufen-<br />

Modell <strong>der</strong> Werkzeugkompetenz (WK) kombinieren,<br />

erhalten wir eine 4 × 3-Matrix. Tabelle 16.1<br />

zeigt die Beziehung zwischen diesen beiden „Dimensionen”.<br />

Diese Beziehung wird durch Problemstellungen<br />

verdeutlicht, die den Zellen <strong>der</strong><br />

Matrix zuzuordnen sind.<br />

Beispiele <strong>für</strong> die einzelnen Kompetenzen finden<br />

sich in Weigand [<strong>2009</strong>] und Weigand & Bichler<br />

[2010].<br />

2.5 Anfor<strong>der</strong>ungsbereiche (AB)<br />

Problemstellungen <strong>der</strong> einzelnen „Zellen” lassen<br />

sich in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden<br />

stellen und verschiedenen Anfor<strong>der</strong>ungsniveaus<br />

zuordnen. Bereits in <strong>der</strong> Curriculum Diskussion in<br />

den 1960er und 1970er Jahren wurde in Deutschland<br />

ein Dreistufenmodell benutzt, das zwischen<br />

„Reproduktion”, „Reorganisation” und „Transfer”<br />

unterschied. In den PISA-Untersuchungen [Organisation<br />

for Economic Co-operation and Development,<br />

1999] und den KMK-Bildungsstandards<br />

94<br />

[KMK, 2004] werden ebenfalls drei Anfor<strong>der</strong>ungsbereiche<br />

unterschieden, die mit „Reproduzieren”,<br />

„Zusammenhänge herstellen” und „Verallgemeinern<br />

und Reflektieren” bezeichnet werden,<br />

die inhaltlich dem Dreistufenmodell entsprechen.<br />

Diese Bereiche sind normativ festgelegt,<br />

Aufgaben werden von Experten im Hinblick auf<br />

eine Zielgruppe entwickelt. Im Folgenden werden<br />

ebenfalls drei Anfor<strong>der</strong>ungsbereiche unterschieden,<br />

die sich mit<br />

Stufe 1: Grundwissen und Grundfähigkeiten<br />

Stufe 2: Fortgeschrittenes Wissen bzw. fortgeschrittene<br />

Fähigkeiten<br />

Stufe 3: Komplexes Wissen<br />

beschreiben lassen.<br />

Die Beziehungen zwischen den zwölf Zellen<br />

<strong>der</strong> zwei Dimensionen VF und WK und den<br />

drei Stufen <strong>der</strong> Anfor<strong>der</strong>ungsbereiche lassen sich<br />

in einem dreidimensionalen Koordinatensystem<br />

darstellen. Das Kompetenzmodell besteht aus 36<br />

„Zellen”, wobei es durchaus sein kann, dass einige<br />

Zellen nicht besetzt sind.<br />

Mit Hilfe dieses Modells soll die Kompetenz<br />

von Schülerinnen und Schülern beim TC-Einsatz<br />

beim Arbeiten mit Funktionen beschrieben und<br />

bewertet werden. Dabei sind die zentralen Fragen,<br />

die im Zusammenhang mit dem Kompetenzmodell<br />

beantwortet werden müssen:<br />

1. Kann dieses theoretische Modell empirisch bestätigt<br />

werden? Ist es möglich, das Wissen und<br />

die Fähigkeit von Schülern einzelnen Zellen<br />

zuzuordnen?<br />

2. Kann dieses Modell zu einem quantitativen<br />

Kompetenzstufenmodell erweitert werden,<br />

Hierzu müsste die Dimension „Anfor<strong>der</strong>ungsbereich”<br />

zu einer numerischen<br />

Ordinalskala, etwa wie bei dem PISA-<br />

Kompetenzstufenmodell erweitert werden.<br />

3. Wie können Schülerinnen und Schüler dahingehend<br />

geför<strong>der</strong>t werden, dass sie ihre Kompetenzen<br />

in den Bereichen VF und WK verbessern.<br />

Im Folgenden wird ein – bekanntes – Beispiel<br />

betrachtet, bei dem Arbeitsweisen und Problemlösestrategien<br />

von Studierenden analysiert und im<br />

Rahmen dieses Kompetenzmodells beschrieben<br />

werden.<br />

3 Ein Beispiel: Straßen verbinden<br />

3.1 Hintergrund und Untersuchungsfragen<br />

In einer Unterrichtssequenz am Ende einer 11.<br />

Klasse haben Schülerinnen und Schüler weitgehend<br />

eigenständig das folgende Problem behandelt:<br />

Aufgabe. Zwei gerade Straßenstücke enden in<br />

den Punkten A und B. Wie können die beiden Enden<br />

verbunden werden?


Wozu brauche ich ein Computeralgebra System (CAS), wenn ich zwei Straßen verbinden soll?<br />

SymbMode Umformen von<br />

(einfachen) Termen<br />

– Kontrolle von<br />

Handberechnungen<br />

DynaMode Sukzessives, schrittweises(dynamisches)<br />

Erzeugen von<br />

Diagrammen<br />

StaticMode Diagramme aus gegebenen<br />

Daten erzeugen<br />

Dynamisches Darstellen<br />

von Funktionsscharen<br />

Funktionen graphisch<br />

und numerisch<br />

darstellen<br />

Beziehungen zwischen<br />

Eigenschaften<br />

von Funktionen<br />

in verschiedenen<br />

Darstellungsformen<br />

erkennen<br />

Funktionsscharen in<br />

verschiedenen Darstellungen<br />

erkennen<br />

Beziehung zwischen<br />

Funktionen, ihren Eigenschaften<br />

in verschiedenenDarstellungen<br />

erkennen<br />

Umformen von komplexen<br />

Termen – die<br />

evtl. – von SuS nicht<br />

per Handrechnung<br />

umgeformt werden<br />

können.<br />

Verketten von Funktionen<br />

– dynamische<br />

Erläuterung<br />

Gleichungslösen unter<br />

funktionalen Gesichtspunkten<br />

WK – VF Intuitives BV Inhaltliches BV Integriertes BV Strukturelles BV<br />

Aufgrund <strong>der</strong> begrenzten Zeit von zwei Unterrichtseinheiten<br />

und unserer Forschungsintention<br />

wurde das Problem bereits in Form einem mathematischen<br />

Modells vorgestellt. Die Modellierung<br />

des Problems wurde erst am Ende <strong>der</strong> Einheit<br />

thematisiert.<br />

Eine ausführlichere Darstellung und eine kritische<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dieser Aufgabe findet<br />

sich in [Lambert & Peters, 2005] und [Steinberg,<br />

1995].<br />

Tabelle 16.1: Beziehung zwischen VF und WK<br />

Abbildung 16.1: Das Kompetenzmodell mit 36 Zellen<br />

Abbildung 16.2: Die Problemstellung: Zwei Straßen<br />

verbinden<br />

Wir waren vor allem an den Arbeits- und<br />

Denkweisen <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler interessiert,<br />

während sie an dem Problem arbeiteten.<br />

Dabei wollten wir insbeson<strong>der</strong>e eine Einordnung<br />

95


Hans-Georg Weigand, Würzburg<br />

o<strong>der</strong> Zuordnung dieser Arbeitsweisen zu den 36<br />

Zellen des Kompetenzmodells vornehmen. Die<br />

Einheit wurde in zwei verschiedenen Klassen behandelt.<br />

In <strong>der</strong> ersten Klasse wurde die Einheit auf<br />

Video aufgezeichnet, in <strong>der</strong> zweiten Klasse wurde<br />

das TI-Navigator-System verwendet, um Daten<br />

direkt vom TC <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler zu<br />

erhalten. Bei dieser Technologie werden die Daten<br />

direkt vom TC auf den Lehrer-Computer übertragen<br />

und lassen sich als Video-Film abspeichern.<br />

3.2 Lösungen des<br />

Straßenverbindungsproblems<br />

Im Folgenden werden verschiedene Lösungsstrategien<br />

beschrieben, die einzelne Schüler gewählt<br />

haben, die aber auch durch Partner- und Gruppenarbeit<br />

entstanden sind.<br />

Startphase<br />

Unmittelbar nach <strong>der</strong> Problemstellung fragten einzelne<br />

Schüler nach gegebenen Werten, wie etwa<br />

dem Abstand <strong>der</strong> Straßen. Sofort kam auch<br />

<strong>der</strong> Vorschlag, dass es sicherlich hilfreich sei –<br />

manche sprachen von „notwendig”– ein Koordinatensystem<br />

einzuführen. Im Folgenden beziehen<br />

wir uns auf ein Koordinatensystem, das von einem<br />

Schüler in einer Klasse vorgeschlagen wurde<br />

und das als „verbindlich” <strong>für</strong> die ganze Klasse erklärt<br />

wurde. In <strong>der</strong> zweiten Klasse wurde die Wahl<br />

des Koordinatensystems einzelnen Schülern bzw.<br />

Gruppen überlassen.<br />

Wir beziehen uns auf ein Koordinatensystem,<br />

in dem die Endpunkte <strong>der</strong> beiden „Straßen”<br />

mit A(-3;5) und B(2;-2) festgelegt sind. Von den<br />

Schülern wurde auch vorgeschlagen, die Funktion<br />

als Darstellung <strong>für</strong> die beiden parallelen Straßen<br />

zu nehmen. Keine <strong>der</strong> Gruppen verwendete<br />

ein Koordinatensystem bei dem die beiden Straßen<br />

punktsymmetrisch zum Ursprung waren.<br />

Erste Lösung – Lineare Verbindung<br />

Für die Konstruktion einer „linearen” Verbindung<br />

<strong>der</strong> beiden Endpunkte traten drei verschiedene<br />

Strategien auf. Die geradlinige Verbindung wurde<br />

durch<br />

1. die Bestimmung <strong>der</strong> Steigung des „Steigungsdreiecks”<br />

und des y-Abschnitts<br />

2. das Zeichnen einer Strecke zwischen den beiden<br />

Endpunkten im Geometriefenster<br />

3. das Lösen eines Gleichungssystems<br />

erhalten.<br />

96<br />

Abbildung 16.3: Geradlinige Verbindung, erhalten<br />

durch den Zugmodus <strong>der</strong> Geraden<br />

Wenn wir diese drei Strategien im Rahmen<br />

unseres Kompetenzmodells beurteilen, dann erhält<br />

man die folgende Zuordnung. Das „intuitive<br />

Begriffsverständnis” tritt bei dieser – doch etwas<br />

komplexeren Problemstellung – nicht auf, deshalb<br />

haben wir es in <strong>der</strong> Tabelle nicht berücksichtigt.<br />

Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />

1. Inhaltl. Stat.<br />

2. Inhaltl. Dyna.<br />

3. Inhaltl. Symb.<br />

Nach einer kurzen Diskussion in <strong>der</strong> Klasse<br />

wurde diese Lösung verworfen. Dabei trat erstmals<br />

<strong>der</strong> Aspekt einer „ruckartigen Lenkbewegung”<br />

bzw. eines „plötzlichen Richtungswechsels”<br />

auf. Im Hinblick auf die Verkehrssituation<br />

kann das keine optimale Lösung sein.<br />

Zweite Lösung – Ein experimenteller Zugang<br />

mit trigonometrischen Funktionen<br />

Diese Lösung verwendet den Graph <strong>der</strong> Sinusfunktion<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kosinusfunktion, <strong>der</strong> dann – mit<br />

<strong>der</strong> Maus – so „verzogen” wird, bis eine optische<br />

Übereinstimmung <strong>der</strong> Verbindungsstraße mit den<br />

Geradenstücken vorhanden ist. Dieser experimentelle<br />

Zugang nutzt also die dynamischen Möglichkeiten<br />

des TC. Die Gleichung des Graphen wird<br />

dabei automatisch angezeigt. Die folgenden Abbildungen<br />

zeigen den Start mit dem Graphen einer<br />

Sinusfunktion. Das letzte Bild zeigt dann den<br />

Graph, <strong>der</strong> nur noch „zwischen” den beiden Straßenenden<br />

definiert ist.<br />

Abbildung 16.4: Start mit <strong>der</strong> Sinusfunktion


Wozu brauche ich ein Computeralgebra System (CAS), wenn ich zwei Straßen verbinden soll?<br />

Abbildung 16.5: Verziehen des Graphen bis er optisch<br />

„passt”<br />

Abbildung 16.6: Einschränken des Definitionsbereichs<br />

Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />

Inhaltl. Dyna.<br />

Dritte Lösung – Ein experimenteller Zugang<br />

mit trigonometrischen Funktionen II<br />

Diese Lösung stellt die Beziehung zwischen <strong>der</strong><br />

Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Graphen <strong>der</strong> Sinus- bzw. Kosinusfunktion<br />

und <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Parameter<br />

<strong>der</strong> Funktionsgleichung auf <strong>der</strong> symbolischen<br />

Ebene her. Diese Strategie erfor<strong>der</strong>t die Kenntnis<br />

<strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Parameter <strong>der</strong> Funktionsgleichung<br />

<strong>für</strong> die entsprechenden Graphen.<br />

Abbildung 16.7: Trigonometrische Verbindung –<br />

Verwendung von Schiebereglern<br />

Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />

Integr. Dyna.<br />

Vierte Lösung – Experimenteller Zugang mit<br />

quadratischen Funktionen I<br />

Anstelle <strong>der</strong> trigonometrischen Funktionen (wie<br />

bei <strong>der</strong> 2. und 3. Lösung) können <strong>für</strong> einen experimentellen<br />

Zugang auch quadratische Funktionen<br />

gewählt werden. Auch hier gibt es verschiedene<br />

Strategien. Man kann die Parabeln zeichnen und –<br />

mit <strong>der</strong> Maus – so lange „verziehen”, bis sie optisch<br />

passend sind.<br />

Abbildung 16.8: Quadratische Verbindung Ia<br />

Abbildung 16.9: Quadratische Verbindung Ib<br />

Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />

Integr. Dyna.<br />

Fünfte Lösung – Experimenteller Zugang mit<br />

quadratischen Funktionen II<br />

Man kann auch von <strong>der</strong> Funktionsgleichung<br />

f (x) = a(x − b)2 + c<br />

ausgehen und die Parameter passend verän<strong>der</strong>n.<br />

Bei <strong>der</strong> hier dargestellten Lösung wurden zwei<br />

Parabeln mit gleichem Öffnungsfaktor und den<br />

Scheitelpunkten in den beiden Endpunkten <strong>der</strong><br />

„Straßen” gewählt. Die Parameter wurden dann<br />

so gewählt, dass sich die Parabeln in einem Punkt<br />

schneiden.<br />

97


Hans-Georg Weigand, Würzburg<br />

Abbildung 16.10: Quadratische Verbindung II (a)<br />

Abbildung 16.11: Quadratische Verbindung II (b)<br />

Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />

Integr. Symb.<br />

Sechste Lösung – Kreise<br />

Bei <strong>der</strong> Verwendung von Kreisen o<strong>der</strong> Kreisteilen<br />

<strong>für</strong> die Verbindungsstraße gab es verschiedene<br />

Strategien <strong>für</strong> das Auffinden <strong>der</strong> Mittelpunkte<br />

und Radien <strong>der</strong> Kreise. Die Mittelpunkte wurden<br />

dabei stets auf eine Senkrechte zu den gegebenen<br />

Straßen durch die Endpunkte gelegt.<br />

Abbildung 16.12: Diese Strategie verwendet Kreise<br />

und eine Strecke<br />

Abbildung 16.13: Eine Strategie die zunächst versucht,<br />

die Radien <strong>der</strong> Kreise zu bestimmen<br />

98<br />

Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />

Inhaltl. Integr. Dyna.<br />

Wir beobachteten auch einen Schüler, <strong>der</strong> nach<br />

anfänglichen Versuchen mit dem TC zu Zirkel und<br />

Lineal (als reale Gegenstände) griff, um die Lösung<br />

zunächst auf <strong>der</strong> enaktiven Ebene zu finden.<br />

Siebte Lösung – Polynome I<br />

Es lassen sich auch Polynomfunktionen als Verbindungsstücke<br />

wählen.<br />

Abbildung 16.14: Eine interessante (!) Strategie:<br />

Es werden drei Punkte auf je<strong>der</strong> „Straße” genommen<br />

und. . .<br />

Abbildung 16.15: . . . mit dem solve-Befehl. . .<br />

Abbildung 16.16: . . . erhält man eine erstaunliche<br />

Lösung: f (x) = −0.0086...x 5 + 0.0217...x 4 +<br />

0.1956...x 3 + 0.3152...x 2 − 2.2589...x 1 +<br />

0.3172...<br />

Achte Lösung – Polynome II<br />

Diese Lösung setzt „optisch passende Punkte” <strong>für</strong><br />

eine mögliche Verbindung und findet die Lösung<br />

– eine Polynomfunktion 4. Grades – dann durch<br />

das Lösen eines Gleichungssystems.


Wozu brauche ich ein Computeralgebra System (CAS), wenn ich zwei Straßen verbinden soll?<br />

Abbildung 16.17:<br />

Abbildung 16.18: Verbindung mit Polynomen II<br />

Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />

Inhaltl. Stat. Symb.<br />

Neunte Lösung – Ableitungen I<br />

Diese Lösung verwendet den Graph einer Polynomfunktion<br />

mit einem differenzierbaren Übergang<br />

zu den „linearen Straßenstücken” in den<br />

Endpunkten A und B. Hier wird ein Polynom 3.<br />

Grades verwendet:<br />

f (x) = ax 3 + bx 2 + cx + d<br />

und die Bedingungen: f (−3) = 5, f ′ (−3) = 0,<br />

f (2) = −2, f ′ (2) = 0.<br />

Das Gleichungssystem kann auf <strong>der</strong> symbolischen<br />

Ebene gelöst werden. Als Graph erhält man<br />

das Ergebnis:<br />

Abbildung 16.19: Verbindung mit Hilfe von Ableitungen<br />

I<br />

Zehnte Lösung – Ableitungen II<br />

Das ist dieselbe Strategie wie bei <strong>der</strong> 9. Lösung,<br />

allerdings mit einem Polynom 4. Grades:<br />

f (x) = ax 4 + bx 3 + cx 2 + dx + e<br />

Es traten zwei verschiedene Strategien auf.<br />

Abbildung 16.20: Verbindung mit Ableitungen –<br />

Erste Strategie: f (−3) = 5, f ′ (−3) = 0, f (0) = 0,<br />

f (2) = −2, f ′ (2) = 0<br />

Abbildung 16.21: Verbindung mit Ableitungen –<br />

Zweite Strategie: f (−3) = 5, f ′ (−3) = 0, f (2) =<br />

−2, f ′ (2) = 0, f ′′ (2) = 0<br />

Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />

Integr. Stat. Symb.<br />

3.3 Funktionen als Objekte – Der<br />

Modellkreislauf<br />

Strukturelles Begriffsverständnis bedeutet Arbeiten<br />

mit Funktionen als Objekten. Dieses Begriffsverständnis<br />

entwickelt sich bei Schülern allerdings<br />

nicht o<strong>der</strong> kaum selbstständig aus intuitiven<br />

o<strong>der</strong> auch inhaltlichen Überlegungen, son<strong>der</strong>n es<br />

bedarf <strong>der</strong> Unterstützung und Hilfen des Lehrers.<br />

Eine Polynomlösung vom Grad 3<br />

Bezugnehmend auf die Lösung 3.2.10 lässt sich<br />

eine Funktion so definieren, dass <strong>der</strong>en Graph die<br />

gesamte Straßenverbindung darstellt, die beiden<br />

Geradenstücke und die Verbindung. Man erhält<br />

die Funktion:<br />

99


Hans-Georg Weigand, Würzburg<br />

Abbildung 16.22: Eine Lösung mit einem Polynom<br />

3. Grades<br />

Der Vorteil einer <strong>der</strong>artigen Definition ist es,<br />

dass die erste und zweite Ableitung <strong>der</strong> Funktion<br />

durch den Befehl „Ableitung” „auf Knopfdruck”<br />

erhalten werden kann.<br />

Abbildung 16.23: Bestimmung <strong>der</strong> Ableitungen<br />

mit dem TC<br />

Damit erhält man die Graphen dieser Funktionen<br />

unmittelbar „auf Knopfdruck”.<br />

Abbildung 16.24: Der Graph <strong>der</strong> Straßenfunktion<br />

und die 1. Ableitung<br />

100<br />

Abbildung 16.25: Der Graph <strong>der</strong> Straßenfunktion<br />

und die 2. Ableitung<br />

Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />

Integr. Strukt. Stat. Symb.<br />

Die Graphen zeigen die Unstetigkeit <strong>der</strong> 2.<br />

Ableitung <strong>der</strong> Funktion „Straße” in den Punkten<br />

A und B.<br />

Interpretation des mathematischen Modells<br />

Die 2. Ableitung einer Funktion ist ein Maß <strong>für</strong> die<br />

Krümmung <strong>der</strong> Kurve. Für positive Werte ist <strong>der</strong><br />

Graph links-, <strong>für</strong> negative Werte rechtsgekrümmt.<br />

Was bedeutet das <strong>für</strong> die reale Situation des Fahrens<br />

entlang <strong>der</strong> „Straße”? Wenn man mit einem<br />

Fahrzeug entlang einer Straße fährt, so treten – bei<br />

einer gekrümmten Kurve – Zentrifugalkräfte auf.<br />

Fährt man entlang <strong>der</strong> Geradenstücke auf Punkt A<br />

zu, so gibt es keine Zentrifugalkraft, sobald aber<br />

Punkt A passiert wird, treten plötzlich Zentrifugalkräfte<br />

auf. Es erfolgt ein „Ruck” auf das Fahrzeug.<br />

Eine „gute” Lösung des Problems sollte in<br />

den Punkten A und B „ruckfrei” verlaufen und<br />

einen allmählichen Anstieg <strong>der</strong> Zentrifugalkräfte<br />

ergeben.<br />

Eine erste „gute” Lösung des Problems<br />

Bei <strong>der</strong> folgenden Lösung ist das Verbindungsstück<br />

<strong>der</strong> Punkte A und B <strong>der</strong> Graph eines Polynoms<br />

5. Grades:<br />

f (x) = ax 5 + bx 4 + cx 3 + dx 2 + ex + g<br />

Eine in A und B „ruckfreie” Lösung sollte<br />

den folgenden Bedingungen genügen: f (−3) = 5,<br />

f ′ (−3) = 0, f ′′ (−3) = 0, f (2) = −2, f ′ (2) = 0,<br />

f ′′ (2) = 0.


Wozu brauche ich ein Computeralgebra System (CAS), wenn ich zwei Straßen verbinden soll?<br />

Abbildung 16.26: Eine Lösung mit einem Polynom<br />

5. Grades<br />

Abbildung 16.27: Das Polynom und seine Ableitungen<br />

Hier ist insbeson<strong>der</strong>e die 2. Ableitung <strong>der</strong><br />

Funktion „Straße” in den Punkten A und B stetig.<br />

Bei <strong>der</strong> entsprechenden realen Situation liegt ein<br />

„ruckfreier” Übergang an diesen Punkten vor.<br />

Stufe des VF Stufe <strong>der</strong> WK<br />

Integr. Strukt. Stat. Symb.<br />

Straßenverbindungen in <strong>der</strong> Realität<br />

Das Verbinden zweier Straßenstücke ist ein häufig<br />

auftretendes Problem auf Autobahnen o<strong>der</strong> bei<br />

Sraßenkreuzungen. Es ist ein sehr komplexes Problem,<br />

das etwa in <strong>der</strong> Ausbildung von Ingenieuren<br />

des Straßenbauwesens sehr ausführlich behandelt<br />

wird (vgl. Lambert & Peters 2005). Es gibt dabei<br />

viele Aspekte zu berücksichtigen: Die Breite <strong>der</strong><br />

Straßen, die Entfernung <strong>der</strong> Endpunkte, die Geschwindigkeit,<br />

mit <strong>der</strong> die Autos durch die Kurve<br />

fahren (sollen), eine evtl. Straßenneigung und ob<br />

die Endpunkte auf einer Höhe liegen o<strong>der</strong> nicht.<br />

Um die auftretenden Zentrifugalkräfte berechnen<br />

zu können, muss die Krümmung κ <strong>der</strong> Kurve in<br />

einzelnen Punkten bekannt sein. Diese wird durch<br />

1 http://de.wikipedia.org/wiki/Klothoide<br />

den Krümmungskreis in diesen Punkten <strong>der</strong> Kurve<br />

angegeben. Ein Kreis mit dem Radius r hat die<br />

Krümmung 1 r (in jedem Kreispunkt). Der Graph<br />

einer Funktion f hat die Krümmung κ:<br />

κ =<br />

f ′′<br />

(1 + ( f ′ ) 2 ) 3<br />

Für eine möglichst ruckfreie Fahrt durch die Kurve<br />

sollte sich die Krümmung nicht sprunghaft<br />

und darüber hinaus möglichst gleichmäßig än<strong>der</strong>n.<br />

Unter diesem Gesichtspunkt ist es seine „gute”<br />

Lösung, wenn sich die Krümmung einer Kurve<br />

proportional zur Bogenlänge <strong>der</strong> Kurve än<strong>der</strong>t.<br />

Das erfor<strong>der</strong>t dann eine gleichmäßige Verän<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Lenkung. Eine Kurve, die dieser Bedingung<br />

genügt ist die „Klothoide” 1 . Für eine professionelle<br />

Konstruktion <strong>der</strong> Verbindung zweier Straßen<br />

werden Geraden-, Kreisstücke verwendet, die<br />

durch Klothoidenstücke verbunden werden [vgl.<br />

Gläser, 1972; Osterloh, 1991].<br />

4 Folgerungen<br />

Das hier entwickelte Kompetenzmodell (Abschnitt<br />

2) ist ein theoretisches o<strong>der</strong> normatives<br />

Modell. Es zeigt die Beziehung zwischen verschiedenen<br />

Stufen des Verständnisses des Funktionsbegriffs<br />

(VF) und <strong>der</strong> Werkzeugkompetenz<br />

(WK). Diese Beziehung lässt sich durch 12 = 3 ×<br />

4 Fel<strong>der</strong> ausdrücken. Dabei lassen sich <strong>für</strong> jedes<br />

Feld Probleme konstruieren, die verschiedene kognitive<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen stellen. Wir sind dabei von<br />

drei verschiedenen Anfor<strong>der</strong>ungsbereichen (AB)<br />

ausgegangen: Grundwissen und Grundfähigkeiten,<br />

Fortgeschrittenes Wissen bzw. Fortgeschrittene<br />

Fähigkeiten sowie Komplexes Wissen. Damit<br />

besteht das Kompetenzmodell aus 36 = 12×3<br />

„Zellen” in einem dreidimensionalen Kompetenzmodell,<br />

von denen sich jede Zelle durch ein Tripel<br />

(VF, WK, AB) charakterisieren lässt. Die nächsten<br />

Schritte bezgl. <strong>der</strong> Evaluation dieses Modells<br />

sind:<br />

Für jede Zelle werden Problemstelllungen entwickelt,<br />

von denen erwartet wird, dass sie eine<br />

Schülerin o<strong>der</strong> ein Schüler löst, wenn sie o<strong>der</strong> er<br />

die entsprechende Kompetenz besitzt. Es ist gegenwärtig<br />

eine offene Frage, ob es tatsächlich <strong>für</strong><br />

jede Zelle eine solche Problemstellung gibt. Die<br />

Hypothese ist, dass höhere Stufen <strong>der</strong> Kompetenz<br />

VF und WK mit höheren Stufen von AB einhergehen.<br />

Das Modell kann zu einem empirischen Kompetenzstufenmodell<br />

weiterentwickelt werden. Die<br />

PISA–Studien verwenden eine numerische Kompetenzskala<br />

(<strong>für</strong> die Achse <strong>der</strong> Anfor<strong>der</strong>ungsbereiche),<br />

die auf <strong>der</strong> relativen Häufigkeit beruht,<br />

mit <strong>der</strong> Probanden entsprechende Testaufgaben<br />

lösen. Die erfolgreich gelösten Aufgaben stellen<br />

101


Hans-Georg Weigand, Würzburg<br />

ein Maß <strong>für</strong> die Schwierigkeit <strong>der</strong> Problemstellung<br />

dar. Die Skala wird mit einem Mittelwert von<br />

500 und einer Standardabweichung von 100 normiert.<br />

Der Hauptgrund <strong>für</strong> die Konstruktion des<br />

Kompetenzmodells ist <strong>der</strong> Wunsch, Leistungen,<br />

Wissen, Fähigkeiten und Arbeitsweisen von Schülerinnen<br />

und Schüler beim Arbeiten mit dem TC<br />

im Rahmen des Funktionsbegriffs einstufen o<strong>der</strong><br />

bewerten zu können. Das Kompetenzmodell soll<br />

<strong>der</strong> Diagnose von Schülerleistungen dienen. Die<br />

Diagnose ist jedoch nur <strong>der</strong> erste Schritt, wenn<br />

wir die Kompetenz von Schülerinnen und Schüler<br />

verbessern wollen. Der zweite Schritt ist das<br />

Entwickeln von För<strong>der</strong>programmen. Es stellt sich<br />

also die Frage, wie und welche För<strong>der</strong>maßnahmen<br />

ergriffen werden können.<br />

Das M 3 -Projekt wird in den nächsten Jahren<br />

mit einer größeren Anzahl an Modellklassen fortgesetzt<br />

werden. Diese Klassen werden ihre Abschlussprüfung<br />

mit dem TC ablegen, erstmals im<br />

Jahr 2012. Ab 2011 ist es allen bayerischen Gymnasien<br />

erlaubt zu wählen, ob sie den TC einsetzen<br />

o<strong>der</strong> nicht. Die Klassen mit TC werden dann in <strong>der</strong><br />

10. Klasse mit dem TC-Einsatz beginnen und ihr<br />

Abitur im Jahr 2013 ablegen. Das Kompetenzmodell<br />

wird im Rahmen dieses fortgeführten Projekts<br />

evaluiert werden.<br />

Literatur<br />

Gläser, Hans (1972): Trassierung von Straßen und Gewässern.<br />

Berlin: VEB Verlag <strong>für</strong> Verkehrswesen.<br />

KMK, Kultusministerkonferenz (2004): Bildungsstan-<br />

102<br />

dards im Fach <strong>Mathematik</strong> <strong>für</strong> den Mittleren Schulabschluss.<br />

URL http://www.kmk.org/fileadmin/<br />

veroeffentlichungen_beschluesse/2003/2003_12_<br />

04-Bildungsstandards-Mathe-Mittleren-SA.pdf.<br />

Lambert, Anselm & Uwe Peters (2005): Straßen sind keine<br />

Splines. Technischer Bericht 139, Universität das Saarlandesr,<br />

URL http://www.math.uni-sb.de/PREPRINTS/<br />

preprint139.pdf.<br />

Organisation for Economic Co-operation and Development<br />

(Hg.) (1999): Programme for International Student Assessment.<br />

The PISA Assessment Framework. OECD.<br />

Osterloh, Horst (1991): Straßenplanung mit Klothoiden und<br />

Schleppkurven. Einrechnung mit Trasse und Gradiente. 5.<br />

Auflage, Wiesbaden, Berlin: Bauverlag.<br />

Steinberg, Günter (1995): Sanft krümmt sich, was ein Gleis<br />

werden will. mathematik lehren, 69, 61–64.<br />

Vollrath, Hans-Joachim & Hans-Georg Weigand (2006): Algebra<br />

in <strong>der</strong> Sekundarstufe. Spektrum.<br />

Weigand, Hans-Georg (2006): Der Einsatz eines Taschencomputers<br />

in <strong>der</strong> 10. Jahrgangsstufe - Evaluation eines einjährigen<br />

Schulversuchs. Journal <strong>für</strong> <strong>Mathematik</strong>-<strong>Didaktik</strong>, 27(2), 89–<br />

112.<br />

Weigand, Hans-Georg (<strong>2008</strong>): Teaching with a Symbolic Calculator<br />

in 10th Grade - Evaluation of a One Year Project. International<br />

Journal for Technology in Mathematics Education,<br />

15(1), 19–32.<br />

Weigand, Hans-Georg (<strong>2009</strong>): Towards a competence model<br />

for working with symbolic calculators in the frame of the function<br />

concept. Teaching Mathematics and its Applications, 28,<br />

196–207, URL http://teamat.oxfordjournals.org/<br />

content/28/4/196.abstract.<br />

Weigand, Hans-Georg & Ewald Bichler (2010): Symbolic Calculators<br />

in Mathematics Education - The Case of Functions.<br />

International Journal for Technology in Mathematics Education,<br />

17(1).<br />

und Wilhelm Weiskirch, Heiko Knechtel (2001): Abituraufgaben<br />

mit Graphikrechnern und Taschencomputern. Schroedel.


• Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum<br />

Analysisunterricht des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts?<br />

Lutz Führer, Frankfurt<br />

Wie die Überschrift andeutet, werden im Folgenden drei recht globale Behauptungen zur Analysisdidaktik<br />

aufgestellt und – notgedrungen teilweise eklektisch – untermauert:<br />

1. Der übliche Analysisunterricht an heutigen Sekundarstufen II und seine didaktischen Motive folgen<br />

bis heute anhaltenden Zeitgeistströmungen des frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

2. Es gibt angeborene und seitdem erworbene Missverhältnisse zwischen schulischen Rollen <strong>der</strong><br />

Analysis und ihren vorgeblichen Aus-/Bildungsfunktionen.<br />

3. Eine konsensfähige inhaltliche Begründung <strong>für</strong> allgemein verpflichtenden Analysisunterricht ist<br />

heute nicht mehr gegeben. Damit wird die propädeutische Funktion <strong>der</strong> Mittelstufenalgebra zumindest<br />

fragwürdig. Dieses Doppelproblem könnte durch „Berechnen, um zu verstehen“ gelöst<br />

werden, konkreter: mittels Computermodellierungen bedeutsamer Realdaten.<br />

Alle drei Behauptungen sind spekulativ, und ich erwarte nicht, Kollegen zu bekehren, die sie nicht<br />

zumindest bedenkenswert finden. Wer zu ähnlichen Einschätzungen <strong>der</strong> Lage neigt, wird einige plakative<br />

Resümees den Exegesen vorziehen, um angeregt Kraft zu schöpfen und sich <strong>der</strong> dringen<strong>der</strong>en<br />

Aufgabe gemäß Punkt 3 zu widmen. Diese Aufgabe herauszuarbeiten ist das leitende Ziel <strong>der</strong> folgenden<br />

Untersuchung. Mehr als einige Zwischen-Überblicke und Anstöße kann sie freilich nicht<br />

bieten – schon um sich nicht im Enzyklopädischen zu verlieren.<br />

1 Analysisunterricht des 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts?<br />

„Das neue Jahrhun<strong>der</strong>t wird beherrscht<br />

durch die Wissenschaft, inbegriffen die Technik,<br />

und nicht wie das vorige durch die Philosophie.<br />

Dem müssen wir entsprechen.“<br />

Wilhelm II., Görlitz 29. November 1902<br />

[zit. n. Ullrich, 1999, S. 341]<br />

Gewöhnlich wird die flächendeckende Einführung<br />

pflichtmäßigen Analysisunterrichts an Höheren<br />

Schulen auf zwei Ereignisse zurückgeführt: seine<br />

Einfor<strong>der</strong>ung auf <strong>der</strong> gewichtigen Naturforscherversammlung<br />

in Meran 1905 und seine (endgültige?)<br />

Festschreibung im Richertschen Lehrplan <strong>für</strong><br />

Preußen 1925. Oft gibt man sich mit <strong>der</strong> – insbeson<strong>der</strong>e<br />

bei Fachmathematikern beliebten – Auskunft<br />

zufrieden, beides sei dem didaktischen Impetus<br />

und <strong>der</strong> Verhandlungskunst Felix Kleins entsprungen.<br />

Etwas genaueres Hinsehen bringt aber<br />

noch einen aktuelleren Aspekt zutage: Weil nämlich<br />

alle entscheidenden Ideen, Argumente und<br />

For<strong>der</strong>ungen, die fachlichen sowieso, aber auch<br />

die didaktischen und bildungspolitischen, deutlich<br />

älter als die Meraner Bewegung („Breslauer Unterrichtskommission“<br />

<strong>der</strong> GDNÄ 1904) sind, stellt<br />

sich die spannende Frage, warum den einschlägig<br />

engagierten Persönlichkeiten um Felix Klein die<br />

bis heute wirksame Durchsetzung gerade zu Beginn<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts gelang. Um diese Frage<br />

– natürlich spekulativ – zu beantworten, genügen<br />

einige bequem erreichbare Informationen zur<br />

1.1 Vorgeschichte<br />

Die Rede vom „heutigen Analysisunterricht“ ist<br />

gewiss nur deshalb einigermaßen sinnvoll, weil<br />

dieser Unterricht in erheblichem Umfang von Behördenvorschriften,<br />

Schulbuch- und Ausbildungstraditionen<br />

vorbestimmt und konserviert wird.<br />

Das war nicht immer so; insbeson<strong>der</strong>e nicht im 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t. Obwohl damals die rasante Entwicklung<br />

des Höheren Schulwesens lange von <strong>der</strong> Perspektive<br />

auf ein Berufsleben als Staatsdiener geprägt<br />

war 1 , können heutige Oberschulen von <strong>der</strong><br />

damaligen Autonomie <strong>der</strong> Lehre nur träumen. 2<br />

1 siehe zum Beispiel [Böttcher et al., 1994, S. 89f]<br />

2 Die weitgehende Lehrfreiheit des Oberlehrers war bei Wilhelm von Humboldt Programm, wurde aber im weiteren 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

auch unabhängig vom Neuhumanismus vom Primat <strong>der</strong> „Formalbildung“, d. h. <strong>der</strong> individualisierenden, aber staatsbezogenen<br />

Persönlichkeitsbildung, gestützt. (Mit Lehrfreiheit ist natürlich nicht Freiheit von politischen und Standeszwängen o<strong>der</strong> großmaschigen<br />

Rahmenplänen und Zielvorgaben gemeint [vgl. etwa Kraul, 1984, Kap. 2].) Hinzu kamen Personalprobleme: Erst 1810 wurde in<br />

Preußen mit <strong>der</strong> Einführung des Referendarexamens Philosophie zum Fach ersten Ranges, von dem sich allmählich Einzelfächer wie<br />

<strong>Mathematik</strong> abspalteten. Der zunehmenden Mathematisierung des Unterrichts an Höheren Schulen standen so bis in die 60er Jahre des<br />

19. Jahrhun<strong>der</strong>ts nur wenige Oberlehrer mit einem Examen in <strong>Mathematik</strong>/Naturwissenschaften gegenüber. In dieser Lage konnten<br />

die staatlichen Lehrpläne natürlich nur Wünsche äußern, Umrisse zeichnen und im Detail unverbindlich bleiben [vgl. Lorey, 1916,<br />

S. 22] – Eine halbwegs sinngemäße neudeutsche Übersetzung von „Formalbildung“ wäre vielleicht „mentale Formung“. Das hätte<br />

immerhin den Charme, die Erziehungsabsichten (o<strong>der</strong> -wirkungen) unseres Oberschulwesens offen zu legen und infrage zu stellen. –<br />

Handfestere Belege <strong>für</strong> meine Autonomiebehauptung bieten Einblicke in die Lehrplangeschichte und in die des Vorschriftenwesens<br />

im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. Die Literatur dazu ist Legion. Ich nenne hier nur [Hermann, 1977; Jeismann, 1996; Schubring, 1983, 1986; Kraul,<br />

1984; Mandel, 1989; Röhrs, 1969; Lundgreen, 1980/1981], sowie die bei [Steiner, 1978] angegebene Literatur.<br />

3 [Klein, 1904, S. 3]<br />

103


Lutz Führer, Frankfurt<br />

Wenn also Kleins „alter Studienfreund“ 3 Max<br />

Simon den Meraner Reformern auf dem <strong>Mathematik</strong>erkongress<br />

in Rom 1908 entgegen hielt:<br />

„Das Gute ist nicht neu, und das Neue ist<br />

nicht gut!“ 4<br />

konnte er einerseits mit vollem Recht darauf verweisen,<br />

dass es während des ganzen 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

schon Analysisunterricht an Höheren Schulen<br />

gegeben hat, und auch For<strong>der</strong>ungen nach<br />

genetischem Unterricht; Anwendungs-, Technikund<br />

Naturwissenschaftsorientierung; Betonung<br />

des Funktionsbegriffs u. v. a. m. 5<br />

An<strong>der</strong>erseits unterschätzte Simon gewiss die<br />

jedes Mal notwendige Einschränkung „. . . – hier<br />

o<strong>der</strong> dort.“ So haben die Meraner Reformer mit<br />

ebenso viel Recht betont: „Das Vielerlei <strong>der</strong> mathematischen<br />

Gebiete, die auf <strong>der</strong> Schule zu Wort<br />

kommen, musste unter eine einheitliche Grundidee<br />

gebracht werden. [. . . ] wenn die Schulmathematik<br />

nicht als ein Konglomerat verschiedener<br />

Dinge auseinan<strong>der</strong>fallen sollte.“ 6 Aus heutiger<br />

Sicht lässt sich auch die naheliegende Frage<br />

einleuchten<strong>der</strong> beantworten, warum die Reformer<br />

das Auseinan<strong>der</strong>fallen <strong>der</strong> Unterrichtsinhalte<br />

unbedingt bekämpfen wollten, obwohl es doch<br />

bei mittleren Köpfen im Dreiviertelstundentakt –<br />

trotz des schon damals gern beschworenen psychogenetischen<br />

Prinzips (heute: „Schülerorientierung“)<br />

– kaum vermeidbar ist: Ziel <strong>der</strong> Meraner<br />

Reformvorschläge war die flächendeckende Umformung<br />

des analytisch-algebraischen <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />

in eine Vorschule <strong>der</strong> Analytischen<br />

Geometrie und Analysis. 7 Dieses Ziel konnte im<br />

aufblühenden staatlichen Reglementierungswesen<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts nur erreicht werden, wenn es<br />

sich den Entscheidungsträgern als plakatives Gesamtkonzept<br />

mundgerecht präsentieren ließ. Je-<br />

denfalls hatten die verstreuten Beispiele <strong>für</strong> Analysisunterricht<br />

im 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts kaum überregionalen<br />

Nachhall gefunden. Und die öffentlichen<br />

Bemühungen eines du Bois-Reymond, Gallenkamp<br />

o<strong>der</strong> Reuleaux hatten lediglich die zugkräftigen<br />

Formulierungen <strong>für</strong> „fortschrittliche“, aber<br />

randständige Kreise des Bildungsbürgertums entwickelt,<br />

mit denen sie dem aufstrebenden Wirtschaftsbürgertum<br />

staatliche Unterstützung <strong>für</strong> die<br />

Zweite Industrielle Revolution andienen konnten.<br />

Wir begnügen uns hier mit einer personalisierten<br />

Skizze <strong>der</strong> damaligen Aufbruchstimmung:<br />

Karl Wilhelm Gallenkamp, seit 1861 Direktor<br />

<strong>der</strong> Friedrichs-Wer<strong>der</strong>schen Oberrealschule<br />

in Berlin, die dem einflussreichen hugenottischen<br />

Großbürgertum nahe stand 8 , vertrat im<br />

Herbst 1873 auf einer Konferenz des Königlich<br />

Preußischen Unterrichtsministeriums über verschiedene<br />

Fragen des Höheren Schulwesens die<br />

(Min<strong>der</strong>heits-) Auffassung, „dass die Bildungsaufgabe<br />

des Gymnasiums die Aufnahme <strong>der</strong> Elemente<br />

<strong>der</strong> analytischen Geometrie und <strong>der</strong> Differentialrechnung<br />

for<strong>der</strong>e; nur dadurch könne <strong>der</strong><br />

Gymnasial-Abiturient eine Vorstellung von <strong>der</strong><br />

großen Cultur-Arbeit auf dem Gebiete <strong>der</strong> Naturwissenschaft<br />

erhalten; nur so könne die Erweiterung<br />

einer immer bedenklicher werdenden Kluft<br />

zwischen den Gebildeten in <strong>der</strong> Nation vermieden<br />

werden; auch sei das wissenschaftliche Studium<br />

<strong>der</strong> Medizin ohne die Kenntnis dieser mathematischen<br />

Disziplinen nicht möglich.“ Von mehreren<br />

Seiten wurde das mit Überbürdungsbe<strong>für</strong>chtungen<br />

(heute: Überbeanspruchung, Schulstress)<br />

zurückgewiesen. „Dagegen stimmte Herr Bonitz<br />

Direktor Gallenkamp soweit bei, dass er die Erreichung<br />

<strong>der</strong> von diesem aufgestellten Ziele <strong>für</strong><br />

sehr wünschenswert hielt, aber auch er hatte Zweifel<br />

an <strong>der</strong> Durchführbarkeit . . . “ 9 Dr. Hermann<br />

4 Vgl. [Krüger, 2000, S. 163]<br />

5 Schülke [1905] berichtet von Unterricht in Infinitesimalrechung an Herbarts Pädagogium (um 1810 und 1824). Im berühmten<br />

Süvernschen Lehrplan, dessen mathematischer Teil von Bernhardi stammt, war <strong>für</strong> die Höheren Schulen Infinitesimalrechnung vorgesehen<br />

(1816; veröff. 1819; Schubring [1988]). Ebenfalls bei Schubring [1988] findet man Angaben über Schellbachs einschlägige<br />

Praxis als Gymnasialfachleiter in Berlin 1855-1892. [Lietzmann, 1919/1916, S. 386 f.] verweist auf Traugott Müller 1845. [Führer,<br />

1981a, S. 63 f.] gibt die vier Abituraufgaben wie<strong>der</strong>, die Gallenkamp 1889 gestellt hat, und belegt damit das hohe Niveau, das Gallenkamps<br />

Analysisunterricht seit etwa 1870 gehabt haben muss. [Schumann, 1999] nennt Extremwertbestimmungen bei Schaffer (1816),<br />

Martus (1861), Schra<strong>der</strong> (1862), Förster (1866). Klein [1904, S. 11f.] schreibt: „Mehr beiläufig will ich anführen, dass es eine Reihe<br />

Anstalten gibt, welche seit Jahren einen regelmäßigen Unterricht in Differential- und Integralrechnung erteilen. Es sind dies vor allen<br />

Dingen die Württembergischen Oberrealschulen, aber auch manche einzelne Schulen sonst.“ (Gleich anschließend geht Klein auf<br />

die Umgehung des zeitweiligen Unterrichtsverbots <strong>für</strong> dieses Gebiet mittels <strong>der</strong> „Schellbachschen Methode“ als Tarnung ein, die im<br />

Wesentlichen schon in Fermats Abhandlung von 1629 über Maxima und Minima steht: Ausdividieren nach x − x ′ und anschließendes<br />

Nullsetzen. . . [de Fermat, 1934]) – Zum genetischen Unterricht s. [Schubring, 1978].<br />

6 [Lietzmann, 1919/1916, S. 236]; ähnlich [Simon, 1885] sowie Hauck und Klein auf <strong>der</strong> Berliner Schulkonferenz 1900 sowie<br />

eindrucksvoller Götting [1902, S. 50 f], <strong>der</strong> an das Prinzip <strong>der</strong> Denkökonomie appelliert.<br />

7 Lietzmann [1919/1916, S. 233] beklagt im Geiste aller Reformer den Meraner Kompromiss, nach dem es nur hieß, die Schule solle<br />

„an die Schwelle <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung heranführen“. – Das seinerzeit gebräuchliche Wort „Infinitesimalrechnung“ umfasste noch<br />

alle Varianten einer Einführung in die Analysis. Heute bezeichnet es eher eine spezifisch mit Konvergenzfragen durchwobene Sichtweise,<br />

während <strong>der</strong> klassische Calculus des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts den unendlichen Reihenkalkül betonte, <strong>der</strong> spätere amerikanische Calculus<br />

endlich-algebraische Plausibilitätsbetrachtungen und Anwendungstechniken, die Hochschulanalysis einen systematisch-formalen<br />

Begründungszusammenhang einschließlich Differential- und Integralgleichungen auch im Mehrdimensionalen. Klein sprach vorzugsweise<br />

(nur) von Differential- und Integralrechnung. Im heutigen schulischen Gebrauch ist „Analysis“ so ambivalent wie zu Meraner<br />

Zeiten „Infinitesimalrechnung“.<br />

8 Vgl. etwa http://de.wikipedia.org/wiki/Hugenotten_in_Berlin<br />

9 Diskussions-Protokoll vom Oktober 1873, zit. n. [Gallenkamp, 1877, S. 2]<br />

104


Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />

Bonitz war nicht irgendwer: 1873 noch Gymnasialdirektor<br />

und Mitglied <strong>der</strong> Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften,<br />

war er seit 1875 schon Vortragen<strong>der</strong><br />

Rat im Unterrichtsministerium mit starkem Einfluss<br />

auf die neu zu entwickelnden Lehrpläne, als<br />

Gallenkamp seinen Standpunkt in <strong>der</strong> Zeitschrift<br />

<strong>für</strong> das Gymnasial-Wesen öffentlich machte und<br />

ausführlicher begründete, u. a. auch mit dem Hinweis<br />

auf fortschrittlichere Zustände in Frankreich<br />

und vor allem auf Reuleaux’ böse Briefe von <strong>der</strong><br />

Weltausstellung in Philadelphia 1876, wo Preußen<br />

sich – ausgerechnet während <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong>krise –<br />

als grobschlächtig und technisch rückständig präsentiert<br />

hatte. 10<br />

Der damals sehr angesehene Berliner Physiologe<br />

und Medizintheoretiker Emil du Bois-<br />

Reymond hat dann gleichfalls 1877 in einer reichsweit<br />

beachteten Kölner Rede in dieselbe Kerbe geschlagen<br />

und <strong>für</strong> „mo<strong>der</strong>ne“ Analytische statt traditionell<br />

Synthetischer Geometrie auf den Höheren<br />

Schulen plädiert. Seine Argumente sind später<br />

oft <strong>für</strong> pflichtmäßigen Unterricht in Analytischer<br />

Geometrie und Analysis ins Feld geführt worden.<br />

Erst Analytische Geometrie, so du Bois-Reymond<br />

in jener Rede, erschließe „die mathematische Bildung“.<br />

Sie müsse in den Höheren Schulen zur allgemeinen<br />

Studierbefähigung gelehrt werden, weil<br />

sie so dienlich <strong>für</strong> Verwaltungsbeamte, Nationalökonomen,<br />

Physiker, Meteorologen und Mediziner<br />

sei. „Die Darstellung von Functionen in Curven<br />

o<strong>der</strong> Flächen aber eröffnet eine neue Welt<br />

von Vorstellungen und lehrt den Gebrauch einer<br />

<strong>der</strong> fruchtbringendsten Methoden, durch welche<br />

<strong>der</strong> Geist seine eigene Leistungsfähigkeit erhöhte.<br />

. . . ein <strong>für</strong> das Leben epochemachen<strong>der</strong><br />

Lichtblick. Diese Methode wurzelt in den letzten<br />

Tiefen menschlicher Erkenntnis und hat dadurch<br />

an sich ganz an<strong>der</strong>e Bedeutung, als <strong>der</strong> sinnreichste,<br />

einem beson<strong>der</strong>en Falle dienende analytische<br />

Kunstgriff.“ Die Rede endet mit <strong>der</strong> früher<br />

oft zitierten For<strong>der</strong>ung: „Kegelschnitte, kein<br />

griechisches Skriptum mehr!“ Unterwegs machte<br />

du Bois-Reymond geltend, Geometrie und Algebra<br />

gewöhnten ans scharfe Denken, und die Infinitesimalrechnung<br />

sei wegen <strong>der</strong> nichtlinearen Gesetzmäßigkeiten<br />

unbedingt einzuschließen: „Dass<br />

analytische Geometrie durch Differential- und In-<br />

tegralrechnung den Weg zu den letzten und höchsten<br />

Zielen <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>, also auch zu <strong>der</strong>en<br />

schwierigsten Teilen bahnt, kann doch nur einen<br />

Grund mehr abgeben, schon auf dem Gymnasium<br />

damit anzufangen.“ 11<br />

Obwohl schon Gallenkamps erweiterte Argumentation<br />

so ziemlich alle Argumente vorweggenommen<br />

hatte, die bis heute zur Begründung des<br />

schulischen Analysisunterricht ins Feld geführt<br />

werden, versandete sein und du Bois-Reymonds<br />

Vorstoß mitsamt Bonitz’ Einfluss in den Reputationskämpfen<br />

<strong>der</strong> 1880er- und 90er-Jahre. 12<br />

Erst auf <strong>der</strong> Schulkonferenz, die im Jahr 1900<br />

<strong>der</strong> formellen Gleichstellung <strong>der</strong> Höheren Schultypen<br />

vorausging, nahmen die mathematischen<br />

Hochschulvertreter Klein, Hauck, Lexis und Slaby<br />

den Faden mit beson<strong>der</strong>em Hinweis auf den<br />

Mangel an Technikernachwuchs wie<strong>der</strong> auf, wobei<br />

Gallenkamps Strategie, provozierend auf den<br />

Vorsprung – ausgerechnet – <strong>der</strong> Franzosen hinzuweisen,<br />

jetzt mit Schulbüchern von E. Borel und<br />

den Brü<strong>der</strong>n Tannéry untermauert werden konnte.<br />

13 Hauck warf den Realschulen ein „Herumnippen<br />

an allerlei auf gleichbleibendem Niveau vor“<br />

und Felix Klein erklärte: „Je<strong>der</strong> Sachverständige<br />

wird bestätigen, dass man selbst die Grundlinien<br />

<strong>der</strong> wissenschaftlichen Naturerklärung nur verstehen<br />

kann, wenn man wenigstens die Anfangsgründe<br />

<strong>der</strong> Differential- und Integralrechnung, sowie<br />

<strong>der</strong> analytischen Geometrie – also den sogenannten<br />

nie<strong>der</strong>en Teil <strong>der</strong> höheren <strong>Mathematik</strong> –<br />

kennt.“ 14 Unmittelbarer Nutzen sei die Entlastung<br />

vor allem <strong>der</strong> Studiengänge, die wenig <strong>Mathematik</strong><br />

bräuchten: Architektur, Chemie, beschreibende<br />

Naturwissenschaften, Medizin (Physiologie),<br />

Maschinen- und Bauingenieurwesen und sogar<br />

Jura (Versicherungswesen). 15 „Eine Hauptsache<br />

ist doch auch, die Überzeugung entstehen zu<br />

lassen, dass richtiges Nachdenken auf Grund richtiger<br />

Prämissen die Außenwelt beherrschen lässt.<br />

Dann aber muss von Beginn an <strong>der</strong> Blick auf<br />

die Außenwelt gerichtet werden.“ 16 „Ich wünsche<br />

(<strong>für</strong> die Oberklassen <strong>der</strong> Realanstalten) eine praktische<br />

Differential- und Integralrechnung, welche<br />

sich auf die einfachsten Beziehungen beschränkt<br />

und diese an <strong>der</strong> Hand <strong>der</strong> dem Schüler bereits<br />

geläufigen Naturvorgänge fortgesetzt veranschau-<br />

10 [Reuleaux, 1877]<br />

11 [du Bois-Reymond, 1974, S. 151]<br />

12 Vgl. [San<strong>der</strong>, 1903; Pahl, 1913] sowie [Führer, 1981b, S. 85]<br />

13 Bei Gallenkamp hieß es noch: „. . . es existiert meines Wissens kein Lehrbuch, welches Wegweiser sein könnte, und es dürfte<br />

schwer sein, ein solches mit irgend einem Anspruche auf Allgemeingültigkeit abzufassen.“ [Gallenkamp, 1877, S. 19]. Klein war sich<br />

dieses großen Hin<strong>der</strong>nisses <strong>für</strong> eine schulpolitische Durchsetzung zweifellos sehr bewusst [vgl. Klein, 1904, S. 11f]. Nachdem er auf<br />

einschlägige Erfahrungen und Ausarbeitungen <strong>der</strong> Göttinger Gymnasiallehrer Behrendsen und Götting verweisen konnte [Lietzmann,<br />

1919/1916, S. 233], fand er die französischen Lehrbücher von Borel und den Tannérys nur noch bemerkenswert in ihrer „Gesamtdisposition“,<br />

nicht mehr unmittelbar auf deutsche Verhältnisse übertragbar [Klein, 1904, S. 5].<br />

14 [Klein, 1900, S. 36]<br />

15 [Klein, 1900, S. 36 f] bzw. [Klein, 1904, S. 17f].<br />

16 [Klein, 1900, S. 35]<br />

17 [Klein, 1900, S. 43]<br />

105


Lutz Führer, Frankfurt<br />

licht.“ 17 „Eine gewisse Kenntnis <strong>der</strong> Differentialund<br />

Integralrechnung ist unerlässlich, wenn man<br />

auch nur die einfachsten Gesetzmäßigkeiten <strong>der</strong><br />

uns umgebenden Natur verstehen will.“ 18 Natürlich<br />

soll hier den Philologen und Verwaltungsbeamten<br />

suggeriert werden, dass Leitungsfunktionen<br />

<strong>für</strong> die aufstrebende Technik und Industrie<br />

künftig solche Kenntnisse voraussetzen würden.<br />

Klein meidet aber dieses Glatteis, auf dem<br />

die angestrebte Aufwertung <strong>der</strong> mathematischnaturwissenschaftlichen<br />

Bildung zu leicht ins Abseits<br />

<strong>der</strong> rein materialen Berufsvorbereitung abgleiten<br />

könnte, und betont stattdessen lieber den<br />

kompensatorischen Bildungsanteil vor allem <strong>für</strong><br />

spätere Nichtmathematiker: „Im mathematischen<br />

Unterricht kommt wesentlich das deduktive Denken<br />

zu seinem Recht; <strong>der</strong> naturwissenschaftliche<br />

Unterricht hat ergänzend das induktive Denken<br />

und die Gewöhnung an vorurteilsfreie Beobachtung<br />

zu üben. Beide zusammen sollen zu einem<br />

Verständnis <strong>der</strong> uns umgebenden Natur anleiten,<br />

von <strong>der</strong> wir selbst ein Teil sind.“ 19 Dieser Satz<br />

könnte wörtlich von Herbart stammen und spielt<br />

gewiss auch nicht unabsichtlich auf Kants Erkenntniskritik<br />

an. Wenig später nimmt Klein dann<br />

diesem Frontalangriff die Schärfe: Es sei „keinerlei<br />

Verkümmerung <strong>der</strong> sprachlichen und sonstigen<br />

grundlegenden Fächer“ beabsichtigt. „Denn<br />

niemand wird einer ausschließlich mathematischnaturwissenschaftlichen<br />

Vorbildung das Wort reden<br />

wollen.“ 20<br />

1.2 „Funktionales Denken“<br />

Die Konjunktureuphorie zu Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

hat zweifellos ein sehr viel günstigeres<br />

Umfeld <strong>für</strong> diese Argumente abgegeben als<br />

die Grün<strong>der</strong>krise <strong>der</strong> späteren 70er-Jahre des 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts. Hinzu kam ein sehr wirkungsvoller<br />

Schachzug, um dem zuvor so erfolgreichen<br />

Überbürdungsvorwurf <strong>der</strong> konservativen Philologen<br />

Paroli bieten zu können:<br />

Mit einem fadenscheinigen Kompliment an<br />

den preußischen Lehrpläne von 1901, die zwar<br />

nicht die gewünschte Infinitesimalrechnung enthielten,<br />

aber immerhin <strong>für</strong> die oberen Klassen „ein<br />

eingehendes Verständnis des Funktionsbegriffs“<br />

vorschrieben, missversteht Klein ganz gezielt die<br />

Pflege des Funktionsbegriffs als die gewünschte<br />

Erneuerung: „Mein Ziel ist, überzeugend darzulegen,<br />

dass die hiermit gegebenen Gesichtspunkte,<br />

von Untersekunda [Klassenstufe 10] beginnend,<br />

in richtiger methodischer Steigerung den ganzen<br />

mathematischen Unterricht entscheidend beeinflussen<br />

sollen, dass <strong>der</strong> Funktionsbegriff in geometrischer<br />

Fassung den übrigen Lehrstoff wie ein<br />

Ferment durchdringen soll. Hierin ist eine gewisse<br />

Berücksichtigung <strong>der</strong> analytischen Geometrie, an<strong>der</strong>erseits<br />

aber auch <strong>der</strong> Anfänge <strong>der</strong> Differentialund<br />

Integralrechnung von selbst mit eingeschlossen.<br />

Letzteres erscheint [!] also sozusagen als Korollar<br />

einer allgemeineren Thesis.“ 21 Elf Seiten<br />

später skizziert Klein dann auch gleich, wie er sich<br />

ab Untersekunda „die Sache durchgeführt denke“,<br />

nämlich so, wie es dann – bald über beide Sekundarstufen<br />

ausgestreckt – während des ganzen<br />

20. Jahrhun<strong>der</strong>ts Standard wurde: Ausgehend von<br />

Geraden, Parabeln und Hyperbeln in graphischer<br />

Darstellung über etwas Theorie <strong>der</strong> algebraischen<br />

Gleichungen sowie Trigonometrie hin zu komplizierteren<br />

Funktionen und Kurven, auch empirisch<br />

gewonnenen und in <strong>der</strong> Physik auftretenden (Fallgesetze,<br />

Pendelbewegung, Wellen). „In <strong>der</strong> Prima<br />

möge man dann aus den bereits zur Gewohnheit<br />

gewordenen Auffassungen die allgemeinen<br />

Gedanken <strong>der</strong> Differential- und Integralrechnung<br />

herausschälen. [. . . ] Aber <strong>der</strong> Formalismus darf<br />

nicht überwuchern; die Hauptsache ist eine klare<br />

Erfassung <strong>der</strong> Grundbegriffe und ihrer anschauungsmäßigen<br />

Bedeutung.“ 22<br />

Bei Timerding steht – nicht ohne diplomatische<br />

Verrenkungen – über die umgekehrte, sachlich<br />

wohl richtigere, aber politisch nicht unbedingt<br />

nützlichere Abhängigkeit zwischen Funktionsbegriff<br />

und Infinitesimalrechnung zu lesen: „Wenn<br />

auf die Begriffe <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung eingegangen<br />

wird, dann müssen sie den ganzen mathematischen<br />

Unterricht von Anfang an beeinflussen;<br />

nicht so, dass etwa schon in <strong>der</strong> Tertia mit<br />

Differentialen herumgeworfen werden soll, son<strong>der</strong>n<br />

nur so, dass die Gewöhnung an den Funktionsbegriff,<br />

<strong>der</strong> ja die Grundlage <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung<br />

ist und <strong>der</strong> [den?] sie geradezu zu<br />

seiner [ihrer?] vollen Ausbildung notwendig erfor<strong>der</strong>t,<br />

schon frühzeitig eintritt. – So erst kann<br />

überhaupt <strong>der</strong> Schüler lernen, das Wesen <strong>der</strong> mathematischen<br />

Größen richtig zu verstehen, und so<br />

18 [Klein, 1900, S. 45]<br />

19 [Klein, 1900, S. 47]. Eine Einordnung als reine Berufsvorbereitung hätte den Besitzstandswahrern unter den in Schule und Schulverwaltung<br />

führenden Philologen in die Hände gespielt. In [Klein, 1904, S. 6] heißt es: „Ich bin tief durchdrungen von <strong>der</strong> Aufgabe<br />

<strong>der</strong> Schule, eine große Zahl nicht son<strong>der</strong>lich begabter und dabei dem mathematischen Denken zunächst abgeneigter Schüler zu einem<br />

bestimmten Niveau wissenschaftlichen Verständnisses hinzuführen . . . Die späteren <strong>Mathematik</strong>er sind mir bei den folgenden Darlegungen<br />

ganz gleichgültig: mit ihnen kommen wir an <strong>der</strong> Universität zurecht, wie immer die beson<strong>der</strong>e Art ihrer Vorbildung beschaffen<br />

sein mag. Vielmehr sind es gerade die an<strong>der</strong>en, um die ich mich sorge und auf die ich im folgenden exemplifizieren werde: die Mediziner,<br />

die Chemiker, die Juristen!“ Die Oberlehrer, denen dieser Vortrag galt und die ja den Löwenanteil <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>studierenden<br />

stellten, wurden hier klugerweise nicht erwähnt.<br />

20 Ebenda<br />

21 [Klein, 1904, S. 4].<br />

22 [Klein, 1904, S. 16].<br />

106


Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />

allein kann er begreifen, was <strong>der</strong> mathematischen<br />

Größenlehre ihre reale Bedeutung gibt. Die Notwendigkeit<br />

des Funktionsbegriffes <strong>für</strong> den mathematischen<br />

Unterricht gerade in diesem Sinne <strong>der</strong><br />

Verkettung mit den Anwendungen und <strong>der</strong> Schulung<br />

des Denkens überhaupt erkannt zu haben, ist<br />

das große Verdienst von Herbart . . . “ 23<br />

„Wesentliche Grundgedanken <strong>der</strong> Kleinschen Unterrichtsreform wurden in die amtlichen Lehrpläne<br />

von 1925 übernommen. Diese stellten als allgemeines Lehrziel folgende For<strong>der</strong>ungen<br />

auf:<br />

1. Schulung im logischen Schließen und Beweisen.<br />

2. Übung im funktionalen Denken.<br />

3. Entwicklung des räumlichen Anschauungsvermögens.<br />

4. Verständnis <strong>für</strong> den philosophischen Gehalt <strong>der</strong> mathematischen Verfahren und die geistesgeschichtliche<br />

Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>.<br />

Die For<strong>der</strong>ung nach Schulung des logischen Denkens bot nichts Neues gegenüber <strong>der</strong> traditionellen<br />

Gestalt des Unterrichts. Zur Durchführung <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach Übung im funktionalen<br />

Denken wurde die Differential- und Integralrechnung in den Lehrstoff <strong>der</strong> Prima aller höheren<br />

Schulen, auch des Gymnasiums, aufgenommen. Der Unterricht sollte dabei einen Mittelweg suchen<br />

zwischen berechtigten Anfor<strong>der</strong>ungen an wissenschaftliche Strenge und <strong>der</strong> Rücksicht auf<br />

die praktischen Bedürfnisse und ausgiebig das Hilfsmittel geometrischer Veranschaulichung<br />

benutzen. Am Gymnasium sollte <strong>der</strong> Unterricht sich auf die Ableitung rationaler und trigonometrischer<br />

Funktionen, beson<strong>der</strong>s zur Bestimmung von Extremwerten, und die Berechnung<br />

von Flächen- und Rauminhalten mit Hilfe <strong>der</strong> Integralrechnung beschränken und in <strong>der</strong> Prima<br />

beginnen. Am Realgymnasium traten hinzu: Die Untersuchung transzendenter Funktionen,<br />

Reihenentwicklungen und Näherungsmethoden zur Lösung von Gleichungen. Auf <strong>der</strong> Oberrealschule<br />

wurde <strong>der</strong> Beginn <strong>der</strong> Differential- und Integralrechnung nach <strong>der</strong> Obersekunda [11.<br />

Klassenstufe] vorverlegt und so die Bedingung <strong>für</strong> eine vertiefte Behandlung dieses grundlegenden<br />

Gebietes geschaffen.“<br />

[Rüping, 1954, S. 37]; vgl. [Siemon, 1980] sowie ausführlicher [Lietzmann, 1926, Kap. 5]<br />

Das 4. Lehrziel <strong>der</strong> Richertschen Reformlehrpläne<br />

erinnert noch an das eifrige Bemühen<br />

<strong>der</strong> Vorkämpfer von du Bois-Reymond bis<br />

Klein, den mo<strong>der</strong>nisierten <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

nicht als Berufspropädeutik, son<strong>der</strong>n als notwendige<br />

Ergänzung zeitgemäßer Geistesbildung auszugeben.<br />

In <strong>der</strong> Schulpraxis dürfte das damals<br />

wie heute – schon aufgrund <strong>der</strong> Vor- und Ausbildung<br />

normaler Gymnasiallehrer – keine wesentliche<br />

Rolle gespielt haben.<br />

Lietzmann hat später immer wie<strong>der</strong> betont,<br />

<strong>der</strong> Funktionsbegriff sei als den ganzen Schulstoff<br />

in <strong>Mathematik</strong> wie ein Ferment durchdringendes<br />

„didaktisches Prinzip“ (heute etwa „Leitidee“) das<br />

eigentlich Neue am Meraner Aufbruch gewesen<br />

– und als Konzentrationsprinzip, dem vieles an<strong>der</strong>e<br />

aus dem traditionellen Schulstoff großmütig<br />

geopfert werden konnte, das eigentlich schulpolitisch<br />

Schlagkräftige gegen den Überbürdungsvorwurf.<br />

24 In dieser stoffdidaktischen und scheinbar<br />

rein innerschulischen Sichtweise konnte die flächendeckende<br />

Durchsetzung des Analysisunter-<br />

richts 1925 als eindeutiger Sieg <strong>der</strong> Meraner Reformstrategen<br />

um Felix Klein ausgegeben werden,<br />

obwohl das Konzentrationsprinzip nicht „nur“ Inhalte<br />

und Sichtweisen 25 , son<strong>der</strong>n auch Stundenanteile<br />

gekostet hatte.<br />

Folgt man <strong>der</strong> bei Timerding anklingenden<br />

Auffassung Herbarts, dass mit <strong>der</strong> frühzeitigen<br />

„Gewöhnung an funktionales Denken“<br />

Differential- und Integralrechnung leichter erlernbar<br />

würden, dann ist noch keineswegs ausgemacht,<br />

dass diese Gebiete in die allgemeinbildende<br />

Schule gehörten. So hatte Max Simon 1884 im<br />

Vorwort seines Lehrbuchs [Simon, 1885] durchaus<br />

wie später Lietzmann formuliert: „Was dem<br />

Unterricht in <strong>der</strong> Arithmetik heutzutage viel mehr<br />

fehlt als die Strenge im Einzelnen, ist nach meiner<br />

Überzeugung, welche ich bereits im Jahre<br />

1877 auszusprechen Gelegenheit hatte, ein festes<br />

Ziel. . . Dieses Ziel finde ich in <strong>der</strong> Vorbereitung<br />

auf die Functionentheorie“ – allerdings ohne diese<br />

Propädeutik <strong>der</strong> „Functionentheorie“ als Leitidee<br />

durchsetzen zu können o<strong>der</strong> gar Analysis <strong>für</strong> alle<br />

23 [Timerding, 1911, S. 132 f.] – In <strong>der</strong> anschließenden Fußnote werden aus Herbarts ABC <strong>der</strong> Anschauung von 1802 zwei Stellen<br />

zitiert. Die zweite lautet: „Gewöhnt den Jüngling, die Dinge dieser Welt als Größen und ihre Verän<strong>der</strong>ungen als Funktionen <strong>der</strong> bewegenden<br />

Kräfte, d. h. als notwendige, bei aller scheinbaren Unregelmäßigkeit doch höchst gesetzmäßige und in jedem ihrer Fortschritte<br />

genau bestimmte Erfolge <strong>der</strong> wirkenden Ursachen, zu betrachten!“<br />

24 Lietzmann hat das sehr oft betont, so z. B. in [Lietzmann, 1919/1916, S. 236]. Vgl. in diesem Sinne auch [Schmidt, 1906]. – Eine<br />

umfassende Darstellung <strong>der</strong> Reformeinflüsse und -strategien findet sich in [Krüger, 2000].<br />

25 Vgl. [Timerding, 1911; Toeplitz, 1927, 1929].<br />

107


Lutz Führer, Frankfurt<br />

Höheren Schulen zu for<strong>der</strong>n. Warum war Kleins<br />

Umkehrstrategie nach 1905 erfolgreich?<br />

Die umfangreiche Untersuchung von Krüger<br />

[2000] bescheinigt dem Kaiserreich um 1905 ein<br />

– nicht ungeteiltes und auch bald vorüber gehendes<br />

– optimistisches <strong>Gesellschaft</strong>s- und Kulturklima<br />

mit beson<strong>der</strong>er Affinität zu „funktionalen“<br />

Beziehungen und Verän<strong>der</strong>ungen, genauer:<br />

eine von Wirtschaftsboom, Technikbegeisterung,<br />

Mobilitätszuwachs und Kinematographie gestützte<br />

Aufbruchstimmung. Über die vorsichtigeren<br />

Schlussfolgerungen Krügers hinaus, vermute ich,<br />

dass das Schlagwort „funktional“ um 1905 in<br />

seiner Ambivalenz zwischen Metamorphose, gezielter<br />

Variation, Naturgesetzlichkeit und Funktionieren<br />

beson<strong>der</strong>s gut zum offiziösen Common<br />

Sense des Wirtschaftsbürger- und Soldatentums<br />

passte, wie er in Preußen etwa vom „Kartell <strong>der</strong><br />

schaffenden Hände“ zwischen Ruhrindustriellen<br />

und ostelbischen Landjunkern repräsentiert wurde.<br />

26 Mit dieser Vermutung ließe sich die merkwürdige,<br />

schon vor 1910 nachweisbare Reduktion<br />

des „funktionalen Denkens“ auf Naturgesetzlichkeit<br />

und (Input–BlackBox–Output-) Funktionieren<br />

plausibler aus dem historischen Umfeld erklären<br />

als durch den seit Lietzmann gebräuchlichen<br />

Verweis auf die Widrigkeit <strong>der</strong> schulpraktischen<br />

Verhältnisse.<br />

Es ist ja auch heute verblüffend: Obwohl<br />

wir, ein Jahrhun<strong>der</strong>t nach <strong>der</strong> Meraner Versammlung,<br />

mit dem Zugmodus von DGS ein viel bequemeres<br />

Anschauungs- und Experimentierwerkzeug<br />

<strong>für</strong> funktionale Variationen als die damaligen<br />

Veranschaulichungsapparate und Daumenkinos<br />

besitzen 27 , wird von „funktionalem Denken“<br />

zwar heute wie<strong>der</strong> sehr viel geredet, aber doch<br />

in aller Regel nicht im eigentlich Meraner Sinne<br />

von Metamorphosen und gezielten Variationsbezügen,<br />

son<strong>der</strong>n gegenstandslastig und statischkatalogisierend<br />

reduziert auf „eine Denkweise, die<br />

typisch <strong>für</strong> den Umgang mit Funktionen ist“. 28<br />

Funktionen und Input-Output-Variationen als<br />

Gedankenformen bzw. Denkwerkzeuge, d. h. als<br />

Erkenntnismittel, die die wissenschaftliche Wahrnehmung<br />

und Beherrschung unserer natürlichen<br />

o<strong>der</strong> technischen Umwelt leiten sollten 29 , hatten<br />

den Bildungspolitikern etwas ganz an<strong>der</strong>es<br />

und Bedeuten<strong>der</strong>es versprochen als Wissensver-<br />

mittlung über Standardelemente mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong><br />

enger Funktionenräume, die man abiturgerecht<br />

aus irgendwelchen Anwendungsverkleidungen<br />

herauslesen und dann nach den üblichen Abund<br />

Aufleitungsregeln malträtieren lehrt. War die<br />

Einführung des Analysisunterrichts von vornherein<br />

eine Mogelpackung? Wenn ja, in wessen Interesse,<br />

auf wessen Kosten, um welchen Preis?<br />

Abbildung 17.1: Zugmodus 1896. Quelle:<br />

http://www.ansichtskarten-pankow.de/<br />

pankowfilm.htm. Abdruck mit freundlicher<br />

Genehmigung von Frau Karin Manns.<br />

Ich möchte diesen Fragen hier nicht weiter<br />

nachgehen. Für unser Thema reicht <strong>der</strong> Beleg,<br />

dass die Durchsetzung und „klassische“ Ausgestaltung<br />

des allgemeinverbindlichen Analysisunterrichts<br />

nicht einfach die Frucht guter Argumente<br />

o<strong>der</strong> wissenschaftlicher Fortschritte war, dass die<br />

Durchsetzung vielmehr gelang, weil Analysis bewusst<br />

als harmonisierende Universalbefriedigung<br />

<strong>für</strong> ein ganzes Konglomerat konfligieren<strong>der</strong> Interessen<br />

ausgegeben und mit dem ebenso vageunverbindlichen<br />

wie politisch konformen Schlagwort<br />

„Erziehung zur Gewohnheit [!] des funktionalen<br />

Denkens“ marktgerecht plakatiert werden<br />

konnte. Nach Lietzmann war es das einigende<br />

Konzentrationsprinzip, das den Analysisunterricht<br />

schließlich flächendeckend durchsetzte. Vielleicht<br />

lohnt es sich hinzuzufügen: . . . Gewohnheit des<br />

funktionalen Denkens und <strong>der</strong> Zeitgeist um 1905,<br />

<strong>der</strong> noch Glanz im Funktionieren sah. Die anschließende<br />

Kanonisierung des Analysiscurriculums<br />

zur elementaren Funktionsarithmetik mit op-<br />

26Zur psychologischen Charakteristik des älteren funktionalen Denkens s. [Struntz, 1949]; zur Geschichte z. B. [Ullrich, 1999,<br />

Kap. III] und [Krüger, 2000, Kap. 2] sowie die dort angegebene Literatur. Auch bei [Inhetveen, 1976] finden sich zahlreiche Details<br />

zum Zeitgeist <strong>der</strong> Wilhelminischen Ära. Inhetveens anregende Perspektive, funktionales Denken und Infinitesimalrechnung überwiegend<br />

als Zwangsfolge ökonomischer Entwicklungen sehen zu wollen, erscheint mir als zu eng, weil sie Eigendynamiken <strong>der</strong> beteiligten<br />

Staatssysteme ausblendet (Schule, Universität, Bürokratie, „System Althoff“, Militär, „Kartell <strong>der</strong> schaffenden Hände“ usw.).<br />

27Vgl. z. B. [Roth, 2005, S. 71ff.] sowie neuere Arbeiten desselben Autors. Roth zieht das unverfänglichere, aber auch vagere<br />

Begriffsfeld „Bewegliches Denken“ vor – und handelt sich damit an<strong>der</strong>e Konnotationen ein.<br />

28 [Vollrath, 1989, S. 6]. Selbst <strong>der</strong> Aspekt Naturgesetzlichkeit ist inzwischen weitgehend <strong>der</strong> liberalisierten <strong>Mathematik</strong>lehrerausbildung<br />

zum Opfer gefallen.<br />

29Der heute <strong>für</strong> die <strong>Mathematik</strong>- und Naturwissenschaftsdidaktik sowie <strong>für</strong> alle sciences fundamentale Modellbegriff wurde zwischen<br />

1891 und 1894 von Heinrich Hertz eingeführt und von P. Lennard mit einem erläuternden Vorwort von H. von Helmholtz 1894<br />

posthum veröffentlicht [Hertz, 1996].<br />

108


Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />

tional vor- und nachgeschalteten Grenzwertbetrachtungen<br />

in Trivialfällen (Folgen; Arbeitsintegral,<br />

Rotationskörper) gab dem sehr rasch jene bürokratische<br />

Form, die das Maschinen- und Dienstleistungsjahrhun<strong>der</strong>t<br />

schadlos überdauern sollte.<br />

Der Schulpraktiker Philipp Weinmeister ahnte es<br />

schon 1907:<br />

„Wohl kaum hat eine Frage die mathematische<br />

Lehrerwelt Deutschlands so in Erregung versetzt<br />

als die zur Zeit schwebende über die Einführung<br />

<strong>der</strong> Infinitesimalrechnung in die höheren Lehranstalten.<br />

Viel ist da<strong>für</strong> und dagegen gesprochen<br />

worden; Berufene und Unberufene sind zum Wort<br />

gekommen; fast je<strong>der</strong> hat energisch im Grundton<br />

<strong>der</strong> Überzeugung geredet, so dass man an einem<br />

friedlichen Übereinkommen zweifeln sollte. . .<br />

Bekanntlich enthält die Unendlichkeitsrechnung<br />

sehr viel Formeln, die dem Schüler in<br />

Fleisch und Blut übergehen müssen, soll <strong>der</strong> Unterricht<br />

seinen Zweck erfüllen. Da liegt denn die<br />

Gefahr nahe, dass <strong>der</strong> Schüler glaubt, das Wesen<br />

des Unterrichts liege in diesen Formeln, und es genüge<br />

<strong>der</strong>en Kenntnis und ihre Anwendung zu seiner<br />

mathematischen Ausbildung.“ 30<br />

1.3 Der schulische Analysiskanon<br />

Es ist hier nicht <strong>der</strong> Ort, auf alle Verästelungen<br />

<strong>der</strong> Schulbuch-Lehrgänge 31 und fachmethodischen<br />

Besserungsvorschläge seit dem Meraner<br />

Aufbruch einzugehen. Ganz typisch <strong>für</strong> die vom<br />

Kreis um Klein propagierte Neugestaltung ist jedoch<br />

die erhebliche Abkürzung des algebraischen<br />

Vorspanns zugunsten graphischer Einstiege und<br />

die Verlagerung <strong>der</strong> anspruchsvolleren Teile <strong>der</strong><br />

Reihenlehre hinter die Differentialrechnung. Kubische<br />

und goniometrische Gleichungen entfie-<br />

len, ebenso mancherlei geometrische Konstruktionskunststücke.<br />

Arithmetische und geometrische<br />

Reihen blieben zwar, aber statt <strong>der</strong> Binomischen<br />

Reihe sollten, Kleins Vorbild entsprechend, am<br />

Lehrgangsende Taylorreihen induktiv eingeführt<br />

werden. Bei Behrendsen & Götting [1912] heißt<br />

es zu Beginn des Oberstufenbandes: „Viel ersichtlicher<br />

dürfte die Oberstufe erkennen lassen, wie<br />

vieles Belastende aus dem früheren Pensum verschwunden<br />

ist. So vor allem das Kapitel <strong>der</strong> Kombinationslehre,<br />

<strong>der</strong> Wahrscheinlichkeitslehre, die<br />

langen schwierigen Ableitungen des binomischen<br />

Lehrsatzes <strong>für</strong> beliebige Exponenten sowie <strong>für</strong> die<br />

übrigen unendlichen Reihen, die nunmehr mühelos<br />

aus dem Taylorschen Lehrsatze herausfließen,.<br />

. . “ 32<br />

Bei Behrendsen & Götting findet sich denn<br />

auch schon 1912 – wenn zunächst auch noch<br />

Differential- und Integralrechnung verflochten<br />

sind 33 – all das, was noch heute den fachlichen<br />

Gegenstand des üblichen Analysisunterrichts ausmacht,<br />

soweit er aus Schulbüchern und Lehrplänen<br />

ersichtlich ist 34 , siehe Abb. 17.2<br />

Insofern unser Thema nicht „Schulbücher“<br />

o<strong>der</strong> „Lehrpläne“ heißt, son<strong>der</strong>n „Analysisunterricht<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts“, geben fachliche Inhaltsangaben<br />

und Reihenfolgen natürlich nur ein<br />

vages Bild des tatsächlichen Geschehens. Ich<br />

bin allerdings überzeugt, dass auch empirische<br />

Mikro- und Makrostudien, die uns heute so lieb<br />

und teuer sind, nicht das zeigen, ja zeigen könnten<br />

35 , was uns <strong>für</strong> eine sinnvolle Zukunftsplanung<br />

interessieren muss: bei aller spezifischen Ausprägung<br />

jedes realen Unterrichts im Einzelnen, den<br />

Geist o<strong>der</strong> die Geister, die intentionalen pädagogischen<br />

Bezüge und die mitwirkenden Alltagsbe-<br />

30 [Weinmeister, 1907, S. 1 und 13].<br />

31Krüger [<strong>2009</strong>] unterscheidet 3 Lehrbuchgruppen bis in die Weimarer Zeit: „1. zaghafte Neubearbeitungen mit allmähliche Aufnahme<br />

des neuen Stoffes in die alten Lehrbücher (z. B. Kambly-Languth, Heilermann-Diekmann, H. Müller, Pietzker). 2. Entwicklung<br />

‚mo<strong>der</strong>ner’ Lehrbücher <strong>für</strong> die Oberstufe (z. B. Schwab-Lesser, [Behrendsen & Götting, 1912]). 3. Lehrbücher zum neuen preußischen<br />

Lehrplan, den ‚Richertschen Richtlinien’ von 1925 (z.B. Reidt-Wolf-Kerst, Schülke-Dreetz, Malsch-Maey-Schwerdt)“. Als charakteristisch<br />

<strong>für</strong> die erste Gruppe nennt sie die gründliche Abhandlung <strong>der</strong> Themen kubische Gleichungen, Kombinatorik, Arithmetische<br />

und geometrische Reihen (incl. Rentenrechnung), Binomischer Lehrsatz und Unendliche Reihen vor Einstieg in die Differentialrechnung.<br />

Demgegenüber betonten die neuen Werke <strong>der</strong> 2. Gruppe den frühen Einstieg mit Graphische Darstellungen von Funktionen,<br />

kämen dann möglichst rasch zum Differentialquotienten mit Anwendung in <strong>der</strong> Extremwertbestimmung und stießen schließlich bis<br />

zur Taylorschen Reihe vor.<br />

32 [Behrendsen & Götting, 1912, zit. n. Krüger, <strong>2009</strong>] – Kleins Einführung <strong>der</strong> Taylorreihe [Klein, 1904, S. 11] – Wahrscheinlichkeitsrechnung<br />

im Lehrplan von 1901 siehe [Inhetveen, 1976, S. 206 f]<br />

33jedenfalls in <strong>der</strong> 1. Auflage. In späteren wurden die beiden Aspekte – wie heute üblich – getrennt. (So in <strong>der</strong> mir vorliegenden<br />

dritten Aufl. von 1921.)<br />

34Das heutige Minimalprogramm ist lei<strong>der</strong> von <strong>der</strong> KMK noch nicht definiert, immerhin geben die noch gültigen EPAs einen –<br />

reichlich enttäuschenden – Eindruck. Ich werde das noch im nächsten Abschnitt belegen [KMK, 2010]<br />

35Das erkenntniskritische Dilemma des naiven Empirismus heißt „Sein-Sollen-Fehlschluss“ (Hume) o<strong>der</strong> auch „Naturalistischer<br />

Trugschluss“ (Moore). In [Führer, <strong>2009</strong>] wird das mit Blick auf den modischen Boom <strong>der</strong> empirischen Unterrichtsforschung ausführlich<br />

erläutert. Im Grunde hat Kants Analyse <strong>der</strong> menschlichen Brain-Hardware die wichtigste Grenze des Empirismus herausgearbeitet:<br />

„Nichts ist im Verstand, was nicht zuvor in den Sinnen war! – Außer <strong>der</strong> Verstand selbst.“ Heute wohl zu ergänzen mit: „... Außer<br />

<strong>der</strong> Verstand selbst, und die angeeigneten Deutungsmuster des jeweils bewohnten soziokulturellen Milieus.“ In <strong>der</strong> Physik entspricht<br />

dem seit fast einhun<strong>der</strong>t Jahren die Heisenbergsche Unschärferelation, in den Humanwissenschaften <strong>der</strong> „Hermeneutische Zirkel“ und<br />

in den Medienwissenschaften Brechts Theorie <strong>der</strong> „Verfremdung“.<br />

Die Empirische Sozialforschung ignoriert das heute lei<strong>der</strong> oft und gern – freilich mit exzellentem Markterfolg, sowohl finanziell<br />

und personell als auch forschungsideologisch und reputativ. Ob dabei <strong>der</strong> einzelne Unterrichtsforscher bewusst theoriegeleitet arbeitet<br />

o<strong>der</strong> nicht, ist <strong>für</strong> unser Thema nicht entscheidend, denn auf den Unterricht wirkt regelmäßig über Presse, Bildungs-, Hochschul- und<br />

Schulpolitik nur die politisch nützliche, empirisch oft ganz ungedeckte Interpretation <strong>der</strong> „Befunde“ über die sog. „Politikberatung“.<br />

109


Lutz Führer, Frankfurt<br />

dingungen, aus denen heraus Unterricht verwirklicht<br />

wird und auf Schülerseite geistig und mental<br />

formend nachwirkt 36 . In diesem Sinne möchte<br />

ich einige Leitfragen und Zielsetzungen in Erinnerung<br />

bringen, die die didaktische Diskussion<br />

um den Analysisunterricht des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

schon früh und doch anhaltend charakteristisch<br />

beherrscht haben. 37<br />

Um ein typisches konservatives Beispiel <strong>der</strong><br />

Übergangszeit nach 1905 zu geben, wähle ich<br />

die Heis’sche Aufgabensammlung in ihrer 113.,<br />

von J. Druxes „zeitgemäß“ überarbeiteten Auflage<br />

aus dem Jahre 1908. 38 Im Vorwort werden fünf<br />

Aspekte, offenbar schon damals konsensfähige didaktische<br />

Überzeugungen, hervorgehoben, die ich<br />

Abbildung 17.2: Aus [Behrendsen & Götting, 1912]<br />

<strong>für</strong> spätere Bezugnahmen mit A1 bis A5 nummeriere<br />

und mit heutigen Überschriften und Anmerkungen<br />

versehe:<br />

A1. Motivation durch Lebensweltbezug<br />

„An Stelle <strong>der</strong> ausgeschiedenen Aufgaben sind<br />

durchweg solche getreten, die dem mo<strong>der</strong>nen Leben<br />

Rechnung tragen und das Interesse <strong>der</strong> Jugend<br />

zu fesseln geeignet sind.“ (Hervorhebungen<br />

jeweils im Original.) Die säkularisierte Formulierung<br />

„mo<strong>der</strong>nes Leben“ statt <strong>der</strong> politisch üblicheren<br />

„(Gesamt-) Kultur <strong>der</strong> Gegenwart“ lässt den<br />

bescheideneren Schulpraktiker ebenso erkennen,<br />

wie die vorsichtig schülerorientierte Motivationshoffnung.<br />

(Es war ja zugleich die Jungfernzeit <strong>der</strong><br />

36 Es ist diese mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> gelungene Nachwirkung, <strong>der</strong> „Geist“ <strong>der</strong> Funktionalisierung und approximativen, aber kontrollierten<br />

lokalen Linearisierung, auf die die nachfolgenden Akzentsetzungen des jeweils ganzen Analysisdurchgangs zielen. Natürlich ist<br />

je<strong>der</strong> Unterricht an<strong>der</strong>s, möglicherweise auch auf eine mehr <strong>für</strong> den Lehrer als <strong>für</strong> die jeweilige Lerngruppe charakteristische Weise.<br />

Ich glaube aber (nach einigen hun<strong>der</strong>t Unterrichtsbesuchen), dass sich realer Unterricht recht gut in einem „qualitativen Koordinatensystem“<br />

aus den noch folgenden Punkten A1-A10 verorten lässt.<br />

37 Ich stütze mich dabei auf Leitgedanken älterer Schulbücher, weil die schon im Verkaufsinteresse gewöhnlich von Praktikern mit<br />

Blick <strong>für</strong> das Machbare im Wünschenswerten verfasst wurden.<br />

38 [Heis, 1914]<br />

110


Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />

damals noch gesellschaftskritischen bürgerlichen<br />

Reformpädagogik, die inzwischen zum medien-,<br />

schul- und gesellschaftspolitischen Allheilmittel<br />

umstilisiert wurde.)<br />

A2. Funktionspropädeutik <strong>für</strong> die Anfangs<br />

gründe <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung<br />

„Der Funktionsbegriff, <strong>der</strong> schon in <strong>der</strong> Unterstufe<br />

vorbereitet ist, durchdringt in ausgiebiger Weise<br />

den Lehrstoff, so dass es nicht schwierig sein<br />

dürfte, die Schüler mit den Anfangsgründen <strong>der</strong><br />

Infinitesimalrechnung vertraut zu machen. . . “ 39<br />

A3. Anschaulichkeit ja, aber Gründlichkeit<br />

wichtiger als Vollständigkeit<br />

„. . . Dabei sollen – in anschaulichster Form – nur<br />

die einfachsten Funktionen behandelt werden, so<br />

dass die formal mathematische Ausbildung <strong>der</strong><br />

Schüler auch in ihrer Gründlichkeit keinen Schaden<br />

erleidet.“ Das Anschauungsprinzip, das die<br />

Meraner mit graphischen Zugängen und psychogenetischen<br />

Rücksichtnahmen stark betont hatten,<br />

kollidierte im Schulbetrieb natürlich sofort mit<br />

dem universitär veredelten Fach- und Standesbewusstsein<br />

<strong>der</strong> meisten Oberlehrer, und mit <strong>der</strong>en<br />

Hochschätzung einer ebenso fachlichen wie preußischen<br />

Tugend „Gründlichkeit“. 40<br />

A4. Anwendungsbezug bringt Vertiefung und<br />

Motivation<br />

„Dass <strong>der</strong> Unterricht durch geeignete Behandlung<br />

<strong>der</strong> einfachen Funktionen an Vertiefung gewinnt<br />

und durch die Anwendbarkeit auf viele Gebiete<br />

<strong>der</strong> Wissenschaft und Praxis bedeutend das Interesse<br />

zu för<strong>der</strong>n vermag, erscheint dem Herausgeber<br />

gesichert. Benutzt werden die Anfangsgründe<br />

<strong>der</strong> Differential- und Integralrechnung bei <strong>der</strong><br />

Behandlung <strong>der</strong> Gleichungen höheren Grades, ferner<br />

zu Aufgaben aus <strong>der</strong> analytischen Geometrie,<br />

<strong>der</strong> Physik, zu Berechnungen von Flächen- und<br />

Körperinhalten sowie zur Berechnung von Trägheitsmomenten<br />

und zu Untersuchungen über den<br />

Verlauf von Funktionen. . . Die Berücksichtigung<br />

des ‚Wechselstromes’ bei den zahlreichen Aufgaben<br />

aus <strong>der</strong> Elektrizitätslehre erfolgte im Interesse<br />

solcher Anstalten, bei denen Wechselstrom<br />

zur Verfügung steht.“ Mit den arithmetischen und<br />

geometrischen Reihen werden die Paradebeispiele<br />

Zinseszinsrechnung und Versicherungsmathe-<br />

matik hervorgehoben: „Die Darstellungen dieses<br />

Abschnittes sollen lediglich die Möglichkeit bieten,<br />

den Schülern einen Einblick in die interessanten<br />

Grundlagen <strong>der</strong> Versicherungsmathematik zu<br />

gewähren und zugleich ihr Verständnis <strong>für</strong> die<br />

große Bedeutung des Versicherungswesens in <strong>der</strong><br />

Volkswirtschaft rechtzeitig zu wecken. . . Durch<br />

passende Aufgaben wurde auch die Anwendung<br />

<strong>der</strong> Wahrscheinlichkeitsrechnung auf dem Gebiete<br />

<strong>der</strong> Versicherungstechnik klargelegt.“ 41<br />

Bei den erklärten Anhängern <strong>der</strong> Meraner<br />

Vorschläge reichten die For<strong>der</strong>ungen nach Anwendungsbezug<br />

– nicht nur <strong>für</strong> Oberrealschulen<br />

– noch deutlich weiter. Götting verlangte schon<br />

1902: Geschwindigkeiten, Analytische Geometrie<br />

und Infinitesimalrechnung parallel, Funktionen<br />

von zwei Verän<strong>der</strong>lichen und Darstellung ihrer<br />

Flächen, Approximationen und Interpolationen<br />

u. v. a. m. „Auch hier sind wie überall zahlreiche<br />

Beispiele aus <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>, Physik, Chemie,<br />

den Naturwissenschaften, <strong>der</strong> Geographie,<br />

Statistik usw. heranzuziehen.“ 42 In <strong>der</strong> Tat stellten<br />

die Lehrbücher im neueren Stil, angefangen<br />

bei Behrendsen & Götting, bis in die sechziger<br />

Jahre dem Gymnasiallehrer außerordentlich<br />

vielseitige Anwendungsbeispiele bereit. – Echte<br />

Anwendungsorientierung, bei <strong>der</strong> die mathematischen<br />

Inhalte aus realitätsnahen Problemen<br />

gewonnen und in ihrer Bedeutsamkeit hypothetisch<br />

gewichtet werden, verfochten bis zur Weimarer<br />

Zeit freilich wenige, so z. B. A. Rohrberg,<br />

Witting und einige Anhänger <strong>der</strong> Projektmethode.<br />

Im Dritten Reich galt dagegen bald Anwendungsorientierung<br />

als Staatsdoktrin – und als G8-<br />

Konzentrationsmittel. Zunächst als kompensatorische<br />

Gegenbewegung zur übertrieben wissenschaftsorientierten<br />

„Strukturwelle“ wie<strong>der</strong>belebt,<br />

rückte sie seit den 80er Jahren wie<strong>der</strong> in die vor<strong>der</strong>ste<br />

Reihe des didaktischen Prinzipienkatalogs<br />

auf.<br />

A5. Geschichtliche Bedeutungszuweisung<br />

„Schließlich sind wichtige geschichtliche Notizen,<br />

die einen Einblick in die Entwicklung <strong>der</strong> mathematischen<br />

Wissenschaft gewähren, im Anhange<br />

zusammengestellt. . . “<br />

Diese Bemerkung liest sich eher wie eine lästige<br />

Pflichtübung. Dabei ist freilich zu bedenken,<br />

39 Bei [Götting, 1902, S. 50 f] findet sich ein längerer Versuch, dem herkömmlichen Unterricht nachzuweisen, dass er durch Explizierung<br />

des Funktionsbegriffs nur ehrlicher und klarer würde. Die ursprüngliche Bindung an die „Algebraische Analysis“ wird<br />

freilich unterschlagen. (Vgl. dazu Timerdings Überblick über diverse erkenntnistheoretische Auffassungen <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung<br />

[Timerding, 1911], insbeson<strong>der</strong>e S. 128 f.)<br />

40 Vgl. dazu die sehr deutlichen Stichworte zum „Typus des Gymnasiallehrers“ in [Ullrich, 1999, S. 346f.]<br />

41 Mit <strong>der</strong> älteren Voran- und Herausstellung <strong>der</strong> allgemeinen binomischen Reihe, die Klein – aus Gründen <strong>der</strong> Strenge – unbedingt<br />

zum Korollar des Taylorschen Satzes degradieren wollte, waren allmählich Kombinatorik und Wahrscheinlichkeitsrechnung um die<br />

Binomialverteilung herum Standardstoff geworden. Das fiel dann auch prompt bis in die siebziger Jahre dem Meraner Konzentrationsprinzip<br />

„Funktion“ zum Opfer.<br />

42 zit. n. dem Abdruck des Vortrags von 1902 in [Götting, 1902, S. 58]. In einem Zusatz erklärte Götting am Ende des Abdrucks<br />

ausdrücklich, dass sein Programm nach Erfahrungen am Göttinger Gymnasium „nicht bloß bei den Realanstalten, son<strong>der</strong>n ebensogut<br />

auch im Gymnasialunterricht ausführbar ist.“ [Ebenda, S. 60]<br />

111


Lutz Führer, Frankfurt<br />

dass es sich beim zitierten Werk von Heis und<br />

Druxes um eine Aufgabensammlung handelt. In<br />

den fünfzigjährigen Bemühungen um pflichtmäßigen<br />

Analysisunterricht, nicht nur <strong>für</strong> Realschulen<br />

mit Oberstufe, son<strong>der</strong>n <strong>für</strong> die bildungspolitisch<br />

tonangebenden (altsprachlichen) Gymnasien,<br />

spielten natürlich historische Zugänge und<br />

Einordnungen eine wichtige, im Bildungssystem<br />

selbst vielleicht die wichtigste, weil angesehenste<br />

und damit identitätsstiftende Rolle. Dass die Infinitesimalaspekte<br />

in bildungstheoretischen Erklärungen<br />

<strong>für</strong> junge und alte Nichtmathematiker und<br />

-physiker stets eher historisch als erkenntnistheoretisch<br />

untermauert wurden, spricht <strong>für</strong> sich. Das<br />

dürfte auch heute noch <strong>der</strong> einfachste Weg sein,<br />

<strong>Mathematik</strong>abstinenzlern und Antimathematikern<br />

die gesellschaftliche Relevanz analytischer Denkweisen<br />

und Methoden nahezubringen – auch und<br />

beson<strong>der</strong>s den oft kreativen und klugen Oberstufenschülern,<br />

die in Mathe keine Eins haben (wollen)<br />

und vielleicht später zu Entscheidungsträgern<br />

<strong>der</strong> <strong>Gesellschaft</strong> werden. Aber die erkenntnistheoretischen,<br />

begriffsbildenden und sogar anwendungsträchtigen<br />

Vorzüge des Infinitesimalen<br />

an <strong>der</strong> „Infinitesimalrechnung“ konnten sich bekanntlich<br />

trotz vehementer Fürsprache erstklassiger<br />

Fachwissenschaftler mit Herz <strong>für</strong> die Schule<br />

nicht durchsetzen. 43<br />

Um 1925 war eine erste Konsolidierung <strong>der</strong><br />

Meinungen zum deutschen Analysisunterricht erreicht,<br />

einschließlich <strong>der</strong> Offenlassung einiger bis<br />

heute hartnäckiger Geschmacksfragen. Ich möchte<br />

das (in fortgesetzter Nummerierung <strong>der</strong> zusätzlichen<br />

Aspekte) am Tenor des ca. 1925 von Wolff<br />

und Kerst neu bearbeiteten Analysisbandes <strong>der</strong><br />

Reidtschen „Elemente <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>“ erläutern,<br />

die sich bis heute in vielen Auflagen und mancherlei<br />

– teilweise auch weniger glücklichen – Neubearbeitungen<br />

als anscheinend unsterbliche Bestseller<br />

erwiesen haben. 44 :<br />

A6. Lebendiger Unterricht: Anwendungen –<br />

Anschauung – Experiment<br />

„Für die Bearbeitung <strong>der</strong> Algebra-Oberstufe waren<br />

zunächst die Leitgedanken maßgebend, die<br />

auch <strong>der</strong> Unterstufe [Sek. I] zugrunde gelegt wurden:<br />

<strong>der</strong> Unterricht soll lebensvoll durchdrungen<br />

werden von den Anwendungen <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />

auf die Umwelt; Anschauung und Experiment sollen<br />

den Weg zum Stoff erleichtern.“<br />

A7. Zum Grenzwert hin!<br />

„Beson<strong>der</strong>er Wert wurde, wie bereits in <strong>der</strong> Unterstufe,<br />

darauf gelegt, den Grenzbegriff allmählich<br />

herauszuarbeiten, so bei den unendlichen geometrischen<br />

Reihen und beim Aufbau von Zahl und<br />

Funktion, damit er dem Schüler bei <strong>der</strong> Besprechung<br />

<strong>der</strong> Differential- und Integralrechnung hinreichend<br />

geläufig ist.“<br />

A8. Stoffbeschränkung<br />

„Differential- und Integralrechnung kann gegenwärtig<br />

auf <strong>der</strong> Schule wohl nur dann mit Erfolg<br />

behandelt werden, wenn sie sich auf eine möglichst<br />

geringe Stoffmenge einschränkt und dieser<br />

eine recht ausführliche Behandlung widmet. Deshalb<br />

ist die vorliegende Darstellung durchaus anschaulich<br />

gehalten. . . “ Die Infinitesimalrechnung<br />

exemplarisch statt systematisch aufzubauen, hatte<br />

im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t wohl in Deutschland nur Toeplitz<br />

genügend wissenschaftliches Ansehen und<br />

pädagogisches Engagement.<br />

A9. Anschaulichkeit o<strong>der</strong> Strenge?<br />

„. . . . Sie beabsichtigt nicht, den Schüler zu irgendeiner<br />

‚Fertigkeit’ im Differenzieren und Integrieren<br />

zu erziehen; [. . . ; s. nächster Punkt] Dabei<br />

wird dem Schüler recht oft deutlich und offen ausgesprochen,<br />

dass eine strenge Beweisführung Sache<br />

<strong>der</strong> Hochschule ist. Der ehrliche Grundsatz:<br />

‚Besser gar kein Beweis als ein Scheinbeweis’ hat<br />

sich nach vielfältigen Erfahrungen immer wie<strong>der</strong><br />

bewährt; <strong>der</strong> rechte Glaube [!] an die Strenge <strong>der</strong><br />

<strong>Mathematik</strong> wird auf diesem Wege keineswegs erschüttert.“<br />

Dieses freimütige Bekenntnis zu unstrengem,<br />

aber schülerorientiertem Vorgehen entsprach<br />

zweifellos den üblichen Alltagsbeschränkungen,<br />

stieß aber natürlich auch bei vielen – standesbewussteren<br />

o<strong>der</strong> nur strenger als Reine <strong>Mathematik</strong>er<br />

ausgebildeten Kollegen – auf Wi<strong>der</strong>spruch.<br />

So hieß es in [Schülke & Dreetz, 1927]:<br />

„Mit Recht verlangen die [Richertschen] Richtlinien<br />

von unserem Unterricht die Führung zu geistiger<br />

Selbstständigkeit in <strong>der</strong> Behandlung mathematischer<br />

Fragen. Dazu ist die von <strong>der</strong> Wissenschaft<br />

namentlich <strong>für</strong> die Infinitesimalrechnung<br />

gefor<strong>der</strong>te größere Strenge im Schulbetrieb unentbehrlich.“<br />

Warum sich geistige Selbstständigkeit<br />

und größere Strenge so friedlich verbinden sollten,<br />

wird hier nicht erklärt.<br />

Vielleicht wurde das im Buch <strong>der</strong> Katalyse<br />

durch Abbildungsgeometrie im Geiste des Erlanger<br />

Programms zugetraut, eine didaktische Auf-<br />

43 Jenseits <strong>der</strong> taktischen Erklärungen vieler Meraner Reformer verweise ich auf infinitesimal-begriffliche Betrachtungen bei [Timerding,<br />

1911; Toeplitz, 1927, 1929, 1972] und – aus neuerer Zeit – auf [Freudenthal, 1973a,b; Hischer & Scheid, 1982; Laugwitz<br />

& Schnitzspan, 1983]. – Von den eigentlichen Infinitesimalbedeutungen geblieben sind heute allenfalls noch Anleihen beim naiven<br />

Grenzwert„begriff“ zur Definition <strong>der</strong> Momentangeschwindigkeit bzw. Sekantensteigungs-Tangente. Der heute beliebte Terminus<br />

„lokale Än<strong>der</strong>ungsrate“ verdeckt mehr, als er erklärt. Und das erkenntnistheoretisch brisante Impetus-Rätsel ist verschwunden. Man<br />

denke nur an die elaboriert-naive Entsorgung <strong>der</strong> übrigen Zenonschen Paradoxa durch geometrische Reihen. (Zur Impetusidee s. z. B.<br />

[Wolff, 1978]; zu Infinitesimalien findet sich viel in Büchern über mathematische Paradoxien, z. B. [Konforowitsch, 1990].)<br />

44 Ich zitiere aus dem Vorwort <strong>der</strong> 1. Auflage, das – lei<strong>der</strong> undatiert – in [Reidt, 1928] wie<strong>der</strong>gegeben ist.<br />

112


Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />

fassung geometrisch-funktionalen Denkens, die<br />

erst in <strong>der</strong> Weimarer Zeit aufkam 45 . Für die<br />

Geometrie wird dort jedenfalls dasselbe Begründungsmuster<br />

vorgetragen, das uns schon aus dem<br />

Kampf <strong>für</strong> die Analysis geläufig ist: „In <strong>der</strong> Geometrie<br />

war es unsere Hauptaufgabe, den Stoff unter<br />

einheitliche, größere Gesichtspunkte zu stellen.<br />

Wir folgen dem Weg, den F. Klein in seinem<br />

berühmten und bahnbrechenden Erlanger Programm<br />

<strong>der</strong> geometrischen Forschung [!] gewiesen<br />

hat. Auch die Schule darf sich diesem Fortschritt<br />

<strong>der</strong> Methode [!], den Kleins Programm darstellt,<br />

auf die Dauer nicht entziehen. Bei aller liebevoller<br />

Pflege <strong>der</strong> Einzelheiten muss <strong>der</strong> Blick immer auf<br />

die großen Zusammenhänge, auf das Ganze gerichtet<br />

sein. Durch die Hervorkehrung <strong>der</strong> Transformationsgruppen<br />

(Schiebung, Drehung, Spiegelung,<br />

Affinität, Perspektive) werden die scheinbar<br />

so auseinan<strong>der</strong>strebenden verschiedenen geometrischen<br />

Methoden geeint. Anschauung, Zeichnung,<br />

Synthese und Analyse vereinigen sich zu einem<br />

einheitlichen Ganzen [1926!], die natürlichen<br />

Zusammenhänge treten in den Vor<strong>der</strong>grund und<br />

verhelfen zu vertiefter Einsicht. Die so erreichte<br />

erhöhte Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit<br />

führt zu vereinfachter Darstellung und befähigt<br />

den Schüler dadurch besser zur erstrebten selbsttätigen<br />

Erarbeitung des Lehrstoffes. Den Gedankeninhalt<br />

zu entwickeln, nicht nur Formeln herzuleiten,<br />

ist <strong>der</strong> Hauptgrundsatz des Buches.“ 46 Zwischen<br />

hochschulorientierter Strenge und Selbsttätigkeit<br />

auf Schülerseite klaffe demnach gar keine<br />

Lücke, weil mo<strong>der</strong>ne Begriffe (heute vielleicht:<br />

Computerwerkzeuge?) die „Gedankeninhalte“ zugleich<br />

repräsentierten und übersichtlich strukturierten.<br />

Je<strong>der</strong> ältere Praktiker, <strong>der</strong> die wisssenschaftliche<br />

Läuterung <strong>der</strong> Schule durch Abbildungsgeometrie<br />

und -gruppen erlebt hat, weiß<br />

dass das so nicht wahr ist. 47<br />

Nach dem zweiten Weltkrieg knüpften viele<br />

an diese formelle und standesbewusste Sicht „<strong>der</strong>“<br />

(wahren und ewigen) <strong>Mathematik</strong> an, und diese<br />

Auffassung flammte dann noch einmal in den wissenschaftsorientiertenMo<strong>der</strong>nisierungsbestrebungen<br />

<strong>der</strong> 68er- und frühen 70er-Jahre kurz auf. Einige<br />

MU-Hefte waren in dieser Zeit dem Thema<br />

„Anschaulichkeit und Strenge in <strong>der</strong> Analysis“ gewidmet<br />

48 , bis im vierten dieser Hefte 1979 ein damals<br />

mutiger Artikel von W. Blum und A. Kirsch<br />

den – von älteren Lehrern ohnehin anhaltend praktizierten<br />

– liberaleren Standpunkt <strong>der</strong> Klein, Lietzmann<br />

und Reidt-Wolff auch didaktisch wie<strong>der</strong> salonfähig<br />

machte [Blum & Kirsch, 1979]. 49<br />

A10. Verständnis vor Fertigkeiten!<br />

Der eben nur teilweise zitierte Satz lautet vollständig:<br />

„Sie beabsichtigt nicht, den Schüler zu irgendeiner<br />

‚Fertigkeit’ im Differenzieren und Integrieren<br />

zu erziehen; vielmehr will sie ihn nur bekanntmachen<br />

mit den wichtigsten Tatsachen und<br />

ihrem Zusammenhange.“<br />

Die hier zusammengestellten zehn Aspekte o<strong>der</strong><br />

methodischen Dimensionen, in denen sich wirklicher<br />

Unterricht artikuliert und um bildende Erziehung<br />

bemüht, sollen im nun folgenden Kapitel auf<br />

ihre didaktischen Quellen, Gewichtsetzungen und<br />

<strong>der</strong>en aktuelle Bedeutungsverschiebungen untersucht<br />

werden.<br />

2 Angeborene und erworbene<br />

Missverhältnisse<br />

Mit <strong>der</strong> Rede vom „Analysisunterricht des 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts“ ist suggestiv die Unterstellung verbunden,<br />

Geist und Gehalt dieses Unterrichts seien<br />

im Wesentlichen über das vorige Jahrhun<strong>der</strong>t gültig<br />

geblieben. Ganz falsch ist das gewiss nicht, wie<br />

Abb. 17.3 zeigt. 50<br />

Meine bisherigen Ausführungen wollten diese<br />

Unterstellung des Kanonischen auch durchaus<br />

belegen – so weit als eben möglich.<br />

Ganz treffen kann so ein konstant gültiges Bild<br />

des Analysisunterrichts natürlich nie, denn es enthält<br />

von vornherein Risse, und sein Gehalt wird<br />

natürlich immer vom Ambiente, in das es gehängt<br />

wird, mitbestimmt, nicht zuletzt auch von<br />

<strong>der</strong> Deutung <strong>der</strong> jeweiligen Betrachter und ihrem<br />

Zeitgeist. Es kann uns ja nicht daran gelegen sein,<br />

den naturalistischen Fehlschluss auf literarischer<br />

Ebene zu wie<strong>der</strong>holen. Kurz: Ein noch so treffendes<br />

Bild wandelt mit <strong>der</strong> Zeit seine Bedeutung(en).<br />

45Vgl. [Ben<strong>der</strong>, 1982]<br />

46 [Schülke & Dreetz, 1927, Vorwort S. III f.] – Toeplitz hat sich in Vorträgen 1926 und 1928 sehr gründlich mit <strong>der</strong> Frage nach<br />

dem jeweils rechten Weg in die Infinitesimalrechnung auf <strong>der</strong> Hochschule und auf <strong>der</strong> Schule auseinan<strong>der</strong>gesetzt und kam zu dem<br />

Ergebnis, mindestens <strong>für</strong> die Schule sei allein ein „genetischer“ (an <strong>der</strong> Geschichte orientierter, aber nicht historiographischer) Zugang<br />

angemessen. Insbeson<strong>der</strong>e <strong>für</strong> Lehramtsstudierende arbeitete er an einer genetischen Einführung in die Infinitesimalrechung,<br />

von <strong>der</strong> lei<strong>der</strong> nur <strong>der</strong> erste Band 1949 posthum erscheinen konnte [Nachdruck: Toeplitz, 1972]. – Wittmann [1973] vertritt einen<br />

psychologisch-genetischen Zugang zur Analysis.<br />

47Man vgl. dazu die bissigen Bemerkungen von Wittenberg [1963].<br />

48Die Hefte 1957, 1968 und 1969 diskutierten vorwiegend Fragen <strong>der</strong> optimalen „fachlichen Sorgfalt“ (Strenge) im Unterricht.<br />

49Auch die „Elemente <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>“ kehrten durch Mitarbeit dieser Autoren wie<strong>der</strong> zur älteren bodenständigen Auffassung<br />

zurück.<br />

50Die Tabelle ist den aktuellen „EPAs“ KMK 1989/2002 entnommen [KMK, 2010], weil die schon länger angekündigten KMK-<br />

Standards <strong>für</strong> die Oberstufe immer noch nicht veröffentlicht sind und die daran anschließenden „kompetenzorientierten Bildungspläne“<br />

<strong>der</strong> Bundeslän<strong>der</strong> teils noch fehlen, teils nur vorläufig gelten. Von den neuen Lehr- o<strong>der</strong> „Bildungsplänen“ sind freilich keine<br />

Überraschungen zu erwarten, weil sie dem real-existierenden Unterricht, Ausbildungs- und Schulsystem Rechnung tragen müssen.<br />

113


Lutz Führer, Frankfurt<br />

!<br />

„Zum Ziele <strong>der</strong> Erziehungskunst, das uns<br />

vorher klar und groß vorstehen muss, ehe<br />

wir die bestimmten Wege dazu messen, gehört<br />

die Erhebung über den Zeitgeist. Nicht<br />

<strong>für</strong> die Gegenwart ist das Kind zu erziehen –<br />

denn diese tut es ohnehin unaufhörlich und<br />

gewaltsam – son<strong>der</strong>n <strong>für</strong> die Zukunft, ja oft<br />

noch wi<strong>der</strong> die nächste. Man muss aber den<br />

Geist kennen, den man fliehen will. . . “<br />

Abbildung 17.3: „EPAs“ <strong>der</strong> KMK 1989/2002<br />

Jean Paul 1807, § 30 51<br />

So zeigt die EPA-Tabelle in Stoff und Gehalt<br />

eine deutliche Rücknahme <strong>der</strong> Ansprüche<br />

<strong>für</strong> den Analysisbereich 52 , zumindest gegenüber<br />

<strong>der</strong> Schulbuch-Literatur zwischen Behrendsen &<br />

Götting 1912 und etwa dem Auslaufen <strong>der</strong> sog.<br />

„Strukturwelle“ um 1980. Abgesehen vom bildungspolitischen<br />

Ehrgeiz, die Abiturientenquote<br />

51 [Paul, 1909, S. 53]<br />

52 je nach Ausdeutung evtl. abgesehen von EPA 1.2.3.<br />

114<br />

Deutschlands ohne größere Umstrukturierungen,<br />

Aus-/Bildungsziele und Investitionen auf „europäisches<br />

Niveau“ zu heben, gibt es zwei offensichtliche<br />

Gründe <strong>für</strong> die Anspruchsreduktion:<br />

⊲ die fast unüberschaubare Heterogenität <strong>der</strong><br />

Lehramtsausbildung (Lehrfreiheit <strong>der</strong> Universitäten,<br />

Steckenpferde <strong>der</strong> Forscher, Traditionen<br />

in Hochschule und Schule, Beliebigkeit <strong>der</strong> Fächerkombinationen,<br />

Seiteneinsteiger) und<br />

⊲ die Streuung <strong>der</strong> Zuständigkeiten <strong>für</strong> Lehrplanvorgaben<br />

(Bildungsfö<strong>der</strong>alismus, Stärkung <strong>der</strong><br />

sog. „Schulautonomie“, „Schulprofil“, Privatschulwesen).<br />

Durch die bundesweite Hinwendung zu Zentralabitur<br />

und externer Testindustrie werden anspruchsvollere<br />

Unterrichtsinhalte nicht mehr von<br />

den Anfor<strong>der</strong>ungen des Schulabschlusses gedeckt<br />

und als „Zusatzangebote“ optional. Zwar bieten


Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />

die einschlägigen Schulbücher und Lehrerzeitschriften<br />

(noch) ganze Füllhörner von Themen<br />

und Aufgaben auf unterschiedlichsten Niveaus an,<br />

in bescheidenerem Umfang tun das inzwischen<br />

auch Lehrpläne, aber jede Behandlung von „Zusatzthemen“<br />

– sei es auch auf Beschluss <strong>der</strong> örtlichen<br />

Fachgruppe – kostet Zeit, die <strong>der</strong> Abiturvorbereitung<br />

und damit den Chancen auf einen gehobenen<br />

Numerus clausus o<strong>der</strong> auf erfolgreiche<br />

Bewerbungen um einen „Brotberuf“ fehlt, und <strong>der</strong><br />

sanfte pädagogische Nachdruck, <strong>der</strong> von entsprechenden<br />

Klausuren ausgeht, stößt nicht überall auf<br />

Verständnis <strong>der</strong> jungen Erwachsenen und ihrer Eltern.<br />

Angesichts <strong>der</strong> bescheidenen Lehrplanvorgaben<br />

und <strong>der</strong> heterogenen Vorbildung <strong>der</strong> Lehrer<br />

können Schulbücher ihre „Zusatzangebote“ nicht<br />

zu fortschreitenden Vertiefungen nutzen und nur<br />

noch postmo<strong>der</strong>n diversifizieren, als gelte <strong>für</strong> eine<br />

Einführung in die Analysis das Motto „Anything<br />

goes – somehow“.<br />

2.1 Angeborene Missverhältnisse<br />

Es gab und gibt durchaus eine Reihe von Gesichtspunkten,<br />

die von vornherein ausgeblendet<br />

o<strong>der</strong> zu unterrichtsmethodischen Akzentuierungsfragen<br />

verharmlost wurden, bis 1925 gewiss überwiegend<br />

aus Gründen <strong>der</strong> schul- und hochschulpolitischen<br />

Durchsetzungsstrategie verständlich.<br />

Im Laufe des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts hat sich dann jedoch<br />

immer wie<strong>der</strong> gezeigt, dass die zunächst<br />

strategischen Marginalisierungen den Analysisunterricht<br />

mit nichttrivialen pädagogischen und didaktischen<br />

Problemen belastet haben, indem sie<br />

in den Kanon einflossen und mit ihm perpetuiert<br />

wurden. Dazu möchte ich eine kleine Reihe von<br />

Thesen vortragen.<br />

„Cultur-Arbeit“ als Bildungsaufgabe des<br />

Gymnasiums?<br />

Die Wegbereiter flächendeckenden Analysisunterrichts<br />

<strong>für</strong> Höhere Schulen bemühten in den gut<br />

fünfzig Jahren bis zu den Richertschen Lehrplänen<br />

einen bildungsbürgerlichen Konsens, nach<br />

dem – wie es Gallenkamp 1873 ausdrückte – „die<br />

Bildungsaufgabe des Gymnasiums die Aufnahme<br />

<strong>der</strong> Elemente <strong>der</strong> analytischen Geometrie und <strong>der</strong><br />

Differentialrechnung for<strong>der</strong>e; nur dadurch könne<br />

<strong>der</strong> Gymnasial-Abiturient eine Vorstellung von<br />

<strong>der</strong> großen Cultur-Arbeit auf dem Gebiete <strong>der</strong> Naturwissenschaften<br />

erhalten; nur so könne die Erweiterung<br />

einer immer bedenklicher werdenden<br />

Kluft zwischen den Gebildeten <strong>der</strong> Nation vermieden<br />

werden; . . . .“ 53 Es fällt auf, dass hier stillschweigend<br />

mehrere Voraussetzungen wie selbstverständlich<br />

gemacht werden:<br />

⊲ Pflichtmäßiger Analysisunterricht war nur<br />

durchsetzbar, wenn die noch lange bildungspolitisch<br />

tonangebenden Philologen <strong>der</strong> (altsprachlichen)<br />

Gymnasien und Schulbehörden<br />

überzeugt o<strong>der</strong> zumindest neutralisiert werden<br />

konnten. Die Meraner Vorschläge legten dann<br />

auch folgerichtig erst einmal einen Musterlehrplan<br />

<strong>für</strong> das Gymnasium vor und verlangten nur<br />

sehr behutsam, „an die Schwelle“ <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung<br />

zu führen. Bei Richert wird denn<br />

auch noch ausdrücklich Verständnis <strong>für</strong> den<br />

philosophischen Gehalt <strong>der</strong> mathematischen<br />

Verfahren und die geistesgeschichtliche Bedeutung<br />

<strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> gefor<strong>der</strong>t, und das jetzt<br />

<strong>für</strong> alle Typen Höherer Schulen.<br />

⊲ Um bildungspolitisch erfolgreich sein zu können,<br />

musste man sich <strong>der</strong> pathetisch klassizistischen<br />

Ausdrucksweise bedienen, in <strong>der</strong> universelle<br />

Bildung des ganzen Menschen, genauer:<br />

Bürgers, zum zweifelsfreien Corpsgeist gehörte.<br />

⊲ Ob die Naturwissenschaften zur Gesamtkultur<br />

zu rechnen seien, und damit zum potentiellen<br />

Bildungskanon, o<strong>der</strong> „nur“ zur brotberuflichen<br />

Zivilisation, war und ist bis heute eine heikle<br />

Frage 54 , <strong>der</strong> man geschickt aus dem Wege<br />

ging, indem man lieber von „Kulturarbeit“<br />

statt von „Kultur“ redete. Dass viele angesehene<br />

Naturwissenschaftler wie du Bois-Reymond<br />

o<strong>der</strong> von Helmholtz und (vor allem?) Mediziner<br />

wie Virchow tatsächlich Kulturarbeit leisteten,<br />

wagten auch die konservativsten Bildungsbürger<br />

nicht mehr anzuzweifeln.<br />

⊲ Mehr als ein Gebiet <strong>der</strong> Gesamtkultur sollte die<br />

mathematisierte Naturwissenschaft nicht repräsentieren.<br />

Usurpation war nie beabsichtigt.<br />

⊲ Es gebe ohnehin schon eine wachsende „Kluft<br />

zwischen den Gebildeten <strong>der</strong> Nation“, und dieser<br />

wäre entgegenzuarbeiten, und zwar am<br />

Gymnasium. Der Realschulmann Gallenkamp<br />

und auch viele <strong>der</strong> später führenden Köpfe <strong>der</strong><br />

mathematischen Reformbewegung bis in die<br />

Weimarer Zeit tolerierten zumindest die vor<strong>der</strong>gründige<br />

Illusion, die altsprachlich Gebildeten<br />

seien die eigentlichen Denker und Lenker <strong>der</strong><br />

<strong>Gesellschaft</strong>.<br />

⊲ Unter dieser Voraussetzung war natürlich die<br />

53Protokoll von Bonitz über Gallenkamps Ausführungen im Preußischen Unterrichtsministerium 1873 [zit. n. Gallenkamp, 1877,<br />

S. 2].<br />

54Ich verweise nur auf die öffentlichen, ebenso geistreichen wie folgenlosen Auseinan<strong>der</strong>setzungen mit C. P. Snows These von den<br />

zwei Kulturen und mit <strong>der</strong> Unterstellung von Schwanitz’ Bestseller, mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung sei auch heute noch<br />

gesellschaftlich marginal und gehöre nicht zum salonfähigen „Guten Ton“. (Vgl. [Kreuzer, 1987] bzw. [Schwanitz, 1999] versus [Fischer,<br />

2001].) Die Reihenfolge <strong>der</strong> Unterrichtsfächer auf Schulzeugnissen und in den „Aufgabenfel<strong>der</strong>n“ <strong>der</strong> Oberstufe spricht Bände,<br />

und unsere Spitzenpolitiker lassen sich alleweil lieber bei den Wagner-Festspielen als auf wissenschaftlichen Symposien ablichten.<br />

Von <strong>der</strong> physikalischen Kompetenz unserer Kanzlerin o<strong>der</strong> Oskar Lafontaines hat man in <strong>der</strong>en öffentlichem Auftreten noch wenig<br />

gespürt.<br />

115


Lutz Führer, Frankfurt<br />

unterstellte Pflicht des Gymnasiums zur Ausbildung<br />

allgemeiner Urteilsfähigkeit erstrangig,<br />

selbstverständlich nicht ohne gezielt formend<br />

„an Klarheit und Bestimmtheit [!] <strong>der</strong> Begriffe<br />

und an Consequenz im Denken zu gewöhnen“.<br />

55<br />

⊲ Dass „die [?] Elemente [!] <strong>der</strong> analytischen<br />

Geometrie und <strong>der</strong> Differentialrechnung“,<br />

bei du Bois-Reymond dann auch schon<br />

zusätzlich <strong>der</strong> Integralrechnung, überhaupt geeignet<br />

seien, die damalige mathematischnaturwissenschaftliche<br />

Kulturarbeit unverzerrt<br />

zu repräsentieren, wurde nicht infrage gestellt.<br />

Und so ist es bis heute geblieben, trotz <strong>der</strong><br />

Wissenschaftsverherrlichung <strong>der</strong> sechziger und<br />

siebziger Jahre.<br />

Toeplitz entlarvt denn auch die Fadenscheinigkeit<br />

des Versprechens, Urteilsvermögen zur gegenwärtige<br />

Kulturarbeit vermitteln zu wollen 56 : „Im Rahmen<br />

<strong>der</strong> wirklichen <strong>Mathematik</strong> ist die Rolle <strong>der</strong><br />

Infinitesimalrechnung doch etwas an<strong>der</strong>s. Sie und<br />

insbeson<strong>der</strong>e die Exhaustion in jedwe<strong>der</strong> Form ist<br />

schließlich doch nur ein Handwerkszeug, das erst<br />

in den höheren Teilen <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> seine Auswirkung<br />

findet. Welchen methodischen Wert hat<br />

dieses Handwerkszeug, wenn es Menschen dargeboten<br />

wird, <strong>der</strong>en größter Teil nie zu seinem<br />

Gebrauch im tieferen Sinn gelangt? Dann wird<br />

aus dem Handwerkszeug ein Spielzeug. Lassen<br />

Sie die Begeisterung vergehen, mit <strong>der</strong> heute diese<br />

Dinge, als etwas Neues, in <strong>der</strong> Schule probiert<br />

werden. Lassen Sie sie so abgetragen und schäbig<br />

aussehen, wie die Dreiecksaufgaben aussahen,<br />

nachdem man sie mehrere Jahrzehnte traktiert hatte.<br />

Dann wird <strong>der</strong> Drill dieser Dinge eine viel unerträglichere<br />

Last <strong>für</strong> das Gros <strong>der</strong> Schüler darstellen,<br />

als jetzt diejenigen Gegenstände, die zur Zeit<br />

verstaubt aussehen, aber didaktisch immerhin gesün<strong>der</strong><br />

veranlagt waren.“ Schon am Anfang des<br />

GDNÄ-Vortrags hieß es zum Ausbildungssystem:<br />

„Die Mehrzahl <strong>der</strong> Hochschulprofessoren denkt<br />

gar nicht an die Schule und an die späteren Lehraufgaben<br />

ihrer Hörer, von denen doch – was die<br />

Universitäten betrifft – etwa 95% später in den<br />

Schuldienst treten. . . Die Schulbehörden zeigen<br />

im allgemeinen keine beson<strong>der</strong>e Vorliebe da<strong>für</strong>,<br />

wenn ihre Studienräte und Referendare sich noch<br />

wissenschaftlich betätigen. . . Die Lehrer in ihrer<br />

heute bestehenden außerordentlichen Überlastung<br />

verlieren zu einem großen Teil den Blick auf das<br />

Urbild des Faches, in dem sie unterrichten.“ Man<br />

mag heute an<strong>der</strong>e Prozentzahlen bevorzugen, die<br />

allgemeinbildungsabstinente Ausbildung ist weitgehend<br />

erhalten geblieben. Kurz gesagt:<br />

These 1. Der Analysisunterricht des zwanzigsten<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts konnte und wollte sein Versprechen,<br />

den mathematisch-naturwissenschaflichen<br />

Teil <strong>der</strong> Gesamtkultur o<strong>der</strong> gar <strong>der</strong> aktuellen Kulturarbeit<br />

zu repräsentierten, nicht einlösen – jedenfalls<br />

deutlich weniger als <strong>der</strong> Naturwissenschaftsunterricht.<br />

57<br />

Gibt es eine mathematisch-naturwissenschaftlich<br />

geprägte allgemeine Bildungsauffassung?<br />

1904 erklärt Klein ärgerlich: „Bei <strong>der</strong> Schulreform<br />

1900 war als Parole ausgegeben, dass hinfort jede<br />

Schulart im Hinblick auf die allgemeine an ihr<br />

zu gewinnende Bildung ihr beson<strong>der</strong>es Lehrziel<br />

spezifisch ausgestalten sollte . . . Inzwischen habe<br />

ich den Eindruck gewonnen, dass jene Parole<br />

von 1900 viel zu fein ist, um in allgemeineren<br />

Kreisen verstanden zu werden. Nur die Altphilologen<br />

scheinen aus <strong>der</strong>selben wirklichen Nutzen<br />

zu ziehen. Die <strong>Mathematik</strong>er und Naturwissenschaftler<br />

sind merkwürdig stumm geworden. Anstatt<br />

mit Bestimmtheit und gleichzeitig mit Maß<br />

die beson<strong>der</strong>e Bedeutung zu vertreten, welche ihre<br />

Fächer im Kreise <strong>der</strong> übrigen <strong>für</strong> eine zeitgemäße<br />

allgemeine Bildung besitzen, weichen sie<br />

vor dem Geschrei <strong>der</strong> Unwissenden zurück, die<br />

eine bescheidene Steigerung <strong>der</strong> mathematischnaturwissenschaftlichen<br />

Ausbildung [!] sofort als<br />

Fachbildung stigmatisieren!“ 58 Tatsächlich sind<br />

Klein selbst und auch die übrigen Reformanhänger<br />

– trotz aller gutwilligen Bemühungen, beispielsweise<br />

Lietzmanns – eine Klärung schuldig<br />

geblieben, was denn „die beson<strong>der</strong>e Bedeutung<br />

<strong>für</strong> eine zeitgemäße allgemeine Bildung“ unter<br />

schulischen Bedingungen und über utilitäre Vorzüge<br />

hinaus bedeuten könnte. Kurz:<br />

These 2. Ein ausgeprägtes mathematischnaturwissenschaftliches<br />

Bildungsideal kam nicht<br />

zustande.<br />

Allgemeine Studierfähigkeit<br />

Der pragmatische Zielkonsens <strong>für</strong> die Höheren<br />

Schulen hieß und heißt noch: Allgemeine Hochschulreife.<br />

Bei Gallenkamp las es sich so: „Das<br />

Gymnasium hält den Anspruch aufrecht, die angemessene<br />

Vorbildung <strong>für</strong> alle Facultätsstudien<br />

auf <strong>der</strong> Universität und <strong>für</strong> die wissenschaftlichen<br />

Studien auf den technischen Hochschulen<br />

zu geben.“ 59 Klein verwahrt sich zwar gegen<br />

55 [Gallenkamp, 1877, S. 9], als beifälliges Zitat einer Ministerialverfügung vom September 1834.<br />

56 [Toeplitz, 1929, S. 14 bzw. 1. f.] Der antike Begriff „Exhaustion“ meint hier etwa beliebig gute Approximation.<br />

57 Ausführliche Belege zu heutigen repräsentativen Bildungsabsichten im <strong>Mathematik</strong>- und Naturwissenschaftsunterricht habe ich<br />

in [Führer, <strong>2009</strong>] gegeben.<br />

58 [Klein, 1904, S. 7].<br />

59 [Gallenkamp, 1877, S. 6 f]<br />

60 [Klein, 1904, S. 6].<br />

116


Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />

reinen Fachpatriotismus mit einer Sympathieerklärung<br />

an künftige Wissenschaftler an<strong>der</strong>er Fächer<br />

60 , aber er argumentiert zugleich und auch<br />

später stets so, als wären diese Schüler die einzigen,<br />

um die es dem Gymnasium o<strong>der</strong> auch den<br />

Höheren Realschulen zu gehen habe. Dass überhaupt<br />

nur ein Teil <strong>der</strong> Mittelstufenschüler <strong>der</strong><br />

Gymnasien und Höheren Realschulen das Abitur<br />

o<strong>der</strong> gar ein Studium anstrebten, zeitweilig sogar<br />

nur ein kleiner Teil, je nach Erlasslage <strong>für</strong><br />

das „Einjährige“ o<strong>der</strong> in Ermangelung „besserer“<br />

lokaler Schulalternativen, wurde (und wird) in<br />

<strong>der</strong> gymnasialen <strong>Mathematik</strong>didaktik höchst selten<br />

berücksichtigt. 61 Die Grün<strong>der</strong> und späteren<br />

Ausgestalter des Analysisunterrichts fühlten sich<br />

nicht gehin<strong>der</strong>t, dieses Spezialgebiet immer mehr<br />

zum exklusiv bestimmenden Ziel allen <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />

an Höheren Schulen umzufunktionieren.<br />

Angesichts <strong>der</strong> zunehmenden Verkümmerung<br />

<strong>der</strong> Synthetischen Geometrie und <strong>der</strong> lange<br />

währenden Verdrängung <strong>der</strong> Wahrscheinlichkeitsrechnung<br />

und ihrer versicherungswirtschaftlichen<br />

Anwendungen kann sogar behauptet werden:<br />

These 3. Die allgemeine Studierfähigkeit erwies<br />

sich als schärfste Waffe im Kampf um den allgemein<br />

pflichtmäßigen Analysisunterricht auf den<br />

Oberstufen. Auf dieses Ziel wurde an den Höheren<br />

Schulen immer mehr – und ohne wirkliche<br />

Rücksicht auf die zeitweilig vielen späteren<br />

Nichtstudierenden – <strong>der</strong> vorangehende <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

ausgerichtet und kanalisiert.<br />

Damit wurde zugleich <strong>der</strong> Repräsentativitätsanspruch<br />

<strong>für</strong> kompensatorische mathematische Allgemeinbildung<br />

aufgeweicht.<br />

Primat <strong>der</strong> Fertigkeitsschulung<br />

(Kalkülzentrierung)<br />

„Eines kann nicht verschwiegen werden: Die Tendenz<br />

. . . auf das Methodische ist die unbequemere;<br />

die Bequemlichkeit wird stets auf die stoffliche<br />

Seite hindrängen“, erklärte Toeplitz am Ende<br />

seines GDNÄ-Vortrags von 1928, und am Anfang<br />

des schulbezogenen Teils hieß es (S. 13 f.):<br />

„Soweit ich mir einen Überblick über die sehr<br />

bunte, schwer zu übersehende Praxis des jetzigen<br />

Augenblicks habe beschaffen können, überwiegt<br />

in <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung <strong>der</strong> Schulen die<br />

formale Seite <strong>der</strong> Sache, die Rechentechnik des<br />

Differenzierens und Integrierens, um ein kurzes<br />

Wort zu gebrauchen: <strong>der</strong> Kalkül. Dieser Kalkül<br />

ist ein ungemein bequemer Unterrichtsgegenstand<br />

<strong>für</strong> die Schule . . . “ Und Toeplitz nennt gleich auch<br />

den tieferen Grund, fast eine Aporie: „Der didaktische<br />

Wert einer Materie [nichtrivialen Wissens<br />

und Denkens; L. Fü.] <strong>für</strong> die Schule ist weitgehend<br />

dadurch bestimmt, inwieweit sie sich in Serien<br />

von Aufgaben ansteigen<strong>der</strong> Schwierigkeit aufspalten<br />

und umbrechen lässt. Das gilt von einer<br />

exakten Behandlung <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung in<br />

beson<strong>der</strong>s geringem Maße.“ Kein Zweifel, die<br />

Aufsplitterung wenn nicht in Aufgabensequenzen<br />

dann jedenfalls in ein paar Dreiviertelstunden<br />

je Woche, ist schulorganisatorisch unvermeidlich,<br />

jedenfalls in normalen Schulen. Und die potentiell<br />

allgemeinbildenden bzw. erkenntnisleitenden<br />

Gehalte sind kaum „operationalisierbar“. So<br />

verstehe ich auch Pietzkers Be<strong>für</strong>chtungen von<br />

1904, die die Meraner Reformer an <strong>der</strong> Schwelle<br />

zur Infinitesimalrechnung zögern ließen: „. . .<br />

eine Aufnahme <strong>der</strong> Systematik <strong>der</strong> Infinitesimalrechnung<br />

in den Unterricht [wird] im allgemeinen<br />

nur darauf hinauslaufen, den Schülern eine formelle<br />

Technik mehr beizubringen, ohne dass sie<br />

dadurch befähigt werden, nun mit dieser Technik<br />

gegebenenfalls viel anzufangen; statt <strong>der</strong> Erhöhung<br />

<strong>der</strong> geistigen Durchbildung, die man ihnen<br />

dadurch verschaffen möchte, wird eine gewisse<br />

äußerliche Fertigkeit erzielt werden, die bei allen,<br />

die nachher keine Veranlassung zur Beschäftigung<br />

mit den exakten Wissenschaften haben, bald genug<br />

vergessen werden wird.“ 62 Gewiss würde sich<br />

Pietzker aufs Großartigste bestätigt fühlen, wenn<br />

er heute die Rubriken 1.2.1, 1.2.2 und 1.2.4 <strong>der</strong><br />

EPAs lesen könnte. Der Aspekt A10, „Verständnis<br />

vor Fertigkeiten“, ist inzwischen klaglos auf<br />

„Verständnis von Fertigkeiten“ reduziert.<br />

These 4. Die hun<strong>der</strong>tjährigen Predigten gegen<br />

„einseitige“ Kalkülzentrierung des Analysisunterrichts<br />

mussten auf taube Ohren stoßen, denn<br />

<strong>der</strong> Kalkülprimat folgt aus dem Aufgaben- und<br />

Zerlegungszwang im qualifizierenden und also<br />

prüfenden Schulsystem (heute „Outputorientierung“).<br />

63<br />

61 Bei [Timerding, 1911, S. 112] ahnt man es nur: „Das wenige, was ich an Erfahrung gesammelt habe, hat mich doch das eine<br />

gelehrt, wie ungeheuer vorsichtig man mit wissenschaftlichen For<strong>der</strong>ungen pädagogischen Aufgaben gegenüber sein muss. Jedes<br />

Individuum verträgt nur ein bestimmtes wissenschaftliches Niveau.“ Toeplitz findet dann auf <strong>der</strong> GDNÄ-Hauptversammlung 1928<br />

sehr klare Worte [Toeplitz, 1929]: „Die Erfahrung zeigt, dass ein erheblicher Teil <strong>der</strong> Abiturienten <strong>der</strong> höheren Schulen gar nicht zur<br />

Hochschule übergeht, son<strong>der</strong>n sich dem Handel, <strong>der</strong> Industrie o<strong>der</strong> mittleren Beamtenlaufbahnen zuwendet. Die höhere Schule ist also<br />

keinesfalls ausschließlich Vorbereitungsanstalt <strong>für</strong> die Hochschule.“ [Ähnlich Lony, 1929, S. 18] Daraus zieht dann Toeplitz wie zuvor<br />

schon Timerding [1911] die (inzwischen recht einsame, von <strong>der</strong> Lehrerausbildung her auch gar nicht mehr ermöglichte) For<strong>der</strong>ung,<br />

spezifisch mathematische Erkenntnisweisen an historischen Vorlagen exemplarisch aufzuarbeiten und allgemeinbildend zu vertiefen.<br />

Man vergleiche Timerdings und Toeplitz’ historisch-genetische Ansätze mit dem belangslosen, aber noch heute imponierenden Event-<br />

Data-Dropping gemäß A5.<br />

62 [Pietzker, 1904], zit. n. [Krüger, 2000].<br />

63 Will man den Predigern nicht einfach Realitätsblindheit unterstellen, dann fragt sich natürlich, ob mit den Predigten mehr als<br />

politische o<strong>der</strong> medienwirksame Geschäftsinteressen verfolgt wurden/werden. Wir brauchen darauf hier glücklicherweise nicht einzugehen.<br />

117


Lutz Führer, Frankfurt<br />

Anschaulichkeit und<br />

Plausibilitätsbetrachtungen versus Strenge<br />

Auch Toeplitz’ Bezugnahme auf „exakte Behandlung“<br />

bietet keinen bequemen Ausweg, denn auf<br />

eine – wie auch immer geartete – „unexakte“<br />

o<strong>der</strong> informelle, aber nicht sinnwidrige Behandlung<br />

<strong>der</strong> Analysis ist <strong>der</strong> heutige Lehrer durch<br />

seine Hochschulausbildung ebenso unvorbereitet<br />

wie sein Kollege in <strong>der</strong> Weimarer Zeit. Damals<br />

wie heute verdanken sich überdies dem Anspruch,<br />

„eigentlich“ exakt behandeln zu wollen und es<br />

auch zu können, wenn nur die „schwachen“ Schüler<br />

nicht wären, nicht unwesentliche Teile des<br />

Standesbewusstseins des <strong>Mathematik</strong>lehrers, seiner<br />

öffentlichen Reputation und <strong>der</strong> disziplinierenden<br />

Wirkung seines Auftretens. Reine <strong>Mathematik</strong>er,<br />

die heute noch vorzugsweise die fachwissenschaftliche<br />

Lehramtsausbildung bestreiten,<br />

haben damit gewöhnlich keine Probleme. PISA-<br />

Klagen hin, Schülerzentierung her, es ist auch im<br />

begonnenen 21. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht ungewöhnlich,<br />

dass sogar Haupt- und Realschullehrer am Studienbeginn<br />

mit Cauchy-Folgen und absoluter Reihenkonvergenz<br />

gesalbt werden. Im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

hat es trotzdem nicht an Bemühungen gefehlt,<br />

den Schülern nicht mit einer „wissenschaftlich<br />

aufgeputzten Systematik ins Gesicht zu springen“<br />

Klein [1908], die „wissenschaftlichen Ansprüche“<br />

erst einmal zurückzustellen, die zentralen Grundgedanken<br />

illustriert darzubieten und in informeller<br />

Sprache auf echte Probleme anzuwenden. Dazu<br />

gehörten schon sehr früh beispielsweise qualitative<br />

Kurvenbeschreibungen, grafische Differentiation<br />

und Integration, später dann auch Ausschnittsvergrößerungen,<br />

um Differentiale und die Linearisierung<br />

zu veranschaulichen 64 .<br />

Abbildung 17.4: aus [Seeley, 1968, S. 75]<br />

Es gibt freilich Veranschaulichungen und Veranschaulichungen<br />

– solche, die den Kern eines<br />

gedanklichen Zusammenhangs zeigen, und solche,<br />

die es nicht tun. Das Funktionenmikroskop ist<br />

zweifellos von <strong>der</strong> ersteren Natur, weil es zugleich<br />

die lokale Linearität als Kern des Ableitungsbegriffs<br />

„Trend“ (o<strong>der</strong> neudeutsch: „lokale Än<strong>der</strong>ungsrate“)<br />

zeigt und in <strong>der</strong> Handlung des Ver-<br />

!<br />

größerns das Kontrollbedürfnis bzgl. <strong>der</strong> Qualitätseinschätzung<br />

<strong>für</strong> die Linearisierung stimuliert.<br />

(Das tun Overhead-Folien immer noch besser als<br />

die Zoom-Taste, weil sie langsamer sind und unterwegs<br />

Denken provozieren.) Die analoge Unterscheidung<br />

empfiehlt sich auch <strong>für</strong> Plausibilitätsbetrachtungen,<br />

die Wesentliches bis hin zur Methodensuggestion<br />

vermitteln können, o<strong>der</strong> es verdecken.<br />

In <strong>der</strong> DMV-Denkschrift von 1976, die<br />

sich gegen szientistische Übertreibungen <strong>der</strong> sogenannten<br />

„Strukturwelle“ wandte, werden da<strong>für</strong><br />

substanzielle Beispiele genannt:<br />

„Die Sehnensteigung <strong>der</strong> Exponentialfunktion<br />

x ↦→ 2 x ist im Intervall [x,x + h] bei festem h proportional<br />

zu 2 x , nämlich<br />

2 x+h − 2 x<br />

h<br />

= 2 x · 2h − 1<br />

.<br />

h<br />

Daher ist plausibel, dass auch die Tangentensteigung<br />

bei x proportional zu 2 x ist.<br />

O<strong>der</strong> zur Kettenregel: Verkettung <strong>der</strong> affinen<br />

Funktionen<br />

li(x) = ai + mi · x (i = 1,2)<br />

zeigt, dass die affine Funktion<br />

l1 ◦ l2(x) = m1(a2 + m2 · x) + a1<br />

= (m1a2 + a1) + m1m2 · x<br />

die Steigung m1 · m2 hat. Berücksichtigt man, wie<br />

gut Tangenten approximieren, so ist es plausibel,<br />

dass sich beim Verketten differenzierbarer Funktionen<br />

die Steigungen (genommen an den richtigen<br />

Stellen) multiplizieren . . . “ 65<br />

Wendet man dieselbe Plausibilitätsbetrachtung<br />

auf das Produkt l1 · l2 an, so stößt man auf<br />

die wichtigste Grundidee <strong>der</strong> Analysis, nämlich<br />

die <strong>der</strong> kontrollierten Approximation:<br />

l1 · l2(x) = (a1 + m1 · x) · (a2 + m2 · x)<br />

= a1a2 + (a1m2 + a2m1) · x<br />

+m1m2 · x 2<br />

zeigt, was vernachlässigt wird, wenn man den<br />

letzten Summanden „vergisst“, um die Produktregel<br />

<strong>der</strong> Differentialrechnung zu bekommen. Und<br />

es deutet an, wie entsprechende Verluste beim<br />

Multiplizieren krümmerer Funktionen sich lokal<br />

an Null anschmiegen.<br />

Mit <strong>der</strong> Kalkülbetonung standen Infinitesimalgesichtspunkte<br />

wie Konvergenz-, Definitionso<strong>der</strong><br />

Beweisfragen schon früh zur Disposition.<br />

64 Kirsch [1979] stiftete den suggestiven Namen „Funktionenmikroskop“, und <strong>der</strong> Schroedel-Verlag beanspruchte <strong>für</strong> seine Folienbil<strong>der</strong><br />

Copyright [Kirsch, 1980]. Heute gehört die „Zoom-Taste“ zu jedem Funktionenplotter.<br />

65 [Deutsche <strong>Mathematik</strong>er-Vereinigung e. V., 1976, S. 434]. Der mittlere Term in <strong>der</strong> Formelzeile <strong>für</strong> l1 ◦l2 wurde zum bequemeren<br />

Lesen ergänzt.<br />

118


Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />

Dabei verstellte die Sozialisation <strong>der</strong> Lehrer als<br />

überwiegend Reine <strong>Mathematik</strong>er den Blick: Die<br />

Infinitesimalgesichtspunkte wurden nicht, wie es<br />

Timerding und Toeplitz vergeblich for<strong>der</strong>ten, als<br />

ursprüngliche Quellen und Zugänge zum Analysistreiben<br />

gesehen, zum „Methodischen“ wie es<br />

Toeplitz ausdrückte, son<strong>der</strong>n als triumphale Begriffsschöpfungen<br />

<strong>der</strong> jeweils mo<strong>der</strong>nsten mathematischen<br />

Wissenschaft zur Klärung von Grundlagenproblemen<br />

– bzw. zu <strong>der</strong>en Abschiebung in<br />

an<strong>der</strong>e Wissenschaften, wie z. B. bei Zenos Paradoxa<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Rota Aristotelis. Das ist heute<br />

insofern problematisch, weil damit Zugänge zum<br />

Entwurf außer- und innermathematischer Modellbildungen<br />

und natürlich auch zu echten innermathematischen<br />

Beweisbedürfnissen versperrt wurden.<br />

Man denke nur an den anwen<strong>der</strong>typischen<br />

heuristischen Ansatz von Differentialgleichungen,<br />

an Extremwertbestimmungen nach „Schema Effzwei-Strich“<br />

o<strong>der</strong> an die absurden Versuche, in<br />

die Flächen-Integralrechnung ausgerechnet über<br />

so offensichtlich schlechte Treppenfunktionsnäherungen<br />

mit äquidistanten Stützstellen einzuführen,<br />

statt über angepasste Trapez- o<strong>der</strong> Parabelbogennäherungen<br />

66 , die bekanntlich auch dann noch<br />

etwas taugen (und weit verallgemeinert werden<br />

können), wenn Aufleitungen nicht bekannt o<strong>der</strong><br />

möglich sind.<br />

Das folgende Zitat aus [Hauck, 1905] spricht<br />

zwar über die Angewandte <strong>Mathematik</strong>, um die es<br />

noch im nächsten Absatz gehen soll, bis auf den<br />

letzten Satz lässt sich aber alles fast wörtlich auf<br />

die Frage nach etwaigem Verrat <strong>der</strong> „angemessenen<br />

Strenge“ durch Anschaulichkeit übertragen.<br />

„Von den mannigfachen Urteilen über das<br />

Wesen <strong>der</strong> reinen und <strong>der</strong> angewandten <strong>Mathematik</strong>,<br />

die mir zu Ohren gekommen sind,<br />

greife ich die zwei extremsten heraus. Das<br />

eine Urteil lautet: Die angewandte <strong>Mathematik</strong><br />

opfert die wissenschaftliche Strenge<br />

<strong>für</strong> das Linsengericht <strong>der</strong> praktischen Anwendung.<br />

. . . Das an<strong>der</strong>e Urteil lautet: . . .<br />

Die reine <strong>Mathematik</strong> opfert die Übereinstimmung<br />

mit <strong>der</strong> Wirklichkeit <strong>für</strong> das Linsengericht<br />

<strong>der</strong> formalen Methode. . . . Fassen<br />

wir nicht die Verschiedenheiten, son<strong>der</strong>n<br />

das beiden Gemeinsame ins Auge, so ist vor<br />

allem hervorzuheben, dass die Art und Weise<br />

des Operierens in <strong>der</strong> angewandten <strong>Mathematik</strong><br />

genau nach den gleichen Grundsätzen<br />

erfolgt wie in <strong>der</strong> reinen <strong>Mathematik</strong>. Es<br />

gibt keine zwei verschiedenen Arten mathe-<br />

matischen Denkens. – Was <strong>der</strong> angewandten<br />

<strong>Mathematik</strong> eigentümlich ist, ist lediglich<br />

das, dass zu <strong>der</strong> eigentlichen Handlung, in<br />

<strong>der</strong> sich die Operationen abspielen, noch ein<br />

Vorspiel und noch ein Nachspiel hinzukommen.“<br />

[Hauck, 1905, Vorwort]<br />

Der letzte Satz, <strong>der</strong> die Modellbildung wun<strong>der</strong>bar<br />

schlicht charakterisiert, wäre hinsichtlich<br />

<strong>der</strong>/einer seriösen Anschaulichen <strong>Mathematik</strong><br />

vielleicht so abzuän<strong>der</strong>n: „Was <strong>der</strong> ernsthafteren<br />

anschaulichen <strong>Mathematik</strong> eigentümlich ist,<br />

ist lediglich das, dass sie den eigentlich abiturrelevanten<br />

Kompetenzen, mit denen die Operationen<br />

abgewickelt werden, noch <strong>der</strong>en Absichten, Ideen<br />

und Intuitionen beifügt.“<br />

These 5. Anschaulichkeit ist im Analysisunterricht<br />

kein Wert an sich, und Plausibilitätsbetrachtungen<br />

sind keine Sakrilege. Im besten Fall zeigen<br />

sie Wesentliches treffen<strong>der</strong>, im schlechtesten entstellen<br />

sie den Sinn <strong>der</strong> Sache. (Vgl. A3.)<br />

Vom schlechtesten Fall gibt <strong>der</strong> Anfang von<br />

Teil 1.2.2 <strong>der</strong> EPAs ein geradezu extremes Beispiel,<br />

zumal die in A7 aufgestellte psychogenetische<br />

For<strong>der</strong>ung, zum Grenzwertbegriff hin und<br />

nicht von ihm ausgehend zu arbeiten, innerhalb<br />

<strong>der</strong> heutigen materialen Outputorientierung ganz<br />

unrealistisch geworden ist.<br />

2.2 Erworbene Missverhältnisse<br />

Anwendungsorientierung?<br />

Götting schrieb dazu 1902: „Noch mehr als in <strong>der</strong><br />

reinen <strong>Mathematik</strong> verwendet man die Grundbegriffe<br />

<strong>der</strong> höheren Analysis in den Anwendungen.<br />

Im Physikunterricht kommt man ohne sie garnicht<br />

aus; ich nenne nur Geschwindigkeit, Beschleunigung,<br />

Richtung des Linienelements und Bahntangente,<br />

Krümmung <strong>der</strong> Bahn eines Punktes, Potentialgefälle,<br />

elektromotorische Kraft <strong>der</strong> Induktion<br />

etc., überall braucht man Differentialquotienten.<br />

Wie einfach würden die schwerfälligen Bestimmungen<br />

von Weglängen, Schwerpunkten und<br />

Trägheitsmomenten bei Anwendung <strong>der</strong> Integralrechnung.“<br />

67<br />

Verstünde man Anwendungsbezug so wie im<br />

Hauck-Zitat, dann gäbe es <strong>für</strong> allgemeinbildende<br />

Schulen keine Alternative zu (immer noch diversen)<br />

Formen des Analysisunterrichts im Geiste<br />

<strong>der</strong> Angewandten <strong>Mathematik</strong> 68 , und die seit A1<br />

und A4 vielbeschworenen Motivationsschübe auf<br />

Schülerseite wären, so sie denn wirklich einträten,<br />

66 Fermat konnte alle ganzrationalen Funktionen integrieren, indem er die Integrationsbereiche geometrisch und nicht arithmetisch<br />

unterteilte – ohne formelle Einführung irgendeines Integralbegriffs.<br />

67 [Götting, 1902, S. 51]<br />

68 Vgl. etwa [Blum & Toerner, 1983, S. 196]. – In [Führer, 1997, Abschnitt 7.2] habe ich das als „Formale Anwendungsorientierung“<br />

bezeichnet und näher erläutert. – Nicht zu vernachlässigen auch die universitäre Hierarchie bis ins späte 20. Jahrhun<strong>der</strong>t: Im<br />

Hrsg.-Vorwort von [von Sanden, 1914] schreibt Timerding auf S. VIII: „Ich will nur an Kummer erinnern, <strong>der</strong> einmal gesagt hat, es<br />

müsse eigentlich nicht reine und angewandte <strong>Mathematik</strong>, son<strong>der</strong>n reine und schmutzige <strong>Mathematik</strong> heißen“.<br />

119


Lutz Führer, Frankfurt<br />

willkommen – wenn auch nicht Bedingung. Dabei<br />

wäre natürlich noch reichlich unentschieden, welche<br />

Anwendungen und welche Anwen<strong>der</strong>methoden<br />

warum behandelt werden sollten. Hier freilich<br />

rächt sich die fö<strong>der</strong>ale Diversifizierung <strong>der</strong> Lehrerausbildung<br />

und die erziehungswissenschaftliche<br />

Ächtung <strong>der</strong> Bildungstheorie während des 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

Die erkenntnisleitenden Rollen, die im 17.<br />

und 18. Jahrhun<strong>der</strong>t traditionsreiche geometrische<br />

Probleme und die aufblühende dynamische Mechanik<br />

und Astronomie spielten, waren schon<br />

am Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts überstrahlt, einerseits<br />

von <strong>der</strong> Algebraisierung und Formalisierung<br />

<strong>der</strong> wissenschaftlichen <strong>Mathematik</strong>, an<strong>der</strong>seits<br />

von Elektrodynamik, Energieerhaltungssatz<br />

und aufkommen<strong>der</strong> Mikro- und Makrophysik.<br />

Hinzu kommt: „Die Wirklichkeit <strong>der</strong> mathematischen<br />

Forschung ist ein Wechselspiel zwischen<br />

Stoff und Methode.“ 69 Und Methode zu erwerben,<br />

kostet in jedem Gebiet Zeit, Kraft und<br />

Durchhaltewillen. Es war von vornherein eine<br />

Überfor<strong>der</strong>ung gerade <strong>der</strong> jüngeren Lehrer, sich<br />

statt den mo<strong>der</strong>nen Hauptfragen hinreichend elementaren,<br />

aber exemplarischen Problemen und<br />

methodischen Ansätzen zu widmen, die einstmals<br />

zur Definition <strong>der</strong> Ableitung o<strong>der</strong> gar des Integrals<br />

geführt und dann Bedeutung durch Leistungsfähigkeit<br />

bei „einstmals spannenden“ (Toeplitz) Fragen<br />

gezeigt hatten. 70<br />

Es sollte auch nicht mehr lange dauern, bis die<br />

Naturwissenschaften sich soweit ausdifferenzierten,<br />

dass eine allgemeine Lehrbefähigung in <strong>Mathematik</strong><br />

und Naturwissenschaften sinnlos wurde.<br />

Hinzu kam dann, allmählich noch zunehmend, die<br />

Liberalisierung <strong>der</strong> zulässigen Fächerkombinationen,<br />

so dass heute kein Schulbuch und kein Lehrplan<br />

davon ausgehen kann, dass „<strong>der</strong> Oberstufen-<br />

<strong>Mathematik</strong>er“ etwas Sinnvolles über bestimmte<br />

ursprüngliche o<strong>der</strong> auch nur außermathematische<br />

Erkenntnisinteressen weiß und lehren kann. Damit<br />

ist die öffentliche Wertschätzung <strong>der</strong> Analysis,<br />

die sie ihren unübersehbaren Erfolgen in <strong>der</strong><br />

Mechanik/Astronomie des 18. und 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

verdankte 71 und – mit vagem Technikbezug<br />

– noch verdankt, heutigen Schülern nur noch ausnahmsweise<br />

zugänglich. Ein eklektisches Anwendungspotpourri<br />

aus abstrakteren Physikgebieten,<br />

Sportmechanik, Chemie, Biologie o<strong>der</strong> Medizin<br />

kann das nicht ersetzen, und typische qualitative<br />

Modellbildungsansätze, etwa aus den Wirtschaftswissenschaften,<br />

aus <strong>der</strong> Stochastik o<strong>der</strong> aus dem<br />

Steuerrecht, rechtfertigen jedenfalls die schulorganisatorisch<br />

zwingend bevorzugten Rechentechniken<br />

nicht. (Vgl. die EPA-Tabelle oben.)<br />

These 6. Konstitutiver Anwendungsbezug schulischer<br />

Einführung in die Analysis stand von<br />

vornherein im Wi<strong>der</strong>spruch zu Anschaulichkeitsund<br />

psychogenetischen Postulaten. Anwendungsorientierung<br />

als Charakteristikum des Analysisunterricht<br />

hätte Schüler und Lehrer überfor<strong>der</strong>t,<br />

und würde sie heute oft noch mehr überfor<strong>der</strong>n.<br />

Wo charakteristische Anwendungsmotive <strong>der</strong> unterrichtbaren<br />

Ideen und Modellierungsmethoden<br />

fehlen, ist die wichtigste Stütze <strong>der</strong> gesamtkulturellen,<br />

allgemeinbildenden Begründung des Analysisunterrichts<br />

zerbrochen.<br />

Es gibt zudem eine lang anhaltende Grundsatzdiskussion<br />

über die Realitätsnähe, die dem<br />

Schulunterricht mit erträglichem Zusatzaufwand<br />

überhaupt erreichbar ist. Diese teilweise recht<br />

skeptisch geführte Debatte nachzuzeichnen, würde<br />

hier auf allzu ausgedehnte Nebengeleise führen.<br />

Ich verweise auf die bekannten ISTRON-<br />

Bände sowie auf [Blum & Toerner, 1983] und<br />

[Tietze et al., 1997]. Die These 6 dürfte auch<br />

schon aus dem Vorstehenden einleuchten.<br />

Funktionales Denken<br />

Im Abschnitt 1.2 habe ich schon dargelegt, dass<br />

und warum sich (möglicherweise) die Konnotationen<br />

des Schlagworts „funktionales Denken“<br />

rasch nach 1905 und dann mehr noch ab 1925<br />

auf Funktionen als Objekte des Kalküls verengten.<br />

Im [Klein, 1907] lässt sich diese Verengung<br />

schon beobachten – 1907, als <strong>der</strong> Mohr seine politische<br />

Schuldigkeit getan hatte und sich nun in<br />

allerlei Schulalltagen bewähren sollte. 72 Das Methodische<br />

verschwand, was blieb und sich bis heute<br />

zunehmend auswirkte, war die Konzentration<br />

des gesamten gymnasialen <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />

auf den Funktionsbegriff zwecks allmählicher Anfreundung<br />

mit Analysis und Analytischer Geometrie.<br />

Diese Wendung des Konzentrationsgedankens<br />

auf das Materiale, den Vermittlungsstoff, hat <strong>der</strong><br />

Schulpraktiker Götting schon 1902/1904 <strong>für</strong> den<br />

bestehenden Unterricht an Höheren Schulen als<br />

beson<strong>der</strong>s nahe liegend beschrieben: „Charakteristisch<br />

<strong>für</strong> die Elementarmathematik ist ja die<br />

69 [Toeplitz, 1929, S. 4]<br />

70 Die weittragende methodische Lehre aus dem aus dem Kepler-Beispiel von Toeplitz (s. Abb. 17.5) dürften heute zu wenige Lehrer<br />

auf Anhieb erkennen. Zu viele empfehlen immer noch die blinde Methode Eff-zwei-Strich zur „exakten“ Extremwertbestimmung als<br />

Standard. Vermutlich missriete spätestens morgen Toeplitz’ Musterbeispiel ohnehin dank einiger Schulbuch- o<strong>der</strong> Lehrplanschreiber<br />

rasch zur belanglosen Kompetenz-Trainingsaufgabe.<br />

71 „Ich fasse also kurz zusammen: eine gründliche und fruchtbare Behandlung des Funktionsbegriffs sowie <strong>der</strong> Grundbegriffe <strong>der</strong><br />

Mechanik involviert ganz naturgemäß die Hereinnahme <strong>der</strong> elementaren Infinitesimalrechnung in den Unterricht <strong>der</strong> höheren Schulen.“<br />

[Klein, 1907, S. 113].<br />

72 Genaueres in [Krüger, 2000].<br />

120


Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />

Abbildung 17.5: Problem- und anwendungsorientierte Nachentdeckung <strong>der</strong> Stationarität nahe Extrema. Aus<br />

[Toeplitz, ! 1972, S. 78 f]<br />

Starrheit und Unverän<strong>der</strong>lichkeit ihrer Gebilde.<br />

Für den Anfangsunterricht ist das wertvoll. Aber<br />

niemand behält sie im weiteren Unterricht bei.<br />

Man führt geometrische Beweise durch Bewegung,<br />

und wenn man aus <strong>der</strong> stetigen Verän<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Figuren neue geometrische Sätze und tieferen<br />

Einblick in ihren Zusammenhang gewinnt, so erkennt<br />

man darin den Einfluss <strong>der</strong> neueren Geometrie.<br />

73 Verän<strong>der</strong>liche Größen und ‚Funktionen’<br />

werden o<strong>der</strong> sollten wenigstens schon früh in <strong>der</strong><br />

Arithmetik wie in <strong>der</strong> Geometrie benutzt werden,<br />

die Trigonometrie nötigt zu ihrer Verwendung im<br />

Unterricht. . . Grenzwerte bildet man auch in <strong>der</strong><br />

Stereometrie, bei den Reihen und in <strong>der</strong> Lehre<br />

vom Maximum und Minimum. Dass man hier Differentialquotienten<br />

von Funktionen bildet, ebenso<br />

wie man bei <strong>der</strong> Berechnung <strong>der</strong> Volumina,<br />

Schwerpunkte [Mittelwerte; L. Fü.] und Trägheitsmomente<br />

[Varianzen] durch Reihensummierung<br />

Integrationen ausführt, vermeidet man zu sagen.<br />

Man führt alle die Grenzübergänge und Reihensummierungen<br />

bei jedem Beispiel von neuem<br />

durch und scheut sich, die allgemeine Methode<br />

herauszuarbeiten. Durch Umgehung des Funktionsbegriffs<br />

erschwert man sich die Arbeit noch.<br />

So bleibt alles <strong>für</strong> den Schüler schwer verständlich<br />

und noch schwerer anzuwenden. Das ganze<br />

Verfahren aber ist unmathematisch, eben weil es<br />

beim Speziellen verweilt und sich von <strong>der</strong> allgemeinen<br />

Methode abwendet; es wi<strong>der</strong>spricht dem<br />

Grundprinzip <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> wie je<strong>der</strong> Wissenschaft,<br />

dem Prinzip von <strong>der</strong> Ökonomie des Denkens.“<br />

74<br />

Die EPAs (und vermutlich auch die kommenden<br />

Bildungspläne) sprechen im längsten und deshalb<br />

wohl gewichtigsten Kasten 1.2.1 nicht mehr<br />

schillernd von „funktionalem Denken“, son<strong>der</strong>n<br />

ganz bescheiden von einer „Leitidee funktionaler<br />

Zusammenhang“. Abgesehen vom Appendix „Zufallsgrößen“<br />

75 , wird dort nur ein materialer Stoffplan<br />

aufgelistet, bei dem das Begriffliche auf das<br />

aufgabendidaktisch Notwendige abgespeckt ist,<br />

d. h. auf (Dirichlets) Funktions„begriff“, Än<strong>der</strong>ungsrate/Steigung<br />

und Aufleitung/Flächeninhalt.<br />

Methodische Reflexionen sind nicht verlangt, also<br />

wohl auch nicht vorgesehen – es sei denn, man<br />

unterschiebt sie den ausnahmsweise konstruktiven<br />

Modellierungen des dritten Punktes 1.2.3.<br />

These 7. Die heutige Rede von einer „Leitidee<br />

funktionaler Zusammenhang“ wird aus schulsystemischen<br />

Gründen (Lehrervorbildung, Zeitnot,<br />

Kompetenzorientierung) dann und nur dann mehr<br />

bieten als abprüfbare Kenntnisse und Fertigkeiten<br />

(z. B. Kurvenkonstruktion, eigenständiges Denken,<br />

Begriffs- und Methodenbewusstsein, außermathematische<br />

Vernetzung), wenn echte Modell-<br />

73 Mit „neuere Geometrie“ war bis in die Weimarer Zeit Geometrie <strong>der</strong> projektiven Verwandtschaften im Geiste Jakob Steiners gemeint<br />

[vgl. etwa Gallenkamp, 1877, S. 16], nicht Kleins Erlanger Programm, nicht Dinglers operatives Programm und auch nicht die<br />

spätere synthetische Abbildungsgeometrie Bachmanns.<br />

74 [Götting, 1902, S. 50 f]; vgl. auch [Klein, 1907, S. 34 ff] o<strong>der</strong> auch noch viel später: [Blum & Toerner, 1983], die <strong>für</strong> die „Ziele des<br />

Analysisunterrichts“ gerade noch 4 Seiten übrig haben. (S. 196-199. – Bei <strong>der</strong> verfänglichen Wortschöpfung „infinitesimales Denken“<br />

zeigte sich deutlich eine damals zeitgemäße Abneigung rein stoffdidaktisch-material orientierter Autoren gegen Rechtfertigungen von<br />

Bildungsfunktionen.)<br />

75 über <strong>der</strong>en epistemologischen Status als „funktionale Zusammenhänge“ man wohl streiten sollte . . .<br />

76 In dieser Stoßrichtung stimme ich vielen einschlägigen Äußerungen von [Fischer & Malle, 1985] zu.<br />

121


Lutz Führer, Frankfurt<br />

bildungszyklen zum Mittelpunkt des Analysisunterrichts<br />

werden. 76<br />

Vom Schüler aus?<br />

In <strong>der</strong> Pädagogik wird das 20. Jahrhun<strong>der</strong>t immer<br />

noch als „das Jahrhun<strong>der</strong>t des Kindes“ hochgehalten,<br />

als das Jahrhun<strong>der</strong>t, in dem das Rousseausche<br />

Entdeckenlassen „endlich“ schulpolitisch ernst<br />

genommen wurde: Schülerorientierung, nicht einfach<br />

kin<strong>der</strong>freundlich und ihrer Zukunft wohlwollend,<br />

son<strong>der</strong>n als Denken „vom Kinde aus“ 77 .<br />

Als um die Meraner Reformzeit, in <strong>der</strong> Sturmund-Drang-Phase<br />

<strong>der</strong> bürgerlichen Reformpädagogik<br />

vor dem Ersten Weltkrieg, die meisten<br />

<strong>der</strong> unterrichts- und fachmethodischen Ansätze<br />

aufkamen, die heute noch, wenn auch mit viel<br />

eindrucksvolleren Bezeichnungen, in trauter Gemeinsamkeit<br />

von Schulwissenschaft, -forschung,<br />

-aufsicht und -presse als methodische Heilmittel<br />

gegen alle vermeintlichen Schwächen des Schulsystems<br />

verordnet werden, waren sie Teil des<br />

gemeinsamen Protestes einer temperamentvollen<br />

Min<strong>der</strong>heit innerhalb des Schulsystems, die sich<br />

– bei allen Meinungsverschiedenheiten über den<br />

rechten Weg – gegen die Vereinnahmung <strong>der</strong><br />

Schulpraxis durch Obrigkeitsdenken, Militärgeist<br />

und Zulieferung <strong>für</strong> die Ökonomie wandte. Wie<br />

weit hat diese Strömung den Analysisunterricht<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts mitgeprägt?<br />

Ich habe mir bei <strong>der</strong> Beschreibung des Analysiskanons<br />

im Abschnitt 1.3 Mühe gegeben,<br />

ihm alle jene pädagogischen Rücksichten zuzuschreiben,<br />

wenigstens als didaktische Stachel<br />

im Fleisch <strong>der</strong> Schulmathematik, die ihn dauerhaft<br />

geprägt haben, und zwar von vornherein.<br />

Es waren und sind noch: A1 (Lebensweltbezug),<br />

A3 und A9 (Anschaulichkeit), A4 (Anwendungsbezug),<br />

A6 (Lebendigkeit: Anwendungsbezug –<br />

Anschaulichkeit – Experimente), A7 (Behutsamkeit<br />

bzgl. <strong>der</strong> Grenzwerte: Zum Grenzwert hin!),<br />

A8 (Stoffbeschränkung gegen Überbürdungsgefahren).<br />

Bei je<strong>der</strong> dieser pädagogischen Rücksichtnahmen<br />

fehlte es aber auch nie an expliziten<br />

Grenzziehungen: Lebensweltbezug, Anschaulichkeit,<br />

Lebendigkeit und Stoffbeschränkung ja,<br />

aber nicht „auf Kosten <strong>der</strong> Strenge“, immer in<br />

spezifischer Art „gründlich“ und nie ohne aus-<br />

drückliche Hinweise auf konzidierte Ungenauigkeiten<br />

o<strong>der</strong> Lücken. . . Der Analysisunterricht<br />

wurde eben nicht vom Kinde her o<strong>der</strong> im Interesse<br />

<strong>der</strong> Schülerzukunft gedacht, propagiert und<br />

durchgesetzt, son<strong>der</strong>n vom Gelehrtenstand, dem<br />

es mit viel Überzeugungsarbeit gelang, die eigenen<br />

Interessen mit denen <strong>der</strong> Staatsbürokratie und<br />

des aufstrebenden Wirtschaftsbürgertums zu vereinen.<br />

Dass es sich um elitäre Interessen handelte,<br />

habe ich schon ausführlich begründet, und auch<br />

die Statistik in Abb. 17.6 belegt es. 78<br />

!<br />

Abbildung 17.6: Relativer Schulbesuch <strong>der</strong> Schuljahrgänge<br />

11 bis 13 auf höheren Schulen im Deutschen<br />

Reich und in <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

Insofern <strong>der</strong> Analysisunterricht von vornherein<br />

auf universell-universitäre Bildungsbereitschaft<br />

und Urteilsfähigkeit <strong>für</strong> Lenkungsaufgaben<br />

einer künftigen Staats-, Wirtschafts- und Wissenschaftselite<br />

zielte, war die inhärente Schwierigkeit<br />

<strong>der</strong> Materie Infinitesimalrechnung nicht nur<br />

Hin<strong>der</strong>nis in den Durchsetzungskämpfen, son<strong>der</strong>n<br />

auch standesbewusster Mo<strong>der</strong>nitätsausweis. Die<br />

Schwierigkeit <strong>der</strong> Materie „höhere“ Analysis 79 ,<br />

die in ihrer absichtlichen Universalität, begrifflichen<br />

und logischen Raffinesse, Komplexität und<br />

abstrahieren<strong>der</strong> Allgemeinheit lag und liegt, belastet<br />

den Unterricht von vornherein mit erheblichen<br />

Motivations-, Konzentrations- und Verständigungsanfor<strong>der</strong>ungen,<br />

die im Unterricht wie<strong>der</strong>um<br />

zu Vermittlungszwängen und Zeitproblemen<br />

führen – noch verstärkt, wie Toeplitz dargelegt<br />

hatte, von <strong>der</strong> schulmethodisch unvermeidlichen<br />

77 „Obgleich die Formel „vom Kinde aus“ schon 1902 in Rilkes begeisterter Besprechung von Ellen Keys berühmt gewordenem<br />

Buch ‚Das Jahrhun<strong>der</strong>t des Kindes’ Verwendung findet, gelangt sie erst im Umkreis <strong>der</strong> reformpädagogisch aufgeschlossenen Hamburger<br />

Lehrerbewegung zu Bekanntheit. Wie Edgar Weiss im ‚Archiv <strong>für</strong> Reformpädagogik’ 1998 berichtet, entsteht die Wendung<br />

1908, also vor genau einhun<strong>der</strong>t Jahren, in einem Omnibus während <strong>der</strong> Fahrt zur Gründung des Bundes <strong>für</strong> Schulreform, ehe sie von<br />

Heinrich Wolgast als Sammelbezeichnung <strong>für</strong> die For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Bewegung benutzt wird.“ [Wehner, <strong>2009</strong>, S. 2] – Dabei ist vielleicht<br />

hinsichtlich <strong>der</strong> gesellschaftlichen Rolle <strong>der</strong> deutschen Reformpädagogik bemerkenswert, dass Ellen Key und Rilke wie später<br />

Geheeb und seine Odenwaldschule über Eva Solmitz/Cassirer bzw. Edith Cassirer zum Freundes- und Gönnerkreis <strong>der</strong> Bankiersfamilie<br />

Cassirer gehörten.<br />

78 Aus [Lundgreen, 1980/1981, S. 119]. [Inhetveen, 1976, S. 153] gibt eine noch eindrucksvollere, aber nur unsicher interpretierbare<br />

Tabelle aus dem amtlichen Statistischen Jahrbuch von 1915 wie<strong>der</strong>.<br />

79 Das Adjektiv wurde vor hun<strong>der</strong>t Jahren gebraucht, um die Infinitesimalrechnung – je nach Kontext – von <strong>der</strong> Algebraischen<br />

Analysis im Umfeld <strong>der</strong> Binomischen Reihe o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Analysis bei den Konstruktionsaufgaben abzuheben. Ganz unabhängig sind<br />

diese Namensvettern natürlich nicht: Bei Winter [1989, Abschnitt 6.1] findet sich eine, sehr im Gegensatz zur Originalquelle, leicht<br />

fassliche Darstellung <strong>der</strong> Beziehungen zwischen <strong>der</strong> letzteren und Vietas systematischem Ausbau <strong>der</strong> Buchstabenrechnung.<br />

122


Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />

Zersplitterung und Sequenzierung aller komplexeren<br />

Inhalte. Dies zwang und zwingt offenbar<br />

zu fachkundiger Vermittlung im gelenkten Unterrichtsgespäch<br />

o<strong>der</strong> Lehrervortrag. Die notorischen<br />

Zeit-, Sprach- und Orientierungsprobleme<br />

bei „weicheren“, schülerzentrierten Unterrichtsformen<br />

scheinen <strong>für</strong> den Analysisunterricht im<br />

Wesentlichen nur die unterrichtsmethodische Abfe<strong>der</strong>ung<br />

durch Beispiele, Aufgaben und Routineprobleme<br />

zu erlauben, ausnahmsweise vielleicht<br />

auch durch Projekte o<strong>der</strong> wenigstens projektorientierten<br />

Unterricht. Also das, was Lenné<br />

in seiner scharfen Analyse vermeintlich endgültig<br />

als „Aufgabendidaktik <strong>der</strong> Traditionellen <strong>Mathematik</strong>“<br />

disqualifiziert hat. 80 We<strong>der</strong> Gaudig, noch<br />

sein <strong>Mathematik</strong>us Scheibner, noch Kerschensteiner,<br />

noch die Wettbewerbssieger von 1930 81 , noch<br />

Wagenscheins Sokratik, Winters und Wittmanns<br />

Entdeckungslernen o<strong>der</strong> die heutigen Bestsellerautoren<br />

mathematischer Unterrichtsmethodiken 82<br />

haben dem aufgabenzentrierten Vermittlungsunterricht<br />

<strong>der</strong> Schulanalysis etwas anhaben können.<br />

Die traditionelle Konzession des gymnasialen <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />

an die Reformpädagogik war<br />

in <strong>der</strong> Zeit vor und nach dem Dritten Reich lediglich<br />

marktgerechte Verpackung, man sprach modebewusst<br />

von „Arbeitsunterricht“ und begriff sie<br />

in höchst eklektischer Anlehnung an Kerschensteiners<br />

Arbeitstugenden. Sachlich und in <strong>der</strong> didaktischen<br />

Intention blieb es bei <strong>der</strong> Lennéschen<br />

Aufgabendidaktik im Rahmen frontaler Belehrung.<br />

Die heutige „Sicherstellung des Kompetenzoutputs“<br />

ist da<strong>für</strong> nur ein sprachverhunzen<strong>der</strong>,<br />

aber politisch korrekter Euphemismus.<br />

„Es bleibt mir ein Rätsel – und ist mir noch nie<br />

durch langfristige stabile Lernerfolge belegt untergekommen<br />

–, wie ‚gewöhnliche’ Lernende ohne<br />

massive Intervention durch Lehrende (sowohl<br />

direkt persönlich, als auch indirekt durch Bücher,<br />

Internet o.ä.) ein solches Gebiet wie die Gaußschen<br />

Flächenformeln o<strong>der</strong> gar die Integralrechnung<br />

in sogenannten konstruktivistischen Lernumgebungen<br />

sich selbstständig erarbeiten können<br />

sollen.“ 83<br />

These 8. Analysisunterricht ist aus schulsystemischen<br />

und lernpsychologischen Gründen weitgehend<br />

an Aufgabendidaktik im Ordnungsrahmen<br />

von Frontalunterricht gekettet. Das mag heute<br />

mit mancherlei Gründen bedauert werden 84 ,<br />

aber Analysisunterricht kann nicht beliebig kin<strong>der</strong>freundlich<br />

„radikal konstruktiviert“ werden,<br />

weil er seine Legitimation und seinen gesellschaftlichen<br />

Sinn vorgefundener Wissenschaftsbedeutung<br />

und ständischer Hochschulbildung verdankt,<br />

und eben nicht naiv zugänglichen Reflexionen auf<br />

Naturphänomene, sei es auch im geistreichsten<br />

Stile Wagenscheins.<br />

Für welche Schüler?<br />

Die aus wirtschaftlichen, technischen und demokratischen<br />

Motiven gewünschte Verbreiterung <strong>der</strong><br />

Bildungsbeteiligung im Laufe des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

hat die elitären Begründungen <strong>für</strong> Analysisunterricht<br />

weitgehend in die Feiertagsdidaktik abschieben<br />

müssen (Abb. 17.7).<br />

Da keine substanziell neuen Begründungen<br />

gefunden wurden, hätte das eigentlich zur Revision<br />

<strong>der</strong> Bildungsziele <strong>für</strong> die Höheren Schulen<br />

führen müssen. In den Jahren des Wie<strong>der</strong>aufbaus<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg gab es<br />

aber dringen<strong>der</strong>e Probleme. Als die Neubesinnung<br />

dann in <strong>der</strong> wirtschaftlichen Hochkonjunktur<br />

<strong>der</strong> 60er Jahre einsetzte, entstanden in rascher<br />

Folge ebenso tiefgreifende wie wissenschaftseuphorische<br />

Schulreformen, die vorübergehend zur<br />

bewussten Anpassung <strong>der</strong> Oberstufenanalysis an<br />

universitäre Anfängervorlesungen führte. 86 Dieser<br />

Gesichtspunkt ist heute nur noch Geschich-<br />

80 [Lenné, 1969] – An<strong>der</strong>s als seine heute fortschrittlichsten Bewun<strong>der</strong>er hatte Hugo Gaudig, Prophet des methodenzentrierten Arbeitsunterrichts,<br />

gar kein Problem mit <strong>der</strong> mathematischen Aufgabendidaktik. Zum Beispiel eines 2-2-Gleichungssystems schrieb er:<br />

„Die <strong>Mathematik</strong>, die ‚beneidenswerte’ Disziplin <strong>der</strong> Aufgaben, zeigt uns an ihrem Verfahren, was es heißt, wenn das Denken Willensakt<br />

ist... In <strong>der</strong> neuen Aufgabe wird dem Schüler ein scharf bestimmtes Ziel seines Wollens gesteckt. Das Ziel erregt seine geistige<br />

Energie. Es folgt die Prüfung <strong>der</strong> Lösungswege und die Wahl <strong>der</strong> Subtraktionsmethode. In schneller Rechenarbeit wird das Ergebnis<br />

... gewonnen. Ein Blick zeigt die Richtigkeit <strong>der</strong> Arbeit. – Diese Tätigkeit wird begleitet von einem lebendigen Spiel <strong>der</strong> Gefühle: ...“<br />

[Gaudig, 1922, S. 5]<br />

81 [Lietzmann, 1931]. Der Sieger-Aufsatz von Gurski ist in [Siemon, 1980] wie<strong>der</strong>abgedruckt. – Scheibners Abgrenzung des „freitätigen<br />

Arbeitsunterrichts“ [Scheibner, 1980], Auszug aus [Scheibner, 1928], schließt ihn praktisch <strong>für</strong> den Analysisunterricht aus.<br />

82 Durchweg traditionelle Aufgabenbeispiele mit Bezug zum Analysisunterricht fand ich auf den Seiten 74, 93, 117, 132, 137, 161,<br />

171, 185, 213 und 235 von [Barzel et al., 2007]. Diese Beispiele <strong>für</strong> Unterrichtsmethoden richten sich – natürlich – nicht gegen<br />

die aufgabendidaktische Parzellierung <strong>der</strong> Inhalte. Inwiefern am Ende die ebenso löblichen wie optionalen Absichten in den Kästen<br />

von S. 246-253 wirklich zu „Schülertätigkeiten“ werden könnten, steht sehr dahin. In <strong>der</strong> Schulpraxis dürfte es sich um nützlichen<br />

Vokabelvorrat <strong>für</strong> Lehrprobenüberbauten handeln.<br />

83 [Ben<strong>der</strong>, 2010, S. 55]. Natürlich können geschickte Lehrer viel direktive Belehrung in Aufgaben, Experimentieraufträge o<strong>der</strong><br />

auch „Lernumgebungen“ wie Freiarbeit, Wochenplan u.ä. verpacken. Ob das mündig werdende Oberstufenschüler nicht durchschauen<br />

(sollten)? [Vgl. Führer, 1997, Kap. 4]<br />

84 Das Standardwerk [Tietze et al., 1997, Abschnitt 236-240] bringt zum Thema „Schüler im Analysisunterricht“ kaum mehr als<br />

Lernschwierigkeiten und Fehleranalyse. Tiefer geht Andelfinger [1991]. Seine Einschätzung <strong>der</strong> Schülerperspektiven deckt auch meine<br />

noch folgenden Thesen 9-10.<br />

85 Tabelle nach [Geißler, 2006, S. 38]. Die neueren PISA- o<strong>der</strong> auch die Studentenwerk-Daten (s. z. B. 2. Deutscher Bildungsbericht)<br />

sind tendenziell nicht an<strong>der</strong>s, aber deutlich gröber klassifiziert. – Honi soit qui mal y pense!<br />

86 Details zu dieser Entwicklung in [Führer, 1997, Abschnitt 6.1.]<br />

123


Lutz Führer, Frankfurt<br />

!<br />

Abbildung 17.7: Relativer Schulbesuch <strong>der</strong> 13- bzw. 14jährigen nach Schularten 1952–1991 – BRD bzw.<br />

alte Bundeslän<strong>der</strong>. Datenquelle: Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 1991 sowie Fachserie 11,<br />

Reihe 1, Allgemeinbildende Schulen 1991 und frühere Jahre. Zit. nach [Arbeitsgruppe Bildungsbericht am<br />

Max-Planck-Institut <strong>für</strong> Bildungsforschung, 1997, S. 201].<br />

Schicht <strong>der</strong> Bezugsperson Son<strong>der</strong>schule Hauptschule Realschule IGS Gymnasium<br />

Obere Dienstklasse (1,6) 13 29 4 52<br />

Untere Dienstklasse (0,3) 14 32 9 45<br />

Selbstständige (bis 9 Mitarbeiter) (0,8) 29 35 8 28<br />

Routinedienstleistungen (4) 28 32 12 24<br />

Facharbeiter (3) 34 37 10 16<br />

Un-/angelernte Arbeiter (7) 41 30 12 11<br />

( ) kleine Fallzahlen<br />

Obere Dienstklasse: führende Angestellte, höhere Beamte, freie akademische Berufe, Selbstständige ab 10 Mitarbeiter<br />

Untere Dienstklasse: mittlere und gehobene Angestellte und Beamte<br />

Abbildung 17.8: Schulbesuch von 15-jährigen im Jahr 2000 (in Prozent) 85<br />

te und braucht uns hier nicht mehr zu interessieren.<br />

Im Zuge dieser Reformstimmung spielte<br />

jedoch die Parole „Ausschöpfung <strong>der</strong> Bildungsreserven“<br />

eine in <strong>der</strong> „Westlichen Welt“ <strong>der</strong> Industriestaaten<br />

zugleich konjunkturell erwünschte<br />

und sozial-emanzipatorische Hauptrolle. In den<br />

Schulreformen schlug sie sich im beinahe unabdingbaren<br />

Gebot <strong>der</strong> „horizontalen Durchlässigkeit“<br />

nie<strong>der</strong>. Damit entstand ein starker Druck (zusätzlich<br />

zu standespolitischen Wünschen <strong>der</strong> Pädagogischen<br />

Hochschulen), die Volksschuldidaktik<br />

abzuschaffen und durch schultypspezifisch verdünnte,<br />

nun aber „wissenschaftliche“ (:= univer-<br />

sitäre) Gymnasialdidaktik zu ersetzen. 87 In den<br />

KMK-Empfehlungen von 1968 (Abb. 17.9) wurde<br />

horizontale Durchlässigkeit implizit zum Programm,<br />

und abgesehen von den damals modischen<br />

strukturmathematischen Themen schlug es<br />

seitdem auf alle Lehrpläne durch, auch – natürlich<br />

weiter ausgedünnt – auf den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

<strong>der</strong> Hauptschulen bis herunter zum Bürgerlichen<br />

Rechnen.<br />

Damerow [1977] hat sich ausführlich mit den<br />

„Empfehlungen und Richtlinien <strong>der</strong> KMK zur<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung des <strong>Mathematik</strong>unterrichts“ von<br />

1968 auseinan<strong>der</strong> gesetzt. Die Integration <strong>der</strong><br />

87 Das Realschulwesen war ohnehin bei seiner erfolgreichen Traditionslinie geblieben, die handwerklich-technisch-kaufmännische<br />

Fertigkeitsorientierung eklektisch aus Real(ien)zielen <strong>der</strong> Höheren Schulen zusammenzustellen. (Vgl. etwa [Arbeitsgruppe Bildungsbericht<br />

am Max-Planck-Institut <strong>für</strong> Bildungsforschung, 1997, Kap. 10], sowie [Damerow, 1977, Kap. 2.6])<br />

124


Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />

Schullehrpläne <strong>für</strong> <strong>Mathematik</strong> habe damals als<br />

relativ unproblematisch gegolten: Bei den Stoffplänen<br />

bis Klasse 6 hätten zwischen den Schultypen<br />

ohnehin kaum Unterschiede bestanden, <strong>für</strong><br />

Realschulen und Gymnasien sogar bis einschließlich<br />

Klasse 10. „Mit dem Aufbau <strong>der</strong> Hauptschule<br />

[anstelle <strong>der</strong> alten Volksschule] wurde eine<br />

Entwicklung eingeleitet, durch die – zumindest<br />

in dem oberen Leistungskurs – <strong>der</strong> Stoffplan<br />

des <strong>Mathematik</strong>unterrichts <strong>der</strong> Hauptschule den<br />

Plänen von Realschule und Gymnasium weitgehend<br />

angeglichen wurde.“ 88 Das Ziel <strong>der</strong> „wissenschaftsorientierten<br />

Mo<strong>der</strong>nisierung des <strong>Mathematik</strong>unterrichts“<br />

(einschließlich <strong>der</strong> gehobenen akademischen<br />

Lehrerausbildung) habe aus Sicht <strong>der</strong><br />

KMK ohnehin als „Reformziel <strong>für</strong> alle Schularten“<br />

gegolten. Es war ja – wir erinnern uns – vom<br />

ökonomischen Ziel <strong>der</strong> „Ausschöpfung aller Bildungsreserven“<br />

getragen. Zudem gab es heftige<br />

Kämpfe um die Einführung von Gesamtschulen,<br />

um die „horizontale Durchlässigkeit des Schulsystems“<br />

aus sozialen Gründen zu erleichtern. Anhänger<br />

und Gegner des dreigliedrigen Schulsystems<br />

konnten sich so im Schlagwort von <strong>der</strong> anstehenden<br />

„Mo<strong>der</strong>nisierung durch Wissenschaftsorientierung“<br />

einigen. Für <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

und <strong>Mathematik</strong>didaktik erzeugte das geradezu<br />

kampflos ein bis heute gültiges Moratorium: „Auf<br />

Abbildung 17.9: Aus: KMK [1968]<br />

dieser Grundlage stellte sich die Integration <strong>der</strong><br />

Lehrpläne <strong>für</strong> die KMK vor allem als die Frage,<br />

welche Unterrichtsstoffe des Gymnasiums <strong>für</strong> die<br />

Realschule und <strong>für</strong> die Hauptschule nicht verbindlich<br />

sein sollten.“<br />

Dass die Parole von <strong>der</strong> horizontalen Durchlässigkeit<br />

unseres Schulsystems die Ausrichtung<br />

<strong>der</strong> Mittelstufenmathematik auf späteren Analysisunterricht<br />

in <strong>der</strong> Sekundarstufe II nicht ernsthaft<br />

rechtfertigt, zeigt die Grafik in Abb. 17.10.<br />

Sie überschätzt dabei die Übergangsquoten aus<br />

Haupt-, Real-, Gesamt- und Privatschulen in<br />

Gymnasien bzw. Gymnasialzweige, weil alle<br />

„Aufsteiger“ berücksichtigt sind.<br />

These 9. Funktionale Propädeutik des Analysisunterrichts<br />

wurde ausgerechnet in <strong>der</strong> Zeit, in <strong>der</strong><br />

er das elitäre Bildungsziel und damit seine nichtutilitären<br />

Begründungen verloren hatte, <strong>für</strong> den abstraktesten<br />

und damit unterrichtsmethodisch heikelsten<br />

Algebra-Teil des Mittelstufenprogramms<br />

aller Schultypen bestimmend. Dass manche Inhalte<br />

dieses Unterrichts fachlich nur als Analysispropädeutik<br />

gerechtfertigt sind, muss angesichts <strong>der</strong><br />

geringen Aufsteigerquoten in die gymnasiale Sek.<br />

II ungerecht, demotivierend und als notenrelevantes<br />

Wissenschaftsgehabe sozial destruktiv wirken.<br />

88 Dieses und das nächste Zitat aus [Damerow, 1977, S. 236 bzw. S. 238]. – Zum Begründungsverlust beim „Auskämmen“ <strong>der</strong> Gymnasialpläne<br />

<strong>für</strong> die Lehrpläne <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Schultypen vgl. auch [Damerow, 1977, S. 324], [Schupp, 1972] und [Buckschat, 1975].<br />

!<br />

125


Lutz Führer, Frankfurt<br />

Tab. 15<br />

15-Jährige, die innerhalb <strong>der</strong> Sekundarstufe I<br />

die Schulform gewechselt haben in % (2000)<br />

Kein<br />

Anteil <strong>der</strong><br />

Aufstiege an<br />

allen<br />

Wechsel Aufstieg Abstieg Wechseln<br />

Baden-Württemberg 90,2 2,9 6,9 29,6<br />

Hessen 79,6 5,2 15,3 25,4<br />

Nie<strong>der</strong>sachsen 89,2 1,1 9,8 10,1<br />

Nordrhein-Westfalen 86,2 1,6 12,1 11,7<br />

Rheinland-Pfalz 86,8 2,2 11,0 16,7<br />

Saarland 82,6 3,9 13,5 22,4<br />

Schleswig-Holstein 81,0 1,3 17,7 6,8<br />

Brandenburg 83,1 10,1 6,8 59,8<br />

Mecklenburg-Vorpommern 80,7 3,9 15,4 20,2<br />

Sachsen 85,6 5,2 9,2 36,1<br />

Sachsen-Anhalt 83,0 3,8 13,2 22,4<br />

Thüringen 81,4 5,1 13,6 27,3<br />

Deutschland 85,6 3,2 11,2 22,2<br />

Deutschland ohne Bayern, Berlin und Hamburg<br />

Baumert/Trautwein/Artelt 2003, S. 310 und eig. Berechnungen<br />

Abbildung 17.10: Aus [Bellenberg et al., 2004,<br />

S. 81]<br />

Von großem Interesse ist die Relation zwischen Aufstiegs- und<br />

Abstiegswahrscheinlichkeit. Sie gibt Auskunft darüber, wie viele Aufsteiger auf einen<br />

Absteiger kommen. Allerdings ist die Aussagekraft <strong>der</strong> Aufstiegs-Abstiegs-Relation<br />

Warum noch Analysisunterricht des 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts?<br />

begrenzt bzw. von an<strong>der</strong>en Faktoren abhängig. Die Basiswahrscheinlichkeiten des<br />

Schulerfolgs sind vom jeweiligen relativen Schulbesuch abhängig; ein Beispiel: Wenn<br />

ohnehin nur wenige, tendenziell beson<strong>der</strong>s leistungsstarke Schüler zum Gymnasium<br />

zugelassen werden, könnte die Rückläuferquote geringer sein als wenn viele,<br />

durchschnittlich nicht ganz so leistungsstarke Schüler diese Chance erhalten.<br />

Dadurch ist sowohl <strong>der</strong> Vergleich zwischen den Bundeslän<strong>der</strong>n als auch die<br />

Entwicklung innerhalb <strong>der</strong> Bundeslän<strong>der</strong> in Verbindung mit dem relativen<br />

Schulbesuch zu beurteilen.<br />

Die innerdeutsche PISA-Studie unterscheidet die Rückläuferquoten auch nach<br />

<br />

den Schulformen Gymnasium, Realschule und Gesamtschule hin zu Realschulen,<br />

Gesamtschulen und Hauptschulen erfasst. Wechsel zur Son<strong>der</strong>schule sind nicht<br />

berücksichtigt. Berücksichtigt sind Schülerinnen und Schüler, die im Laufe ihres<br />

Sekundarschulbesuchs auf die Realschule, Gesamtschule bzw. die Hauptschule<br />

!<br />

81<br />

Abbildung 17.11: Bildungsbarrieren: Fünf<br />

Schwellen <strong>der</strong> Bildungsbeteiligung <strong>2008</strong> 89<br />

These 10. Die wirksamste Funktion des heutigen<br />

Analysisunterrichts ist die einer etablierten<br />

Pflichthürde im ständisch gewachsenen Prüfungs-,<br />

Berechtigungs- und (Dis-) Qualifizierungswesens<br />

des Höheren Schulwesens. Soweit<br />

die übrigen Begründungen <strong>für</strong> Analysispflicht im<br />

Oberstufenunterricht während des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

verblasst sind, gilt: Analysisunterricht ist<br />

und bleibt Pflicht, weil es ihn gibt.<br />

3 Ein realistischer Ausweg <strong>für</strong> die<br />

Informationsgesellschaft?<br />

„Würde <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>der</strong> höheren<br />

Schulen sich auf die Elementarmathematik<br />

in dem eingangs erwähnten Sinne beschränken,<br />

dann ginge dieser Unterricht gerade<br />

an denjenigen Schöpfungen, Denkmitteln<br />

und Arbeitsmethoden vorüber, die <strong>für</strong><br />

die Neuzeit beson<strong>der</strong>s charakteristisch und<br />

ihr ureigenstes Produkt sind, und ohne die z.<br />

89 [Bundesministerium <strong>für</strong> Forschung und Wissenschaft, 2010, S. 88]<br />

126<br />

B. das heutige astronomische Weltbild in seiner<br />

feineren Ausgestaltung und die geistige<br />

und technische Naturbeherrschung von heute<br />

überhaupt nicht denkbar wären. Soll also<br />

<strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht an unseren höheren<br />

Schulen nicht nur eine Art geistiger<br />

Gymnastik sein, son<strong>der</strong>n soll er auch den<br />

Schülern einen klaren Einblick in das Wesen<br />

<strong>der</strong> heutigen Kulturbedeutung <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />

vermitteln, so kann er die wichtigste<br />

mathematische Schöpfung <strong>der</strong> Neuzeit,<br />

die Differential- und Integralrechnung nicht<br />

gänzlich beiseite lassen, son<strong>der</strong>n muss den<br />

Schüler wenigstens in ihre Anfangsgründe<br />

einführen.<br />

Noch ein zweiter Gesichtspunkt nötigt zu <strong>der</strong>selben<br />

Folgerung. Die Erfahrung lehrt, dass<br />

die große Mehrzahl <strong>der</strong> Schüler auch in reiferem<br />

Alter abstrakt logischen Betrachtungen<br />

nur schwer zugänglich ist. Wohl aber nehmen<br />

sie mit stärkstem Interesse alle Stoffe auf,<br />

bei denen sie von vornherein wissen, dass<br />

sie von hoher praktischer Bedeutung sind,<br />

dass man damit etwas anfangen kann, insbeson<strong>der</strong>e<br />

dann, wenn sie wissen, dass sie in<br />

den Stoff so weit eingeführt werden können,<br />

dass sie selbst etwas damit anfangen können.<br />

Deshalb ist zum mindesten <strong>der</strong> sicherste, bei<br />

vielen Schülern zweifellos sogar <strong>der</strong> einzige<br />

Weg, ihnen die <strong>Mathematik</strong> mit Erfolg nahe<br />

zu bringen, <strong>der</strong>, dass sie ihnen von <strong>der</strong> Seite<br />

<strong>der</strong> Anwendungen her dargeboten wird.“<br />

G. Lony [1929, S. 18f.]<br />

(Hervorhebungen vom Autor)<br />

„Einzelne Regeln ohne den Geist <strong>der</strong> Erziehung<br />

sind ein Wörterbuch ohne Sprachlehre<br />

. . .<br />

Wie viel besser wäre hier ein Lückenmacher<br />

als ein Lückenbüßer.“<br />

J. Paul, Vorwort von 1806<br />

[zit. n. Paul, 1909, S. 25 u. 27]<br />

3.1 Randbedingungen des heutigen<br />

Begründungsproblems<br />

Im vorigen Kapitel habe ich zum traditionellen<br />

Analysisunterricht je zehn methodische Akzente<br />

(A) und allgemeindidaktische Problembereiche<br />

mit gewissen Thesen (P&T) erörtert. In<br />

Abb. 17.12 gebe ich noch einmal eine Übersicht<br />

mit Stichworten in <strong>der</strong> Reihenfolge ihrer Abhandlung<br />

(dabei dienen die Nummern nur dem bequemen<br />

Rückbezug).<br />

Bei den Aspekten A1, A4, A6, P&T2, P&T6<br />

und P&T9 zum Thema „Anwendungsbezug“


Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />

A: didaktisch-methodische Akzente P&T: Problembereiche und Thesen<br />

1. Lebensweltbezug als Motivation Kulturarbeit als elitäre Bildungsaufgabe<br />

2. langfristige Funktionspropädeutik mathematisch-naturwissenschaftlich<br />

geprägte Allgemeinbildung?<br />

3. Anschaulichkeit und Gründlichkeit,<br />

notfalls auf Kosten <strong>der</strong> Vollständigkeit<br />

allgemeine Studierfähigkeit<br />

4. Anwendungsbezug als Vertiefung und<br />

Motivation<br />

Fertigkeitsprimat – Kalküldominanz<br />

5. Geschichtliche Bedeutung „strenge“ Funktionen von Anschaulichkeit und<br />

Plausibilitätsbetrachtungen<br />

6. lebendiger Unterricht durch<br />

Anwendungsorientierung?<br />

Anwendung – Anschauung – Experiment<br />

7. Zum Grenzwert hin! Funktionen als Konzentrationsprinzip und Stoff<br />

8. Stoffbeschränkung Schülerorientierung?<br />

9. Anschaulichkeit versus Strenge Zielgruppen des Funktions- und<br />

Analysisunterrichts<br />

10. Verständnis vor Fertigkeiten! systemische Funktion des Analysisunterrichts<br />

Abbildung 17.12: Methodische Akzente und allgemeindidaktische Problembereiche mit Thesen<br />

schwingt natürlich immer auch die pädagogische,<br />

schulpraktische und schulpolitische Einsicht<br />

P&T8 mit, schwächeren Schülern den Zugang zur<br />

Analysis und Lehrern das Unterrichten erleichtern<br />

zu müssen. Gleiches gilt <strong>für</strong> die Aspekte A3, A6,<br />

A9, P&T5 und P&T9 insofern sie das Bemühen<br />

um „Anschaulichkeit“ betreffen. Und dieses Bemühen<br />

stützt sich ja auch gern auf Anwendungsbezüge.<br />

Kein Zweifel, dass diese beiden Gesichtspunkte<br />

<strong>für</strong> den heutigen und <strong>für</strong> jeden künftigen<br />

Analysisunterricht unverzichtbare Verbündete<br />

sind.<br />

Es gibt jedoch mindestens drei Vorbehalte:<br />

⊲ Zum einen ist Anwendungsbezug belanglos,<br />

wenn er nicht mit paradigmatischen Beispielen<br />

und Begriffsbildungen „orientierend“ wirkt.<br />

⊲ Zum zweiten wäre „Anschauungsorientierung“<br />

gewiss kein guter Ratgeber. So etwas ist auch<br />

meines Wissens nie <strong>für</strong> die Sekundarstufenmathematik<br />

vorgeschlagen worden.<br />

⊲ Zum dritten würde einer Einführung in die<br />

Analysis, die mit virtuoser Unterrichtsmethodik<br />

und viel Anschaulichkeit im Inhaltlichen nur<br />

auf Anwendungsorientierung zielte, etwas sehr<br />

Wesentliches entgehen, nämlich <strong>der</strong> vielleicht<br />

einzige heute noch tragfähige Rechtfertigungsgrund<br />

<strong>für</strong> allgemeine Pflichtbindung: Analysis<br />

generalisiert und strukturiert Modelle. Das<br />

ist ihr fachübergreifend kommunikativer Charakter<br />

und macht ihre pragmatische Leistungsfähigkeit<br />

aus, ihre überfachliche Wirksamkeit,<br />

Reichweite und Bedeutung. Überlässt man das<br />

<strong>der</strong> Hochschule, dann reduziert sich die schulische<br />

Funktion des Analysisunterrichts auf ein<br />

„Teaching to the Test“, dessen Sinn und Nutzen<br />

bestenfalls ein Viertel <strong>der</strong> Betroffenen je erleben<br />

werden.<br />

Ob Analysisunterricht mehr bedeutet als Fertigkeitstraining<br />

<strong>für</strong> „kompetenzorientierte“ Hürdenläufe<br />

vor dem höheren Arbeitsmarkt hängt im Wesentlichen<br />

davon ab, wie viel dieser Unterricht<br />

an Bedeutung und an Standardmethodik zu <strong>der</strong>en<br />

Gewinnung über die Fachgrenzen hinaus lehren<br />

kann – o<strong>der</strong> wenigstens lehren will. Diese Frage<br />

nach zeitgemäßem Sinn des Analysisunterrichts<br />

jenseits seines Funktionierens im (dis-) qualifizierenden<br />

Bildungssystem 90 kann schon deswegen<br />

nicht ausgesessen werden, weil inzwischen die<br />

Mittelstufen aller Schultypen von (Rudimenten)<br />

<strong>der</strong> Funktionenlehre „wie mit einem Ferment“<br />

durchdrungen sind, hauptsächlich um einen Analysisunterricht<br />

vorzubereiten, den von drei Schülern<br />

nur einer je zu sehen bekommt und den von<br />

drei „Sehenden“ nur einer später brauchen wird<br />

(A2). 91 Lehrer und Schüler leiden unter Sinnentleerung,<br />

und das schadet am Ende <strong>der</strong> ganzen<br />

90 Um nur zwei Beispiele zu nennen: proportionale Funktionen statt Dreisatz und quadratische Algebra statt robuster Näherungsmethoden.<br />

– Der Kollege K. P. Wolff schlug kürzlich <strong>für</strong> die <strong>Mathematik</strong>didaktik <strong>der</strong> heutigen Hauptschulen die drastische Bezeichnung<br />

„Soda-<strong>Didaktik</strong>“ vor – in Anlehnung an die sog. „Soda-Brücken“, die als Denkmäler aufgegebener Autobahnbauten vielerorts herumstehen<br />

und „einfach so da sind“. (Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Soda-Brücke) Die motivatorisch-disziplinarischen<br />

Schäden sind erheblich.<br />

91 Die vermeintlichen künftigen Denker und Lenker in den Oberstufen <strong>der</strong> Höheren Schulen, um <strong>der</strong>en mo<strong>der</strong>nere Aus-/Bildung<br />

die Meraner Reformer sich sorgten, machten damals etwa 2%, höchstens 5% <strong>der</strong> entsprechenden Altersjährgänge aus (s. Abb. 17.6).<br />

Heute geht es – regional sehr unterschiedlich – um 30% bis über 50%, von denen weniger als die Hälfte überhaupt studieren, während<br />

etwa ein Drittel <strong>der</strong> Studierenden „harte <strong>Mathematik</strong>“ incl. Analysis braucht, ein weiteres Drittel „weiche <strong>Mathematik</strong>“ wie<br />

Spezialmethoden und handwerkliche Statistik (s. Abb. 17.7).<br />

127


Lutz Führer, Frankfurt<br />

<strong>Gesellschaft</strong>. Das Sinnproblem <strong>für</strong> den heutigen<br />

und künftigen Analysisunterricht muss dringend<br />

gelöst werden, weil dieser Unterricht erhebliche,<br />

prüfungstechnisch sogar dominante Teile des gesamten<br />

<strong>Mathematik</strong>unterrichts <strong>der</strong> Sekundarstufen<br />

direkt o<strong>der</strong> indirekt trägt.<br />

Dass es keine einfache und plötzlich wirksame<br />

Lösung geben dürfte, stand zu erwarten.<br />

Aber es mag helfen, einige <strong>der</strong> notwendig zu beachtenden<br />

Randbedingungen zu klären. So habe<br />

ich begründet, warum Kalküleuphorie (P&T4)<br />

zur Natur unseres Schulsystems gehört, vermutlich<br />

auch viel Aufgabendidaktik und sachkompetent<br />

flankieren<strong>der</strong> Frontalunterricht zur sinngerechten<br />

Begegnung mit Analysis. Und ich habe<br />

erklärt, warum ich glaube, dass fachwissenschaftliche<br />

Strenge (A3, A9), Vertiefung <strong>der</strong> Analysis<br />

aus Anwendungsbezügen (A4, P&T6), geschichtliche<br />

Bedeutungsklärungen (A5) und ernsthafte<br />

Infinitesimalprobleme (A7) heute nicht mehr<br />

weit tragen können. Erst recht verfehlen hochgesteckte<br />

Bildungsziele wie Aufklärung über aktuelle<br />

Kulturarbeit (P&T1) o<strong>der</strong> mathematischnaturwissenschaftlich<br />

akzentuierte Allgemeinbildung<br />

(P&T2) die heutige Schulsituation und Bildungspolitik,<br />

weil sie nur <strong>für</strong> einen kleinen Teil<br />

<strong>der</strong> Jugend gedacht und im Rahmen von bildungsbürgerlicher<br />

Elitebildung gerechtfertigt waren. –<br />

Bei aller Anerkennung <strong>der</strong> Schwierigkeit, allgemeinbildenden<br />

Analysisunterricht mit seinen unvermeidlichen<br />

Rückwirkungen auf alle Mittelstufen<br />

neu zu entwickeln und zu rechtfertigen, ist<br />

noch keinesfalls zugestanden, das Erkenntnismethodische<br />

im Sinne Toeplitz’ o<strong>der</strong> Freudenthals<br />

zugunsten affirmativer Unterrichtsmethodik und<br />

(Dis-) Qualifikationsverwaltung zu marginalisieren,<br />

und werde das auch noch so schülerfreundlich<br />

kaschiert und verbal aufgehübscht. 92<br />

Was ist im Rahmen des heutigen Schulsystems<br />

an Erneuerung möglich, ohne wie<strong>der</strong> fünfzig<br />

Jahre auf eine Richertsche Reform und noch<br />

einmal fünfzig Jahre auf die Säkularisierung eines<br />

ökonomisch-demokratischen Aufbruchs zu warten?<br />

3.2 Skizze einer Lösung durch<br />

Schwerpunkteverlagerung<br />

Der überkommene Analysisunterricht steckt in einer<br />

Sinnkrise. Folgerichtig sind die Pflichtbindungen<br />

an diesen Unterricht in <strong>der</strong> Oberstufe<br />

und an diesbzgl. Propädeutik in allen Mittelstufen<br />

schwach legitimiert. Will o<strong>der</strong> kann man den Ana-<br />

lysisunterricht nicht zur unverbindlichen Wahlveranstaltung<br />

schrumpfen lassen, dann muss er einen<br />

an<strong>der</strong>en Sinn bekommen als vor hun<strong>der</strong>t Jahren.<br />

Hier mein Vorschlag:<br />

1. Im Schulrahmen soll Analysis von Kurvenkonstruktionen<br />

ausgehen und zum Studium von<br />

Datendynamik führen.<br />

2. In den Mittelstufen werden Funktionen vorwiegend<br />

unter Erkenntnisinteressen <strong>der</strong> Beschreibenden<br />

Statistik <strong>für</strong> bedeutungshaltige<br />

Daten aus <strong>der</strong> Realwelt, die sich vorwiegend<br />

außerhalb <strong>der</strong> Schule abspielt, entwickelt, kritisch<br />

gewürdigt und in ihrer Bedeutung gewichtet.<br />

93<br />

3. In <strong>der</strong> Oberstufe wird das mit wissenschaftsorientiertem<br />

Anspruch fortgesetzt. Beim Studium<br />

echter statistischer, auch experimentell gewonnener<br />

Realdaten werden zunehmend Funktionsmodelle<br />

mit hypothetischen Modellannahmen<br />

dynamisiert, als Wirkungen gedeutet und<br />

auf ihre Erklärungsqualität hin diskutiert (Einund<br />

Abschätzung „unerklärter Residuen“).<br />

Dies könnte, so bin ich überzeugt, dem künftigen<br />

Analysisunterricht – über die heutige Propädeutik<br />

<strong>für</strong> einen Teil <strong>der</strong> Hochschulfächer hinaus<br />

– einen schuleigenen Gesamtsinn geben, d.<br />

h. eine <strong>für</strong> alle Schüler durchgängig verbindliche<br />

Leitidee, die aus guten Gründen den gesamten<br />

Algebra- und Stochastik-Unterricht bei<strong>der</strong> Sekundarstufen<br />

„wie ein Ferment durchdringen“ und<br />

als Konzentrationsprinzip Beiläufiges verdrängen<br />

dürfte. Das Leitmotiv, bessere Modelle zur Beschreibung<br />

wichtiger Datenzusammenhänge entwickeln<br />

zu wollen, ist – natürlich mit angemessenen<br />

Rücksichtnahmen – <strong>für</strong> alle Schultypen vertretbar:<br />

Daten sind überall, und Dateninterpretationen,<br />

die unser persönliches Leben mitbestimmen,<br />

steuern o<strong>der</strong> steuern sollen, haben längst<br />

die Hauptrolle bei <strong>der</strong> Begründung von eigenen<br />

und fremden Entscheidungen mit größeren Folgen<br />

übernommen. 94<br />

Mehr als eine Skizze, wie ich mir eine Realisierung<br />

im bestehenden Schulsystem und in endlicher<br />

Zeit vorstelle, kann und will ich nicht geben.<br />

Ich kann es nicht, weil es passend zu dieser<br />

Programmskizze schon viele gute alte und neue<br />

Ideen gibt – so auch in diesem Tagungsbericht<br />

–, die ich hier nicht angemessen würdigen und<br />

zugleich curricular einbinden könnte. All das bedürfte<br />

gemeinsamer Anstrengungen vieler, um das<br />

Vorhandene – zieloptimiert und repräsentativ – zu<br />

fusionieren, polititikgerecht zu ver„dichten“ und<br />

92 Um die Gefahr an einem <strong>der</strong>zeit beson<strong>der</strong>s prominenten Fall zu erläutern: Die meisten <strong>der</strong> Analysis-Beispiele aus <strong>der</strong> aktuellen<br />

Methoden-Bibel [Barzel et al., 2007], s. Fußnote 80, taugen als Beleg <strong>für</strong> die Verselbstständigung motivieren<strong>der</strong> Showeffekte<br />

„<strong>für</strong>“ Schüler und bildungspolitisch opportuner Performanzkünste „<strong>für</strong>“ Lehrer, beides um rezeptives Einüben isolierter, wenn auch<br />

vielleicht prüfungsrelevanter Belanglosigkeiten zu kaschieren.<br />

93 In <strong>der</strong> Sek. I wird es sich vorwiegend um bivariate Daten handeln müssen. Aber auch sachlich gehaltvolle dreidimensionale<br />

Datenwolken lassen sich mit ebenen Zusammenhangsgraphen „perspektivisch“ deuten.<br />

94 Vgl. etwa [Ullmann, <strong>2008</strong>].<br />

128


Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />

in Wechselwirkung <strong>für</strong> den Alltag methodisch zu<br />

sequenzieren. Ich möchte auch keineswegs den<br />

Eindruck erwecken, ich glaubte an eine Patentlösung<br />

aller zuvor dargestellten Probleme, denen<br />

sich heute Unterricht in Schul- und Hochschulbetrieb,<br />

Traditionsgerangel, Besitzstandswahrung,<br />

Finanz-, Sozial-, Bildungspolitik u.v.a.m. zu unterwerfen<br />

hat. Ich bin allerdings überzeugt, dass<br />

uns die heutige Informations- und Datenverarbeitungstechnik<br />

erstmals und endlich in die Lage<br />

versetzt, Schulanalysis als Erkenntnis- und Denkwerkzeug<br />

eigenen Rechts zu reanimieren.<br />

Warum „Kurvenkonstruktion“ als Einstieg?<br />

Die Antwort liegt nahe: Im Gegensatz zur Kurvendiskussion<br />

und ihrem heimlichen Vorspann<br />

in <strong>der</strong> Funktionenlehre <strong>der</strong> Mittelstufen sollten<br />

Funktionen – an Allgemeinbildenden Schulen,<br />

wie im Folgenden immer einschränkend vorausgesetzt<br />

sei – nicht als „irgendwie“ vorgefundene<br />

Erkenntnis- o<strong>der</strong> Umgangsobjekte hingestellt<br />

werden, son<strong>der</strong>n als Instrumente <strong>für</strong> „funktionale“<br />

Modellkonstruktionen. Stichworte dazu:<br />

Daten„gestalten“ (Beschreibung, Entwürfe,<br />

stückweise Konstruktion), Bestandsentwicklungen,<br />

Zusammenhangsgraphen, Faustregeln, Glättungen<br />

(z. B. durch gleitende Mittelwerte), Ausgleichskurven,<br />

Natur„gesetze“, Approximationen,<br />

Regressionskurven, Interpolationen . . . 95 Es geht<br />

um Gedankenmodelle, entwickelt in ernsthaften<br />

Kontexten, um Datenmaterial zu Verständnis-,<br />

Beurteilungs- o<strong>der</strong> Prognosezwecken zu ordnen.<br />

Gedankenmodelle sind nicht falsch o<strong>der</strong> richtig<br />

wie Kurvendiskussionen, son<strong>der</strong>n besser o<strong>der</strong><br />

schlechter als an<strong>der</strong>e Modelle. Ihre Funktionalität<br />

misst sich an Zwecken, nicht an Vorgaben<br />

– „<strong>der</strong>“ Wissenschaft, „<strong>der</strong>“ Kultur, des Kaisers<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Testindustrie. Zwecke sind nicht wertfrei,<br />

son<strong>der</strong>n begründ-, diskutier- und kritisierbar.<br />

Das könnte sogar eine mo<strong>der</strong>ne Sichtweise<br />

„funktionaler“ Erziehung hergeben, „Gewohnheit<br />

funktionalen Denkens“ im vielleicht ursprünglichsten<br />

Sinne – jetzt aber: an Stelle <strong>der</strong> ständischen<br />

Erziehung von vor hun<strong>der</strong>t Jahren, die unterschwellig<br />

zum Funktionieren und zum Bewun<strong>der</strong>n<br />

von„Natur“-Gesetzen erziehen wollte. Generell<br />

bieten sich deshalb auch im stärker psychogenetisch<br />

experimentell-konstruktiv angelegten Zugang<br />

zur Analysis und „zum Grenzwert hin“ eher<br />

sinnvolle Gelegenheiten zu schülerzentrierten Unterrichtsformen<br />

als im klassischen Analysisprogramm.<br />

Sie sind hier sogar erfor<strong>der</strong>lich, weil <strong>für</strong><br />

die Fachmethodik <strong>der</strong> Modellkreisläufe sinnstiftend.<br />

Warum die Funktionenlehre von vornherein<br />

auf Erkenntnisinteressen <strong>der</strong> Beschreibenden Sta-<br />

tistik stützen? Einiges habe ich oben schon gesagt.<br />

Eine Überlegung Freudenthals soll das noch einmal<br />

unterstreichen und vertiefen: 96<br />

„Noch weniger als an<strong>der</strong>e Gebiete soll die<br />

Analysis als eine Struktur behandelt werden, die<br />

ehr<strong>für</strong>chtiges Staunen erweckt, und noch mehr als<br />

an<strong>der</strong>e als ein Werkzeug, das die, die es zu hantieren<br />

lernen, dringend nötig haben und hantieren<br />

können, wenn sie es müssen. Dazu ist dann etwas<br />

an<strong>der</strong>es erfor<strong>der</strong>lich, als dass man wohlgebildete<br />

sprachliche Ausdrücke kennt, die definieren was<br />

eine offene Menge, ein Limes, ein Differentialquotient<br />

und ein Integral ist; man muss vielmehr<br />

solche Begriffe geometrisch und numerisch erlebt<br />

haben, auch wenn man sie gerade nicht in eine<br />

über jeden Einwand erhabene Definition fassen<br />

kann . . . Ich hörte einmal einen mit viel Begeisterung<br />

den Satz verteidigen, man müsse den Differentialquotienten<br />

als Geschwindigkeit einführen;<br />

er war stolz auf die Wirklichkeitsnähe dieses Ansatzes.<br />

Doch war er viel weniger wirklichkeitsnahe,<br />

als er glaubte; er sah die Wirklichkeit nur<br />

durch einen schmalen Spalt, und unter den Spalten<br />

ist <strong>der</strong> eine kaum breiter als <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e. Es<br />

hilft auch nichts, wenn man den Lernenden durch<br />

viele Spalte schauen lässt; er wird ja so nur erzogen,<br />

durch Spalte zu sehen. Warum soll man den<br />

Angriff in breiter Front, <strong>der</strong> sich im Rechnen als<br />

erfolgreich erwiesen hat, nicht auch hier vollziehen,<br />

wo man sich wie<strong>der</strong> so nahe an <strong>der</strong> Realität<br />

befindet? Was Differentialquotient und Integral einer<br />

Funktion bedeuten, hängt ganz davon ab, was<br />

die Funktion selber bedeutet, und das kann sehr<br />

vieles sein.“<br />

Daran schließt Freudenthal sofort einen Abschnitt<br />

mit <strong>der</strong> Überschrift „Der numerische Anlauf“<br />

an und beginnt ihn mit den Worten: „Die<br />

Funktion kann erst einmal numerisch, etwa als Tabelle<br />

gegeben sein. Man kann zu ihr die Differenzen<br />

bilden, ein etwa bei Interpolationen sinnvoller<br />

Prozess . . . “ Und dann schlägt er vor, die<br />

Maschenweite zu thematisieren, um sich – vorerst<br />

– schließlich durch Grenzübergang [zu Trends]<br />

von ihr zu befreien. Die Ausgangstabelle könne<br />

dann selbst aus <strong>der</strong> o<strong>der</strong> irgendeiner abgeleiteten<br />

[mittels gesammelter Trendeffekte] rekonstruiert<br />

werden. „Um diese Prozeduren zu demonstrieren,<br />

wähle man geeignete Tabellen, Logarithmen,<br />

Quadrate, Sinus, um interessante Gesetzmäßigkeiten<br />

zu entdecken, aber auch Funktionen,<br />

wie sie gerade einem konkreten Problem<br />

entspringen, eignen sich, wenn das Problem die<br />

Differentialquotient- o<strong>der</strong> Integralbildung erfor<strong>der</strong>t.<br />

Es versteht sich, dass Aufgaben dieser Art<br />

wirklich und nicht nur fingiert numerisch durch-<br />

95 Eine ausführliche Darstellung des Modellbildens von Daten her gibt (<strong>für</strong> die Lehrerausbildung) [Engel, <strong>2009</strong>]. Seine zahlreichen<br />

Beispiele stammen vorzugsweise aus den Naturwissenschaften.<br />

96 [Freudenthal, 1973b, S. 470 f.]<br />

129


Lutz Führer, Frankfurt<br />

geführt werden sollen. Mindestens eine Handrechenmaschine<br />

ist dazu erfor<strong>der</strong>lich, aber ausführlichere<br />

Tabellen-Konstruktionen sollten lieber mit<br />

Rechenanlagen ausgeführt werden . . . “<br />

Freudenthals Ausführungen sind ausdrücklich<br />

dem Analysisunterricht gewidmet und stehen weit<br />

hinten in seinem fachmethodischen Klassiker. Er<br />

würde es mir gewiss nicht verübeln, dass ich<br />

dem temperamentvollen und überzeugenden Einstieg<br />

in die Welt <strong>der</strong> Wertetabellen mit zwei ernsten<br />

Vorbehalten begegne: Freudenthal setzt stillschweigend<br />

voraus, und das passt ja durchaus<br />

auch zum eigentlichen Thema in seinem Buch,<br />

dass wir auf <strong>der</strong> Oberstufe einsteigen und dass<br />

es dort nur um <strong>Mathematik</strong> zu gehen habe. Aber<br />

so ist es ja im realen <strong>Mathematik</strong>unterricht nicht<br />

gleich und sofort, und auch nicht überwiegend.<br />

Lange vor je<strong>der</strong> Annäherung an Differentialquotienten<br />

und Interpolationen 97 werden häppchenweise<br />

Proportionalitäten eingeführt, und quadratische<br />

Funktionen, und Wurzelfunktionen, trigonometrische<br />

Funktionen, vielleicht auch schon „Potenzfunktionen“<br />

und exponentielles o<strong>der</strong> gar logarithmisches<br />

Wachstum. Und jedes Mal fällt es schwerer,<br />

„den“ Schülern, wenigstens den wohlwollenden<br />

„guten“, das Gefühl zu vermitteln, dass es sie<br />

mehr anginge als die nächste Klassenarbeit.<br />

Dass die Funktionspropädeutik die späteren<br />

Nichtabiturienten und von den späteren Abiturienten<br />

die späteren Nichtstudierenden und die akademischen<br />

<strong>Mathematik</strong>abstinenzler etwas angeht,<br />

muss schon mit den ersten Annäherungen glaubhaft<br />

werden. Dass proportionale Funktionen das<br />

rechte Mittel seien, mit Dreisatz- o<strong>der</strong> Prozentaufgaben<br />

im Alltag klarzukommen, glauben we<strong>der</strong><br />

aufgeweckte Schüler noch erfahrenere Lehrer<br />

98 , und Optiker, Landvermesser, Tontechniker<br />

o<strong>der</strong> Ozeanographen wollen immer nur wenige<br />

werden. Daten mit Belang, vielleicht gar von aktuellem<br />

Interesse, fallen überall an, unabhängig vom<br />

Alter und vom Sozialstatus <strong>der</strong> Zeitungsleser o<strong>der</strong><br />

Surfer. Da braucht Überblick, wer gewaltfrei einschätzen,<br />

mitreden, planen, beeinflussen, wählen,<br />

. . . will o<strong>der</strong> muss. Wohlfeile Ansichten liefern<br />

zwar die Medien pausenlos ins Haus, aber da sprechen<br />

nicht die Daten selbst, und auch nicht unbedingt<br />

die berechtigten Interessen <strong>der</strong> Rezipienten<br />

. . . 99<br />

Funktionen beschreiben Zusammenhänge;<br />

punktweise Zuordnungen sind Mittel da<strong>für</strong>, nicht<br />

Zweck. Schüler sollen das vielfältig „nacherfinden,<br />

unter mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> deutlicher Führung“,<br />

wie es Freudenthal ausgedrückt hat. 100 Aber sie<br />

müssen lernen, dass es ernste Arbeit ist, und keine<br />

Spielerei, auch wenn es Spaß machen sollte.<br />

Deshalb braucht es gewichtige Einstiege und fortwährende<br />

Betonung von Modellkreisläufen an<br />

offensichtlich relevanten Realdaten, sei es aus <strong>der</strong><br />

Armutsstatistik, aus <strong>der</strong> Bildungsbeteiligung, aus<br />

<strong>der</strong> Ökologie, aus dem Versicherungswesen, aus<br />

öffentlichen Haushalten, aus <strong>der</strong> Kreditwirtschaft,<br />

aus <strong>der</strong> Marktforschung und auch aus den Laboren<br />

<strong>der</strong> Techniker, Naturwissenschaftler, Psychologen,<br />

Ökonomen, Großstatistiker. 101 Nur <strong>für</strong> Routinetraining,<br />

Detailillustrationen o<strong>der</strong> Zusatzaspekte<br />

sind Fertigkeitsübungen an Rechenaufgaben<br />

o<strong>der</strong> „weichen“ Meinungsumfragen recht, denn<br />

sie dürfen keinesfalls die ernsthafteren Bildungsund<br />

Erziehungszwecke verharmlosen, marginalisieren<br />

o<strong>der</strong> gar konterkarieren. Diese Zwecke,<br />

hypothetische Übersichten, differenzierte Urteile<br />

und vorsichtige Prognosen aus Beobachtetem zu<br />

gewinnen, müssen hinter dem alltäglichen Unterricht<br />

als Legitimatoren sichtbar bleiben, weil datenorientierter<br />

Unterricht den Schülern relevanten<br />

Sachbezug ihrer Urteile zumutet, sie im Beobachten,<br />

Beschreiben und Argumentieren schult, und<br />

weil er die Kopplung von Variablen als Hineinlesen<br />

von Kausalbeziehungen darstellt, ohne das<br />

Streuen von Realdaten zu kaschieren.<br />

Dabei wird es auf den Mittelstufen überwiegend<br />

sein Bewenden mit ad-hoc-Prognosen<br />

und „empirischen Gesetzen“ aus Technik und<br />

Sciences haben müssen. In <strong>der</strong> Oberstufe erlauben<br />

jedoch Auf- und Ableitungen theoretische<br />

Unterbauten <strong>für</strong> Funktionsmodelle. In Verbindung<br />

mit Vor- und Parallelarbeiten an<strong>der</strong>er<br />

Schulfächer werden sich allmählich und schon<br />

überwiegend auf <strong>der</strong> Sekundarstufe II dynamische<br />

Deutungen einiger Funktionsmodelle anbieten.<br />

Das bedeutet: über die „möglichst guten“<br />

(:= gut approximierenden) Beschreibungen<br />

vermeintlicher Datenzusammenhänge hinaus, auf<br />

denkbare Ursachen <strong>für</strong> nichttriviale Kurvenver-<br />

97 Die Logarithmentafeln und Rechenschieber sind ja längst entsorgt.<br />

98 Vgl. etwa die einschlägigen Befunde von Andelfinger [1981] und Meißner [1982].<br />

99 Ein drastisches Beispiel findet sich in [Ullmann, 2010]. – Zur didaktischen For<strong>der</strong>ung nach Betonung <strong>der</strong> Deskriptiven Statistik<br />

in <strong>der</strong> Sekundarstufe I verweise ich gerne auf das Thesenpapier des Arbeitskreis Stochastik in <strong>der</strong> GDM [2002], auch wenn dort<br />

noch zu diplomatisch bescheiden formuliert werden musste. Meines Erachtens gibt es in <strong>der</strong> heutigen Informationsgesellschaft kein<br />

wichtigeres Gebiet <strong>der</strong> Schulmathematik, wenn sie allen Bürgern zu Aufklärung und demokratischer Mündigkeit im Kantschen Geiste<br />

helfen soll. Allerdings kann man auch diesen Ansatz sehr leicht schul- und bildungbürokratisch sterilisieren. Darauf komme ich am<br />

Ende dieses Aufsatzes zurück.<br />

100 [Freudenthal, 1973a, Kap. 5/6 sowie S. 151.]<br />

101 Sehr viele Anregungen bringen [Eichler & Vogel, <strong>2009</strong>] und [Engel, <strong>2009</strong>]. – Für den Unterricht wäre es hilfreich, über einen<br />

Pool Links zu laufend aktualisierten schulrelevanten Datensammlungen zu verfügen, insbeson<strong>der</strong>e aus <strong>der</strong> Sozialstatistik und am besten<br />

auch mit Diskussionsvorschlägen <strong>für</strong> den Unterricht. Die öffentlichen Datenbanken wie destatis.de, de.statista.com, Deutsches<br />

Studentenwerk, Angebote von Ministerien, Presse, Verbänden und Parteien usw. erfor<strong>der</strong>n immer noch viel Auswahlarbeit und Spezialistenwissen.<br />

130


Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />

läufe mithilfe von „Trend“beeinflussungen und<br />

Gesamteffekten zu sprechen kommen (Beschleunigung,<br />

Grenzkosten, Steuerprogression, Wachstum/Verfall,<br />

Schwingungsdämpfung/Modulation,<br />

Wirtschaftszyklen usw.). Von hypothetischen,<br />

vielleicht zunächst eher globalen „Gestaltungskräften“<br />

<strong>für</strong> Beschreibungsmodelle (dynamische<br />

Theoriemodelle) würden sich dabei gewiss ganz<br />

zwanglos verfeinerte Betrachtungen <strong>der</strong> lokalen<br />

Bedeutung von Trends (benachbarte Ableitungen)<br />

aufdrängen, die schließlich – zum Grenzwert hin!<br />

– in <strong>der</strong>en (infinitesimaler!) Grenzbedeutung erfasst<br />

werden könnten.<br />

Freudenthal schil<strong>der</strong>t denn auch nach dem<br />

numerischen Anlauf in bunter Folge graphische<br />

Zugänge, Geschwindigkeiten, Dichten, Gradienten,<br />

Kapazitäten, Fachwerke und Getriebe, Kraftfel<strong>der</strong>,<br />

Größenordnungen, Differentiale [Trends]<br />

. . . 102 Unsere computergraphischen Möglichkeiten<br />

bieten inzwischen schmerzlosere Übergänge<br />

mit Splines, grafischen Ab- und Aufleitungen und<br />

vielleicht sogar mit funktionalen Strukturlinien in<br />

Richtungsfel<strong>der</strong>n (vgl. Abb. 17.14).<br />

Differential- und Integralrechnung wären<br />

technisch, wissenschaftlich und epistemologisch<br />

belanglos, wenn sie nur lokal linearisierten o<strong>der</strong><br />

global aufsummierten. Dass sie es ernsthaft und<br />

machtvoll tun, liegt daran, dass sie immer auch die<br />

bewusst riskierten Fehler im Auge behalten und<br />

notfalls streng abschätzen (Restglied, Einschließung<br />

des Funktionsgraphen in Parallelstreifen 103 ,<br />

Konvergenzgeschwindigkeit, Robustheit des Verfahrens<br />

usw.). Analysis ist keine Erfindung von<br />

Anfängern. Das muss man Schülern gewiss nicht<br />

in den Weg stellen, aber man sollte sie auch darüber<br />

nicht täuschen. Und es ist inzwischen dank<br />

<strong>der</strong> Neuen Medien auch auf den Mittelstufen unnötig.<br />

Der zitierte Freudenthal-Text war 1973 erschienen,<br />

bevor noch Taschenrechner verbreitet<br />

waren, erst recht PCs. „Wirkliche und nicht nur<br />

numerisch fingierte Durchführungen“ waren noch<br />

<strong>für</strong> die Schule unerreichbar, so auch ernsthafte<br />

Streuungsberechnungen und Residuenanalysen.<br />

Das ist heute ganz an<strong>der</strong>s: Wir können fingierte<br />

und sogar reale Datenmassen problemlos im Klassenzimmer<br />

erzeugen o<strong>der</strong> abrufen, wir können<br />

sogar mäßige Mittelstufenschüler ein paar Stunden<br />

lang motivieren, eine Datenwolke algebraisch<br />

nach Lust und Laune von einem kostenlosen<br />

TKP o<strong>der</strong> CAS misshandeln zu lassen. Wir können,<br />

sollten und dürfen ihnen aber auch mit guten<br />

Gründen mehr zumuten: eine zeitgemäße Erziehung<br />

zur Datenbeschreibung und Residuen- bzw.<br />

Fehleranalyse.<br />

Das alles bleibt freilich solange zusammenhanglos<br />

und eklektisch wie kein leiten<strong>der</strong> Gesichtspunkt<br />

die einzelnen Untersuchungen motiviert<br />

und legitimiert. Mit Respekt vor den Erkenntnisinteressen<br />

<strong>der</strong> Grün<strong>der</strong>väter im 17. und<br />

18. Jahrhun<strong>der</strong>t und vor <strong>der</strong> anschließenden sowohl<br />

wissenschaftlichen als auch kulturellen Erfolgsgeschichte<br />

schlage ich vor, das Trägheitsprinzip<br />

in informell säkularisierter Form zum leitenden<br />

Gesichtspunkt theoretischer „Dynamisierung“<br />

von Datenmodellen zu machen:<br />

Wo keine Kräfte wirken<br />

geht alles im gleichen Trott weiter.<br />

Abbildung 17.15: Grafik von http://www.faz.<br />

net/ (Strizz vom 24.01.<strong>2009</strong>) mit freundlicher<br />

Genehmigung des Künstlers Volker Reiche.<br />

Die zentrale Botschaft hinter dem eigentlichen<br />

Analysisunterricht wäre demgemäß – frei<br />

nach Newton, aber über alle quantitativ arbeitenden<br />

Fächer und Gebiete hinweg: Was wir über<br />

Datenpunkte hinaus sicher beobachten o<strong>der</strong> messen<br />

können, sind in aller Regel „nur“ Trends. Deren<br />

Verän<strong>der</strong>ung(en) können wir modellhaft als<br />

Wirkungen gedachter Maßnahmen o<strong>der</strong> „Kräfte“<br />

deuten, um aus „dynamisierten Modellen“ Handlungsempfehlungen<br />

o<strong>der</strong> Prognosen zu gewinnen.<br />

Funktionen sind mit ihren Auf- o<strong>der</strong> Ableitungen<br />

da<strong>für</strong> geeignete Werkzeuge. Der wissenschaftliche<br />

Wert <strong>der</strong> Analysis <strong>für</strong> die Sciences steckt in<br />

genau diesem Gedanken. Auf <strong>der</strong> Hochschule mögen<br />

daraus dann allgemeine Techniken werden,<br />

<strong>für</strong> Funktionalgleichungen, Differential- und Integralgleichungen<br />

u.v.A.m. Für die Schule ist etwas<br />

an<strong>der</strong>es wichtiger: Funktionen sind Bausteine von<br />

Modellen, die zu Klärungen <strong>der</strong> wirklichen Welt<br />

helfen sollen.<br />

102 Viele Anregungen bekommt man aus [Engel, <strong>2009</strong>] und aus einer Tabelle von Blum & Toerner [1983, S. 92], zu verschiedenen<br />

Bedeutungen <strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ungsraten in Anwen<strong>der</strong>kontexten beson<strong>der</strong>s wenn man sie von rechts nach links interpretiert, also von den<br />

Ableitungen o<strong>der</strong> (Funktions-) Werten her.<br />

103 Cauchy-Integral! (Approximation mit stückweisen Näherungsfunktionen unter gleichmäßiger Konvergenz.)<br />

131<br />

!


Lutz Führer, Frankfurt<br />

Abbildung 17.13: Summierungen und Trendän<strong>der</strong>ungen – (fast) infinitesimal<br />

Abbildung 17.14: Graphische Integration einer konkreten Differentialgleichung [von Sanden, 1914, S. 162]<br />

3.3 Schüler-, Daten- und<br />

<strong>Gesellschaft</strong>sorientierung<br />

Nur zu gern zitieren mo<strong>der</strong>ne Handbücher <strong>für</strong><br />

werdende Lehrer eine schrecklich bürokratisch<br />

anmutende Tabelle von Heinrich Winter aus dem<br />

Jahre 1975 (Abb. 17.16 auf <strong>der</strong> nächsten Seite).<br />

Ja, diese Tabelle fand sich am Ende von Winters<br />

nachdenklichem Aufsatz. Unglücklicherweise,<br />

wie sich heute zeigt, weil in dieser Tabelle das<br />

Wichtigste fehlte: was lebendiger Unterricht tun<br />

kann, ohne sich um Bildungsschablonen zu scheren.<br />

Genau da<strong>für</strong> enthielt aber Winters Text vorher<br />

ausführliche Überlegungen in vier Kapiteln,<br />

die eben nicht „von oben“ katalogisierten und festschrieben,<br />

son<strong>der</strong>n zu denken und zu handeln geben<br />

wollten. Und ganz am Ende gab er noch eine<br />

passende Warnung dazu, eine inzwischen lei<strong>der</strong><br />

ganz unmodische. Beides sollten wir erinnern –<br />

und die vermeintliche Ablasstafel <strong>für</strong> flachdidaktische<br />

Sünden einfach vergessen:<br />

Winters vier Kapitel und seine Warnung am<br />

Ende<br />

„L1 Der Unterricht soll dem Schüler Möglichkeiten<br />

geben, schöpferisch tätig zu sein.<br />

L2 Der Unterricht soll dem Schüler Möglichkei-<br />

132<br />

ten geben, rationale Argumentation zu üben.<br />

L3 Der Unterricht soll dem Schüler Möglichkeiten<br />

geben, die praktische Nutzbarkeit <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />

zu erfahren.<br />

L4 Der <strong>Mathematik</strong>unterricht soll dem Schüler<br />

Möglichkeiten geben, formale Fertigkeiten zu erwerben.<br />

[. . . ] Es sei noch einmal betont: Allgemeine Lernziele<br />

lassen sich nicht so abtesten wie operationalisierte<br />

Feinlernziele; sie beziehen sich auf die<br />

ganze Schulzeit, und <strong>der</strong> Grad ihrer Verwirklichung<br />

lässt sich eher in einer gewissen Haltung<br />

erkennen, in <strong>der</strong> ein Schüler an mathematische<br />

Fragen herangeht.“<br />

H. Winter [1975]<br />

. . . o<strong>der</strong> ein Erwachsener an richtig ernste . . .<br />

Mit zunehmen<strong>der</strong> Computerausrüstung <strong>der</strong><br />

Schulen wird schüleraktive Modellbildung im<br />

Rahmen datenorientierter Stochastik immer leichter<br />

zugänglich. Ich trete da<strong>für</strong> ein, diesen Unterricht<br />

durch engere Verflechtung von Algebra,<br />

Funktionenlehre und Mittelstufenstochastik erheblich<br />

zu verstärken. Zugleich möchte ich aber<br />

im Sinne Winters vor zwei Gefahren warnen, denen<br />

Stochastik im all- und sonntäglichen Schul-<br />

!


Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong> Computer zum Analysisunterricht des 20. JH?<br />

betrieb nur zu gern erliegt. Arthur Engel hat sie<br />

1982 so formuliert 104 , wobei wir getrost DS (:=<br />

Deskriptive Statistik) statt WT lesen dürfen:<br />

1. „Die Wahrscheinlichkeitstheorie (WT) fand<br />

Eingang in die Schule unter dem Vorwand,<br />

dass sie <strong>für</strong> die Statistik unentbehrlich ist.“<br />

und<br />

2. „Statistik handelt von Daten, und sie zerfällt in<br />

drei Teile: Sammlung, Beschreibung und Deutung<br />

von Daten.“<br />

Es wäre <strong>für</strong> eine Reanimation <strong>der</strong> Funktionenlehre<br />

in den Mittelstufen und <strong>der</strong> Analysis in den<br />

Oberstufen wenig gewonnen, wenn künftig lediglich<br />

Aufgaben zu Funktionstypen und kombinatorischen<br />

Wahrscheinlichkeiten durch behavioristische<br />

Rechen- und Zeichenkompetenznachweise<br />

anhand irgendwelcher Excel-Tabellen ersetzt würden.<br />

Realdatenorientierung und schüleraktive Modellbildung<br />

sind nicht als Alibi <strong>für</strong> Fertigkeitsdressuren<br />

in Beschreiben<strong>der</strong> Statistik gedacht!<br />

Hier wäre einigen aktuellen fachwissenschaftlichen<br />

und auch didaktischen Lehrbüchern zur<br />

Schulstochastik bzw. Beschreibenden Statistik<br />

mehr Entschiedenheit zu wünschen. Zu oft steht<br />

die Vermittlung irgendwelcher „Basiskompetenzen<br />

<strong>der</strong> [!] Statistik/Stochastik“ im Vor<strong>der</strong>grund<br />

– sehr wohl mit Rücksicht auf Lernende gestuft<br />

nach technischen Schwierigkeitsgraden, aber in<br />

betont fachwissenschaftlich-systematischer Glie<strong>der</strong>ung,<br />

Diktion und Kontextuierung. Zwischen<br />

eigentlich ernste lebens- o<strong>der</strong> gesellschaftsrelevante<br />

Beispiele drängen sich dort immer wie<strong>der</strong><br />

schulkin<strong>der</strong>freundlich verharmlosende Belanglosigkeiten,<br />

denen – in Dreiviertelstunden, Hausaufgaben<br />

und Klassenarbeiten zerhackt – scheinbar<br />

genau so viel Bedeutung zukommt wie sie<br />

104 [Engel, 1982, S. 3 und S. 58]<br />

105 s. z. B. [Freudenthal, 1973a, S. 100 f]<br />

Abbildung 17.16: Aus [Winter, 1975]<br />

innerfachliche Begriffe o<strong>der</strong> Techniken illustrieren.<br />

Das mag hochschuldidaktisch sinnvoll halten<br />

wer will; nach einem Ausdruck von Freudenthal<br />

ist es <strong>für</strong> die Schule als „a[nti]didaktische Inversion“<br />

schädlich 105 , weil Unterrichtskonstruktion<br />

vom systematisch verallgemeinerten und ohnehin<br />

unerreichbaren Ende her als dosierte Verlautbarung<br />

das Gegenteil von wohlwollend einfühlen<strong>der</strong><br />

Schülerorientierung ist. In notorisch<br />

knapper Unterrichtszeit suggeriert es zudem eine<br />

falsche Botschaft, weil „grundlegende“ (im<br />

Fachjargon: „triviale“) mathematische Techniken<br />

über Wirklichkeitssinn und -wert zu bestimmen<br />

scheinen. Es hieße den Teufel Funktionsformalismus<br />

mit Beelzebub im Gewand statistischer Methodenleere<br />

austreiben und statt Verantwortlichkeitserziehung<br />

politische Enthaltsamkeit mit datengepanzerten<br />

„Alternativlosigkeiten“ (A. Merkel)<br />

begünstigen. Daten, Funktionen und dynamische<br />

Modelle sind unersetzliche Entscheidungshilfen,<br />

aber die dürfen keine eigene Wertsetzungsund<br />

erst recht keine Alleinentscheidungsbefugnis<br />

bekommen.<br />

Im Soester Vortrag Ende September <strong>2009</strong> habe<br />

ich mir erlaubt, meinen bildungstheoretischen<br />

Ansatz einschließlich <strong>der</strong> nötigen Be<strong>für</strong>chtungen<br />

als Variation des Wilhelminischen Eingangszitats<br />

unserer Kanzlerin in den Mund zu legen:<br />

„Das neue Jahrhun<strong>der</strong>t wird beherrscht<br />

durch das Geld <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en, inbegriffen die<br />

Informationsindustrie, und nicht wie das vorige<br />

durch die Wissenschaft. Dem werden wir<br />

weiter entsprechen.“<br />

133


Lutz Führer, Frankfurt<br />

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zum Ursprung <strong>der</strong> klassischen Mechanik. Suhrkamp.<br />

Manuskripteinreichung 26. Juni 2010. Literatur nach<br />

<strong>2009</strong>/2010 konnte daher nicht mehr berücksichtigt werden.


• Musik mit Funktionsgraphen – Wissen kreativ nutzen<br />

Stefanie Anzenhofer, Würzburg<br />

Im <strong>Mathematik</strong>unterricht nimmt das Arbeiten mit Funktionsgraphen eine zentrale Rolle ein. Auch im<br />

Musikunterricht bilden graphische Darstellungen als Überlieferungsform von Musik die Basis vieler<br />

Tätigkeiten. Dennoch ist bekannt, dass Schülerinnen und Schüler in beiden Bereichen gleichermaßen<br />

Schwierigkeiten beim Interpretieren, Analysieren und Erstellen dieser Darstellungen aufweisen.<br />

In einer empirischen Untersuchung wurde getestet, inwiefern das Wissen als auch das Nutzen dieses<br />

Wissens im Zusammenhang mit Funktionsgraphen und funktionsgraphähnlichen Notationsweisen<br />

(Musik) erweitert werden kann. Dabei sollten in einem fächerübergreifenden Unterricht Graphen<br />

hörend erkannt, funktionsgraphähnliche Notationsweisen musizierend sowie Graphen kompositorisch<br />

umgesetzt werden.<br />

Es soll gezeigt werden, dass Schülerinnen und Schüler durch diese auditive Darbietung von Funktionsgraphen<br />

zum einen ihre Wahrnehmung verstärkt auf Eigenschaften und Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />

<strong>der</strong> verschiedenen Funktionstypen lenken sowie die verschiedenen Funktionstypen vergleichend in<br />

Beziehung setzen; zum an<strong>der</strong>en soll das Wissen über verschiedene Funktionstypen genutzt werden,<br />

um funktionsgraphähnliche Notationsformen musikalisch umzusetzen. Erweitert wird dies durch die<br />

Notwendigkeit des Begründens und präzisen Formulierens aufgrund <strong>der</strong> auditiven Wahrnehmung,<br />

welche eine ausschließlich subjektive und zudem nicht eindeutige Identifizierung erlaubt. Indem <strong>der</strong><br />

Klang von Graphen als Mittel beim Komponieren verwendet wird, eröffnet sich auch im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

<strong>der</strong> Bereich des expressiv kreativen Arbeitens.<br />

1 Motivation<br />

Das Arbeiten mit Funktionsgraphen nimmt eine<br />

zentrale Rolle im <strong>Mathematik</strong>unterricht ein. Einen<br />

wichtigen Teil bildet dabei das Erstellen, Interpretieren<br />

und Analysieren von Funktionsgraphen.<br />

Ebenso stellen graphische Darstellungen als Überlieferungsform<br />

von Musik die Basis vieler Tätigkeiten<br />

im Musikunterricht dar. Nach den Ergebnissen<br />

einiger Studien weisen Schülerinnen und<br />

Schüler dennoch in beiden Bereichen gleichermaßen<br />

Schwierigkeiten beim Interpretieren, Analysieren<br />

und Erstellen dieser Darstellungen auf<br />

[vgl. Kalwies, 2001; Hadjidemetriou & Williams,<br />

2002; Kösters, 1996; Malle, 2000].<br />

Ausgehend von dieser gemeinsamen Problematik<br />

wurde ein fächerübergreifen<strong>der</strong> Ansatz entwickelt,<br />

in dem sowohl Funktionsgraphen als<br />

auch graphische Notationen des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

im Mittelpunkt stehen. Bei diesen musikalischen<br />

Notationsformen wird Tonhöhe und Dauer nicht<br />

mehr zwingend durch Standardnotationselemente<br />

wie beispielsweise Notenköpfe o<strong>der</strong> -linien übermittelt.<br />

Stattdessen kann <strong>der</strong> Komponist jegliche<br />

graphische Elemente und Darstellungsformen<br />

wählen, welche er <strong>für</strong> dieses Stück zur Übermittlung<br />

<strong>der</strong> gewünschten Klangwirkung und -form<br />

als passend empfindet (siehe Abb. 18.1). Demzufolge<br />

ist aber diese Notation bei jedem Stück nach<br />

den Regeln des jeweiligen Komponisten zu interpretieren.<br />

In diesem Zusammenhang werden Funktionsgraphen<br />

als Zeit-Frequenz- bzw. Zeit-Tonhöhen-<br />

Diagramme interpretiert, so dass jedem x-Wert<br />

als Zeitpunkt ein bestimmter y-Wert als Tonhöhe<br />

bzw. Frequenz zugeordnet wird. Indem nun diese<br />

Interpretation von Funktionsgraphen mit mu-<br />

sikalischen Kompetenzen wie Musik hören, Musik<br />

lesen und schreiben, Musik analysieren und<br />

interpretieren sowie musizieren und komponieren<br />

[Gallus, 2005] kombiniert werden, entstehen musikalische<br />

Graphen mit den Themenfel<strong>der</strong>n Graphen<br />

hören, Graphen lesen und schreiben, mit<br />

Graphen analysieren und interpretieren sowie mit<br />

Graphen musizieren und komponieren.<br />

Abbildung 18.1: Aus „Süßer Tod“ von K. Stahmer<br />

[Frey et al., 1983]<br />

2 Musikalische Graphen<br />

Im Folgenden soll an einem Unterrichtskonzept,<br />

welches <strong>für</strong> eine empirische Studie <strong>für</strong> die zehnte<br />

Jahrgangsstufe des Gymnasiums (G8) entwickelt<br />

wurde, exemplarisch aufgezeigt werden, inwiefern<br />

das Arbeiten mit musikalischen Graphen<br />

mit Schülerinnen und Schülern möglich ist. Allerdings<br />

wird hierbei ausschließlich auf die Themenfel<strong>der</strong><br />

Graphen hören, Graphen lesen und schreiben,<br />

sowie mit Graphen komponieren eingegangen.<br />

Ein Schwerpunkt wird auf den Bereich mit<br />

Graphen komponieren gelegt, da den Schülerinnen<br />

und Schülern hier die Möglichkeit <strong>für</strong> expressiv<br />

kreatives Arbeiten gegeben wird, worauf im<br />

Anschluss genauer eingegangen werden soll.<br />

137


Stefanie Anzenhofer, Würzburg<br />

2.1 Graphen hören<br />

In den ersten Stunden mit Schwerpunkt <strong>Mathematik</strong><br />

sollten Funktionsgraphen mittels Cin<strong>der</strong>ella 1<br />

hörend erkannt werden. Schülerinnen und Schüler<br />

überlegten in diesem Zusammenhang, inwiefern<br />

die Lage des Graphen im Koordinatensystem ausschließlich<br />

durch Hören bestimmt werden kann.<br />

Außerdem analysierten sie eigenständig, welche<br />

Bedeutung den Eigenschaften und dem Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />

eines Graphen beim Identifizieren<br />

des Funktionstyps zukommt. Im Zuge dessen<br />

wurden die verschiedenen ihnen bekannten Eigenschaften<br />

zudem dahingehend untersucht, welche<br />

Charakteristika von Funktionsgraphen generell<br />

auditiv wahrgenommen werden können. Dabei<br />

zeigte sich beispielsweise in <strong>der</strong> Diskussion,<br />

dass ein punktsymmetrisches Verhalten sehr wohl<br />

visuell kaum aber auditiv wahrgenommen werden<br />

kann.<br />

2.2 Graphen lesen und schreiben<br />

Im Mittelpunkt <strong>der</strong> anschließenden Stunden mit<br />

Schwerpunkt Musik stand das Chorstück „Der<br />

Phlegmatiker” von Heinz Kratochwil [Kratochwil,<br />

1972]. Dieses Stück ist notiert mit einer<br />

graphischen Notationsform, in <strong>der</strong> Tonhöhe und<br />

Dauer mittels eines funktionalen Zusammenhangs<br />

übermittelt werden (siehe Abb. 18.2). Für die Unterrichtskonzeption<br />

fiel die Wahl auf dieses Stück,<br />

da einzelne Stimmverläufe zum einen eine gewisse<br />

Ähnlichkeit zu Ausschnitten aus Standard-<br />

138<br />

Abbildung 18.2: Ausschnitt aus [Kratochwil, 1972]<br />

funktionsgraphen aufweisen (siehe beispielsweise<br />

Bass in Abb. 18.2), zum an<strong>der</strong>en ähnliche Stimmverläufe<br />

in verschiedenen Stimmen innerhalb dieses<br />

Stückes auftreten (vgl. Sopran, Alt, Tenor mit<br />

Bezug zum Bass in Abb. 18.2). Schülerinnen und<br />

Schüler übernahmen in Gruppen eigenständig die<br />

praktische Umsetzung eines längeren Auszuges.<br />

Dabei waren die einzelnen Gruppenmitglie<strong>der</strong> sowohl<br />

<strong>für</strong> die musikalische Interpretation dieser bis<br />

dahin <strong>für</strong> sie unbekannten Notationsform als auch<br />

<strong>für</strong> die Koordination ihres Ensembles verantwortlich.<br />

Nachdem jede Gruppe ihr Ergebnis in <strong>der</strong><br />

Klasse vorgestellt hatte, analysierten, interpretierten<br />

und deuteten Schülerinnen und Schüler das<br />

Stück im anschließenden Klassengespräch anhand<br />

<strong>der</strong> Klangwirkung, des Titels und des Notentextes.<br />

Dabei erkannten sie, dass <strong>der</strong> Titel des Stücks<br />

mithilfe klanglicher Mittel musikalisch umgesetzt<br />

wurde.<br />

2.3 Mit Graphen komponieren<br />

In Anlehnung an Der Phlegmatiker, bei dem Emotionen<br />

und Bewegungsverhalten eines Charaktertyps<br />

mittels Klang an den Hörer übermittelt wird,<br />

stellte die Entwicklung einer Klangcollage zum<br />

Thema „gefühlte Zeit“ die zentrale Aufgabe in einer<br />

abschließenden Einheit dar. Dabei wird „gefühlte<br />

Zeit“ als funktionaler Zusammenhang zwischen<br />

realer Zeit und Än<strong>der</strong>ungsrate <strong>der</strong> subjektiv<br />

wahrgenommenen Zeit aufgefasst. Schülerinnen<br />

und Schüler leiteten diese Interpretationsmöglichkeit<br />

im Klassengespräch anhand eines Film-<br />

1 Alle zum Unterrichtskonzept gehörenden Cin<strong>der</strong>ella-Dateien sind auf http://www.stefanie-reiter.de verfügbar


ausschnittes ab, in dem auf den Betrachter eine<br />

verschiedene Zeitwahrnehmung mithilfe unterschiedlicher<br />

Stilmittel übertragen wird. Dabei<br />

stellten sie fest, dass bei einem bestimmten y-<br />

Wert die „gefühlte Zeit“ gleich schnell vergeht<br />

wie die reale Zeit, bei den Werten oberhalb dieses<br />

y-Wertes schneller, darunter langsamer. Im Anschluss<br />

daran erhielten Schülerinnen und Schüler<br />

die Aufgabe ein persönliches Erlebnis mit unterschiedlich<br />

vergehenden Zeitabschnitten zu wählen<br />

und dazu einen Funktionsgraphen zu zeichnen.<br />

Nachdem in diesem Unterrichtskonzept vor allem<br />

Funktionsgraphen jedoch weniger Funktionsgleichungen<br />

und -terme thematisiert werden sollten,<br />

wurde ein Kompositionstool (siehe Abb. 18.3)<br />

zur Verfügung gestellt, mithilfe dessen über Buttons<br />

die bekannten Standardfunktionen (Nr. 1) gewählt<br />

und über Punkte entsprechend <strong>der</strong> persönlichen<br />

Vorstellung mittels Zugmodus angepasst<br />

werden konnten. Dieser Graph sollte als ein Zeit-<br />

Frequenz-Diagramm interpretiert die Grundlage<br />

<strong>für</strong> die Klangcollage bilden, weswegen ein Export<br />

des Graphenklangs als Wave-Datei möglich<br />

ist (Nr. 2). Desweiteren kann verschiedenen Graphenabschnitten<br />

eine unterschiedliche Klangfarbe<br />

zugewiesen werden (Nr. 3), um beispielsweise<br />

in Abhängigkeit von <strong>der</strong> Situation subjektive<br />

Empfindungen dem Hörer übermitteln zu können.<br />

Der Klang des Graphen wurde in einem Wave-<br />

Editor mit weiteren klanglichen Mitteln wie Musik,<br />

Geräuschen, gesprochenen Texten, Klängen<br />

usw. kombiniert, so dass dem Hörer sowohl Situation<br />

als auch Emotionen des persönlichen Erlebnisses<br />

weitergegeben werden sollten. Der Klang<br />

des Graphen bietet eine Orientierungsmöglichkeit<br />

<strong>für</strong> die zeitliche Anordnung <strong>der</strong> Klangereignisse<br />

innerhalb <strong>der</strong> Klangcollage, nachdem er <strong>der</strong> Träger<br />

und Übermittler des funktionalen Zusammenhangs<br />

in Abhängigkeit von <strong>der</strong> Zeit ist. In diesem<br />

Sinne stellt er eine hörbare Partitur dar. Im gleichen<br />

Zug ist er selbst ein Klangereignis, das musikalisch<br />

zum Beispiel im Hinblick auf Lautstärke,<br />

Klangfarbe o<strong>der</strong> Klangeffekte weiterverarbeitet<br />

werden kann. Dabei darf aber nicht übersehen<br />

werden, dass die Parameter <strong>der</strong> Tonhöhe und Dauer<br />

nicht abschnittsweise verän<strong>der</strong>t werden dürfen,<br />

da sie den funktionalen Zusammenhang übermitteln.<br />

Eine Streckung und Stauchung als Ganzes<br />

wird natürlich nicht ausgeschlossen. Demzufolge<br />

stellt <strong>der</strong> Klang des Graphen sowohl eine hörbare<br />

Partitur dar als auch ein musikalisches Klangereignis.<br />

3 Kreatives Arbeiten mit<br />

Musikalischen Graphen<br />

In <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik wurden verschiedene<br />

Arten des kreativen Arbeitens entwickelt und diskutiert<br />

[vgl. Neuhaus, 2001]. In <strong>der</strong> Form des<br />

Musik mit Funktionsgraphen – Wissen kreativ nutzen<br />

Problemlösens o<strong>der</strong> Beweisens stellen diese bereits<br />

ein Standardelement des heutigen <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />

dar. Jedoch erörterten beispielsweise<br />

Vollrath [1987] und Weth [1999] eine weitere<br />

Möglichkeit <strong>für</strong> kreative Prozesse im Bereich <strong>der</strong><br />

Begriffsbildung. Nach Leu<strong>der</strong>s [2005] können die<br />

kreativen Prozesse des <strong>Mathematik</strong>unterrichts in<br />

folgende drei Modi geteilt werden:<br />

1. Explorative Kreativität beinhaltet sinnvolle<br />

Probleme zu finden, mögliche Zusammenhänge<br />

aufzudecken und fruchtbare Begriffe zu<br />

konstruieren.<br />

2. Heuristische Kreativität beinhaltet Probleme<br />

zu lösen und Behauptungen zu beweisen.<br />

3. Expressive Kreativität beinhaltet das Produzieren<br />

schöpferischer Darstellung und Transformationen<br />

mit persönlichem Ausdruck und individuellem<br />

Sinn.<br />

In <strong>der</strong> Musik nehmen Ausdruck und persönlicher<br />

Sinn eine elementare Rolle im Schaffen ein.<br />

Wenn nun im Konzept <strong>der</strong> musikalischen Graphen<br />

Schülerinnen und Schülern sowohl im Bereich <strong>der</strong><br />

<strong>Mathematik</strong> als auch <strong>der</strong> Musik die Möglichkeit<br />

zu kreativem Arbeiten geboten werden soll, eröffnet<br />

sich nun die Frage, welche Voraussetzungen<br />

in <strong>der</strong> Musikdidaktik ein kreativer Lernprozess zu<br />

erfüllen hat. Hier<strong>für</strong> führt Meyer-Denkmann an:<br />

„Im Mittelpunkt eines kreativen Lernprozesses<br />

steht die Verlagerung von funktionalen<br />

Bindungen im Wahrnehmen, Denken<br />

und Handeln auf mobile Methoden, die zur<br />

Selbsttätigkeit und Selbstentdeckung führen.<br />

Diese implizieren ein produktives Denken<br />

und Handeln, das nicht auf Resultate eingestellt<br />

ist, son<strong>der</strong>n auf operative Prozesse“.<br />

[Meyer-Denkmann, 1972, S. 21]<br />

Dies kann dahingehend gedeutet werden, dass<br />

jegliche Produktion einer Aufgabenlösung, welche<br />

mit einem Transfer verbunden ist, eine kreative<br />

Handlungsform darstellt. Auf diese Weise unterscheidet<br />

sich ein musikalisch-kreativer Prozess<br />

in den Anfor<strong>der</strong>ungen nicht von einem mathematischen<br />

[vgl. Meyer-Denkmann, 1972, S. 21 f].<br />

Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse<br />

wurde eine Auslegung <strong>für</strong> eine kreative Tätigkeit<br />

<strong>für</strong> den <strong>Mathematik</strong> und Musikunterricht gleichermaßen<br />

formuliert:<br />

Expressiv kreatives Arbeiten stellt eine kreative<br />

Tätigkeit dar, die jemanden schöpferisch etwas<br />

zum Ausdruck bringen lässt.<br />

Als Grundlage soll dabei stets die Begriffsdefinition<br />

von Drevdahl dienen, wonach Kreativität<br />

„die Fähigkeit des Menschen [ist], Denkergebnisse<br />

beliebiger Art hervorzubringen,<br />

die im wesentlichen neu sind und demjenigen,<br />

<strong>der</strong> sie hervorgebracht hat, vorher un-<br />

139


Stefanie Anzenhofer, Würzburg<br />

Abbildung 18.3: Kompositionstool zur Erstellung eines Graphs mit Soundexport in wav-Format<br />

bekannt waren. Es kann sich dabei um Imagination<br />

o<strong>der</strong> um eine Gedankensynthese, die<br />

mehr als eine bloße Zusammenfassung ist,<br />

handeln. Kreativität kann die Bildung neuer<br />

Systeme und neuer Kombinationen aus<br />

bekannten Informationen involvieren sowie<br />

die Übertragung bekannter Beziehungen auf<br />

neue Situationen und die Bildung neuer Korrelate.“<br />

[Drevdahl, 1956, S. 22] 2<br />

Diese Definition bietet sich als Ausgangspunkt<br />

<strong>für</strong> kreatives Arbeiten im Unterricht an,<br />

da herausgestellt wird, dass es ausschließlich <strong>für</strong><br />

den Hervorbringenden also <strong>für</strong> Schülerinnen und<br />

Schüler etwas Unbekanntes, Neues o<strong>der</strong> Neuartiges<br />

sein muss. Es besteht kein Bezug zu <strong>der</strong> Definition<br />

<strong>für</strong> expressive creativity nach Taylor, <strong>der</strong><br />

darunter die erste Ebene bei <strong>der</strong> Ausbildung eines<br />

kreativen Prozesses versteht, und diese die<br />

qualitativ niedrigste Stufe kreativen Verhaltens<br />

im Vergleich zu productive, inventive, innovative<br />

und emergentive creativity einnimmt [vgl. Taylor,<br />

1959]. Der Begriff expressiv bezieht sich in dieser<br />

Auslegung ausschließlich auf den Inhalt des hervorgebrachten<br />

Produkts, wodurch keine Niveaubildung<br />

im Hinblick auf die verschiedenen Modi<br />

stattfindet. Der Begriff schöpferisch soll dabei<br />

einen produktiv-schaffenden Vorgang beschreiben,<br />

welcher eigentätig von <strong>der</strong> hervorbringenden<br />

Person gesteuert ist.<br />

Durch diese Art des kreativen Prozesses soll<br />

Schülerinnen und Schülern auch im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

die Chance geboten werden, sich als<br />

Individuum zum Ausdruck zu bringen und persönliche<br />

Einstellungen zu vermitteln. Zum einen<br />

140<br />

kann dadurch ein persönlicher Bezug zum Fach<br />

<strong>Mathematik</strong> aufgebaut werden, indem mathematische<br />

Sachverhalte mit subjektiver Bedeutung erfüllt<br />

werden. Zum an<strong>der</strong>en können Begriffe und<br />

Begriffsnetze durch eine an<strong>der</strong>sartige Zugangsweise<br />

o<strong>der</strong> in einem breiteren Kontext betrachtet<br />

werden. Mit diesem geöffneten Blickwinkel einhergehend<br />

kann eine Umdeutung <strong>der</strong> Begriffe und<br />

Begriffsnetze stattfinden, wodurch das Verständnis<br />

erweitert werden kann. Hierdurch kann <strong>der</strong> zumeist<br />

logisch-kognitive <strong>Mathematik</strong>unterricht eine<br />

Erweiterung durch eine subjektiv-emotionale<br />

Komponente erfahren.<br />

Im Musikunterricht eröffnet diese Form des<br />

kreativen Arbeitens Schülerinnen und Schülern<br />

mittels <strong>der</strong> Interpretation eines Funktionsgraphen<br />

als Zeit-Tonhöhen-Diagramm eine weitere Möglichkeit<br />

<strong>der</strong> Klanggenerierung. Diese Klangerzeugung<br />

bietet den Vorteil, dass sie zudem von jeglicher<br />

Schülerin und jeglichem Schüler bewusst und<br />

zielgerichtet eingesetzt werden kann und es keine<br />

Unterschiede aufgrund von Instrumentalspielkenntnissen<br />

und -fähigkeiten gibt.<br />

Im Folgenden soll nun dargelegt werden, inwiefern<br />

musikalische Graphen expressiv kreatives<br />

Arbeiten auch im Bereich <strong>der</strong> Algebra unterstützen.<br />

Durch die Zusammenführung von musikalischen<br />

Klangereignissen und mathematischen Elementen<br />

wie Funktionen ist bereits im Konzept mit<br />

Graphen komponieren die Basis gelegt, um Schülerinnen<br />

und Schülern die Chance zu geben, ihre<br />

Kreativität zu zeigen, indem sie sich mit einer <strong>für</strong><br />

sie neuartigen Form <strong>der</strong> Kombination von Inhalten<br />

beschäftigen. Sie müssen nun eigenständig und<br />

2 In diesem Artikel wird auf eine Übersetzung ins Deutsche von Ulmann [1968, S. 68] zurückgegriffen.


nach individuellen Maßstäben diese beiden Bereiche<br />

verbinden und das jeweilige Wissen aufeinan<strong>der</strong><br />

übertragen. So sollte <strong>der</strong> Graphenklang am<br />

Ende nicht ausschließlich ohne Verbindung neben<br />

den musikalischen Klangereignissen stehen, son<strong>der</strong>n<br />

miteinan<strong>der</strong> verwoben eine Einheit bilden.<br />

Dies beinhaltet die Aufgabe, dass <strong>der</strong> Graphenklang<br />

nicht nur als hörbare Partitur die Basis <strong>der</strong><br />

Klangcollage bildet, son<strong>der</strong>n klanglich weiterverarbeitet<br />

wird, so dass <strong>der</strong> Klang des Graphen neben<br />

<strong>der</strong> Übermittelung des funktionalen Zusammenhangs<br />

auch Träger weiterer Informationen ist.<br />

Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass<br />

eine Eigenschaft des Graphen metaphorisch umgedeutet<br />

wird, unterschiedliche Klangfarben eingesetzt<br />

werden, verschiedene Abschnitte des Graphen<br />

dynamisch an<strong>der</strong>sartig gestaltet werden o<strong>der</strong><br />

Teile des Graphen mit klanglichen Effekten verarbeitet<br />

werden, um dem Hörer zudem Emotionen<br />

o<strong>der</strong> situative Gegebenheiten klanglich zu übermitteln.<br />

So kann Funktionen sowie <strong>der</strong>en Eigenschaften<br />

eine über die <strong>Mathematik</strong> hinausweisende<br />

Bedeutung zukommen. Werden diese Ansprüche<br />

jedoch nicht erfüllt, bietet mit Graphen komponieren<br />

zwar aus musikdidaktischer Sicht über<br />

die Gestaltung von Klangcollagen den Freiraum<br />

auch <strong>für</strong> Schülerinnen und Schüler Kreativität zu<br />

zeigen [Hansen, 1975; Meyer-Denkmann, 1972],<br />

nicht aber nach den vorausgehenden Ausführungen<br />

zu expressiv kreativem Arbeiten im <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />

Nun stellt sich als weitere <strong>für</strong> den Unterricht<br />

relevante Frage, welche Kriterien kreative Tätigkeiten<br />

demzufolge zu erfüllen haben. Auch dies<br />

führt Drevdahl weiter aus:<br />

„Eine kreative Tätigkeit muss absichtlich und<br />

zielgerichtet sein, nicht nutzlos und phantastisch<br />

– obwohl das Produkt nicht unmittelbar<br />

praktisch anwendbar, nicht perfekt o<strong>der</strong><br />

gänzlich vollendet sein muss. Es kann eine<br />

künstlerische, literarische o<strong>der</strong> wissenschaftliche<br />

Form annehmen o<strong>der</strong> durchführungstechnischer<br />

o<strong>der</strong> methodologischer Art sein.“<br />

[Drevdahl, 1956, S. 22]<br />

Gerade <strong>der</strong> Zusatz des nicht zwingenden Anspruchs<br />

des Perfekten o<strong>der</strong> gänzlich Vollendeten<br />

ist im Hinblick auf das Arbeiten im Unterricht<br />

elementar. Nachdem Schülerinnen und Schülern<br />

beispielsweise die Fähigkeit o<strong>der</strong> Kenntnisse<br />

<strong>für</strong> eine vollkommene Umsetzung fehlen können,<br />

darf <strong>der</strong> Tätigkeit selbst auf diese Weise <strong>der</strong> Anspruch<br />

<strong>der</strong> Kreativität nicht abgesprochen werden.<br />

So kann im Hinblick auf mit Graphen komponieren<br />

<strong>der</strong> Plan o<strong>der</strong> Wunsch, den Schülerinnen und<br />

Schüler <strong>für</strong> die Ausführungen gefasst haben, an<br />

den technischen Möglichkeiten im Computerraum<br />

o<strong>der</strong> an den technischen Kenntnissen im Umgang<br />

Musik mit Funktionsgraphen – Wissen kreativ nutzen<br />

mit <strong>der</strong> Software beim Erstellen einer Klangcollage<br />

scheitern; die Aktivitäten <strong>der</strong> Schülerinnen<br />

und Schüler erfüllen trotzdem den Anspruch einer<br />

kreativen Tätigkeit. Ausschlaggebend bleibt<br />

desweiteren die Absichtlichkeit und Zielgerichtetheit.<br />

Mit Bezug auf mit Graphen komponieren<br />

muss <strong>der</strong> Einsatz jedes Klangereignisses o<strong>der</strong><br />

die Wahl eines Funktionstyps demzufolge ein bestimmtes<br />

Ziel verfolgen bei <strong>der</strong> Erzeugung und<br />

Übermittlung eines Höreindrucks. Es wird folglich<br />

ein bestimmter Klang – Lautstärke, Klangfarbe,<br />

Klangeffekt – angestrebt. Aber nicht nur<br />

das Ziel muss angegeben werden können, son<strong>der</strong>n<br />

auch <strong>der</strong> Zweck, um die Absicht darzulegen.<br />

Mit dem angestrebten Klang soll eine Klangwirkung<br />

beim Hörer absichtlich hervorgerufen werden.<br />

Folglich darf die Klangcollage kein zufälliges<br />

Ergebnis sein, son<strong>der</strong>n muss von den Schülerinnen<br />

und Schülern begründet und erläutert werden<br />

können. In diesem Sinne wird auch nach Hansen<br />

die Bedingung <strong>für</strong> kreatives Arbeiten im Musikunterricht<br />

erfüllt:<br />

„Kreatives Verhalten setzt ein, wenn . . .<br />

[Schülerinnen und Schüler] die gewonnenen<br />

Eindrücke und Informationen innerhalb eines<br />

spezifischen Materials nach selbständigen<br />

Konstellationen und neuen Strukturen zu<br />

ordnen beginnen.“ [Hansen, 1975, S. 20]<br />

Der Begriff des Zufälligen muss allerdings<br />

im Hinblick auf das Experimentieren und kreative<br />

Spielen eingeschränkt werden. Diese beiden<br />

Tätigkeiten stellen durchaus eine Grundlage des<br />

kreativen Arbeitens dar [vgl. Weth, 1999; Hansen,<br />

1975; Meyer-Denkmann, 1972; Paynter & Aston,<br />

1972], doch muss <strong>der</strong> Einsatz <strong>der</strong> auf diese Weise<br />

entdeckten Klangformen wie<strong>der</strong>um absichtlich<br />

und zielgerichtet erfolgen. Demzufolge kann eine<br />

Klangform mit entsprechen<strong>der</strong> Klangwirkung<br />

zufällig beim Experimentieren und Spielen mit<br />

Klängen beim Testen <strong>der</strong> Software entdeckt werden,<br />

doch <strong>der</strong> tatsächliche anschließende Einsatz<br />

dieses Klangeffektes muss überlegt an einer ausgewählten<br />

Stelle mit einem bezweckten Höreindruck<br />

geschehen.<br />

Kreativität wird in <strong>der</strong> traditionellen amerikanischen<br />

Kreativitätsforschung zumeist in die Teile<br />

kreative Person, kreativer Prozess, kreatives Produkt<br />

und kreative Umwelt geteilt [vgl. Neuhaus,<br />

2001]. In den Ausführungen wurde bisher auf den<br />

Prozess im Hinblick auf Aufgabenstellung und Eigenschaften<br />

<strong>der</strong> Tätigkeit eingegangen. Die Struktur<br />

und Glie<strong>der</strong>ung dieses Prozesses wurde außer<br />

Acht gelassen, da ausschließlich <strong>der</strong> Frage nachgegangen<br />

werden soll, inwiefern expressiv kreatives<br />

Arbeiten mit musikalischen Graphen generell<br />

möglich ist, nicht aber in welcher Form dieser<br />

Prozess vollzogen wird. Aus diesem Grund<br />

141


Stefanie Anzenhofer, Würzburg<br />

rückt auch die kreative Umwelt aus dem Blickfeld,<br />

da <strong>der</strong> Inhalt des Unterrichtskonzeptes näher<br />

untersucht werden soll, nicht aber die Voraussetzungen<br />

und Gegebenheiten in <strong>der</strong> Umwelt.<br />

Aus musikdidaktischer Sicht wurde bei diesem<br />

Konzept angestrebt, dass jede einzelne Schülerin<br />

und je<strong>der</strong> einzelne Schüler expressiv kreativ arbeiten<br />

können soll. Daher wird an dieser Stelle<br />

auch nicht näher auf die individuellen Eigenschaften<br />

einer kreativen Person eingegangen, nachdem<br />

Schülerinnen und Schüler im Allgemeinen als<br />

Handelnde mit heterogenen Eigenschaften in den<br />

Blick rücken, denen allen eine Grundfähigkeit zu<br />

kreativem Handeln eigen ist. Nachdem das Unterrichtskonzept<br />

mit Schülerinnen und Schülern<br />

durchgeführt wurde, soll an die kreativen Produkte<br />

nicht <strong>der</strong> Anspruch wie Originalität, Einzigartigkeit<br />

o<strong>der</strong> Genialität gestellt werden. Stattdessen<br />

wird auch hier auf die Definition nach Drevdahl<br />

zurückgegriffen, wonach das Produkt eben nicht<br />

perfekt o<strong>der</strong> vollkommen sein soll, jedoch beabsichtigt<br />

und zielgerichtet. Den Anspruch des neuartigen<br />

Ergebnisses wird aufgrund <strong>der</strong> <strong>für</strong> Schülerinnen<br />

und Schüler neuartigen Kombination von<br />

Musik und Funktionsgraphen erfüllt. Wenn nun<br />

also <strong>der</strong> Frage nachgegangen wird, inwiefern das<br />

Konzept <strong>der</strong> musikalischen Graphen ein expressiv<br />

kreatives Arbeiten ermöglicht, werden ausschließlich<br />

die Kriterien <strong>der</strong> Zielgerichtetheit, Absichtlichkeit,<br />

Neuartigkeit und die Bildung neuer Beziehungen<br />

<strong>für</strong> den Ausschluß einer bloßen Zusammenfassung<br />

herangezogen. Im Folgenden soll dies<br />

exemplarisch an einigen Ergebnissen <strong>der</strong> empirischen<br />

Studie näher ausgeführt werden.<br />

4 Design <strong>der</strong> Studie<br />

Das siebenstündige Unterrichtskonzept wurde in<br />

einer Hauptstudie mit zwei zehnten Klassen an einem<br />

Gymnasium (G8) durchgeführt, <strong>der</strong> eine Vorstudie<br />

mit ebenfalls zwei zehnten Klassen vorausging<br />

und eine Nachstudie mit einer elften Klasse<br />

(G9) einer Freien Waldorfschule mit sechs Unterrichtsstunden<br />

folgte. Den Themenbereichen Graphen<br />

hören und Graphen lesen und schreiben wurde<br />

ein Zeitfenster von jeweils einer Doppelstunde<br />

eingeräumt, die von <strong>der</strong> Lehrkraft mit dem entsprechenden<br />

Schwerpunktfach unterrichtet wurde.<br />

Daran schloss sich eine dreistündige Unterrichtseinheit<br />

zu mit Graphen komponieren an, bei<br />

<strong>der</strong> beide Lehrer zur Verfügung standen. Nach<br />

je<strong>der</strong> Themeneinheit wurden jeweils pro Klasse<br />

vier qualitative Schülerinterviews nach <strong>der</strong> Methode<br />

des Experteninterviews nach Gläser & Laudel<br />

[2006] durchgeführt. Dabei wurde den folgenden<br />

Fragen nachgegangen:<br />

⊲ Inwiefern wird das Wissen über Funktionen genutzt,<br />

um Gegebenes 3 „adäquat“ beschreiben<br />

142<br />

bzw. darstellen zu können?<br />

⊲ Inwiefern ist ein Zugang zu graphischen Notationen<br />

und damit zu Neuer Musik durch den Bezug<br />

zu Funktionen möglich?<br />

Um sicherzustellen, dass die Interviewfragen<br />

aufgrund des Unterrichtsverlaufs beantwortet<br />

werden können, wurden die Schülerinterviews<br />

durch Unterrichtsbeobachtung trianguliert. Auf<br />

diese Weise sollte zudem eine Vergleichbarkeit<br />

<strong>der</strong> einzelnen Interviews trotz <strong>der</strong> Unterschiede<br />

beim Unterrichtsverlauf aufgrund <strong>der</strong> verschiedenen<br />

Lehrpersonen gewährleistet werden.<br />

Die 24 Schülerinterviews <strong>der</strong> Hauptstudie<br />

wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach<br />

Mayring [<strong>2008</strong>] ausgewertet. Aufgrund <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitigen<br />

Forschungslage in diesem Themenfeld<br />

ist Ziel dieser Studie die Hypothesengenerierung.<br />

Die Kategorien wurden dabei induktiv anhand des<br />

Textes im Hinblick auf Schülertätigkeiten definiert,<br />

wobei bei <strong>der</strong> anschließenden Bündelung<br />

<strong>der</strong> Kategorien versucht wurde, dass ein Bezug<br />

zu den drei Aspekten des funktionalen Denkens<br />

[Vollrath, 1989] o<strong>der</strong> zu musikalischen Kompetenzfel<strong>der</strong>n<br />

[Gallus, 2005] hergestellt wird. Im<br />

Hinblick auf expressiv kreatives Arbeiten sollten<br />

die Richtlinien <strong>für</strong> eine expressiv kreative Tätigkeit<br />

(siehe Kreatives Arbeiten mit Musikalischen<br />

Graphen) aufgegriffen werden.<br />

5 Ergebnisse<br />

Die Ergebnisse können anhand <strong>der</strong> Schwerpunktlegung<br />

<strong>der</strong> Fächer Musik und <strong>Mathematik</strong> bei <strong>der</strong><br />

Konzeption des Unterrichts in drei Bereiche geglie<strong>der</strong>t<br />

werden. Zum einen wurde beobachtet, inwiefern<br />

die drei Aspekte des funktionalen Denkens<br />

durch den auditiven Einsatz angesprochen<br />

werden. Zum an<strong>der</strong>en wurden die Schülertätigkeiten<br />

dahingehend untersucht, in welchem Maß die<br />

Kriterien <strong>für</strong> expressiv kreatives Arbeiten erfüllt<br />

werden. Zusätzlich rückten musikalische Ziele in<br />

den Blickpunkt, bei denen auch nach dem Nutzen<br />

und dem Aufgreifen von Wissen zu Funktionen<br />

geachtet wurde.<br />

5.1 Mit Graphen komponieren<br />

3 Gegebenes wird dabei einerseits als Gehörtes an<strong>der</strong>erseits als „gefühlte Zeit“ interpretiert.<br />

Bei mit Graphen komponieren begründeten alle<br />

interviewten Schülerinnen und Schüler die Wahl<br />

und Zusammensetzung ihres Funktionsgraphen.<br />

Dabei thematisierten alle Interviewten das Kategorienbündel<br />

„Das Än<strong>der</strong>ungsverhalten eines<br />

Funktionstyps wird als Grund <strong>für</strong> die Wahl verwendet.“.<br />

Hierbei wurden die folgenden Kategorien<br />

unterschieden:<br />

⊲ Das grobe Än<strong>der</strong>ungsverhalten eines Funktionstyps<br />

wird als Grund <strong>für</strong> die Wahl verwendet.<br />

⊲ Das differenzierte Än<strong>der</strong>ungsverhalten eines<br />

Funktionstyps wird als Grund verwendet,. . .


◦ . . . diesen zu wählen<br />

◦ . . . diesen auszuschließen<br />

Bei <strong>der</strong> Angabe des groben Än<strong>der</strong>ungsverhaltens<br />

wurde ausschließlich zwischen Fallen und<br />

Steigen unterschieden. Die Begründung durch ein<br />

differenziertes Än<strong>der</strong>ungsverhalten <strong>für</strong> die Wahl<br />

o<strong>der</strong> den Ausschluss eines Funktionstyps zeigte<br />

sich, indem Schülerinnen und Schüler den Grad<br />

des Steigens bzw. Fallens als ausschlaggebend<br />

auswiesen. Nachdem fast alle (7 von 8) Interviewten<br />

<strong>der</strong> Kategorie des differenzierten Än<strong>der</strong>ungsverhaltens<br />

zugeordnet werden konnten, wird folgende<br />

Hypothese generiert:<br />

⊲ Durch die gezielte Betrachtung des Än<strong>der</strong>ungsverhaltens<br />

kann eine Grundvorstellung <strong>für</strong> den<br />

Ableitungsbegriff entwickelt werden.<br />

Dabei muss allerdings einschränkend hinzugefügt<br />

werden, dass nicht geklärt werden kann,<br />

inwiefern diese Hypothese auch auf die Themenwahl<br />

<strong>der</strong> Klangcollage zurückgeführt werden<br />

muss. Eine Voraussetzung kann folglich ein Thema<br />

mit funktionalem Zusammenhang zum Antragen<br />

eines Än<strong>der</strong>ungsverhaltens darstellen.<br />

Um die Wahl eines Funktionstyps zu begründen,<br />

führten mehr als die Hälfte (5 von 7) <strong>der</strong> interviewten<br />

Schülerinnen und Schüler zudem als<br />

Ausschluss- o<strong>der</strong> Auswahlkriterium eine Eigenschaft<br />

des Funktionstyps an.<br />

Diese beiden Kriterien Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />

und Eigenschaften einer Funktion rückten zudem<br />

bei dem Kategorienbündel „Tätigkeitsformen expressiv<br />

kreativen Arbeitens werden gezeigt.“ in<br />

den Blickpunkt. Die Interviews wurden dahingehend<br />

untersucht, inwiefern diese beiden Kriterien<br />

mit musikalischen Kategorien o<strong>der</strong> Elementen in<br />

Beziehung gesetzt wurden. Dabei zeigten sich folgende<br />

Kategorien:<br />

⊲ Klangfarbe wird in Abhängigkeit vom Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />

des Graphen verwendet.<br />

⊲ Stücke des Graphen werden wie<strong>der</strong>holt eingesetzt,<br />

um ähnliche Verläufe zu charakterisieren.<br />

⊲ Der Graph wird als klangliches Mittel gezielt in<br />

die Klangcollage integriert.<br />

⊲ Eine charakteristische Eigenschaft eines Funktionstyps<br />

wird abstrahiert metaphorisch umgedeutet.<br />

⊲ Dynamische Mittel werden berücksichtigt.<br />

Anhand dieser Kategorien kann aufgezeigt<br />

werden, dass <strong>der</strong> Klang des Funktionsgraphen<br />

nicht unverarbeitet neben die musikalischen Klangereignisse<br />

gesetzt wird, son<strong>der</strong>n mit diesen gezielt<br />

in Beziehung gesetzt werden. Dieses Kategorienbündel<br />

thematisierten sechs von acht Schülerinnen<br />

und Schüler im Interview. Allerdings muss<br />

angemerkt werden, dass die Zeit <strong>für</strong> eigenständiges<br />

Arbeiten an <strong>der</strong> Klangcollage anfangs zu gering<br />

bemessen wurde. Schülerinnen und Schüler<br />

benötigten mehr Zeit als erwartet, um sich in die<br />

Musik mit Funktionsgraphen – Wissen kreativ nutzen<br />

zumeist <strong>für</strong> sie neue Software einzuarbeiten. Daher<br />

wurde in einer Klasse die Stundenzahl beim<br />

Themenfeld mit Graphen komponieren spontan<br />

aufgestockt. Die Interviewten dieser Klasse erfüllten<br />

alle das Kategorienbündel mittels irgendeines<br />

<strong>der</strong> oben angeführten Kategorien.<br />

Im Hinblick auf kreatives Arbeiten muss nun<br />

<strong>der</strong> Einsatz <strong>der</strong> klanglichen Mittel aus musikalischer<br />

Sicht näher betrachtet werden. Hansen stellte<br />

wie oben angemerkt die Bedingung an kreatives<br />

Verhalten beim Verwenden des Materials ein<br />

gewisses Ordnungsprinzip zu verfolgen. Die Interviews<br />

wurden nun dahingehend untersucht, inwiefern<br />

die Möglichkeiten zur Wahl und Variation<br />

von Klangereignissen in Betracht gezogen wurde<br />

und ob ein absichtlicher und zielgerichteter Einsatz<br />

<strong>der</strong> ausgewählten Elemente stattfand.<br />

Unter Berücksichtigung eines erhöhten Zeitkontingents<br />

wird folgende Hypothese generiert:<br />

⊲ Das Komponieren mit Graphen eröffnet die<br />

Möglichkeit <strong>für</strong> expressiv kreatives Arbeiten im<br />

Hinblick auf eine absichtliche und zielgerichtete<br />

Verbindung von Funktionsgraphen und Musik.<br />

Komponieren wird dabei als eine Weise des<br />

Musik Machens nach Elliot aufgefasst, welche<br />

sich vom Ausführen, Arrangieren, Improvisieren<br />

sowie Einstudieren und Leiten unterscheidet [Vgl.<br />

Elliott, 1995].<br />

Im Folgenden soll nun an zwei konkreten<br />

Beispielen Anna und Moritz die Vorgehensweise<br />

beim Themenfeld mit Graphen komponieren ausschnittsweise<br />

rekonstruiert werden.<br />

Anna<br />

Die Schülerin Anna wählt <strong>für</strong> ihre Klangcollage<br />

das Thema Urlaub mit Hin- und Rückflug<br />

(Abb. 18.4). Bei <strong>der</strong> Auswahl <strong>der</strong> Funktionstypen<br />

<strong>für</strong> die Erstellung ihres Funktionsgraphen zum<br />

Thema „gefühlte Zeit“ entscheidet sie sich zusammen<br />

mit ihrer Partnerin <strong>für</strong> Ausschnitte einer<br />

Exponential- und Sinusfunktion sowie einer<br />

linearen Funktion. Dies begründet sie durch die<br />

Betrachtung des differenzierten Än<strong>der</strong>ungsverhaltens,<br />

wie an diesem Auszug deutlich wird:<br />

„wir haben uns eben überlegt, die Exponentialfunktion<br />

ging etwa bis zu dieser Linie<br />

hier, . . . es muss aber noch weiter nach oben<br />

gehen. Da die Exponentialfunktion aber irgendwann<br />

zu steil wird, weil sie ja dann fast<br />

im 90 ◦ -Winkel zu dieser Linie hier steht, haben<br />

wir uns überlegt, wir wollen schon ne<br />

Schräge haben und haben deswegen den Sinus<br />

genommen, weil das eben nicht ganz gerade<br />

ist, son<strong>der</strong>n eben noch ne Steigung hat,<br />

die eben hier passt.“<br />

143


Stefanie Anzenhofer, Würzburg<br />

Abbildung 18.4: Funktionsgraph zum Thema Urlaub von Anna<br />

Den Klang des Graphen fügte sie mit Flugzeuggeräuschen<br />

und afrikanischer Musik als typische<br />

Klangereignisse <strong>für</strong> die jeweilige Situation in<br />

<strong>der</strong> Klangcollage zusammen. Diese starke Reduktion<br />

<strong>der</strong> Mittel fußte in <strong>der</strong> Erkenntnis von Anna<br />

und ihrer Partnerin, dass diese Ereignisse die einzig<br />

ausschlaggebenden Bedingungen <strong>für</strong> die Verän<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Zeitwahrnehmung sind.<br />

„Das war <strong>für</strong> uns nicht wichtig, weil wir ja<br />

nur verdeutlichen wollten, dass zuerst beim<br />

Hinflug, wir hatten ja auch den Graphen im<br />

Hintergrund, wir wollten einfach nur verdeutlichen,<br />

dass die Tonhöhe praktisch beim<br />

Hinflug niedriger ist, dann ansteigt und hier<br />

konstant ist. Und es war einfach, es war<br />

nichts An<strong>der</strong>es dabei wichtig. Es ist richtig<br />

dass man im Urlaub o<strong>der</strong> im Flugzeug noch<br />

an<strong>der</strong>e Geräusche hört, aber <strong>für</strong> uns stand<br />

<strong>der</strong> Flug, dass es da die Zeit langsamer vergeht<br />

beziehungsweise schneller <strong>für</strong> uns, das<br />

stand da im Vor<strong>der</strong>grund.“<br />

Die afrikanische Musik diente zudem dazu die<br />

entspannte und ruhige Atmosphäre im Urlaub zu<br />

vermitteln. Demzufolge wird ein Ordnungsprinzip<br />

bei <strong>der</strong> Wahl <strong>der</strong> Klangereignisse gewählt. In<br />

Anbetracht des hohen Maßes an Reduktion kann<br />

dies bereits als ein Stilmittel gedeutet werden.<br />

Die Voraussetzung <strong>für</strong> expressiv kreatives Arbeiten<br />

im <strong>Mathematik</strong>unterricht wird allerdings nur<br />

ansatzweise erfüllt. Der Klang des Graphen wird<br />

ausschließlich neben die Klangereignisse gesetzt.<br />

Allerdings wird es dynamisch bearbeitet, wie im<br />

vorausgehenden Zitat durch die Hierarchiebildung<br />

angedeutet wird.<br />

Durch die zielgerichtete und absichtliche<br />

Wahl <strong>der</strong> eingesetzten Elemente und einer über die<br />

Fachgrenzen hinausgehenden Arbeitsweise kann<br />

Anna noch als ein Beispiel <strong>für</strong> expressiv kreatives<br />

Arbeiten gewertet werden. Einschränkend muss<br />

allerdings angeführt werden, dass nicht eindeu-<br />

144<br />

tig geklärt werden kann, ob tatsächlich alle klanglichen<br />

Mittel beim Entwerfen <strong>der</strong> Klangcollage<br />

in Betracht gezogen wurden, und dass die Einarbeitung<br />

des Graphen an ein Nebeneinan<strong>der</strong>stellen<br />

grenzt.<br />

Moritz<br />

Das Thema, welches von Moritz behandelt wurde,<br />

ist Schule. Bei <strong>der</strong> Erstellung seines Funktionsgraphen<br />

(Abb. 18.5) wählt er die Funktionstypen<br />

Logarithmus- und Exponentialfunktion, wobei<br />

er das differenzierte Än<strong>der</strong>ungsverhalten als<br />

Grund anführt. Ferner folgert Moritz die Lage <strong>der</strong><br />

Extrempunkte aus dem Wechsel zwischen Unterrichtstunden<br />

und Pausen. Als Verbesserungsvorschläge<br />

führt er eine Erweiterung des Graphen<br />

um eine weitere Logarithmusfunktion zu Beginn<br />

an, um auch das Aufstehen in die Klangcollage<br />

zu integrieren. Auch die Gerade die er <strong>für</strong> den<br />

Schluss gewählt hatte, würde er teilweise durch<br />

eine Sinus- o<strong>der</strong> Kosinusfunktion ersetzen:<br />

„Ich würde es dann vermutlich mit ner Sinuso<strong>der</strong><br />

Kosinusfunktion machen. . . [. . . ] Hier,<br />

Schwankung hat, die zwar dann eigentlich<br />

nicht natürlich ist, aber darstellt, dass man<br />

danach dann auch noch Schwankungen hat.<br />

Dass das nicht völlig aufhört, dass man dann<br />

gleich happy, und die Zeit vergeht völlig<br />

schnell, son<strong>der</strong>n das Ganze auch noch seine<br />

Höhen und Tiefen hat.“<br />

Demzufolge dient das Charakteristikum <strong>der</strong><br />

Periodizität als metaphorisches Stilmittel. Die Eigenschaft<br />

eines Funktionstyps wird somit in einem<br />

erweiterten Kontext gesehen. Ähnlich verhält<br />

es sich auch bei dem letzten großen Anstieg zum<br />

Maximum vor <strong>der</strong> Sinus-/Kosinusfunktion:<br />

„gegen Ende hin, hat das Ganze dann bei <strong>der</strong><br />

Umsetzung dann irgendwie doch eher den<br />

Effekt bekommen, dass das Ganze das Aufwachsignal<br />

dann doch wie<strong>der</strong> ist, nach dem


Musik mit Funktionsgraphen – Wissen kreativ nutzen<br />

Abbildung 18.5: Funktionsgraph von Moritz zum Thema Schule<br />

Ende <strong>der</strong> Schulzeit und das geht dann nach<br />

nem kurzen Durchhänger, eben dem Vorspiel<br />

diesem letzten dann doch in die richtige Freizeit<br />

über.“<br />

Dieser Anstieg übermittelt folglich in <strong>der</strong><br />

Klangcollage nicht nur den funktionalen Zusammenhang,<br />

son<strong>der</strong>n wird durch Spielen mit Klängen<br />

zu einem zielgerichtet eingesetzten und absichtlichen<br />

Klangmittel. Daneben verwendet Moritz<br />

in seiner Klangcollage absichtlich ausschließlich<br />

Musik und verschiedene Klangeffekte zur Bearbeitung<br />

des Graphenklangs und <strong>der</strong> unterlegten<br />

Musik sowie dynamische Verän<strong>der</strong>ungen. In Moritz‘<br />

Klangcollage<br />

„zeigt des [<strong>der</strong> Funktionsgraph] eben die<br />

Schwankungen in <strong>der</strong> Schule, während die<br />

Hintergrundmusik, die Schule als Ganzes<br />

letztendlich zeigt.“<br />

Insgesamt beinhaltet Moritz‘ Arbeitsweise ein<br />

hohes Maß an expressiv kreativen Tätigkeiten.<br />

5.2 Graphen hören sowie Graphen lesen und<br />

schreiben<br />

Bei <strong>der</strong> Themeneinheit Graphen hören zeigte sich,<br />

dass die interviewten Schülerinnen und Schüler<br />

den Verlauf des Gehörten zumeist (22 von 24<br />

Versuche) richtig aufzeichneten und den Funktionstyp<br />

daraufhin bestimmten. Nachdem die angefertigten<br />

Skizzen und die anschließende Wahl<br />

aufgrund <strong>der</strong> individuell verschiedenen Höreindrücke<br />

begründet werden mussten, wurde das Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />

des Tonhöhenverlaufs durch jeden<br />

Interviewten thematisiert. Das Kategorienbündel<br />

„Anhand des Tonhöhenverlaufes wird ein<br />

Bezug zum Än<strong>der</strong>ungsverhalten des Graphen hergestellt.“<br />

konnte in folgende Kategorien unterteilt<br />

werden:<br />

⊲ Tonhöhenverlauf wird nur durch ein grobes Än<strong>der</strong>ungsverhalten<br />

beschrieben.<br />

⊲ Tonhöhenverlauf wird durch ein differenziertes<br />

Än<strong>der</strong>ungsverhalten beschrieben.<br />

Nachdem die Krümmungen graphisch stets<br />

wie<strong>der</strong>gegeben o<strong>der</strong> mit an<strong>der</strong>en Begriffen wie<br />

Welle, Bogen o.ä. umschrieben wurden, darf davon<br />

ausgegangen werden, dass das differenzierte<br />

Än<strong>der</strong>ungsverhalten durchaus von je<strong>der</strong> Schülerin<br />

und jedem Schüler wahrgenommen wird, doch<br />

die Formulierungen nicht bei allen gleichermaßen<br />

präzise sind. Daraus wurden folgende Hypothesen<br />

abgeleitet:<br />

⊲ Durch die gezielte Betrachtung des Än<strong>der</strong>ungsverhaltens<br />

kann eine Grundvorstellung <strong>für</strong> den<br />

Ableitungsbegriff entwickelt werden.<br />

⊲ Zur Präzisierung <strong>der</strong> Übermittlung des subjektiven<br />

Höreindrucks kann bei <strong>der</strong> Beschreibung<br />

des Gehörten die mathematische Fachsprache<br />

geför<strong>der</strong>t werden.<br />

Für das Themenfeld Graphen lesen und schreiben<br />

wurde auf entsprechende Art diese Hypothese<br />

generiert:<br />

⊲ Das Wie<strong>der</strong>erkennen von Funktionsgraphen<br />

und damit einhergehend das Übertragen des<br />

dazugehörenden Wissens auf graphische Notationsformen<br />

kann beim Musizieren und bei <strong>der</strong><br />

musikalischen Analyse von Tonhöhenverläufen<br />

helfen.<br />

145


Stefanie Anzenhofer, Würzburg<br />

5.3 Resümee<br />

Demzufolge wird das Wissen über verschiedene<br />

Funktionstypen mit den dazugehörenden Eigenschaften<br />

und Än<strong>der</strong>ungsverhalten in allen drei<br />

Themenfel<strong>der</strong>n auf verschiedene Weise genützt,<br />

angewendet und übertragen. Außerdem bietet das<br />

Konzept die Möglichkeit zu expressiv kreativem<br />

Arbeiten, wodurch Schülerinnen und Schüler<br />

auch im <strong>Mathematik</strong>unterricht eine emotionalsubjektive<br />

Komponente erfahren dürfen.<br />

Literatur<br />

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Elliott, David J. (1995): Music Matters. A New Philosophy of<br />

Music Education. New York: Oxford.<br />

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Chor aktuell. Chorbuch <strong>für</strong> Gymnasien. Regensburg: Bosse.<br />

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In: Jank, Werner (Hg.): Musik-<strong>Didaktik</strong>: Praxishandbuch<br />

<strong>für</strong> die Sekundarstufe I und II, Berlin: Cornelsen Scriptor, 101–<br />

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und qualitative Inhaltsanalyse als Instrumente rekonstruieren<strong>der</strong><br />

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Kalwies, Hannelore (2001): Notation im Schulmusikunterricht:<br />

ein Beitrag zur historisch-systematischen Musikdidaktik.<br />

Dissertation, Universität Oldenburg, Oldenburg, URL http:<br />

//oops.uni-oldenburg.de/volltexte/2001/354/.<br />

146<br />

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Doblinger.<br />

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Mayring, Philipp (<strong>2008</strong>): Qualitative Inhaltsanalyse. Weinheim:<br />

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Meyer-Denkmann, Gertrud (1972): Struktur und Praxis neuer<br />

Musik im Unterricht. Wien: Universal Edition.<br />

Neuhaus, Kornelia (2001): Die Rolle des Kreativitätsproblems<br />

in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik. Berlin: Köster.<br />

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zur Erweiterung des Intelligenzkonzeptes. Weinheim:<br />

Beltz.<br />

Vollrath, Hans-Joachim (1987): Begriffsbildung als schöpferisches<br />

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Vollrath, Hans-Joachim (1989): Funktionales Denken. Journal<br />

<strong>für</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik, 10(1), 3–37.<br />

Weth, Thomas (1999): Kreativität im <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />

Hildesheim: Franzbecker.


• Von Daten zur Funktion: Skizzen eines anwendungsorientierten<br />

Analysisunterricht<br />

Joachim Engel, Ludwigsburg<br />

Der Aufsatz umreisst Perspektiven eines technologiegestützten Analysisunterrichts, von <strong>der</strong> Propädeutik<br />

einer elementaren Funktionenlehre in <strong>der</strong> Sekundarstufe I bis hin zur Hochschulausbildung<br />

in angewandter Analysis. Didaktische Intention ist die Entwicklung von Kompetenzen, funktionale<br />

Zusammenhänge aus <strong>der</strong> uns umgebenden Erfahrungswelt mit mathematischen Methoden zu modellieren.<br />

Kennzeichen des vorgestellten Ansatzes sind reale Daten als Grundlage <strong>für</strong> authentische<br />

und glaubwürdige Modellierungen, <strong>der</strong> Einsatz von Technologie als Werkzeug zum Problemlösen<br />

und zur Illustrierung von Konzepten und Zusammenhängen sowie die Vernetzung von Analysis mit<br />

(Schul-) Algebra, Stochastik und Numerik.<br />

1 Analysisunterricht in <strong>der</strong><br />

Diskussion<br />

Analysis zählt seit über 100 Jahren zum Curriculum<br />

an allgemeinbildenden Gymnasien [Führer,<br />

1981, 2012] und gehört zu den Grundpfeilern<br />

des <strong>Mathematik</strong>unterrichts in <strong>der</strong> Sekundarstufe<br />

II, denen eine unverän<strong>der</strong>t zentrale Bedeutung<br />

zukommt [Kultusministerkonferenz, 2002].<br />

Allerdings äußert sich gerade am Analysisunterricht<br />

seit vielen Jahren eine massive Kritik (siehe<br />

z.B. Henn, 2000): Er sei zu stark verfahrensorientiert<br />

und zu wenig vorstellungsorientiert; formales<br />

Vorgehen dominiere gegenüber inhaltlichen Überlegungen;<br />

zudem sei <strong>der</strong> Unterricht nur wenig vernetzend,<br />

sowohl was Wie<strong>der</strong>holungen und Fortsetzungen<br />

als auch was Bezüge zu Alltag, Umwelt<br />

und an<strong>der</strong>en Fächern anbetrifft. Gerade <strong>für</strong><br />

den real existierenden Analysisunterricht gelte die<br />

allseits beklagte übermäßige Kalkülorientierung,<br />

die mangelnde Vernetzung und <strong>der</strong> unzureichende<br />

Sinnbezug. Damit stellt sich die Frage, was<br />

angesichts leicht verfügbarer elektronischer Hilfsmittel<br />

„allgemeinbilden<strong>der</strong>“ Lehrstoff in Analysis<br />

sein soll und was nicht. Gewiss gibt es zahlreiche<br />

innovative Vorschläge und Konzepte, den Analysisunterricht<br />

sowohl in seiner Zielsetzung wie<br />

auch methodischen Ausrichtung neu zu gestalten.<br />

Im Folgenden umreißen wir Skizzen eines technologiegestützten<br />

anwendungsorientierten Analysisunterrichts.<br />

Die Eckpfeiler dieses Unterrichts lassen<br />

sich mit den drei Begriffen Technologie, Daten<br />

und Vernetzungen beschreiben.<br />

1.1 Technologie<br />

Die meisten Anwendungen von <strong>Mathematik</strong> sind<br />

im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht mehr ohne Computertechnologie<br />

denkbar. Dabei findet eine weitgehende<br />

Arbeitsteilung statt: Während sich die Maschine<br />

hervorragend dazu eignet, aufwändige Berechnungen<br />

durchführen, wendet sich <strong>der</strong> Mensch gerade<br />

den Fragen zu, die <strong>der</strong> Computer nicht entscheiden<br />

kann. Technologie erlaubt uns nicht nur<br />

lästige – aber im Prinzip verstandene – Routineaufgaben<br />

an den ”Rechenknecht” zu delegieren,<br />

son<strong>der</strong>n didaktisch konzipierte Software dient vor<br />

allem auch als multimediales Mittel zur Veranschaulichung<br />

und Illustration, um konzeptionelles<br />

Verstehen zu för<strong>der</strong>n. Es ermöglicht lernerzentrierte<br />

Unterrichtskonzepte und erlaubt einen experimentellen<br />

und entdeckenden Arbeitsstil. Zentrale<br />

Ideen <strong>der</strong> angewandten <strong>Mathematik</strong> können<br />

so illustriert und multimedial dargestellt werden,<br />

was den Erwerb eines verständnisvollen Umgangs<br />

mit diesen Konzepten entscheidend unterstützen<br />

kann. Schließlich erlaubt uns die mo<strong>der</strong>e Kommunikationstechnologie<br />

wichtige Information zu<br />

beschaffen, die in einem problemorientierten Unterricht<br />

nutzbar gemacht werden kann.<br />

1.2 Daten<br />

Umwelterschließung und Anwendungsorientierung<br />

sind im <strong>Mathematik</strong>unterricht streng genommen<br />

selten ohne reale Daten denkbar. Daten bilden<br />

die wissenschaftlich akzeptierte Grundlage<br />

des Erkenntnisgewinnes und sind beim Aufbau<br />

evidenzbasiertem neuen Wissens unverzichtbar,<br />

denn sie sind weitaus glaubwürdiger als Anekdoten<br />

o<strong>der</strong> bloße Meinungen. Anwendungsbezogener<br />

<strong>Mathematik</strong>unterricht, <strong>der</strong> diesen Namen verdient,<br />

sollte sich weitgehend auf reale Daten beziehen,<br />

nicht auf erfundenes Zahlenmaterial.<br />

Lei<strong>der</strong> sind Daten aus dem Leben oft krumm,<br />

und ihre arithmetische Verarbeitung endet selten<br />

in einem numerisch einfachen Ergebnis. Traditionelle<br />

Schulbücher umgehen diese Problematik<br />

einfach mit erfundenen Anwendungsbeispielen.<br />

Zu einer mehr o<strong>der</strong> weniger belanglosen Story<br />

werden bequeme Daten fingiert, um eine bestimmte<br />

(meist auf den vorangegangenen Seiten<br />

gerade eingeführte) Technik zu benutzen – ganz<br />

in <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> eingekleideten Textaufgaben.<br />

Die auftretenden Zahlen sind leicht handhabbar,<br />

rund und das Ergebnis selten mehr als dreistellig.<br />

Das davon erzeugte Bild von mathematischen Anwendungen<br />

ist verzerrt, weil es – heimlich o<strong>der</strong> offen<br />

– das Werkzeug über die Sache stellt und reale<br />

Kontexte verharmlost.<br />

Intellektuell redlicher anwendungsorientierter<br />

<strong>Mathematik</strong>unterricht verlangt wirkliche Fragestellungen<br />

und die Arbeit mit realen (nicht nur<br />

147


Joachim Engel, Ludwigsburg<br />

realistischen) Daten. Allerdings haben reale Daten<br />

oft Probleme: Messwerte fehlen o<strong>der</strong> sind inkorrekt.<br />

Berechnungen mit <strong>der</strong> Hand sind ermüdend<br />

und führen selten zu ,runden’ Ergebnissen. Manche<br />

Daten sind auch verfälscht aufgrund fehlerhafter<br />

Erhebungen, unehrlicher Antworten <strong>der</strong> Befragten<br />

o<strong>der</strong> missverständlicher Notationen. Die<br />

zur Analyse anzuwendenden Methoden sind selten<br />

eindeutig erkennbar o<strong>der</strong> bestimmt. Oft müssen<br />

noch verschiedene weitere Annahme formuliert<br />

werden, bevor eine Analyse beginnen kann.<br />

Hier werden PCs und leistungsfähige Taschenrechner<br />

zum wichtigen Werkzeug, das von lästiger<br />

Rechenroutine entlastet und hilft, sich auf<br />

die wesentlichen Elemente des Anwendens von<br />

<strong>Mathematik</strong> zu konzentrieren. Gewiss ist es instruktiv,<br />

aber auch zeitaufwändig, im Unterricht<br />

Daten zu erheben. Mo<strong>der</strong>ne Technologie erlaubt<br />

uns nicht nur, erhobene Daten effektiv zu verwalten<br />

und darzustellen, son<strong>der</strong>n ermöglicht Daten zu<br />

fast jedem interessierenden Themengebiet zu beschaffen<br />

[Engel, 2007].<br />

1.3 Vernetzungen<br />

<strong>Mathematik</strong> ist eine höchst kumulative Wissenschaft,<br />

<strong>der</strong>en Erkenntnisse stark auf Querbezügen<br />

und Kausalbezügen aufbauen, die sich bei je<strong>der</strong><br />

Mathematisierung aus den notwendigen Abstraktionen<br />

einstellen. Mathematisches Denken ist<br />

Denken in abstrahierten Zusammenhängen. Das<br />

Herstellen von Querbezügen zu schon Gelerntem<br />

hilft dabei, neues mathematisches Wissen aufzubauen.<br />

Guter <strong>Mathematik</strong>unterricht hebt Verbindungen<br />

zu an<strong>der</strong>en Lehrstoffen hervor, und för<strong>der</strong>t<br />

so mathematisches Verstehen und das Verständnis<br />

da<strong>für</strong> wie mathematische Ideen aufeinan<strong>der</strong> aufbauen<br />

und ein zusammenhängendes Ganzes bilden.<br />

Daher wird anwendungsbezogener Analysisunterricht<br />

seine Inhalte mit an<strong>der</strong>en Gebieten<br />

vernetzen, z. B. mit elementarer Funktionenlehre,<br />

(Linearer) Algebra, Stochastik, Anwen<strong>der</strong>geometrie,<br />

Numerik, . . .<br />

2 Beispiele<br />

Im Folgenden umreißen wir einige Beispiele, die<br />

angefangen in <strong>der</strong> elementaren Funktionenlehre<br />

<strong>der</strong> Sekundarstufe I bis hin zu numerisch anspruchsvollen<br />

Methoden <strong>für</strong> die Oberstufe und die<br />

Hochschulausbildung ein Ziel verfolgen: Schüler<br />

dazu befähigen, funktionale Zusammenhänge<br />

zu modellieren. Viele weitere Beispiele und vor<br />

allem eine Darlegung geeigneter mathematischer<br />

Methoden finden sich in einem kürzlich erschienen<br />

Lehrbuch [Engel, <strong>2009</strong>].<br />

2.1 Schriftgröße und Textlänge<br />

Wenn man einen festen Textabschnitt in einem<br />

Textverarbeitungssystem schreibt, dann kann man<br />

148<br />

1 http://es.wikisource.org/wiki/El_ingenioso_Hidalgo_Don_Quijote_de_la_Mancha<br />

die Länge des Textes beeinflussen, indem man unterschiedliche<br />

Schriftgrößen verwendet. Aber um<br />

wie viel än<strong>der</strong>t sich die Textlänge bei Vergrößerung<br />

<strong>der</strong> Schriftgröße? Wir haben einen Text<br />

genommen (den ersten Abschnitt aus Don Quijote<br />

von Cervantes auf Spanisch 1 ) und haben<br />

die Schriftgröße (pt) variiert. Die Variablen sind<br />

Schriftgröße und Textlänge. Abb. 19.1 zeigt ein<br />

Streudiagramm <strong>der</strong> Daten, in das nach Augenmaß<br />

sowohl eine Gerade<br />

y = 1,43x − 7,2<br />

wie auch eine quadratische Funktion<br />

y = 0,0572x 2<br />

eingepasst wurde. Man sieht sofort, dass die Gerade<br />

kein angemessenes Modell liefert und dass die<br />

Parabel ein sehr gutes Modell darstellt.<br />

Offensichtlich wächst mit ansteigen<strong>der</strong><br />

Schriftgröße nicht nur die Breite, son<strong>der</strong>n auch<br />

die Höhe <strong>der</strong> Buchstaben. Dies liefert eine plausible<br />

Begründung <strong>für</strong> die Eignung des quadratischen<br />

Modells. Wird die Schriftgröße um das<br />

1,5-fache erhöht, vergrößert sich die Textlänge<br />

etwa um das 1,5 2 = 2,25-fache. Wird die Schriftgröße<br />

verdoppelt, so wird sich die Textlänge in<br />

etwa vervierfachen.<br />

Abbildung 19.1: Schriftgröße und Textlänge eines<br />

vorgegebenen Textes mit eingepasster Gerade und<br />

Parabel. Im unteren Teil: Residuendiagramm <strong>für</strong><br />

die eingepasste Parabel.<br />

Dennoch kommt es zu Abweichungen zwischen<br />

Daten und Modell, wie dem Residuendiagramm<br />

im unteren Teil von Abb. 19.1 zu entnehmen<br />

ist. Diese Abweichungen sind kein Anzeichen<br />

da<strong>für</strong>, dass das Parabelmodell ungeeignet<br />

ist. Modell und „Realität“ stimmen bei realen<br />

mathematischen Anwendungen nie überein.<br />

Diese vielleicht wichtigste Lektion des Novizen<br />

beim Erlernen <strong>der</strong> Kunst des mathematischen Modellierens<br />

ist im vorliegenden Fall sehr plausibel:


Von Daten zur Funktion: Skizzen eines anwendungsorientierten Analysisunterricht<br />

Das Textverarbeitungssystem än<strong>der</strong>t bei verschiedenen<br />

Schriftgrößen den Zeilenumbruch. Und ein<br />

Wort, das einmal gerade noch in die Zeile passt,<br />

kommt bei verän<strong>der</strong>ter Schriftgröße in eine neue<br />

Zeile, während <strong>der</strong> Text <strong>der</strong> alten Zeile gestreckt<br />

wird. Es lohnt sich durchaus, eine entsprechende<br />

Datenerhebung mit einem Text eigener Wahl<br />

durchzuführen und dabei die Abweichungen <strong>der</strong><br />

Messdaten vom Parabelmodell zu beachten.<br />

2.2 Verteilung von Anfangsziffern<br />

Sind bestimmte Ziffern im Alltag bevorzugt, o<strong>der</strong><br />

kommen alle zehn Ziffern ungefähr gleich oft vor?<br />

Zur Untersuchung dieser Frage haben wir willkürlich<br />

irgendeine zweistellige Zahl genommen, z.B.<br />

17, und dann mittels Suchmaschine im Internet die<br />

Anzahl <strong>der</strong> Seiten ermittelt, auf denen jeweils die<br />

Ziffern 117, 217, 317 bis 917 auftreten. Kommen<br />

die Anfangsziffern von 1 bis 9 etwa gleich häufig<br />

vor, o<strong>der</strong> werden bestimmte Zahlen bevorzugt?<br />

Abbildung 19.2: Google-Suche mit Angabe <strong>der</strong><br />

Anzahl <strong>der</strong> Seiten, auf denen die Ziffer 117 vorkommt<br />

Von den im Internet ermittelten Werten wurden<br />

die relativen Häufigkeiten berechnet und in<br />

ein Streudiagramm eingetragen (Abb. 19.3). Dabei<br />

lässt sich zunächst feststellen, dass die Ziffern<br />

keineswegs gleichverteilt sind. In den meisten Fällen<br />

liefert eine Funktion <strong>der</strong> Form<br />

<br />

y = log 1 + 1<br />

<br />

x<br />

eine hervorragende Anpassung. Dahinter steckt<br />

ein Gesetz, das nach Frank Benford (1883-1948)<br />

benannt ist.<br />

Abbildung 19.3: Streudiagramm <strong>der</strong> relativen<br />

Häufigkeiten dreistelliger Zahlen mit Endziffern<br />

17 inkl. Benford-Funktion<br />

!<br />

!<br />

Bei unserer Internet-Recherche konnte man<br />

jedoch auch auf markante Ausreißer – wen überrascht<br />

es bei statistischen Zahlen – stoßen: Geht<br />

man z.B. von <strong>der</strong> Ziffer 65 aus, so fällt eine beson<strong>der</strong>e<br />

Häufigkeit <strong>der</strong> Zahl 365 auf (warum wohl?),<br />

die gar nicht dem Benford-Gesetz entsprechen<br />

mag, siehe Abb. 19.4. Eine elementare Erklärung<br />

dieses Gesetzes findet sich z.B. bei [Humenberger,<br />

<strong>2008</strong>].<br />

Abbildung 19.4: Streudiagramm <strong>der</strong> relativen<br />

Häufigkeiten dreistelliger Zahlen mit Endziffern<br />

65 inkl. Benford-Funktion<br />

Abbildung 19.5: Temperaturzuwachs von unterschiedlichen<br />

Volumina Wasser nach 30 Sekunden<br />

in <strong>der</strong> Mikrowelle mitsamt per Augenmaß angepasster<br />

antiproportionaler Funktion und Residuendiagramm<br />

(unterer Teil)<br />

2.3 Wasser in Mikrowelle erhitzen<br />

Verschiedene Mengen Wasser wurden jeweils <strong>für</strong><br />

30 Sekunden in <strong>der</strong> Mikrowelle erhitzt. Wie hängt<br />

<strong>der</strong> Temperaturzuwachs in diesem Experiment<br />

von <strong>der</strong> Wassermenge ab? Die Daten bestehen<br />

aus zehn Messwerten <strong>der</strong> jeweiligen Temperatur<br />

!<br />

!<br />

149


Joachim Engel, Ludwigsburg<br />

in Grad Celsius vor und nach dem Erhitzen in<br />

<strong>der</strong> Mikrowelle sowie <strong>der</strong> jeweiligen Wassermenge<br />

(in ml).<br />

Hierbei wird schnell ersichtlich, dass eine einfache<br />

Antiproportionalität <strong>der</strong> Form y = a x den<br />

Daten nicht gerecht wird, da im Residuendiagramm<br />

systematische Abweichungen zwischen<br />

Daten und Modell erkennbar sind. Die Daten sind<br />

zwar offensichtlich gekrümmt, aber eine Antiproportionalität<br />

scheint nicht geeignet, diese Krümmung<br />

angemessen zu erfassen.<br />

Bevor wir weitere Parameter einführen und<br />

dann per Schieberregler probieren, bis eine halbwegs<br />

zufrieden stellende Anpassung erzielt ist,<br />

schlagen wir einen an<strong>der</strong>en Weg ein: Durch Logarithmierung<br />

bei<strong>der</strong> Variablen erhalten wir ein<br />

Streudiagramm mit einem annähernd linearen<br />

Trend (siehe Abb. 19.6). In dieses Streudiagramm<br />

wird nach <strong>der</strong> kleinsten-Quadrate-Methode eine<br />

Gerade eingepasst, was von vielen Softwarepaketen<br />

problemlos vollzogen werden kann:<br />

logTZuwachs = a · logVol + b,<br />

wobei logTZuwachs = log(TZuwachs) und<br />

logVol = log(Volumen) bezeichnet.<br />

Aus Steigung und Achsenabschnitt dieser eingepassten<br />

Geraden lässt sich jetzt per Rücktransformation<br />

ein geeignetes Modell <strong>für</strong> die Ursprungsdaten<br />

ermitteln:<br />

TZuwachs = b · Volumen b .<br />

Abbildung 19.6: Streudiagramm <strong>der</strong> logarithmierten<br />

Daten mitsamt eingepasster kleinster-<br />

Quadrate-Geraden.<br />

150<br />

Im vorliegenden Fall ergibt sich hieraus<br />

y = 270,43<br />

,<br />

x0,607 !<br />

dargestellt in Abb.19.7. Auch hier beobachten<br />

wir im Residuendiagramm Abweichungen zwischen<br />

Daten und Modell. Diese weisen jedoch<br />

keine systematische Struktur auf, son<strong>der</strong>n mögen<br />

durch weitere Störgrößen wie z.B. unterschiedliche<br />

Anfangstemperaturen des zu erhitzenden<br />

Wasser bzw. durch Messungenauigkeiten entstanden<br />

sein.<br />

Abbildung 19.7: Eingepasste Potenzfunktion, erhalten<br />

nach Rücktransformation <strong>der</strong> in die logarithmierten<br />

Daten eingepassten Geraden<br />

Als Alternative kann man auch versuchen, direkt<br />

ein kleinste Quadrate-Kriterium zu minimieren.<br />

Basierend auf <strong>der</strong> Modellannahme y = a<br />

xb sucht man nach Werten <strong>für</strong> die Parameter a und<br />

b, so dass<br />

F(a,b) =<br />

n<br />

∑<br />

i=1<br />

<br />

yi − a<br />

x b i<br />

2<br />

minimal wird.<br />

Nichtlineare Regression läuft auf die Anwendung<br />

numerisch sehr anspruchsvoller Verfahren<br />

wie z.B. den iterativen Gauß-Newton Algorithmus<br />

hinaus, einer mehrdimensionalen Verallgemeinerung<br />

des auch in <strong>der</strong> Schule bekannten Newton-<br />

Verfahrens zur approximativen Bestimmung einer<br />

Nullstelle. Einige Softwarepakete führen curve<br />

fitting <strong>für</strong> eine kleine im Programm vorgegebene<br />

Menge nichtlinearer Funktionen aus. Eine flexible<br />

Anwendung des Gauß-Newton-Algorithmus<br />

verlangt jedoch den Einsatz professioneller Software.<br />

wie z.B. die statistische Analysesoftware<br />

!


Von Daten zur Funktion: Skizzen eines anwendungsorientierten Analysisunterricht<br />

R, die sich im akademischen Bereich in <strong>der</strong> Stochastik<br />

durchgesetzt hat und als open source unter<br />

http://cran.r-project.org frei erhältlich<br />

ist.<br />

Zur Bestimmung <strong>der</strong> Parameter a und b müssen<br />

Nullstellen <strong>der</strong> partiellen Ableitungen <strong>der</strong><br />

Funktion F zweier Verän<strong>der</strong>licher ermittelt werden.<br />

Mit den Anfangsschätzern a = 250, b =<br />

0,5 endet <strong>der</strong> in R implementierte Gauß-Newton-<br />

Algorithmus nach 6 Iterationen mit den Werten<br />

a = 270,88 und b = 0,609.<br />

Man beachte, dass wir beim direkten Minimieren<br />

eines kleinste-Quadrate-Kriteriums ein (hier<br />

geringfügig) an<strong>der</strong>es Resultat erhalten haben als<br />

beim Einpassen einer Gerade in die per Logarithmieren<br />

linearisierten Daten mit folgen<strong>der</strong> Rücktransformation.<br />

Mag die Konstante a maßgeblich von <strong>der</strong> Beschaffenheit<br />

und Leistungsfähigkeit <strong>der</strong> Mikrowellenherdes<br />

bestimmt sein, so fällt eine Interpretation<br />

des Exponenten b recht schwer. Wir wagen<br />

folgende spekulative Erklärung: <strong>der</strong> ermittelte<br />

Wert von b = 0,609 bzw. 0,607 liegt nicht weit<br />

vom Wert 2 3 , ein Wert also, <strong>der</strong> das Verhältnis <strong>der</strong><br />

Dimensionen von Wärme speicherndem Volumen<br />

und Wärme abgeben<strong>der</strong> Oberfläche des Wasserbehälters<br />

wie<strong>der</strong>gibt.<br />

2.4 Bevölkerung von Sao Paulo<br />

Sao Paulo gehört mit ca. 11 Millionen Einwohnern<br />

zu den bevölkerungsstärksten Metropolen<br />

<strong>der</strong> Welt. Die hohe Bevölkerungszahl ist auf einen<br />

rasanten Zuwachs im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t zurück zu<br />

führen (Abb. 19.8).<br />

Abbildung 19.8: Entwicklung <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

von Sao Paulo<br />

Im Streudiagramm nehmen wir eine sehr hohe<br />

Zuwachsrate <strong>der</strong> Bevölkerung zwischen 1920 und<br />

1970 war, die dann etwas abgemil<strong>der</strong>t wird und<br />

sich (möglicherweise) einer oberen Grenze annähert.<br />

Eine Klasse von Funktionen, die zu dieser<br />

Beschreibung passt, ist die Menge <strong>der</strong> logistischen<br />

Funktionen<br />

y =<br />

y0S<br />

y0 + (S − y0)exp(−kSx)<br />

!<br />

(1)<br />

mit den drei Parametern y0 als Anfangswert, dem<br />

Wachstumsfaktor k sowie <strong>der</strong> Sättigungsgrenze S.<br />

Im Folgenden stellen wir eine elementare Methode<br />

vor, wie man diese drei Parameter aus den Daten<br />

schätzen kann. Zunächst linearisieren wir die<br />

Daten, indem wir (1) umformen zu<br />

<br />

1 1<br />

S − y0<br />

ln − = ln − kSx, (2)<br />

y S<br />

Sy0<br />

woraus geschlossen werden kann, dass – falls das<br />

logistische Modell gilt – das Streudiagramm <strong>der</strong><br />

logarithmierten Daten (xi,y∗ i ) mit<br />

y ∗ <br />

1<br />

i = ln − 1<br />

<br />

(3)<br />

S<br />

eine lineare Struktur hat. Mit Hilfe einer Geradenanpassung<br />

im Streudiagramm (x1,y∗ 1 , . . . ,<br />

(xn,y∗ n)<br />

yi<br />

y ∗ = mt + b (4)<br />

lassen sich dann die fehlenden Parameter y0 und<br />

k aus dem Achsenabschnitt und <strong>der</strong> Steigung <strong>der</strong><br />

eingepassten (kleinsten-Quadrate-) Gerade schätzen.<br />

Per Rücktransformation folgt <strong>für</strong> die Parameter<br />

k und y0 im ursprünglichen logistischen Modell<br />

dann<br />

k = − m<br />

y0 =<br />

S<br />

S<br />

1 + Sexp(b)<br />

(5)<br />

Die dargestellte Vorgehensweise hat jedoch<br />

lei<strong>der</strong> noch einen entscheidenden Mangel: Wir haben<br />

so getan, als würden wir die Obergrenze S<br />

kennen. In den allermeisten Anwendungen des logistischen<br />

Wachstumsmodells ist aber gerade die<br />

Frage nach <strong>der</strong> Obergrenze die inhaltlich am meisten<br />

interessierende Frage, die keineswegs a priori<br />

bekannt ist („Wie viele Leute werden von <strong>der</strong> Epidemie<br />

betroffen?“).<br />

Bei folgen<strong>der</strong> Modellierung kommen wir,<br />

dank Einsatz von Technologie, ohne Vorgabe <strong>der</strong><br />

Obergrenze S aus [Engel, 2010]. Wir definieren<br />

einen Schieberegler, dem wir den Wert von S zuweisen<br />

und führen – basierend auf diesem S – die<br />

Transformation (3) aus. Die transformierten Daten<br />

(x1,y ∗ 1 ), . . . , (xn,y ∗ n) werden in einem Streudiagramm<br />

dargestellt. Jetzt wird <strong>der</strong> Schieberegler<br />

S so lange variiert, bis die Daten eine möglichst<br />

gute lineare Struktur haben, z.B. bis die Summe<br />

<strong>der</strong> Abweichungsquadrate so klein wie möglich<br />

ist. Da hier nur eine Stellgröße verän<strong>der</strong>t wird,<br />

führt dieser Schritt zu einem robusten Ergebnis.<br />

Mit diesem Wert von S werden die Daten so gut es<br />

nur irgend geht (im Sinne des kleinste-Quadrate-<br />

Kriteriums) in eine lineare Struktur überführt. Den<br />

so erzielten Wert <strong>für</strong> S nehmen wir als Schätzwert<br />

<strong>für</strong> die Populationsobergrenze. Die Schätzung von<br />

151


Joachim Engel, Ludwigsburg<br />

k und y0 erfolgt dann wie oben unter (4) beschrieben.<br />

Angewandt auf die vorliegenden Bevölkerungsdaten<br />

aus Sao Paulo, ergibt sich <strong>für</strong> einen<br />

Wert von S = 12202093 eine eingepasste Gerade<br />

von<br />

y ∗ = −0,06177x + 105,4 ,<br />

woraus nach Einsetzen in (5) schließlich y0 =<br />

45480 und k = 5,105 × 10−9 resultiert (siehe<br />

Abb. 19.9 und 19.10).<br />

Man kann sich auch hier direkt an einem<br />

kleinste-Quadrate Kriterium orientieren und versuchen<br />

die Funktion<br />

n <br />

2 y0S<br />

F(y0,k,S) = ∑ yi −<br />

y0 + (S − y0)exp(−kSxi)<br />

i=1<br />

zu minimieren.<br />

Mit <strong>der</strong> Software R erhält man, wenn man<br />

mit den Anfangsschätzern y0 = 45480, k = 0,06<br />

und S = 12000000 startet, nach 7 Iterationen <strong>für</strong><br />

die Parameter die folgenden Werte: y0 = 12202,<br />

k = 6,7718 × 10 −9 und S = 11443770.<br />

Abbildung 19.9: Linearisierte Daten zur Bevölkerungsentwicklung<br />

von Sao Paulo mit einergepasster<br />

kleinste-Quadrate-Gerade<br />

Abbildung 19.10: Sich ergebende Anpassung einer<br />

logistischen Funktion<br />

152<br />

!<br />

3 Zusammenfassung<br />

Die vorgestellten Beispiele sollten illustrieren,<br />

was technologiegestützter datenbezogener Unterricht<br />

in Analysis meint. Dabei geht es nicht nur<br />

darum, per curve fitting passende Werte <strong>für</strong> bestimmte<br />

Parameter zu ermitteln o<strong>der</strong> eine Kurvenanpassung<br />

zu finden, bei <strong>der</strong> möglichst keine<br />

Abweichungen zwischen Daten und Modell<br />

auftreten, denn jede mathematische Modellierung<br />

steht im Spannungsfeld zwischen mathematischem<br />

Modell und Kontext. Bei datenbezogenem<br />

Modellieren funktionaler Zusammenhänge<br />

geht es einerseits um die Auswahl geeigneter und<br />

zugleich interpretierbarer Funktionstypen und an<strong>der</strong>erseits<br />

um verständige Bestimmung von Parametern.<br />

Dabei spielen Standardfunktionen (linear,<br />

Polynom, Exponential, etc.) die Rolle von wichtigen<br />

Bausteinen. Ebenso bedeutend wie die instrumentelle<br />

Tätigkeit des Kurvenanpassens sind jedoch<br />

Fragen <strong>der</strong> Sinngebung und Interpretation:<br />

Was bedeutet <strong>der</strong> ausgewählte Funktionstyp <strong>für</strong><br />

das Ausgangsproblem? Welche Rolle und Bedeutung<br />

nehmen die ermittelten Parameter ein? Ein<br />

noch so gut passendes mathematisches Modell,<br />

das <strong>für</strong> den Kontext keinerlei Plausibilität besitzt,<br />

mag genauso wertlos sein wie eine noch so überzeugend<br />

erscheinende Theorie, die aber einer empirischen<br />

Prüfung nicht standhält.<br />

Literatur<br />

Engel, Joachim (2007): Daten im <strong>Mathematik</strong>unterricht: Wozu?<br />

Welche? Woher? MU, 51(3), 12–22.<br />

Engel, Joachim (<strong>2009</strong>): Anwendungsorientierte <strong>Mathematik</strong>:<br />

Von Daten zur Funktion. Eine Einführung in die mathematische<br />

Modellbildung <strong>für</strong> Lehramtsstudierende. Heidelberg,<br />

Berlin: Springer Verlag.<br />

Engel, Joachim (2010): Parameterschätzen in logistischen<br />

Wachstumsmodellen. Stochastik in <strong>der</strong> Schule, 30(1), 13–18.<br />

Führer, Lutz (1981): Zur Entstehung und Begründung des<br />

Analysis-Unterrichts an allgemeinbildenden Schulen. MU,<br />

27(5), 81–122.<br />

Führer, Lutz (2012): Verstehen o<strong>der</strong> berechnen?? Wie passt <strong>der</strong><br />

Computer zum Analysisunterricht des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts? In:<br />

Kortenkamp, Ulrich & Anselm Lambert (Hg.): Medien Vernetzen<br />

/ Zur Zukunft des Analysisunterrichts vor dem Hintergrund<br />

<strong>der</strong> Verfügbarkeit Neuer Medien (und Werkzeuge), Hildesheim:<br />

Franzbecker, 103–146.<br />

Humenberger, Hans (<strong>2008</strong>): Eine elementarmathematische Begründung<br />

des Benford-Gesetzes. MU, 54(1), 24–34.<br />

Kultusministerkonferenz (2002): Einheitliche Prüfungsanfor<strong>der</strong>ungen<br />

in <strong>der</strong> Abiturprüfung <strong>Mathematik</strong> (Beschluss<br />

<strong>der</strong> Kultusministerkonferenz vom 01.12.1989 i.d.F. vom<br />

24.05.2002). München: Luchterhand.


• Analysis in <strong>der</strong> Schule zwischen Präzision und Approximation –<br />

Ein Plädoyer <strong>für</strong> Algorithmik und Animation<br />

Bodo von Pape, Oldenburg<br />

„In dem gesamten Lehrstoff waltet in sehr auffallen<strong>der</strong> Weise das Interesse an <strong>der</strong> formalen Gleichungstheorie<br />

vor. . . . künstliche höhere Gleichungen, die so gemacht sind, dass sie sich durch gewisse<br />

Kniffe auf quadratische zurückführen lassen. Die höheren Gleichungen, meine Herren, die<br />

man in <strong>der</strong> Physik o<strong>der</strong> sonst irgendwo gebraucht, werden diese wun<strong>der</strong>bare Eigenschaft meistens<br />

nicht haben. Von <strong>der</strong> angenäherten Auflösung numerischer Gleichungen aber, die praktisch allein<br />

Bedeutung hat und zudem viel Anregung gibt, ist nicht die Rede.“<br />

„Die Approximationsmathematik ist <strong>der</strong>jenige Teil unserer Wissenschaft, den man in den Anwendungen<br />

hat.“<br />

„Der Fehler, an welchem <strong>der</strong> heutige Betrieb <strong>der</strong> Wissenschaft krankt, ist <strong>der</strong>, dass sich die Theoretiker<br />

zu einseitig mit <strong>der</strong> Präzisionsmathematik beschäftigen, während die Praktiker die Approximationsmathematik<br />

gebrauchen, ohne mit <strong>der</strong> Präzisionsmathematik Fühlung zu haben.<br />

Überhaupt aber bleibt fraglich, ob das Wesen einer richtigen Naturerklärung auf präziser mathematischer<br />

Basis zu suchen ist, ob man je über eine geschickte Verwendung <strong>der</strong> Approximationsmathematik<br />

hinausgelangen kann.“<br />

Felix Klein in seinem Eintreten <strong>für</strong> die Analysis an den Schulen 1901/07<br />

1 Kurvendiskussion<br />

Beispiel 1.<br />

f (x) = 2 x 4 − x<br />

+ 2 · cos(2x)<br />

2<br />

Für die Nullstellensuche bietet sich ein Algorithmus<br />

an, bei dem man sich die Nullstelle erwan<strong>der</strong>t<br />

mit einer kleinen Schrittweite ∆x = s:<br />

Begib dich an den Startpunkt.<br />

Tu Folgendes:<br />

Geh auf <strong>der</strong> Kurve voran um s.<br />

Falls dabei ein VZW vorliegt, dann<br />

kehre um mit Schrittweite s/2.<br />

Das tu so lange, bis s hinreichend klein ist.<br />

Mit diesem Algorithmus kann man sich die<br />

VZW-Stellen einer Funktion in x-Richtung auflisten<br />

lassen. Konkret umsetzen lässt sich das mit einer<br />

benutzerdefinierten VBA-Funktion in Excel.<br />

Pendelsuche DERIVE-Werte<br />

-1,8678063 -1,867806293<br />

-1,1741375 -1,174137519<br />

0,9641237 0,9641236782<br />

2,2689503 2,268950298<br />

3,9297233 3,929723330<br />

5,5373673 5,537367293<br />

7,0352000 7,035199974<br />

8,6044803 8,604480256<br />

10,4392643 10,43926425<br />

11,3634196 11,36341958<br />

Algebraisch kommt natürlich auch ein CAS-<br />

System wie DERIVE nicht zum Ziel. Dessen Numerik<br />

kann man allerdings ohne weiteres Nachdenken<br />

100 geltende Ziffern abgewinnen. Der<br />

Vergleich zeigt jedoch, dass die Werte, die die<br />

selbst erklärte Excel-Funktion liefert, <strong>für</strong> jeden<br />

praktischen Zweck in ihrer Genauigkeit ausreichen.<br />

(Ein theoretischer Zweck, <strong>für</strong> den mehr Stellen<br />

wichtig wären, ist auch nicht leicht auszumachen.)<br />

Für die Extremstellen <strong>der</strong> Funktion – wie<br />

auch die <strong>der</strong> zugehörigen Steigungsfunktion<br />

(herkömmlich: „Wendestellen“ <strong>der</strong> Funktion) –<br />

kommt man mit einer leichten Abwandlung <strong>der</strong><br />

VZW-Funktion zum Ziel:<br />

Function ftop(start)<br />

schritt = 0.01<br />

stelle = start<br />

Do<br />

topli = f(stelle) >= f(stelle - schritt)<br />

topre = f(stelle) >= f(stelle + schritt)<br />

top = topli And topre<br />

stelle = stelle + schritt<br />

If top Then schritt = -(schritt / 5)<br />

fertig = Abs(schritt)1E-3<br />

Loop Until fertig<br />

If Abs(stelle) > 1E3 Then stelle = start<br />

TopP = stelle<br />

End Function<br />

Was sich hinter „f(x)“ verbirgt ist dabei unerheblich.<br />

Vielleicht handelt es sich um die Steigungsfunktion<br />

o<strong>der</strong> die Krümmungsfunktion unserer<br />

Beispielsfunktion f :<br />

Const h = 1E-8<br />

Function fstei(x))<br />

fstei = (f(x+h) - f(x)) / h<br />

End Function<br />

Function fkr (x)<br />

dy = f(x + h) - f(x)<br />

dl = (h^2 + dy^2)^0.5<br />

m1 = fstei(x+h)<br />

m2 = fstei(x)<br />

dwin = Atn(m1) - Atn(m2)<br />

fkr = dwin / dl<br />

End Function<br />

153


Bodo von Pape, Oldenburg<br />

Der klassische Weg zu den Stellen maximaler<br />

Krümmung führt über das Nullsetzen <strong>der</strong> Ableitung<br />

<strong>der</strong> Krümmungsfunktion<br />

k(x) =<br />

f ′′ (x)<br />

1 + f (x) 2 .<br />

DERIVE liefert hier einen beeindruckenden<br />

Term – einen Quotienten, <strong>der</strong> sich über 3 Zeilen<br />

hinzieht.<br />

Beim Nullsetzen dieses Terms und <strong>der</strong> Eingabe<br />

eines geeigneten Intervalls liefert DERIVE<br />

genauere Werte - allerdings auch „nur“ numerische<br />

Näherungen. Die Tabelle vermittelt einen<br />

Eindruck von <strong>der</strong> Verlässlichkeit <strong>der</strong> selbst definierten<br />

Funktion krmax:<br />

krmax DERIVE<br />

1,604 1,604<br />

4,725 4,726<br />

7,832 7,833<br />

10,915 10,916<br />

13,955 13,956<br />

Für schulische und sonstige unspezifische<br />

Zwecke dürfte auch diese Genauigkeit noch ausreichen.<br />

In jedem Fall wird deutlich, dass ein algebraisches<br />

Vorgehen nicht zielführend und damit<br />

bereits im Ansatz verfehlt ist.<br />

2 Optimierung und Anpassung<br />

Als Universaltool <strong>für</strong> <strong>der</strong>artige Problemstellungen<br />

bietet Excel den Solver. Er ist aber - insbeson<strong>der</strong>e<br />

mit seinen Optionen - sehr undurchsichtig und<br />

zudem nicht sehr verlässlich. Ein Makro, das <strong>für</strong><br />

die Reichweite <strong>der</strong> Schulmathematik in <strong>der</strong> Leistungsstärke<br />

gleichwertig ist, ist – auf <strong>der</strong> Basis des<br />

Wan<strong>der</strong>-Algorithmus – leicht erstellt: Zielwertsuche<br />

zur Anpassung<br />

Sub finde()<br />

schritt = 0.1<br />

[stelle] = 0<br />

Min = 100<br />

Do<br />

[stelle] = [stelle] + schritt<br />

krit = Abs([wert] - [ziel])<br />

umkehr = krit > Min<br />

If umkehr Then schritt = -schritt / 5<br />

Min = krit<br />

Loop Until Abs(schritt) < 1E-8<br />

End Sub<br />

Voraussetzung <strong>für</strong> den Einsatz dieses Makro<br />

ist die Benennung von 3 Zellen: „stelle“, „wert“<br />

und “ziel“ (Über „ziel = 0“ kann man Minimierungsprobleme<br />

lösen.) Basis <strong>für</strong> das Vorgehen ist<br />

in <strong>der</strong> Regel eine Schaufigur. Sie impliziert durch<br />

Durchrechnen eines Beispiels.<br />

Beispiel 2: Leiterproblem<br />

2 Leitern verschiedener Länge lehnen an gegenüberliegende<br />

Wände. Sie überschneiden sich in ei-<br />

154<br />

ner gegebenen Höhe h = 40. Wie groß ist <strong>der</strong> Abstand<br />

<strong>der</strong> Wände?<br />

Martin Gardner schreibt dazu: „Der Charme<br />

dieser Aufgabe liegt in <strong>der</strong> scheinbaren Einfachheit<br />

<strong>der</strong> Lösung, die schnell in einen algebraischen<br />

Dschungel führt.“<br />

!<br />

Abbildung 20.1: Das Leiterproblem<br />

Die analytische Lösung führt – je nach Ansatz<br />

– auf eine Gleichung vom Grad 4 o<strong>der</strong> 3. Einfacher<br />

kommt man mit dem Finde-Makro zum Ziel:<br />

Für „stelle“ nimmt man den Abstand <strong>der</strong> Leitern<br />

und <strong>für</strong> „wert“ die Höhe des Schnittpunkts. Dann<br />

geht es darum, durch Heranschieben von rechts<br />

die Höhe auf den „ziel“-Wert 40 zu justieren.<br />

Ein algebraischer Einstieg in die Lösung – bis<br />

hin zu einer Gleichung, die einem nicht etwa zu<br />

einem Lösungsterm verhilft, son<strong>der</strong>n auch nur zu<br />

einem Zahlwert – bedarf hier wohl einer beson<strong>der</strong>en<br />

Rechtfertigung.<br />

Beispiel 3: Minimierung <strong>der</strong> Fläche unter<br />

einer Kurve<br />

Gegeben ist ein Funktionsgraph, <strong>der</strong> oberhalb <strong>der</strong><br />

x-Achse verläuft. Gesucht ist <strong>der</strong> linke Rand eines<br />

Streifens <strong>der</strong> Breite 3, <strong>für</strong> den die Fläche unterhalb<br />

<strong>der</strong> Kurve minimal wird.<br />

Für die Funktion<br />

f (x) = x 2<br />

+<br />

8 8<br />

erhält man etwa mit DERIVE o<strong>der</strong> MAPLE über<br />

Nullsetzen <strong>der</strong> Ableitung <strong>der</strong> Zielfunktion <strong>für</strong> die<br />

Startstelle des x-Intervalls den Ausdruck<br />

3 √ 73<br />

16<br />

− 2 · ln<br />

<br />

41 − 3 √ 73<br />

32<br />

Durch Hin- und Herschieben <strong>der</strong> Fläche zur<br />

Minimierung des numerischen Wertes <strong>für</strong> den


Flächeninhalt liefert das Finde-Makro den Wert<br />

3,068899118.<br />

Nur wer bei <strong>der</strong> letzten Stelle anstelle <strong>der</strong> 8<br />

eine 9 haben möchte kann den Wert <strong>der</strong> algebraischen<br />

Lösung würdigen. Ansonsten wird man nur<br />

mit Interesse registrieren, dass ein nichttriviales<br />

Beispiel gefunden ist, bei dem man algebraisch<br />

tatsächlich zum Ziel kommt: Die Probleme ab <strong>der</strong><br />

10. Stelle wird man gern in Kauf nehmen, wenn<br />

man über einen Algorithmus verfügt, <strong>der</strong> mit einer<br />

kurzen Animation <strong>der</strong> Schaufigur zum Ziel führt –<br />

ganz unabhängig vom Funktionstyp.<br />

Abbildung 20.2: Minimierung <strong>der</strong> Fläche unter<br />

einer Kurve<br />

Beispiel 4: Abstand eines Punktes von einer<br />

Kurve<br />

Im einfachsten Fall geht es um den Abstand eines<br />

Punktes von einer Parabel. Der klassische Weg<br />

führt – über das Nullsetzen <strong>der</strong> Ableitung des<br />

Terms <strong>für</strong> den Abstand – auf eine Gleichung 3.<br />

Grades. Eine Alternative führt über die Orthogonalität<br />

von Verbindungsstrecke und Tangente an<br />

die gleiche Hürde.<br />

Das Problem lässt sich erweitern zu <strong>der</strong> Frage<br />

nach den Fußpunkten <strong>der</strong> Lote eines Punktes P auf<br />

eine Kurve. Hier ist man gut beraten, sich das Herleiten<br />

einer komplexeren Gleichung (durch Ableiten)<br />

zu ersparen: Besser arbeitet man von vornherein<br />

numerisch und minimiert die Distanz von P zu<br />

dem Kurvenpunkt A(x, f (x)). Wie <strong>der</strong> Term zu f<br />

aussieht, das ist auch hier ganz egal.<br />

Abbildung 20.3: Abstand eines Punktes zu einer<br />

Kurve<br />

Analysis in <strong>der</strong> Schule zwischen Präzision und Approximation<br />

Beispiel 5: Logistisches Wachstum<br />

445 Teilnehmer waren beim 12. City-Lauf am<br />

Start. Im Vorjahr hatte die Teilnehmerzahl noch<br />

bei 315 gelegen, davor bei 210.<br />

⊲ Wieviele Teilnehmer haben den Lauf beim ersten<br />

Start begründet?<br />

⊲ Wird die Teilnehmerzahl noch die 1000er-<br />

Grenze erreichen?<br />

Um die Hochrechnung einer logistischen Entwicklung<br />

macht die Oberstufen-Analysis einen<br />

großen Bogen. Dabei könnte sich doch gerade hier<br />

die Leistungskraft <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> unter Beweis<br />

stellen! Selbst falsche Unterstellungen müssen als<br />

Ausrede herhalten: „Die Sättigungsgrenze S muss<br />

sich aus <strong>der</strong> Problemstellung direkt ergeben o<strong>der</strong><br />

es sind weitere Vorgaben bzw. Annahmen nötig.“<br />

(Zitat aus einem Schulbuch)<br />

Eine Strategie mit dem Finde-Makro führt<br />

leicht zum Ziel: Die beiden ersten Punkte und ein<br />

fiktiver Sättigungswert legen eine Kurve fest. Der<br />

Sättigungswert wird so eingestellt, dass die Kurve<br />

durch den dritten Punkt geht. (NB: Mit Excels<br />

Solver bekommt man hier große Probleme.)<br />

Abbildung 20.4: Logistisches Wachstum<br />

Tatsächlich führt auch ein System von Formeln<br />

zum Ziel. Der genaue Wert ergibt sich damit<br />

als 1059,54545.<br />

155


Bodo von Pape, Oldenburg<br />

3 Funktionen in 2 Variablen<br />

Beispiel 6: Abstand Kreis-Ellipse<br />

Abbildung 20.5: Abstand Kreis-Ellipse<br />

Mit unterschiedlichen Ansätzen kommt man<br />

auf eine Gleichung 4. Grades. Da führt dann nur<br />

noch Numerik weiter.<br />

Direkter und weiterführend ist die Strategie,<br />

den Abstand zweier Punkte als Funktion <strong>der</strong> Abszissenwerte<br />

xK = a und xE = b zu schreiben:<br />

<br />

d = (xE − xK) 2 + (yE − yK) 2<br />

o<strong>der</strong> mit dem Werten aus dem Beispiel:<br />

<br />

(a − b) 2 <br />

4−a2 + 4 −<br />

<br />

2 − 1 − (b − 2) 2<br />

2 .<br />

Diese Funktion stellt eine mathematische<br />

Landschaft dar. Deren Talsohle erwan<strong>der</strong>t man<br />

sich leicht – mit Hilfe einer Tabelle o<strong>der</strong> besser<br />

noch mit einer Funktion:<br />

Function minist(a, b, stelle)<br />

inc = 1<br />

hmin = 100<br />

Do<br />

For na = -1 To 1<br />

For nb = -1 To 1<br />

hstep = h(a + na*inc, b + nb*inc)<br />

If hstep bis<br />

fMittel = summe / anzahl<br />

End Function<br />

Wichtigeres – Grundsätzliches – zum Thema<br />

„Integration“ gibt es an dem folgenden Beispiel<br />

zu lernen:<br />

4.1 Beispiel 8: Martin und Maria<br />

„Maria lebt 2 km von <strong>der</strong> Schule entfernt, Martin<br />

5 km. Wie weit leben Maria und Martin voneinan<strong>der</strong><br />

entfernt?“<br />

Der Aha-Effekt, den diese Geschichte auslöst,<br />

sollte – laut „Der Spiegel“ 14/2001 – „unter deutschen<br />

Pädagogen . . . irgendwann einmal als die


kopernikanische Wende im deutschen Bildungswesen“<br />

erkannt werden.<br />

Mangels genauerer Angaben kann man zunächst<br />

nur Unter- und Obergrenze festlegen. Als<br />

nächstes stellt sich dann die Frage nach dem Erwartungswert.<br />

Auch die Berechnung von Quartilswerten<br />

drängt sich auf.<br />

Eine fachgerechte Lösung führt über eine Integration<br />

über den Bereich <strong>der</strong> möglichen Abstände.<br />

Dazu muss man sich algebraisch zu einer<br />

Verteilungsdichte voranarbeiten. Dann stellt man<br />

fest, dass man nur numerisch weiterkommt. So bekommt<br />

man heraus:<br />

⊲ Die zu erwartende Entfernung beträgt 5 km und<br />

202 m.<br />

⊲ Das oberste Quartil beginnt bei 6 km und 568<br />

m.<br />

Abbildung 20.7: Martin und Maria<br />

Gegenüber <strong>der</strong> Lösung mit einer Simulation<br />

– Zufallspunkte auf den Kreisen von Martin und<br />

Maria (jeweils 500), Mittelwert <strong>der</strong> Abstände –<br />

hat man einen Vorteil in <strong>der</strong> Genauigkeit von 3 m.<br />

Auch <strong>der</strong> ist aber hinfällig, wenn man auf Marias<br />

Kreis einen Punkt beliebig wählt und auf Martins<br />

Kreis 80 Punkte gleichmäßig verteilt. Für die Entfernung<br />

liefert das wie<strong>der</strong> genau 5 km und 202 m.<br />

Was eine „kopernikanische Wende“ im Bereich<br />

<strong>der</strong> Schulmathematik angeht, so zeichnet<br />

sich die Einsicht ab: Sofern es um konkrete Problemstellungen<br />

geht, sollte man vor dem Einsatz<br />

diffiziler Integrationsregeln und komplexer<br />

Termumformungen erst einmal über eine Gitterpunktzählung<br />

nachdenken. Dieser Ansatz bewährt<br />

sich insbeson<strong>der</strong>e auch bei Integrationen im<br />

Raum.<br />

Die Monte-Carlo-Methode sei zusätzlich als<br />

Kontrolle ans Herz gelegt.<br />

5 Bogenlänge / Krümmung<br />

Das Thema „Bogenlänge“ drängt sich bei <strong>der</strong><br />

Behandlung von Kurven – dazu gehören auch<br />

Funktionsgraphen! – als erstes auf. Bekanntlich<br />

führt aber bereits die Berechnung eines Parabel-<br />

Analysis in <strong>der</strong> Schule zwischen Präzision und Approximation<br />

abschnitts auf Terme, die man niemandem mehr<br />

zumuten kann. Bei <strong>der</strong> Sinuslinie kommt man ohnehin<br />

nur noch numerisch zum Ziel. In <strong>der</strong> Schule<br />

ist dies Thema deshalb tabu. Nur mit Eichstrichen<br />

auf Weizenbiergläsern kann die Analysis in diesem<br />

Rahmen noch punkten. (Warum wohl?)<br />

An sich liegt ein Längenvergleich zweier Wege<br />

aber viel näher!<br />

Beispiel 9: Wegmarken<br />

! Abbildung 20.8: Längenvergleich zweier Wege<br />

An<strong>der</strong>s steht es um das Thema “Krümmung“:<br />

In den letzten Jahren ist es in das Blickfeld gerückt,<br />

allerdings exklusiv im Kontext von Trassierungsaufgaben,<br />

bei denen <strong>der</strong> Einsatz von CAS-<br />

Routinen sich bezahlt macht. (Stichwort: „krümmungsruckfrei“)<br />

Das Konzept <strong>der</strong> Krümmung als Än<strong>der</strong>ungsrate<br />

(Än<strong>der</strong>ungsrate <strong>der</strong> Richtung mit <strong>der</strong> Bogenlänge)<br />

kommt dabei – trotz eines verstärkten Interesses<br />

<strong>für</strong> Än<strong>der</strong>ungsraten! – zu kurz.<br />

Die Aufgabe, die sich in diesem Rahmen als<br />

erste aufdrängt, wäre – in Analogie zum Grundanliegen<br />

<strong>der</strong> Integralrechnung – die <strong>der</strong> (Re-<br />

)Konstruktion einer Kurve aus <strong>der</strong> Startkonfiguration<br />

und dem Krümmungsverlauf.<br />

Hier muss man bereits bei <strong>der</strong> ersten nichttrivialen<br />

Frage – <strong>der</strong> nach einer Kurve, <strong>der</strong>en Krümmung<br />

linear anwächst – passen: Die Parameterdarstellung<br />

<strong>der</strong> Klothoide enthält Integrale, die<br />

„nicht durch elementare Funktionen ausgedrückt<br />

werden“ können.<br />

Neue Aufgabenstellungen bieten sich an:<br />

Beispiel 10: Modellierung zu Ornament<br />

Abbildung 20.9: Krümmungsfunktion vom Grad 3<br />

157


Bodo von Pape, Oldenburg<br />

5.1 Beispiel 11: Kurven zu gegebener<br />

Krümmung<br />

!<br />

Abbildung 20.10: Krümmungsverlauf linear<br />

Abbildung 20.11: Krümmungsverlauf sinusförmig<br />

158<br />

5.2 Beispiel 12: Krümmungsverhalten<br />

Abbildung 20.12: Skizziere den Krümmungsverlauf<br />

„Gebt <strong>der</strong> Numerik in <strong>der</strong><br />

Schule eine Chance!“<br />

Literatur<br />

Diese und zahlreiche weitere Beispiele sind im Inter-<br />

net abrufbar unter http://excelecke.wordpress.com/<br />

category/analysis/.


• Der Computer macht’s möglich — Funktionen als Werkzeug zum<br />

Modellieren von Daten<br />

Markus Vogel, Heidelberg<br />

Phänomene aus Natur und Technik lassen sich über Daten abbilden. Kern <strong>der</strong> Datenanalyse ist,<br />

im Rauschen <strong>der</strong> Daten Gesetzmäßigkeiten ausfindig zu machen. Solche Gesetzmäßigkeiten lassen<br />

sich oftmals durch elementare Funktionen modellieren. Mit dem Einsatz von Software werden diese<br />

Modellierungsaktivitäten sehr gut unterstützt. Die dynamische Verknüpfung von Streudiagramm,<br />

Funktionsgraph und Residuenplot hilft dabei, Funktionsparameter bestmöglich zu spezifizieren. Der<br />

Datenkontext erlaubt, die verwendeten Parameter inhaltlich zu deuten. Dies kann dazu beitragen,<br />

dass <strong>der</strong> Funktionsbegriff weiter erschlossen und vertieft wird.<br />

1 Datenanalyse zu Phänomenen aus<br />

Natur und Technik<br />

Im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht<br />

lernen die Schülerinnen und Schüler über<br />

mehrere Klassenstufen hinweg verschiedene naturwissenschaftliche<br />

Gesetzmäßigkeiten, die in<br />

Formeln eingefasst sind kennen. Beispiele sind<br />

das Gesetz des freien Falls<br />

s = 1<br />

· g ·t2<br />

2<br />

(ohne Berücksichtigung des Luftwi<strong>der</strong>standes)<br />

o<strong>der</strong> die Grundgleichung <strong>der</strong> Mechanik F =<br />

m · a. Solche Formeln und die darin verwendeten<br />

parametrischen Funktionen beschreiben das<br />

„deterministische Konzentrat“ einer vorausgegangen<br />

mathematisch-naturwissenschaftlichen Modellierung.<br />

Das Nach-Entdecken <strong>der</strong> zugrunde<br />

liegenden Gesetzmäßigkeit ist ein wesentlicher<br />

Aspekt mathematisch-naturwissenschaftlicher <strong>Didaktik</strong>.<br />

Dies schließt das Erheben und Auswerten<br />

von Daten mit ein. Daten sind Kontextzahlen,<br />

über die Beobachtungen quantifiziert werden.<br />

Die Datenmenge <strong>der</strong> Beobachtungspunkte bildet<br />

ein Realmodell des zugrunde liegenden Phänomens<br />

[vgl. Vogel, 2006a; Eichler & Vogel, <strong>2009</strong>].<br />

Die Daten stehen zwischen Phänomen und Gesetzmäßigkeit<br />

und vermitteln zwischen beiden.<br />

In <strong>der</strong> inhaltlichen Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Daten,<br />

die einem naturwissenschaftlichen Zusammenhang<br />

zugrunde liegen, ergeben sich Strukturen<br />

bzw. Strukturvermutungen aus dem eigenen<br />

Suchvorgang. Eine funktionale Beschreibung<br />

erwächst aus dem Bemühen, sich im Rauschen<br />

<strong>der</strong> Daten zurechtzufinden. Dabei wird akzeptiert,<br />

dass geeignete Funktionen die Daten nicht exakt<br />

abbilden, son<strong>der</strong>n lediglich einen Trend wie<strong>der</strong>geben.<br />

Abweichungen werden bewusst in Kauf<br />

genommen. Aus dem, was Borovcnik [2005] als<br />

Strukturgleichung bezeichnet, lässt sich folgende<br />

Modellierungsgleichung ableiten [Vogel, 2006a]:<br />

Daten = Funktion + Residuen<br />

Mit <strong>der</strong> Betrachtung <strong>der</strong> Residuen steht ein Maß<br />

<strong>für</strong> die Güte <strong>der</strong> funktionalen Anpassung zur Verfügung.<br />

Sind die Residuen klein und zufällig (im<br />

Sinne von trendfrei) und gleichen sie sich insgesamt<br />

nach oben und unten aus, lässt dies auf eine<br />

angemessene funktionalen Anpassung schließen<br />

[vgl. Biehler & Schweynoch, 1999].<br />

2 Modellieren mit elementaren<br />

Funktionen<br />

Die Beobachtung und Bewertung naturwissenschaftlicher<br />

Phänomene erfolgen beim Nach-<br />

Entdecken nicht voraussetzungsfrei. Kontextuelles<br />

Vorwissen zum phänomenologischen Hintergrund<br />

einerseits und strukturelles Wissen zu elementaren<br />

Standardfunktionen werden in den Mathematisierungsprozess<br />

miteinbezogen. Durch die<br />

strukturelle Entkleidung des Phänomens wird die<br />

Vermutung über die funktionale Beziehung zwischen<br />

den Daten herausgearbeitet.<br />

Parametrische Standardmodelle von Funktionen<br />

sind wesentlich <strong>für</strong> die Anpassung funktionaler<br />

Zusammenhänge an Daten, da sie in vielen<br />

Situationen adäquate Modelle liefern. Der Ansatz<br />

des Kurvenanpassens basiert auf <strong>der</strong> Annahme,<br />

dass die unbekannte Funktion f (x) = f (x,θ)<br />

zu einer im voraus spezifizierten o<strong>der</strong> bekannten<br />

Klasse von Funktionen gehört, die durch einen<br />

endlich-dimensionalen Parameter θ charakterisiert<br />

ist (z.B. Klasse <strong>der</strong> linearen, exponentiellen,<br />

logistischen etc. Funktion). Dann besteht das<br />

Ziel darin, den Wert des unbekannten Parameters<br />

θ zu bestimmen, so dass sich die Modellfunktion<br />

möglichst gut den Daten anpasst. Dieses Vorgehen<br />

führt beispielsweise im linearen Fall unter<br />

dem Ziel <strong>der</strong> Minimierung <strong>der</strong> Summe <strong>der</strong> Abweichungsquadrate<br />

zur linearen Regression.<br />

Werden Daten durch elementare Funktionen<br />

angenähert, besteht <strong>der</strong> Mathematisierungsvorgang<br />

in einem Zweischritt:<br />

⊲ Zunächst muss eine (o<strong>der</strong> müssen mehrere) geeignete<br />

Funktionsklasse(n) ausgewählt werden.<br />

Für die Auswahl sind kontextuelles und mathematisches<br />

Wissen bedeutsam. Dabei können<br />

elementare Funktionen durch Verknüpfungen<br />

zu neuen Funktionen zusammengesetzt werden.<br />

⊲ Nach <strong>der</strong> Bestimmung einer funktionalen Modellierung<br />

werden die verwendeten Parameter<br />

159


Markus Vogel, Heidelberg<br />

! !<br />

Abbildung 21.1: Funktionale Modellierungen zum Zusammenhang von Körpergröße und Gewicht<br />

so spezifiziert, dass <strong>der</strong> Datentrend funktional<br />

möglichst gut erfasst wird. Die Güte <strong>der</strong> funktionalen<br />

Anpassung ergibt sich aus den Residuen<br />

(s.o.).<br />

Neben <strong>der</strong> möglichst guten Datenanpassung ist<br />

auf die Handhabbarkeit <strong>der</strong> funktionalen Anpassung<br />

zu achten. Je mehr Parameter miteinbezogen<br />

werden, umso schwieriger wird die Handhabung<br />

des mathematischen Modells, insbeson<strong>der</strong>e<br />

bei Wechselwirkungen von Funktionsparametern.<br />

Für den Mathematisierungsschritt gilt es,<br />

zwei wesentlichen Merkmale eines mathematischen<br />

Modells im Blick zu behalten: das Abbildungsmerkmal<br />

(ein Modell steht <strong>für</strong> das Original<br />

und bildet es aus einer bestimmten Perspektive ab)<br />

wie das Verkürzungsmerkmal (bei <strong>der</strong> Abbildung<br />

verzichtet das Modell auf all diejenigen Aspekte<br />

des Originals, die <strong>für</strong> den konkreten Zweck (vor<strong>der</strong>rangig)<br />

nicht von Belang sind, vgl. [Stachowiak,<br />

1973]). Bei einer parametrischen Überfrachtung<br />

leidet das Verkürzungsmerkmal. Ist dagegen<br />

ein Funktionenmodell leicht handhabbar, aber<br />

wenig stimmig mit den Daten, findet das Abbildungsmerkmal<br />

nicht genügend Berücksichtigung.<br />

Insofern sollten in die Mathematisierung nur solche<br />

Funktionsparameter eingebaut werden, <strong>für</strong> die<br />

mathematische und kontextuelle Gründe sprechen<br />

– so legitimiert sich das Modell. [Erickson, 2005,<br />

S. 65] gibt als Faustregel aus: „Make your models<br />

with as many parameters as you need – but no more.“<br />

Wird diese Regel nicht beachtet, hieße das<br />

im Extremfall, dass die bestmögliche funktionale<br />

Datenmodellierung immer darin besteht, dass<br />

alle Abweichungen zwischen Modell und Daten<br />

– die Residuen – verschwinden und <strong>der</strong><br />

Funktionsgraph genau durch alle n Datenpunkte<br />

(x1,y1),...,(xn,yn) verläuft. Über die Interpolation<br />

durch ein Polynom <strong>der</strong> Form p(x) = a0 +a1x+<br />

a2x 2 + ... + akx k wäre mit k = n − 1 eine solche<br />

160<br />

Funktion p(x) <strong>für</strong> n Datenpunkte prinzipiell immer<br />

zu finden, im Datenkontext betrachtet ist ein<br />

solches Modell jedoch mitunter kaum sinnvoll zu<br />

interpretieren. Das Beispiel in Abb. 21.1 kann dies<br />

verdeutlichen.<br />

Durch die vollständige Datenerfassung verliert<br />

das funktionale Modell im linken Beispiel <strong>der</strong><br />

Abb. 21.1 die Möglichkeit, einen sachlich sinnvoll<br />

begründbaren Zusammenhang zwischen Körpergröße<br />

und Gewicht trendgemäß abzubilden. Dadurch<br />

büßt es sein Abbildungsmerkmal ein. Dagegen<br />

erweckt die rechts dargestellte Regressionsgerade,<br />

welche auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Minimierung <strong>der</strong><br />

quadratischen Abweichungen durch den Computer<br />

ermittelt wurde, hinsichtlich einer Trendabbildung<br />

eine größere Glaubwürdigkeit deshalb, weil<br />

sie nichtvorhandene Messwerte in ihrer Größenordnung<br />

besser abschätzen lässt. Kontextuell betrachtet<br />

kommt hier die einfache Annahme zum<br />

Ausdruck, dass größere Menschen auch schwerer<br />

sind. Wird dieser Gedanke weiter spezifiziert,<br />

nämlich darin, dass das Gewicht (in proportionalem<br />

Zusammenhang mit dem Volumen gedacht)<br />

in Abhängigkeit von <strong>der</strong> Größe kubisch wächst,<br />

könnte <strong>der</strong> Zusammenhang in einem noch detaillierteren<br />

Modell, einer entsprechenden Polynomfunktion<br />

dritten Grades, beschrieben werden.<br />

Auch dieses Modell ist auf seine Grenzen hin zu<br />

reflektieren.<br />

Es ist ein wichtiges Ziel, dass die Schülerinnen<br />

und Schüler lernen zwischen <strong>der</strong> kontextfreien<br />

Punkte-Erfassung und <strong>der</strong> funktionalen Anpassung<br />

zu unterscheiden, welche die kontextuelle<br />

Bedeutung <strong>der</strong> Datenwolke im Blick hat. Werden<br />

zur funktionalen Modellierung parametrische<br />

Standardmodelle verwendet, liefern die Funktionsparameter<br />

Informationen über die erfasste Gesetzmäßigkeit.<br />

Umgekehrt trägt <strong>der</strong> naturwissenschaftliche<br />

Datenkontext dazu bei, die funktionale<br />

Anpassung verstehen und beurteilen zu können.


Der Computer macht’s möglich — Funktionen als Werkzeug zum Modellieren von Daten<br />

Abbildung 21.2: Daten greifen und ablegen<br />

Abbildung 21.3: Residuenplot und Abweichungsquadrate<br />

Die funktionale Modellierung naturwissenschaftlicher<br />

Daten dient so zur Erschließung von Umwelt<br />

und mathematischer Begrifflichkeit.<br />

3 Computergestützte<br />

Repräsentationen<br />

Eine explorative Vorgehensweise erfor<strong>der</strong>t Werkzeuge,<br />

die erlauben im Datenkontext forschend<br />

tätig zu werden. Statistiksoftware wie z. B. FA-<br />

THOM leistet hier sehr gute Dienste, da über<br />

einfachste Handhabung Streudiagramme, Funktionsgraphen<br />

und Residuenplots dargestellt werden<br />

können. Die intuitive Bedienbarkeit ist von beson<strong>der</strong>er<br />

Bedeutung: Werden keine nennenswerten<br />

kognitiven Ressourcen <strong>für</strong> die Programmbedienung<br />

benötigt, verbleibt mehr an Potenzial <strong>für</strong><br />

die inhaltliche Arbeit. Zentrales Bedienelement ist<br />

<strong>der</strong> Greif– und Zugmodus, mit dem beispielsweise<br />

Punkte bewegt, Schieberegler erstellt und bedient<br />

o<strong>der</strong> Achsen umskaliert werden können. In FA-<br />

THOM ist nahezu die gesamte Programmbedienung<br />

über den Greif- und Zugmodus realisierbar,<br />

so lassen sich auch z. B. Daten greifen und in einem<br />

Diagramm so ablegen, dass sie sofort visualisiert<br />

werden (vgl. Abb. 21.2). Eine vergleichswei-<br />

se aufwändige Diagrammerstellung, bei <strong>der</strong> mitunter<br />

aufgrund <strong>der</strong> langen Dauer das inhaltliche<br />

Ziel aus den Augen verloren wird, entfällt dadurch.<br />

Dies ist insbeson<strong>der</strong>e hinsichtlich <strong>der</strong> vergleichsweise<br />

knappen Zeitressourcen in einer Unterrichtsstunde<br />

von unmittelbarer schulpraktischer<br />

Bedeutung.<br />

3.1 Einzelaspekte<br />

⊲ Im Residuenplot werden die „Reste“ <strong>der</strong> funktionalen<br />

Modellierung, i. e. die Differenz zwischen<br />

den Datenwerten yi und den modellierten<br />

Werten f (xi), vergrößert fokussiert. Dadurch<br />

sind Informationen über die Modellgüte erhältlich:<br />

je zufälliger die Residuen im Sinne von<br />

trendfrei und je kleiner, umso besser die Datenanpassung<br />

(s.o.). Durch die dynamische Verknüpfung<br />

von Streudiagramm und Residuenplot<br />

wird die rechnergestützte Datenanpassung<br />

dadurch erleichtert, dass bei <strong>der</strong> Spezifizierung<br />

<strong>der</strong> Parameter <strong>der</strong> gewählten Funktion sofort<br />

die Güte <strong>der</strong> Anpassung im Residuenplot sichtbar<br />

wird (vgl. Abb. 21.3).<br />

⊲ Werden die Abweichungsquadrate sichtbar gemacht,<br />

kann dies den Modellierungsprozess in<br />

!<br />

!<br />

161


Markus Vogel, Heidelberg<br />

zweifacher Hinsicht unterstützen: Hinsichtlich<br />

<strong>der</strong> Datenanpassung geben die Abweichungsquadrate<br />

wie auch <strong>der</strong> Residuenplot ein Maß<br />

<strong>für</strong> die Modellierungsgüte. Je kleiner die Fläche,<br />

welche die Abweichungsquadrate einnehmen,<br />

umso besser <strong>der</strong> Fit <strong>der</strong> Daten (vgl.<br />

Abb. 21.3). Überdies kann die Darstellung <strong>der</strong><br />

Abweichungsquadrate Schülerinnen und Schüler<br />

eine anschauliche Vorstellung davon vermitteln,<br />

was bei einem rechnergestützten Verfahren,<br />

wie dem <strong>der</strong> linearen Regression, „vor sich<br />

geht“: es geht um die Suche nach <strong>der</strong> Geraden,<br />

die so in <strong>der</strong> Datenwolke zu liegen kommt, dass<br />

eben die Abweichungsquadrate in ihrer Summe<br />

möglichst klein werden.<br />

⊲ Beim „Daten-Zooming“ kann ein Datensatz in<br />

verschieden großen Bildausschnitten betrachtet<br />

werden (vgl. Abb. 21.4). Das ist bei <strong>der</strong> explorativen<br />

Datenanalyse dann von Belang, wenn<br />

Informationen <strong>der</strong> funktionalen Anpassung erst<br />

ablesbar werden, wenn sie aus einer größeren<br />

Distanz betrachtet werden. Dies ist beispielsweise<br />

bei Fragen <strong>der</strong> Gültigkeit von Modellgrenzen<br />

von Belang: Wie weit kann die modellierende<br />

Funktion hinsichtlich ihrer Eigenschaften<br />

im Verhältnis zum Datenkontext sinn-<br />

162<br />

Abbildung 21.4: Daten-Zooming<br />

Abbildung 21.5: Beispiel einer Datentransformation<br />

voll interpretiert werden? In gleicher Weise wie<br />

das Aus-Zoomen, kann das Ein-Zoomen weitere<br />

Informationen bringen: Wie sehen Modellabweichungen<br />

im Detail aus, weisen die Daten<br />

in Teilbereichen bei fokussierter Betrachtung<br />

noch unerkannte Muster auf?<br />

⊲ Wenn die Achsen eines Streudiagramms interaktiv<br />

umskaliert werden können, lässt sich die<br />

Datenwolke aus unterschiedlich großer Distanz<br />

betrachten (s.o.). In Erweiterung dazu liegt ein<br />

Perspektivenwechsel auf die Daten dann vor,<br />

wenn die Datenpunkte logarithmiert betrachtet<br />

werden können (vgl. Abb. 21.5). Dies ist<br />

insbeson<strong>der</strong>e <strong>für</strong> Modellierungstechniken interessant,<br />

bei denen eine nichtlineare Datenstruktur<br />

durch eine angemessene Transformation linearisiert<br />

werden soll, um auf die transformierten<br />

Daten Techniken <strong>der</strong> Geradenanpassung anzuwenden<br />

und schließlich das erhaltene Resultat<br />

wie<strong>der</strong> zurück zu transformieren. Mit<br />

<strong>der</strong> Möglichkeit <strong>der</strong> logarithmierten Datenbetrachtung<br />

können die Erfolgsaussichten <strong>für</strong> das<br />

rechnerische Verfahren im Modellierungsprozess<br />

vorab abschätzbar werden.<br />

Der Computer ermöglicht explorative Vorgehensweisen<br />

bei <strong>der</strong> Datenanalyse, die den Mathe-<br />

!<br />

!


Der Computer macht’s möglich — Funktionen als Werkzeug zum Modellieren von Daten<br />

matikunterricht in seiner paradigmatischen Ausrichtung<br />

grundsätzlich bereichern kann. Es geht<br />

weniger um das Anwenden fertiger statistischer<br />

Verfahren auf Daten und die Überprüfung, was bei<br />

solchen standardisierten Verfahren aus den Daten<br />

herauszuholen ist. Die explorative Datenanalyse<br />

beginnt möglichst vorurteilsfrei bei den Daten<br />

[Tukey, 1977] und versucht, die Daten in unterschiedlichen<br />

Darstellungen, Abständen und Perspektiven<br />

zu betrachten, um tatsächlich vorhandene<br />

Strukturen im Nebel <strong>der</strong> Datenwolke aufzuspüren,<br />

also nicht durch fertige Verfahren Strukturen<br />

von außen hineinzutragen. Die vorgenannten Elemente<br />

<strong>der</strong> multimedialen Unterstützung sind hierbei<br />

von wesentlicher Bedeutung, sie machen den<br />

Computer zu einem Werkzeug <strong>der</strong> Datenexploration.<br />

Literatur<br />

Biehler, Rolf & Stefan Schweynoch (1999): Trends und Abweichungen<br />

von Trends. <strong>Mathematik</strong> lehren, 97, 17–22.<br />

Borovcnik, Manfred (2005): Probabilistic and statistical<br />

thinking. URL http://cerme4.crm.es/Papers%<br />

20definitius/5/Borovcnik.pdf.<br />

Eichler, Andreas & Markus Vogel (<strong>2009</strong>): Leitidee Daten und<br />

Zufall. Wiesbaden: Vieweg & Teubner.<br />

Erickson, Tim (2005): The model shop. Using data to learn<br />

about elementary functions. Oakland: eeps media, third fieldtest<br />

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Stachowiak, Herbert (1973): Allgemeine Modelltheorie. Berlin:<br />

Springer-Verlag.<br />

Tukey, John W. (1977): Exploratory data analysis. Massachusetts:<br />

Addison-Wesley.<br />

Vogel, Markus (2006a): Mathematisieren funktionaler Zusammenhänge<br />

mit multimediabasierter Supplantation. Hildesheim:<br />

Franzbecker.<br />

163


Markus Vogel, Heidelberg<br />

164


• Reinhard Hochmuth und Pascal Fischer, Kassel<br />

eLearning in mathematischen Vorkursen mit Beispielen zur Analysis<br />

Mathematische Vorkurse sehen sich als Brücke zwischen Schule und Universität mit einer Reihe<br />

von Problemen konfrontiert, denen in Kassel durch ein neu entwickeltes eVorkurskonzept seit Jahren<br />

erfolgreich begegnet wird. Im Vortrag werden die zentralen Bestandteile des Kurskonzeptes, das<br />

Präsenz- und Selbstlernphasen durch den Einsatz einer Lernplattform innovativ kombiniert, vorgestellt.<br />

An Beispielen aus <strong>der</strong> Analysis werden Elemente <strong>der</strong> Vorkursmaterialien illustriert. Basierend<br />

auf Ergebnissen einer angelagerten Studie zur Evaluation <strong>der</strong> Kurse sowie zur Analyse <strong>der</strong> Teilnehmer<br />

und ihrer Leistungen wird diskutiert, unter welchen Bedingungen und in welchen Kontexten das<br />

Kurskonzept sinnvoll in <strong>der</strong> Hochschule eingesetzt werden kann.<br />

1 Einleitung<br />

Ausgangspunkt ist das Projekt „Multimediavorkurs<br />

MathematiK“/„VEMA“ das in Kooperation<br />

<strong>der</strong> Universitäten Kassel und Pa<strong>der</strong>born sowie<br />

<strong>der</strong> Technischen Universität Darmstadt seit 2004<br />

durchgeführt wird und multimedial angereichertes<br />

Material zur Unterstützung <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>vorkurse<br />

entwickelt und beforscht [vgl. Biehler &<br />

Fischer, 2006]. Das auf CD und zur Einbettung<br />

in Lernplattformen auch im SCORM-Fomat vorliegende<br />

Material wurde im Projektverlauf fortlaufend<br />

überarbeitet und erweitert. Es umfasst<br />

in <strong>der</strong> im Oktober <strong>2009</strong> veröffentlichten Version<br />

[vgl. Biehler & Fischer, 2006] sechs Kapitel zu<br />

den Themengebieten „Rechengesetze“, „Potenzen“,<br />

„Funktionen“, „Höhere Funktionen“, „Analysis“<br />

und „Vektorrechnung“. Die Inhalte konzentrieren<br />

sich dabei bewusst im Wesentlichen auf<br />

den Schulstoff <strong>der</strong> Klassen 5-13 und liegen <strong>der</strong>zeit<br />

in Form von 50 Modulen als in sich abgeschlossenen<br />

Inhaltspaketen vor. Jedes dieser Module weist<br />

eine identische Struktur von Unterbereichen auf,<br />

die dem Lerner einen entdeckenden, deduktiven<br />

o<strong>der</strong> selektiven Zugang zum Lernmaterial ermöglicht<br />

[vgl. Biehler & Fischer, 2006]. Das Material<br />

wurde zur Nutzung als Selbstlernmaterial und<br />

zum gezielten Nachschlagen konzipiert, so dass<br />

nicht nur ein Einsatz im Rahmen von Vorkursen,<br />

son<strong>der</strong>n auch eine Semester begleitende Nutzung<br />

möglich ist.<br />

Vorkurse weisen üblicherweise ein hohes Maß<br />

an Heterogenität innerhalb <strong>der</strong> Lerngruppe auf.<br />

Dies ergibt sich u. a. durch das unterschiedliche<br />

Alter <strong>der</strong> Teilnehmer, durch verschiedenartige<br />

Hochschulzugangsberechtigungen, aus unterschiedlichen<br />

Bedürfnissen je nach angestrebtem<br />

Studiengang und nicht zuletzt auch durch verschiedene<br />

individuelle Defizite aufgrund persönlicher<br />

schulischer „Leidenswege“. Zudem ist am<br />

Standort Kassel seit Jahren ein Anstieg <strong>der</strong> Teilnehmerzahlen<br />

zu verzeichnen: Waren es z.B. in<br />

2007 noch 600 Teilnehmer, so haben in <strong>2009</strong> bereits<br />

1020 Studienanfänger die Vorkurse besucht.<br />

Zudem ist in Hessen <strong>für</strong> das Jahr 2013 mit einem<br />

Doppeljahrgang und damit mit überproportional<br />

höheren Zuwächsen zu rechnen.<br />

Betrachtet man die Ergebnisse aus den jährlichen<br />

Evaluationen <strong>der</strong> Vorkurse so stehen <strong>der</strong><br />

wachsenden Zahl an Vorkursteilnehmern <strong>der</strong><br />

Wunsch und das Bedürfnis <strong>der</strong> Studierenden nach<br />

einer möglichst individuellen Betreuung gegenüber<br />

[vgl. Fischer, 2007]. Vor diesem Hintergrund<br />

wurde im Rahmen des Dissertationsprojekts von<br />

Herrn Fischer unter Betreuung von Herrn Prof. Dr.<br />

Rolf Biehler die Idee eines neuartigen Vorkurskonzeptes<br />

entwickelt und beforscht [vgl. Fischer,<br />

<strong>2009</strong>; Fischer & Biehler, 2010]. Dieses Kurskonzept<br />

wird seit 2007 eingesetzt und fortlaufend optimiert.<br />

Dieser Artikel diskutiert einige Aspekte des<br />

interaktiven Lernens im Allgemeinen und illustriert<br />

einige Aspekte an Beispielen aus <strong>der</strong> Analysis<br />

im Speziellen. Er versucht aufzuzeigen, wie<br />

zum einen das Material selbst aber auch spezifische<br />

Kurszenarien in an<strong>der</strong>en Lehrveranstaltungen<br />

an <strong>der</strong> Hochschule einsetzbar bzw. <strong>für</strong> diese<br />

übertragbar sind und inwieweit auch ein Einsatz<br />

in schulischen Kontexten denkbar ist.<br />

Der Artikel beginnt mit einem kurzen Überblick<br />

über das multimediale Lernmaterial und illustriert<br />

einige Elemente an Beispielen aus <strong>der</strong><br />

Analysis (Kapitel 2). Im dritten Kapitel werden<br />

verschiedene Einsatzszenarien im Rahmen <strong>der</strong><br />

Kasseler Brückenkurse beschrieben. In diesem<br />

Kontext werden auch ausgewählte zentrale Ergebnisse<br />

<strong>der</strong> angelagerten Studie präsentiert. Im abschließenden<br />

vierten Kapitel wird zusammenfassend<br />

diskutiert, inwieweit die Konzepte und die<br />

bisherigen Evaluationsergebnisse auf den schulischen<br />

wie auch auf den universitären Bereich<br />

übertragbar sind, ehe abschließend <strong>der</strong> Artikel mit<br />

<strong>der</strong> Benennung von Forschungs- und Projektperspektiven<br />

endet.<br />

2 Das Kapitel Analysis<br />

Das Kapitel Analysis besteht aus den Unterkapiteln<br />

„Folgen und Grenzwerte“, „Grenzwerte<br />

von Funktionen und Stetigkeit“, „Differentialrechnung“<br />

und „Integralrechnung“, wobei die ersten<br />

drei Unterkapitel von Frau Isabelle Kuhnke-<br />

Lerch von <strong>der</strong> TU Darmstadt unter Betreuung von<br />

Prof. Dr. Hochmuth verfasst wurden, während das<br />

165


eLearning in mathematischen Vorkursen mit Beispielen zur Analysis<br />

Unterkapitel zur Integralrechnung von dem Kasseler<br />

Mitarbeiter Stefan Podworny unter Betreuung<br />

<strong>der</strong> dortigen Vorkursgruppe erstellt wurde.<br />

Insgesamt liegen elf Module zur Analysis vor.<br />

Den Inhalt eines solchen Moduls beschreiben<br />

wir nachfolgend exemplarisch an Hand des Moduls<br />

„Differenzierbarkeit von Funktionen“ [vgl.<br />

Biehler et al., <strong>2009</strong>, 2010]: In <strong>der</strong> genetischen<br />

Hinführung sollen die Lernenden zunächst an die<br />

<strong>für</strong> das Thema zentralen Fragestellungen herangeführt<br />

werden. Dabei wird dem Lerner zuerst ein<br />

kurzer Überblick über die Themen des Moduls gegeben.<br />

Danach wird ihm ein Dialog zwischen drei<br />

Studierenden, die über die Geschwindigkeit einer<br />

Achterbahn am Ende ihres „First Drops“ diskutieren,<br />

präsentiert. In <strong>der</strong> anschließenden Mathematisierung<br />

dieses Beispiels wird <strong>der</strong> Lerner an<br />

die Vorstellung des Differentialquotienten als lokaler<br />

Än<strong>der</strong>ungsrate herangeführt. Am Ende <strong>der</strong><br />

Hinführung soll <strong>der</strong> Lerner in einer Aufgabe die<br />

konkrete Geschwindigkeit <strong>der</strong> Bahn zu einem vorgegebenen<br />

Zeitpunkt berechnen.<br />

Im darauf folgenden Bereich „Info“ findet<br />

sich eine Sammlung aller im Modul formulierten<br />

Definitionen und Sätze, wie z.B. eine Definition<br />

des Differentialquotienten, <strong>der</strong> Differenzierbarkeit<br />

einer Funktion sowie die Differentiationsregeln.<br />

Diese werden als „Infos“ mit einem<br />

entsprechenden Symbol markiert, sowie optisch<br />

durch einen roten Kasten hervorgehoben. Diese<br />

Darstellungsweise dient <strong>der</strong> besseren Übersichtlichkeit<br />

und soll die Orientierung des Lerners erleichtern.<br />

Der „Info“-Bereich kann später auch<br />

zum gezielten Nachschlagen einzelner Sätze verwendet<br />

werden.<br />

Im anschließenden Bereich „Begründung/ Interpretation/<br />

Herleitung“ werden alle Sätze durch<br />

Beweise, Beispiele und Interaktionen begründet,<br />

erläutert bzw. illustriert. Im Bereich Anwendungen<br />

werden inner- und außermathematische Anwendungsbeispiele<br />

des eben Gelernten gezeigt.<br />

So findet sich hier u. a. auch ein Beispiel zur linearen<br />

Approximation. Speziell dieses Beispiel soll<br />

dazu beitragen, die Vielfalt an grundlegenden Vorstellungen<br />

zum Differentiationsbegriff zu erweitern<br />

und adäquat zu vernetzen.<br />

Im nächsten Bereich „Typische Fehler“ findet<br />

sich eine Sammlung fehlerhafter Aufgabenlösungen<br />

und Aussagen, die <strong>der</strong> Lerner korrigieren und<br />

„didaktisch“ analysieren soll. Auf diesem Wege<br />

soll er Standardfehler nicht nur im Vorfeld vermeiden,<br />

son<strong>der</strong>n auch einen ersten Einblick in didaktische<br />

Hintergründe erhalten. Der das Modul abschließende<br />

Bereich Aufgaben ist zum Üben <strong>der</strong><br />

neu gelernten Konzepte gedacht und enthält Aufgaben<br />

sowie <strong>der</strong>en Musterlösungen, die vom Lerner<br />

optional angezeigt werden können. Zusätzlich<br />

finden sich im Bereich „Visualisierungen“ alle in-<br />

166<br />

teraktiven Elemente und Animationen des Moduls<br />

noch einmal zusammengetragen.<br />

Schließlich hat <strong>der</strong> Lerner die Möglichkeit,<br />

sich im Bereich „Ergänzungen“ über das in diesem<br />

Modul erwartete Wissen hinaus zu informieren.<br />

In dem von uns beschriebenen Modul werden<br />

hier u. a. Funktionsklassen thematisiert.<br />

Im Folgenden wollen wir uns etwas näher mit<br />

einigen ausgewählten Interaktionsbeispielen aus<br />

dem Kapitel Analysis beschäftigen. Dabei wird<br />

insbeson<strong>der</strong>e auf die fachliche Einbettung <strong>der</strong> jeweiligen<br />

Interaktion, den anschaulichen bzw. formalen<br />

Charakter <strong>der</strong> „erwarteten“ Antworten und<br />

auf <strong>der</strong>en Anschlussfähigkeit im Kontext aktiventdeckenden<br />

Lernens in heterogenen Lerngruppen<br />

eingegangen. So werden gegenstandsbezogene<br />

Möglichkeiten des Lernens <strong>für</strong> verschiedene<br />

Einsatzszenarien aufgezeigt. Welche davon in spezifischen<br />

Situationen von Lernenden „typischerweise“<br />

realisiert werden, ist eine empirische Frage,<br />

die an<strong>der</strong>norts beantwortet werden wird.<br />

2.1 Beispiele zur Differentialrechnung<br />

In <strong>der</strong> Interaktion „Differenzierbarkeit einer stetigen<br />

Funktion“ (Abb. 22.1) geht es um eine Beispielfunktion,<br />

die zwar überall stetig aber an einem<br />

Punkt nicht differenzierbar ist. Darüber hinaus<br />

wird in dieser Interaktion thematisiert, dass es<br />

sich bei <strong>der</strong> Differenzierbarkeit um eine lokale Eigenschaft<br />

handelt. Der Satz, <strong>der</strong> besagt, dass jede<br />

differenzierbare Funktion stetig ist, ist Gegenstand<br />

einer „Info“.<br />

Auf anschauliche Weise soll sich <strong>der</strong> Lernende<br />

insbeson<strong>der</strong>e mit dem folgenden (hier nur skizzierten)<br />

mathematischen Zusammenhang auseinan<strong>der</strong>setzen:<br />

Stimmen an einer Stelle links- und<br />

rechtsseitige Sekantensteigungsgrenzwerte, also<br />

die links- und rechtseitigen Tangentensteigungen,<br />

überein, so existiert „<strong>der</strong> Sekantensteigungsgrenzwert“,<br />

in an<strong>der</strong>en Worten, ist die Funktion an<br />

dieser Stelle differenzierbar. Analytisch lässt sich<br />

dies „leicht“ zeigen. Im Kontext <strong>der</strong> Interaktion<br />

wird allerdings kein formaler Beweis verlangt. Es<br />

ist vielmehr ausreichend, wenn <strong>der</strong> Lernende anschaulich<br />

argumentiert. Selbst wenn es dem Lernenden<br />

hier nicht gelänge die „Warum“-Frage anschaulich<br />

(o<strong>der</strong> eben formal-analytisch) zu beantworten,<br />

wird er sich im Zuge des einfachen „Machens“<br />

dessen, was in <strong>der</strong> Interaktion von ihm verlangt<br />

wird, mit dem Phänomen vertraut machen<br />

können, dass es so etwas wie links- und rechtsseitige<br />

Tangenten gibt, und dass es Stellen geben<br />

kann, an denen diese übereinstimmen, und solche,<br />

bei denen dies nicht <strong>der</strong> Fall ist.<br />

Es sei darauf hingewiesen, dass die Funktion<br />

hier lediglich in Gestalt eines Graphen und nicht<br />

als Term „<strong>für</strong> alle reellen x“ aus einem Intervall<br />

o<strong>der</strong> auf R gegeben ist. So legt schon die Repräsentation<br />

<strong>der</strong> Funktion anschauliche Argumenta-


Reinhard Hochmuth und Pascal Fischer, Kassel<br />

Abbildung 22.1: Differenzierbarkeit und stetige Funktionen<br />

tionen nahe und rahmt gewissermaßen das fachlich<br />

vom Lernenden hier Erwartete. Typischerweise<br />

kennen Schüler und Studierende als Beispiel<br />

<strong>für</strong> eine stetige aber nicht differenzierbare Funktion<br />

lediglich die sog. Betragsfunktion. Lernenden,<br />

denen grundsätzlich die eben beschriebenen Zusammenhänge<br />

bekannt sind, bietet diese Interaktion<br />

also zumindest die Möglichkeit zur Vorstellungserweiterung.<br />

Schließlich könnten Lernende, angeregt durch<br />

die Interaktion, auch auf die Frage stoßen, ob etwa<br />

Folgendes richtig ist: Gilt an einer Stelle x0<br />

lim f<br />

x↑x0<br />

′ (x) = lim f<br />

x↓x0<br />

′ (x),<br />

so existiert f ′ (x0) und stimmt mit dem gemeinsamen<br />

Grenzwert überein. Analytisch lässt sich dies<br />

beispielsweise mit dem Mittelwertsatz beweisen.<br />

Der genannte Zusammenhang lässt sich auch anschaulich<br />

begründen, was aber wohl nur wenigen<br />

Studienanfängern gelingen dürfte.<br />

Zusammenfassend bietet diese Interaktion<br />

Lernenden die Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns<br />

auf sehr unterschiedlichem Niveau. Damit<br />

ist zumindest eine gegenstandsbezogene Voraussetzung<br />

<strong>für</strong> individualisiertes Lernen in heterogenen<br />

Gruppen erfüllt.<br />

Die Interaktion in Abb. 22.2 besitzt einen<br />

schlichteren mathematischen Hintergrund: Wie<br />

eben bemerkt, handelt es sich bei <strong>der</strong> Differen-<br />

zierbarkeit um eine lokale Eigenschaft. Die Ableitung<br />

einer (reellwertigen. . . ) Funktion an einer<br />

Stelle ist eine reelle Zahl. Die Zuordnung von <strong>der</strong><br />

Stelle und <strong>der</strong> Ableitung an dieser Stelle liefert<br />

<strong>für</strong> eine etwa auf einem Intervall differenzierbare<br />

Funktion selbst wie<strong>der</strong> eine Funktion, die sog. Ableitungsfunktion.<br />

Bedeuten<strong>der</strong> als dieser Zusammenhang<br />

ist es, sich eine qualitative Vorstellung<br />

von <strong>der</strong> Ableitungsfunktion in Abhängigkeit von<br />

<strong>der</strong> Ursprungsfunktion machen zu können. Hierbei<br />

ist das „Einzeichnen“ <strong>der</strong> Tangente, an <strong>der</strong><br />

die Steigung in gewissen Sinne einfach abgelesen<br />

werden kann, hilfreich. Dies erleichtert auch<br />

zu erkennen, dass Stellen <strong>der</strong> Ursprungsfunktion,<br />

in denen diese einen lokalen Extremwert besitzt,<br />

Nullstellen <strong>der</strong> Ableitungsfunktion bilden.<br />

Des Weiteren soll erkannt werden, dass Stellen, in<br />

denen sich die Krümmung <strong>der</strong> Ursprungsfunktion<br />

än<strong>der</strong>t, Extremwertstellen <strong>der</strong> Ableitungsfunktion<br />

bilden. Diese Zusammenhänge lassen sich auch<br />

auf <strong>der</strong> Grundlage umgangssprachlicher Beschreibungen<br />

des Graphenverlaufs, wie sie etwa in <strong>der</strong><br />

Sekundarstufe I thematisch worden sein könnten,<br />

formulieren. Es kann erwartet werden, dass bei<br />

hinreichen<strong>der</strong> Beschäftigung mit <strong>der</strong> Interaktion,<br />

das Verfolgen <strong>der</strong> jeweils eingezeichneten Tangente<br />

nicht mehr notwendig ist, und zunehmend<br />

direkt vom Verlauf des Graphen <strong>der</strong> Ursprungsfunktion<br />

auf den Graphen <strong>der</strong> Ableitungsfunktion<br />

geschlossen werden kann.<br />

167


eLearning in mathematischen Vorkursen mit Beispielen zur Analysis<br />

Auch in dieser Interaktion stehen weniger formale<br />

als qualitativ-anschauliche Aspekte im Vor<strong>der</strong>grund.<br />

Und auch hier ist <strong>der</strong> Lernende in den<br />

Prozess des Entstehens des „Phänomens“ durch<br />

sein „Machen“ involviert: So entsteht hier <strong>der</strong><br />

Graph einer Funktion, ohne dass <strong>der</strong> Lernende explizit<br />

über das, was er da „mathematisch“ tut, reflektieren<br />

muss. Selbstverständlich sollte <strong>der</strong> Lernende<br />

dies spätestens im Studium noch leisten.<br />

Als Brücke zwischen „Gar nichts wissen“ und<br />

einem tieferen Verständnis des hier behandelten<br />

Phänomens kann diese Interaktion durch sein Bekanntmachen<br />

mit <strong>der</strong> Ableitungsfunktion und ein<br />

(potentielles) Anknüpfen an Inhalte <strong>der</strong> Sekundarstufe<br />

I aber allemal dienen.<br />

Beim Newton-Verfahren handelt es sich um<br />

ein numerisches Verfahren zur Bestimmung von<br />

Nullstellen nichtlinearer Funktionen. Es lässt sich<br />

auf kanonische Weise auf die Situation unendlich<br />

dimensionaler Räume verallgemeinern und ist in<br />

<strong>der</strong> Gestalt des Heron-Verfahrens, das Näherungswerte<br />

<strong>für</strong> die Quadratwurzel einer positiven reeller<br />

Zahl bestimmt, gelegentlich Gegenstand des<br />

<strong>Mathematik</strong>unterrichts <strong>der</strong> Sekundarstufe I. Es<br />

besitzt eine Vielzahl nichttrivialer Erweiterungen<br />

etwa zur Pfadbestimmung nichtlinearer parameterabhängiger<br />

Differentialgleichungssysteme und<br />

lässt sich mit topologischen Argumenten „kombinieren“.<br />

Darüber hinaus kann die Grundidee des<br />

Newton-Verfahrens auch auf bestimmte Probleme<br />

übertragen werden, bei denen die zugrunde liegende<br />

Funktion nicht differenzierbar ist. All dies<br />

168<br />

Abbildung 22.2: Ableitungsfunktion<br />

weist darauf hin, dass das Newton-Verfahren und<br />

seine Grundidee von großer Bedeutung <strong>für</strong> die<br />

<strong>Mathematik</strong> und ihre Anwendungen ist – viele<br />

Probleme <strong>der</strong> Anwendung führen letztlich auf das<br />

Problem, die Nullstellen nichtlinearer Gleichungen<br />

näherungsweise zu berechnen.<br />

Die Grundidee des Newton-Verfahrens lässt<br />

sich bekanntermaßen anschaulich einfach darstellen<br />

und <strong>der</strong> sich ergebende Algorithmus lässt sich<br />

mit Hilfe heutiger Taschenrechner leicht „programmieren“.<br />

Darüber hinaus lassen sich einige<br />

zentrale Probleme des Newton-Verfahrens bereits<br />

auf Schulniveau behandeln. So liegt <strong>der</strong> Anwendung<br />

des Newton-Verfahrens schon im eindimensionalen<br />

Fall in <strong>der</strong> Regel „lediglich“ ein Existenzsatz<br />

zu Grunde. Dieser besagt im Wesentlichen,<br />

dass Startwerte hinreichend nah an <strong>der</strong><br />

Nullstelle so gewählt werden können, dass das<br />

Newton-Verfahren Iterationswerte erzeugt, welche<br />

die wahre Lösung beliebig genau approximieren.<br />

Was „hinreichend nah“ heißt, ist nur in beson<strong>der</strong>en<br />

Situationen a priori zu klären. Eine ungünstige<br />

Wahl des Startwerts führt jedenfalls zu Iterationswerten,<br />

die das Verfahren zum Abbruch führen,<br />

eine „ungewünschte“ Nullstelle approximieren<br />

o<strong>der</strong> gar nicht konvergieren. Die Interaktion in<br />

Abb. 22.3 erlaubt, einige dieser Möglichkeiten zu<br />

„entdecken“. Eine erfolgreiche Aufgabenbearbeitung<br />

verlangt nicht die Elaboration aller denkbaren<br />

Möglichkeiten. Wie<strong>der</strong> reicht es durchaus aus,<br />

in dieser Situation und im Kontext <strong>der</strong> zugrunde<br />

liegenden <strong>Mathematik</strong> mittels <strong>der</strong> Interaktion Phä-


nomene (o<strong>der</strong> das Phänomen) zu entdecken und<br />

die dabei auftretenden geometrischen Situationen<br />

„sinnvoll“ zu interpretieren.<br />

Auch diese Interaktion bietet die Möglichkeit<br />

zu nichttrivialen Anschlussüberlegungen. So können<br />

<strong>für</strong> den Fall <strong>der</strong> Konvergenz <strong>der</strong> Iterationswerte<br />

gegen die Nullstelle Beobachtungen über<br />

die Konvergenzgeschwindigkeit angestellt werden.<br />

Des Weiteren könnte in diesem Kontext Einiges<br />

über a priori und a posteriori Fehlerabschätzungen<br />

und <strong>der</strong>en grundlegenden Unterschied erfahren<br />

werden.<br />

Neben dem Erfahrbarmachen des Newton-<br />

Verfahrens erlaubt die Interaktion in Abb. 22.3,<br />

über eine grundlegende häufig in <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong><br />

auftretende Situation, die Bedeutung und Grenze<br />

von Existenzaussagen, zu reflektieren. Auch <strong>für</strong><br />

dieses Interaktionsbeispiel ist seine „Brücken“-<br />

Funktion quasi „greifbar“.<br />

2.2 Beispiele zur Integralrechnung<br />

Die Iteration in Abb. 22.4 erlaubt es, ein durchaus<br />

relevantes Näherungsverfahren zur Berechnung<br />

bestimmter Integrale kennen zu lernen. Es lässt<br />

sich anschaulich begründen und rekurriert darauf,<br />

dass man aus <strong>der</strong> Sekundarstufe I noch weiß, wie<br />

Abbildung 22.3: Das Newton-Verfahren<br />

Reinhard Hochmuth und Pascal Fischer, Kassel<br />

man den Flächeninhalt eines Trapezes berechnet.<br />

Außerdem muss man endliche Summen berechnen.<br />

Mit heutigen Taschenrechnern lässt sich auch<br />

dieses Verfahren „leicht“ programmieren. Diese<br />

würde unter an<strong>der</strong>em die Bedeutung <strong>der</strong> Summenschreibweise<br />

verdeutlichen.<br />

In <strong>der</strong> vorliegenden Interaktion lassen sich<br />

darüber hinaus gewisse Phänomene beobachten,<br />

die durch die ergänzenden Bemerkungen quasi<br />

in Frage gestellt werden. So führt beispielsweise<br />

die Frage, warum bei <strong>der</strong> vorliegenden Funktion<br />

die Näherungswerte immer größer als <strong>der</strong> wahre<br />

Wert sind, zu <strong>der</strong> Frage, wie denn <strong>der</strong> Graph einer<br />

Funktion (und damit die Funktion) aussehen mögen,<br />

bei <strong>der</strong> dies nicht <strong>der</strong> Fall ist. Die Redewendung<br />

„in <strong>der</strong> Regel“ könnte darüber hinaus zu <strong>der</strong><br />

Überlegung Anlass geben, ob es denn Fälle gibt,<br />

bei denen zwar mehr Trapeze zur Berechnung eines<br />

Näherungswertes herangezogen werden, <strong>der</strong><br />

Näherungswert aber „schlechter“ wird. Weitergehend<br />

könnte etwa die Frage aufgeworfen werden,<br />

ob solche Fälle etwa bei <strong>der</strong> Wahl von Zweierpotenzen<br />

nicht auftreten können. Auch hier stehen<br />

anschauliche Überlegungen im Vor<strong>der</strong>grund.<br />

Die Herleitung des Begriffs des Riemannschen<br />

Integrals ist an sich ja eine eher techni-<br />

169


eLearning in mathematischen Vorkursen mit Beispielen zur Analysis<br />

Abbildung 22.4: Beispiel <strong>der</strong> näherungsweisen Berechnung mit Trapezen<br />

sche Angelegenheit. Die Interaktion in Abb. 22.5<br />

erlaubt es, die Berechnung von Ober- und Untersummen<br />

und <strong>der</strong>en Differenz an einem Beispiel<br />

konkret durchzuführen. Außerdem kann das<br />

Phänomen zur Kenntnis genommen werden, dass<br />

es etwa <strong>für</strong> stetige Funktionen letztlich (also im<br />

Grenzwert) egal ist, ob man Obersummen, Untersummen,<br />

Linkssummen o<strong>der</strong> Rechtssummen zur<br />

Grenzwertbildung verwendet. Auch hier erlauben<br />

die Fragen anschaulich argumentierende Antworten.<br />

Wie<strong>der</strong>um können aber auch weitergehende<br />

Fragen aufgeworfen werden. So kann gefragt werden,<br />

ob es denn wirklich notwendig ist, dass die<br />

zu integrierende Funktion stetig ist. Zumindest<br />

die Entdeckung, dass es <strong>für</strong> bestimme stückweise<br />

konstante Funktionen „gut geht“, könnte im Kontext<br />

dieser Interaktion angeregt werden.<br />

170<br />

3 Einsatzszenarien <strong>der</strong> Kasseler<br />

Brückenkurse<br />

3.1 Kurszenarien<br />

Im Rahmen <strong>der</strong> Kasseler <strong>Mathematik</strong>brückenkurse<br />

können die Studienanfänger zwischen zwei alternativen<br />

Kursvarianten, einer P- und einer E-<br />

Kursvariante, wählen. Die Kurse in beide Varianten<br />

erstrecken sich über einen Zeitraum von 4<br />

Wochen, unterscheiden sich jedoch bzgl. einzelner<br />

Aspekte des Lernens, auf die wir im Folgenden<br />

kurz vergleichend eingehen wollen.<br />

P-Kurse<br />

Die P-Kurse glie<strong>der</strong>n sich in 12 Präsenz- und 8<br />

Selbstlerntage, wobei sich jeweils drei Präsenztage<br />

pro Woche mit 2 Selbstlerntagen abwechseln,<br />

wie es in <strong>der</strong> nachfolgenden Tabelle zu sehen ist.<br />

Mo Di Mi Do Fr Sa & So<br />

VL&Ü S VL&Ü S VL&Ü S<br />

VL&Ü S VL&Ü S VL&Ü S<br />

VL&Ü S VL&Ü S VL&Ü S


Die Teilnehmer werden dabei nach Studiengängen<br />

sortiert in vier Teilkurse aufgeteilt und<br />

von je einem Dozenten sowie mindestens zwei<br />

Übungsgruppenleitern je Teilkurs betreut. Die Dozenten<br />

sind in ihren Kursen im klassischen Sinne<br />

<strong>für</strong> die Auswahl <strong>der</strong> Inhalte sowie <strong>für</strong> die Taktung<br />

und das Tempo des Kurses verantwortlich. Sie orientieren<br />

sich dabei an den Bedürfnissen <strong>der</strong> jeweiligen<br />

Studiengänge, versuchen aber auch den Kurs<br />

soweit wie möglich an den spezifischen Bedürfnissen<br />

und Defiziten <strong>der</strong> Lerngruppe auszurichten.<br />

Eine Orientierung an den individuellen Bedürfnissen<br />

<strong>der</strong> einzelnen Teilnehmer ist jedoch schon<br />

aus rein praktischen Gründen nicht möglich: Je<strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> vier Dozenten ist <strong>für</strong> 70 bis 300 Studienanfänger<br />

verantwortlich, so dass eine Individualdiagnose<br />

als Ausgangspunkt <strong>für</strong> eine individuelle<br />

Betreuung praktisch ausgeschlossen ist.<br />

Die Präsenztage umfassen in den P-Kursen 3<br />

Stunden vormittäglicher Vorlesungen und 2 Stunden<br />

Übungen am Nachmittag. Für die Selbstlerntage<br />

werden vom Dozenten Hausaufgaben ausgewählt,<br />

die zum einen zur Nachbereitung des vergangenen,<br />

zum an<strong>der</strong>en aber auch <strong>der</strong> inhaltlichen<br />

Vorbereitung auf den nächsten Kurstag dienen.<br />

So können bestimmte Inhalte aus den Vorlesungen<br />

auf Phasen selbstständigen Lernens „verlagert“<br />

werden. Dies führt einerseits zu einem ef-<br />

Abbildung 22.5: Interaktion Riemannsches Integral<br />

Reinhard Hochmuth und Pascal Fischer, Kassel<br />

fizienterem Einsatz <strong>der</strong> vorhandenen personellen<br />

und räumlichen Ressourcen, darüber hinaus aber<br />

auch durch die selbstständigere Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

des Lernenden mit dem Stoff zu einem potentiell<br />

aktiveren und damit effektiveren Lernprozess.<br />

Die Hausaufgaben werden in den Übungen<br />

des nächsten Präsenztages zusammen mit dem<br />

Tutor besprochen. Darüber hinaus werden dort<br />

Übungsaufgaben gemeinsam bearbeitet und/o<strong>der</strong><br />

Teilnehmer präsentieren gegenseitig ihre Lösungen.<br />

E-Kurse<br />

Auch die E-Kurse werden nach Studiengängen<br />

sortiert und in vier Gruppen aufgeteilt. Allerdings<br />

bilden diese vier Gruppen als Teilgruppen einen<br />

gemeinsamen Kurs, <strong>der</strong> lediglich durch einen Dozenten,<br />

einen Übungsgruppenleiter sowie einen<br />

Online-Tutor betreut wird. Dieser noch effizientere<br />

Einsatz von Lehrpersonal und auch von Räumen<br />

wird erreicht durch eine Reduzierung <strong>der</strong><br />

Präsenztage auf zwei gemeinsamen Einführungstage<br />

sowie einen kursgruppenspezifischen Präsenztermin<br />

pro Woche. So können die vier Teilgruppen<br />

an unterschiedlichen Tagen betreut werden.<br />

Die nachfolgende Tabelle illustriert den Stundenplan<br />

<strong>für</strong> eine <strong>der</strong> vier Teilgruppen.<br />

171


eLearning in mathematischen Vorkursen mit Beispielen zur Analysis<br />

Mo Di Mi Do Fr Sa & So<br />

VL&Ü VL&Ü S S VL&Ü S<br />

S S S S VL&Ü S<br />

S S S S VL&Ü S<br />

S S S S VL&Ü S<br />

Die Einführungstage dienen dabei sowohl dem<br />

Kennlernen <strong>der</strong> Studierenden untereinan<strong>der</strong>, sowie<br />

einer Einführung in die Uni, in den Ablauf<br />

von Vorlesungen und vor allem einer Einführung<br />

in das Lernen im E-Kurs. An den kursgruppenspezifischen,<br />

wöchentlichen Präsenzterminen findet<br />

stets zunächst eine einleitende Fragestunde<br />

statt, in <strong>der</strong> die Studierenden alle organisatorischen<br />

Fragen, Fragen zum Studium und auch gezielte<br />

inhaltliche Fragen stellen können. Anschließend<br />

wird eine Vorlesung gehalten, <strong>der</strong>en Themen<br />

im Vorfeld vom Dozent und den Studierenden gemeinsam<br />

festgelegt wurde. Auf diese Weise wird<br />

sichergestellt, dass unterstützt durch den Dozenten<br />

genau die Themen besprochen werden, die <strong>für</strong><br />

die jeweiligen Studiengänge maßgeblich sind, zudem<br />

jedoch auch die individuellen Wünsche <strong>der</strong><br />

Lerner bei <strong>der</strong> Gestaltung mit einbezogen werden<br />

können. In den nachmittäglichen Übungen werden<br />

dann wie bei den P-Kursen zusammen mit dem<br />

Tutor Aufgaben gerechnet und Lösungen vorgestellt.<br />

Auch an den Selbstlerntagen können die<br />

Studierenden ihr individuelles Lernen sowohl an<br />

den Bedürfnissen des Studiengangs als auch an<br />

ihren eigenen Wünschen und Defiziten ausrichten:<br />

Einerseits erhalten alle Kursteilnehmer studiengangsspezifische<br />

Empfehlungen zur Auswahl<br />

<strong>der</strong> Inhalte und zur Taktung des Kurses, an<strong>der</strong>seits<br />

werden ihnen elektronische selbstdiagnostische<br />

Tests in <strong>der</strong> Lernplattform Moodle bereitgestellt,<br />

mit denen sie sich eigenständig Testen können.<br />

Insgesamt sind im E-Kurs die Studierenden<br />

frei in <strong>der</strong> Gestaltung ihres Lernens. Es werden<br />

keine verpflichtenden Hausaufgaben festgelegt<br />

und auch die Nutzung <strong>der</strong> diagnostischen<br />

Tests ist freigestellt. Als zentraler Lernort steht<br />

den Teilnehmern die Lernplattform Moodle zur<br />

Verfügung (Abb. 22.6). Hier sind nicht nur die<br />

interaktiven Materialen <strong>der</strong> CD noch einmal als<br />

SCORM-Module verlinkt, auch die diagnostischen<br />

Tests sowie zusätzliches Informationsmaterial<br />

stehen hier bereit, wie es das nachfolgende<br />

Bild illustriert. Darüber hinaus werden Kommunikationstools<br />

wie Chat, Mitteilungen und Foren<br />

intensiv zur gegenseitigen Kommunikation und<br />

zum Austausch mit Dozent, Übungsgruppenleiter<br />

und dem Online-Tutor genutzt. Letzterer steht wochentags<br />

von 9-17 Uhr in <strong>der</strong> Lernplattform zur<br />

Verfügung und ist damit Ansprechpartner <strong>für</strong> alle<br />

Fragen. Alle Teilgruppen werden bei den E-<br />

Kursen in einem gemeinsamen Kursbereich in<br />

Moodle betreut.<br />

172<br />

3.2 Diagnostische Tests<br />

Das interaktive Vorkursmaterial des Projekts VE-<br />

MA ist durch seine modularisierte Inhaltsstruktur<br />

an sich sehr gut zum selbstständigen Lernen in<br />

E-Learning Szenarien geeignet. Allerdings bietet<br />

das Material Feedback lediglich in Form von Musterlösungen<br />

zu Aufgaben. Diese ermöglichen dem<br />

Lernenden zwar einen Vergleich mit <strong>der</strong> eigenen<br />

Lösung, eine gezielte Diagnose <strong>der</strong> individuellen<br />

Defizite o<strong>der</strong> gar das „Aussprechen“ persönlicher<br />

Empfehlungen zum Nacharbeiten sind allerdings<br />

nicht möglich. Da eine individuelle Diagnose von<br />

Defiziten (und Stärken) jedoch eine wichtige Voraussetzung<br />

<strong>für</strong> eine am individuellen Bedarf ausgerichtete<br />

Festlegung des Curriculums ist, wurden<br />

<strong>für</strong> die E-Kurse selbstdiagnostische Tests entwickelt.<br />

Diese wurden <strong>für</strong> die Lernplattform Moodle<br />

als automatisch auswertbare Tests realisiert. Dadurch<br />

wurde es möglich, dass je<strong>der</strong> Teilnehmer<br />

sich selbst testet und so individuelles Feedback<br />

sowie persönliche Bearbeitungsempfehlungen erhält.<br />

Insgesamt wurden 50 Tests mit rund 250 Aufgaben<br />

entwickelt, die als Vor- und Nachtests zu<br />

den VEMA-Modulen dienen. Je<strong>der</strong> dieser Tests<br />

orientiert sich inhaltlich am jeweiligen Modul, <strong>für</strong><br />

das er entwickelt wurde und umfasst mindestens<br />

je eine Aufgabe zu technischen Aspekten des Moduls,<br />

zum Verständnis, zur Anwendung des Stoffes<br />

und zur Fehlerdiagnose. Entsprechend <strong>der</strong> individuellen<br />

Ergebnisse gibt das System dem Lerner<br />

nicht nur allgemeine Empfehlungen zur Auswahl<br />

eines Moduls, son<strong>der</strong>n darüber hinaus gezielte<br />

Bearbeitungsempfehlungen <strong>für</strong> das Lernen<br />

in dessen Unterbereichen.<br />

Um auch Modellierungs- und Beweisaufgaben<br />

adäquat in die Tests aufnehmen zu können, wurde<br />

bei einzelnen Aufgaben ein offenes Eingabeformat<br />

verwendet, das eine Bewertung durch den<br />

Online-Tutor erfor<strong>der</strong>te. An<strong>der</strong>e Aufgaben wurden<br />

so gestaltet, dass <strong>der</strong> Studierende sich unter<br />

Zuhilfenahme eines Bewertungsschemas selbst<br />

bewerten musste, die Punkte in das System eintrug<br />

und erst dann ein Feedback mit Empfehlungen erhielt.<br />

Bei allen Aufgaben wurde stets eine Musterlösung<br />

in das automatische Feedback integriert.<br />

So erhielt <strong>der</strong> Lernende nicht nur ein Feedback<br />

hinsichtlich <strong>der</strong> Ergebnisse seines Tests, son<strong>der</strong>n<br />

konnte auch mögliche Fehler in seinem Lösungsweg<br />

durch den Vergleich mit <strong>der</strong> Musterlösung<br />

identifizieren (Abb. 22.7).<br />

Die so konstruierten Selbsttests konnten von<br />

den Studierenden genutzt werden, um sich vor und<br />

nach <strong>der</strong> Bearbeitung eines Moduls eigenständig<br />

zu diagnostizieren und individuelle Beareitungsempfehlungen<br />

zu erhalten. Auf diesem Weg war<br />

es trotz Einsparung von Personal möglich, den


Studienanfängern ein Maß an Individualdiagnose<br />

zu ermöglichen, welches in einem klassischen<br />

Präsenzkurs nicht realisierbar wäre.<br />

3.3 Zentrale Ergebnisse <strong>der</strong> angelagerten<br />

Dissertationsstudie<br />

An dieser Stelle möchten wir nur einige <strong>für</strong> diesen<br />

Artikel zentrale Ergebnisse <strong>der</strong> angelagerten<br />

Dissertationsstudie thematisieren und verweisen<br />

<strong>für</strong> weitere Ergebnisse und Details auf [Fischer,<br />

<strong>2009</strong>] sowie auf [Fischer & Biehler, 2010].<br />

Abbildung 22.6: Einbindung des E-Kurses in Moodle<br />

Abbildung 22.7: Testaufgabe inklusive Feedback<br />

Reinhard Hochmuth und Pascal Fischer, Kassel<br />

Die Kursteilnehmer bei<strong>der</strong> Varianten wurden<br />

zu den Gründen ihrer Kurswahl befragt. Die Auswertung<br />

<strong>der</strong> Ergebnisse zeigt dabei <strong>für</strong> den E-<br />

Kurs, dass äußere Rahmenbedingen wie Urlaub,<br />

berufliche Gründe, eine (noch) fehlende Wohnung<br />

am Studienort o<strong>der</strong> sonstige äußere Gründe<br />

laut eigener Angaben eher nicht <strong>für</strong> die Entscheidung<br />

gegen die P-Variante (mit erhöhtem Präsenzanteil)<br />

bestimmend sind. So wurden vor allem<br />

die freie Zeiteinteilung, und die Möglichkeit<br />

173


eLearning in mathematischen Vorkursen mit Beispielen zur Analysis<br />

zu selbstständigerem Lernen sowie das Interesse<br />

an <strong>der</strong> „Lernmethode eLearning“ selbst von den<br />

E-Kursteilnehmern als Gründe angegeben. Wie zu<br />

erwarten, spielte insbeson<strong>der</strong>e die reduzierte Anzahl<br />

<strong>der</strong> Präsenztage jedoch auch eine große Rolle.<br />

Die P-Kursteilnehmer gaben ebenfalls an, dass<br />

externe Gründe wie die Nicht-Verfügbarkeit von<br />

Internet, Flatrate o<strong>der</strong> PC eher nicht als Gründe<br />

<strong>für</strong> ihre Kursentscheidung maßgeblich waren.<br />

Stattdessen gaben die Teilnehmer vor allem an,<br />

dass <strong>der</strong> persönliche Kontakt und Austausch mit<br />

Studierenden und Dozent sowie das Kennen lernen<br />

von „Vorlesungen“ im Vor<strong>der</strong>grund ihrer Entscheidung<br />

gegen den E-Kurs standen.<br />

Darüber hinaus zeigten die Daten, dass entgegen<br />

<strong>der</strong> Erwartungen die E- und die P-<br />

Kursteilnehmer bzgl. <strong>der</strong> schulischen Erfahrungen<br />

im Lernen am PC, <strong>der</strong> Erfahrungen mit <strong>der</strong> Methode<br />

eLearning und auch hinsichtlich ihres Interesses<br />

am Arbeiten mit dem Computer sehr ähnliche<br />

Angaben machten. Offensichtlich scheinen<br />

diese impliziten Aspekte bei <strong>der</strong> Entscheidung <strong>für</strong><br />

eine <strong>der</strong> Kursvarianten keine große Rolle zu spielen.<br />

Zudem zeigte die Befragung <strong>der</strong> Teilnehmer<br />

vergleichbar positive Ergebnisse in <strong>der</strong> Bewertung<br />

des Kurses: Je<strong>der</strong> scheint mit <strong>der</strong> von ihm gewählten<br />

Kursvariante zufrieden zu sein.<br />

Das im Rahmen <strong>der</strong> Studie ebenfalls durchgeführte<br />

Testing zeigte <strong>für</strong> beide Kursvarianten<br />

vergleichbare Ergebnisse im Einganstest bei einer<br />

leicht höheren Streuung <strong>der</strong> Ergebnisse in den E-<br />

Kursen. Auch die Ausgangstestergebnisse sind <strong>für</strong><br />

beide Varianten vergleichbar bei einem im Mittel<br />

leicht besseren Ergebnis in den E-Kursen. Auffällig<br />

ist jedoch, dass die Streuung (und damit auch<br />

ein Maß <strong>der</strong> Heterogenität <strong>der</strong> Leistung im Kurs)<br />

bei den E-Kursen im Ausgangstest höher war als<br />

zuvor [vgl. Fischer, <strong>2009</strong>].<br />

4 Gesamtfazit und Diskussion<br />

4.1 Fazit zu den E- und P-Vorkursen<br />

Die E-Kurse sind als Alternative zu den P-Kursen<br />

einsetzbar und sowohl aus pädagogischen wie<br />

auch aus organisatorischen Gründen sinnvoll: Beide<br />

Kurse liefern vergleichbare Ergebnisse in <strong>der</strong><br />

Kursbewertung durch die Teilnehmer, beim Testing<br />

sind die Ergebnisse ebenfalls vergleichbar.<br />

Die Kursteilnehmer bei<strong>der</strong> Varianten zeigen sich<br />

im Wesentlichen mit <strong>der</strong> von Ihnen gewählten<br />

Kursvariante sehr zufrieden. Dies spricht da<strong>für</strong>,<br />

beide Kurse durchaus auch alternativ anzubieten.<br />

Gleichzeitig können durch die effizientere Betreuung<br />

<strong>der</strong> Teilnehmer unter Einsatz elektronischer<br />

Unterstützung auch Raum- und Personalprobleme<br />

gelin<strong>der</strong>t werden.<br />

Unter den Gründen <strong>für</strong> die Entscheidung <strong>für</strong><br />

174<br />

die P-Variante ist mit dem Wunsch nach „persönlichem<br />

Kontakt“ ein Aspekt angesprochen,<br />

<strong>der</strong> durch die Gestaltung <strong>der</strong> Präsenztage in den<br />

E-Kursen sowie durch die zusätzliche Online-<br />

Betreuung und die Peer-Kommunikation in den<br />

Foren hier prinzipiell auch gegeben ist. Dennoch<br />

darf nicht unterschätzt werden, dass selbstständiges<br />

Lernen, insbeson<strong>der</strong>e bei Studienanfängern,<br />

an eine Reihe von personalen und situativen Bedingungen<br />

geknüpft ist, <strong>der</strong>en Erfülltsein nicht<br />

einfach vorausgesetzt werden können. Das Angebot<br />

einer stärker durch einen Dozenten geleiteten<br />

P-Kursvariante als Alternative zum E-Kurs erscheint<br />

deshalb ebenso wichtig und trägt den von<br />

den Teilnehmern geäußerten Wünschen nach unterschiedlichen<br />

Betreuungsformen Rechnung.<br />

4.2 Zur Übertragbarkeit auf schulischen<br />

Kontext<br />

Einige Schulverlage bieten bereits Begleitmaterial<br />

zu ihren Schulbüchern an, die auf CDs bereitgestellt<br />

werden. Diese Materialien umfassen zusätzliches<br />

interaktives Lernmaterial und elektronische<br />

Übungsaufgaben [vgl. u. a. Klett Verlag, 2007;<br />

Schroedel Verlag, 2006]. Inwieweit dieses ergänzende<br />

Material in Schulen bereits eingesetzt wird,<br />

ob es wie bei dem oben vorgestellten Brückenkursen<br />

in ein passendes Kurskonzept integriert o<strong>der</strong><br />

den Schülern lediglich zum Lernen <strong>für</strong> zu hause<br />

an die Hand gegeben wird, ist bislang unklar. Für<br />

die Schule müssen gegebenenfalls erst noch adäquate<br />

Einsatzszenarien entwickelt und beforscht<br />

werden.<br />

Auch das interaktive Vorkursmaterial inklusive<br />

<strong>der</strong> diagnostischen Tests ist bislang nicht an<br />

Schulen getestet worden, so dass empirisch belegbare<br />

Aussagen über dessen Verwendbarkeit bislang<br />

nicht getroffen werden können. In <strong>der</strong> vorliegenden<br />

Form erscheint jedenfalls nur ein Einsatz<br />

in <strong>der</strong> Oberstufe denkbar, z.B. zum gezielten<br />

individuellen Nacharbeiten von Defiziten bezüglich<br />

Themen aus <strong>der</strong> Sekundarstufe I o<strong>der</strong> bezüglich<br />

bereits behandelter Inhalte <strong>der</strong> Sekundarstufe<br />

II. In diesem Sinne könnte das interaktive Lernund<br />

Testmaterial als Alternative zum o<strong>der</strong> zumindest<br />

als ein Element von Nachhilfeunterricht genutzt<br />

werden. Ein Einsatz des Lernmaterials in <strong>der</strong><br />

Oberstufe hätte zudem möglicherweise den Effekt,<br />

dass die Schüler auf das mehr selbstständigkeitsorientiertere<br />

Lernen an <strong>der</strong> Hochschule vorbereitet<br />

werden. Einzelne Bestandteile des Materials<br />

können sicherlich auch <strong>für</strong> den Unterricht <strong>der</strong><br />

Mittelstufe genutzt werden.<br />

Auch eine (Weiter-)Entwicklung <strong>der</strong> diagnostischen<br />

Selbsttests <strong>für</strong> die Schule wäre denkbar:<br />

Bei Einsatz einer entsprechenden Lernplattform<br />

könnte so schnell und effizient eine inhalts- und<br />

kompetenzbezogene Diagnose über das Wissen<br />

<strong>der</strong> Schüler erstellt werden, die dem Lehrer bei


<strong>der</strong> zielgerichteten Gestaltung seines Unterrichts<br />

unterstützen könnte. Sicherlich haben die diagnostischen<br />

Tests nicht den Charakter und auch nicht<br />

den Anspruch einer umfassenden und vollständigen<br />

Diagnose <strong>der</strong> Fähigkeiten und Kenntnisse eines<br />

Schülers. Sie geben aber einen groben Überblick<br />

über mögliche Defizite und klären dementsprechenden<br />

Handlungsbedarf. Auf diesem Weg<br />

könnten Teile des Unterrichts in PC-Räumen stattfinden<br />

o<strong>der</strong> es könnte, ähnlich wie in den P-<br />

Kursen, das Bearbeiten von Inhalten etwa zur individuellen<br />

Vorbereitung von Unterrichtsstunden<br />

zur Hausaufgabe erklärt werden. Dabei muss allerdings<br />

beachtet werden, dass diese und auch an<strong>der</strong>e<br />

Studien zwar eine hohe Verbreitung von Internet<br />

und PCs unter den Schülern belegen, generell<br />

vorausgesetzt werden kann dies bei Schülern<br />

allerdings (noch) nicht.<br />

Dass Moodle bereits an vielen Schulen angeboten<br />

wird [vgl. Waßner, <strong>2009</strong>] und als OpenSource<br />

Plattform kostenlos zur Verfügung steht, zeigt<br />

das Potential, das hier allen Schulen zur individuelleren<br />

Gestaltung des Lernens zur Verfügung<br />

steht und sicherlich noch nicht ausgeschöpft ist.<br />

4.3 Zur Übertragbarkeit auf an<strong>der</strong>e<br />

Hochschullehrkontexte<br />

Brückenkurse sind geeignete Kontexte <strong>für</strong> den<br />

Einsatz von eLearning, da die Lerner in <strong>der</strong> Regel<br />

motiviert sind, spezifische Inhalte nachzuarbeiten.<br />

Zudem kann darauf „vertraut“ werden, dass die<br />

Lerner aus Eigeninteresse bei den Tests nicht betrügen.<br />

Auch im Hochschulkontext können sowohl<br />

das Material als auch die Tests parallel zu<br />

den Vorlesungen etwa zum individuellen Nacharbeiten<br />

von Defiziten sowie zum Üben eingesetzt<br />

werden.<br />

Um das oben vorgestellte E-Kurskonzept auf<br />

an<strong>der</strong>e Lehrveranstaltungen übertragen zu können,<br />

ist jedoch in <strong>der</strong> Regel eine Neuentwicklung<br />

von interaktivem Material und diagnostischen<br />

Tests notwendig. Dies erfor<strong>der</strong>t mittelfristig<br />

zwar einen hohen Arbeits- und Kostenaufwand,<br />

sorgt langfristig jedoch sowohl personell wie auch<br />

materiell <strong>für</strong> eine effizientere Nutzung <strong>der</strong> Ressourcen.<br />

Attraktiv ist dies vor allem <strong>für</strong> Lehrveranstaltungen<br />

mit einer hohen Teilnehmerzahl sowie<br />

einem relativ konstant bleibenden Inhaltsrepertoire.<br />

Bei einer Diskussion <strong>der</strong> Übertragbarkeit auf<br />

an<strong>der</strong>e Bereiche <strong>der</strong> Hochschullehre müssen insbeson<strong>der</strong>e<br />

die folgenden Fragestellungen berücksichtig<br />

werden:<br />

1. Wie verhält sich ein solches Konzept bezogen<br />

auf die Bildungsziele <strong>der</strong> Hochschule?<br />

2. Wie sollte ein E-Learning Kurs gestaltet wer-<br />

1 http://lima-pb-ks.de<br />

2 http://www.math-bridge.org<br />

Reinhard Hochmuth und Pascal Fischer, Kassel<br />

den, wenn es sich um eine „normale“ Pflichtlehrveranstaltung<br />

handelt?<br />

3. Sind die positiven Evaluierungsergebnisse bezüglich<br />

<strong>der</strong> Vorkurse auch bezüglich Hochschullehrveranstaltungen<br />

reproduzierbar?<br />

4. Wie müssten diagnostische Tests <strong>für</strong> Hochschullehrveranstaltungen<br />

aussehen?<br />

4.4 Forschungs- und Projektperspektive<br />

Im Hinblick auf die Weiterentwicklung des interaktiven<br />

Materials sowie weiterer hochschuldidaktischer<br />

Forschungen kann im Kooperationsverbund<br />

<strong>der</strong> Universitäten Kassel und Pa<strong>der</strong>born<br />

auf Erfahrungen aus einer Reihe von Projekten zurückgriffen<br />

werden.<br />

So sei hier einerseits das Projekt „LIMA“ genannt,<br />

in dem eine Studie zur Lehrinnovation <strong>der</strong><br />

mathematischen Anfangsausbildung <strong>für</strong> das Studium<br />

von Haupt- und Realschullehramt durchführt<br />

wird. 1 Dabei findet ein studienbegleiten<strong>der</strong><br />

Einsatz von eLearning statt, auch unter Rückgriff<br />

auf Erfahrungen, Erkenntnissen und zum Teil<br />

auch auf Material aus dem Vorkursprojekt.<br />

Im Kontext des EU-Projekts Math-Bridge 2<br />

wird unter Beteiligung <strong>der</strong> Universitäten Kassel<br />

und Pa<strong>der</strong>born das vom DFKI initiierte Projekt<br />

ActiveMath weitergeführt und internationalisiert.<br />

Hier gehen nicht nur das interaktive VEMA-<br />

Material sowie die Tests ein, insbeson<strong>der</strong>e wird<br />

auch das wissenschaftliche und speziell das pädagogische<br />

Know-how im Projekt eingebracht und<br />

auf internationaler Ebene vertieft. Ziel des Projekts<br />

ist die Entwicklung und Beforschung eines<br />

interaktiven Brückenkurses <strong>für</strong> Studienanfänger<br />

insbeson<strong>der</strong>e im Bereich Ingenieurwesen, aber<br />

auch <strong>für</strong> an<strong>der</strong>e mathematikhaltige Studiengänge.<br />

Des Weiteren haben die beiden Autoren dieses<br />

Artikels geplant, im Rahmen einer kleinen Studie<br />

ein interaktives Lernobjekt zum Grenzwertbegriff<br />

bei Folgen <strong>für</strong> den universitären Einsatz zu entwickeln<br />

und zu beforschen. Die Studie soll im Kontext<br />

<strong>der</strong> Veranstaltung „Grundzüge II“ im Sommersemester<br />

2011 durchgeführt werden.<br />

Die interaktiven Kursmaterialien werden im<br />

Projekt VEMA kontinuierlich weiterentwickelt<br />

und im Rahmen <strong>der</strong> jährlichen Vorkurse beforscht.<br />

In Kassel wird <strong>der</strong>zeit das Kapitel zur Vektorrechnung<br />

ausgebaut und die TU Darmstadt arbeitet<br />

an einem Ausbau des Kapitels zur Analysis. Die<br />

Universität Pa<strong>der</strong>born plant die Entwicklung eines<br />

Kapitels zur Stochastik.<br />

Auf Basis <strong>der</strong> im Vorkurs <strong>2008</strong> gesammelten<br />

Daten werden zudem differenziertere Auswertungen<br />

im Rahmen <strong>der</strong> Dissertationsstudie erfolgen.<br />

175


eLearning in mathematischen Vorkursen mit Beispielen zur Analysis<br />

Literatur<br />

Biehler, Rolf, Bernd Billhardt, Regina Bru<strong>der</strong>, Reinhard Hochmuth,<br />

Wolfram Koepf & Walter Strampp (<strong>2009</strong>): CD Multimediavorkurs<br />

<strong>Mathematik</strong>. Version 3.1.<br />

Biehler, Rolf, Bernd Billhardt, Regina Bru<strong>der</strong>, Reinhard Hochmuth,<br />

Wolfram Koepf, Walter Strampp, Isabell Bausch, Pascal<br />

Rolf Fischer & Thomas Wassong (2010): CD Multimediavorkurs<br />

<strong>Mathematik</strong>. Version 3.2.<br />

Biehler, Rolf & Pascal Rolf Fischer (2006): VEMA – Virtuelles<br />

Eingangstutorium <strong>Mathematik</strong>. In: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />

2006. Vorträge auf <strong>der</strong> 40. Tagung <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> vom 6. 3. bis 10. 3. 2006 in Osnabrück, Hildesheim:<br />

Franzbecker.<br />

Fischer, Pascal Rolf (2007): E-Learning als effizienteres Mittel<br />

<strong>für</strong> den Brückenschlag zwischen Schule und Universität?<br />

In: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht 2007. Vorträge auf <strong>der</strong><br />

41. Tagung <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong>, Hildesheim: Franzbecker.<br />

Fischer, Pascal Rolf (<strong>2009</strong>): E-Learning zwischen Schule und<br />

Universität? Ergebnisse einer empirischen Studie zum Einsatz<br />

176<br />

einer E-Variante mathematischer Brückenkurse. In: Beiträge<br />

zum <strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>2009</strong>. Vorträge auf <strong>der</strong> 40. Tagung<br />

<strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> in Oldenburg, Münster: WTM.<br />

Fischer, Pascal Rolf & Rolf Biehler (2010): Ein individualisierter<br />

eVorkurs <strong>für</strong> 400 Studierende und mehr. Ein Lösungsansatz<br />

<strong>für</strong> mathematische Brückenkurse mit hohen Teilnehmerzahlen.<br />

In: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht 2010. Vorträge auf <strong>der</strong><br />

44. Tagung <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> in München, Münster:<br />

WTM.<br />

Klett Verlag (2007): Lambacher-Schweizer 6. Neubearbeitung<br />

Ausgabe Hessen. Arbeitsheft plus Lösungsheft und Lernsoftware.<br />

Ernst Klett Schulbuchverlag.<br />

Schroedel Verlag (2006): Lernsoftware MatheBits. Dreisatz,<br />

Prozente, Zinsen. CD-ROM.<br />

Waßner, Christoph (<strong>2009</strong>): E-Learning in <strong>der</strong> Unterrichtspraxis.<br />

In: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>2009</strong>. Vorträge auf<br />

<strong>der</strong> 40. Tagung <strong>für</strong> <strong>Didaktik</strong> <strong>der</strong> <strong>Mathematik</strong> in Oldenburg,<br />

Münster: WTM.

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