WWW und Mathematik — Lehren und Lernen im Internet
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proceedings<br />
Peter Bender; Wilfried Herget; Hans-Georg Weigand; Thomas Weth<br />
(Hrsg.)<br />
<strong>WWW</strong> <strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong> <strong>—</strong><br />
<strong>Lehren</strong> <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>im</strong> <strong>Internet</strong><br />
diverlag<br />
franzbecker<br />
Bericht über die<br />
21. Arbeitstagung des Arbeitskreises<br />
„<strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>und</strong> Informatik“ in der<br />
Gesellschaft für Didaktik der <strong>Mathematik</strong> e. V.<br />
vom 26. bis 28. September 2003 in Dillingen
proceedings<br />
Peter Bender; Wilfried Herget; Hans-Georg Weigand; Thomas Weth<br />
(Hrsg.)<br />
<strong>WWW</strong> <strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong> <strong>—</strong><br />
<strong>Lehren</strong> <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>im</strong> <strong>Internet</strong><br />
diverlag<br />
franzbecker<br />
Bericht über die<br />
21. Arbeitstagung des Arbeitskreises<br />
„<strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>und</strong> Informatik“ in der<br />
Gesellschaft für Didaktik der <strong>Mathematik</strong> e. V.<br />
vom 26. bis 28. September 2003 in Dillingen
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek<br />
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen<br />
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind <strong>im</strong><br />
<strong>Internet</strong> über abrufbar.<br />
Bibliographic information published by Die Deutsche Bibliothek<br />
Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie;<br />
detailed bibliographic data is available in the <strong>Internet</strong><br />
at .<br />
Peter Bender; Wilfried Herget; Hans-Georg Weigand; Thomas Weth<br />
(Hrsg.)<br />
<strong>WWW</strong> <strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong> <strong>—</strong> <strong>Lehren</strong> <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>im</strong> <strong>Internet</strong><br />
Bericht über die 21. Arbeitstagung des Arbeitskreises „<strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
<strong>und</strong> Informatik“ in der Gesellschaft für Didaktik<br />
der <strong>Mathematik</strong> e.V. vom 26. bis 28. September 2003 in Dillingen<br />
ISBN 3-88120-391-5<br />
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere<br />
die der Vervielfältigung <strong>und</strong> Übertragung auch einzelner Textabschnitte,<br />
Bilder oder Zeichnungen vorbehalten. Kein Teil des Werkes<br />
darf ohne schriftliche Zust<strong>im</strong>mung des Verlages in irgendeiner<br />
Form reproduziert werden (Ausnahmen gem. §§ 53, 54 URG). Das<br />
gilt sowohl für die Vervielfältigung durch Fotokopie oder irgendein<br />
anderes Verfahren als auch für die Übertragung auf Filme, Bänder,<br />
Platten, Transparente, Disketten <strong>und</strong> andere Medien.<br />
© 2005 by Verlag Franzbecker, Hildeshe<strong>im</strong>, Berlin
Inhalt<br />
<strong>Lehren</strong> <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>im</strong> <strong>und</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> neue Möglichkeiten für den<br />
Unterricht? 5<br />
Peter Bender, Paderborn & Wilfried Herget, Halle a.d. Saale &<br />
Hans-Georg Weigand, Würzburg & Thomas Weth, Nürnberg<br />
� Hauptvorträge<br />
<strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong><br />
zwischen instruktivistischem <strong>und</strong> konstruktivistischem Paradigma 7<br />
T<strong>im</strong>o Leuders, Soest<br />
Mädchen, Jungen, <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Computer 35<br />
Cornelia Niederdrenk-Felgner, Nürtingen<br />
MaDiN <strong>—</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik <strong>im</strong> Netz 45<br />
Thomas Weth, Nürnberg<br />
� Sektionsvorträge<br />
<strong>Mathematik</strong>lernen <strong>und</strong> Organisieren 52<br />
Christine Bescherer & Herbert Löthe, Ludwigsburg<br />
Ein virtuelles Seminar <strong>—</strong> Konzeption, Durchführung <strong>und</strong> Auswertung 57<br />
Christine Bescherer, Ludwigsburg & Matthias Ludwig, Weingarten &<br />
Barbara Schmidt-Thieme, Karlsruhe & Hans-Georg Weigand, Würzburg<br />
Der Kosinussatz <strong>—</strong> wieder entdeckt als Flächensatz 66<br />
Hans-Jürgen Elschenbroich, Korschenbroich<br />
Konstruktiv arbeiten mit dem <strong>Internet</strong> in Schule <strong>und</strong> Lehrerausbildung <strong>—</strong><br />
Methoden der Content-Erstellung mit Beispielen aus der Praxis 71<br />
Astrid Ernst & Engelbert Niehaus, Münster<br />
Didaktische Aspekte der Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik<br />
in das Stoffgebiet Analytische Geometrie 81<br />
Andreas Filler, Berlin<br />
Konstruktion <strong>und</strong> Kontinuität in der Dynamischen Geometrie 95<br />
Thomas Gawlick, Landau<br />
Ein Java-Applet zur Eingabe <strong>und</strong> Überprüfung mathematischer Terme 112<br />
Rudolf Großmann, Stein<br />
Echtzeit-Online-Fortbildungen für Lehrkräfte zum Thema:<br />
<strong>Mathematik</strong> mit grafischen Taschenrechnern <strong>und</strong> CAS 118<br />
Karl-Heinz Keunecke, Kiel<br />
Exper<strong>im</strong>entieren <strong>und</strong> Publizieren 120<br />
Ulrich Kortenkamp, Berlin<br />
Dynamische Visualisierung einer Aufgabe (in Variationen) 127<br />
Ingmar Lehmann, Berlin<br />
Von Pr<strong>im</strong>zahlen zur Verschlüsselung mit RSA <strong>—</strong><br />
Eine Unterrichtseinheit <strong>im</strong> <strong>WWW</strong> für eine 11. Klasse 140<br />
Carsten Münchenbach, Emmendingen<br />
3
4<br />
Vom 19. ins 21. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>—</strong> Ändert das <strong>Internet</strong> die Chancen für den<br />
Zugang zur <strong>Mathematik</strong>? 145<br />
Fritz Nestle, Ulm<br />
Das CAS-basierte DGS Feli-X zur Vernetzung von Algebra <strong>und</strong> Geometrie 150<br />
Reinhard Oldenburg, Göttingen<br />
<strong>Mathematik</strong> lernen <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> eine philosophische Betrachtung<br />
vom Standpunkt moderner Erkenntnistheorie 153<br />
Reinhard Oldenburg, Göttingen<br />
Integration des <strong>Internet</strong>s <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>—</strong> unter Berücksichtigung<br />
von Aspekten der Handlungsorientierung am Beispiel der Behandlung von<br />
Korrelation <strong>und</strong> Regression in der Jahrgangsstufe 11 159<br />
Andreas Pallack, Soest<br />
"Da schauen Sie mal ins <strong>Internet</strong>!" <strong>—</strong> Impressionen des <strong>Lehren</strong>s <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>s 170<br />
Karel Tschacher, Erlangen-Nürnberg<br />
Computereinsatz <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht unter Geschlechterperspektive <strong>—</strong><br />
oder Mädchen, Jungen, <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Computer 173<br />
Rose Vogel, Ludwigsburg<br />
Gestaltungsprinzipien <strong>und</strong> Erfahrungen zum virtuellen Selbstlernkurs:<br />
<strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Computer 177<br />
Wolfgang Weigel, Würzburg<br />
Der ClassPad 300 von Casio 187<br />
Jens Weitendorf, Norderstedt<br />
Wie lernen Studierende in internetgestützten Lehrveranstaltungen? 192<br />
Gerald Wittmann, Würzburg<br />
Über die didaktische Gestaltung mult<strong>im</strong>edialer Lehrmaterialien 201<br />
Bert Xylander, Halle a.d. Saale<br />
Die Apfelsinenkiste <strong>im</strong> Hyde-Park <strong>—</strong> Lernplattformen für den ersten Auftritt 209<br />
Siegfried Zseby, Berlin<br />
� Arbeitsgruppen<br />
<strong>Internet</strong>-Übungsaufgaben erstellen mit dem Formel-Applet 215<br />
Rudolf Großmann, Stein<br />
<strong>Mathematik</strong> in Notebook-Klassen der 7. <strong>und</strong> 8. Jahrgangsstufe 218<br />
Claudia Hagan, Veitshöchhe<strong>im</strong><br />
DGS <strong>und</strong> Kommunikation 225<br />
Reinhard Oldenburg, Göttingen<br />
Didaktische Konzepte von e-Learning-Plattformen 227<br />
Christina Völkl, Würzburg<br />
� Anhang<br />
Tagungsprogramm 230<br />
Teilnehmerinnen- <strong>und</strong> Teilnehmerliste 232<br />
Titelgrafik: Rolf Sommer, Halle a.d. Saale, aus Abbildungen <strong>im</strong> Tagungsband mit Microsoft Office
� <strong>Lehren</strong> <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>im</strong> <strong>und</strong> mit dem <strong>Internet</strong><br />
–– neue Möglichkeiten für den Unterricht?<br />
Peter Bender, Paderborn<br />
Wilfried Herget, Halle a.d. Saale<br />
Hans-Georg Weigand, Würzburg<br />
Thomas Weth, Nürnberg<br />
Die 21. Herbsttagung unseres Arbeitskreises<br />
"<strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>und</strong> Informatik" in der<br />
Gesellschaft für Didaktik der <strong>Mathematik</strong><br />
(GDM) vom 26. bis 28. September 2003<br />
stand unter dem Thema "<strong>WWW</strong> <strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong><br />
–– <strong>Lehren</strong> <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>im</strong> <strong>Internet</strong>".<br />
<strong>WWW</strong> <strong>und</strong> <strong>Internet</strong> –– (fast) jede Schule ist<br />
heute am Netz, fast alle Schülerinnen <strong>und</strong><br />
Schüler sind "drin" (<strong>und</strong> mittlerweile auch die<br />
meisten Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer). Virtuelles<br />
<strong>Lernen</strong>, E-Learning, Teletutoring –– das sind<br />
Schlagworte, die bereits <strong>im</strong> vergangenen<br />
Jahr unsere Jahrestagung mit prägten: Neben<br />
den vielen "Selbstlernprogrammen" <strong>im</strong><br />
"Edutainment-Nachmittagsmarkt" für die<br />
Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler gibt es in jüngster<br />
Zeit zunehmend interaktive <strong>WWW</strong>-Angebote,<br />
umfangreiche mult<strong>im</strong>ediale Datenbanken,<br />
zahllose Austauschforen usw.<br />
Sind wir auf dem Weg zum "virtuellen Klassenz<strong>im</strong>mer"?<br />
Wird das Schulbuch durch CD-<br />
ROM <strong>und</strong> <strong>Internet</strong> abgelöst? Wie wird die<br />
Entwicklung mittel- <strong>und</strong> langfristig weitergehen?<br />
–– Fragen, denen sich unser Arbeitskreis<br />
schon in den letzten Jahren verstärkt<br />
widmete. In diesem Jahr ging es unter dem<br />
oben genannten Rahmenthema insbesondere<br />
um folgende Fragen zu den Möglichkeiten,<br />
Grenzen <strong>und</strong> Risiken von <strong>WWW</strong> <strong>und</strong> <strong>Internet</strong><br />
<strong>im</strong> <strong>und</strong> für den <strong>Mathematik</strong>unterricht:<br />
• Welche Erfahrungsberichte gibt es über<br />
die Nutzung von <strong>WWW</strong> <strong>und</strong> <strong>Internet</strong> <strong>im</strong><br />
Rahmen des allgemein bildenden <strong>Mathematik</strong>unterrichts?<br />
• Welche Erfahrungsberichte gibt es dabei<br />
insbesondere über die Wirkung <strong>im</strong> Hinblick<br />
auf das <strong>Lehren</strong> <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>?<br />
• Lassen sich Unterschiede hinsichtlich<br />
Nutzung <strong>und</strong> Erfolg zwischen Jungen <strong>und</strong><br />
Mädchen feststellen?<br />
• Wie können die Inhalte so aufbereitet <strong>und</strong><br />
dargestellt werden, dass die neuen Möglichkeiten<br />
auch wirklich genutzt werden?<br />
• Was müssen Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler<br />
(sowie Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer) an neuen<br />
Fertigkeiten <strong>und</strong> Fähigkeiten erwerben,<br />
um die neuen Möglichkeiten gewinnbringend<br />
nutzen zu können?<br />
• Wie ist gerade angesichts der TIMSS<strong>und</strong><br />
PISA-Diskussion die Rolle dieser<br />
neuen Möglichkeiten einzuschätzen ––<br />
insbesondere, wenn es weniger um das<br />
Üben schlichter Fertigkeiten geht, sondern<br />
um das nachhaltige Erwerben mathematischen<br />
Gr<strong>und</strong>verständnisses?<br />
• Welche aktuellen Entwicklungen hin zu<br />
"intelligenten" Angeboten <strong>und</strong> hin zu einer<br />
"intelligenten" Nutzung dieser Angebote<br />
gibt es?<br />
Kurzum: Welche Möglichkeiten <strong>und</strong> Chancen,<br />
aber auch Probleme <strong>und</strong> Schwierigkeiten<br />
für das <strong>Lehren</strong> <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> von <strong>Mathematik</strong><br />
bringen <strong>WWW</strong> <strong>und</strong> <strong>Internet</strong> mit sich?<br />
Es ging also einerseits um einen Überblick<br />
über Erfahrungen <strong>und</strong> aktuelle Entwicklungen<br />
in diesem Bereich. Zum anderen wurde<br />
herausgestellt, dass die <strong>Lehren</strong>den an den<br />
Schulen <strong>und</strong> Universitäten als Didaktik-<br />
Expertinnen <strong>und</strong> -Experten gefordert sind,<br />
kritisch <strong>und</strong> konstruktiv zu diesen Entwicklungen<br />
Stellung zu beziehen, Wünsche <strong>und</strong><br />
Anforderungen zu formulieren <strong>und</strong> didaktisch-methodische<br />
Konzepte zu entwickeln.<br />
Hauptvorträge<br />
Die Tagungsstruktur folgte dem bewährten<br />
Vorbild des Vorjahres: Die Hauptvorträge<br />
standen nicht alle am Anfang der Tagung,<br />
sondern waren über die drei Tage verteilt.<br />
Wie zu erwarten beleuchteten sie das Thema<br />
aus durchaus unterschiedlichen Blickwinkeln:<br />
Den Beginn machte T<strong>im</strong>o Leuders vom nordrhein-westfälischen<br />
Landesinstitut in Soest.<br />
Er zeigte auf, dass <strong>und</strong> wie sich die technische<br />
Entwicklung des Mediums <strong>Internet</strong> zur-<br />
5
Peter Bender, Wilfried Herget, Hans-Georg Weigand & Thomas Weth<br />
zeit vor allem auszeichnet durch eine zunehmende<br />
Integration von Einzelmedien,<br />
durch eine Flexibilisierung von Nutzungssituationen<br />
<strong>und</strong> einer weiter anhaltende Expansion.<br />
Der Vortrag widmete sich dem <strong>Lernen</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> von <strong>Mathematik</strong> mit dem <strong>Internet</strong><br />
–– zwischen instruktivistischem <strong>und</strong><br />
konstruktivistischem Paradigma: In wie weit<br />
werden die Möglichkeiten des Mediums <strong>Internet</strong><br />
<strong>im</strong> didaktischen Kontext des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
heute schon genutzt? Welche<br />
Ansätze gibt es, bei denen sich für das <strong>Mathematik</strong>lehren<br />
<strong>und</strong> -lernen ein echter Mehrwert<br />
abzeichnet? Und wo drohen Abgründe<br />
einer trivialisierenden Nutzung?<br />
Für den zweiten Hauptvortrag konnte Cornelia<br />
Niederdrenk-Felgner gewonnen werden,<br />
Professorin an der Fachhochschule Nürtingen,<br />
erfahrene <strong>Mathematik</strong>didaktikerin, ausgewiesen<br />
nicht zuletzt sowohl in den Bereichen<br />
Computer <strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht als<br />
auch bezüglich des wichtigen Spannungsfeldes<br />
Mädchen <strong>und</strong> Jungen <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />
Ihr Vortragstitel "Jungen, Mädchen,<br />
Mathe <strong>und</strong> Computer" spiegelte eben dieses<br />
vielschichtige Forschungs- <strong>und</strong> Entwicklungsthema<br />
wider. Sie gab einerseits einen<br />
kurzen Überblick über den gegenwärtigen<br />
Stand der Genderforschung <strong>im</strong> Hinblick auf<br />
den <strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>und</strong> den Einsatz<br />
des Computers. Die Zusammenstellung von<br />
Ergebnissen aus unterschiedlichen Studien<br />
zum Thema wurde ergänzt durch konkrete<br />
Vorschläge für den Unterricht, die zur Diskussion<br />
anregen sollen.<br />
"<strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>und</strong> Neue Medien" ––<br />
das war das recht umfassend formulierte<br />
Thema des dritten Hauptvortrags. Thomas<br />
Weth von der Universität Erlangen-Nürnberg<br />
gab einen sehr detaillierten Ein- <strong>und</strong> Überblick<br />
zu dem Projekt "Dezentrale internetgestützte<br />
Lehr-Lern-Umgebung für das Lehramtsstudium<br />
<strong>Mathematik</strong>". Dieses aufwändige,<br />
vom B<strong>und</strong>esministerium für Bildung <strong>und</strong><br />
Forschung über drei Jahre geförderte Projekt<br />
stand zum Zeitpunkt der Tagung kurz vor<br />
seinem Abschluss. Im Vortrag wurden die<br />
von den Lehrstühlen für Didaktik der <strong>Mathematik</strong><br />
der Universitäten Braunschweig, Nürnberg-Erlangen,<br />
Münster <strong>und</strong> Würzburg gemeinschaftlich<br />
realisierten Konzepte erläutert,<br />
Einsatzmöglichkeiten dargestellt <strong>und</strong><br />
über erste Erfahrungen <strong>und</strong> Evaluationen<br />
be<strong>im</strong> Einsatz <strong>im</strong> Vorlesungs- <strong>und</strong> Übungsbetrieb<br />
berichtet.<br />
6<br />
Sektionsvorträge<br />
<strong>und</strong> Arbeitsgruppen<br />
Diese Auseinandersetzung mit dem aspektreichen<br />
Tagungsthema wurde in den diesmal<br />
insgesamt 22 Sektionsvorträgen <strong>und</strong> fünf Arbeitsgruppen<br />
–– wie aus den Vorjahren vertraut<br />
–– lebhaft <strong>und</strong> kritisch-konstruktiv vertieft.<br />
Die Vorträge <strong>und</strong> Berichte finden sich,<br />
durchweg in der Zwischenzeit noch aktualisiert<br />
<strong>und</strong> ergänzt, alle in dem vorliegenden<br />
Tagungsband.<br />
Mädchen <strong>und</strong> Computer<br />
Parallel zur Tagung unseres Arbeitskreises<br />
"<strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>und</strong> Informatik" fand in<br />
Kooperation die Arbeitstagung des GDM-Arbeitskreises<br />
"Frauen <strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong>" mit<br />
der Generalüberschrift "Mädchen <strong>und</strong> Computer"<br />
statt. Diese Zusammenarbeit, angesichts<br />
der Themen der beiden Tagungen naheliegend,<br />
hat sich bewährt –– viele der Teilnehmenden<br />
begrüßten die besondere Gelegenheit,<br />
auch einmal Angebote der jeweils<br />
anderen Tagung nutzen zu können.<br />
Dank<br />
Tagungsort war wie zwei Jahre zuvor die<br />
bayerische Akademie für Lehrerfortbildung<br />
<strong>und</strong> Personalführung in Dillingen a.d. Donau<br />
(http://afl.dillingen.de/), die als ehemaliges<br />
Kloster <strong>im</strong>mer noch einen Hauch des klerikalen<br />
Feudalismus ausstrahlt <strong>und</strong> die in Wohn-,<br />
Essens- <strong>und</strong> Tagungskomfort –– für unsere<br />
Zwecke –– wohl alle Wünsche erfüllte.<br />
Unser Dank gilt schließlich wieder Herrn Dr.<br />
Rolf Sommer, Universität Halle-Wittenberg,<br />
für die Gestaltung der Titelseite.<br />
Dezember 2004 Peter Bender<br />
Wilfried Herget<br />
Hans-Georg Weigand<br />
Thomas Weth
� <strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong><br />
zwischen instruktivistischem <strong>und</strong> konstruktivistischem<br />
Paradigma<br />
T<strong>im</strong>o Leuders, Soest<br />
Die Entwicklung des Mediums <strong>Internet</strong> ist zurzeit best<strong>im</strong>mt durch eine fortschreitende<br />
Expansion der verfügbaren Inhalte, durch die zunehmende Integration von Einzelmedien<br />
(Hypermedia) <strong>und</strong> durch wachsende Möglichkeiten der Interaktivität <strong>und</strong> Kommunikation.<br />
Welche Ansätze gibt es, bei denen sich für das <strong>Mathematik</strong>lehren <strong>und</strong> -lernen ein echter<br />
Mehrwert abzeichnet, <strong>und</strong> wo drohen Abgründe einer trivialisierenden Nutzung? Was<br />
versteht man unter einer (internetgestützten) Lernumgebung, <strong>und</strong> auf welche Qualitätskriterien<br />
kann man sich bei der Konstruktion <strong>und</strong> Analyse von Lernumgebungen stützen?<br />
Technische Entwicklungstendenzen<br />
<strong>—</strong> didaktische Konsequenzen?<br />
Vorweg seien einige Erwägungen<br />
zu den technischen<br />
Rahmenbedingungen der<br />
schulischen Arbeit mit dem<br />
<strong>Internet</strong> formuliert. Auch<br />
wenn die konkreten Zahlen<br />
in diesem Bereich die Tendenz<br />
haben, schnell zu<br />
veralten, so werden die hier<br />
dargestellten generellen Betrachtungen<br />
sicherlich das<br />
nächste Jahrzehnt überdauern.<br />
Im Rahmen des volkswirtschaftlichen<br />
Vier-Sektor-<br />
Modells (Landwirtschafts-,<br />
Produktions-, Dienstleistungs-<br />
<strong>und</strong> Informationssektor) wird unserer<br />
Gesellschaft eine weitgehende Transformation<br />
zur Informationsgesellschaft prognostiziert:<br />
Bis 2010, so die typischen Prognosen,<br />
wird 60% der gesamten Erwerbstätigkeit <strong>im</strong><br />
"Informationssektor" lokalisiert sein. Eine<br />
präzise, dauerhafte Abgrenzung eines solchen<br />
Informationssektors etwa vom Dienstleistungssektor<br />
ist allerdings problematisch<br />
(Kubicek 1988, Kap. 22) <strong>und</strong> damit auch jegliche<br />
Trendaussage, die sich eines solchen<br />
fluktuierenden Begriffes bedient. Als ein Indikator<br />
<strong>und</strong> zugleich Träger der Entwicklungen<br />
<strong>im</strong> "Informationssektor" wird oft das unvermindert<br />
expandierende <strong>Internet</strong> herangezogen.<br />
In Deutschland hat bereits ca. 40% der<br />
Bevölkerung einen Onlinezugang (in den<br />
Haushalten der zur Zeit Schulpflichtigen ist<br />
mit einem höheren Prozentsatz zu rechnen),<br />
in anderen europäischen Flächenländern wie<br />
Skandinavien oder den Niederlanden beträgt<br />
dieser Anteil bereits 60% <strong>und</strong> mehr (NUA<br />
2003).<br />
Abb. 1a: Bevölkerungsanteil der Onlinenutzer<br />
Schweden September 2002 67.8<br />
Dänemark Juli 2002 62.7<br />
Niederlande September 2002 60.8<br />
Norwegen Juli 2002 59.2<br />
Großbritannien September 2002 57.2<br />
Schweiz Juni 2002 52.7<br />
Finnland Mai 2002 51.9<br />
Portugal Juni 2002 43.6<br />
Deutschland August 2002 38.9<br />
Italien August 2001 33.4<br />
Frankreich Mai 2002 28.4<br />
Spanien Mai 2002 19.7<br />
Abb. 1b: Onlinenutzer <strong>im</strong> europäischen Vergleich;<br />
Zugang in den letzten 3 Monaten (NUA 2003)<br />
7
T<strong>im</strong>o Leuders<br />
Die technischen Voraussetzungen des Online-Zugangs<br />
haben sich offensichtlich so<br />
weit entwickelt, dass wir den notwendigen<br />
Rahmenbedingungen einer breiten schulischen<br />
Nutzung des Mediums <strong>Internet</strong> ein<br />
wesentliches Stück näher gerückt sind. Um<br />
aber nicht einer bildungspolitischen Philosophie,<br />
die sich am technisch Machbaren orientiert,<br />
zu erliegen, sind aber ebenso die hinreichenden<br />
Bedingungen zu prüfen, also die<br />
bildungstheoretischen, mediendidaktischen<br />
<strong>und</strong> fachbezogenen Argumente (vgl. z.B. von<br />
Hentig 2002, Stoll 2001, Döring 1997, Schumann<br />
2003).<br />
De facto ist die Förderung der <strong>Internet</strong>nutzung<br />
in der Schule bereits zu einem bedeutenden<br />
bildungspolitischen Topos geworden.<br />
Die Realität in der Schule vermittelt dabei<br />
zurzeit etwa das folgende Bild: Auch wenn in<br />
Deutschland ca. 95% aller Schulen am Netz<br />
sind <strong>und</strong> 80% aller Schüler prinzipiell schulischen<br />
Netzzugang haben, stehen an den<br />
Sek<strong>und</strong>arschulen <strong>im</strong> Schnitt nur ca. 16 Computer<br />
mit <strong>Internet</strong>zugang zur Verfügung<br />
(BMBF 2002). Mit einem Zugangsverhältnis<br />
von 40 Schülern pro <strong>Internet</strong>computer liegen<br />
deutsche Schulen <strong>im</strong> europäischen Vergleich<br />
weit hinten (in Skandinavien beträgt die Quote<br />
5:1 bis 10:1) (Kommission der Europäischen<br />
Gemeinschaften 2001). Das bedeutet<br />
rein rechnerisch, dass selbst bei einer fiktiven<br />
Zahl von 40 Schulst<strong>und</strong>en pro Woche<br />
(einschließlich Nachmittagszugang) jeder<br />
Schüler nur höchstens eine St<strong>und</strong>e am schulischen<br />
<strong>Internet</strong>-PC zur Verfügung hat.<br />
Aus Lehrersicht ergibt sich folgendes Bild:<br />
"Weniger als vier von zehn Lehrern in Europa<br />
nutzen das <strong>Internet</strong> <strong>im</strong> Unterricht. Als Hauptgr<strong>und</strong><br />
hierfür wird die unzureichende Ausstattung<br />
angeführt. Nur jeder fünfte Lehrer<br />
hält das <strong>Internet</strong> für den Unterricht für irrelevant,<br />
<strong>und</strong> weniger als jeder zehnte führt<br />
mangelnde Vertrautheit als Gr<strong>und</strong> an. [...]<br />
neun von zehn Lehrern [sind] davon überzeugt,<br />
dass sich die Art ihres Unterrichts<br />
durch das <strong>Internet</strong> bereits geändert hat oder<br />
dass dies früher oder später geschehen wird.<br />
Dies deutet darauf hin, dass die große Mehrheit<br />
der europäischen Lehrer neuen Technologien<br />
<strong>und</strong> den damit einhergehenden Veränderungen<br />
offen gegenübersteht." (ebd.)<br />
Die Verfügbarkeitsbedingungen des <strong>Internet</strong>s<br />
an Schulen sind wesentlich auf bildungs- <strong>und</strong><br />
finanzpolitische Einflussfaktoren zurückzuführen.<br />
Das Medium wird noch wesentlich als<br />
Ergänzung zum traditionellen Medienkanon<br />
gesehen. Zukünftig ist aber durchaus zu erwarten,<br />
dass das <strong>Internet</strong> als Instrument von<br />
(Finanz-) Reformen <strong>im</strong> Bildungsbereich<br />
8<br />
wahrgenommen wird. Das betrifft u.a. die<br />
Produktion von Schulbüchern <strong>und</strong> anderen<br />
Lehrmaterialien, aber auch die Kosten für<br />
pädagogisches Personal. Das Argument der<br />
Kostenreduktion erscheint hier aber sowohl<br />
ökonomisch kurzsichtig als auch mit dem Erziehungsauftrag<br />
von Schule unvereinbar:<br />
Hochwertige Lehrmittel <strong>und</strong> gute Lehrer lassen<br />
sich auch langfristig nicht wegrationalisieren.<br />
Gute Gründe für dieses Postulat lassen<br />
sich aus einer bildungs- <strong>und</strong> lehr/lerntheoretischen<br />
Perspektive gewinnen. Sie finden<br />
sich <strong>im</strong> folgenden Abschnitt.<br />
Weitere schulbezogene, technische Entwicklungstendenzen<br />
des <strong>Internet</strong>s können hier<br />
nur angerissen werden:<br />
• Die didaktifizierten <strong>und</strong> nicht-didaktifizierten<br />
fachbezogenen Angebote nehmen in<br />
ihrer Vielfalt weiterhin zu. Dabei kommen<br />
auch <strong>im</strong>mer wieder qualitativ hochwertige<br />
Angebote hinzu. Insbesondere wächst<br />
das Angebot unterrichtlich bedeutsamer<br />
<strong>und</strong> praktisch nutzbarer Real-World-<br />
Probleme <strong>und</strong> Daten (z.B. Statistisches<br />
B<strong>und</strong>esamt: www.destatis.de, Weltbevölkerungsuhr:<br />
www.dsw-online.de).<br />
• Der Aspekt der Nutzerfre<strong>und</strong>lichkeit (z.B.<br />
mult<strong>im</strong>ediale Aufbereitung, intuitive Bedienung,<br />
Autorentools für das World Wide<br />
Publishing) wird zu einem <strong>im</strong>mer wichtigeren<br />
Qualitätskriterium bei neuen Angeboten.<br />
• Die Grenzen zwischen online- <strong>und</strong> offline-<br />
Software verwischen. Systeme werden<br />
serverseitig angeboten (z.B. Server-CAS)<br />
oder laufen clientseitig innerhalb des <strong>Internet</strong>browers<br />
(z.B. java-basierte DGS).<br />
Dadurch werden sie insbesondere plattformunabhängig.<br />
Ein Indikator hierfür ist,<br />
dass sich die didaktische Softwareprüfung,<br />
die sich bislang mit Produkten auf<br />
CD beschäftigte, auch auf das <strong>Internet</strong><br />
ausweitet.<br />
• Die Möglichkeiten der Interaktionen eines<br />
Nutzers mit einer Software oder von Nutzern<br />
untereinander via Software werden<br />
stetig vielfältiger. Die Zeiten der Beschränkung<br />
des <strong>WWW</strong> auf das Abrufen<br />
von Hypertextdokumenten sind lange vorbei.<br />
Vielfältige Instrumente der Kooperation<br />
<strong>und</strong> Kommunikation zwischen Nutzern<br />
(CSCW = Computer Supported Cooperative<br />
Work) sind bereits in der beruflichen<br />
Praxis mancher Bereiche Standard. Sie<br />
führen traditionelle <strong>Internet</strong>dienste wie E-<br />
Mail, Newsgroups <strong>und</strong> Foren weiter.<br />
Bei der Nutzung der hier angeschnittenen<br />
Technologien <strong>im</strong> schulischen Kontext macht
<strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> zwischen "instruktivistisch" <strong>und</strong> "konstruktivistisch"<br />
sich allerdings eine problematische Gr<strong>und</strong>tendenz<br />
bemerkbar: Technologische Fortschritte<br />
gehen ihrer Nutzung <strong>im</strong> Bildungssektor<br />
zeitlich um einige Monate bis Jahre voraus.<br />
So ist es <strong>im</strong> schulbezogenen Anwendungskontext<br />
eher die Regel, dass neue<br />
Systeme das Ergebnis einer Anpassung existierender<br />
Technologien auf ein pädagogisches<br />
Anwendungsfeld sind <strong>und</strong> nicht etwa<br />
genuin aus didaktischen Überlegungen dieses<br />
Feldes heraus entwickelt wurden. Auch<br />
stammen die Protagonisten solcher neuer<br />
Technologien aus einem technologischen<br />
oder ökonomischen Umfeld. Deshalb findet<br />
man unter Neuentwicklungen computergestützten<br />
<strong>Lernen</strong>s manches Mal die Aufbereitung<br />
traditioneller Materialien <strong>und</strong> Rückgriffe<br />
auf überholte instruktionalistische Konzepte,<br />
die der Frühzeit der Lehr-Lernsysteme entstammen.<br />
Daher fordern viele Experten für<br />
die Entwicklung von Systemen des computerunterstützten<br />
<strong>Lernen</strong>s eine explizite Reflexion<br />
der zu Gr<strong>und</strong>e liegenden lerntheoretischen<br />
Annahmen (Mandl, Prenzel & Reinmann-Rothmeier<br />
1995, Kl<strong>im</strong>sa 2002, Schulmeister<br />
2002, 2003). Dieser Text möchte zu<br />
dieser Diskussion einen Beitrag aus der Perspektive<br />
des <strong>Mathematik</strong>unterrichts leisten.<br />
<strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> in internetbasiertenLernumgebungen<br />
<strong>—</strong> Kriterien <strong>und</strong> Beispiele<br />
Was ist überhaupt eine "Lernumgebung"?<br />
Wie sollte eine solche Lernumgebung aussehen,<br />
sofern sie computergestützt (bzw. internetbasiert)<br />
realisiert wird? Welche Rolle<br />
kann die Orientierung an einem so genannten<br />
konstruktivistischen Paradigma spie-<br />
Abb. 2: Lernumgebung: real <strong>und</strong> virtuell<br />
len? Diese Fragen sollen in diesem Abschnitt<br />
aufgegriffen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Detail beleuchtet werden.<br />
Zum Begriff der "Lernumgebung" sei ein relativierender<br />
Kommentar vorweggeschickt:<br />
Über den Umfang <strong>und</strong> Gehalt dieses Begriffes<br />
besteht in der vielgestaltigen Literatur, die<br />
sich auf ihn beruft, kaum ein Konsens. Man<br />
vergleiche einmal die vielen Bedeutungsebenen,<br />
die der Begriff bei den verschiedenen<br />
Autoren in (Kl<strong>im</strong>sa & Issing 2002) durchläuft.<br />
Diese Beobachtung verw<strong>und</strong>ert nicht: <strong>Lernen</strong><br />
findet <strong>im</strong>mer in einer Lernumgebung statt.<br />
Auch ein Arrangement aus Tisch, Stuhl,<br />
Buch, Stift <strong>und</strong> Papier <strong>und</strong> ggf. Mitlernenden<br />
ist eine Lernumgebung <strong>und</strong> kann je nach methodischer<br />
Gestaltung des Lernprozesses<br />
mehr oder weniger konstruktivistisch sein.<br />
Oft wird der Begriff der Lernumgebung heutzutage<br />
<strong>im</strong> Zusammenhang mit der Verwendung<br />
elektronischer Medien verwendet. Dadurch<br />
wird die Lernumgebung zu einer "computerbasierten",<br />
"computergestützten" oder<br />
gar zur "virtuellen" Lernumgebung.<br />
In seiner weiten Bedeutung meint der Begriff<br />
"Lernumgebung" also etwa dasselbe wie<br />
"Lernarrangement" oder "Lernumwelt", <strong>—</strong> je<br />
nachdem, wie sehr man die bewusste, didaktische<br />
Gestaltung in den Vordergr<strong>und</strong> rücken<br />
möchte. Unter Lernumgebung <strong>im</strong> weiten<br />
Sinne möchte ich daher den gesamten, für<br />
den spezifischen schulischen Lernprozess<br />
bewusst arrangierten Weltausschnitt verstehen.<br />
Dieser umfasst das inhaltliche, kommunikative<br />
<strong>und</strong> mediale Arrangement, also<br />
nach etwas angestaubter, traditioneller Terminologie:<br />
die Lernaufgaben, die Sozialformen<br />
<strong>und</strong> die Lernmittel (Werkzeuge <strong>und</strong> Medien).<br />
Eine Lernumgebungen kann virtuelle Komponenten<br />
enthalten. Damit meint man ge-<br />
9
T<strong>im</strong>o Leuders<br />
wöhnlich solche, die sich auf elektronische<br />
Medien stützen. Die Virtualität manifestiert<br />
sich darin, dass die Objekte dieser (Teil)Welt<br />
die besonderen Eigenheiten des digitalen<br />
Mediums tragen, wie etwa die Projektion eines<br />
digitalen Quaders auf einen Computerbildschirm<br />
oder die eines vielfach verlinkten<br />
Hypertextes. Mit einer solchen Lernumgebung<br />
<strong>im</strong> engeren Sinne ist also meist der<br />
auf elektronische Medien gestützte Teil<br />
der gesamten Lernumgebung gemeint. Insgesamt<br />
ergibt sich also das in Abb. 2 dargestellte<br />
Bild vom Lernumgebungsbegriff. Dabei<br />
möchte ich ausdrücklich davor warnen,<br />
bei einem <strong>Lernen</strong> mit virtuellen Umgebungen<br />
von "virtuellem <strong>Lernen</strong>" zu sprechen. <strong>Lernen</strong><br />
ist nämlich nie virtuell, sondern findet, ob mit<br />
oder ohne Computer, <strong>im</strong>mer nur real statt.<br />
Mit dem Attribut "virtuell" wird eher auf ein<br />
spezifisches Defizit verwiesen, nämlich auf<br />
das physische Fehlen realer Ansprechpartner<br />
(Mitlerner oder Tutoren) oder haptisch<br />
manipulierbarer Objekte.<br />
In Mode kam der Begriff der Lernumgebung<br />
vor allem seit den frühen neunziger Jahren<br />
<strong>im</strong> Bereich mediengestützten <strong>Lernen</strong>s. Dort<br />
entsponn sich eine Auseinandersetzung zwischen<br />
verschiedenen Schulen (vgl. Schulmeister<br />
2002, 166ff, Kerres 2001, 55ff). Im<br />
Gegensatz zu bis dahin dominierenden so<br />
genannten instruktionistischen Ansätzen<br />
entwickelte sich in der Mediendidaktik eine<br />
Strömung, die die Rolle der Lerneraktivität<br />
betonte. Zuvor hatte man die lerntheoretisch<br />
extrem s<strong>im</strong>plifizierende Philosophie der programmierten<br />
Unterweisung überw<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />
sich zu differenzierteren kognitivistischen<br />
Ansätzen weiterentwickelt, die sich in so genannten<br />
intelligenten tutoriellen Systemen<br />
(ITS) manifestierten. Gr<strong>und</strong>prinzip solcher<br />
Lehrsysteme war aber <strong>im</strong>mer noch die Auffassung,<br />
ein computergestütztes System<br />
könne durch Diagnose des <strong>Lernen</strong>den ein<br />
hinreichend mächtiges Lernermodell entwickeln<br />
<strong>und</strong> auf dieser Gr<strong>und</strong>lage effiziente Instruktionsprozesse<br />
organisieren.<br />
Im Rahmen einer hier entstehenden Neuorientierung<br />
in der Entwicklung <strong>und</strong> Erforschung<br />
mediengestützten <strong>Lernen</strong>s gewann<br />
der Begriff der Lernumgebung eine wesentliche<br />
Bedeutungsd<strong>im</strong>ension: In dem Maße, in<br />
dem die Aktivitäten des <strong>Lernen</strong>den in den<br />
Vordergr<strong>und</strong> gestellt werden, wird ein computergestütztes<br />
Lernsystem zu einer Lernumgebung,<br />
in der sich der <strong>Lernen</strong>de nach<br />
seinen Bedürfnissen bewegt <strong>und</strong> in der er<br />
seinen Lernprozess selbst kontrolliert <strong>und</strong><br />
nicht durch das System kontrolliert wird.<br />
10<br />
Eine erkenntnis- wie lerntheoretische Verankerung<br />
findet diese Auffassung vom <strong>Lernen</strong>,<br />
die sich nicht allein auf das mediengestützte<br />
<strong>Lernen</strong> bezieht, <strong>im</strong> (pädagogischen) Konstruktivismus,<br />
dessen breite Diskussion <strong>im</strong><br />
allgemeinen pädagogischen Feld ungefähr<br />
zur selben Zeit einsetzte (Gerstenmeier &<br />
Mandl 1995). Seit dieser Zeit berufen sich<br />
viele theoretische Modelle <strong>und</strong> praktische<br />
Umsetzungen auf eine konstruktivistische<br />
Position, <strong>und</strong> auch die hierbei entworfenen<br />
Lernumgebungen werden als konstruktivistisch<br />
bezeichnet, <strong>—</strong> mit durchaus unterschiedlicher<br />
Berechtigung, wie das folgende<br />
Beispiel zeigt:<br />
Zwar ist die Software "Kreuzritter"<br />
nicht netzwerkfähig, jedoch spricht<br />
nichts gegen die Lösung der Rätsel in<br />
Gruppenarbeit vor dem Monitor, das<br />
dem Anspruch nach <strong>Lernen</strong> in einem<br />
sozialen Kontext gerecht wird. (Aus einer<br />
Rezension der S<strong>im</strong>ulationssoftware<br />
"Kreuzritter" www.lpm.uni-sb.de/<br />
neuemedien/analyze/kreuzz.html)<br />
Was also macht eine konstruktivistische<br />
Lernumgebung aus? Gibt es hierfür eindeutige<br />
Kriterien? Zu keiner Zeit hat es so etwas<br />
wie eine geschlossene, konstruktivistische<br />
Position oder Theorie gegeben, <strong>—</strong> weder in<br />
der Mediendidaktik noch in der Pädagogik.<br />
Vielmehr gibt es Hauptströmungen konstruktivistischen<br />
"Gedankengutes" (ich wähle hier<br />
bewusst nicht den Terminus "Theorie"), die<br />
unterschiedlichen Quellen entspringen <strong>und</strong><br />
sich gegenseitig beeinflussen. Auch der vorliegende<br />
Text schöpft aus dieser Orientierungsvielfalt<br />
<strong>und</strong> bezieht sich je nach Argumentationszusammenhang<br />
auf:<br />
• eine radikal-konstruktivistische Anthropologie,<br />
die sich an vielen Stellen durch aktuelle<br />
neurobiologische Erkenntnisse unterstützt<br />
sieht. Diese Sichtweise liegt vor<br />
allem Abschnitt (1) ("konstruktivistisches<br />
Menschenbild") zugr<strong>und</strong>e.<br />
• eine "gemäßigt" oder "pragmatisch" genannte<br />
konstruktivistische Position, bei<br />
der konstruktivistische Aspekte hinsichtlich<br />
der Analyse <strong>und</strong> Synthese von Lernarrangements<br />
berücksichtigt werden.<br />
Hierzu gehören vor allem Ansätze, die Instruktions-<br />
<strong>und</strong> Konstruktionsaspekte zu<br />
Formen des so genannten instructional<br />
design verbinden <strong>und</strong> dabei Kriterien für<br />
Lernumgebungen herausarbeiten, wie sie<br />
auch in Abschnitt (3) ("konstruktivistische<br />
Lernumgebungen") aufgenommen werden<br />
sollen. Solche Kriterien sind Gegenstand<br />
empirisch-psychologischer Untersuchungen<br />
(Gerstenmeier & Mandl 1995).
<strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> zwischen "instruktivistisch" <strong>und</strong> "konstruktivistisch"<br />
(1) konstruktivistisches Menschenbild<br />
selbstreferentiell, selbststabilisierend, selbstverantwortlich, nicht-trivial<br />
� (2) konstruktivistisches <strong>Lernen</strong><br />
aktiv-konstruierend, situiert, individuell, sozial, ganzheitlich<br />
� (3) konstruktivistische Lernumgebung<br />
Situiertheit, multiple & soziale Kontexte, Selbststeuerung, Metakognition<br />
� (4) konstruktivistische internetgestützte Lernumgebung<br />
offen, authentisch, interaktiv, adaptiv, kommunikativ<br />
• konstruktivistische Aspekte einer mathematischen<br />
Epistemologie. Differenzierte<br />
Einblicke in die (insbesondere auch soziale)<br />
Generierung mathematischer Erkenntnisse<br />
geben Anregungen für Gestaltung<br />
auch schulischer Lernprozesse.<br />
Aus diesem argumentativen Kontext lassen<br />
sich st<strong>im</strong>mige Kriterien dafür gewinnen, welche<br />
Charakteristika eine Lernumgebung zu<br />
einer konstruktivistischen machen. Dabei<br />
<strong>im</strong>pliziert eine "konstruktivistische Bauart" jedoch<br />
keineswegs deren Zweckmäßigkeit<br />
oder Effizienz. Empirische Resultate haben<br />
hier typischerweise den Charakter, dass die<br />
Wirksamkeit eines Merkmals (etwa die Hypertextstruktur<br />
oder die mult<strong>im</strong>ediale Gestalt<br />
einer Lernumgebung) stark abhängt vom Einsatzgebiet<br />
(stark strukturiert oder offen) oder<br />
von den Bedingungen des <strong>Lernen</strong>den (Novize<br />
oder Experte).<br />
Wenn also <strong>im</strong> Folgenden Kriterien für konstruktivistische<br />
Lernumgebungen systematisch<br />
dargestellt werden, so soll dies eher der<br />
Begriffsklärung denn der normativen Standardsetzung<br />
dienen. Insbesondere soll mit<br />
Blick auf das konkrete Fach <strong>Mathematik</strong> <strong>im</strong>mer<br />
wieder angedeutet werden, in wie fern<br />
typisch konstruktivistische Argumentationslinien<br />
hier mit wohl bekannten didaktischen<br />
Forderungen <strong>und</strong> bewährten didaktischen<br />
Prinzipien zusammenfallen. Der Konstruktivismus<br />
kann hier keineswegs die Deutungshegemonie<br />
beanspruchen.<br />
Die konstruktivistische Perspektive geht, wie<br />
bereits angedeutet, über einfache Aussagen<br />
zur Qualität des <strong>Lernen</strong>s hinaus: sie ist verb<strong>und</strong>en<br />
mit einem umfassenden Menschenbild.<br />
Auf dieser Ebene gilt es anzusetzen:<br />
Abbildung 3 stellt die unterschiedlichen Ebenen<br />
dar, auf der Kriterien für eine konstruktivistische<br />
Gestaltung von Lernprozessen mit<br />
Abb. 3: Ebenen der konstruktivistischen Kriterien<br />
Medien ansetzen können. Die Pfeile zwischen<br />
diesen Ebenen repräsentieren keine<br />
Deduktionskette, die unteren Ebenen folgen<br />
nicht sachlogisch aus den umfassenden.<br />
Vielmehr wird in jedem dieser Schritte argumentativ<br />
etwas hinzugefügt, die Divergenz<br />
<strong>und</strong> Komplexität wird erhöht. Auch ist jede<br />
Ebene durchaus auch aus anderen Zusammenhängen<br />
begründbar. Das konstruktivistische<br />
Bild vom <strong>Lernen</strong> (Ebene 2) ist mit einem<br />
konstruktivistischen Menschenbild (Ebene<br />
1) konsistent, lässt sich aber ebenfalls<br />
aus schon lange bekannten reformpädagogischen<br />
Postulaten oder aus hochaktuellen<br />
neurobiologischen Tatsachen begründen<br />
(z.B. Spitzer 2000, oder bezogen auf <strong>Mathematik</strong>:<br />
Leuders 2003). Die in der dargestellten<br />
Abfolge ausgedrückte Logik ist vielmehr<br />
die eines Korrektivs. Jede Ebene muss<br />
sich daran messen lassen, in wie fern sie<br />
konsequent die Aussagen des umfassenderen<br />
<strong>und</strong> allgemeineren Modells der vorausgehenden<br />
Ebene berücksichtigt.<br />
Die bewusste Berücksichtigung einer solchen<br />
Begründungsstruktur beugt somit einer gewissen<br />
Willkürlichkeit der Argumentation, wie<br />
man sie oft <strong>im</strong> Bereich des Computereinsatzes<br />
antrifft, vor. Sie kann helfen, konkrete<br />
Lernumgebungen zu bewerten, zu klassifizieren<br />
<strong>und</strong> dabei insbesondere die vielfach anzutreffenden<br />
vollm<strong>und</strong>igen, aber faktisch uneingelösten,<br />
Selbstcharakterisierungen bzw.<br />
Rezensionen von Medienangeboten (s. obiges<br />
Beispiel) aufzudecken.<br />
(1) Konstruktivistisches Menschenbild<br />
Angesichts der vielfältigen Quellen <strong>und</strong> ihrem<br />
hohen Bekanntheitsgrad (Maturana & Varela<br />
1987, Watzlawick 1982, von Glasersfeld<br />
11
T<strong>im</strong>o Leuders<br />
1992) will ich nur kurz einige gr<strong>und</strong>legende<br />
Aspekte anreißen: Der Mensch lässt sich<br />
auffassen als ein autopoietisches, d.h. strukturell<br />
in sich geschlossenes System (Maturana<br />
& Varela). Er konstruiert seine individuelle<br />
Wirklichkeit in einem aktiven Prozess in einer<br />
strukturellen Kopplung mit seiner Umwelt,<br />
insbesondere auch seiner sozialen Umwelt<br />
(Watzlawick). Dabei werden nicht Informationen<br />
einer äußeren Welt aufgenommen sondern<br />
durch Wahrnehmungen, die Perturbationen<br />
des Systems darstellen, Anpassungsprozesse<br />
ausgelöst (Piaget). Auch Wahrnehmung<br />
ist Konstruktion <strong>und</strong> nicht etwa<br />
Repräsentation objektiv vorliegender Realität.<br />
Wahrnehmung ist durch die interne<br />
Struktur des Individuums best<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> insofern<br />
unbelehrbar. Die Wahrheit von Wirklichkeitskonstruktionen<br />
liegt allein in ihrer Viabilität,<br />
d.h. ihrem (physischen <strong>und</strong> kognitiven)<br />
überlebenssichernden Nutzen. Der Mensch<br />
muss hierbei als eine komplexe, nicht-triviale<br />
Maschine gesehen <strong>und</strong> auch so behandelt<br />
werden (Förster). Dieses konstruktivistische<br />
Menschenbild führt konsequent zum Postulat<br />
der Toleranz gegenüber anderen Wirklichkeiten<br />
sowie zur Übernahme der Verantwortung<br />
des Subjektes für die eigene Wirklichkeit<br />
(von Glasersfeld).<br />
Die <strong>Mathematik</strong> als Wissenschaft tut sich<br />
schwer mit der Epistemologie, die mit einer<br />
konstruktivistischen Sichtweise verb<strong>und</strong>en<br />
ist. Die in der Praxis augenscheinliche Objektivität<br />
mathematischer Wahrheiten ist für das<br />
<strong>Mathematik</strong> treibende Subjekt mit dem Bild<br />
mathematischer Erkenntnis als sozialem<br />
Konstrukt (Lakatos) nur schwer zu vereinbaren.<br />
Die Schulmathematik sollte sich in dieser<br />
Wahrnehmung hier um einiges leichter<br />
tun, insbesondere mit Blick auf die alltäglichen<br />
Erfahrungen mit der individuellen Wissenskonstruktion<br />
<strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer ("Auf<br />
was die Kinder so alles kommen ...").<br />
(2) Konstruktivistische Auffassung(en)<br />
vom <strong>Lernen</strong><br />
Einige zentrale Konsequenzen für eine<br />
Sichtweise vom <strong>Lernen</strong>, die mit einem solchen<br />
konstruktivistischen Menschenbild konform<br />
gehen, sollen <strong>im</strong> Folgenden angeführt<br />
werden. Dabei kommen an dieser Stelle vornehmlich<br />
Aspekte eines "gemäßigten, pädagogischen<br />
Konstruktivismus" zur Sprache.<br />
• <strong>Lernen</strong> ist ein aktiver Prozess der Sinnkonstruktion,<br />
d.h. Wissen kann nicht vermittelt<br />
werden, es muss unter aktiver Anstrengung<br />
vom Individuum geschaffen<br />
<strong>und</strong> erprobt werden.<br />
12<br />
• <strong>Lernen</strong> ist situiert, d.h. der Kontext des<br />
Wissenserwerbs wird mitgelernt, insbesondere<br />
bedeutet dies:<br />
o <strong>Lernen</strong> ist ein Prozess der sozialen<br />
Aushandlung.<br />
o <strong>Lernen</strong> findet in komplexen, ganzheitlichen<br />
Kontexten statt.<br />
• <strong>Lernen</strong> erfolgt individuell <strong>und</strong> auf eigenen<br />
Wegen, d.h. wesentlich selbstgesteuert<br />
<strong>und</strong> nur kaum von außen kontrollierbar.<br />
• <strong>Lernen</strong> hängt wesentlich vom Vorwissen<br />
<strong>und</strong> den Vorerfahrungen des Individuums<br />
ab.<br />
Auf eine detaillierte kritische Reflexion <strong>und</strong><br />
argumentative Begründung dieser didaktischen<br />
Kategorien aus den konstruktivistischen<br />
Gr<strong>und</strong>vorstellungen muss an dieser<br />
Stelle verzichtet werden. Für eine Übersicht<br />
aus pädagogischer Perspektive vgl. Gerstenmeier<br />
& Mandl (1995), Meixner (1997),<br />
Lindemann (1999), Reich (1998), Werning<br />
(1998), <strong>und</strong> aus epistemologischer <strong>und</strong> mathematikdidaktischer<br />
Perspektive Wildt<br />
(1998), Leuders (2003, 2001). Es sei noch<br />
einmal angemerkt, dass es sich hier um keine<br />
"exklusive Theorie" handelt. Viele wohlbekannte<br />
(mathematik-) didaktische Konzepte,<br />
wie etwa die des entdeckenden <strong>Lernen</strong>s,<br />
des ganzheitliches <strong>Lernen</strong>s, des problemlösenden<br />
<strong>Lernen</strong>s, der offenen Aufgaben usw.<br />
können hier verankert werden.<br />
(3) Gestaltungsaspekte für konstruktivistischeLernumgebungen<br />
Im Rahmen der konstruktivistischen Sichtweise<br />
vom <strong>Lernen</strong> (ob sie nun aus einem radikal-konstruktivistischen<br />
Denkansatz oder<br />
einer reformpädagogischen Haltung entspringt)<br />
ergeben sich einige Forderungen an<br />
die Gestaltung von Lernsituationen. Die folgende<br />
Übersicht möchte einen (nicht abschließenden)<br />
Katalog solcher Forderungen<br />
synoptisch darstellen sowie explizieren <strong>und</strong><br />
dabei besonders die Perspektive des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
herausarbeiten, insbesondere<br />
durch Aufzeigen der begrifflichen<br />
Bezüge zwischen typischen konstruktivistischen<br />
Postulaten <strong>und</strong> geläufigen mathematikdidaktischen<br />
Kategorien.<br />
(a) Situiertes <strong>Lernen</strong> in authentischen<br />
Kontexten<br />
Die Kritik der empirischen Psychologie, traditioneller<br />
Schulunterricht vermittle überwiegend<br />
kontextfreies Wissen, das als so ge-
<strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> zwischen "instruktivistisch" <strong>und</strong> "konstruktivistisch"<br />
nanntes "träges Wissen" in Anwendungssituationen<br />
nicht aktiviert werden kann (Mandl,<br />
Gruber & Renkl 1994, Mandl, Prenzel &<br />
Reinmann-Rothmeier 1995, 27), ist der <strong>Mathematik</strong>didaktik<br />
als Kritik an der "Kalkülorientierung"<br />
nicht neu (Borneleit, Danckwerts,<br />
Henn & Weigand 2001, BLK 1997).<br />
Sie hat wieder besonderes Gewicht erlangt,<br />
nachdem die internationalen Leistungsvergleichsstudien<br />
TIMSS <strong>und</strong> PISA deutlich gemacht<br />
haben, dass es deutschen Schülerinnen<br />
<strong>und</strong> Schülern gerade an Anwendungskompetenz<br />
gebricht, während sie in der Kalkülbeherrschung<br />
eher Stärken haben. Viele<br />
der internationalen PISA-Items heben weniger<br />
auf die deklarative Überprüfung curricularer<br />
Wissensbausteine ab als auf die Nutzungsfähigkeit<br />
auch einfachster mathematischer<br />
Modellierungskompetenzen (Leuders<br />
u.a. 2003). Diese Feststellung hat zu einer<br />
noch lange nicht abgeschlossenen Diskussion<br />
über "funktionale mathematische Bildung"<br />
geführt. Sicher scheint zumindest,<br />
dass die Bedeutung von Kontexten bei der<br />
flexiblen Anwendung mathematischen Wissens<br />
zukünftig eine größere (curriculare) Bedeutung<br />
zugemessen wird.<br />
Dieser Lücke zwischen Wissen <strong>und</strong> Handeln<br />
will das Konzept des situierten <strong>Lernen</strong>s begegnen,<br />
welches die Einheit des Gelernten,<br />
des Lernprozesses <strong>und</strong> des Lernkontextes<br />
betont. Demnach gibt es kein abstraktes,<br />
kontextfreies Wissen. Die Kontexte werden<br />
stets mitgelernt <strong>und</strong> als bedeutsame Teile<br />
des Wissensbestandes miterinnert. Diese<br />
Feststellung ist aus mathematischer Sicht zunächst<br />
einmal eine deutliche Absage an die<br />
"Neue <strong>Mathematik</strong>", die der irrigen Meinung<br />
war, die hochpräzisen begrifflichen Konzepte<br />
einer formalisierten <strong>Mathematik</strong> seien günstige<br />
Ausgangspunkte für das Begriffslernen.<br />
Die Bedeutsamkeit des Kontextes gilt eben<br />
nicht nur für mathematische Novizen sondern<br />
ebenso für Experten, die mathematische<br />
Einsichten ja durchaus auf induktiven Wegen<br />
<strong>und</strong> auf der Basis einer großen Zahl von ihnen<br />
bekannten Beispielen gewinnen (Heintz<br />
2000, 150ff). Umso mehr ist der situierte Zugang<br />
für Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler maßgeblich<br />
für erfolgreiches <strong>Lernen</strong>. Da sie nur begrenzt<br />
auf fachliche Vorerfahrungen zurückgreifen<br />
können, ist es wichtig, sinnstiftende<br />
Situationen aus ihrer unmittelbaren Erfahrung<br />
<strong>und</strong> ihrem mittelbaren Weltwissen zu<br />
finden. Diese Rolle können so genannte "Anker"<br />
übernehmen, das sind durchaus gemäßigt<br />
komplexe Handlungssituationen, die auf<br />
mathematische Probleme führen. Dieses<br />
Modell der anchored instruction führt die<br />
Vanderbilt-Gruppe mit ihrem videobasierten<br />
Projekt "The adventures of Jasper Woodbury"<br />
vor (CTGV 1994), bei dem problemlösendes<br />
<strong>Lernen</strong> sich aus realistischen Spielsituationen<br />
entwickelt. Solche narrativen Anker<br />
haben Identifikations-, Motivations- <strong>und</strong><br />
Sinnstiftungsfunktionen.<br />
Derlei Kontexte <strong>und</strong> Anker müssen nicht notwendig<br />
hochkomplexe mathematische Probleme<br />
sein. Es kann sich hier auch um Entscheidungs-<br />
oder Gestaltungsprobleme handeln,<br />
die mit mathematischen Fragestellungen<br />
verb<strong>und</strong>en sind. Es wäre auch ein Missverständnis,<br />
in der Authentizitätsforderung<br />
einen Appell zu einer rein anwendungsorientierten<br />
Schulmathematik zu lesen. Vielmehr<br />
kann hier das in den Niederlanden favorisierte<br />
<strong>und</strong> auf Freudenthal zurückgehende Konzept<br />
einer "realistic math education" als Modell<br />
dienen (vgl. z.B. Westermann 2001, s.a.<br />
www.fi.uu.nl/en).<br />
[Mathematics as a human activity] is<br />
an activity of solving problems, of looking<br />
for problems, but it is also an activity<br />
of organizing a subject matter. This<br />
can be a matter from reality which has<br />
to be organized according to mathematical<br />
patterns if problems from reality<br />
have to be solved. It can also be a<br />
mathematical matter, new or old results,<br />
of your own or others, which<br />
have to be organized according to new<br />
ideas, to be better <strong>und</strong>erstood, in a<br />
broader context, or by an axiomatic<br />
approach (Freudenthal 1971, zit. nach<br />
Gravemejer & Terwel 2000)<br />
"Realistisch" meint hier also nicht Anwendungsorientierung,<br />
sondern eine Orientierung<br />
an verständlichen, einsichtigen ("realisierbaren")<br />
<strong>und</strong> sinnstiftenden Problemen. Diese<br />
können also <strong>im</strong> Sinne der Kategorien mathematischer<br />
Allgemeinbildung, wie sie Winter<br />
(1995) beschreibt, auch der Gr<strong>und</strong>erfahrung<br />
(G2) von <strong>Mathematik</strong> als strukturellem<br />
Denksystem eigener Art zuzurechnen sein.<br />
Wesentlich für die Authentizität der Probleme<br />
ist, dass sie erfahrungsbezogen sind, d.h.<br />
dass Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler sie über einen<br />
gewissen Zeitraum zu ihren eigenen<br />
Problemen machen können <strong>und</strong> dabei ausreichend<br />
Gelegenheiten haben, ausreichend<br />
Erfahrungen mit einer inner- oder außermathematischen<br />
Situation zu sammeln. Solchermaßen<br />
kann der Situiertheitsbegriff <strong>im</strong><br />
Bereich des <strong>Mathematik</strong>lernens verstanden<br />
werden.<br />
(b) Multiple Kontexte <strong>und</strong> Zugangswege<br />
Es sei kritisch angemerkt, dass eines der oft<br />
angeführten Kernpostulate des situierten<br />
13
T<strong>im</strong>o Leuders<br />
Abb. 4: Eine situierte Lernumgebung <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> (www.planemath.com). Schüler lösen mathematische Probleme, die<br />
mit Situationen <strong>und</strong> Personen verb<strong>und</strong>en sind. Sie planen z.B. opt<strong>im</strong>ale Flugrouten <strong>und</strong> lernen den Berufsalltag eines<br />
Piloten kennen. (Das Programm wurde besonders auch für körperbehinderte Schüler aufgelegt)<br />
<strong>Lernen</strong>s, nämlich die Erhöhung des Transferpotentials<br />
durch das <strong>Lernen</strong> in authentischen<br />
Kontexten, zwar evident erscheinen<br />
mag, jedoch nicht allgemein empirisch abzusichern<br />
ist. Eine zumindest theoretisch evidenter<br />
Lösungsansatz zu dieser Transferproblematik<br />
liegt <strong>im</strong> Kriterium der multiplen<br />
Kontexte <strong>und</strong> wird gewöhnlich wie folgt begründet:<br />
Kenntnisse oder Fertigkeiten, deren<br />
Erwerb an einen einzigen Kontext geb<strong>und</strong>en<br />
ist, können womöglich außerhalb dieses<br />
Kontextes nicht aktiviert werden. Hier erhält<br />
das Angebot unterschiedlicher Kontexte<br />
mehrfache lerntheoretische Relevanz:<br />
• Voraussetzung für Transferierbarkeit ist<br />
eine Dekontextualisierung, d.h. das Abstrahieren<br />
von Wissen <strong>und</strong> Fähigkeiten aus<br />
dem Erwerbskontext. Dies geschieht am<br />
besten durch den Vergleich verschiedener<br />
Kontexte, wie es der Ansatz der cognitive<br />
flexibility theory vorschlägt (Spiro 1992)<br />
vorschlägt.<br />
• Tritt zum Angebot multipler Kontexte auch<br />
noch Metakognition hinzu, so können<br />
<strong>Lernen</strong>de mit dem Wissen auch Kenntnisse<br />
über die Anwendungsbedingungen<br />
dieses Wissens erwerben.<br />
• Verschiedene Kontexte stellen auch verschiedene<br />
Zugangswege dar. Da dem<br />
<strong>Lehren</strong>den <strong>—</strong> wie es oft vorgeschlagen<br />
wird <strong>—</strong> nur bedingt zuzumuten ist, verschiedene<br />
Lernstile <strong>und</strong> Lerntypen in seiner<br />
Lerngruppe zu erheben <strong>und</strong> den Unterricht<br />
darauf abzust<strong>im</strong>men oder gar zu<br />
individualisieren, weist das Angebot mul-<br />
14<br />
tipler Kontexte einen Weg, den individuell<br />
unterschiedlichen Lernerstrukturen (Vorwissen,<br />
Präferenzen, affektive Identifikation<br />
mit den Situationen etc.) eine Vielfalt<br />
von viablen Einstiegen anzubieten.<br />
In der Didaktik der <strong>Mathematik</strong> sind solche<br />
Ansätze besonders relevant <strong>im</strong> Bereich der<br />
Bildung mathematischer Begriffe. Der wesentliche<br />
unterrichtliche Aspekt mathematischer<br />
Begriffe ist nämlich weder der terminologische<br />
noch der formal-definitorische, sondern<br />
vielmehr der Aspekt der Abgrenzung<br />
("de-fini-tion") von Eigenschaften innerhalb<br />
einer hinreichend großen Erfahrungsbasis.<br />
Einen Begriff haben <strong>Lernen</strong>de erst dann gebildet,<br />
wenn sie Beispiele <strong>und</strong> Gegenbeispiele,<br />
also multiple Kontexte der Begriffsanwendung,<br />
begründet diskutieren können.<br />
Auch die Verwendung verschiedener Darstellungsformen<br />
(grafisch, verbal, enaktiv) <strong>und</strong><br />
das Ansprechen verschiedener Modalitäten<br />
(visuell, auditiv) <strong>und</strong> der Wechsel zwischen<br />
ihnen kann als Generierung multipler Kontexte<br />
aufgefasst werden. Dabei ist vor naiven<br />
Theorien der Addition von Sinneskanälen<br />
oder der Höherwertigkeit realer gegenüber<br />
symbolischer Repräsentationen zu warnen<br />
(Weidenmann 1994). Das technische Medium<br />
(Video, Audio, Text) ist für die erfolgreiche<br />
Gestaltung von Lernumgebungen weniger<br />
relevant als die inhaltliche Strukturierung<br />
(z.B. Aspekte des Funktionsbegriffs). <strong>und</strong> die<br />
"instruktionale Strategie" (z.B. entdeckendes<br />
<strong>Lernen</strong>) (ebd.)
<strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> zwischen "instruktivistisch" <strong>und</strong> "konstruktivistisch"<br />
Abb. 5: Ausschnitt aus dem Brückenkurs "Matheführerschein" (Prototyp). Studierende können Informationen ("Tipps")<br />
aus einer Bibliothek abrufen. Alle Konzepte (hier: Proportionalität) sind in verschiedenen, frei wählbaren Darstellungsformen<br />
verfügbar (hier: sprachlich, numerisch, grafisch, symbolisch)<br />
(c) Sozialer Kontext<br />
Der soziale Lernkontext muss nach den vorangehenden<br />
Ausführung zum situativen <strong>Lernen</strong><br />
als ein wesentlicher Bestandteil der<br />
Lernsituation aufgefasst werden <strong>—</strong> hier<br />
macht auch das Fach <strong>Mathematik</strong> keine Ausnahme.<br />
Es wäre ein Irrtum, zu glauben, <strong>im</strong><br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht würde die Viabilität von<br />
Konstrukten (z.B. "Minus mal Minus ist<br />
Plus?") durch Instrumente wie Beweis (z.B.<br />
durch Ausrechnen) oder formale Plausibilität<br />
(z.B. Permanenzprinzip) festgestellt. So<br />
wichtig die Kenntnis der epistemologischen<br />
Sonderrolle der <strong>Mathematik</strong> innerhalb der<br />
Wissenschaften als Zielperspektive mathematischer<br />
Bildung ist, für die <strong>Lernen</strong>den entwickelt<br />
sich dieses Bild allenfalls allmählich<br />
<strong>und</strong> über viele Jahre hinweg. Viel wichtiger<br />
für Konstruktion von Wissen ist zunächst die<br />
Aushandlung von Strategien <strong>und</strong> Begriffen<br />
durch die Kommunikation in der Lerngruppe.<br />
"Ich mache es so, wie machst du es, so machen<br />
wir es ab", so charakterisieren Gallin &<br />
Ruf (1998) den kommunikativen Dreischritt,<br />
in dem solche Aushandlungsprozesse <strong>im</strong><br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht stattfinden, in denen<br />
die Sicht der <strong>Lernen</strong>den konsequent wahrgenommen<br />
wird. An erster Stelle steht hierbei<br />
die "subjektive Positionsbest<strong>im</strong>mung in<br />
der individuellen Sprache des Verstehens"<br />
(ebd.). Tragfähige Konzepte <strong>und</strong> Begriffe in<br />
der konventionellen "Sprache des Verstandenen"<br />
entstehen erst durch den Austausch.<br />
In diesem epistemologischen Modell werden<br />
die aktuellen Erkenntnisse der Soziologie zur<br />
sozialen Konstruktion mathematischer Erkenntnisse<br />
(vgl. z.B. Heintz 2000) in einem<br />
didaktischen Unterrichtskonzept konsequent<br />
berücksichtigt <strong>und</strong> umgesetzt.<br />
<strong>Lernen</strong> <strong>im</strong> sozialen Kontext kann sich also<br />
nicht innerhalb eines Unterrichts vollziehen,<br />
der allein dem Vermittlungsparadigma folgt.<br />
Zu einer konstruktivistischen Lernumgebung<br />
gehören somit <strong>im</strong>mer Arrangements kooperativen<br />
<strong>Lernen</strong>s. Aus der großen Vielfalt<br />
möglicher Ansätze <strong>und</strong> Methodenbausteine,<br />
die es hier bereits gibt (<strong>Lernen</strong> durch <strong>Lehren</strong>,<br />
Projektunterricht, Gruppenpuzzle), schöpft<br />
15
T<strong>im</strong>o Leuders<br />
der heutige <strong>Mathematik</strong>unterricht noch zu<br />
wenig.<br />
Zum sozialen Kontext gehört nicht allein die<br />
symmetrische Kommunikation zwischen den<br />
<strong>Lernen</strong>den, sondern auch die asymmetrische<br />
Kommunikation mit einem Experten. Diese<br />
Rolle können Lehrer, aber auch externe<br />
Fachleute einnehmen. Ein solcher Experte ist<br />
mehr als nur "Lernmoderator" oder "Lerncoach",<br />
wie dies in extrem-konstruktivistischen<br />
didaktischen Ansätzen gefordert wird.<br />
Er ist auch Träger von Expertenwissen, das<br />
er nach Bedarf zur Verfügung stellen kann.<br />
Neben eher deklarativ mitteilbarem Fachwissen<br />
gibt es auch komplexes strategisches<br />
Expertenwissen, das sich allerdings nicht<br />
einfach mitteilen lässt. In der <strong>Mathematik</strong><br />
geht es hier vor allem um prozessbezogene<br />
Fähigkeiten des Problemlösens, des Modellierens<br />
oder des mathematischen Argumentierens.<br />
Solche Fähigkeiten können nur situiert<br />
<strong>und</strong> in der Interaktion mit dem Experten<br />
von den <strong>Lernen</strong>den aufgebaut ("konstruiert")<br />
werden. Das Konzept der cognitive apprenticeship<br />
greift hier das Modell des Erlernens<br />
beruflicher Fertigkeiten in Interaktion zwischen<br />
Lehrling <strong>und</strong> Meister auf. Der Schüler<br />
lernt hier durch Nachahmung in einfachen Situationen<br />
<strong>und</strong> wird vom Experten an <strong>im</strong>mer<br />
anspruchsvollere Situationen herangeführt,<br />
die er <strong>im</strong>mer selbstständiger löst, während<br />
sich der Experte <strong>im</strong>mer mehr zurückzieht<br />
(fading). Das Attribut cognitive deutet allerdings<br />
an, dass das Explizitmachen, die Versprachlichung<br />
<strong>und</strong> die Reflexion der kognitiven<br />
Handlungen wesentlicher Bestandteil<br />
des Verfahrens sind.<br />
Dies führt auf den Aspekt der Metakognition,<br />
der ebenfalls verdient, als besonderes Kriterium<br />
genannt <strong>und</strong> näher ausgeführt zu werden.<br />
Dies geschieht hier allenfalls aus Platzgründen<br />
nicht. Durch die Reflexion ist der<br />
<strong>Lernen</strong>de besser in der Lage, Wissen über<br />
die unmittelbare Situation hinaus zu strukturieren<br />
<strong>und</strong> sich allgemeine Problemlösungsstrategien<br />
anzueignen bzw. diese zu verfeinern.<br />
Lernumgebungen sollten daher die Artikulation<br />
<strong>und</strong> Reflexion der Problemlösungsprozesse<br />
unterstützen. Im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
ist Reflexion nicht mit dem fragendentwickelnden<br />
Unterrichtsgespräch abgeschlossen,<br />
ja sie beginnt nicht einmal wirklich<br />
damit. Echte Reflexion findet erst statt, wenn<br />
Schüler hierzu Spielräume erhalten, etwa<br />
über individuelle reflektierende Aufzeichnungen<br />
in Forschungsheften oder Portfolios.<br />
Die Übertragung der sozialen Aspekte des<br />
<strong>Lernen</strong>s auf den Bereich des mediengestützten<br />
<strong>Lernen</strong>s erweist sich als besonders prob-<br />
16<br />
lematisch. In wie weit kann <strong>und</strong> darf die Interaktion<br />
mit einem personalen Gegenüber<br />
elektronisch kompensiert oder ersetzt werden?<br />
Hiermit befasst sich der spätere Abschnitt<br />
zur Ebene (4).<br />
(d) Selbsttätigkeit <strong>und</strong> Selbststeuerung<br />
<strong>Lernen</strong>, verstanden als aktiver, individueller<br />
Konstruktionsprozess, setzt ein hohes Maß<br />
an Selbsttätigkeit voraus. Diese Selbsttätigkeit<br />
umfasst Fähigkeiten der Selbstregulation<br />
(Selbststeuerung, Selbstkontrolle, Selbstbewertung,<br />
Selbstbest<strong>im</strong>mung), aber auch der<br />
Selbstmotivation. Die D<strong>im</strong>ension der Selbstständigkeit<br />
findet ihre Begründung allerdings<br />
nicht exklusive in konstruktivistischen Lerntheorien,<br />
sondern ist ebenso aus bildungstheoretischen<br />
Zusammenhängen ("Mündigkeit")<br />
<strong>und</strong> qualifikationstheoretischen Überlegungen<br />
("Schlüsselqualifikation für lebenslanges<br />
<strong>Lernen</strong>") abzuleiten (Huber 2000).<br />
Selbstständigkeit als Ziel <strong>und</strong> zugleich als<br />
Determinante schulischer Bildung <strong>und</strong> Erziehung<br />
hat in den letzten Jahren eine hohe Valenz<br />
erhalten. Dies lässt sich ebenso an aktuellen<br />
Richtlinientexten wie an einer Vielzahl<br />
von Modellprojekten, die das Kürzel für<br />
"Selbstlernen" <strong>im</strong> Namen tragen, festmachen<br />
(z.B. SelMA www.selma-mathe.de, SelGO; s.<br />
LfS 2003, www.selgo.de).<br />
Der oft verwendete Begriff des "Selbstlernens"<br />
ist allerdings wieder ebenso modisch<br />
wie missverständlich, denn <strong>im</strong> Gr<strong>und</strong>e ist jedes<br />
<strong>Lernen</strong> Selbstlernen. Jeder Mensch<br />
muss "selbst lernen", niemand kann "gelernt<br />
werden". Gemeint ist meist: <strong>Lernen</strong> mit einem<br />
hohen Grad an Selbstregulation<br />
<strong>und</strong>/oder Selbstbest<strong>im</strong>mung. Differenzierter<br />
ausgedrückt kann sich Selbstständiges <strong>Lernen</strong><br />
beziehen auf Setzung von Zielen <strong>und</strong><br />
Auswahl von Themen, auf die Arbeitsmethode,<br />
auf die Arbeitsorganisation <strong>und</strong> auf die<br />
Bewertung der Ergebnisse. Gänzlich zu trennen<br />
ist Selbstständiges <strong>Lernen</strong> vom Begriff<br />
des individualisierten <strong>Lernen</strong>s (vgl. Huber<br />
2000).<br />
Damit eine solche Selbstregulation möglich<br />
ist, muss eine Lernumgebung hinreichend<br />
viele Freiheitsgrade besitzen. Gerade bei<br />
mathematischen Aufgaben ist das Kriterium<br />
Offenheit, sei es bezüglich der Ergebnisse<br />
oder bezüglich der Vorgehensweise, ein wesentliches.<br />
Lange schon hat man erkannt,<br />
dass geschlossene Aufgaben mit einer eindeutigen<br />
Lösungen oder nur einem einzigen<br />
(akzeptierten) Lösungsweg Prozesse der<br />
Selbststeuerung <strong>und</strong> Reflexion von vornherein<br />
unterdrücken. Die Darbietung von offenen<br />
Problem allein reicht aber nicht aus,
<strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> zwischen "instruktivistisch" <strong>und</strong> "konstruktivistisch"<br />
denn weitere Merkmale der Lernumgebung<br />
können trotz struktureller Offenheit der Problemstellung<br />
eine wirkliche Selbstregulation<br />
verhindern.<br />
Zudem gilt es, direktive Komponenten zurückzunehmen.<br />
In der Lernumgebung Klassenraum<br />
können dies offene <strong>und</strong> verdeckte<br />
Lehrerbewertungen sein, aber auch zu ausführliche<br />
Erklärungen ("When teaching kills<br />
learning"). In einer computergestützten Lernumgebung<br />
ist das Maß der Selbstregulation<br />
empfindlich von den Kontrollmechanismen<br />
des Programms abhängig. Dazu mehr <strong>im</strong> folgenden<br />
Abschnitt.<br />
Zu einer Selbstständigkeit fördernden Lernumgebung<br />
gehören auch Instrumente, die<br />
den <strong>Lernen</strong>den zur Eigenaktivität anregen<br />
<strong>und</strong> ihn dabei unterstützen, diese aufrecht zu<br />
erhalten. Gerade bei offenen Lernsituationen<br />
ist festzustellen, dass <strong>Lernen</strong>de nicht in der<br />
Lage sind, das Lernangebot in seiner ganzen<br />
Breite zu nutzen.<br />
(4) Konstruktivistische internetgestützte<br />
Lernumgebungen<br />
Während der vorige Abschnitt eher generelle<br />
Elemente einer konstruktivistischen Lernumgebung<br />
anführt, soll <strong>im</strong> Folgenden der Frage<br />
nach der Umsetzung <strong>im</strong> Rahmen einer internetgestützten<br />
(oder allgemeiner: computergestützten)<br />
Lernumgebung nachgegangen<br />
werden. Auf welche (auch durchaus verschiedene)<br />
Weisen können die Kriterien des<br />
vorigen Abschnitts verwirklicht werden?<br />
Das <strong>Internet</strong> als computerbasierte, interaktive<br />
<strong>und</strong> hypermediale Welt weist vielerlei Affinitäten<br />
zu den Merkmalen konstruktivistischer<br />
Lernumgebungen, die <strong>im</strong> vorigen Abschnitt<br />
herausgestellt wurden, auf. Solche Merkmale<br />
sind u.a. Offenheit, Authentizität, Interaktivität,<br />
Kommunikativität <strong>und</strong> Adaptivität. Auf<br />
diese Affinität gründen sich die Hoffnungen,<br />
dass das <strong>Internet</strong> eine qualifizierte Plattform<br />
für das computerunterstützte <strong>Lernen</strong> darstellt.<br />
Jedes dieser Merkmale ist allerdings<br />
nicht per se förderlich <strong>im</strong> pädagogischen<br />
Nutzungskontext, vielmehr gilt es die Merkmale<br />
des <strong>Internet</strong>s sorgfältig auf ihre didaktischen<br />
Implikationen hin zu reflektieren.<br />
(a) Offenheit<br />
Das Kriterium der Selbststeuerung in einer<br />
Lernumgebung setzt eine gewisse Offenheit<br />
des Systems, mit dem der Nutzer umgeht,<br />
voraus. Ein Blatt Papier ist so offen wie der,<br />
der darauf schreibt, ein Lehrer ist offen in<br />
Abhängigkeit von seinem pädagogischen<br />
Selbstverständnis <strong>und</strong> natürlich von der jeweiligen<br />
Situation; ein mathematisches Problem<br />
ist offen je nach Aufgabenstellung <strong>und</strong><br />
unterrichtsmethodischer Einbettung. Eine<br />
computerbasierte Lernumgebung ist nur<br />
dann offen, wenn sie so konzipiert <strong>und</strong> programmiert<br />
wurde. Bei technischen Systemen<br />
steigt jedoch die Komplexität <strong>und</strong> damit auch<br />
der Erstellungsaufwand exponentiell mit dem<br />
Grad der geforderten Offenheit. Man mag<br />
vermuten, dass die technische Begrenztheit<br />
auch ein Gr<strong>und</strong> für die reduktionistische Eingleisigkeit<br />
des programmierten <strong>Lernen</strong>s war.<br />
Aber auch heute noch, viele Jahrzehnte später,<br />
scheitern elektronische Systeme (entgegen<br />
früherer opt<strong>im</strong>istischer Prognosen) daran,<br />
offene Rückmeldungen des Benutzers zu<br />
"verstehen". Die Lücke zwischen Syntax <strong>und</strong><br />
Semantik klafft weiterhin <strong>und</strong> es ist ein nichttriviales<br />
Problem, die potentielle Offenheit,<br />
die der Kommunikation zwischen einem pädagogisch<br />
erfahrenen <strong>Lehren</strong>den <strong>und</strong> einem<br />
<strong>Lernen</strong>den innewohnt, elektronisch zu s<strong>im</strong>ulieren<br />
(dies wäre sozusagen der pädagogische<br />
Turing-Test). In der Frage der Machbarkeit<br />
<strong>und</strong> Wünschbarkeit elektronischer<br />
S<strong>im</strong>ulation menschlicher Kommunikation<br />
(etwa der eines Lehrers) gibt es zwischen<br />
Apologeten der Künstlichen Intelligenz <strong>und</strong><br />
ihren Kritikern scharfe Auseinandersetzungen.<br />
Es gibt ernst zu nehmende St<strong>im</strong>men,<br />
die das Forschungsziel, solche Verstehensprozesse<br />
<strong>im</strong> Computer zu <strong>im</strong>plementieren,<br />
als moralisch nicht vertretbar apostrophieren<br />
(Weizenbaum 1977).<br />
Unter den verschiedenen Strategien, computerunterstütztes<br />
<strong>Lernen</strong> offener zu gestalten,<br />
lassen sich u.a. die folgenden ausmachen<br />
(<strong>und</strong> vielfältige Mischformen, s. z.B. Schulmeister<br />
2002, 263f).<br />
(i) Lernwege können flexibler werden durch<br />
maschinell-algorithmische Lösungen, wie<br />
die so genannten intelligenten tutoriellen<br />
Systeme (ITS), die gleichsam ein<br />
Max<strong>im</strong>um an Adaptivität <strong>und</strong> Interaktivität<br />
(s.u.) aus dem Computer herauskitzeln.<br />
Dieser Weg folgt dem Gr<strong>und</strong>prinzip, Lernprozesse<br />
technologisch zu opt<strong>im</strong>ieren <strong>und</strong><br />
zu kontrollieren. Die Möglichkeiten, über<br />
eine Analyse des Lernerverhaltens dynamische<br />
Lernermodelle zu bilden, <strong>und</strong> auf<br />
dieser Gr<strong>und</strong>lagen Lernangebote zu steuern,<br />
haben sich jedoch als sehr beschränkt<br />
herausgestellt (Kerres 2001, 72).<br />
Dieser Ansatz ist insbesondere mit konstruktivistischen<br />
Vorstellungen vom Lernprozess<br />
nicht vereinbar <strong>und</strong> wird an dieser<br />
Stelle nicht weiter verfolgt.<br />
17
T<strong>im</strong>o Leuders<br />
(ii) Durch das Einbinden von menschlichen<br />
Partnern durch reale oder virtuelle<br />
Kommunikation <strong>und</strong> Zusammenarbeit<br />
wird der Computer einer inhaltlichen<br />
Rückmeldung enthoben <strong>und</strong> ein Mensch<br />
übern<strong>im</strong>mt diese Aufgabe. Mehr hierzu<br />
weiter unten unter (d).<br />
An dieser Stelle sollen die folgenden Lösungsansätze<br />
näher betrachtet werden:<br />
(iii) Öffnung von Lernwegen durch offene<br />
Aufträge<br />
(iv) Öffnung von Lernwegen durch Hypertextformate<br />
(v) Öffnung der Wissensbasis durch Zugriff<br />
auf das <strong>Internet</strong><br />
(vi) insbesondere in der <strong>Mathematik</strong>: Nutzung<br />
offener Werkzeuge (z.B. CAS)<br />
zu (iii):<br />
Offene Arbeitsaufträge können vom Computer<br />
zwar übermittelt, aber die Arbeitsergebnisse<br />
der <strong>Lernen</strong>den nur äußerst beschränkt<br />
evaluiert werden. Nur wenige Systeme<br />
(z.B. Problemlösemodule, die Konstruktionsverfolgung<br />
bei Cinderella oder die bislang<br />
nicht verwirklichten so genannten<br />
PeCAS (Kutzler 2001)) begleiten den Nutzer<br />
inhaltlich oder heuristisch auf dem Problemlöseweg.<br />
Ein ganz anderer Weg, mit offenen, nicht kalkulierbaren<br />
Ergebnissen umzugehen, ist wiederum<br />
die Integration kommunikativer Komponenten,<br />
wie unter (ii) angedeutet <strong>und</strong> weiter<br />
unten unter (d) beschrieben.<br />
zu (iv):<br />
Eine weitere, oft anzutreffende Lösung für<br />
das Offenheitsproblem besteht in der Konstruktion<br />
von Hypertext-Umgebungen, die<br />
man bei Einbindung von anderen Medien als<br />
Texten (Bilder, Video, etc.) auch als Hypermedia-Umgebungen<br />
bezeichnet. Das Hypertextprinzip<br />
ist wesentlich älter als seine Verwendung<br />
<strong>im</strong> Computerbereich (Burbules &<br />
Callister 1996), hat aber mit dem World-<br />
Wide-Web eine enorme Aufmerksamkeit erlangt.<br />
Auch in pädagogischen Kontexten treffen<br />
Hypertextsysteme auf zunehmendes Interesse<br />
(Tergan 1997, Blumstengel 1998).<br />
Die netzartige Wissensrepräsentation des<br />
Hypertextformates übt eine große Faszination<br />
auf diejenigen aus, die sich mit menschlicher<br />
Kognition beschäftigen; <strong>—</strong> man spricht<br />
hier auch von der so genanten "kognitiven<br />
Plausibilität" von Hypertext. Während der<br />
Computer als linear-algorithmisch arbeiten-<br />
18<br />
der Apparat das kybernetische Bild des Menschen<br />
als informationsverarbeitende Maschine<br />
<strong>und</strong> damit das instruktionistische Paradigma<br />
repräsentiert, ist die Netzmetapher<br />
dem konstruktivistischen Bild menschlicher<br />
Kognition wesentlich näher. Hierzu haben<br />
auch die wachsende Popularität erlangenden<br />
Erkenntnisse der Neurobiologie beigetragen:<br />
Das kognitive System des Menschen ist<br />
schon physiologisch als Netz organisiert.<br />
Wissen ist verteilt in Aktivitätsmustern <strong>und</strong><br />
nicht etwa als Repräsentation einer externen<br />
Realität gespeichert. Auch die psychologischen<br />
Erklärungen für Wissensrepräsentation<br />
bedienen sich zunehmend der Metapher<br />
der Vernetzung. Vannevar Bushs prophetischer<br />
Brückenschlag (1945) vom menschlichen<br />
Gehirn zum memex, dem interaktiven<br />
<strong>und</strong> vernetzten Wissensspeicher, scheint <strong>im</strong><br />
<strong>Internet</strong> als "anarchischem, kognitivem Superorganismus"<br />
Wirklichkeit geworden zu<br />
sein (Barabasi 2002).<br />
Welche Strukturen können hypertextartige<br />
Lernumgebungen haben? Neben den inhaltstragenden<br />
Modulen (Knoten) enthält ein Hypertext<br />
eine Zahl von Verbindungen (Links,<br />
Kanten), die Informationen über den semantischen<br />
oder argumentativen Zusammenhang<br />
der Knoten tragen. Dabei können äußerst unterschiedliche,<br />
einfache <strong>und</strong> komplexere<br />
Strukturen repräsentiert werden (Abb. 6), die<br />
man alle mit den mathematischen Begrifflichkeiten<br />
gerichteter Grafen (Digrafen) beschreiben<br />
kann:<br />
Abb. 6: Verschiedene Strukturen eines Hypertextes<br />
• Ketten (bei klassischen linearen Texten)<br />
• Bäume (z.B. bei klassischen linearen Texten<br />
mit Fußnoten)<br />
• kreisfreie Grafen (z.B. bei Lernprogrammen<br />
ohne Wiederholung)<br />
• Grafen mit Kreisen (z.B. für hermeneutische<br />
Textzugänge)<br />
• Grafen mit Clusterstrukturen (z.B. bei<br />
mehreren, unabhängigen Lernbereichen)
<strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> zwischen "instruktivistisch" <strong>und</strong> "konstruktivistisch"<br />
• Konnektoren (hochverb<strong>und</strong>ene Knoten,<br />
z.B. bei Navigation- <strong>und</strong> Übersichtsseiten)<br />
• Grafen mit gewichteten Links (z.B. Navigationsempfehlungen,<br />
ggf. adaptiv)<br />
• u.v.a.m.<br />
Die hier angedeuteten Strukturen sind bei<br />
weitem nicht erschöpfend. Eine semantische<br />
Analyse von Links legt eine kaum zu überblickende<br />
Zahl von Typen frei (unidirektionale<br />
Links: "ist Teil von", "ist ein Gr<strong>und</strong> für", "ist<br />
eine Erläuterung zu ....", bidirektionale Links:<br />
"ist verwandt mit...", vgl. Schulmeister 1996,<br />
254).<br />
Im Gegensatz zu linear zu rezipierenden<br />
Texten weisen hypertextuelle Strukturen einen<br />
hohen Grad struktureller Komplexität<br />
auf. Damit eignen sie sich sowohl zur Darstellung<br />
komplexer Zusammenhänge (situative,<br />
multiple Kontexte) als auch für Lernumgebungen<br />
mit hinreichend vielen Freiheitsgraden<br />
für eine hohe Selbstregulation des<br />
<strong>Lernen</strong>den. Die Anlage der Linkstruktur einer<br />
Lernumgebung best<strong>im</strong>mt wesentlich die Variation<br />
<strong>und</strong> die Beschränkungen möglicher<br />
Lernwege. Der entscheidende Offenheitsaspekt<br />
<strong>und</strong> damit die Möglichkeit zur Selbststeuerung<br />
des <strong>Lernen</strong>den ist die Tatsache,<br />
dass dieser jederzeit selbst entscheidet, wohin<br />
er verzweigen möchte. Der Lernweg eines<br />
Nutzers in einer hypermedialen konstruktivistischen<br />
Lernumgebung gleicht eher dem<br />
Abb. 7: Struktur der Lernumgebung "Mathe-Führerschein"<br />
Bahnen eines Pfades durch unbekanntes<br />
Gelände, als dem geradlinigen Marsch über<br />
eine gepflasterte Straße.<br />
Ein Beispiel für eine solche Hypertext-<br />
Lernumgebung, die dem Lerner in hohem<br />
Maße die Kontrolle über seinen Lernweg zubilligt<br />
(<strong>und</strong> zugleich zumutet) ist der bereits<br />
erwähnte "Mathe-Führerschein". Hier handelt<br />
es sich um einen geplanten Brückenkurs für<br />
Studierende der Ingenieurwissenschaften an<br />
Fachhochschulen (Matheführerschein 2003),<br />
der auch von Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern der<br />
gymnasialen Oberstufe genutzt werden kann.<br />
Die <strong>Lernen</strong>den steigen hier über vergleichsweise<br />
komplexe, dem ingenieurwissenschaftlichen<br />
Arbeitsfeld nahestehende Probleme<br />
(Bereich "Anwendungen") ein <strong>und</strong> können<br />
dann je nach Bedarf <strong>und</strong> Interesse verzweigen<br />
zu: auf wenige Kompetenzen <strong>und</strong> Bereiche<br />
fokussierende Probleme (Bereich "Problemlösen"),<br />
oder auf elementare "Fertigkeiten".<br />
Nur zu letzteren gibt es Lösungsrückmeldungen<br />
vom System. Die anderen Ebenen<br />
liefern Lösungshinweise oder Beispiellösungen.<br />
Zudem besteht auf jeder Ebene die<br />
Möglichkeit, geeignete mentale <strong>und</strong> mediale<br />
Werkzeuge zu nutzen: Einträge in eine Bibliothek,<br />
strategische Hilfen zum Problemlösen,<br />
mathematische Werkzeuge <strong>und</strong> in einem<br />
späteren Stadium eine individualisierte<br />
Arbeitsmappe. Die Gesamtstruktur wird in<br />
Abb. 7 illustriert.<br />
19
T<strong>im</strong>o Leuders<br />
Abb. 8: Darstellungsformen: "sprachlich/situativ", "grafisch",<br />
"numerisch" <strong>und</strong> "symbolisch"<br />
Die Konstruktion dieser Umgebung folgt den<br />
folgenden Prinzipien:<br />
• Offene Navigation: Jeder <strong>Lernen</strong>de kann<br />
jederzeit überhall hin gehen. Es gibt keine<br />
Lenkung durch das System. Die Vorschläge<br />
an den Lerner sind jedoch strukturiert,<br />
z.B. durch Icons, die die Darstellungsform<br />
des Bibliotheksangebots oder<br />
des Problems charakterisieren. Die D<strong>im</strong>ensionen<br />
"sprachlich/situativ", "gra-<br />
•<br />
fisch", "numerisch" <strong>und</strong> "symbolisch" ziehen<br />
sich durch das ganze System.<br />
Universelle Werkzeuge: Wenige, allgemein<br />
nutzbare mathematische Werkzeuge;<br />
keine Spezialtools zur Lösung einzelner<br />
Probleme<br />
• Einstieg von oben: Komplexe Probleme<br />
führen in mathematische Fragen ein.<br />
Training in Gr<strong>und</strong>fertigkeiten ist instrumentell.<br />
• Verzweigende Vielfalt statt Kursprinzip:<br />
Der Lerner entscheidet über seine<br />
Lernwege <strong>und</strong> Lernziele. Die Lernervoraussetzungen<br />
sind unterschiedlich.<br />
• Selbsteinschätzung vor Diagnose: Eine<br />
"Fern"diagnose in Form eines Selbstdiagnosetestes<br />
bietet das System nur auf<br />
Anfrage an. Das Lernermodell erwächst<br />
pr<strong>im</strong>är aus der Selbsteinschätzung, nicht<br />
aus der Beurteilung des Systems.<br />
• Reflexionsanregende Instrumente: Die<br />
individuelle Wahl von Darstellungsformen,<br />
die Arbeitsmappe, der Strategienpool sowie<br />
das Selbstseinschätzungsmodul regen<br />
den <strong>Lernen</strong>den an, seine Kompetenzen<br />
bewusst zu reflektieren.<br />
Das Problem, das man sich durch die Offenheit<br />
der möglichen Lernwege einhandelt, ist<br />
die mit der Navigation verb<strong>und</strong>ene, so genannte<br />
kognitive Überlastung. Das notorische<br />
Phänomen bei der Rezeption von Hypertexten,<br />
das gleichsam exponentiell mit ihrer<br />
Konnektivität anwächst, lautet "lost in hyperspace".<br />
Die Desorientierung des <strong>Lernen</strong>den<br />
über seine Herkunft, seine aktuelle Position<br />
<strong>und</strong> seine möglichen Wege sowie die<br />
fehlende Übersicht über seinen Lernweg <strong>im</strong><br />
Gesamtkontext können zu Frustration <strong>und</strong><br />
Lernabbruch führen. Dies kann durch den<br />
Einsatz von unterschiedlichen Navigationshilfen<br />
vermieden werden (vgl. Blumstengel<br />
1998). Man beachte die metaphorische Fantasie<br />
bei der Bezeichnung solcher Hilfen:<br />
20<br />
• Netzwerke <strong>und</strong> Landkarten (z.B. als advanced<br />
organizer). Mit ihnen kann der<br />
Lerner <strong>im</strong> Prinzip eine globale Lernplanung<br />
in einer komplexen Struktur durchführen.<br />
Dies stellt jedoch hohe Anforderungen.<br />
Solche cognitive maps können<br />
als semantisches Netz sogar zum Konstruktionsprinzip<br />
einer modularen Wissensbasis<br />
werden (Seeger 2003).<br />
• Tourvorschläge (guided tours, trails) sind<br />
vorgefertigte lineare Durchgänge durch<br />
einen Hypertext. Sie können als didaktischer<br />
roter Faden dienen <strong>und</strong> Lerner bei<br />
der Navigation unterstützen.<br />
• Fischaugensichten (fisheye views) zeigen<br />
die lokale Position <strong>und</strong> die nähere Umgebung<br />
an.<br />
• Leseprotokolle (history, backtracking) geben<br />
Informationen über den zurückliegenden<br />
Weg. Solche Informationen lassen<br />
sich auch in die Knoten integrieren.<br />
• Bearbeitungskennzeichen (breadcrumbs)<br />
deuten an, ob <strong>und</strong> wie oft man eine Seite<br />
besucht hat, ggf. auch in welche Richtung<br />
man sie be<strong>im</strong> letzten Mal verlassen hat<br />
(Ariadnefäden).<br />
• Navigationsempfehlungen unterstützen<br />
den <strong>Lernen</strong>den bei der Linkauswahl (next<br />
best).<br />
• Lesezeichen (bookmarks) ermöglichen<br />
dem Lerner, ausgewählte Stellen zu sammeln.<br />
Diese Funktionen lassen sich vielfältig kombinieren<br />
<strong>und</strong> erweitern. Auch können sie<br />
durch virtuelle, grafische Repräsentationssysteme<br />
dargestellt werden (virtuelle 3D-<br />
Welten, Avatare).<br />
Viele Lernumgebungen lassen sich hinsichtlich<br />
des hier explizierten Offenheitskriteriums<br />
klassifizieren:<br />
• Welche Topologie der Lernwege erlaubt<br />
die Lernumgebung?<br />
• Welche Navigationswerkzeuge unterstützten<br />
den <strong>Lernen</strong>den?<br />
• Welche Möglichkeiten der eigenen Mitgestaltung<br />
hat der <strong>Lernen</strong>de?<br />
Beispiele <strong>und</strong> Erfahrungen mit komplexeren<br />
hypermedialen Lernumgebungen für den<br />
schulischen <strong>Mathematik</strong>unterricht sind allerdings<br />
rar. Hinzuweisen ist auf ein Modellprojekt<br />
des Landes NRW, das in Kooperation<br />
mit Schulbuchverlagen <strong>im</strong> Rahmen des Projektes<br />
SelGO ("Selbstlernen in der gymnasialen<br />
Oberstufe") eine Lernplattform erstellt<br />
<strong>und</strong> erprobt (www.selgo.de). Im Bereich der
<strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> zwischen "instruktivistisch" <strong>und</strong> "konstruktivistisch"<br />
universitären Lehre gibt es hier bereits mehr<br />
Erfahrungen (s. z.B. Schulmeister 2003).<br />
Die <strong>im</strong>mer noch stark dominierende Linearität<br />
hypermedialer Lernumgebungen ("Umblättermaschinen")<br />
ist wohl auf verschiedene<br />
Gründe zurückzuführen:<br />
• Auf die mangelnde Erfahrungen zum Umgang<br />
des <strong>Lernen</strong>den mit komplexen Hypertexten<br />
<strong>und</strong> das folglich fehlende Zutrauen.<br />
• Auf die Furcht vor dem "lost-inhyperspace"-Phänomen.<br />
Diese Furcht ist<br />
nicht unbegründet, vor allem <strong>im</strong> Fall noch<br />
unerfahrener Nutzer.<br />
• Auf die fehlende Erfahrung vieler Autoren<br />
mit dem Schreiben von Hypertext. Hypertexte<br />
bedürfen besonderer Aufmerksamkeit<br />
<strong>im</strong> Bereich der Modularisierung. Die<br />
Möglichkeit der unterschiedlichen Lernwege<br />
macht eine so genannte Dekontextualisierung<br />
<strong>und</strong> Instrumente zur Schaffung<br />
von semantischer Kohärenz nötig.<br />
Diese Probleme treten vor allem dann auf,<br />
wenn Hypertexte nicht von vornherein als<br />
solche geschrieben werden, sondern erst<br />
<strong>im</strong> Nachhinein aus linearen Texten entstehen<br />
(vgl. Blumstengel 1998).<br />
Ich möchte hier die Argumentation von<br />
Schulmeister (2002, 271) aufgreifen, nämlich<br />
dass<br />
"Hypertext dem <strong>Lernen</strong>den eine komplexe<br />
Lernumgebung präsentiert, die es ihm ermöglicht,<br />
sich natürlich zu verhalten [...]:<br />
• Erstens repräsentiert das Lernmaterial in<br />
einem komplexen Hypertext-System eine<br />
Umgebung, die der Student auch sonst<br />
vorfindet, in der Bibliothek, an seinem<br />
Schreibtisch usw. [<strong>und</strong> ebenso in der für<br />
Schüler <strong>im</strong>mer selbstverständlicher gewordenen<br />
Umgebung <strong>WWW</strong>! <strong>—</strong> TL] [...]<br />
• Zweitens kann sich der Student in dieser<br />
komplexen Umgebung auch so verhalten,<br />
wie er es sonst gewohnt ist, das heißt z.B.<br />
seine gewohnten, eingeschliffenen Lernstrategien<br />
einsetzen, entweder auswendig<br />
lernen oder Hypothesen bilden, [...] das<br />
Material sequentiell-linear studieren oder<br />
nach Zusammenhängen forschen, extrinsisch<br />
motiviert "pauken" oder intrinsisch<br />
motiviert sich mit wesentlichen Fragen<strong>und</strong><br />
Problemstellungen identifizieren. Hypertext<br />
ist offen <strong>und</strong> zugänglich für alle<br />
möglichen individuellen Lernstile <strong>und</strong><br />
Lernangewohnheiten. [Hervorhebung<br />
TL]"<br />
Eine zukünftig <strong>im</strong>mer größere Bedeutung für<br />
die Gestaltung konstruktivistischer Lernum-<br />
gebungen werden flexiblere kognitive<br />
Werkzeuge haben, die über das reine Navigieren<br />
hinausgehen. <strong>Lernen</strong>de können in einer<br />
hypermedialen Umgebung etwa eigene,<br />
permanente Verbindungen zwischen Elementen<br />
der Umgebung oder zu externen<br />
Quellen einfügen, Elemente der Lernumgebung<br />
annotieren, oder Eigenproduktionen in<br />
elektronischen Arbeitsbücher, Portofolios,<br />
oder Lernjournale/Reisetagebücher (z.B. à la<br />
Gallin & Ruf 1994) sammeln. Dies sind vor<br />
allem Instrumente, mit denen der Benutzer<br />
das Medium an seine Bedürfnisse anpasst,<br />
<strong>und</strong> bei denen <strong>Lernen</strong> nicht umgekehrt verstanden<br />
wird als eine sukzessive Anpassung<br />
des Benutzers an die Struktur des Mediums.<br />
Solche Instrumente dienen zwar einer lernerfre<strong>und</strong>lichen<br />
Gestaltung von Lernumgebungen,<br />
binden aber ihrerseits kognitive Energien.<br />
Sie müssen daher in der Hand des <strong>Lernen</strong>den<br />
auch als Navigationswerkzeug verstanden<br />
werden, da sie zur Reflexion des eigenen<br />
<strong>Lernen</strong>s, also zur Metakognition anregen.<br />
zu (v): Das <strong>Internet</strong> als offene Hypertextumgebung<br />
In den vorstehenden Bemerkungen zum <strong>Lernen</strong><br />
in hypermedialen Umgebungen wurde<br />
nicht spezifiziert, ob diese technisch in standalone<br />
Lösungen realisiert sind (z.B. CD-<br />
ROM) oder online aus dem World-Wide-Web<br />
betrieben werden. Letztlich kann das <strong>WWW</strong><br />
als die umfassendste Hypermedia-Umgebung<br />
für das <strong>Lernen</strong> (nicht nur das schulische!)<br />
angesehen werden. Exakte Angaben<br />
zur tatsächlichen Größe des Web sind nicht<br />
möglich, die Suchmaschine Google brüstet<br />
sich damit, über 3 Milliarden Webpages zu<br />
indizieren, <strong>und</strong> es gibt gute Gründe anzunehmen,<br />
dass dies nur ein Bruchteil der existierenden<br />
Seiten ist (Barabasi 2002). Das<br />
<strong>WWW</strong> ist ein dezentral organisiertes Netz,<br />
dessen Wachstum <strong>und</strong> Vernetzungsstruktur<br />
von keiner zentralen Instanz kontrolliert wird.<br />
Dennoch zeigen Arbeiten der letzten Jahre,<br />
dass ein solchermaßen sukzessive wachsendes<br />
Netz best<strong>im</strong>mten Gesetzmäßigkeiten<br />
folgt. Es entsteht ein so genanntes skalenfreies<br />
Netz (scale free network), bei dem die<br />
Anzahl der Knoten mit einem best<strong>im</strong>mten<br />
Knotengrad potenzartig mit dem Knotengrad<br />
sinkt. Das bedeutet unter anderem, dass es<br />
wenige stark vernetzte, hingegen viele kaum<br />
vernetzte Seiten gibt. Durch den vornehmlich<br />
unidirektionalen Charakter der Links entstehen<br />
"Kontinente" <strong>und</strong> "Inseln", die voneinander<br />
nur schwer oder gar nicht zu erreichen<br />
sind (ebd.).<br />
21
T<strong>im</strong>o Leuders<br />
Das <strong>WWW</strong> unterscheidet sich also mindestens<br />
in den folgenden drei Hinsichten radikal<br />
von den bisher beschriebenen Lernumgebungen:<br />
• Es gibt keine zentrale Instanz, die die<br />
Qualität der Inhalte, Darstellungsformate<br />
oder Navigationsstruktur sichert.<br />
• Es gibt keinen zentralen, gleichsam bibliothekarisch<br />
betreuten Katalog der Inhalte.<br />
(Suchmaschinen verzeichnen heutzutage<br />
nur Bruchteile des gesamten Netzes <strong>und</strong><br />
unterliegen in ihrer Effizienz prinzipiellen<br />
Beschränkungen)<br />
• Das <strong>WWW</strong> ist authentisch <strong>und</strong> nicht didaktifiziert.<br />
(s.u. (b) "Authentizität")<br />
Diese Aspekte sind prinzipiell ambivalent zu<br />
bewerten. Max<strong>im</strong>ale Globalität <strong>und</strong> Offenheit<br />
werden mit Unübersichtlichkeit bezahlt, die<br />
breite Zugänglichkeit von Information mit<br />
dem Problem ihrer Filterung <strong>und</strong> Bewertung.<br />
Diese Aspekte definieren neue pädagogische<br />
Herausforderungen, von denen eine der<br />
gr<strong>und</strong>legendsten sicherlich die Frage sein<br />
wird: Wie versetzt man Schülerinnen <strong>und</strong><br />
Schüler (<strong>und</strong> sich selbst als <strong>Lehren</strong>den) in<br />
die Lage, das Unmaß an zugänglicher Information<br />
zu selektieren <strong>und</strong> in individuell verfügbares,<br />
vernetztes <strong>und</strong> flexibel anwendbares<br />
Wissen umzuwandeln? Dies sind Aufgaben<br />
nicht allein für den <strong>Mathematik</strong>unterricht,<br />
sondern für eine integrative Medienpädagogik,<br />
die Medienerziehung, Mediendidaktik<br />
<strong>und</strong> Medienk<strong>und</strong>e vereint (Hischer 2003).<br />
Die max<strong>im</strong>ale Offenheit des <strong>WWW</strong> gibt Anlass<br />
zu einer echten explorativen Schülertätigkeit,<br />
bei der auch der <strong>Lehren</strong>de die gef<strong>und</strong>enen<br />
Produkte nicht vorhersehen kann.<br />
Schülerprodukte (z.B. Facharbeiten) können<br />
so individueller <strong>und</strong> breitgefächerter ausfallen,<br />
wie wohl sie es nicht müssen. Den <strong>Lehren</strong>den<br />
trifft die Aufgabe, Originalität des Ergebnisses<br />
<strong>und</strong> den individuellen Lernzuwachs<br />
zu überprüfen.<br />
Die mit der radikalen Offenheit verb<strong>und</strong>ene<br />
kognitive Überlast für den <strong>Lernen</strong>den kann<br />
didaktisch abgemildert werden. Ein Ansatz<br />
sind die so genannten WebQuests<br />
(www.webquest.org), bei denen Schülern<br />
vom <strong>Lehren</strong>den ausgewählte Explorationswege<br />
(kommentierte Linklisten) angeboten<br />
werden. Ein weiteres Praxisbeispiel für einen<br />
vorsichtigen Einstieg für Schülerinnen <strong>und</strong><br />
Schüler zu Beginn der Sek<strong>und</strong>arstufe I bietet<br />
das Medienverb<strong>und</strong>projekt "mathe plus", das<br />
das herkömmliche Schulbuch mit <strong>WWW</strong>-Umgebungen<br />
kombiniert (www.matheplus.de).<br />
Solche Modelle der gestuften Offenheit, unter<br />
Verbindung elektronischer <strong>und</strong> klassischer<br />
22<br />
Medien sowie elektronischer <strong>und</strong> direkter<br />
Kommunikation, sind in vielfältigen Konstruktionsansätzen<br />
denkbar. Das <strong>Internet</strong> kann als<br />
gleichsam offenste aller virtuellen Lernumgebungen<br />
eine wichtige Rolle übernehmen. Es<br />
ist das Bindeglied zwischen schulisch aufbereiteter<br />
Lernumgebung <strong>und</strong> der "echten virtuellen<br />
Welt".<br />
Abb. 9: Das <strong>Internet</strong> als (Teil-) Lernumgebung<br />
zu (vi): offene (universelle) Werkzeuge<br />
Der <strong>Mathematik</strong>unterricht hat <strong>—</strong> <strong>und</strong> damit ist<br />
er anderen Fächern z.T. weit voraus <strong>—</strong> bereits<br />
seit vielen Jahren umfangreiche Erfahrungen<br />
mit fachspezifischen Softwaresystemen,<br />
die sich durch einen hohen Grad von<br />
Offenheit auszeichnen, indem sie Schülerinnen<br />
<strong>und</strong> Schüler in die Lage versetzen,<br />
selbstständig mathematische Probleme zu<br />
explorieren <strong>und</strong> eigene Konstruktionen (nicht<br />
nur <strong>im</strong> geometrischen Sinn) zu erstellen.<br />
Hierzu sind vor allem zu nennen: Computeralgebrasysteme,<br />
Dynamische Geometriesysteme,<br />
Tabellenkalkulationen <strong>und</strong> Modellierungssysteme<br />
für dynamische Prozesse. Der<br />
Offenheits- <strong>und</strong> potentielle Divergenzgrad<br />
solcher Systeme ist beträchtlich, zugleich<br />
aber auch die Anforderungen an die Nutzer.<br />
Es gibt vielfältige Ansätze, diese Systeme zu<br />
Lernumgebungen weiterzuentwickeln. Hier<br />
lassen sich vor allem zwei unterschiedliche<br />
Entwicklungsperspektiven ausmachen:<br />
(1) Offene mathematische Werkzeuge können<br />
in Lernumgebungen integriert werden<br />
<strong>und</strong> je nach Anforderung des Problemkontextes<br />
als Werkzeuge verwendet werden:<br />
• Einbinden als spezifisches, adaptiertes<br />
Werkzeug in Hypertextumgebungen (Beispiel<br />
Lernumgebungen mit GeoNEXT <strong>—</strong><br />
www.geonext.de)<br />
• Nutzen als universelles mathematisches<br />
Werkzeug. (z.B. lokal installierte CAS,<br />
Handheld-Funktionenplotter)<br />
Nicht zuletzt durch das Verschwinden der<br />
Online/Offline-Grenze werden wir hier vielfältige<br />
Innovationen zu erwarten haben. Die<br />
spezifische Diskussion dieser Technologien
<strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> zwischen "instruktivistisch" <strong>und</strong> "konstruktivistisch"<br />
erfordert eine ausführlichere Behandlung als<br />
an dieser Stelle möglich ist.<br />
(2) Offene mathematische Werkzeuge können<br />
aber auch selbst die Plattform für computerunterstützte<br />
Lernumgebungen abgeben:<br />
• Konstruktion problemspezifischer interaktiver<br />
Arbeitsblätter (Beispiel Cinderella)<br />
• problemspezifische Adaptierung von Nutzerschnittstellen<br />
(z.B. CAS-packages)<br />
• Konstruktion einer didaktifizierten Wissensbasis<br />
(z.B. das Hilfesystem eines<br />
CAS)<br />
In solchen Verwendungszusammenhängen<br />
gelten die allgemeinen Kriterien an computerunterstützte<br />
Lernumgebungen, wie sie auf<br />
diesen Seiten für elektronische Lernumgebungen<br />
formuliert werden.<br />
Als eine weniger bekannte, offene Werkzeugumgebung<br />
möchte ich das ray-tracing<br />
Programm POVRAY herausheben (www.pov<br />
ray.org). Dieses gibt dem Nutzer über eine<br />
Textschnittstelle die Möglichkeit, räumliche<br />
Objekte <strong>und</strong> ihre Eigenschaften koordinatengeometrisch<br />
zu spezifizieren <strong>und</strong> erzeugt<br />
dann realistisch wirkende Bilder der spezifizierten<br />
Szenerie (Majeswski 1997, Filler<br />
2003). Dieses System hat einen hohen Grad<br />
an Offenheit, da es dem Nutzer zunächst nur<br />
wenige Gr<strong>und</strong>fertigkeiten abverlangt, dafür<br />
aber ein breites Spektrum an kreativen Gestaltungsmöglichkeiten<br />
eröffnet. Die <strong>Mathematik</strong><br />
(Koordinatengeometrie, analytische Geometrie)<br />
wird hier gleichsam automatisch <strong>im</strong><br />
Zuge von selbstgewählten Darstellungsaufgaben<br />
erk<strong>und</strong>et (Leuders 2004).<br />
Abb. 10: Lernumgebung POVRAY<br />
(b) Authentizität<br />
Die <strong>im</strong> Rahmen von konstruktivistischen Argumentationen<br />
oft eingeforderte situative Authentizität<br />
wird meist begründet mit zu erwartetenden<br />
Motivationseffekten, vor allem aber<br />
mit einem erhofften höheren Transferpotential.<br />
Reinmann-Rothmeier et al. (1994, 46) diskutieren<br />
diesen Aspekt vor allem mit Bezug<br />
auf berufliche Weiterbildung <strong>und</strong> sehen dabei<br />
durchaus die Gefahr der Überforderung der<br />
<strong>Lernen</strong>den, wenn der Authentizitätsgrad nicht<br />
ihren Wissens- <strong>und</strong> Erfahrungsstand berücksichtigt.<br />
Sie schlagen daher vor, unter einem<br />
situierten Kontext einen eher eingebetteten<br />
als authentischen Kontext zu verstehen. Im<br />
schulischen Kontext des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
scheint dieses Problem doppelt ausgeprägt,<br />
da hier die Erfahrungen von Schülerinnen<br />
<strong>und</strong> Schülern sowohl mit realen Anwendungskontexten<br />
als auch mit komplexen<br />
inner- wie außermathematischen Situationen<br />
erfahrungsgemäß sehr gering zu veranschlagen<br />
ist. Dennoch braucht gerade der<br />
schulische <strong>Mathematik</strong>unterricht, der an einer<br />
überstarken didaktischen Filterung mathematischer<br />
Probleme krankt, solche authentischen<br />
Kontexte. Dass solche Kontexte<br />
auch <strong>im</strong> Rahmen eines nicht-akademischen<br />
<strong>Mathematik</strong>kurses (Wisk<strong>und</strong>e A in den Niederlanden,<br />
Gr<strong>und</strong>kurs in Deutschland) produktiv<br />
werden können, beweisen vielfältige<br />
Probleme aus der niederländischen Wisk<strong>und</strong>e<br />
A (siehe z.B. www.alympiade.de).<br />
Das <strong>Internet</strong> bietet eine Fülle von nichtdidaktifizierten<br />
"Real World Problems", die<br />
nicht auf den schulischen <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
zurechtgeschneidert sind, aber attraktive,<br />
offene Lernumgebungen abgeben können.<br />
Zwei Beispiele mögen dies illustrieren:<br />
23
T<strong>im</strong>o Leuders<br />
Die Weltbevölkerungsuhr lädt ein zur Exploration<br />
der dort angegebenen Zahlen: "Welche<br />
Prognosen ergeben sich? Wie funktioniert<br />
die Uhr? Wie wächst die Bevölkerung<br />
24<br />
Abb. 11: Die Weltbevölkerungsuhr <strong>—</strong> www.dsw-online.de/cgi-bin/count.pl<br />
[Am Schluss der Seite findet sich folgende Erläuterung:]<br />
The formula for calculating the top 250 films gives a true Bayesian est<strong>im</strong>ate:<br />
weighted rank (WR) = (v ÷ (v+m)) × R + (m ÷ (v+m)) × C<br />
where:<br />
R = average for the movie (mean) = (Rating)<br />
v = number of votes for the movie = (votes)<br />
m = min<strong>im</strong>um votes required to be listed in the top 250 (currently 1250)<br />
C = the mean vote across the whole report (currently 6.9)<br />
note: for this top 250, only votes from regular voters are considered.<br />
Abb. 12: Bestenliste auf <strong>Internet</strong> Movie Database <strong>—</strong> http://www.<strong>im</strong>db.com/top_250_films<br />
tatsächlich? Wie sieht das nach Ländern differenzierte<br />
Bild aus?"<br />
Die <strong>Internet</strong> Movie Database hat ein Bewertungsverfahren<br />
für Filme (rating) <strong>und</strong> gibt so-
<strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> zwischen "instruktivistisch" <strong>und</strong> "konstruktivistisch"<br />
gar eine Formel an, nach der die Leserbewertungen<br />
eingeordnet werden. Wie "funktioniert"<br />
diese Formel? Wie verändern sich die<br />
Ergebnisse in Abhängigkeit von der Anzahl<br />
der abgegebenen ratings? Was ist ein Bayes'scher<br />
Schätzer?<br />
Des Weiteren muss man auch Datenbestände<br />
für den <strong>Mathematik</strong>unterricht, wie<br />
statistische Datenbanken (etwa die des Statistischen<br />
B<strong>und</strong>esamtes www.destatis.de)<br />
oder Formelsammlungen <strong>und</strong> Fachlexika<br />
(www.mathe-online.at/mathint/lexikon) <strong>im</strong> <strong>Internet</strong><br />
als Bausteine für Lernumgebungen<br />
ansehen.<br />
Schließlich soll noch angedeutet werden,<br />
dass gerade die Mult<strong>im</strong>ediamöglichkeiten<br />
des <strong>Internet</strong>s zur Situiertheit von Lernumgebungen<br />
beitragen können. Informationen<br />
können vor allem in visuell vielfachen Darstellungsformen<br />
dargeboten werden. Dabei<br />
ist aber darauf zu achten, ob Mult<strong>im</strong>edia hier<br />
eine Ergänzungs- oder Ersatzfunktion einn<strong>im</strong>mt.<br />
Eine Auseinandersetzung in persona<br />
mit der wirklichen Welt kann durch kein digitales<br />
Klassen- oder Spielz<strong>im</strong>mer ersetzt werden.<br />
Beispiele für virtuelle Klassenz<strong>im</strong>mer,<br />
wie man sie insbesondere in den USA findet,<br />
st<strong>im</strong>men hinsichtlich der Substitution pr<strong>im</strong>ärer<br />
Welterfahrung durch digitale Surrogate<br />
bedenklich (vgl. Abb. 13).<br />
Einen Beitrag zur Authentizität von <strong>Lernen</strong><br />
können auch die gewachsenen Möglichkeiten<br />
des World Wide Publishing leisten. Einzelne<br />
Schüler oder ganze Kurse können die<br />
Ergebnisse ihres Lernprozesses ohne hohen<br />
(finanziellen) Produktionsaufwand veröffentlichen<br />
<strong>und</strong> zur Diskussion stellen. Neben dem<br />
Motivationsaspekt stellt sich hier allerdings<br />
die Frage, welche Qualität Schülerprodukte<br />
haben sollten, um auf diese Weise veröffentlicht<br />
zu werden. Ein <strong>Mathematik</strong>kurs vom<br />
Copernikus-Gymnasium Phillipsburg hat beispielsweise<br />
die Wiederholungs- <strong>und</strong> Vertiefungsphase<br />
vor den Abiturprüfungen genutzt,<br />
um in einem Projekt Kernthemen online aufzubereiten<br />
(http://sites.inka.de/picasso/einga<br />
ng6.htm). Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler haben<br />
hier sicherlich etwas über Webseiten-Erstellung<br />
gelernt. Anstelle einer reflektierten Publikation<br />
eigener (<strong>und</strong> sei es auch noch so<br />
einfacher) mathematischer Arbeiten wurden<br />
hier jedoch nur die Reproduktion <strong>und</strong> Aufbereitung<br />
von Standardthemen aus dem verwendeten<br />
Schulbuch betrieben.<br />
(c)-(e) Interaktivität<br />
So oft der Begriff der Interaktivität als Qualitätsmerkmal<br />
für digitale Produkte angeführt<br />
wird, so wenig besteht Einigkeit über eine<br />
klare Definition (s. Haack 2002, Blumstengel<br />
Abb. 13: Virtuelle "Ersatz"umgebungen <strong>—</strong> www.jayzeebear.com<br />
25
T<strong>im</strong>o Leuders<br />
1998). In Mult<strong>im</strong>ediaumgebungen meint Interaktivität<br />
häufig den freien Zugriff auf alle<br />
Inhalte, <strong>im</strong> Rahmen von ITS eine starke Anpassung<br />
des Systems an einen Nutzer. Aus<br />
Nutzersicht kann Interaktivität für manche<br />
Autoren lediglich in einem hohen Aktivierungsgrad,<br />
z.B. häufige Tests, bestehen, für<br />
andere ist ein proaktiver <strong>und</strong> generierender<br />
Interaktionsstil (<strong>im</strong> Gegensatz zu einem reaktiven)<br />
entscheidend.<br />
Im Folgenden will ich daher verschiedene<br />
Aspekte von Interaktivität <strong>und</strong> ihre Bedeutung<br />
bewusst getrennt voneinander darstellen.<br />
Die schon <strong>im</strong> vorangegangenen Abschnitt<br />
beschriebene offene Hypertextstruktur<br />
kann als ein Aspekt von Interaktivität aufgefasst<br />
werden, nämlich Interaktivität als vom<br />
Lerner kontrollierte Lernwegsteuerung. Als<br />
weitere Aspekte (die das Thema durchaus<br />
nicht erschöpfen) sollen ins Auge gefasst<br />
werden: Interaktivität als Feedback durch das<br />
System, als Unterstützung freier Kommunikation<br />
<strong>und</strong> als Adaptivität eines Systems.<br />
(c) Interaktivität als Reaktivität des<br />
Systems (unmittelbares Feedback)<br />
• Lernwegsteuerung: Während Lernsysteme<br />
praktisch <strong>im</strong>mer das Tempo der Bearbeitung<br />
dem <strong>Lernen</strong>den überlassen, geben<br />
z. B. tutorielle Systeme einen Lernweg<br />
vor, der Benutzer kann darauf lediglich<br />
"blättern". Im Gegensatz dazu liegt<br />
die Entscheidung über den Lernweg bei<br />
Hypermedia gr<strong>und</strong>sätzlich be<strong>im</strong> <strong>Lernen</strong>den:<br />
"Unlike most information systems,<br />
hypermedia users must be mentally active<br />
while interacting with the information. ...<br />
Hypermedia permits a higher level of dynamic<br />
user control." (Jonassen/Grabinger<br />
90, 7). Dieser freie Zugriff auf Inhalte ohne<br />
definierte Folge ist wichtig (<strong>und</strong> beispielsweise<br />
ein großer<br />
Vorteil gegenüber Video),<br />
konstituiert aber<br />
für sich allein noch<br />
keinen besonders hohen<br />
Grad an Interaktivität.<br />
• Darstellungstiefe: In einigen<br />
Hypermedia-<br />
Lernsystemen kann die<br />
Darstellungstiefe der<br />
Informationen variiert<br />
werden. So können<br />
beispielsweise durch<br />
Mausklick auf Teile einer<br />
Grafik weitere Informationen, Vergrößerungen<br />
o.Ä. gezeigt werden.<br />
26<br />
• Dialoggestaltung: Viele Hypermedia-Systeme<br />
sehen lediglich eine einseitige Informationspräsentation<br />
vor. Der Interaktivitätsgrad<br />
wird erhöht, wenn beispielsweise<br />
Testfragen integriert werden. Diese<br />
können wiederum qualitativ sehr unterschiedlich<br />
realisiert werden. Wünschenswert<br />
ist dabei, auch über Multiple-Choice-<br />
Fragen hinausgehende Testtypen zu verwenden.<br />
Ein höherer Grad an Interaktivität<br />
wird auch durch die Integration von<br />
S<strong>im</strong>ulationselementen erreicht, wenn mathematisch<br />
oder grafisch repräsentierte<br />
Modelle mit verschiedenen Parametern<br />
getestet werden können <strong>und</strong> die Konsequenzen<br />
anschaulich dargestellt werden.<br />
Eine weitere Möglichkeit ist die Integration<br />
adaptiver tutorieller Komponenten, z. B. in<br />
Form kontextsensitiver Hilfen oder Guides.<br />
(c) Interaktivität in Form von Reaktivität<br />
des Systems (Feedback)<br />
Durch seine hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit<br />
besitzt der Computer die Stärke der<br />
instantanen Rückmeldung über das Ergebnis<br />
einer Berechnung. Zu den bedeutsamen Folgen<br />
für den <strong>Mathematik</strong>unterricht gehört hier<br />
z.B. eine mögliche Stärkung des funktionalen<br />
Denkens, da der Zusammenhang von<br />
Ursache <strong>und</strong> Wirkung von den Schülerinnen<br />
<strong>und</strong> Schülern nicht nur in Gedanken vollzogen,<br />
sondern auch "augenscheinlich" erlebt<br />
werden kann. Viele der in großer Vielzahl<br />
entstehenden so genannten Applets bieten<br />
ein interaktives Erk<strong>und</strong>en eines funktionalen<br />
Zusammenhangs an, wie z.B. das in Abb. 14<br />
dargestellte, der Lernumgebung Mathe-<br />
Online (www.mathe-online.at) entnommene<br />
Applet.<br />
Zudem besitzt der <strong>Mathematik</strong>unterricht mit<br />
Abb. 14: Funktions-Applet aus<br />
www.mathe-online.at/galerie/fun1/fun1.html#FunktAbh (den Punkt auf der x-<br />
Schiene zieht man, der Punkt auf der y-Schiene bewegt sich mit)<br />
dem Computer erstmals ein universelles Exper<strong>im</strong>entierwerkzeug.<br />
In diesem Sinne kann<br />
der Rechner als epistemisches <strong>und</strong> heuristi-
<strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> zwischen "instruktivistisch" <strong>und</strong> "konstruktivistisch"<br />
sches Werkzeug genutzt werden, also als eine<br />
Erweiterung der menschlichen Fähigkeit,<br />
Wissen zu erzeugen <strong>und</strong> Probleme zu lösen.<br />
Hierbei spielt auch die Stärke des Computers<br />
eine Rolle, dass er die Integration <strong>und</strong> den<br />
schnellen Wechsel von unterschiedlichen<br />
mathematischen Darstellungsformen (numerisch,<br />
grafisch, symbolisch) ermöglicht.<br />
All diese Vorzüge sind auch über das <strong>Internet</strong><br />
nutzbar, wobei die Rückmelderaten begrenzt<br />
werden sowohl durch Servergeschwindigkeiten<br />
als auch durch Übertragungsraten.<br />
Diverse server- <strong>und</strong> clientseitige<br />
technischen Lösungen lassen diese Restriktion<br />
aber <strong>im</strong>mer mehr in den Hintergr<strong>und</strong> treten.<br />
Derartiges "instant Feedback" spielt auch eine<br />
Rolle bei jeglicher Rückmeldung zu Lernerfolgen<br />
<strong>im</strong> Rahmen von Tests. Hier spielt es<br />
kaum noch eine Rolle, ob ein solches System<br />
nur durch eine eigenständige Software<br />
oder über <strong>WWW</strong>-Plattformen realisiert werden<br />
kann. Die Begrenzung liegt hier eher in<br />
dem prinzipiellen Widerspruch zwischen<br />
technisch realisierbaren Rückmeldungen (<strong>im</strong><br />
einfachsten Fall: multiple choice) <strong>und</strong> dem<br />
Anspruch hohe kognitive Lernerleistungen<br />
herauszufordern. Die semantischen Begrenzungen<br />
eines Computersystems wurden<br />
oben bereits angesprochen. Es gibt allerdings<br />
vielfältige Wege, jenseits von multiple<br />
choice <strong>und</strong> fill-in, durchaus flexiblere Abfragetechniken<br />
zu realisieren, etwa durch Zuordnungspuzzles<br />
(Abb. 15). Hier werden die<br />
<strong>Lernen</strong>den zu Explorationen <strong>und</strong> Reflexionen<br />
angeregt ("Welche Bilder gehören zu negativen<br />
Werten? Warum?").<br />
Genutzt wird instant feedback auch in einer<br />
Vielzahl von Demonstrationsmodellen <strong>und</strong><br />
S<strong>im</strong>ulationen, die interaktiv bedient werden<br />
können. Eine interaktiv veränderbare, dynamische<br />
Darstellung des Sonnensystems <strong>im</strong><br />
<strong>Internet</strong> (z.B. der Halleysche Komet bei der<br />
NASA unter neo.jpl.nasa.gov/orbits kann beispielsweise<br />
zur Beschäftigung mit der Frage<br />
"Was sind Winkel zwischen Ebenen?" anregen.<br />
Das eigenhändige Manipulieren <strong>und</strong><br />
Erstellen mathematischer Objekte ist allerdings<br />
weiterhin für mathematische Pr<strong>im</strong>ärerfahrungen<br />
unabdingbar. Nur mit virtuellen<br />
Bauklötzen können sich Raumvorstellungen<br />
nicht ausbilden.<br />
(d) Interaktivität in Form von Kommunikativität<br />
Die Erkenntnis der Beschränkungen, die eine<br />
Interaktion allein mit einer Maschine unterliegt<br />
(HCI = human computer interaction),<br />
führt für viele Autoren von Lernumgebungen<br />
zu dem konsequenten Schritt, diese durch<br />
die konsequente Einbeziehung zwischenmenschlicher<br />
Interaktion aufzuheben. Immer<br />
dann, wenn sich diese Kommunikation zwischen<br />
sich persönlich gegenübertretenden<br />
Handlungspartnern vollziehen kann, sollte<br />
man diese Chance nutzen. Dennoch kann es<br />
sinnvoll sein, auch über elektronisch vermittelte<br />
Wege der Kommunikation zwischen<br />
<strong>Lernen</strong>dem <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong>dem, aber auch innerhalb<br />
von <strong>Lernen</strong>dengruppen nachzudenken.<br />
Die Vielfalt der Angebote für elektronische<br />
Kommunikation <strong>und</strong> Zusammenarbeit<br />
ist inzwischen schier unübersehbar; <strong>—</strong> meist<br />
sind diese Systeme allerdings nicht aus pädagogischen<br />
Bedürfnissen entsprungen, sondern<br />
erst in der Folge auf ihre pädagogische<br />
Eignung befragt worden. Zu den wichtigsten<br />
Typen gehören hier:<br />
• Formen der asynchronen Kommunikation<br />
(E-Mail, Foren, FAQ-Bretter)<br />
Abb. 15: Ein Zuordnungspuzzle aus www.mathe-online.at/tests/vect2/skalarprodukt.html<br />
27
T<strong>im</strong>o Leuders<br />
• Formen der synchronen Kommunikation<br />
(Chats, Virtuelle Klassenz<strong>im</strong>mer, Video<strong>und</strong><br />
Audiokonferenzen)<br />
• Plattformen für den Dokumentenaustausch<br />
(shared workspaces)<br />
• Techniken des application sharing (Für<br />
die <strong>Mathematik</strong> bedeutsam: Wie können<br />
zwei entfernte Lernpartner dieselbe CAS-<br />
Oberfläche sehen <strong>und</strong> bearbeiten?)<br />
Unter den Stichworten CSCW (computer<br />
supported cooperative work) <strong>und</strong> CSCL<br />
(computer supported cooperative learning)<br />
gibt es vielfältige konkrete Projekte, besonders<br />
<strong>im</strong> Bereich der Weiterbildung <strong>und</strong> der<br />
universitären Lehre (Wessner 2002). Solche<br />
Systeme können zur direktiven Steuerung<br />
(Beispiel: Der Lehrer stellt einen Lernplan in<br />
die Arbeitsumgebung), zur symmetrischen<br />
Kooperation (Beispiel: arbeitsteilige Projektarbeit),<br />
aber auch zur konkurrierenden Arbeit<br />
(Beispiel: Wettbewerbe) genutzt werden.<br />
Die Chance, die in der CSCL-Technologie<br />
gesehen wird, bezieht sich vor allem auf eine<br />
Erhöhung der Intensität <strong>und</strong> der Qualität von<br />
Interaktivität in computerunterstützten Lernumgebungen.<br />
Aus konstruktivistischer Sicht<br />
spielt hier aber auch der Aspekt von Wissen<br />
als sozialer Konstruktion eine Rolle: Wir<br />
kommunizieren nicht über Wirklichkeit, sondern<br />
erschaffen Wirklichkeit in der Kommunikation<br />
(Watzlawick)<br />
Die Realisierung solcher kommunikativer<br />
Elemente findet oftmals über so genannte<br />
Lernplattformen statt. Dieser Begriff ist nicht<br />
<strong>im</strong>mer klar abgegrenzt. Meist versteht man<br />
hierunter eine Kombination verschiedener Informations-<br />
<strong>und</strong> Kommunikationselemente<br />
(Schulmeister 2001, 165): Einstiegsportal,<br />
Kursmanagement, Darstellung von Kursunterlagen,<br />
Online-Kurse (Seminare), Autorenwerkzeuge<br />
für <strong>Lehren</strong>de, Werkzeuge zum<br />
kooperativen Arbeiten.<br />
Im Bereich des schulischen Einsatzes ist jeweils<br />
sehr gewissenhaft nach dem Mehrwert<br />
solcher Systeme zu prüfen: Schülerinnen<br />
<strong>und</strong> Schüler in allgemeinbildenden Schulen<br />
haben in der Regel viele Möglichkeiten, direkt<br />
miteinander zu kommunizieren <strong>und</strong> zu<br />
kooperieren. (Hierfür wird heutzutage <strong>—</strong> als<br />
sei es bereits die Ausnahmesituation <strong>—</strong> der<br />
schöne Begriff "face to face" verwendet).<br />
Elektronische Kommunikation kann zu einer<br />
Bereicherung führen, wie z.B. in Distanzphasen<br />
in der beruflichen Weiterbildung (vgl. das<br />
NRW-Projekt www.abitur-online.nrw.de für<br />
den zweiten Bildungsweg), oder eben zur<br />
Verarmung durch Surrogatkommunikation:<br />
Muss z.B. die Verteilung von Lernmaterial,<br />
28<br />
die Rücksendung <strong>und</strong> Kommentierung von<br />
Dokumenten auch bei schulischen Hausaufgaben<br />
über eine Lernplattform laufen (vgl.<br />
das Schwesterprojekt www.selgo.de für die<br />
gymnasiale Oberstufe)?<br />
Oft wird auch der Aspekt der "verteilten Kognition"<br />
beschworen. In kooperativen Arbeitsumgebungen<br />
können Mitglieder arbeitsteilig<br />
ihre spezifische "Experten"sichten beitragen.<br />
So entsteht eine gemeinsame Wissensbasis<br />
in der Summe von Einzelbeiträgen.<br />
Verteiltes Wissen kann zu geteiltem<br />
Wissen werden. Systeme für ein solches<br />
Wissensmanagement können z.T. berückend<br />
einfach sein, wie das WIKI-Projekt zeigt<br />
(www.wikipedia. de). Schulen sammeln bereits<br />
erste Erfahrungen, insbesondere <strong>im</strong> Bereich<br />
der Informatik. Letztlich sind die zahlreichen<br />
(kommerziellen) Hausaufgaben- <strong>und</strong><br />
Facharbeitenbörsen auch solche Systeme<br />
verteilten Wissens. Ihre Existenz stellt eine<br />
Herausforderung für das Bild schulisch erworbenen<br />
Wissens dar.<br />
Schließlich soll auch die (vermeintliche?)<br />
globale Öffnung durch elektronische Kommunikation<br />
zur Sprache kommen. Der Sinn<br />
<strong>und</strong> Erfolg von E-Mail Austausch-Projekten<br />
ist <strong>im</strong> sprachlichen Bereich erwartungsgemäß<br />
höher als in der <strong>Mathematik</strong>. Auch der<br />
Austausch mit externen Experten per E-Mail<br />
wird für den <strong>Mathematik</strong>unterricht wohl in<br />
nächster Zeit eher von sek<strong>und</strong>ärer Bedeutung<br />
sein <strong>und</strong> auf Leuchtturmprojekte beschränkt<br />
bleiben.<br />
Mit Schulmeister (2002, 206) kann man abschließend<br />
feststellen: "Ob <strong>und</strong> wie kooperativ<br />
gelernt wird hängt entscheidend davon ab,<br />
wie das technische System in den höheren<br />
Lernzusammenhang eingebettet ist".<br />
(e) Interaktivität in Form von Adaptivität<br />
Alle <strong>Lernen</strong>den sind verschieden. Diese<br />
ebenso lapidare wie unbestreitbare Aussage<br />
muss Konsequenzen für die Gestaltung einer<br />
Lernumgebung haben. Vom menschlichen<br />
<strong>Lehren</strong>den fordern wir eine flexible Anpassung<br />
an die Bedürfnisse der einzelnen <strong>Lernen</strong>den,<br />
angemessene Reaktionen auf deren<br />
individuellen Beiträge <strong>und</strong> das Angebot differenzierter<br />
Lerngelegenheiten <strong>und</strong> Lerntempi.<br />
Doch auch ein Lehrer ist schnell überfordert,<br />
wenn er dies bei dreißig Schülerinnen <strong>und</strong><br />
Schülern zugleich leisten soll. Konstruktivistische<br />
Ansätze entheben den <strong>Lehren</strong>den von<br />
der früher vehement propagierten, wenngleich<br />
unlösbaren Aufgabe der individuellen<br />
Differenzierung ("Jedem Schüler sein eigenes<br />
Arbeitsblatt"). Eine angemessene Differenzierung<br />
können letztlich allein die <strong>Lernen</strong>-
<strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> zwischen "instruktivistisch" <strong>und</strong> "konstruktivistisch"<br />
den selbst leisten, indem sie ihre Lernumwelt<br />
nach ihren individuellen Bedürfnissen (mit-)<br />
gestalten.<br />
Die Hoffnung, die elektronische Lernumgebungen<br />
nähren, besteht nun darin, dass dieses<br />
Ideal der totalen Differenzierung durch<br />
die Anpassungsfähigkeit maschineller Systeme<br />
anscheinend wieder in erreichbare Nähe<br />
rückt. Aber können so genannte adaptive<br />
elektronische Systeme dies wirklich leisten?<br />
Als Adaptivität von Systemen wird deren Fähigkeit<br />
verstanden, sich automatisch an den<br />
<strong>Lernen</strong>den anzupassen. (Im Gegensatz dazu<br />
bedeutet Adaptierbarkeit, die Möglichkeit, an<br />
ihnen verschiedene Parameter voreinzustellen,<br />
wie etwa die Sprache oder den Schwierigkeitsgrad,<br />
oder die Vorauswahl von funktionalen<br />
Schaltflächen bei einem DGS).<br />
Die Adaptivität von Lernumgebungen variiert<br />
nicht nur graduell, hier gibt es vielmehr erhebliche<br />
prinzipielle Unterschiede. Erhoben<br />
werden können vom System eine ganze Reihe<br />
unterschiedlicher Lernerdaten, sowohl vor<br />
als auch während des Lernprozesses. Sie<br />
können <strong>im</strong>plizit aus dem Lernweg oder explizit<br />
aus Vor- <strong>und</strong> Zwischentests sowie aus<br />
Selbsteinschätzungen stammen. Eine typische<br />
Form ist die Konstruktion eines so genannten<br />
Lernermodells, in dem Eigenschaften<br />
des <strong>Lernen</strong>den erhoben werden, wie etwa<br />
sein lernrelevantes Vorwissen oder seine<br />
themenbezogene Selbsteinschätzung.<br />
able Lernermodelle (Kenntnisse, Fähigkeiten,<br />
Präferenzen) erstellen kann. Hier tritt jedoch<br />
eine typische, paradox anmutende <strong>und</strong> nicht<br />
überwindbare "Unschärferelation" zu Tage:<br />
Je detaillierter die Informationen, die das<br />
System über den Lerner gewinnen will, desto<br />
fragmentierter werden die Lernschritte, die<br />
angeboten werden <strong>und</strong> desto größer die Interferenz<br />
in Form von Abfragen, Tests <strong>und</strong><br />
Selbsteinschätzungen.<br />
Erkennt man die Begrenzungen der Nutzermodellierung<br />
nicht nur an, sondern spricht<br />
man dem System a priori eine solche starke<br />
Kontrolle des Lernerverhaltens <strong>und</strong> der angebotenen<br />
Lernwege ab, so verfolgt man ein<br />
gegensätzliches Paradigma. Dann ist es<br />
nicht das System, das ein Modell des <strong>Lernen</strong>den<br />
erstellt <strong>und</strong> sich daran orientiert,<br />
sondern der <strong>Lernen</strong>de selbst, der qua Wahl<br />
seines Lernwegs ein zunächst <strong>im</strong>plizites<br />
"Selbstmodell" entwirft. Dieses Modell ist anfangs<br />
unbewusst, kann aber <strong>im</strong> Laufe des<br />
Lernprozesses <strong>im</strong>mer mehr vom <strong>Lernen</strong>den<br />
reflektiert werden. Einen solchen Weg verfolgt<br />
der oben geschilderte "Matheführerschein":<br />
Der <strong>Lernen</strong>de muss <strong>im</strong>mer wieder<br />
entscheiden, welche Darstellungsformen<br />
("sprachlich/situativ", "grafisch", "numerisch"<br />
<strong>und</strong> "symbolisch", vgl. Abb. 8) er bevorzugt<br />
<strong>und</strong> wird durch das System darin unterstützt,<br />
sich diese Wahl bewusst zu machen. Man<br />
kann diese System-Nutzer-Interaktion als "reflektierte<br />
Offenheit" bezeichnen.<br />
Man muss vielleicht<br />
ausgleichend feststellen,<br />
dass eine Lernumgebung<br />
eine sinnvolle<br />
Integration von<br />
beiden Paradigmen,<br />
dem der systemischen<br />
Adaptivität <strong>und</strong> dem<br />
der reflektierten Offenheit,<br />
bieten sollte. Solche<br />
Variablen, die<br />
Abb. 16: Selbsteinschätzung <strong>und</strong> Einschätzung durch das System in<br />
http://demo.activemath.org<br />
technisch erhoben<br />
werden können <strong>und</strong><br />
die Lernwege <strong>und</strong> Dar-<br />
Die Forderung nach Lerneradaptivität <strong>und</strong> die<br />
Konstruktion von Lernermodellen zielen darauf<br />
ab, ein System in den Stand zu versetzen,<br />
den Lernweg auf die (vermuteten bzw.<br />
modellierten) Bedürfnisse des <strong>Lernen</strong>den<br />
abzust<strong>im</strong>men, also letztlich dem System die<br />
Möglichkeit einer differenzierten Kontrolle<br />
über den angebotenen Lernweg zu geben.<br />
Mit einer solchen Zielsetzung ist der hohe<br />
Anspruch verb<strong>und</strong>en, dass ein System hinreichend<br />
komplexe, statistisch valide <strong>und</strong> vistellungsformensinnvoll<br />
modifizieren, ohne den Lerner zu gängeln,<br />
sollten auch genutzt werden (etwa die<br />
Darstellungsform der Navigationsinstrumente).<br />
Die Variabilität des Lernprozesses darf<br />
sich hingegen nicht in einer vom System getroffenen<br />
Vorauswahl erschöpfen <strong>und</strong> auf einer<br />
<strong>im</strong>pliziten Systemebene dem <strong>Lernen</strong>den<br />
verborgen bleiben. Die Vielzahl der Lernwege<br />
muss dem mündigen Lerner stets offen<br />
liegen. Eine solche Ausgleichsforderung liegt<br />
beispielsweise bei dem Modell der Adaptiven<br />
29
T<strong>im</strong>o Leuders<br />
Hypermedia-Systeme vor, wie sie Seeberg<br />
(2002, 10ff) vorstellt. Hier können z.B. alle<br />
Links offen stehen, aber mit Hilfe einer Ampelmetapher<br />
dem Lerner deutlich gemacht<br />
werden, in wie weit er aufgr<strong>und</strong> seines Lernmodells<br />
<strong>und</strong> Lernweges die Voraussetzungen<br />
für die Bearbeitung des dahinter liegenden<br />
Moduls erfüllt.<br />
Ein weiteres Kriterium für eine offenere, lernerzentrierte<br />
Auffassung von Interaktivität einer<br />
Lernumgebung liefert Schulmeister<br />
(2002). Diese kann dem <strong>Lernen</strong>den erlauben,<br />
aktiv in ihre Struktur einzugreifen <strong>und</strong><br />
sie nach seinen Wünschen umzugestalten.<br />
Für diese Art von reziproker Adaptivität sind<br />
gerade Hypermedia-Systeme gut geeignet:<br />
Der <strong>Lernen</strong>de kann den Elementen eigene<br />
Annotationen hinzufügen, kann ggf. auch Ergänzungen<br />
<strong>und</strong> Änderungen von Inhalten<br />
oder strukturellen Verknüpfungen vornehmen.<br />
Einige zusammenfassende<br />
Bemerkungen<br />
Die folgenden Bemerkungen zu einigen<br />
Kernfragen des <strong>Lernen</strong>s in medialen, konstruktivistischen<br />
Lernumgebungen sind zwar<br />
als Konsequenz der vorangehenden Ausführung<br />
zu verstehen, sind aber weniger systematisch<br />
<strong>und</strong> eher subjektiv geprägt.<br />
Welche Rolle spielt das konstruktivistische<br />
Paradigma für das <strong>Lernen</strong>?<br />
Es ist deutlich geworden, dass viele der hier<br />
zusammengetragenen Anforderungen an<br />
Lernumgebungen nicht unbedingt eines konstruktivistischen<br />
Hintergr<strong>und</strong>es bedürfen. Die<br />
konstruktivistische Position, die vor allem Situiertheit<br />
<strong>und</strong> Selbstregulation betont, erweist<br />
sich als wichtiges Korrektiv: Dass <strong>und</strong> warum<br />
gerade computergestützte Lernarrangements<br />
<strong>im</strong>mer noch besondere Gefahr laufen, einen<br />
einseitig vermittlungsorientierten Ansatz zu<br />
verfolgen, ist aus den vorangehenden Argumenten<br />
<strong>und</strong> Beispielen deutlich geworden.<br />
Welche Hoffnungen sind mit computergestützten<br />
Lernumgebungen verb<strong>und</strong>en?<br />
Die Gründe, die für eine stärkere Förderung<br />
eines computer- <strong>und</strong> internetgestützten <strong>Lernen</strong>s<br />
angeführt werden, klingen meist plausibel,<br />
müssen sich aber auf ihren Gehalt kritisch<br />
hinterfragen lassen. Um nur einige wesentliche<br />
Beispiele zu nennen:<br />
30<br />
• Innovation der Lehrformen: Allein die Diagnose<br />
mangelnder Qualität herkömmlichen<br />
Unterrichts ist nicht hinreichend dafür,<br />
Hoffnungen in Computersysteme zu<br />
setzen. Vielen erkennbaren Vorteilen<br />
(emotionale Neutralität, individuelle Lerntempi)<br />
können ebenso gewichtige Nachteile<br />
entgegengesetzt werden (mangelnde<br />
Kommunikation, keine Verstehensprozesse<br />
seitens des Systems). Ausgesprochene<br />
Kritiker formulieren ihre Thesen hierzu<br />
sogar noch krasser: "Alles, was man pädagogisch<br />
erreichen/vermeiden will, erreicht/vermeidet<br />
man besser ohne den<br />
Computer. Alle Dummheiten, die die<br />
Schule macht, macht sie mit ihm verstärkt.<br />
Das, was man nur an <strong>und</strong> mit dem<br />
Computer lernen kann, ist herzlich wenig<br />
<strong>und</strong> kann kurz vor der Entlassung in die<br />
Arbeitswelt realistischer <strong>und</strong> wirksamer<br />
absolviert werden" (von Hentig 1993).<br />
• Öffnung von Schule. In wie weit ist die<br />
Öffnung der Grenzen über die Lerngruppe<br />
hinaus wesentliche Qualitätssteigerung?<br />
In wie weit kann das Informationsangebot<br />
<strong>und</strong> die Möglichkeit der weltweiten Kommunikation<br />
wirksam in den Unterricht integriert<br />
werden?<br />
• Aktualität. Wie aktuell müssen Informationen<br />
für den <strong>Mathematik</strong>unterricht wirklich<br />
sein? Hier ist die Bedeutung des Aktualitätskriteriums<br />
für den Politikunterricht sicherlich<br />
unmittelbarer (obwohl es auch<br />
hier Alternativmedien gibt!).<br />
• Kommunikation. Eine Kommunikationssteigerung<br />
ist wohl allein dort zu verzeichnen,<br />
wo <strong>Lernen</strong>de ansonsten notwendig<br />
physisch getrennt agieren müssten<br />
(Flächenbesiedlung, Spezialkurse,<br />
Zweiter Bildungsweg).<br />
• Medienkompetenz für lebenslanges <strong>Lernen</strong>,<br />
als Teil von Allgemeinbildung, als<br />
notwendige Bedingung für den ökonomischen<br />
Status der Gesellschaft ("Standortfrage").<br />
Hier treffen wir wirtschafts- <strong>und</strong><br />
bildungspolitische Argumente, die meist<br />
eher ideologisch als sachlich verwendet<br />
werden. Ob jeder Arbeitnehmer künftig<br />
he<strong>im</strong>ischer Selbstlerner sein muss, um<br />
mit betrieblichen Entwicklungen mitzuhalten,<br />
wie viel Medienkompetenz in der<br />
Schule erworben werden muss ("<strong>Internet</strong>führerschein"),<br />
ist mehr von normativen<br />
Zielvorstellungen als von nüchternen Analysen<br />
best<strong>im</strong>mt. Zum Auftrag der Pädagogik<br />
gehört allerdings auch, junge Menschen<br />
darin zu unterstützen, dass sie "der<br />
technischen Zivilisation gewachsen bleiben"<br />
<strong>—</strong> so Hartmut von Hentig (2002).
<strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> zwischen "instruktivistisch" <strong>und</strong> "konstruktivistisch"<br />
Prozesse wie Mediatisierung, Ökonomisierung,<br />
Kollektivierung <strong>und</strong> die damit<br />
einhergehende Vereinzelung <strong>und</strong> Entfremdung<br />
sind Kategorien, die bei allen<br />
technischen <strong>und</strong> didaktischen Entwicklungen<br />
mitreflektiert werden müssen.<br />
Welche Rollenveränderungen in Schule<br />
zeichnen sich ab?<br />
Nicht das Klassenz<strong>im</strong>mer als Raum der<br />
Lernbegegnung ist obsolet, wie viele Apologeten<br />
medialer Lernumgebungen postulieren<br />
(vgl. z.B. "The Death Of The Classroom",<br />
Fielding 1999), sondern die Rollenverteilung<br />
zwischen <strong>Lehren</strong>den <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>den ist reformbedürftig.<br />
Eine stärkere Selbststeuerung<br />
<strong>und</strong> Verantwortung des lernenden Individuums<br />
erreicht man allerdings nicht allein<br />
durch die Subtraktion eines <strong>Lehren</strong>den aus<br />
dem Lernprozess, sondern nur durch eine<br />
Veränderung der Handlungsmuster <strong>und</strong> des<br />
Selbstverständnisses des <strong>Lehren</strong>den.<br />
Dabei kann nicht das Ausblenden jeglicher<br />
Instruktion das Ziel sein, sondern ein sinnvolles<br />
Einbetten von Instruktionsphasen, die die<br />
<strong>Lernen</strong>den nach ihren Bedürfnissen abrufen<br />
können. (Die Autorengruppe der BLK-Expertise<br />
(1996, 23f) weist ausdrücklich auf funktionale<br />
Äquivalenz von Unterrichtsmethoden<br />
hin <strong>und</strong> warnt vor "pädagogischem Dogmatismus".)<br />
Der Lehrer ist <strong>—</strong> <strong>im</strong>mer noch mehr als jedes<br />
computerbasierte Lernsystem <strong>—</strong> ein didaktisch<br />
geschulter Instruktor, der die Lerngruppe<br />
aus vielfältigen Lern-, Leistungs- <strong>und</strong><br />
Kommunikationszusammenhängen kennt,<br />
der Lernprozesse begleitet <strong>und</strong> beobachtet<br />
hat <strong>und</strong> der interaktiv auf die Anforderungen<br />
der <strong>Lernen</strong>den reagieren kann. Das Klassenz<strong>im</strong>mer<br />
ist zwar nicht per se, aber <strong>im</strong>merhin<br />
doch potentiell eine ideale "Lernumgebung".<br />
Schauen wir einmal rückblickend auf die verschiedenen<br />
Anforderungen an eine Lernumgebung<br />
so stellen wir fest: Die genannten<br />
Qualitätskriterien beziehen sich nicht allein<br />
auf elektronische Medien, sondern lassen<br />
sich ebenso auf die soziale Lernumgebung<br />
einer physischen Lerngruppe anwenden.<br />
Im Einzelnen muss man sich also <strong>im</strong>mer<br />
nach dem Mehrwert einer elektronischen<br />
Lernumgebung fragen. Hier überschneiden<br />
sich ökonomische <strong>und</strong> pädagogische Kriterien<br />
auf eine in diesem Metier typische Art<br />
<strong>und</strong> Weise:<br />
• Eine qualitative (<strong>und</strong> hinreichend offene)<br />
Lernumgebung ist in vielen Lerngruppen<br />
nutzbar. Das Rad muss nicht von jeder<br />
Lehrkraft neu erf<strong>und</strong>en werden. Zudem<br />
kann aus der Erfahrung der Nutzung in<br />
vielen Lerngruppen eine sukzessive Weiterentwicklung<br />
erwachsen. Dies ist beispielsweise<br />
der Modus, in dem japanische<br />
Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer idealiter ihre<br />
(nicht-digitalen Lernumgebung, sprich:<br />
Unterrichtsarrangements) kontinuierlich<br />
opt<strong>im</strong>ieren (Stigler & Hiebert 1999).<br />
• Die Offenheit, die die Hyper-Umgebung<br />
"<strong>Internet</strong>" bieten kann, ist in klassischen<br />
abgeschlossenen Medien (Arbeitsblättern<br />
<strong>und</strong> Schulbüchern) nicht abbildbar <strong>und</strong><br />
auch die Kenntnisse <strong>und</strong> die Kommunikationsfähigkeit<br />
des <strong>Lehren</strong>den sind schnell<br />
erschöpft.<br />
• Elektronische Lernumgebungen können<br />
das selbstständige (<strong>und</strong> je nach Anlage)<br />
auch das kooperative <strong>Lernen</strong> unterstützen,<br />
ja geradezu herausfordern. Insbesondere<br />
die zeitweise Loslösung des <strong>Lernen</strong>den<br />
aus dem in Deutschland <strong>im</strong>mer<br />
noch dominierenden "Gesamtunterricht"<br />
<strong>im</strong> Kursverband <strong>—</strong> mit all seinen bekannten<br />
Defiziten <strong>—</strong> kann eine innovierende<br />
Wirkung haben. Auch der Lehrer, der solche<br />
Lernumgebungen verwendet, ist so<br />
gezwungen, sich intensiver mit den qualitativ<br />
anderen Arbeitsformen <strong>und</strong> Arbeitsergebnissen<br />
auseinander zu setzen.<br />
Gefahr droht dann, wenn die ökonomischen<br />
Kriterien die Überhand gewinnen <strong>—</strong> oder unterschwellig<br />
die Entwicklungen lenken. Dies<br />
geschieht <strong>im</strong>mer dann, wenn darüber nachgedacht<br />
wird, ob Lernsysteme Unterrichtsabläufe<br />
nicht mehr ergänzen, sondern ersetzen<br />
sollen. Viele digitale Lernumgebungen lassen<br />
sich interpretieren als das Bemühen, interpersonale<br />
Prozesse elektronisch <strong>im</strong>mer perfekter<br />
abzubilden (z.B. die non-verbalen Interjektionen<br />
in virtuellen Klassenz<strong>im</strong>mern).<br />
Für den Ausbau von Konstellationen des Distanzlernens<br />
(z.B. in der Erwachsenenbildung)<br />
sind solche Entwicklungen ein Zugewinn,<br />
für den ersetzenden Einsatz <strong>im</strong> Rahmen<br />
von Schulunterricht ganz ausdrücklich<br />
ein Verlust (Schulmeister 2002, 223, 226f).<br />
Anforderungen an eine (internetgestützte)<br />
Lernumgebung <strong>—</strong> eine Kurzfassung<br />
Aus den vorangegangenen Ausführungen<br />
wurde deutlich, dass man auch internetgestützte<br />
Lernumgebungen <strong>im</strong>mer nur eingebettet<br />
in das Gesamtarrangement beurteilen<br />
kann. Es gilt also, eine ausgewogene Berücksichtigung<br />
der Mittel in den folgenden<br />
Bereichen zu reflektieren:<br />
Zu den vielen Kriterien, die man an solche<br />
Lernumgebungen stellen kann (z.B. Blum-<br />
31
T<strong>im</strong>o Leuders<br />
stengel 1998, Schulmeister 2002, Kerres<br />
2001) gehören u.a.:<br />
• Welche Möglichkeiten der Exploration bietet<br />
die Lernumgebung? In welcher Form<br />
sind individuelle Lernwege möglich <strong>und</strong><br />
welche Navigationswerkzeuge unterstützen<br />
den <strong>Lernen</strong>den dabei?<br />
• Welche Möglichkeiten der Konstruktion<br />
(ggf. der Mitgestaltung an der Lernumgebung)<br />
hat der <strong>Lernen</strong>de? Welche kognitiven<br />
Werkzeuge unterstützen den <strong>Lernen</strong>den<br />
dabei?<br />
• In welcher Form sind instruktionale Elemente<br />
eingebettet?<br />
• Wie problemorientiert <strong>und</strong> wie authentisch<br />
ist die inhaltliche Gestaltung?<br />
• Welche Möglichkeiten der Kommunikation<br />
<strong>und</strong> Kooperation werden angeboten?<br />
• In welchem Verhältnis stehen die medienvermittelten<br />
zu den nicht medienvermittelten<br />
Elementen (z.B. bei der Kooperation<br />
<strong>und</strong> Kommunikation)?<br />
• Welches Feedback erhält der <strong>Lernen</strong>de<br />
über seinen Lernerfolg?<br />
Dabei kann nicht jede Lernumgebung alle<br />
Bedarfe zugleich befriedigen. Insbesondere<br />
die Frage nach Novize- bzw. Expertenstatus<br />
des <strong>Lernen</strong>den <strong>und</strong> nach dem Grad seiner<br />
Selbstständigkeit spielen hier eine Rolle.<br />
Dennoch sollte man sich vor der Annahme<br />
hüten, es gebe je nach Lernervoraussetzungen<br />
jeweils eine ideale, auf seine Bedürfnisse<br />
zurechtgeschnittene Lernumgebung. Eher<br />
sollte die Umgebung dem <strong>Lernen</strong>den die<br />
Wahl seiner Arbeitsformen in weiten Teilen<br />
überlassen, etwa wie viel Information er sich<br />
aus dem offenen Medium (z.B. dem <strong>Internet</strong>)<br />
holt, wie sehr er Instruktionsphasen in Anspruch<br />
n<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> wie stark er die Kommuni-<br />
32<br />
Abb. 17: Reale <strong>und</strong> virtuelle Aspekte einer Lernumgebung<br />
kation mit dem realen<br />
oder virtuellen Gegenüber<br />
in Anspruch n<strong>im</strong>mt.<br />
Lernstile sind eher situationsspezifisch<br />
als überdauernd,<br />
Systeme, die<br />
Entwicklungsmöglichkeiten<br />
bieten, sind besser<br />
als solche, die sich individuelleBedürfnisopt<strong>im</strong>ierung<br />
zum Ziel setzen.<br />
Die Qualität der<br />
Lernumgebung bemisst<br />
sich somit danach wie<br />
flexibel der Lerner damit<br />
umgehen kann <strong>und</strong> wie<br />
sehr ihn <strong>Lehren</strong>de darin<br />
unterstützen, <strong>und</strong> auch<br />
neue Angebote <strong>und</strong> wachsende Anforderungen<br />
geben.<br />
Eine derart orientierte Programmatik liegt <strong>—</strong><br />
zumindest den Intentionen nach <strong>—</strong> z.B. dem<br />
bereits genannten NRW-Projekt SelGO zu<br />
Gr<strong>und</strong>e:<br />
"Von besonderer Bedeutung für die<br />
Entwicklung <strong>und</strong> Förderung des<br />
selbstständigen <strong>Lernen</strong>s in der Schule<br />
ist eine Neuorientierung des Unterrichts<br />
in Richtung offener <strong>und</strong> reichhaltiger<br />
Lernumgebungen. Konkret bedeutet<br />
dies u.a., dass die <strong>Lernen</strong>den<br />
möglichst oft mit authentischen Themen<br />
<strong>und</strong> realistischen, wenig vorstrukturierten<br />
Aufgaben konfrontiert werden,<br />
dass Probleme <strong>im</strong> Unterricht aus<br />
möglichst unterschiedlichen Perspektiven<br />
betrachtet werden <strong>und</strong> dass kooperative<br />
Arbeitsformen zugelassen<br />
werden. [...] Die digitalen Medien stehen<br />
in diesem Projekt [...] <strong>im</strong> Dienste<br />
der Förderung des selbstständigen<br />
<strong>Lernen</strong>s." (LfS 2003)<br />
Neue Technologien eigenen sich gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
als Werkzeuge für konstruktivistisches<br />
<strong>Lernen</strong>. Wie jedes Werkzeug haben sie ambivalenten<br />
Charakter. Mindest ebensoviel<br />
Engagement muss in ihre sinnvolle Konstruktion<br />
gesteckt werden wie in die Sorge um ihren<br />
aufgeklärten Einsatz.<br />
Literatur<br />
Barabási, Albert-László (2002): Linked: The New<br />
Science of Networks. Cambridge, MA: Perseus<br />
Blumstengel, Astrid (1998): Entwicklung hypermedialer<br />
Lernsysteme. Berlin: Wissenschaftlicher<br />
Verlag Berlin. Online:
<strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> zwischen "instruktivistisch" <strong>und</strong> "konstruktivistisch"<br />
dsor.uni-paderborn.de/de/forschung/<br />
publikationen/blumstengel-diss/Gestaltungs<br />
aspekte-hypermedialer-Lernumgebungen.html<br />
BLK (B<strong>und</strong>-Länder-Kommissions-Projektgruppe<br />
"Innovation <strong>im</strong> Bildungswesen") (1997): Steigerung<br />
der Effizienz des mathematisch-naturwissenschafltichen<br />
Unterrichts. Heft 60 der<br />
Reihe BLK-Dokumente:<br />
www.blk-bonn.de/download.htm<br />
BMBF (2002): IT-Ausstattung der allgemein bildenden<br />
<strong>und</strong> berufsbildenden Schulen in<br />
Deutschland. Online: www.bmbf.de/pub/<br />
it-ausstattung_der_schulen_2004.pdf<br />
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Cornelia Niederdrenk-Felgner, Nürtingen<br />
Seit Jahren wird eine differenzierte Diskussion zum Thema "Mädchen <strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong>"<br />
geführt <strong>und</strong> eine ebenso weit <strong>—</strong> wenn nicht gar weiter <strong>—</strong> ausdifferenzierte Diskussion<br />
zum Thema "Mädchen <strong>und</strong> Computer". In diesem Beitrag werden diese beiden Diskussionen<br />
mit ihren Parallelitäten <strong>und</strong> Abweichungen skizziert. Durch die Analyse der Hintergründe<br />
sollen darüber hinaus Perspektiven dafür aufgezeigt werden, wie ein <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
unter Einbeziehung des Computers gestaltet werden kann, der Mädchen <strong>und</strong><br />
Jungen in gleicher Weise anspricht <strong>und</strong> ihnen beiden gerecht wird.<br />
Vorbemerkung<br />
"Was, Sie sind <strong>Mathematik</strong>erin? Das sieht<br />
man Ihnen gar nicht an!"<br />
Dieser Ausspruch, den, wie ich, jede Frau,<br />
die sich als <strong>Mathematik</strong>erin outet, so oder<br />
ähnlich schon gehört hat, verdeutlicht das<br />
zentrale Problem, mit dem wir es auch heute<br />
noch zu tun haben: <strong>Mathematik</strong> wird nach<br />
wie vor der männlichen Lebenswelt zugeordnet.<br />
Frauen wird die Fähigkeit für mathematisches<br />
Denken abgesprochen. Liegt eine solche<br />
Fähigkeit offensichtlich vor, werden<br />
Zweifel an der Weiblichkeit geäußert, <strong>—</strong> wie<br />
<strong>im</strong> eingangs zitierten Ausruf, der ja <strong>im</strong> übrigen<br />
als Kompl<strong>im</strong>ent gemeint ist.<br />
Ich möchte dieses Problem bezogen auf das<br />
schulische Umfeld mit seinen Ursachen, Erklärungsansätzen<br />
<strong>und</strong> Konsequenzen ausleuchten,<br />
wobei ich speziell <strong>und</strong> zusätzlich<br />
auf den Aspekt Computer <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
eingehe <strong>und</strong> damit versuche, eine<br />
Brücke zwischen den beiden GDM-Arbeitskreisen<br />
"<strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>und</strong> Informatik"<br />
<strong>und</strong> "Frauen <strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong>" zu schlagen.<br />
Problemfelder<br />
Wenden wir uns zunächst der <strong>Mathematik</strong><br />
zu: Wo gibt es überhaupt ein Problem?<br />
Hier haben wir es mit einem quantitativen<br />
Problem zu tun: Frauen sind nach wie vor innerhalb<br />
der <strong>Mathematik</strong> unterrepräsentiert, in<br />
allen Bereichen <strong>und</strong> bei steigender Qualifikation<br />
in wachsendem Maße. In früheren Zeiten<br />
war das nicht weiter verw<strong>und</strong>erlich, hatten<br />
doch Mädchen <strong>und</strong> Frauen kaum Zugang zu<br />
mathematischer Bildung. Heute jedoch ha-<br />
* Dieser Text ist eine stark gekürzte Überarbeitung von (Niederdrenk-Felgner 1998) <strong>und</strong> (2001).<br />
ben Frauen die gleichen Zugangsmöglichkeiten<br />
zur <strong>Mathematik</strong> wie Männer, jedenfalls<br />
formal. Und mehr noch: <strong>Mathematik</strong> ist<br />
Pflichtfach in der Pr<strong>im</strong>arstufe <strong>und</strong> in der Sek<strong>und</strong>arstufe<br />
I, somit haben wir hier eine garantierte,<br />
gleiche Beteiligung von Mädchen<br />
<strong>und</strong> Jungen. Differenzierungen können sich<br />
erst zeigen, wenn Wahlmöglichkeiten bestehen,<br />
also frühestens <strong>im</strong> Kurssystem der<br />
Oberstufe. Tatsächlich sehen wir dort bereits<br />
geschlechtsspezifisches Wahlverhalten:<br />
Nach wie vor haben wir eine geringere Beteiligung<br />
der Mädchen an den Leistungskursen<br />
in <strong>Mathematik</strong>.<br />
Gravierender ist jedoch, dass sich diese Tendenz<br />
der Mädchen, trotz formal gleicher<br />
Chancen die Bildungsangebote in <strong>Mathematik</strong><br />
weniger zu nutzen, als Jungen dies tun,<br />
<strong>im</strong> Berufswahlverhalten fortsetzt. Sowohl bei<br />
der Wahl der Ausbildungsberufe, als auch<br />
bei der Wahl der Studienfächer lassen sich<br />
<strong>im</strong>mer noch sehr deutliche, geschlechtstypische<br />
Unterschiede feststellen, die unter anderem<br />
auch mit der Vermeidungsstrategie<br />
der Mädchen gegenüber <strong>Mathematik</strong>, den<br />
harten Naturwissenschaften <strong>und</strong> Technik zusammenhängen<br />
(vgl. Abb. 1 <strong>und</strong> 2).<br />
Neben diesem quantitativen Problem haben<br />
die neueren Leistungs-Studien auch ein qualitatives<br />
Problem aufgezeigt: Die Ergebnisse<br />
der IGLU-Studie zeigen schon zum Ende der<br />
vierten Jahrgangsstufe Kompetenzunterschiede<br />
zu Gunsten der Jungen in <strong>Mathematik</strong>,<br />
zu Gunsten der Mädchen <strong>im</strong> Lesen (Bos<br />
u.a. 2003, 281ff). Die Ergebnisse von TIMSS<br />
haben sowohl für die 8. Jahrgangsstufe, als<br />
auch für die Abschlussklassen gezeigt, dass<br />
die Jungen in <strong>Mathematik</strong> <strong>im</strong> Durchschnitt<br />
deutlich besser abschneiden als die Mädchen<br />
(Baumert u.a. 1998).<br />
Wenden wir uns jetzt speziell dem Computer<br />
zu. Auf welche Probleme stoßen wir hier?<br />
35
Cornelia Niederdrenk-Felgner<br />
Bei der Nutzung von Computern scheint es<br />
zunächst kein quantitatives Problem zu geben:<br />
Computer sind in allen Lebensbereichen<br />
inzwischen präsent, werden von Frauen <strong>und</strong><br />
Männern in gleicher Weise genutzt, sowohl<br />
<strong>im</strong> beruflichen, als auch zunehmend <strong>im</strong> privaten<br />
Bereich. Schaut man jedoch den engeren<br />
Bereich der Informatik an, so müssen wir hier<br />
eine ähnliche Unterrepräsentanz von Frauen<br />
feststellen, wie wir sie in der <strong>Mathematik</strong> vorfinden.<br />
Der Frauenanteil bei den Informatik-<br />
Studierenden ist nach einem Stand von <strong>im</strong>merhin<br />
20% in den 70er Jahren auf ca. 10%<br />
abgefallen. Es ist nicht ganz einfach, an entsprechende<br />
Zahlen für das Wahl-Fach Informatik<br />
an den Schulen zu kommen. Aus einer<br />
Erhebung <strong>im</strong> Großraum Stuttgart in den Jahren<br />
1990 bis 1992 ergab sich, dass 55% der<br />
Jungen aber nur 18% der Mädchen in der<br />
Klassenstufe 12 das Fach Informatik wählten.<br />
Ähnliche Tendenzen sind aus anderen<br />
B<strong>und</strong>esländern bekannt.<br />
Von diesem quantitativen Unterschied möchte<br />
ich zu einen qualitativen Unterschied <strong>im</strong><br />
Verhalten von Mädchen <strong>und</strong> Jungen gegenüber<br />
dem Computer übergehen.<br />
Mädchen haben heute zwar gleiche Zugangsmöglichkeiten<br />
zum Computer <strong>und</strong> nutzen<br />
ihn weitgehend mit der gleichen Selbstverständlichkeit,<br />
wie Jungen dies tun. Sie<br />
scheinen jedoch weniger bereit zu sein, sich<br />
mit dem Computer an sich zu beschäftigen<br />
<strong>und</strong> nutzen ihn mehr als Werkzeug.<br />
36<br />
Agrar-, Forst-, Ernährungswis.<br />
Sprach-, Kulturwis., Sport<br />
StudienanfängerInnen 2001/02<br />
insgesamt<br />
Ingenieurwis.<br />
Mathem., Naturwis.<br />
Recht-, Wirtschafts-<br />
&Sozialwis.<br />
Medizin<br />
Kunst, Kunstwis.<br />
0 25 50 75 100<br />
Zusammensetzung einzelner Fachrichtungen<br />
Frauen<br />
Männer<br />
Abb. 1: Verteilung der Studienanfängerinnen <strong>und</strong> -anfänger an deutschen Hochschulen 2001/2002. Daten<br />
entnommen aus: GEW Gender-Report 2003<br />
Die folgenden Ergebnisse der zahlreichen<br />
Untersuchungen vor allem aus den 1990er<br />
Jahren <strong>—</strong> damals zum Thema "Mädchen <strong>und</strong><br />
Computer" <strong>—</strong> haben auch heute noch Gültigkeit.<br />
� Engagement <strong>und</strong> Interesse von Mädchen<br />
<strong>und</strong> Jungen sind <strong>im</strong> Fall des Computers<br />
sehr unterschiedlich ausgeprägt.<br />
� Jungen verbringen einen wesentlich größeren<br />
Teil ihrer Freizeit am Computer (bis<br />
zu 40 St<strong>und</strong>en/Woche, also eine volle Arbeitswoche!).<br />
� Im Vorwissen gibt es teilweise sehr große<br />
Unterschiede.<br />
� Die Aufteilung in (vermeintliche) Experten<br />
<strong>und</strong> Unwissende verläuft nahezu nach<br />
den Geschlechtern: männliche Hacker,<br />
weibliche Laien.<br />
Die Problemfelder lassen sich folgendermaßen<br />
zusammenfassen:<br />
Sowohl gegenüber <strong>Mathematik</strong>, als auch in<br />
der Auseinandersetzung mit dem Computer<br />
können wir eine distanziertere Haltung der<br />
Frauen <strong>und</strong> Mädchen beobachten, die sich in<br />
einer entsprechenden Unterrepräsentanz<br />
niederschlägt.<br />
Qualitativ sehen wir Leistungsunterschiede in<br />
<strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Unterschiede <strong>im</strong> Ausmaß<br />
des Interesses am Computer.<br />
Ich muss auf die Bedeutung mathematischer<br />
<strong>und</strong> informatischer Bildung als Schlüsselqua-
them., Naturwis.<br />
15%<br />
Ingenieurwis.<br />
7%<br />
Ingenieurwis.<br />
27%<br />
Mathem.,<br />
Naturwis.<br />
24%<br />
andere<br />
7%<br />
Frauen<br />
andere<br />
12%<br />
Männer<br />
Recht-, Wirtschafts-<br />
&Sozialwis.<br />
35%<br />
Sprach-,<br />
Kulturwis.,<br />
Sport<br />
12%<br />
Recht-,<br />
Wirtschafts-<br />
&Sozialwis.<br />
30%<br />
Sprach-, Kulturwis.,<br />
Sport<br />
31%<br />
Abb. 2a, b: Aufteilung der Studienanfängerinnen<br />
<strong>und</strong> -anfänger an deutschen Hochschulen 2001/<br />
2002 auf ausgewählte Fächergruppen. Daten entnommen<br />
aus: GEW Gender-Report 2003<br />
lifikation für fast alle Berufszweige hier nicht<br />
weiter eingehen. Auch nicht auf die Bedeutung<br />
insbesondere der <strong>Mathematik</strong>note als<br />
Selektionsmittel in der schulischen Karriere.<br />
Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> wird jedoch die Frage<br />
brisant, warum Mädchen <strong>und</strong> junge Frauen<br />
einerseits scheinbar aus freien Stücken<br />
ihre Chancen verpassen, indem sie sich<br />
schon frühzeitig in der Schule gegen eine<br />
weitergehende Auseinandersetzung mit dem<br />
Fach <strong>Mathematik</strong> bzw. Informatik entscheiden.<br />
Andererseits gibt zu denken, dass die<br />
geschlechtstypischen Unterschiede in anderen<br />
Ländern wesentlich geringer sind bzw. zu<br />
Gunsten der Mädchen ausfallen.<br />
So stellt sich also die Frage: Könnte es sein,<br />
dass der Unterricht die Mädchen weniger erreicht?<br />
Bevor diese Frage beantwortet werden<br />
kann, muss man sich mit dem Bild auseinandersetzen,<br />
das in der Öffentlichkeit von<br />
<strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> <strong>im</strong> etwas weiteren Sinne von<br />
Technik herrscht.<br />
Mädchen, Jungen, <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Computer<br />
Bilder in der Öffentlichkeit<br />
Einen ersten Eindruck vom herrschenden<br />
<strong>Mathematik</strong>-Bild erhalte ich z. B., wenn ich irgendjemandem<br />
erzählen, dass ich <strong>Mathematik</strong>erin<br />
bin. Alle <strong>Mathematik</strong>erinnen <strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong>er<br />
kennen die mit großer Sicherheit<br />
abwehrende Reaktion, die dann noch meist<br />
mit Kommentaren zur Schulnote angereichert<br />
wird.<br />
<strong>Mathematik</strong> wird in ihrer Abstraktheit wahrgenommen<br />
als realitätsfern, wenig kommunikativ<br />
<strong>und</strong> manchmal auch mysteriös. Zwar<br />
finden wir einen kleinen Kreis von Menschen,<br />
die für <strong>Mathematik</strong> begeistert sind <strong>und</strong> mit<br />
leuchtenden Augen darüber reden. Wir finden<br />
auf der anderen Seite jedoch eine viel<br />
größere Gruppe, die der <strong>Mathematik</strong> skeptisch<br />
bis ablehnend gegenübersteht. Kaum<br />
ein anderes Wissensgebiet ruft solch gegensätzliche<br />
Reaktionen hervor.<br />
Welche Vorstellungen <strong>und</strong> Erfahrungen liegen<br />
diesen merkwürdigen Reaktionen zugr<strong>und</strong>e?<br />
Die Übertragbarkeit <strong>und</strong> Relevanz<br />
für das tägliche Leben sind <strong>im</strong> Falle der <strong>Mathematik</strong><br />
<strong>—</strong> sieht man einmal von reinen Rechentechniken<br />
ab <strong>—</strong> nur schwer nachzuvollziehen<br />
<strong>und</strong> reduzieren sich selbst für diejenigen,<br />
die <strong>Mathematik</strong> <strong>im</strong> späteren Berufsleben<br />
benötigen, oftmals auf die Anwendung best<strong>im</strong>mter,<br />
rezeptartiger Verfahren. Im Gegensatz<br />
zu dieser stark instrumentalisierten <strong>und</strong><br />
damit in gewissem Sinne leichten Anwendung<br />
gilt das Fach selber als schwer <strong>und</strong> anspruchsvoll.<br />
<strong>Mathematik</strong> gilt als Prototyp einer<br />
abstrakten, objektiven <strong>und</strong> unpersönlichen<br />
Wissenschaft, deren Gedankenpfaden<br />
nur noch wenige Experten folgen können <strong>und</strong><br />
deren Inhalte <strong>und</strong> Methoden den Laien kaum<br />
vermittelt werden (können).<br />
Die Haltung der meisten Menschen gegenüber<br />
<strong>Mathematik</strong> lässt sich beschreiben als<br />
eine Mischung aus Respekt <strong>und</strong> Hochachtung<br />
gegenüber dem Nutzen der <strong>Mathematik</strong>,<br />
der jedoch nicht genauer gefasst werden<br />
kann, <strong>und</strong> einer ablehnenden bis ängstlichen<br />
Einstellung, die vielfach auf persönliche<br />
Misserfolgserlebnisse <strong>im</strong> Verlauf der Schulzeit<br />
zurückgeführt werden kann.<br />
Personen, die <strong>Mathematik</strong> betreiben, wird mit<br />
einer entsprechenden Mischung aus Voreinstellungen<br />
begegnet. Sie müssen nach Ansicht<br />
der Öffentlichkeit zunächst einmal von<br />
besonderer Intelligenz sein. Aus Erfahrungen<br />
mit solchen Menschen oder vielleicht auch<br />
als Kompensation für das Zugeständnis großer<br />
Intelligenz wird <strong>Mathematik</strong>ern aber auch<br />
eine gewisse Eigenartigkeit <strong>und</strong> Schrulligkeit<br />
37
Cornelia Niederdrenk-Felgner<br />
zugeschrieben. Sie gelten als ernst, ein wenig<br />
weltfremd, nicht sehr gesellig, tragen<br />
zwei verschiedene Schuhe <strong>und</strong> treten "in der<br />
Öffentlichkeit meist mit einem verlorenen<br />
Schirm in jeder Hand auf" (Pólya 1980, 94).<br />
Natürlich entsprechen nicht alle <strong>Mathematik</strong>er<br />
diesem Klischee. Es gibt aber genügend<br />
Wissenschaftler, die dieses Image <strong>—</strong> bewusst<br />
oder unbewusst <strong>—</strong> pflegen <strong>und</strong> damit<br />
durchaus kokettieren.<br />
Anekdoten über skurrile <strong>Mathematik</strong>professoren<br />
gibt es zuhauf <strong>und</strong> werden gerade von<br />
<strong>Mathematik</strong>ern mit einiger Lust weitergetragen.<br />
Die zumeist männlichen Handlungsträger<br />
solcher Geschichten werden vielleicht<br />
belächelt; sie werden aber trotzdem geachtet<br />
<strong>und</strong> <strong>—</strong> als Fachleute <strong>—</strong> respektiert.<br />
Dieser klischeebehaftete <strong>Mathematik</strong>er ist<br />
männlich: Mit dem gängigen Frauenbild ist<br />
der Typ des zerstreuten Professors nicht<br />
vereinbar. Einer Frau mit ähnlich schrulligen<br />
Merkmalen würde nicht mehr mit einem<br />
wohlwollenden Lächeln begegnet; <strong>—</strong> sie würde<br />
gnadenlos lächerlich gemacht. Personenmerkmale,<br />
die mit <strong>Mathematik</strong> verb<strong>und</strong>en<br />
werden, sind auch für Männer nicht unbedingt<br />
positiv. Eine Frau mit solchen Merkmalen<br />
ist nicht nur eine Witzfigur, sie wird in ihrer<br />
Rolle als Frau unmöglich gemacht.<br />
Positive Leitbilder für Frauen, die <strong>Mathematik</strong><br />
betreiben, gibt es wenige. Häufiger treffen wir<br />
auf einen negativ belegten Zusammenhang<br />
zwischen Frauen <strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong>.<br />
Wie sieht es mit dem Bild von Technik in unserer<br />
Gesellschaft aus?<br />
Technik ist <strong>im</strong> Prinzip ein eher positiv besetzter<br />
Bereich, der jedoch ganz stark der männlichen<br />
Lebenswelt zugeordnet wird. Umgekehrt<br />
weisen die tradierten Rollenbilder eine<br />
starke Kopplung von Technik <strong>und</strong> Männlichkeit<br />
sowie eine weitgehende Unvereinbarkeit<br />
von Weiblichkeit <strong>und</strong> Technik auf. Wir<br />
treffen hier auf die gleichen Vorurteile, wie<br />
bei der <strong>Mathematik</strong>:<br />
Nicht-Umgehen-Können <strong>und</strong> Desinteresse<br />
werden als Defizit, Kompetenz <strong>und</strong> Interesse<br />
für Technik dagegen werden als Abweichung<br />
vom erwarteten Rollenverhalten angesehen.<br />
In beiden Fällen wird das Verhältnis der Frau<br />
zur Technik als Abweichung von einer <strong>—</strong><br />
durch Männer festgesetzten <strong>—</strong> Norm bewertet.<br />
Mit der männlichen Lebenswelt <strong>und</strong> den zugehörigen<br />
Rollenvorstellungen wird Technik<br />
dagegen eng verb<strong>und</strong>en. Männern wird weitgehende<br />
Kompetenz zugeschrieben, technische<br />
Berufe passen zum Rollenbild. Männer<br />
38<br />
werden aber nicht auf eine Ausrichtung auf<br />
Technik festgelegt. Auch Männer ohne Technikinteresse<br />
werden akzeptiert, der Mann mit<br />
den beiden linken Händen z.B. Ihnen wird<br />
das ganze Spektrum zugestanden <strong>—</strong> von der<br />
Faszination bis zur Ablehnung <strong>—</strong> <strong>und</strong> ihr<br />
Verhalten wird respektiert.<br />
Anders als <strong>Mathematik</strong> ist Technik <strong>—</strong> wie ja<br />
auch der Computer <strong>—</strong> in unserem täglichen<br />
Leben allgegenwärtig. Der wesentliche Unterschied<br />
zwischen dem Verhältnis von Frauen<br />
bzw. Männern zur Technik lässt sich folgendermaßen<br />
fassen:<br />
Männer werden als Entwickler von Technik<br />
gesehen.<br />
Frauen werden als Bedienerinnen von Technik<br />
gesehen.<br />
Technik beginnt erst, wenn man den Schraubenzieher<br />
in die Hand n<strong>im</strong>mt. Das Umgehen<br />
mit Technik <strong>—</strong> was Frauen ja durchaus tun<br />
<strong>und</strong> zwar gut <strong>und</strong> kompetent <strong>—</strong> wird nicht als<br />
Technikkompetenz anerkannt. Und deshalb<br />
dürfen technischen Geräte aus dem Lebensbereich<br />
der Frauen auch nicht nach Technik<br />
aussehen, <strong>im</strong> Gegensatz zu entsprechenden<br />
Geräten für Männer.<br />
Zusammenfassung der Bilder von <strong>Mathematik</strong><br />
<strong>und</strong> Technik in der Öffentlichkeit:<br />
<strong>Mathematik</strong><br />
� gilt als wichtig,<br />
� hat aber scheinbar wenig mit dem Alltag<br />
zu tun,<br />
� gilt als schwierig <strong>und</strong> mysteriös,<br />
� ist für viele Menschen negativ besetzt,<br />
� wird der männlichen Lebenswelt zugeordnet.<br />
Technik<br />
� gilt als wichtig <strong>und</strong> ist überall präsent,<br />
� ist für viele Menschen eher positiv besetzt,<br />
� wird von Männern entwickelt <strong>und</strong> von<br />
Frauen bedient.<br />
Computer sind nicht mit Technik gleichzusetzen,<br />
sie werden aber natürlich auch als technisches<br />
Gerät <strong>und</strong> zur Technik gehörig wahrgenommen.<br />
Und der technische Aspekt des<br />
Computers wird dann auch der männlichen<br />
Lebenswelt zugeordnet.<br />
Soviel zu den vorherrschenden Bildern. Sie<br />
dienen als Folie, vor der die folgenden Erklärungsansätze<br />
zu sehen sind.
Erklärungsansätze<br />
Unterschiede in der Einstellung gegenüber<br />
<strong>Mathematik</strong> spiegeln sich einerseits in der<br />
oben erwähnten Unterrepräsentanz von<br />
Frauen innerhalb der <strong>Mathematik</strong> wider <strong>und</strong><br />
andererseits in der gängigen Zuordnung von<br />
<strong>Mathematik</strong> zur männlichen Lebenswelt. Diese<br />
beiden Aspekte sind nicht unabhängig<br />
voneinander, sondern verstärken sich in einem<br />
Teufelskreis gegenseitig: Die Unterrepräsentanz<br />
der Frauen trägt mit dazu bei,<br />
dass <strong>Mathematik</strong> als "männlich" angesehen<br />
wird, diese Zuordnung hält wiederum Frauen<br />
davon ab, sich intensiver damit auseinander<br />
zu setzen.<br />
Eine Reihe von Untersuchungen ist der Frage<br />
nachgegangen, wie dieser Teufelskreis zu<br />
durchbrechen ist. Das Forschungsinteresse<br />
umfasste den gesamte Bereich Naturwissenschaft,<br />
<strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Technik. Als Beispiel<br />
für eine sehr frühe Arbeit zu diesem Thema<br />
sei die Untersuchung von Ilse Brehmer, Hildegard<br />
Küllchen & Lisa Sommer (1989) genannt.<br />
Sie untersuchten die Gründe für das<br />
geschlechtstypische Verhalten bei der Fächerwahl<br />
für die Leistungskurse in der Oberstufe<br />
<strong>und</strong> fragten nach den Bedingungen, unter<br />
denen "typische" bzw. "untypische" Wahlen<br />
getroffen werden. In ihren Interviews stießen<br />
sie auf die folgenden geschlechtstypischen<br />
Unterschiede, die Rückschlüsse insbesondere<br />
auf unterschiedliche Einstellungen<br />
gegenüber dem Fach <strong>Mathematik</strong> zulassen:<br />
Mädchen, die sich für einen Leistungskurs<br />
<strong>Mathematik</strong> entschieden, <strong>und</strong> insbesondere<br />
solche, die sich besonders für <strong>Mathematik</strong><br />
<strong>und</strong> Naturwissenschaften interessierten, gaben<br />
deutlich seltener Studien- oder Berufswünsche<br />
als Hauptmotiv an als Jungen. Jungen<br />
wiesen dagegen ganz selbstverständlich<br />
auf die Nützlichkeit der gewählten Fächer für<br />
best<strong>im</strong>mte Berufe hin. Nach Ansicht der Forscherinnen<br />
deutet diese Tendenz auf einen<br />
eklatanten Mangel an Vorbildern <strong>und</strong> antizipierten<br />
Berufsmöglichkeiten für Frauen in<br />
den mathematisch-naturwissenschaftlichen<br />
Bereichen hin. Dieser Eindruck wird in der<br />
schulischen Umgebung verstärkt: Ein Blick<br />
auf die Lehrerschaft zeigt, dass der Frauenanteil<br />
für das Fach <strong>Mathematik</strong> <strong>—</strong> <strong>im</strong>mer<br />
noch <strong>—</strong> gering ist. Nach Angaben des Statistischen<br />
Landesamtes Baden-Württemberg<br />
(Stand September 1991) betrug der Anteil<br />
der männlichen Lehrkräfte für <strong>Mathematik</strong> an<br />
Gymnasien insgesamt 80% (74% Vollzeit,<br />
6% Teilzeit); der Anteil der Frauen betrug<br />
entsprechend 20% (7% Vollzeit, 13% Teil-<br />
Mädchen, Jungen, <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Computer<br />
zeit). Diese Zahlen sind in ihrer krassen Ausprägung<br />
sicherlich nicht repräsentativ für die<br />
gesamte B<strong>und</strong>esrepublik, tendenziell sind sie<br />
jedoch verallgemeinerbar.<br />
Für die Gruppen mit untypischem Wahlverhalten<br />
war weiterhin bemerkenswert, dass<br />
den Lehrkräften offensichtlich eine wichtige<br />
Rolle zukam. Diese Möglichkeit, durch Beratung<br />
<strong>und</strong> Ermunterung Einfluss zu nehmen,<br />
sollte demnach nicht unterschätzt werden.<br />
Für mathematisch-naturwissenschaftlich orientierte<br />
Mädchen spielte außerhalb der<br />
Schule die Unterstützung vor allem des Vaters<br />
eine wesentliche Rolle bei einer untypischen<br />
Leistungskurswahl.<br />
Insgesamt stellte sich schulischer Erfolg als<br />
zentrales Motiv für die Leistungskurswahl<br />
heraus. Dieser wurde allerdings von Jungen<br />
<strong>und</strong> Mädchen in Bezug auf das eigene Leistungsvermögen<br />
unterschiedlich interpretiert.<br />
Lernerfolge führten bei Jungen eher zur Ausbildung<br />
eines stabilen <strong>und</strong> positiven Selbstkonzepts<br />
als bei Mädchen. Mädchen verfügten<br />
trotz der eigenen hohen Leistungsanforderungen<br />
über kein ungebrochenes Selbstbewusstsein<br />
<strong>und</strong> Selbstvertrauen, beurteilten<br />
sich selbst kritischer <strong>und</strong> neigten eher dazu,<br />
die eigenen Fähigkeiten zu unterschätzen.<br />
Jungen dagegen stellten sich häufig eher zu<br />
positiv dar. Diese Bef<strong>und</strong>e decken sich mit<br />
den Ergebnissen von Langzeitstudien zum<br />
Erwerb von Selbstvertrauen in der schulischen<br />
Sozialisation (vgl. Horstkemper 1987).<br />
Zur Erklärung dieser Unterschiede werden<br />
Ergebnisse der Attributionsforschung herangezogen.<br />
Hier hat sich gezeigt, dass Mädchen<br />
bezüglich ihrer Leistungen in <strong>Mathematik</strong><br />
<strong>und</strong> Naturwissenschaften signifikant häufiger<br />
als Jungen Erfolge auf Glück zurückführen<br />
<strong>und</strong> Misserfolge durch mangelnde Begabung<br />
erklären.<br />
Diese ungünstige Ursachenzuschreibung <strong>—</strong><br />
Erfolg wird durch eine äußere <strong>und</strong> instabile<br />
Ursache, Misserfolg durch eine persönliche<br />
<strong>und</strong> unveränderbare, stabile Ursache erklärt<br />
<strong>—</strong> führt zu Vermeidungsstrategien, dadurch<br />
zu weiteren Misserfolgen, <strong>und</strong> erweist sich<br />
damit über längere Sicht als selbsterfüllende<br />
Prophezeiung (vgl. dazu Beerman, Heller &<br />
Menacher 1992).<br />
Wir können festhalten, dass Mädchen <strong>im</strong> allgemeinen<br />
ein geringeres Selbstvertrauen in<br />
ihre mathematischen Fähigkeiten <strong>und</strong> Leistungen<br />
zeigen. Dies wirkt sich wiederum negativ<br />
auf die Motivation aus, sich eingehender<br />
damit auseinanderzusetzen. Diese Haltung<br />
der Mädchen fügt sich schließlich st<strong>im</strong>mig<br />
in das vorherrschende Bild ein: Ihnen<br />
39
Cornelia Niederdrenk-Felgner<br />
wird von vornherein weniger zugetraut, ihr<br />
"Versagen" wird nicht nur toleriert, sondern<br />
als "natürlich" gegeben hingenommen.<br />
Für die Jugendlichen kommt der Auseinandersetzung<br />
mit den Rollenbildern in der Zeit<br />
der Pubertät besondere Bedeutung zu. Die<br />
Attribute von Weiblichkeit <strong>und</strong> Männlichkeit<br />
werden von ihnen verinnerlicht <strong>und</strong> sie wollen<br />
den Vorstellungen in der Regel möglichst<br />
gut entsprechen.<br />
Für Mädchen heißt das in erster Linie: attraktiv<br />
für das andere Geschlecht sein; für Jungen<br />
Stärke <strong>und</strong> Überlegenheit zeigen.<br />
Bettina Hannover (1992) hat analysiert, in<br />
welcher Weise sich die Auseinandersetzung<br />
mit den Rollenbildern auf die Interessenentwicklung<br />
bei Jugendlichen in der Pubertät<br />
auswirkt. Dazu untersuchte sie vergleichend<br />
in koedukativen Klassen <strong>und</strong> in reinen Mädchenklassen<br />
die Bedingungen, unter denen<br />
Mädchen sich für als "unweiblich" geltende<br />
Fächer entschieden. Als zentralen Begriff<br />
verwendet sie dabei das spontane Selbstkonzept<br />
einer Person. Damit wird beschrieben,<br />
welche Aspekte der eigenen Person in<br />
einer gegebenen Situation abweichend, neu<br />
oder auf andere Weise besonders hervorgehoben<br />
sind. Ihre Ergebnisse sprechen dafür,<br />
dass Mädchen, die <strong>im</strong> Unterricht das spontane<br />
Selbstkonzepts der eigenen Geschlechtszugehörigkeit<br />
aktivieren, eher weniger Interesse<br />
für typische "Jungenfächer" entwickeln.<br />
Da dieses Selbstkonzept durch die Anwesenheit<br />
männlicher Klassenkameraden stärker<br />
aktiviert wird als in reinen Mädchenklassen,<br />
schlägt sie beispielsweise in den mathematisch-naturwissenschaftlichen<br />
Fächern die<br />
Trennung in geschlechtshomogene Gruppen<br />
als eine Möglichkeit vor, diesen auf die Mädchen<br />
sich negativ auswirkenden Einflussfaktor<br />
auszuschalten.<br />
Nicht zuletzt als Reaktion auf diese Forschungsergebnisse<br />
ist in den letzten Jahren<br />
vielfach mit der zeitweisen Aufhebung der<br />
Koedukation exper<strong>im</strong>entiert worden.<br />
Speziell für das Fach <strong>Mathematik</strong> liegt eine<br />
empirische Untersuchung zur Auswirkung eines<br />
zeitweise monoedukativ durchgeführten<br />
Unterrichts vor (Nyssen, Ueter & Strunz<br />
1996). Im Rahmen des BLK-Modellversuchs<br />
"Zur Förderung von Selbstfindungs- <strong>und</strong> Berufsfindungsprozessen<br />
von Mädchen in der<br />
Sek<strong>und</strong>arstufe I" wurde an einer der beteiligten<br />
Gesamtschulen über die Klassenstufen 7<br />
bis 9 <strong>Mathematik</strong> monoedukativ unterrichtet.<br />
Die Auswertung der Unterrichtsbeobachtungen<br />
sowie der Vergleich der monoedukativen<br />
<strong>und</strong> koedukativen Unterrichtssituationen be-<br />
40<br />
stätigten die oben genannten Forschungsergebnisse.<br />
Die Mädchen in der monoedukativ<br />
unterrichteten 9. Jahrgangsstufe entwickelten<br />
großes inhaltliches Interesse am Fach <strong>und</strong><br />
arbeiteten sehr konstruktiv <strong>und</strong> mit Freude<br />
mit. Hinzu kommt, dass sie sich eine sehr ruhige<br />
<strong>und</strong> konzentrierte Arbeitsatmosphäre<br />
schafften, die sich deutlich von der eher konkurrenz-betonten<br />
Atmosphäre in der Jungengruppe<br />
unterschied. Noch wichtiger erscheinen<br />
mir die Ergebnisse aus der Beobachtung<br />
der wieder zusammengeführten 10. Jahrgangsstufe.<br />
Nach einer anfänglichen Zurückhaltung<br />
der Mädchen war <strong>im</strong> weiteren Verlauf<br />
feststellbar, dass die Mädchen ihr Selbstbewusstsein<br />
in die eigenen Kompetenzen behielten<br />
<strong>und</strong> sich mit ihrem Sozialverhalten <strong>im</strong><br />
Unterricht nicht nur gegenüber den Jungen<br />
durchsetzten, sondern sogar die gesamte<br />
Unterrichtssituation positiv beeinflussten.<br />
Ähnliche positive Effekte werden be<strong>im</strong> Einsatz<br />
des Computers <strong>—</strong> z.B. <strong>im</strong> Rahmen des<br />
ITG-Unterrichts <strong>—</strong> mit zeitweise getrennten<br />
Gruppen berichtet. Allerdings muss davor gewarnt<br />
werden, in der rein organisatorischen<br />
Maßnahme des getrennten Unterrichts die<br />
Lösung eines pädagogischen Problems zu<br />
sehen.<br />
Ich habe unterschiedliche Einflussfaktoren<br />
aufgezeigt, die sich auf die Mädchen <strong>und</strong> ihre<br />
Einstellung zur <strong>Mathematik</strong> eher negativ auswirken.<br />
Eine genaue Wirkungsanalyse, die<br />
auch Rückschlüsse auf die Leistungsunterschiede<br />
zulässt, liegt mit der Promotion von<br />
Carmen Keller vor, die ich abschließend zu<br />
diesem Teil in Kürze skizzieren möchte.<br />
Carmen Keller befragte in der Deutschschweiz<br />
parallel zu TIMSS ca. 6600 Schülerinnen<br />
<strong>und</strong> Schüler der Klassenstufen 6 bis 8<br />
über ihr Interesse an <strong>Mathematik</strong>, das<br />
Selbstvertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit,<br />
ihre Beteiligung am Unterricht sowie die<br />
Geschlechter-Stereotypisierung von Schulfächern<br />
(Keller 1997 & 1998). Dieser letzte<br />
Fragenkomplex wurde auch den Lehrkräften<br />
vorgelegt. Die Ergebnisse der ersten Auswertung<br />
dieser Fragebogen bestätigen <strong>im</strong><br />
Wesentlichen allgemein zu beobachtenden<br />
Tendenzen: Mädchen zeigen ein signifikant<br />
geringeres Interesse an <strong>Mathematik</strong> als Jungen,<br />
<strong>und</strong> ihr Selbstvertrauen in <strong>Mathematik</strong><br />
ist deutlich geringer als das der Jungen.<br />
Mädchen wie Jungen betrachten <strong>—</strong> mit zunehmender<br />
Klassenstufe zunehmend <strong>—</strong> <strong>Mathematik</strong><br />
als männliche Domäne. Die Lehrpersonen<br />
ordnen <strong>Mathematik</strong> sogar in noch<br />
stärkerem Ausmaß der männlichen Lebenswelt<br />
zu.
Carmen Keller hebt hervor, dass diese Stereotypisierung<br />
der <strong>Mathematik</strong> für Mädchen<br />
<strong>und</strong> Jungen nicht das Gleiche bedeutet. Jungen<br />
ordnen <strong>Mathematik</strong> dem eigenen, Mädchen<br />
dagegen dem anderen Geschlecht zu.<br />
Die Identifikation mit <strong>Mathematik</strong> ist für Mädchen<br />
<strong>—</strong> vor allem mit einsetzender Pubertät<br />
<strong>—</strong> damit viel schwieriger als für Jungen. Aus<br />
lernpsychologischer Perspektive können daraus<br />
wiederum negative Auswirkungen auf die<br />
Lern- <strong>und</strong> Leistungsvoraussetzungen resultieren.<br />
Diese These überprüft Keller, indem<br />
sie die Wirkungszusammenhänge der einzeln<br />
erhobenen Merkmale einer Mehrebenen-Analyse<br />
unterzieht.<br />
In dem hier betrachteten Zusammenhang<br />
sind zwei Ergebnisse besonders hervorzuheben:<br />
"Die Analysen haben gezeigt, dass das<br />
Selbstvertrauen in die eigene <strong>Mathematik</strong>leistungsfähigkeit<br />
die Geschlechterdifferenzen<br />
in den <strong>Mathematik</strong>leistungen vollständig<br />
erklärt. Die Mädchen erreichen<br />
schlechtere Leistungen, weil sie in der<br />
<strong>Mathematik</strong> ein schlechteres Selbstvertrauen<br />
haben (...) Außerdem hat die Stereotypisierung<br />
von <strong>Mathematik</strong> als männliche<br />
Domäne der Mädchen <strong>und</strong> Knaben<br />
einen signifikanten Effekt auf ihre Leistungen:<br />
Mädchen, die <strong>Mathematik</strong> weniger<br />
als männliche Domäne betrachten <strong>und</strong><br />
Knaben, die <strong>Mathematik</strong> mehr als männliche<br />
Domäne betrachten, haben bessere<br />
Leistungen.<br />
(...)<br />
In der vorliegenden Arbeit wurde nicht nur<br />
untersucht, wie die Unterschiede in der<br />
<strong>Mathematik</strong>leistung erklärt werden können,<br />
sondern auch, weshalb die Mädchen<br />
ein schlechteres Selbstvertrauen, ein geringeres<br />
Interesse <strong>und</strong> eine geringere Zuschreibung<br />
der <strong>Mathematik</strong> zum eigenen<br />
Geschlecht haben als die Knaben. Die<br />
Stereotypisierung von <strong>Mathematik</strong> als<br />
männliche Domäne erwies sich als wichtigster<br />
Gr<strong>und</strong> für das schlechtere Selbstvertrauen<br />
<strong>und</strong> das geringere Interesse der<br />
Mädchen. (...) Darüber hinaus ist das<br />
Selbstvertrauen der Mädchen auch deshalb<br />
schlechter, weil sie weniger Erwartungen<br />
von den Lehrpersonen wahrnehmen<br />
<strong>und</strong> weil die Lehrpersonen <strong>Mathematik</strong><br />
als männliche Domäne stereotypisieren<br />
<strong>und</strong> deshalb ebenfalls eher den Knaben<br />
zuschreiben.<br />
(...)<br />
Dass die Mädchen <strong>Mathematik</strong> dem eigenen<br />
Geschlecht viel weniger zuschreiben<br />
als die Knaben, ist unter anderem auch<br />
durch die Lehrpersonen bedingt: Mäd-<br />
Mädchen, Jungen, <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Computer<br />
chen nehmen von der Lehrperson weniger<br />
Erwartungen wahr, <strong>und</strong> sie übernehmen<br />
die Stereotypisierung der Lehrperson,<br />
<strong>Mathematik</strong> sei eine männliche Domäne."<br />
(Keller 1998, 146ff)<br />
Mit dieser Arbeit wird einerseits eine f<strong>und</strong>ierte<br />
Analyse der verschiedenen Einflussfaktoren<br />
<strong>und</strong> ihrer Wechselwirkung vorgelegt. Andererseits<br />
zeigen die Ergebnisse aber auch<br />
auf, wo eines der Kernprobleme liegt: <strong>im</strong> stereotypen<br />
Bild von <strong>Mathematik</strong> als der männlichen<br />
Lebenswelt zugehöriger Bereich.<br />
Aus den Untersuchungen zum Einsatz des<br />
Computers <strong>im</strong> Unterricht kann man an dieser<br />
Stelle ergänzen, dass diese Tendenz durch<br />
den Computer noch zusätzlich verstärkt werden<br />
kann, wenn dieser in erster Linie als<br />
technisches Gerät <strong>und</strong> mit den entsprechenden<br />
Stereotypen behaftet wahrgenommen<br />
wird (vgl. hierzu insbesondere Sinhart-Pallin<br />
1990, Schründer-Lenzen 1995).<br />
Blick in den <strong>Mathematik</strong>-<br />
unterricht<br />
Sowohl die Methoden <strong>und</strong> Interaktionen, als<br />
auch die Inhalte des Unterrichts aller Fächer<br />
sind <strong>im</strong> Rahmen der Koedukationsdebatte<br />
kritisiert worden.<br />
Für den <strong>Mathematik</strong>unterricht möchte ich nur<br />
einige Kritikpunkte nennen:<br />
Kennzeichnend für den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
in den Sek<strong>und</strong>arstufen ist das Unterrichtsgespräch:<br />
Geleitet durch Fragen der Lehrperson<br />
werden die Inhalte gemeinsam in der<br />
Klasse erarbeitet. Diese Unterrichtsform führt<br />
teilweise zu einer hoch entwickelten Kommunikationskultur<br />
<strong>und</strong> zu niveauvollen Gesprächen<br />
zwischen Lehrperson <strong>und</strong> Schülerinnen<br />
<strong>und</strong> Schülern. Andererseits birgt sie jedoch<br />
auch die Gefahr, dass aus dem Gespräch eine<br />
Art "Frage-<strong>und</strong>-Antwort-Spiel" wird, das<br />
nach best<strong>im</strong>mten, allen Beteiligten bekannten<br />
Regeln verläuft <strong>und</strong> stark auf die Lehrperson<br />
zentriert ist. Die gestellten Fragen sind<br />
keine echten Fragen, da die fragende Person<br />
die Antworten bereits weiß, ganz best<strong>im</strong>mte<br />
Antworten erwartet <strong>und</strong> in ihren Rückmeldungen<br />
die Antworten häufig jeweils als<br />
falsch oder richtig bewertet. Die Schülerinnen<br />
<strong>und</strong> Schüler spielen dieses Spiel mit <strong>und</strong><br />
wissen auch, dass es sich um eine Art Spiel<br />
<strong>und</strong> nicht um ein echtes Gespräch handelt.<br />
Natürlich ist ein solcher Unterrichtsstil auch<br />
in anderen Fächern verbreitet. Für die <strong>Mathematik</strong><br />
erscheint er jedoch vermutlich des-<br />
41
Cornelia Niederdrenk-Felgner<br />
halb besonders geeignet, als hier <strong>im</strong> Rahmen<br />
des Gespräch ähnlich wie in einem mathematischen<br />
Beweis schrittweise Folgerungsketten<br />
aufgebaut werden. Persönliche Einschätzungen<br />
<strong>und</strong> narrative Elemente haben<br />
bei einem solchen Vorgehen wenig Raum.<br />
Die starr erscheinenden Unterrichtsformen in<br />
<strong>Mathematik</strong> untermauern <strong>und</strong> festigen noch<br />
das Bild von einer starren Wissenschaft, in<br />
der eigentlich schon Alles bekannt ist, für die<br />
stures Befolgen gewisser Strategien zum Erfolg<br />
führt, in der die Lehrperson <strong>im</strong>mer alles<br />
(besser) weiß <strong>und</strong> <strong>im</strong>mer unerreichbar überlegen<br />
sein wird.<br />
Geschlechtsspezifische Unterschiede in der<br />
Reaktion auf den üblichen kleinschrittigen<br />
Unterrichtsstil hat Helga Jungwirth (1990) in<br />
einer Fallstudie untersucht. Ihre Beobachtungen<br />
deuten darauf hin, dass Jungen sich auf<br />
diese Art Unterricht bereitwilliger einlassen<br />
<strong>und</strong> die dafür angemessenen Handlungsweisen<br />
besser beherrschen als Mädchen. Damit<br />
entsprechen die Jungen auch besser den Erwartungen<br />
der Lehrpersonen, die ja ebenfalls<br />
auf diesen Unterrichtsstil eingestellt sind.<br />
Die beobachtbaren Unterschiede in den Verhaltensweisen<br />
von Mädchen <strong>und</strong> Jungen insbesondere<br />
be<strong>im</strong> Einsatz des Computers erklärt<br />
Jungwirth schließlich mit den unterschiedlichen<br />
"sozialen Welten", in denen<br />
Mädchen <strong>und</strong> Jungen sich jeweils bewegen<br />
<strong>—</strong> <strong>und</strong> wohl fühlen:<br />
"Die zentrale Idee der Erklärung ist, dass<br />
Mädchen <strong>und</strong> Buben über jeweils spezifische<br />
Gewohnheiten, Gesprächssituationen<br />
zu gestalten, verfügen. Das heißt, sie<br />
sind gewohnt, best<strong>im</strong>mte sprachliche<br />
Handlungen zu setzen <strong>und</strong> <strong>—</strong> damit in Zusammenhang<br />
<strong>—</strong> Gesprächsthemen in einer<br />
best<strong>im</strong>mten Art <strong>und</strong> Weise zu behandeln.<br />
Mit diesen Gewohnheiten gehen sie<br />
auch an das Geschehen <strong>im</strong> Computerunterricht<br />
heran. (...) Zusammenfassend<br />
lässt sich sagen: Es wird von einer sozialen<br />
Welt der Mädchen <strong>und</strong> einer sozialen<br />
Welt der Buben ausgegangen, in denen<br />
die beiden Geschlechter unterschiedliche<br />
Handlungsweisen, unterschiedliche Vorstellungen<br />
von einer "normalen" Behandlung<br />
eines Themas <strong>und</strong> damit auch von<br />
einem "normalen" Interaktionsverlauf <strong>im</strong><br />
Unterricht erwerben.<br />
(...)<br />
Die soziale Welt der Mädchen lässt sich<br />
mit den Begriffen "Nähe" <strong>und</strong> "Int<strong>im</strong>ität"<br />
charakterisieren. In dieser Welt lernen die<br />
Mädchen vor allem, enge, auf Gleichheit<br />
basierende Beziehungen aufzubauen<br />
bzw. aufrecht zu erhalten. Dazu ist es er-<br />
42<br />
forderlich, sich intensiv mit den Gedanken<br />
anderer auseinanderzusetzen, zu kooperieren<br />
<strong>und</strong> gemeinsam die gemeinte Bedeutung<br />
von Äußerungen zu erschließen.<br />
Ebenso ist es aber für die Mädchen nötig,<br />
sich selbst genau zu überlegen, was sie<br />
ihrem Gegenüber sagen <strong>und</strong> was nicht.<br />
Erforderlich ist also auch die Entwicklung<br />
der Fähigkeit, Probleme allein für sich<br />
selbst zu durchdenken.<br />
(...)<br />
In der sozialen Welt der Buben geht es<br />
vornehmlich um Selbstdarstellung. (...)<br />
Buben lernen also, sich selbst gut darzustellen<br />
<strong>und</strong> dabei neuen Anforderungen<br />
schnell zu begegnen. Ebenso lernen sie,<br />
spontan Einwürfe zu machen <strong>und</strong> Randbemerkungen<br />
anzubringen, mit denen sie<br />
die Aufmerksamkeit anderer auf sich ziehen<br />
können. (...) Dies bedeutet, dass sich<br />
Eindenken in ein Problem, es von allen<br />
Seiten zu betrachten, um es möglichst<br />
vollständig zu verstehen, nicht zu dem gehört,<br />
was in der Bubenkultur in besonderem<br />
Maß gelernt wird." (Jungwirth 1994,<br />
45f)<br />
Bestätigung findet der Ansatz von Jungwirth<br />
durch eine neuere Untersuchung, die Sylvia<br />
Jahnke-Klein (2001) <strong>im</strong> Rahmen ihrer Promotion<br />
durchgeführt hat. Sie hat genauer<br />
analysiert, unter welchen Bedingungen sich<br />
jeweils Mädchen <strong>und</strong> Jungen <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
wohl fühlen, was sie für einen<br />
guten <strong>Mathematik</strong>unterricht halten. Bei den<br />
Mädchen konnte sie ein deutlich größeres Sicherheitsbedürfnis<br />
feststellen. Sie wollten<br />
langsam vorgehen, viele Übungen zum gleichen<br />
Thema machen, auch wenn sie die<br />
Techniken bereits beherrschten. Den Jungen<br />
fiel dagegen ein längeres Verbleiben am selben<br />
Thema schwerer. Sie strebten stärker<br />
nach Abwechslung, unabhängig davon, ob<br />
das Thema bereits verstanden <strong>und</strong> beherrscht<br />
war oder nicht. Diese Tendenzen<br />
sind natürlich nicht unproblematisch, <strong>und</strong> es<br />
kann nicht darum gehen, den <strong>—</strong> auch wieder<br />
stereotypen <strong>—</strong> Wünschen einfach nachzukommen.<br />
Wichtig erscheint hier vielmehr,<br />
diese Wünsche in ihrer Unterschiedlichkeit<br />
überhaupt erst einmal wahrzunehmen, um<br />
dann damit reflektiert umgehen zu können.<br />
Unabhängig davon, dass sich nach den vorliegenden<br />
Untersuchungen insbesondere<br />
Mädchen von einem solchen Unterrichtsstil<br />
weniger angesprochen fühlen als Jungen,<br />
spiegelt sich in diesem kleinschrittigen <strong>und</strong><br />
engen Kommunikationsmuster auch eine reduzierte<br />
Sichtweise auf die "objektiven" Inhalte<br />
wider, die für das <strong>Lernen</strong> von <strong>Mathematik</strong><br />
<strong>und</strong> das Entwickeln eines Verständnisses
für dieses Fach keineswegs förderlich ist. Für<br />
Diskussionen mit Meinungsbildung <strong>und</strong> Aushandeln<br />
von Gesprächsergebnissen scheint<br />
auf den ersten Blick <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
wenig Bedarf zu bestehen. Die Argumentation<br />
läuft meistens auf ein Richtig-oder-<br />
Falsch hinaus; persönliche Einschätzungen<br />
werden eher selten einbezogen.<br />
Kommen wir zu den Unterrichtsinhalten. Die<br />
oben beschriebene Schieflage des Bildes<br />
von <strong>Mathematik</strong> hat natürlich viel damit zu<br />
tun, wie mathematische Inhalte in der Schule<br />
vermittelt werden. Ich möchte einige Kritikpunkte<br />
herausgreifen, die alle seit Jahren <strong>—</strong><br />
<strong>und</strong> nicht erst seit TIMSS <strong>—</strong> in der Fachdidaktik<br />
<strong>im</strong>mer wieder genannt <strong>und</strong> diskutiert<br />
werden:<br />
• Die Inhalte stehen oftmals unverb<strong>und</strong>en<br />
nebeneinander.<br />
• Vieles wird auf Vorrat gelernt: Als Begründung<br />
für einen Inhalt wird ein späterer<br />
Nutzen angegeben.<br />
• Relevanz <strong>und</strong> Sinnhaftigkeit der <strong>Mathematik</strong><br />
werden nur selten deutlich.<br />
• Anwendungen werden häufig aus dem<br />
technischen <strong>und</strong> naturwissenschaftlichen<br />
Bereich gewählt.<br />
• Es wird eine formale Sprache benutzt, die<br />
sich deutlich von der Umgangssprache<br />
unterscheidet. Die Ausdrucksfähigkeit der<br />
Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler bleibt <strong>im</strong> mathematischen<br />
Zusammenhang auf der<br />
Strecke.<br />
Vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser Kritik wird deutlich,<br />
dass die "Probleme" der Mädchen mit<br />
<strong>Mathematik</strong> nur ein Indikator dafür sind, dass<br />
die Unterrichtskultur insgesamt dringend geändert<br />
werden muss. Der vielfach zu beobachtende<br />
Rückzug der Mädchen aus der<br />
<strong>Mathematik</strong> kann in einem ganz anderen<br />
Licht gesehen werden: Handeln sie nicht<br />
ganz vernünftig, wenn sie sich in einer nicht<br />
nur für sie selber sondern auch für die Jungen<br />
mangelhaften Lehr-Lern-Umgebung wenig<br />
engagieren?<br />
Unter dem Gesichtspunkt, eine Unterrichtskultur<br />
in <strong>Mathematik</strong> zu schaffen, die Mädchen<br />
<strong>und</strong> Jungen in gleicher Weise gerecht<br />
wird, sind in den letzten Jahren eine Fülle<br />
von konkreten Vorschlägen erarbeitet worden,<br />
wie die Inhalte <strong>im</strong> Hinblick auf diese Kritikpunkte<br />
verändert <strong>und</strong> verbessert werden<br />
können. Ich kann dazu hier nur auf die entsprechende<br />
Literatur verweisen (ausführliche<br />
Literatur dazu z. B. Grevholm & Hanna 1995,<br />
Hanna 1996, Kaiser & Rogers 1995, Leder<br />
1995, ZDM 26 (1994), Heft 1 & 2).<br />
Mädchen, Jungen, <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Computer<br />
Hier soll es nun zum Abschluss um die Frage<br />
gehen, welche Chancen speziell der Computereinsatz<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>im</strong> Hinblick<br />
auf die aufgeführte Kritik birgt.<br />
Nach meinen vorherigen Ausführungen ist<br />
klar, dass die Gefahr besteht, dass sich zwei<br />
negative Tendenzen verstärken können: Die<br />
möglicherweise bestehende distanzierte Haltung<br />
der Mädchen gegenüber dem Computer<br />
kann sich auf das Fach <strong>Mathematik</strong> übertragen.<br />
Umgekehrt kann sich eine ablehnende<br />
oder distanzierte Haltung gegenüber <strong>Mathematik</strong><br />
auf den Computer übertragen, wenn er<br />
schwerpunktmäßig in diesem Fach eingesetzt<br />
wird. Diese Gefahr ist umso größer, je<br />
mehr die rein technische Seite des Computers<br />
betont wird.<br />
Demgegenüber steht eine ganze Reihe von<br />
Möglichkeiten, die Kritik am <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
ernsthaft aufzugreifen <strong>und</strong> Veränderungen<br />
einzuleiten, die einen Unterricht ermöglichen,<br />
der sowohl den Jungen als auch<br />
den Mädchen gerechter wird:<br />
• Verstärkter Einsatz alternativer Unterrichtsformen,<br />
Gruppenarbeit in <strong>—</strong> geschlechtshomogenen<br />
<strong>—</strong> Kleingruppen,<br />
Differenzierungen nach Kenntnisstand;<br />
• Förderung kooperativer Lernformen,<br />
Aufteilung von Arbeitsaufträgen z.B. in<br />
Form eines Gruppenpuzzles, bei dem jede<br />
Person einen Beitrag leisten muss;<br />
• Möglichkeiten für entdeckendes <strong>Lernen</strong>,<br />
exper<strong>im</strong>entelles Vorgehen durch Einsatz<br />
geeigneter Software (CAS; DGS), dadurch<br />
Veränderung des Bildes von <strong>Mathematik</strong><br />
als "fertiger" Wissenschaft, Fragestellungen<br />
selber erfinden, selber <strong>Mathematik</strong><br />
machen;<br />
• Kommunikation in <strong>und</strong> über <strong>Mathematik</strong>,<br />
Dokumentationen über die Arbeiten am<br />
Computer anfertigen lassen,<br />
Präsentationen über mathematische Themen,<br />
dadurch Förderung der Sprachkompetenz<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht;<br />
• Sicht über das Fach hinaus,<br />
fächerübergreifende Projekte,<br />
Bezüge zu anderen Bereichen <strong>und</strong> zu historischen<br />
Hintergründen; Einbeziehung<br />
des <strong>WWW</strong> als Quelle von Informationen,<br />
Einbeziehung künstlerischer, kreativer<br />
<strong>und</strong> ästhetischer Gesichtspunkte.<br />
43
Cornelia Niederdrenk-Felgner<br />
Konkrete Unterrichtsbeispiele zu einigen dieser<br />
Aspekte sind in (Niederdrenk-Felgner<br />
1998) zu finden.<br />
Es geht nicht darum, leuchtende Beispiele<br />
vorzustellen. Vielmehr möchte ich die Kriterien<br />
aus der Geschlechterperspektive bewusst<br />
machen, die an einen guten <strong>Mathematik</strong>-Unterricht<br />
mit dem Computer angelegt<br />
werden sollten. In diesem Sinne wünsche ich<br />
uns allen, dass es gelingen möge, <strong>Mathematik</strong><br />
mit <strong>und</strong> ohne Computer zu einem positiv<br />
besetzten Fach werden zu lassen, <strong>und</strong> den<br />
Unterricht so zu gestalten, dass Mädchen<br />
wie Jungen mit Interesse <strong>und</strong> Begeisterung<br />
daran teilnehmen.<br />
Literatur<br />
Baumert, Jürgen, Wilfried Bos & Rainer Watermann<br />
(1998): TIMSS/III Schülerleistungen in<br />
<strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> den Naturwissenschaften am<br />
Ende der Sek<strong>und</strong>arstufe II <strong>im</strong> internationalen<br />
Vergleich. Zusammenfassende <strong>und</strong> deskriptive<br />
Ergebnisse. Berlin: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung<br />
Beerman, Lilly, Kurt A. Heller & Pauline Menacher<br />
(1992): Mathe: nichts für Mädchen? Begabung<br />
<strong>und</strong> Geschlecht am Beispiel von <strong>Mathematik</strong>,<br />
Naturwissenschaft <strong>und</strong> Technik. Bern: Huber<br />
Bos, Wilfried, Eva-Maria Lankes, Manfred Prenzel,<br />
Knut Schwippert, Gerd Walther & Renate Valtin<br />
(Hrsg) (2003): Erste Ergebnisse aus IGLU.<br />
Münster u.a.: Waxmann<br />
Brehmer, Ilse, Hildegard Küllchen & Lisa Sommer<br />
(1989): Mädchen, Macht (<strong>und</strong>) Mathe. Dokumente<br />
<strong>und</strong> Berichte 10 der Parlamentarischen<br />
Staatssekretärin für die Gleichstellung von<br />
Frau <strong>und</strong> Mann, Düsseldorf.<br />
GEW Gender Report 2003: www.lakofnrw.fh-koeln<br />
.de/download/gew-gender-report2003.pdf<br />
Grevholm, Barbro & Gila Hanna (Hrsg.) (1995):<br />
Gender and Mathematics Education. An ICMI<br />
Study in Stiftsgården Åkersberg, Höör, Sweden<br />
1993. L<strong>und</strong>: L<strong>und</strong> University Press<br />
Hanna, Gila (Hrsg.) (1996): Towards Gender Equity<br />
in Mathematics Education. An ICMI Study.<br />
Dordrecht: Kluwer<br />
Hannover, Bettina (1992): Spontanes Selbstkonzept<br />
<strong>und</strong> Pubertät. Zur Interessenentwicklung<br />
von Mädchen koedukativer <strong>und</strong> geschlechtshomogener<br />
Schulklassen. In: Bildung <strong>und</strong> Erziehung<br />
45, 31–46<br />
Horstkemper, Marianne (1987): Schule, Geschlecht<br />
<strong>und</strong> Selbstvertrauen. Eine Längsschnittstudie<br />
über Mädchensozialisation in der<br />
Schule. Weinhe<strong>im</strong> & München: Juventa<br />
Jahnke-Klein, Sylvia (2001): Sinnstiftender <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
für Mädchen <strong>und</strong> Jungen.<br />
44<br />
Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren<br />
Jungwirth, Helga (1990): Mädchen <strong>und</strong> Buben <strong>im</strong><br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht. Eine Studie über geschlechtsspezifische<br />
Modifikationen der Interaktionsstrukturen.<br />
Österreichisches B<strong>und</strong>esministerium<br />
für Unterricht, Kunst <strong>und</strong> Sport<br />
(Hrsg.), Reihe Frauenforschung Band 1. Wien.<br />
Jungwirth, Helga (1994): Mädchen <strong>und</strong> Buben <strong>im</strong><br />
Computerunterricht <strong>—</strong> Beobachtungen <strong>und</strong><br />
Erklärungen. In: Zentralblatt für Didaktik der<br />
<strong>Mathematik</strong> 26, Heft 2, 41–48<br />
Kaiser, Gabriele & Pat Rogers (Hrsg.) (1995): Equity<br />
in Mathematics Education. Influences of<br />
Feminism and Culture. London &Bristol: The<br />
Falmer Press<br />
Keller, Carmen (1997): Geschlechterdifferenzen:<br />
Trägt die Schule dazu bei? In U. Moser, E.<br />
Ramseier, C. Keller & M. Huber (Hrsg.) (1997):<br />
Schule auf dem Prüfstand. Eine Evaluation der<br />
Sek<strong>und</strong>arstufe I auf der Gr<strong>und</strong>lage der Third<br />
International Mathematics and Science Study.<br />
Zürich: Rüegger, 137–179<br />
Keller, Carmen (1998): Geschlechterdifferenzen in<br />
der <strong>Mathematik</strong>: Prüfung von Erklärungsansätzen:<br />
Eine mehrebenenanalytische<br />
Untersuchung <strong>im</strong> Rahmen der Third International<br />
Mathematics and Science Study.<br />
Universität Zürich: Dissertation<br />
Leder, Gilah (Hrsg.) (1995): Mathematics and<br />
Gender. In: Educational Studies in Mathematics<br />
28,<br />
Niederdrenk-Felgner, Cornelia (1993): Computer<br />
<strong>im</strong> koedukativen Unterricht. Mädchen <strong>und</strong><br />
Computer. Studienbrief Mädchen <strong>und</strong> Computer.<br />
Tübingen: DIFF<br />
Niederdrenk-Felgner, Cornelia (1998): Entdeckendes<br />
<strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> Problemlösen <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />
Studienbrief Mädchen <strong>und</strong><br />
Computer. Tübingen: DIFF<br />
Niederdrenk-Felgner, Cornelia (2001): Die Geschlechterdebatte<br />
in der <strong>Mathematik</strong>didaktik.<br />
In: Heidrun Hoppe u.a. (Hrsg.) (2001): Geschlechterperspektiven<br />
in der Fachdidaktik.<br />
Weinhe<strong>im</strong> & Basel: Beltz, 123–144<br />
Nyssen, Elke, Pia Ueter & Edda Strunz (1996):<br />
Monoedukation <strong>und</strong> Koedukation <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
des neunten <strong>und</strong> zehnten Schuljahres.<br />
In: Elke Nyssen (Hrsg.) (1996): Mädchenförderung<br />
in der Schule. Ergebnisse <strong>und</strong><br />
Erfahrungen aus einem Modellversuch. Weinhe<strong>im</strong><br />
& München: Juventa, 93–105<br />
Pólya, George (1980): Schule des Denkens. Bern:<br />
Francke, 3. Auflage<br />
Schründer-Lenzen, Agi (1995): Weibliches Selbstkonzept<br />
<strong>und</strong> Computerkultur. Weinhe<strong>im</strong>: Deutscher<br />
Studien Verlag<br />
Sinhart-Pallin, Dieter (1990): Die technik-zentrierte<br />
Persönlichkeit. Sozialisationseffekte mit Computern.<br />
Weinhe<strong>im</strong>: Deutscher Studien Verlag
� MaDiN <strong>—</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik <strong>im</strong> Netz<br />
Thomas Weth, Nürnberg<br />
Das internet-basierte Lehr-Lern-System MaDiN mit seinen Gr<strong>und</strong>sätzen, Ideen <strong>und</strong> Möglichkeiten<br />
wird vorgestellt, <strong>und</strong> erste Erfahrungen be<strong>im</strong> Einsatz in einer Geometrie-Vorlesung<br />
werden beschrieben.<br />
1 Gr<strong>und</strong>sätzliches zu MaDiN<br />
Seit Beginn des Jahres 2000 wurde für die<br />
Dauer von 3 Jahren vom B<strong>und</strong>esministerium<br />
für Bildung <strong>und</strong> Forschung das Projekt Ma-<br />
DiN (<strong>Mathematik</strong>didaktik <strong>im</strong> Netz) finanziell<br />
gefördert. Ziel des Projekts war es, die "gesamte"<br />
Didaktik der <strong>Mathematik</strong>, die in der<br />
Lehrerausbildung der Pr<strong>im</strong>arstufe sowie den<br />
Sek<strong>und</strong>arstufen I <strong>und</strong> II gelehrt wird, unter<br />
sinnvoller Nutzung mult<strong>im</strong>edialer Komponenten<br />
<strong>im</strong> <strong>Internet</strong> anzubieten. Realisiert wurde<br />
das Projekt von den Lehrstühlen für Didaktik<br />
der <strong>Mathematik</strong> an den Universitäten Braunschweig,<br />
Erlangen/Nürnberg, Münster <strong>und</strong><br />
Würzburg. Die Themen, die <strong>im</strong> Projekt für die<br />
Nutzung <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> aufbereitet wurden, umfassen<br />
• Gr<strong>und</strong>schuldidaktik<br />
• Zahlsysteme<br />
• Geometrie<br />
• Algebra<br />
• Analysis<br />
• Stochastik <strong>und</strong><br />
• Computereinsatz <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />
Neben der eigentlichen Materialentwicklung<br />
war die wissenschaftliche Evaluation weiterer<br />
konstitutioneller Bestandteil des Gesamtprojekts.<br />
Über eine Evaluation wird <strong>im</strong> zweiten<br />
Teil dieses Artikels berichtet; eine weitere<br />
findet sich <strong>im</strong> Artikel von G. Wittmann in diesem<br />
Tagungsband.<br />
Die Zielgruppen des Projekts sind Studierende,<br />
Dozenten <strong>und</strong> praktizierende Lehrer.<br />
Studierenden dient das Material zum einen<br />
zur Nachbereitung des Vorlesungsstoffs. Zudem<br />
sind die Inhalte so ausgearbeitet, dass<br />
sie sich (zumindest ansatzweise) zur selbständigen<br />
Erarbeitung von Lerninhalten eignen.<br />
Darüber hinaus versteht sich MaDiN als<br />
Nachschlagewerk <strong>und</strong> als Aufgabensammlung<br />
zu zentralen didaktischen Themen.<br />
Dozenten bietet MaDiN eine Medien- <strong>und</strong><br />
Quellensammlung zur Didaktik der <strong>Mathematik</strong><br />
<strong>und</strong> zum <strong>Mathematik</strong>unterricht. Während<br />
universitärer Veranstaltungen lassen sich<br />
professionell erstellte Grafiken, An<strong>im</strong>ationen,<br />
Lehrfilme usw. zur Veranschaulichung <strong>und</strong><br />
Unterstützung nutzen <strong>und</strong> einsetzen.<br />
Vergleichbaren Nutzen bietet MaDiN praktizierenden<br />
Lehrern in seiner Funktion als Medien-,<br />
Aufgaben- <strong>und</strong> Ideensammlung.<br />
Um diesen Benutzergruppen ein möglichst<br />
vollständiges Angebot zur Didaktik der <strong>Mathematik</strong><br />
anbieten zu können, war ein wesentlicher<br />
konzeptioneller Aspekt bei der<br />
Entwicklung, dass Standardthemen (s.o.)<br />
<strong>und</strong> nicht nur "ausgewählte Aspekte" aufbereitet<br />
werden sollten. Anders formuliert: die<br />
Projektpartner wollten sich bewusst der Herausforderung<br />
stellen, keine "Perlen"-Didaktik<br />
<strong>im</strong> Netz anzubieten, sondern möglichst benutzerorientiert<br />
genau diejenigen Themen zu<br />
bearbeiten, welche in der Standardausbildung<br />
von Bedeutung sind. Und gerade die<br />
Fokussierung auf "Standardinhalte" stellt das<br />
Anspruchsvolle <strong>und</strong> viele konzeptionelle<br />
Überlegungen erfordernde Element von Ma-<br />
DiN dar. Denn das Abwägen des sinnvollen<br />
Einsatzes <strong>und</strong> das Einbeziehen mult<strong>im</strong>edialer<br />
Elemente in Lehrtexte fällt für "trockene,<br />
spröde" Themen wie etwa "schriftliche Addition"<br />
wesentlich schwerer als die Konzeptionierung<br />
"bunter, ergiebiger" Themen wie "der<br />
goldene Schnitt" oder "die Satzgruppe des<br />
Pythagoras".<br />
Um insbesondere der Zielgruppe der Studierenden<br />
gerecht zu werden, wurde bei der<br />
Aufbereitung der Inhalte darauf geachtet,<br />
dass neben der eigentlichen Didaktik auch<br />
die fachwissenschaftlichen Gr<strong>und</strong>lagen Bestandteil<br />
der Materialien sind. Denn die einhellige<br />
Erfahrung aller Projektpartner war,<br />
dass die Studierenden die Didaktikvorlesung<br />
<strong>im</strong> Allgemeinen mit defizitärem fachwissenschaftlichem<br />
Wissensstand betreten, <strong>und</strong> die<br />
Überzeugung die, dass Didaktikvorlesungen<br />
nur auf der Basis eines soliden fachwissenschaftlichen<br />
F<strong>und</strong>aments sinnvoll <strong>und</strong> ertragreich<br />
sein können.<br />
45
Thomas Weth<br />
2 Ein Streifzug durch MaDiN<br />
Um einen Eindruck über Art der Aufbereitung<br />
der Inhalte <strong>und</strong> den Umgang mit MaDiN be<strong>im</strong><br />
46<br />
Abb. 1<br />
Abb. 2<br />
<strong>Lernen</strong> von <strong>Mathematik</strong>didaktik zu gewinnen,<br />
sollen <strong>im</strong> Folgenden einige Charakteristika<br />
des Projekts vorgestellt werden.
Abb. 3<br />
2.1 Die "Verpackung"<br />
MaDiN präsentiert die mathematikdidaktischen<br />
Inhalte über einen<br />
Schreibtisch als Navigationsbzw.<br />
Auswahlinstrument (vgl.<br />
Abb. 1), der den größten Teil des<br />
Bildschirms einn<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> das<br />
"Hauptfenster" bildet. Das Lehrmaterial<br />
ist zu jedem einzelnen<br />
Thema (z.B. Kongruenzabbildungen)<br />
in die "Schreibtisch-<br />
Schubladen" Theorie, Beispiele,<br />
Übungen, Literatur, Links <strong>und</strong><br />
Medien eingeordnet (s.u.). Wählt<br />
man eine dieser Schubladen (per<br />
Mausklick) an, werden die Inhalte<br />
<strong>im</strong> Hauptfenster eingeblendet<br />
(vgl. Abb. 2). Eine Navigationsleiste mit denselben<br />
Elementen wird zusätzlich über dem<br />
Schreibtisch angezeigt, da es sich (aus mediendidaktischer<br />
Sicht) als günstig erweist,<br />
dem Benutzer Steuerelemente red<strong>und</strong>ant<br />
anzubieten (so lassen sich <strong>im</strong> realen Einsatz<br />
von MaDiN auch wirklich Benutzer beobachten,<br />
welche ausschließlich über den Schreibtisch<br />
<strong>und</strong> andere, welche ausschließlich über<br />
die Navigationsleiste <strong>im</strong> System navigieren).<br />
In Bildschirmabschnitten (Frames) links <strong>und</strong><br />
oberhalb des Hauptfensters sind Orientierungshilfen<br />
eingeblendet, die den Benutzer<br />
über seinen Standort <strong>im</strong> System informieren<br />
(vgl. Abb. 1, 2 <strong>und</strong> 3). Die Standortinformation<br />
ist kontextabhängig <strong>und</strong> stellt lediglich die<br />
"nähere" Umgebung <strong>und</strong> nicht die Struktur aller<br />
Inhalte grafisch dar.<br />
Neben weiteren Navigations- <strong>und</strong> Steuerhilfen<br />
(z.B. Einblenden der Gesamtstruktur aller<br />
Inhalte, "History"-Funktion, ...) zählt eine Lupe<br />
<strong>—</strong> als Metapher für eine Volltextsuche <strong>—</strong><br />
zu den Bedien-Elementen von MaDiN.<br />
Die "Map" von MaDiN (in Abb. 4 etwa für das<br />
Thema Geometrie <strong>—</strong> fachwissenschaftlich)<br />
stellt die Inhalte in der "Windows-Explorer"-<br />
MaDiN <strong>—</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik <strong>im</strong> Netz<br />
üblichen Art dar <strong>und</strong> dient gleichzeitig als<br />
weiteres Navigations- <strong>und</strong> Orientierungsinstrument.<br />
2.2 Die Inhalte<br />
Ein Blick auf die Geometrie-Map (Abb. 4)<br />
zeigt, dass die Inhalte ausschließlich "klassisch"<br />
sind. In diesem Sinne ist von MaDiN<br />
also weder eine "neue" <strong>Mathematik</strong> noch eine<br />
"neue" Didaktik zu erwarten. Das Neue an<br />
MaDiN steckt nicht in den Inhalten, sondern<br />
in deren mult<strong>im</strong>edialen Aufbereitung.<br />
Abb. 4<br />
Um mathematikdidaktische Inhalte über den<br />
Computer bzw. über das <strong>Internet</strong> darzustellen<br />
<strong>und</strong> zu vermitteln, bedarf es <strong>—</strong> allein<br />
schon wegen der Verfügbarkeit unterschiedlicher<br />
Medien <strong>—</strong> anderer Gestaltungsprinzipien<br />
als etwa bei einer Darbietung in Buchform.<br />
Aus dem Studium der mediendidaktischen<br />
Literatur, aus der eigenen pädagogischen<br />
Erfahrung <strong>und</strong> dem erworbenen Wissen<br />
aus vorherigen "Computerprojekten"<br />
wurde versucht, bei der Gestaltung u.a. folgende<br />
Prinzipien einzuhalten:<br />
1. Die MaDiN-Texte sollen kurz sein; denn<br />
Lesen/<strong>Lernen</strong> scheint <strong>—</strong> unabhängig vom<br />
Alter <strong>und</strong> der Vertrautheit mit dem Computer<br />
<strong>—</strong> am Bildschirm schwieriger <strong>und</strong><br />
unangenehmer empf<strong>und</strong>en zu werden, als<br />
mit Hilfe eines Buchs.<br />
2. Die MaDiN-Texte sollen die Inhalte auf<br />
verschiedenen Niveaus darstellen; in kurzen<br />
Texten werden Begriffe etwa in Form<br />
"propädeutischer" Erklärungen bis hin zu<br />
formal korrekten Definitionen angeboten<br />
(vgl. Abb. 2).<br />
3. Die MaDiN-Texte sollen authentisch sein;<br />
die Orientierung an den genannten Zielgruppen<br />
erfordert, dass die Texte mit pra-<br />
47
Thomas Weth<br />
xisorientiertem Material unterstützt werden.<br />
Dem wurde u.a. dadurch Rechnung<br />
getragen, dass zu den eigentlichen Lehrtexten<br />
Lehrplanausschnitte, Schulbuchseiten,<br />
Filme zu Unterrichtsversuchen<br />
usw. einbezogen wurden.<br />
4. Die MaDiN-Texte sollen auf überflüssige<br />
An<strong>im</strong>ationen verzichten; auf alle gestalterischen<br />
Elemente (wie z.B. blinkender<br />
Text, "amüsante" an<strong>im</strong>ated-gifs, ...), die<br />
den Benutzer von den Lerninhalten ablenken<br />
bzw. die mit den Lerninhalten<br />
höchstens indirekt zu tun haben, wurde<br />
verzichtet.<br />
5. Die MaDiN-Texte sollen zur Selbsttätigkeit<br />
anregen; in den Seiten finden sich zahlreiche<br />
Möglichkeiten, selbst am Bildschirm<br />
aktiv zu werden; dies reicht etwa<br />
von interaktiven Multiple-choice-Tests<br />
über bewegliche geometrische Konstruktionen<br />
bis hin zu "Pop-up-Ikonogrammen"<br />
(einer parallel zu MaDiN entwickelten<br />
strukturierten <strong>und</strong> an<strong>im</strong>ierten Bild- <strong>und</strong><br />
Filmfolge (Hartmann 2003), mit Hilfe derer<br />
komplexere Beweise selbständig erlernt<br />
werden können).<br />
2.3 Beispiele<br />
Am Beispiel "geometrische Abbildungen" soll<br />
<strong>im</strong> Folgenden ein kurzer Einblick in die hierarchische<br />
Struktur der Inhaltsseiten von Ma-<br />
DiN gegeben werden.<br />
Dabei wird <strong>im</strong> gesamten System der Weg<br />
"Geometrische Abbildungen" – "Kongruenzabbildungen"<br />
– "Achsenspiegelungen" durchlaufen,<br />
um dem Leser ein Gespür für die<br />
Ausprägung der Inhalte auf den einzelnen<br />
Hierarchiestufen zu vermitteln.<br />
2.3.1 Der Schreibtisch "geometrische<br />
Abbildungen"<br />
Die Theorie-Schublade des Schreibtischs<br />
"geometrische Abbildungen" behandelt auf<br />
allgemeinem Niveau den Begriff einer geo-<br />
48<br />
Abb. 5<br />
metrischen Abbildung <strong>und</strong> erklärt<br />
Begriffe wie Fixelemente, surjektiv,<br />
injektiv usw. Anzumerken ist,<br />
dass hier (wie <strong>im</strong> gesamten System)<br />
die Texte durch zahlreiche<br />
Beispiele <strong>und</strong> Gegenbeispiele<br />
unterstützt werden.<br />
Die Beispiel-Schublade des<br />
Schreibtischs "Geometrische Abbildungen"<br />
beinhaltet <strong>im</strong> Wesentlichen<br />
Exper<strong>im</strong>entiermaterial in<br />
Form von interaktiven Cinderella-Konstruktionen,<br />
mit Hilfe derer die o.g.<br />
Begriffe be-"greif"-bar gemacht werden. Wieder<br />
wurde Wert darauf gelegt, neben klassischen<br />
Abbildungen (Kongruenzabbildungen)<br />
auch Alternativbeispiele wie etwa das folgende<br />
zur Verfügung zu stellen, in welchem<br />
die Gerade CD auf die schwarze Kurve abgebildet<br />
wird.<br />
Abb. 6: Beispiel für eine geometrische Abbildung<br />
Abb. 7: Beispiel für eine surjektive, nicht injektive<br />
Abbildung<br />
Abb. 8: Beispiel für eine geometrische Abbildung<br />
In der Übungs-Schublade finden sich <strong>im</strong> Allgemeinen<br />
Übungen aus Schulbüchern,<br />
"klassische" Aufgaben, Schulbuchaufgaben,<br />
Aufgaben zur didaktischen Reflexion oder<br />
wie hier u.a. Multiple-Choice-Tests.<br />
2.3.2 Der Schreibtisch "Kongruenzabbildungen"<br />
Eine Hierarchiestufe unter dem Schreibtisch<br />
"geometrische Abbildungen" finden sich die
Abb. 9: Ausschnitt aus einem Multiple-Choice-Test<br />
Abb. 10: Ausschnitt aus der Theorie-Schublade des Schreibtischs<br />
"Kongruenzabbildungen"<br />
Schreibtische "Kongruenzabbildungen",<br />
"Ähnlichkeitsabbildungen" <strong>und</strong> "Projektionen".<br />
Auf dieser Hierarchiestufe (vgl. Abb. 5)<br />
enthält die Theorie-Schublade aller Schreibtische<br />
eine Darstellung des gestuften Wissenserwerbs<br />
über die Schuljahre hinweg. Parallel<br />
werden die Theoriestufen des Begriffserwerbsmodells<br />
von Vollrath (1984), inhaltliche<br />
Konkretisierungen <strong>und</strong> (als Pop-ups)<br />
Lehrplanauszüge <strong>und</strong> Schulbuchausschnitte<br />
angeboten.<br />
Die Beispiel-Schublade beinhaltet konkrete<br />
Beispiele für Zugänge zum Kongruenzbegriff<br />
(Basteln, Schneiden, Zeichnen, ...) <strong>und</strong> die<br />
Übungs-Schublade bietet eine Sammlung<br />
von (bayerischen) Staatsexamensaufgaben.<br />
2.3.3 Der Schreibtisch "Achsenspiegelungen"<br />
Eine Hierarchiestufe unter dem Schreibtisch<br />
"Kongruenzabbildungen" finden sich u.a. die<br />
Schreibtische "Achsenspiegelungen", "Verschiebungen",<br />
..., "Gruppe der Kongruenzabbildungen",<br />
"Kongruenzsätze am Dreieck"<br />
oder "Symmetrie".<br />
Im Theorieteil zu "Achsenspiegelungen" werden<br />
den Prinzipien von MaDiN entsprechend<br />
u.a. verschiedene, alternative Definitionsmöglichkeiten<br />
zum Begriff "Achsenspiegelung"<br />
gegeben.<br />
Weitere Elemente der Theorieseite sind eine<br />
Darstellung der Eigenschaften von Achsenspiegelungen,<br />
Konstruktionsvorschriften (pa-<br />
MaDiN <strong>—</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik <strong>im</strong> Netz<br />
rallel dazu werden zum Exper<strong>im</strong>entieren<br />
interaktive<br />
Cinderella-Applets angeboten)<br />
<strong>und</strong> der Theorie der Hintereinanderausführung<br />
von<br />
Achsenspiegelungen. Mit<br />
Hilfe eines Pop-up-Ikonogramms<br />
wird der Satz (grafisch,<br />
an<strong>im</strong>iert <strong>und</strong> mit hörbarem<br />
Text) über die Hintereinanderausführung<br />
dreier<br />
Achsenspiegelungen dem<br />
Benutzer nahegebracht <strong>und</strong><br />
bewiesen.<br />
3 Ergebnisse einer<br />
Evaluation<br />
Die zentralen Fragen be<strong>im</strong><br />
nicht unbeträchtlichen finanziellen<br />
Aufwand, der bei der<br />
Realisierung von MaDiN anfiel,<br />
sind ganz lapidar: Wird<br />
MaDiN von den Studierenden<br />
be<strong>im</strong> <strong>Lernen</strong> von <strong>Mathematik</strong>didaktik als<br />
hilfreich akzeptiert? Führt das Einbeziehen<br />
von MaDiN in die Ausbildung zu einem höheren<br />
Lernerfolg?<br />
Die zweite Frage ist langfristiger Natur <strong>und</strong><br />
kann demgemäß in der Entwicklungsphase<br />
nicht beantwortet werden. Ihr wird <strong>im</strong> Zuge<br />
einer Dissertation am Lehrstuhl für Didaktik<br />
der <strong>Mathematik</strong> der Universität Erlangen/<br />
Nürnberg in den kommenden Jahren nachgegangen<br />
werden.<br />
Auf die Frage, ob MaDiN von Studierenden<br />
als hilfreich akzeptiert wird, gibt der Artikel<br />
von Wittmann in diesem Tagungsband eine<br />
(positive) Antwort. Anders als dort mit dem<br />
direkten Interview als Evaluationsinstrument<br />
wurde <strong>im</strong> SS 2003 an der Universität Erlangen/Nürnberg<br />
versucht, über Fragebögen<br />
(also eher "klassisch") eine Antwort zu finden.<br />
Bei der zur Verfügung stehenden Testpopulation<br />
von etwa 14 Hauptschullehramtstudierenden<br />
verstehen sich die folgenden<br />
"Ergebnisse" in keiner Weise als empirisch<br />
abgesichert, sondern stellen nur ein erstes<br />
St<strong>im</strong>mungsbild dar, das durch eine größer<br />
angelegte empirische Untersuchung zu verifizieren<br />
ist.<br />
Die folgende Befragung wurde mit den Teilnehmern<br />
der Vorlesung "Geometrie in der<br />
Hauptschule" (3 St<strong>und</strong>en Vorlesung + 2<br />
St<strong>und</strong>en Übung) am Semesterende durchgeführt.<br />
Die Studierenden saßen zu etwa einem<br />
Drittel der Vorlesungsst<strong>und</strong>en in einem Mult<strong>im</strong>ediaraum<br />
an einem eigenen Computer<br />
49
Thomas Weth<br />
<strong>und</strong> konnten MaDiN entsprechend der Vorgaben<br />
des Dozenten während der Vorlesungen<br />
nutzen. Außerhalb der Vorlesungen hatten<br />
alle Studierenden von zu Hause aus Zugang<br />
zu MaDiN über das <strong>Internet</strong>. In der ersten<br />
Vorlesung wurde eine etwa halbstündige<br />
Einführung in die Bedienung <strong>und</strong> Struktur<br />
von MaDiN gegeben.<br />
Bei der Evaluation am Ende des Semesters<br />
erhielten die Studierenden einen Fragebogen,<br />
bei dem zu jedem Statement (vgl. unten)<br />
jeweils eine von drei möglichen Antworten<br />
(+, 0 oder –) anzukreuzen war. Die folgende<br />
Darstellung zeigt eine kleine Auswahl<br />
von Antworten.<br />
3.1 Akzeptanz der Nutzung<br />
außerhalb der Vorlesung<br />
Einer der Fragenkomplexe bezog sich auf die<br />
Akzeptanz von MaDiN ausserhalb der Vorlesung:<br />
50<br />
Abb. 11: Alternative Definitionsmöglichkeiten<br />
Abb. 12: Pop-up-Ikonogramm<br />
Ich habe MaDiN zur Nachbereitung<br />
des Vorlesungsstoffes<br />
genutzt. (11; 2; 0)<br />
Die überwiegend positiven<br />
Antworten bilden einen ersten<br />
Hinweis, dass die Inhalte von<br />
den Studierenden genutzt <strong>und</strong><br />
akzeptiert werden. Diese<br />
Tendenz zeigt sich auch <strong>im</strong><br />
Antwortverhalten auf das<br />
nächste Statement:<br />
MaDiN war für mich eine Hilfe,<br />
den Lernstoff besser zu verstehen.<br />
(12; 1; 1)<br />
3.2 Akzeptanz der<br />
Nutzung innerhalb<br />
der Vorlesung<br />
Die Vorlesungsst<strong>und</strong>en, in<br />
denen die Studierenden zeitweise<br />
mit MaDiN am Computer<br />
arbeiteten, erschienen mir<br />
als Dozenten in irgendeiner<br />
Art <strong>und</strong> Weise als "langsamer",<br />
"zäher", in gewissem<br />
Sinne "ineffektiver" <strong>und</strong> weniger<br />
gut steuer- <strong>und</strong> planbar<br />
oder mit einem Wort: chaotischer<br />
als die (bei mir) herkömmlichen<br />
Tafel- <strong>und</strong> Kreide-Veranstaltungen.<br />
Die folgenden<br />
Fragen sollten einen<br />
Einblick geben, ob diese Empfindung<br />
<strong>und</strong> St<strong>im</strong>mung von<br />
den Studierenden auch als<br />
eher negative Begleiterscheinung von MaDiN<br />
erachtet wurde.<br />
Die Vorlesungsst<strong>und</strong>en, in denen MaDiN<br />
eingesetzt wurde, waren für mich verständlicher<br />
als herkömmliche Vorlesungsst<strong>und</strong>en.<br />
(5; 5; 4)<br />
Das ausgeglichene Antwortverhalten läßt<br />
sich evtl. in dem Sinne interpretieren, dass<br />
die Studierenden die Intention der Fragestellung<br />
nicht verstanden <strong>und</strong> mit einem achselzuckenden<br />
"ich weiß gar nicht, was er jetzt<br />
von mir will" reagieren. Ähnlich wären eventuell<br />
auch die Antworten auf die nächste Frage<br />
zu interpretieren:<br />
Eine herkömmliche Veranstaltung ist mir lieber<br />
als eine Vorlesung mit MaDiN. (3; 6; 4)<br />
Mein Eindruck, dass die Vorlesungsst<strong>und</strong>en<br />
mit Einbeziehung von MaDiN "zäh" <strong>und</strong><br />
schleppend erschienen, wurde von den Studierenden<br />
anscheinend nicht geteilt, wie die<br />
Antworten auf die folgende Frage zeigen:
Die St<strong>und</strong>en, in denen MaDiN eingesetzt<br />
wurde, litten aus meiner Sicht unter zu viel<br />
'Leerlauf', die deutlich mit einem "st<strong>im</strong>mt eher<br />
nicht" beantwortet wurde. (0; 4; 10)<br />
Ein weiteres Indiz, dass MaDiN von den Studierenden<br />
angenommen wird, liefern die positiven<br />
Antworten auf die Frage<br />
MaDiN läßt sich als Skriptersatz verwenden.<br />
(10; 0; 3)<br />
Die positive Resonanz spiegelt sich auch in<br />
den Freitext-Antworten wieder, die <strong>im</strong> Fragebogen<br />
vorgesehen waren. Auf die Frage:<br />
"Welche Vor- <strong>und</strong> Nachteile sehen Sie be<strong>im</strong><br />
Einbezug von MaDiN in den Lehr-Lern-<br />
Prozess?" wurden Antworten gegeben wie<br />
z.B.: "leicht zu verstehen", "sehr kompakt,<br />
viel Inhalt", "An<strong>im</strong>ationen verdeutlichen <strong>und</strong><br />
machen vieles klarer" oder "Interaktionen<br />
veranschaulichen komplexe Inhalte".<br />
3.3 Akzeptanz der mult<strong>im</strong>edialen<br />
Elemente<br />
Die Entwickler von MaDiN waren bemüht,<br />
Texte knapp zu formulieren, mit An<strong>im</strong>ationen<br />
sparsam umzugehen <strong>und</strong> sich an die in 2.2<br />
genannten Prinzipien zu halten. Eine deshalb<br />
interessierende Frage war, ob die mult<strong>im</strong>edialen<br />
Elemente seitens der Studierenden als<br />
"passend" anerkannt würden. Die Fragen<br />
nach der Verständlichkeit von Lehrtexten,<br />
Schulbuchseiten, Grafiken, Interaktionen <strong>und</strong><br />
Beweisfilmen (Pop-up-Ikonogrammen) wurden<br />
durchweg gleichermaßen positiv beantwortet.<br />
Stellvertretend sei deshalb hier nur<br />
die Antwort auf folgende Frage dargestellt:<br />
Die Texte in MaDiN sind verständlich <strong>und</strong><br />
lehrreich. (11; 2; 1)<br />
3.4 Weitere Fragestellungen<br />
Weitere Aspekte, die für die Entwickler von<br />
MaDiN von Interesse sind, wurden durch<br />
Fragen nach der Einfachheit der Navigation,<br />
der Orientierung innerhalb des Systems oder<br />
der Vollständigkeit des Systems geklärt. Interessant<br />
war, dass die Nutzer eher dahingehend<br />
tendieren, weitere Applikationen wie<br />
z.B. einen Chat, ein Forum, Email-Funktionen,<br />
einen persönlichen virtuellen "Notizzettel"<br />
usw. generell nicht vermissen bzw. sogar<br />
eher ablehnen. In Gesprächen wurde seitens<br />
der Studierenden die Meinung geäußert,<br />
MaDiN <strong>—</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik <strong>im</strong> Netz<br />
dass MaDiN so, wie es ist, übersichtlich sei<br />
<strong>und</strong> alle weiteren zusätzlichen Elemente die<br />
Navigation <strong>und</strong> Orientierung <strong>im</strong> System "nur<br />
behindern" würden.<br />
4 Subjektives Resümee<br />
Zu Beginn des Projekts war ich mit der eher<br />
kritischen Idee angetreten, nach bestem<br />
Wissen <strong>und</strong> mit vollem Einsatz mult<strong>im</strong>ediales<br />
Material zum Erwerb mathematikdidaktischen<br />
Wissens zu erstellen, um anschließend<br />
empirisch nachweisen zu können, dass<br />
alle vollm<strong>und</strong>igen Visionen über das "<strong>Internet</strong><br />
als Schule (oder Universität) der Zukunft" lediglich<br />
marktschreierische Prophezeiungen<br />
sind, welche einer empirischen Überprüfung<br />
nicht standhalten. Diese kritische Haltung<br />
über die "revolutionären Auswirkungen des<br />
<strong>Internet</strong> auf die (schulische oder universitäre)<br />
Ausbildung" habe ich auch nach dem Projekt<br />
nicht geändert. Allerdings habe ich gelernt,<br />
dass die Lehre <strong>—</strong> entsprechend gut entwickelte<br />
Gesamtkonzeptionen vorausgesetzt <strong>—</strong><br />
durch die mult<strong>im</strong>edialen Elemente, welche<br />
durch das <strong>Internet</strong> verfügbar gemacht werden,<br />
durchaus unterstützt <strong>und</strong> verbessert<br />
werden kann. Ich sehe es deshalb als sinnvoll<br />
an, sich weiterhin mit der Entwicklung<br />
von Lehrmaterial <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> <strong>und</strong> entsprechenden<br />
Evaluationen zu beschäftigen; wesentliche<br />
Änderungen <strong>im</strong> Lehr-Lern-Verhalten<br />
erwarte ich allerdings auch weiterhin<br />
nicht.<br />
Darüber hinaus habe ich gelernt (bzw. erneut<br />
erfahren), dass die Entwicklung professionell<br />
ausgearbeiteter <strong>Internet</strong>auftritte "teuer" ist:<br />
Der finanzielle Aufwand für die Realisierung<br />
der in diesem Artikel vorgestellten Geometrie<br />
beträgt etwa 250 000 €. Ob die Entwicklung<br />
"preiswert" ist, müssen zukünftige Evaluationen<br />
zeigen.<br />
Literatur<br />
Hartmann, Mutfried (2003): Eine neue Repräsentationsform<br />
schulmathematischer Inhalte für<br />
das <strong>WWW</strong>: Pop-up-Ikonogramme. In: Der <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
49, Heft 4, 59–70<br />
Vollrath, Hans-Joach<strong>im</strong> (1984): Methodik des Begriffslehrens<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht. Stuttgart:<br />
Klett<br />
51
� <strong>Mathematik</strong>lernen <strong>und</strong> Organisieren<br />
1 Einleitung<br />
Die unüberschaubare Fülle von Informationen,<br />
die <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> zur Verfügung stehen,<br />
führt bei sehr vielen Nutzern entweder gar<br />
nicht oder nur unter sehr großem Zeitaufwand<br />
zu Generierung von Wissen. Vor allem<br />
Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler können weder systematisch<br />
suchen, noch können sie die gef<strong>und</strong>enen<br />
Dokumente nach ihrer Relevanz,<br />
Verlässlichkeit oder Gültigkeit einordnen.<br />
Um die vielen Möglichkeiten, die die Verwendung<br />
des <strong>Internet</strong>s <strong>—</strong> oder der computergestützten<br />
Medien <strong>—</strong> bietet, überhaupt<br />
nutzen zu können, ist organisationales Denken<br />
dringend notwendig.<br />
2 Organisationales Denken<br />
Unter "organisationalem Denken" verstehen<br />
wir die Summe der Überlegungen <strong>und</strong> Maßnahmen,<br />
die notwendig sind, um Aufgabenlösungen<br />
<strong>—</strong> alleine <strong>und</strong>/oder in Zusammenarbeit<br />
mit anderen <strong>—</strong> in einer effizienten, systematischen<br />
<strong>und</strong> koordinierten Weise zu ermöglichen.<br />
Im Kontext von <strong>Lernen</strong> beziehen<br />
sich diese Aufgaben vor allem auf die Generierung<br />
von Wissen aus Informationen <strong>und</strong><br />
Kompetenzen sowie die Verbindung von<br />
Faktenwissen mit Handlungswissen.<br />
52<br />
Christine Bescherer & Herbert Löthe, Ludwigsburg<br />
Die <strong>Internet</strong>-Nutzung be<strong>im</strong> <strong>Lehren</strong> <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> führt bei Schülern <strong>und</strong> Studierenden <strong>—</strong> ja<br />
selbst bei Wissenschaftlern <strong>—</strong> sehr leicht zu inkohärenten <strong>und</strong> teilweise falschen Vorstellungen.<br />
Dies liegt mit daran, dass durch die chaotische Vielfalt des <strong>Internet</strong>s <strong>und</strong> durch<br />
die Nutzung der neuen Medien mit ihren gewaltigen Potenzen eine Recherche sehr leicht<br />
zu einer Anhäufung von spektakulären Details führt <strong>und</strong> die fachlichen Inhalte <strong>und</strong> Prozesse<br />
in ihrer Struktur nicht mehr erkennbar sind.<br />
Um sinnvoll aus der Informationsfülle des <strong>Internet</strong>s <strong>und</strong> der neuen Medien Wissen <strong>und</strong><br />
Kompetenzen aufbauen zu können, ist "organisationales Denken" notwendig. Wir denken<br />
dabei nicht nur an das Organisieren des mathematischen Arbeitens, <strong>Lehren</strong>s <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>s,<br />
sondern wir meinen vor allem die Fähigkeit der <strong>Lehren</strong>den <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>den, gut organisierte<br />
Inhalte <strong>und</strong> Kompetenzen von vornherein anzustreben <strong>und</strong> als wertvoll anzusehen.<br />
Nur solche organisierte Strukturen von Wissen <strong>und</strong> Können werden für <strong>Lehren</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> fruchtbar.<br />
Es ist interessant, dass organisationales Denken mit dem Gebiet der Datenverarbeitung<br />
Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts thematisiert worden ist, <strong>und</strong> <strong>im</strong>mer<br />
mit der Informatik verb<strong>und</strong>en war. Für die <strong>Mathematik</strong> ist es eine querliegende aber auch<br />
verbindende Kompetenz, die die process standards (<strong>im</strong> Sinne der NCTM) ergänzen. Diese<br />
Thesen werden anhand einer Reihe von Beispielen erläutert.<br />
Diese Definition basiert auf einer allgemeinen<br />
Definition von "Organisation", wie sie z.B. in<br />
der <strong>Internet</strong>-Enzyklopädie "Wikipedia" (vgl.<br />
URL http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite,<br />
Zugriffsdatum 25.10.2003) zu finden ist: "Organisation<br />
ist eine dauerhafte Anordnung von<br />
Elementen, deren Tun durch Regeln so festgelegt<br />
ist, dass eine Aufgabenlösung in einer<br />
zusammenarbeitenden, koordinierten Weise<br />
stattfinden kann." Kennzeichnend für Organisation<br />
ist also das Zusammenwirken verschiedener<br />
Elemente, die Befolgung von Regeln<br />
<strong>und</strong> die Unterstützung einer Aufgabenlösung<br />
<strong>—</strong> in einer kooperativen Art <strong>und</strong> Weise.<br />
Dies lässt sich direkt auf Lehr-/Lernprozesse<br />
übertragen.<br />
So gibt es gewisse Regeln oder erprobte<br />
Vorgehensweisen, die das <strong>Lernen</strong> hilfreich<br />
unterstützen, wie Gliedern, in eigenen Worten<br />
Wiedergeben usw. Dass be<strong>im</strong> <strong>Lernen</strong><br />
verschiedene Aspekte wie Motivation, Vorwissen,<br />
Transfermöglichkeiten, … eine große<br />
Rolle spielen <strong>und</strong> diese Teile alle zusammen<br />
erst ein erfolgreiches <strong>Lernen</strong> ermöglichen, ist<br />
bekannt.<br />
Organisationales Denken beinhaltet die geistige<br />
Bemühung um eine effiziente Arbeit auf<br />
verschiedenen Ebenen:<br />
• häufig als trivial angesehene Hilfsmittel<br />
(gespitzte Buntstifte, genug Platz auf der<br />
Arbeitsfläche zum Zeichnen, ...)
• Hilfstechniken des geistigen Arbeitens<br />
(Nachschlagewerke geordnet <strong>und</strong> greifbar,<br />
Notizen machen, Skizzen erstellen,<br />
...)<br />
• Nutzung neuer Medien (Bookmarks verwertbar<br />
aufbereitet, Browser mit entsprechenden<br />
Sicherheitseinstellungen, E-Mail-<br />
Filter, regelmäßige Sicherungen, Verständnis<br />
für Ordnerstrukturen, Versionen,<br />
Dateitypen, ...)<br />
• systematische Arbeitstechniken (Gliedern<br />
z.B. durch farblich Kennzeichnen, Beschriften,...)<br />
• Strategien des Wissenserwerbs (Ordnen,<br />
Strukturieren, Ergänzen, Gliedern, ...)<br />
Diese Bemühungen beziehen sich bewusst<br />
nicht nur auf die Nutzung von computergestützten<br />
Medien, sondern auch auf herkömmliche<br />
Arbeitsweisen. Eine gute (Eigen-) Organisation<br />
hört nicht be<strong>im</strong> Abschalten des<br />
Rechners auf.<br />
Dabei ist zu beachten, dass gute Organisation<br />
allein nicht automatisch gute Arbeit oder<br />
erfolgreiches <strong>Lernen</strong> bedeutet, sondern sie<br />
stellt lediglich eine notwendige Bedingung<br />
dar. Ohne Organisation entsteht Chaos, <strong>und</strong><br />
dies ist fast <strong>im</strong>mer kontraproduktiv für das<br />
<strong>Lernen</strong>. Noch wichtiger ist hingegen, dass<br />
der Umgang mit den computergestützten Medien<br />
kein sich selbst organisierender Prozess<br />
ist. Im Gegenteil: der Computer erzwingt in<br />
starkem Maße eine gut strukturierte Arbeitshaltung.<br />
Dies ist jedem klar, der schon einmal<br />
eine best<strong>im</strong>mte Datei auf alten Sicherungsdisketten<br />
gesucht hat. (Für die Festplatte<br />
gibt es <strong>im</strong>merhin noch die Suchfunktion<br />
z.B. des Windows Explorers, aber die Disketten<br />
müssen einzeln durchgesehen werden.)<br />
Dabei stellt die (fast) unbegrenzte Speicherkapazität<br />
das<br />
Hauptproblem dar.<br />
Ein reales Regal mit<br />
Büchern, Ordnern<br />
<strong>und</strong> Unterlagen ist<br />
irgendwann einmal<br />
so voll, dass entschieden<br />
werden<br />
muss, auf welche<br />
Inhalte verzichtet<br />
werden kann. Wird<br />
die Festplatte zu<br />
klein, so wird eher<br />
ein neuer Speicher<br />
gekauft, anstatt<br />
einmal richtig "aufzuräumen".<br />
Als Test stellen Sie<br />
sich einfach Ihre<br />
<strong>Mathematik</strong>lernen <strong>und</strong> Organisieren<br />
Bookmark- bzw. Favoriten-Datei in Ihrem<br />
Browser vor. Sind die Einträge in sinnvolle<br />
Kategorien organisiert <strong>und</strong> durchsichtig kommentiert?<br />
Oder besteht Ihre Bookmark-Datei<br />
aus einer wilden Sammlung mehr oder weniger<br />
aussagekräftigen Seitentiteln von <strong>Internet</strong>seiten.<br />
Wenn das letztere zutrifft, dann<br />
finden Sie meist schneller die entsprechenden<br />
Seiten wieder, wenn Sie mit einer Suchmaschine<br />
<strong>im</strong> <strong>Internet</strong> suchen.<br />
3 <strong>Mathematik</strong>standards<br />
<strong>und</strong> Querstandards<br />
Werden Bildungsstandards <strong>im</strong> Bereich <strong>Mathematik</strong><br />
nach Inhalts- <strong>und</strong> Prozessstandards<br />
organisiert wie z.B. in den "Principles and<br />
Standards for School Mathematics, 2000"<br />
des NCTM, so bietet sich die Darstellung in<br />
einer 2x2-Matrix an. Die Inhaltsstandards bestehen<br />
aus "Zahlen <strong>und</strong> ihre Verknüpfungen",<br />
"Muster, Funktionen <strong>und</strong> Strukturen",<br />
"Geometrie", "Größen <strong>und</strong> Messen", "Datenanalyse<br />
<strong>und</strong> Wahrscheinlichkeit" <strong>und</strong> die Prozessstandards<br />
aus "Lösen von Aufgaben <strong>und</strong><br />
Problemen", "Begründen <strong>und</strong> Beweisen",<br />
"mathematisch Denken <strong>und</strong> Kommunizieren",<br />
"Bezüge inner- <strong>und</strong> außerhalb der <strong>Mathematik</strong>"<br />
<strong>und</strong> "Repräsentieren <strong>und</strong> Modellieren".<br />
Denn weder kann mathematisches Prozessdenken<br />
ohne mathematische Inhalte vermittelt<br />
werden, noch macht das <strong>Lernen</strong> mathematischer<br />
Inhalte ohne Beachtung der dabei<br />
angemessenen Prozesse Sinn.<br />
Nach unserer Vorstellung fehlen bei dieser<br />
Darstellung noch fünf "Querstandards", die,<br />
wie in der Abbildung 1 zu sehen ist, quer sowohl<br />
zu den Inhalts- wie auch den Prozess-<br />
Abb. 1<br />
53
Christine Bescherer & Herbert Löthe<br />
standards liegen. Diese Querstandards sind<br />
selbstverständlich nicht auf das Fach <strong>Mathematik</strong><br />
beschränkt, sondern spielen auch in<br />
anderen Fächern eine Rolle.<br />
Die einzelnen Querstandards beschreiben<br />
die Überlegungen, die <strong>Lehren</strong>de zum Unterrichtsprozess<br />
anstellen sollten: Wie kann Unterricht<br />
bei vorgegebenen Inhalten <strong>und</strong> angezielten<br />
(mathematischen) Prozessen ablaufen,<br />
gefördert <strong>und</strong> unterstützt werden?<br />
Um den Querstandard "organisationales<br />
Denken", der in diesem Beitrag ausführlich<br />
geschildert wird, entsprechend in den größeren<br />
Kontext einzuordnen, werden die weiteren<br />
Querstandards kurz erklärt:<br />
• Der Lehrer konzipiert <strong>und</strong> motiviert die<br />
Entwicklung mathematischer Produkte<br />
durch Schüler (für diese selbst <strong>und</strong> für andere)<br />
sowohl alleine, mit Anleitung durch<br />
den Lehrer <strong>und</strong> innerhalb einer Gruppe.<br />
Beispiele hierfür wären eine Zusammenfassung<br />
zur Bruchrechnung (als Gedächtnisstütze,<br />
Spickzettel), die Erstellung eines<br />
"persönlichen Schülerdudens" zur Erhaltung<br />
des Überblicks, ein Plakat zu Pythagoras<br />
für eine Elternpräsentation.<br />
• Die Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer ermuntern<br />
<strong>und</strong> fördern kontinuierlich den Erwerb <strong>und</strong><br />
die ständige Anwendung von Vorstellungen<br />
durch die Schüler (mentale Modelle,<br />
quasigeometrische Darstellungen usw.),<br />
indem beispielsweise die Zahlvorstellung,<br />
der Aufbau eines Tabellensystems oder<br />
Selbstdemonstrationen mit Realmodellen<br />
bzw. Software (Geobrett, Java-Applets)<br />
thematisiert <strong>und</strong> <strong>im</strong>mer wieder überprüft<br />
wird.<br />
• Die <strong>Lehren</strong>den geben den <strong>Lernen</strong>den<br />
Raum zum selbstständiges <strong>Lernen</strong>, ermöglichen<br />
das Entdecken durch Exploration<br />
in einer mathematikhaltigen Umgebung,<br />
regen an <strong>und</strong> unterstützen das gezielte<br />
Sammeln <strong>und</strong> Verarbeiten von Informationen<br />
über <strong>Mathematik</strong> (Bsp.: lesendes<br />
Erarbeiten, WebQuests, Exploration<br />
in einer mathematikhaltigen Umgebung<br />
unter Verwendung geometrischer<br />
Modelle, Taschenrechner, Logo).<br />
• Die Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer arbeiten die<br />
Schüler ein in eine begrifflich <strong>und</strong> nicht<br />
technisch orientierte Nutzung mathematischer<br />
Werkzeuge (wie Zeichenwerkzeuge,<br />
Taschenrechner, CAS, DGS oder Programmiersprachen,<br />
Laptop als ständig<br />
präsentes Medium usw.).<br />
Das organisationale Denken steht in starker<br />
Wechselwirkung mit allen diesen Querstan-<br />
54<br />
dards <strong>und</strong> spielt deshalb eine besondere Rolle.<br />
4 Organisationales Denken<br />
<strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong>standards<br />
Anhand der Prozessstandards des NCTM<br />
werden nun Aspekte der Verzahnung mit<br />
diesem Querstandard exemplarisch aufgezeigt.<br />
Dies bedeutet nicht, dass die Verzahnung<br />
mit den Inhaltsstandards weniger wichtig<br />
oder gar trivial wäre, sondern nur, dass<br />
wir leider nicht alle unsere Überlegungen auf<br />
diesem engen Raum schildern können.<br />
Die NCTM-Standards illustrieren die Inhaltsstandards<br />
anhand von Beispielaufgaben <strong>und</strong><br />
die Prozessstandards durch beispielhafte<br />
Unterrichtssituationen. Für die Darstellung<br />
der Querstandards wählten wir die Thematisierung<br />
der Gr<strong>und</strong>fragen, die sich die <strong>Lehren</strong>den<br />
stellen sollten, um einen entsprechenden<br />
Unterricht zu konzipieren, versehen<br />
mit illustrierenden Beispielen.<br />
Gr<strong>und</strong>legend ist hierbei, dass die Lehrerinnen<br />
<strong>und</strong> Lehrer selbst über organisationales<br />
Denken aus eigenen Lernerlebnissen verfügen<br />
<strong>und</strong> ihnen die Wichtigkeit bewusst ist.<br />
4.1 Organisationales Denken <strong>und</strong><br />
Problemlösen:<br />
Dazu gehören sämtliche Überlegungen zur<br />
Förderung der Problemlösenkompetenzen<br />
der Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler. Welche Freiräume<br />
sind be<strong>im</strong> Problemlösen notwendig,<br />
ohne dass das <strong>Lernen</strong> zu sehr in die "falsche"<br />
Richtung abdriftet? Welches Zeitbudget<br />
muss dafür eingeplant werden? Eine Abwägung<br />
von Vor- <strong>und</strong> Nachteilen von Gruppen-<br />
bzw. Einzelarbeit usw. Wie wird Vorwissen<br />
aktiviert? Und vor allem: wann wird es<br />
aktiviert? Zu Beginn der Unterrichtseinheit<br />
oder erst, wenn die <strong>Lernen</strong>den selbst den<br />
Bedarf erkannt haben? Gibt es eine Aufgaben-,<br />
eine Problemesammlung zu vorgegebenen<br />
Gebieten? Gibt es eine Sammlung<br />
von Hilfen, die systematisch angelegt, angewendet<br />
<strong>und</strong> bewertet sind? (z.B. <strong>im</strong> <strong>Internet</strong><br />
URL www.mathe-online.at/mathint.html, Zugriffsdatum:<br />
25.10.2003) Gibt es eine Protokollierung<br />
für die spätere Reflexion? Dies ist<br />
besonders wichtig bei der Verwendung von<br />
Computeralgebra- oder Dynamische-Geometrie-Systemen.<br />
Daran schließt sich sofort die<br />
Frage an: Wie wird neues Wissen <strong>und</strong> Können<br />
festgehalten oder sogar dokumentiert
(als Notizen, als ausgearbeitetes Essay<br />
usw.)? Welche Organisationsform des Unterrichts<br />
ist zur Anregung von Problemlöseprozessen<br />
die richtige?<br />
4.2 Organisationales Denken <strong>und</strong><br />
Begründen & Beweisen:<br />
Wie ist organisiert, auf welchen Gr<strong>und</strong>annahmen<br />
(Axiomen) bewiesen <strong>und</strong> begründet<br />
wird? Gibt es eine Struktur aufeinander aufbauender<br />
Beweise bzw. Begründungen für<br />
ein Teilgebiet? Gerade bei der Satzgruppe<br />
des Pythagoras sollte sich die Lehrperson<br />
klar darüber sein, dass zwar jeder Satz sich<br />
aus den anderen herleiten lässt, dabei aber<br />
verschiedene Vorstellungen in den Köpfen<br />
der Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler erzeugt werden.<br />
Wie werden Vermutungen dokumentiert,<br />
ausgewertet, in eine Reihenfolge gebracht?<br />
Wie werden Argumentationen <strong>und</strong> Beweise<br />
für spätere Bewertung <strong>und</strong> Bewertung durch<br />
andere festgehalten? So ist z.B. in USA der<br />
"Zweispaltenbeweis" (two column proof) in<br />
der Mittelstufengeometrie sehr verbreitet. Ein<br />
Beispiel dafür findet sich auf den "Dr. Math"-<br />
Seiten (s. Abb. 2 oder URL http://mathforum.<br />
org/dr.math/faq/proof_fetter.html, Zugriffsdatum<br />
25.10.2003) Diese Art, geometrische Beweise<br />
in zwei Spalten zu organisieren, wobei<br />
in der einen Spalte die Aussage steht <strong>und</strong> in<br />
Abb. 2<br />
<strong>Mathematik</strong>lernen <strong>und</strong> Organisieren<br />
der anderen der Gr<strong>und</strong>, warum diese Aussage<br />
wahr ist, ist eigentlich eine sehr schöne<br />
Art, Beweise zu strukturieren. <strong>Mathematik</strong>didaktiker<br />
in den USA bemängeln allerdings<br />
den inflationären Gebrauch, der von dieser<br />
Darstellungsart gemacht wird. Und dass die<br />
Form des Zweispaltenbeweises für Behauptungen<br />
missbraucht wird, die eigentlich keines<br />
Beweises bedürfen. (vgl. z.B. Burrill<br />
1998)<br />
Gibt es eine Sammlung von Begründungen,<br />
Beweismethoden? Wie findet man sich da<br />
zurecht? Auch könnte entsprechend einer eigenen<br />
Formelsammlung eine eigene "Beweissammlung"<br />
von den Schülerinnen <strong>und</strong><br />
Schülern oder auch von der gesamten Klasse<br />
angelegt werden. Auf höherer Ebene<br />
könnte man an Axiome <strong>und</strong> eine Folge von<br />
Sätzen denken, um Ordnung zu erzeugen.<br />
4.3 Organisationales Denken <strong>und</strong><br />
Kommunikation:<br />
Welche Sprachmittel sind geeignet? Wie<br />
stellt man mathematische Gedanken, Inhalte<br />
<strong>und</strong> Verfahren systematisch sachgerecht <strong>und</strong><br />
strukturiert dar? Da können Mindmaps sehr<br />
hilfreich für die Strukturierung <strong>und</strong> Darstellung<br />
von Zusammenhängen sein. (vgl. z.B.<br />
URL www.math-edu.de/Mind_Mapping/mind<br />
_mapping.html,<br />
Zugriffsdatum<br />
25.10.2003)<br />
Wie kann man<br />
durch Gestalten<br />
mathematischer<br />
Inhalte <strong>und</strong> Gedanken<br />
mehr<br />
Klarheit <strong>und</strong><br />
Systematik erreichen?<br />
Wie kann<br />
man durch aktives<br />
Lesen <strong>und</strong><br />
Hören Mathematisches<br />
besser<br />
darstellen (Notizen,Selbstvisualisierung,erhellende<br />
Beispiele<br />
usw.)? Aktives<br />
Lesen <strong>und</strong> Hören<br />
bedeutet<br />
Verbinden des<br />
Gelesenen <strong>und</strong><br />
Gehörten mit<br />
Bekanntem<br />
(Gliedern, Strukturieren,<br />
Visuali-<br />
55
Christine Bescherer & Herbert Löthe<br />
sieren von Zusammenhängen). Ein typischer<br />
"verbindungsloser" mathematischer Sachverhalt<br />
ist die Vorstellung des Satzes von Pythagoras<br />
als "a 2 +b 2 =c 2 ". Frühestens wenn mit<br />
dem Stichwort "Pythagoras" sofort ein Bild<br />
des rechtwinkligen Dreiecks mit den Quadraten<br />
über den Seiten verb<strong>und</strong>en wird, ist der<br />
mathematische Sachverhalt verstanden worden.<br />
Diese "mentale Lücke" muss von den<br />
<strong>Lehren</strong>den überprüft, thematisiert, <strong>und</strong> es<br />
muss gegebenenfalls eine "Füllung" angeregt<br />
werden.<br />
Wie kann man Präzision erzeugen <strong>und</strong> ständig<br />
verbessern? Selbstverständlich geht dies<br />
nur, wenn man sich als <strong>Lehren</strong>der selbst um<br />
Präzision bemüht <strong>und</strong> sie von den Schülerinnen<br />
<strong>und</strong> Schüler auch ständig fordert.<br />
4.4 Organisationales Denken <strong>und</strong><br />
Verbindung inner- <strong>und</strong> außerhalb<br />
der <strong>Mathematik</strong>:<br />
Wie ist eine Lernumgebung organisiert? Dazu<br />
gehört in erster Linie die "Hypertext-<br />
Problematik". Es wurde vermutet, dass Hypertext<br />
mit der Möglichkeit der Vernetzung<br />
verschiedener Teile <strong>und</strong> Medien <strong>Lernen</strong> unterstützt,<br />
da <strong>Lernen</strong> ja auch eine Vernetzung<br />
von Informationen, Kompetenzen <strong>und</strong> Wissen<br />
darstellt. Nach neueren Untersuchungen<br />
(z.B. Unz 2000) ergibt sich allerdings die<br />
Vermutung, dass <strong>Lernen</strong>de spezielle Kompetenzen<br />
benötigen, um Hypertext effektiv nutzen<br />
zu können. Welche Navigationshilfen<br />
sind notwendig <strong>und</strong> hilfreich (guided tours<br />
unter best<strong>im</strong>mten Aspekten, Sitemaps nach<br />
Sachlogik, Querverweise usw.)?<br />
Wie sind elementare Beziehungen dargestellt,<br />
wie kann man sie verknüpfen? Wie<br />
wird eine kohärente Struktur aufgebaut, dargestellt,<br />
beschrieben, kommuniziert? Welche<br />
Form hat ein neues Ganzes? Welche Sammlung<br />
von geeigneten Lernumgebungen gibt<br />
es?<br />
4.5 Organisationales Denken <strong>und</strong><br />
Darstellen & Repräsentieren /<br />
Modellieren:<br />
Welche Organisationsformen sind für verschiedenartige<br />
Repräsentationsformen <strong>und</strong><br />
modellierte Strukturen adäquat? Welche<br />
Beschreibungs- <strong>und</strong> Dokumentationsmittel<br />
sind geeignet? Welches Repertoire mit welchen<br />
Hilfen ist wie bereitzustellen? Wie organisiert<br />
man ein Repertoire an Anwendungen<br />
(Lernumgebungen)? Eine von vielen ver-<br />
56<br />
schiedenen Möglichkeiten wäre hier ein<br />
WebQuest, eine Projektstruktur, die die Verwendung<br />
von Information (auch aus <strong>Internet</strong>quellen)<br />
anhand von fachlichen Themen inszeniert.<br />
Diese fragen-basierte Aktivität ist<br />
auf das Niveau der <strong>Lernen</strong>den abgest<strong>im</strong>mt,<br />
die durch die fest vorgegebene Struktur unterstützt<br />
werden. (vgl. URL http://webquest.<br />
ph-bw.de, Zugriffsdatum 25.10.2003)<br />
Darstellen & Repräsentieren/Modellieren<br />
hängt eng mit den anderen Prozessstandards<br />
zusammen, deshalb treffen viele der<br />
oben geschilderten Beispiele auch hierfür zu.<br />
5 Fazit<br />
Be<strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>lernen ist offensichtlich ein<br />
hoch entwickeltes organisationales Denken<br />
sehr hilfreich. Deshalb sollte organisationales<br />
Denken einen wichtigen Teil der Lernziele<br />
darstellen. Ohne dieses Denken ist eine sinnvolle<br />
Nutzung computergestützter Medien zur<br />
Wissensgenerierung (fast) nicht möglich.<br />
Bei der Nutzung des Computers wird aber<br />
besonders deutlich, dass organisationales<br />
Denken eine entscheidende Rolle be<strong>im</strong> Lernvorgang<br />
spielen muss. Der Computer wirkt<br />
<strong>—</strong> wie häufig <strong>—</strong> auch hier als Medium, das<br />
best<strong>im</strong>mte Aspekte erst ins Bewusstsein<br />
rückt.<br />
Selbstverständlich ist damit nicht gesagt,<br />
dass in anderen Fächern nicht auch organisationales<br />
Denken eine Rolle spielt bzw. dort<br />
nicht gefördert werden kann. Hier sollte eine<br />
fachübergreifende Arbeitsteilung einsetzen.<br />
Literatur<br />
Burrill (1998): Interview with Gail Burrill in: Notices<br />
of the AMS 45, Nr. 1<br />
http://www.ams.org/notices/199801/<br />
comm-burrill.pdf, Zugriffsdatum 25.10.2003<br />
NCTM (2000): National Council of Teachers of<br />
Mathematics: Principles and Standards for<br />
School Mathematics, 2000. Reston, Va: NCTM<br />
http://standards.nctm.org/,<br />
Zugriffsdatum 25.10.2003<br />
Unz, Dagmar (2000): <strong>Lernen</strong> mit Hypertext: Informationssuche<br />
<strong>und</strong> Navigation. Münster usw.:<br />
Waxmann<br />
zitiert nach http://www.trinks.org/hypertext/<br />
hypertext_printtext.html,<br />
Zugriffsdatum 25.10.2003
� Ein virtuelles Seminar <strong>—</strong><br />
Konzeption, Durchführung <strong>und</strong> Auswertung<br />
Christine Bescherer, Ludwigsburg<br />
Matthias Ludwig, Weingarten<br />
Barbara Schmidt-Thieme, Karlsruhe<br />
Hans-Georg Weigand, Würzburg<br />
Virtualität von Veranstaltungen, der Einbezug neuer Medien in die Lehre wird auch an<br />
Hochschulen verlangt, Medienentwicklungspläne sichern die hard- <strong>und</strong> softwaremäßige<br />
(Gr<strong>und</strong>-) Ausstattung, die <strong>Lehren</strong>den werden zu deren Nutzung aufgefordert. Wie kann<br />
jetzt eine sinnvolle Umsetzung <strong>im</strong> Rahmen der Hochschullehre aussehen? Welche "neuen"<br />
Gestaltungsmöglichkeiten ergeben sich durch die Nutzung des <strong>Internet</strong>s für ein Seminar?<br />
Welcher Mehrwert <strong>—</strong> inhaltlich, didaktisch, organisatorisch, kommunikativ <strong>—</strong> entsteht<br />
aus diesen Formen für Studierende <strong>und</strong> Dozenten? Wo liegen aber auch die Problemstellen?<br />
Im Sommersemester fand ein virtuelles Seminar "Geometrie in der Umwelt" als Zusammenarbeit<br />
der Pädagogischen Hochschulen Karlsruhe (Barbara Schmidt-Thieme), Ludwigsburg<br />
(Christine Bescherer) <strong>und</strong> Weingarten (Matthias Ludwig) sowie der Universität<br />
Würzburg (Hans-Georg Weigand) statt. Die Veranstaltungsform basierte auf einer "virtuellen"<br />
Art des Gruppenpuzzles (Jigsaw), die Zusammenarbeit <strong>und</strong> Kommunikation verlief<br />
in der Hauptsache über eine netzbasierte Groupware. Aufgabe der Studierenden war die<br />
Erarbeitung von Inhalten zum Thema "Geometrie in der Umwelt" sowie die Gestaltung<br />
<strong>und</strong> Präsentation von Websites. Neben fachlichen, didaktischen <strong>und</strong> unterrichtlichen Inhalten<br />
stand die Entwicklung von Medienkompetenz durch die Studierenden als Veranstaltungsziel<br />
<strong>im</strong> forscherlichen Fokus der Veranstalter. Beobachtung der Aktivitäten der<br />
Studierenden sowie Fragebögen lassen erste Aussagen über Erfolg <strong>und</strong> Nutzen dieser<br />
Seminarform treffen.<br />
1 Das <strong>Internet</strong> als Chance<br />
für den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
Hinsichtlich der Integration des <strong>Internet</strong>s in<br />
den (<strong>Mathematik</strong>-) Unterricht stehen wir <strong>im</strong><br />
Jahr 2003 sicherlich noch am Anfang der<br />
Entwicklung, <strong>und</strong> gegenwärtig spielt dieses<br />
Medium <strong>im</strong> (<strong>Mathematik</strong>-) Unterricht <strong>—</strong> außer<br />
an wenigen Versuchsschulen <strong>—</strong> kaum eine<br />
nennenswerte Rolle. Es haben sich aber in<br />
den letzten Jahren zumindest einige verschiedene<br />
Funktionen des <strong>Internet</strong>s für den<br />
(<strong>Mathematik</strong>-) Unterricht herauskristallisiert.<br />
So wird das <strong>Internet</strong> als ein Nachschlage-<br />
<strong>und</strong> Recherchemedium für mathematische<br />
Begriffe (z.B. bei der Konzeption von Web-<br />
Quests: webquest.ph-bw.de/), als eine Quelle<br />
für Unterrichtsmaterialien (etwa: www.zum.<br />
de/), als ein Demonstrationsmedium <strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer<br />
(etwa www.matheprisma.uni-wu<br />
ppertal.de) oder als ein Kommunikationsmedium<br />
genutzt.<br />
Wie <strong>im</strong>mer hängt es von der genauen Art des<br />
Einsatzes des <strong>Internet</strong>s <strong>im</strong> Unterricht ab, ob<br />
Schüler aktiver <strong>und</strong> verantwortlicher in das<br />
Unterrichtsgeschehen einbezogen werden,<br />
neue <strong>und</strong> sinnvolle methodische Aspekte<br />
oder fachübergreifende Ansätze <strong>im</strong> Unterricht<br />
unterstützt werden <strong>und</strong> sich die Aktualität<br />
zu einer größeren Wirklichkeitsnähe nutzen<br />
lässt. Auf jeden Fall bedarf es für eine<br />
erfolgreiche Nutzung des <strong>Internet</strong>s <strong>im</strong> Unterricht<br />
zusätzlicher Kompetenzen bei den <strong>Lehren</strong>den.<br />
Eine notwendige Voraussetzung für die Nutzung<br />
des <strong>Internet</strong>s <strong>im</strong> (<strong>Mathematik</strong>-) Unterricht<br />
ist, dass der Lehrer mit den technischen<br />
Möglichkeiten dieses neuen Mediums vertraut<br />
ist. Nur wer die Vorzüge <strong>und</strong> Nachteile<br />
eines neuen Mediums erkannt <strong>und</strong> möglichst<br />
auch selbst authentisch kennen gelernt hat,<br />
der wird auch in der Lage sein, dieses Medium<br />
<strong>im</strong> Unterricht konstruktiv zu nutzen.<br />
Schließlich wird <strong>Lernen</strong> in der Schule <strong>—</strong><br />
auch wenn letztlich die Wissenskonstruktion<br />
durch den Einzelnen das Entscheidende ist<br />
<strong>—</strong> durch den Lehrer initiiert. Wie so oft be-<br />
57
Christine Bescherer, Matthias Ludwig, Barbara Schmidt-Thieme & Hans-Georg Weigand<br />
ginnt eine Änderung oder Neuerung <strong>im</strong> schulischen<br />
Bereich also eigentlich bei der Lehrerausbildung.<br />
2 Das <strong>Internet</strong> in der<br />
Lehrerausbildung<br />
Es gibt heute ein wachsendes Angebot an <strong>Internet</strong>materialien,<br />
die neben Universitätsveranstaltungen<br />
sinnvoll genutzt werden können<br />
(vgl. Ludwig & Wittmann 2002, Weth 2005).<br />
Darüber hinaus bleibt es aber eine offene<br />
Frage, ob dabei die Chance für selbstbest<strong>im</strong>mtes,<br />
ortsunabhängiges <strong>und</strong> kooperatives<br />
<strong>Lernen</strong> in der Universitäts- <strong>und</strong> insbesondere<br />
in der Lehrerausbildung genutzt<br />
werden wird. Diese Frage stand <strong>im</strong> Mittelpunkt<br />
des virtuellen Seminars "Geometrie in<br />
der Umwelt", das <strong>im</strong> Sommersemester 2003<br />
als Zusammenarbeit der Pädagogischen<br />
Hochschulen Karlsruhe (Barbara Schmidt-<br />
Thieme), Ludwigsburg (Christine Bescherer)<br />
<strong>und</strong> Weingarten (Matthias Ludwig) sowie der<br />
Universität Würzburg (Hans-Georg Weigand)<br />
stattfand. Gr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> Ausgangspunkt waren<br />
dabei die Ziele der Lehrerbildung, wie sie<br />
etwa in der Denkschrift von DMV <strong>und</strong> GDM<br />
zur Lehrerbildung (2001), Krauthausen<br />
(1998) oder in den "Perspektiven der Lehrerbildung<br />
in Deutschland" (Terhart 1999) angeführt<br />
werden. Wir strebten also durch unser<br />
virtuelles Seminar keine neuen Ziele, sondern<br />
ein besseres (oder auch "nur" anderes)<br />
Erreichen der Ziele an, die wir auch in traditionellen<br />
Veranstaltungen anstreben würden.<br />
Ferner sahen wir uns der folgenden Forderung<br />
verpflichtet: "Die Einbeziehung neuer<br />
Medien in die Lehrerausbildung ist eine wichtige<br />
Aufgabe, die in den mathematischen<br />
Fachbereichen geleistet werden muss" (DMV<br />
& GDM 2001).<br />
3 Erwartungen,<br />
Schwierigkeiten, Ziele<br />
Außer Christine Bescherer, die seit vier Jahre<br />
<strong>im</strong> Rahmen des durch die Landesregierung<br />
Baden-Württembergs finanzierten Projekts<br />
"Virtualisierung <strong>im</strong> Bildungsbereich" als<br />
Teil der "Virtuellen Hochschule Baden-Württemberg"<br />
teilvirtualisierte Hochschulveranstaltungen<br />
konzipiert <strong>und</strong> umsetzt, hatte keiner<br />
der beteiligten Dozenten bisher Erfahrungen<br />
mit einem rein virtuellen Seminar. Es<br />
gibt wohl zahlreiche Überlegungen zum kooperativen<br />
Arbeiten (vgl. etwa Renkl 1997<br />
58<br />
oder Friedrich u.a. 2002), aber <strong>im</strong> Hinblick<br />
auf das online-Arbeiten <strong>und</strong> insbesondere <strong>im</strong><br />
Hinblick auf das <strong>Lernen</strong> von <strong>Mathematik</strong> liegen<br />
bisher kaum Erfahrungen vor (vgl. etwa<br />
Reinmann-Rothmeier & Mandl 2001 oder Döring<br />
2002). Wendet man ein klassisches kybernetisches<br />
Verarbeitungsmodell an, das<br />
kommunikatives Handeln in "Input – Prozesse<br />
– Ergebnisse" untergliedert (vgl. Friedrich<br />
& Hron 2002), dann gehen wir von Studierenden<br />
bzw. Gruppen von Studierenden <strong>und</strong><br />
einer Lernumgebung aus, haben verschiedene<br />
Interaktionsprozesse der beteiligten Personen<br />
untereinander <strong>und</strong> der Personen mit<br />
dem Computer <strong>und</strong> erhalten als Ergebnisse<br />
evtl. Veränderungen bei den Personen <strong>und</strong><br />
ein Produkt (<strong>Internet</strong>seiten).<br />
Gegenüber traditionellen Seminaren erwarteten<br />
wir<br />
• ein stärkeres (zeitliches) Engagement der<br />
Studierenden aufgr<strong>und</strong> der Möglichkeit,<br />
zeitungeb<strong>und</strong>en arbeiten zu können, aber<br />
auch wegen der zusätzlichen technischen<br />
Fähigkeiten, die für die Nutzung des <strong>Internet</strong>s<br />
notwendig sind;<br />
• eine größere Bedeutung des Verbalisierens<br />
bzw. Verschriftlichens fachdidaktischer<br />
<strong>und</strong> fachlicher Inhalte;<br />
• eine höhere Qualität bei Aufbereitung <strong>und</strong><br />
Darstellung der Inhalte aufgr<strong>und</strong> der Präsentation<br />
<strong>im</strong> Netz (<strong>und</strong> damit der weltweiten<br />
Veröffentlichung), insbesondere durch<br />
das Nutzen neuer Möglichkeiten wie die<br />
Verwendung von Applets <strong>und</strong> Links;<br />
• eine verstärkte Kommunikation zwischen<br />
den Studierenden <strong>und</strong> auch zwischen Dozenten<br />
<strong>und</strong> Studierenden.<br />
Wir rechneten aber auch mit Problemen der<br />
Studierenden<br />
• be<strong>im</strong> Umgang mit der der neuen Technik;<br />
• hinsichtlich der inhaltlichen <strong>und</strong> organisatorischen<br />
Abst<strong>im</strong>mung zwischen Studierenden<br />
verschiedener Hochschulen;<br />
• durch das "Ausklinken" einzelner Studierender<br />
aus ihrer Arbeitsgruppe;<br />
• aufgr<strong>und</strong> der verlangten höheren Selbststeuerung;<br />
• aufgr<strong>und</strong> der eingeschränkten Möglichkeit,<br />
vor allem mathematische Formeln<br />
<strong>und</strong> Skizzen, Graphen <strong>und</strong> Diagramme<br />
elektronisch darzustellen zu können.<br />
Bei unserer Veranstaltung waren wir an folgenden<br />
zunächst sehr allgemein gehaltenen<br />
Fragen interessiert:
• Wie ist ein virtuelles Seminar zu gestalten,<br />
das Studierende verschiedener<br />
Hochschulen zusammenbringt?<br />
• Werden unsere Erwartungen <strong>und</strong> Hoffnungen<br />
<strong>im</strong> Hinblick auf das selbstbest<strong>im</strong>mte<br />
<strong>und</strong> kooperative Arbeiten erfüllt?<br />
• Ist gegenüber einem traditionellen Seminar<br />
ein Mehrwert <strong>im</strong> Hinblick auf die Ziele<br />
(ein Ziel) der Lehrerausbildung festzustellen?<br />
• Welche technischen, inhaltlichen, kommunikativen<br />
Schwierigkeiten treten während<br />
des Seminars auf?<br />
• Welche Qualität hat das zu erzeugende<br />
Produkt (<strong>Internet</strong>seiten)?<br />
Bevor aber spezielle Forschungsfragen gestellt<br />
<strong>und</strong> untersucht werden können, müssen<br />
zuerst Erfahrungen mit der Realität virtueller<br />
Veranstaltungen gemacht werden, sonst besteht<br />
die Gefahr, in den technischen Problemen<br />
stecken zu bleiben.<br />
4 Konzeptionelle Gestaltung<br />
4.1 Personen<br />
Teilnehmer an dem Seminar waren Studierende<br />
für die Lehrämter an Gymnasien, Real-<br />
<strong>und</strong> Hauptschulen. Somit war das Vorwissen<br />
sowohl in fachlicher als auch didaktischer<br />
Hinsicht sehr unterschiedlich. Die Studierenden<br />
für das Lehramt an Gymnasium waren<br />
mehrheitlich <strong>im</strong> 3. Semester <strong>und</strong> hatten bisher<br />
noch keine Didaktikveranstaltung gehört. 1<br />
4.2 Thema<br />
Das Thema des Seminars "Geometrie in der<br />
Umwelt" spricht <strong>Lernen</strong>de an, ist wichtig für<br />
alle Schularten <strong>und</strong> in jede Studienordnung<br />
integrierbar. Die Dozenten wählten sechs<br />
Themenbereiche <strong>im</strong> Hinblick auf gute Bearbeitungsmöglichkeiten<br />
aus: Flächeninhalte,<br />
Dreiecke, Spiegel, Spiralen, Strahlensatz <strong>und</strong><br />
Trigonometrie. Für alle Studierenden war<br />
dieses Seminar eine Pflichtveranstaltung, in<br />
der ein Leistungsnachweis erworben werden<br />
konnte.<br />
1 Das ist sicherlich nicht wünschenswert; aufgr<strong>und</strong> einer Änderung<br />
der Studienordnung musste diesen Studierenden kurzfristig eine<br />
neue Veranstaltung angeboten werden; <strong>und</strong> dabei handelte es<br />
sich um das hier beschriebene Virtuelle Seminar.<br />
Ein virtuelles Seminar <strong>—</strong> Konzeption, Durchführung <strong>und</strong> Auswertung<br />
4.3 Interaktionsformen<br />
Um den durch die Virtualität gegebenen Vorteil<br />
verteilter Standorte mit verschiedenen<br />
personalen Ausgangssituationen (fachliches,<br />
didaktisches Vorwissen sowie Studienschwerpunkt)<br />
bestmöglich zu nutzen (<strong>und</strong> die<br />
Studierenden zur Kooperation mit den anderen<br />
Hochschulen zu zwingen), wurde jedem<br />
Standort ein Bearbeitungsschwerpunkt zugeordnet.<br />
• Würzburg übernahm die fachliche<br />
Aufarbeitung der Inhalte,<br />
• in Ludwigsburg widmete man sich der didaktischen<br />
Aufbereitung der Themenbereiche,<br />
<strong>und</strong><br />
• in Karlsruhe geschah die Umsetzung für<br />
den Unterricht, also die methodische Aufbereitung.<br />
• Weingarten setzte die Themen durch Vermessungsaufgaben<br />
<strong>im</strong> Gelände um, es<br />
handelte sich also um eine praktische<br />
Aufbereitung.<br />
Entsprechend der sechs Themenbereiche<br />
wurden an jeder Hochschule sechs Gruppen<br />
von je 2 – 4 Personen gebildet, die Standortgruppen.<br />
Eine Themengruppe bestand dann<br />
aus den vier Standortgruppen der vier Hochschulen,<br />
somit aus 10 – 16 Personen. Insgesamt<br />
nahmen 83 Personen an dem Seminar<br />
teil.<br />
Die Arbeit an den Standorten war sehr unterschiedlich<br />
organisiert. In Weingarten traf sich<br />
die Gesamtgruppe überwiegend "real", in<br />
Ludwigsburg nur "virtuell" <strong>und</strong> in Karlsruhe<br />
<strong>und</strong> Würzburg in Mischformen. Die Zusammenarbeit<br />
innerhalb der Themengruppe verlief<br />
rein virtuell. Eine weitere Aufteilung der<br />
Zuständigkeiten innerhalb einer Standortgruppe<br />
blieb den Studierenden selbst überlassen.<br />
So bot es sich an, dass sich etwa ein<br />
Student um die technische Aufbereitung, ein<br />
anderer um das Literaturstudium in der Bibliothek<br />
<strong>und</strong> ein dritter um die <strong>Internet</strong>recherche<br />
kümmerte.<br />
Somit entstand eine virtuelle Form eines<br />
"Gruppenpuzzles" (Stebler u.a. 1994, Bett<br />
u.a. 2002), bei dem zunächst von den Standortgruppen<br />
je ein Teil eines Themenbereiches<br />
bearbeitet wurde. In der Mischung von<br />
realen Terminen vor Ort, virtueller Zusammenarbeit<br />
hochschulintern <strong>und</strong> -extern entstand<br />
somit eine "hybride Form" des Lernarrangements.<br />
59
Christine Bescherer, Matthias Ludwig, Barbara Schmidt-Thieme & Hans-Georg Weigand<br />
4.4 Kommunikationsplattform<br />
Wir stellten folgende Anforderungen an die<br />
Kommunikationsplattform:<br />
• Es sollte eine organisatorische sowie inhaltsbezogene<br />
Kommunikation der Gruppenmitglieder<br />
untereinander, aber auch<br />
zwischen Studierenden, Tutoren <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong>den<br />
stattfinden;<br />
• der Austausch von Sachinformationen<br />
sollte in verschiedenen elektronischen<br />
Formaten (Texte, Dateien, URLs usw.) erfolgen;<br />
• es sollten Annotationsmöglichkeiten (auf<br />
Beiträge gezielt reagieren können) <strong>und</strong><br />
eine gezielte Betreuung von einzelnen<br />
oder Gruppen unterstützt werden.<br />
Als Kommunikationsplattform wurde BSCW<br />
(Basic Support for Cooperative Work <strong>—</strong><br />
www.bscw.de) gewählt.<br />
4.5 Anforderungen an die<br />
Studierenden<br />
Jede Gruppe hatte die Aufgabe, bis zum<br />
Semesterende eine Website zu ihrem Thema<br />
zu erstellen, welche Studierenden oder (angehenden)<br />
Lehrern Information in übersichtlicher<br />
<strong>und</strong> ansprechender Weise anbietet.<br />
Vorgaben für die Gestaltung der Websites<br />
gab es keine. Diese Freiheit stellte sich als<br />
ein sehr zeitraubender Faktor heraus, da die<br />
Studierenden in den ersten Entwürfen anstatt<br />
sich mit den Inhalten zu beschäftigen, sehr<br />
viel Zeit in die farbliche Gestaltung <strong>und</strong> das<br />
Design der Website investierten.<br />
In technischer Hinsicht wurden von den Teilnehmern<br />
keine Vorkenntnisse erwartet. An<br />
jeder Hochschule fanden Einführungsveranstaltungen<br />
<strong>im</strong> Umfang von etwa einer St<strong>und</strong>eneinheit<br />
zur Nutzung von BSCW statt.<br />
Wieterhin wurde den Studierenden <strong>—</strong> ebenfalls<br />
<strong>im</strong> Rahmen einer St<strong>und</strong>eneinheit <strong>—</strong> eine<br />
Einführung in die Erstellung von HTML-Seiten<br />
gegeben. Es wurden drei unterschiedlich<br />
komplexe Vorlagen für Websites angeboten,<br />
die jedoch von den Studierenden nicht genutzt<br />
wurden.<br />
Die Studierenden mussten also ihre Aufmerksamkeit<br />
<strong>und</strong> Arbeitszeit <strong>im</strong> Wesentlichen<br />
auf drei Bereiche verteilen: Inhalt,<br />
Kommunikation oder soziale Interaktion <strong>und</strong><br />
Technik.<br />
Daraus ergaben sich folgende Anforderungen<br />
an die Studierenden:<br />
60<br />
• Selbstständige Einarbeitung in die fachlichen<br />
<strong>und</strong> didaktischen Gr<strong>und</strong>lagen des<br />
Themas;<br />
• Kennen lernen elektronischer Kommunikationsmöglichkeiten;<br />
• Aufarbeitung eines mathematischen Themenbereichs<br />
in Form einer <strong>Internet</strong>präsentation;<br />
• selbstständige Organisation des gesamten<br />
Arbeitsablaufes zur Erstellung des <strong>Internet</strong>-gestützten<br />
Produkts;<br />
• Präsentation des Produkts in der realen<br />
Abschlussveranstaltung.<br />
5 Ablauf<br />
5.1 Rahmenplan<br />
Ein virtuelles Seminar auf Projektbasis gewährt<br />
viele Freiheiten, es ist deshalb umso<br />
wichtiger, organisatorische Eckdaten für die<br />
Ergebnissicherung festzusetzen. Tabelle 1<br />
zeigt einen Ausschnitt aus dem Rahmenplan,<br />
der bei Veranstaltungsbeginn veröffentlicht<br />
wurde (vgl. www.vib-bw.de/tp2/achiv/<br />
sose2003/seminar3/zeitplan.pdf).<br />
Die Eckdaten orientieren sich an Wendepunkten<br />
der Projektarbeit. Während die Gesamtgruppen<br />
virtuell arbeiteten, waren hochschulinterne<br />
Gruppentreffen natürlich möglich,<br />
erwiesen sich auch als fruchtbar. Ebenso<br />
fand die Betreuung durch den jeweils <strong>Lehren</strong>den<br />
virtuell wie real statt, in Ludwigsburg<br />
<strong>und</strong> Würzburg standen den Teilnehmern zudem<br />
Tutoren für alle technischen Fragen zur<br />
Verfügung. Die rein virtuelle Organisation in<br />
Ludwigsburg lässt sich auch am Plan erkennen,<br />
da ohne reale Treffen die Aufgabenstellung<br />
viel klarer formuliert werden muss.<br />
5.2 BSCW<br />
Über die Einführungsveranstaltung zu BSCW<br />
<strong>und</strong> zu HTML hinaus standen den Studierenden<br />
Online-Hilfen <strong>und</strong> Lernaufgaben zur Verfügung,<br />
die sich in einem eigenen Ordner befanden.<br />
Von der Eingangsseite (Screenshot<br />
s. Abb. 1) aus gelangte man direkt in den Arbeitsordner<br />
seiner Gruppe, bekam fachliche<br />
Informationen <strong>und</strong> technische Hilfestellung<br />
<strong>im</strong> virtuellen Handapparat "Materialien &<br />
Links", organisatorische Hilfen in "Organisatorisches"<br />
oder konnte sich in der "Cafeteria"<br />
austauschen. Bei einigen Ordnern beschränkte<br />
sich der Zugang der Studierenden<br />
auf "Leserechte", in den Ordnern ihrer eige-
Woche /<br />
Datum Aktion<br />
28.4. bis<br />
4.5.<br />
nen Arbeitsgruppe durften sie natürlich Dokumente<br />
jeder Art einstellen, diese kommentieren,<br />
sich an einem Diskussionsforum beteiligen<br />
oder neue Ordnerstrukturen erstellen.<br />
Wie schon erwähnt, verwendeten die Studierenden<br />
viel Zeit für die Diskussion über die<br />
farbliche <strong>und</strong> bildnerische Gestaltung ihrer<br />
Website, inhaltlichen Fragen wurden deshalb<br />
erst <strong>im</strong> weiteren Verlauf der Veranstaltung<br />
Ein virtuelles Seminar <strong>—</strong> Konzeption, Durchführung <strong>und</strong> Auswertung<br />
Würzburg Ludwigsburg Karlsruhe Weingarten<br />
Erstellen einesAblaufplans<br />
für die<br />
Arbeit innerhalb<br />
der<br />
hochschulübergreifendenArbeitsgruppen<br />
Einführung ins<br />
Seminar LB:<br />
Bearbeiten den<br />
Aufgabe <strong>im</strong><br />
BSCW-Ordner:<br />
"Aller Anfang<br />
ist schwer"<br />
Einführung<br />
ins Seminar<br />
KA<br />
Einführung<br />
ins Seminar<br />
WG<br />
Besonderheiten <br />
Semesterbeginn<br />
Ba-Wü<br />
… … …<br />
16.6. bis<br />
22.6.<br />
zweiter Entwurf wird noch von allen Gruppen kommentiert<br />
23.6. bis<br />
29.6.<br />
4.7.<br />
Überarbeitung des zweiten Entwurfs. Erstellen der Website,<br />
vernetzt mit den anderen Gruppen.<br />
…<br />
Präsentation<br />
Tab. 1<br />
Abb. 1<br />
analysiert. So lautet ein typischer Diskussionsbeitrag<br />
vom 22.5.:<br />
"Ja, die Idee mit der gemeinsamen Diskussion<br />
find ich gut! Vorschläge zur URL:<br />
<strong>—</strong> Die Randleiste finde ich sehr gut gelungen,<br />
aber die zentrale Hintergr<strong>und</strong>farbe<br />
(weiss) könnte aber auch ruhig blau<br />
oder gelb sein. <strong>—</strong> Von den Buttons an der<br />
Randleiste könnte man dann ja auf die<br />
Themenbestandteile der einzelnen Hoch-<br />
…<br />
61
Christine Bescherer, Matthias Ludwig, Barbara Schmidt-Thieme & Hans-Georg Weigand<br />
62<br />
schulen kommen. <strong>—</strong> Man müsste sich<br />
auch auf gemeinsame Formatvorlagen<br />
(einheitlicher Hintergr<strong>und</strong>, gemeinsame<br />
Schriftart, Schriftgröße, Kopf- <strong>und</strong> Fußzeile,<br />
...) einigen. So weit so gut. Ich hoffe,<br />
wir bringen die Geschichte auf einen gemeinsamen<br />
Nenner!"<br />
5.3 Webseiten<br />
Die Vorgaben für die Gestaltung der Webseiten<br />
waren sehr gering, doch hatten wir die<br />
technischen Schwierigkeiten zu wenig bedacht.<br />
So wurden von den einzelnen Gruppen<br />
zunächst hochschulintern die <strong>Internet</strong>-<br />
Seiten konzipiert <strong>und</strong> erstellt. Das Problem<br />
war dann, die unterschiedlichen <strong>Internet</strong>seiten<br />
zu einer Gesamtstruktur zusammenzufügen.<br />
Einige Beispiele der Webseiten finden sich<br />
unter der Adresse www.ph-weingarten.de/<br />
homepage/faecher/mathematik/virgeo/ (Beispiel<br />
eines Screenshots s. Abb. 2). Wir konnten<br />
leider nicht alle Websites veröffentlichen,<br />
da sich manche Gruppen nicht an die Copyright-Regelungen<br />
gehalten <strong>und</strong> z.B. Seiten<br />
aus Schulbüchern eingescannt haben.<br />
5.4 Präsentation<br />
Am Ende des Seminars wurde ein "Face-toface-Treffen"<br />
durchgeführt, bei dem die hochschulübergreifenden<br />
Themen-Gruppen ihre<br />
Webseiten präsentierten. Die Gesamt-Rede-<br />
zeit jeder Themengruppe umfasste 50 Minuten<br />
(plus 10 Minuten Diskussion), wobei die<br />
Präsentation innerhalb der Gruppe abgest<strong>im</strong>mt<br />
werden sollte. Die Vorbereitung dieser<br />
<strong>—</strong> benoteten <strong>—</strong> Präsentation fand ebenfalls<br />
virtuell statt. Ergiebiger wären sicherlich<br />
zweitägige Gesamttreffen sowohl zu Beginn<br />
wie auch zum Abschluss der Veranstaltung<br />
gewesen, dies war aber sowohl aus organisatorischen<br />
wie auch aus finanziellen Gründen<br />
nicht möglich.<br />
6 Ergebnisse <strong>und</strong> Eindrücke<br />
6.1 Webseiten<br />
Die am Semesterende von den Studierenden<br />
zusammengestellten <strong>Internet</strong>seiten lassen<br />
die Gliederung des jeweils bearbeiteten<br />
Themenbereichs in einen fachlichen, didaktischen,<br />
methodischen <strong>und</strong> anwendungsorientierten<br />
Untermodul gut erkennen. Sie zeigen<br />
weiterhin, dass sich die einzelnen Gruppen<br />
intensiv mit dem jeweiligen Thema auseinandergesetzt<br />
<strong>und</strong> ein vorzeigbares Produkt<br />
erstellt hatten. Die Qualität der Seiten stufen<br />
wir (die Dozenten) als "gut" <strong>und</strong> teilweise<br />
"sehr gut" ein.<br />
6.2 Diskussionsforen<br />
Abb. 2: Screenshot einer <strong>im</strong> Seminar entstandenen Webseite<br />
Ein virtuelles Seminar bringt es mit sich, dass<br />
die gesamte Interaktion über Sprache in
elektronischer Form erfolgt. Interessant ist<br />
das Kommunikationsverhalten in Bezug auf<br />
Thema <strong>und</strong> Häufigkeit in Abhängigkeit von<br />
dem Seminarablauf, welches anhand der<br />
Diskussionsbeiträge der Studierenden analysiert<br />
wurde. Diagramm 1 zeigt die gesamten<br />
Beiträge aller Teilnehmer <strong>im</strong> zeitlichen Verlauf.<br />
Bei insgesamt 414 Diskussionsbeiträgen<br />
ergibt sich eine Beitragsdichte von<br />
knapp 6 Beiträgen pro Teilnehmer <strong>im</strong> gesamten<br />
Seminar.<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
gesamte Diskussionsbeiträge<br />
28.04.2003 - 04.0...<br />
05.05.2003 - 11.0...<br />
12.05.2003 - 18.0...<br />
19.05.2003 - 25.0...<br />
26.05.2003 - 01.0...<br />
02.06.2003 - 08.0...<br />
09.06.2003 - 15.0...<br />
16.06.2003 - 22.0...<br />
23.06.2003 -29.0...<br />
30.06.2003 -06.0...<br />
Auffallend war, dass der Anteil organisatorischer<br />
Diskussionsbeiträge sehr hoch war;<br />
d.h. die Arbeitsverteilung, das Erstellen der<br />
Seiten, Terminabsprachen <strong>und</strong> Fragen, die<br />
mit der Präsentation am Ende des Seminars<br />
zusammenhingen, sowie technische Probleme<br />
<strong>und</strong> Fragen <strong>im</strong> Bereich der Seitenerstellung<br />
wurden mehr diskutiert als mathematische<br />
<strong>und</strong> didaktische wie methodische Fra-<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Diagramm 1<br />
Diskussionsverhalten<br />
Ludwigsburg<br />
Diagramm 2a<br />
Diagramm 2b<br />
Ein virtuelles Seminar <strong>—</strong> Konzeption, Durchführung <strong>und</strong> Auswertung<br />
gen. Das lässt sich eventuell darauf zurückführen,<br />
dass die einzelnen Standortgruppen<br />
doch zum grossen Teil eigenständig arbeiteten,<br />
ohne Bezug zu den anderen Modulen ihrer<br />
Themengruppe. Absprachen zwischen<br />
den Standortgruppen wurden allerdings auch<br />
über (private) Emails getroffen.<br />
Die Diskussionsfreudigkeit stieg in fast allen<br />
Hochschulen stetig bis zum Ende des Seminars<br />
an. Nur in Ludwigsburg wurde durch eine<br />
verpflichtende Maßnahme erreicht, dass<br />
die Studierenden in der Mitte<br />
des Seminars ihren Diskussionsanteil<br />
stark erhöhten<br />
(Diagramm 2a <strong>und</strong> 2b). Insgesamt<br />
war der Diskussionsanteil<br />
der Ludwigsburger<br />
gesamt<br />
Studierenden wesentlich höher<br />
als an den anderen<br />
Hochschulen. Dies lässt sich<br />
wohl darauf zurückführen,<br />
dass in Ludwigsburg sowohl<br />
seitens der Dozentin als<br />
auch seitens der Studierenden<br />
bereits Erfahrungen mit<br />
virtuellen Seminaren vorliegen,<br />
diese Kommunikationsform<br />
den Studierenden also<br />
vertrauter war.<br />
So erfreulich einerseits ein reges Diskussionsverhalten<br />
<strong>im</strong> Forum ist, so ergibt sich andererseits<br />
dadurch eine <strong>—</strong> auch von den Dozenten<br />
<strong>—</strong> kaum zu bewältigende Informationsfülle.<br />
Es war kaum möglich, alle Beiträge<br />
<strong>im</strong> Diskussionsforum zu lesen, geschweige<br />
denn auch noch darauf zu antworten.<br />
6.3 BSCW <strong>und</strong> HTML<br />
(Technologie)<br />
Die Bedienung des BSCW-Systems brachte<br />
mehr Probleme mit sich, als wir gedacht hatten.<br />
Diese lagen nur z.T. in der hohen Eingewöhnungszeit<br />
der Studierenden, auch die <strong>—</strong><br />
je nach Netzauslastung <strong>—</strong> lange Übertragungszeit<br />
bei jeder Aktion erschwerte den<br />
Austausch, zudem gab es Schwierigkeiten<br />
mit verschiedenen Dateiformaten<br />
(insbesondere<br />
mit Word-Dokumenten).<br />
Darüber hinaus hatten wir<br />
die Vertrautheit der Studierenden<br />
mit dem <strong>Internet</strong><br />
überschätzt. Unklar<br />
war vielen, was das<br />
"Netz" eigentlich ist, was<br />
eine Website ist (eine<br />
HTML-Datei auf einem<br />
Rechner), ganz abgese-<br />
63
Christine Bescherer, Matthias Ludwig, Barbara Schmidt-Thieme & Hans-Georg Weigand<br />
hen davon, wie man eine solche Seite selbst<br />
erstellt.<br />
7 Fazit <strong>und</strong> Ausblick<br />
• Die Auswertung der Abschlussdiskussion<br />
zeigt, dass die Veranstaltung von den<br />
Studierenden positiv beurteilt wurde. Dies<br />
lag zum einen an den hochschulübergreifenden<br />
Kontakten <strong>und</strong> zum anderen daran,<br />
dass die Studierenden Zeit hatten,<br />
sich intensiv mit einem Thema auseinander<br />
zu setzen. Allerdings wurde auch herausgestellt,<br />
dass eine Veranstaltung in<br />
dieser Form einen erheblichen Mehraufwand<br />
<strong>im</strong> Vergleich zu traditionellen Seminaren<br />
erforderte. Dies gilt in gleicher Weise<br />
auch für die <strong>Lehren</strong>den, da die <strong>im</strong>mer<br />
wieder erforderlichen Einzelberatungen<br />
sehr viel Zeit benötigte.<br />
• Die Email-Anfragen seitens der Studierenden<br />
an die Dozenten hielten sich <strong>—</strong><br />
anders als erwartet <strong>—</strong> doch in sehr begrenztem<br />
Rahmen. Hier zeigt sich das alte<br />
Phänomen, dass es eines fortgeschrittenen<br />
Wissens bedarf, um Fragen zu stellen.<br />
Bei Unsicherheiten in der Fragestellung<br />
scheint man seitens der Studierenden<br />
ein persönliches Gespräch einer<br />
Email-Anfrage vorzuziehen.<br />
• Das Vermitteln von Gr<strong>und</strong>lagenkenntnissen<br />
<strong>im</strong> Umgang mit dem Kommunikationssystem<br />
<strong>und</strong> einem Programm zur Erstellung<br />
von <strong>Internet</strong>seiten sollte zu Beginn<br />
in einem konzentrierten Kurs angeboten<br />
werden. Wir gehen zwar davon aus,<br />
dass in Zukunft mehr <strong>und</strong> mehr Studierende<br />
mit derartigen Programmen vertraut<br />
sein werden <strong>und</strong> deren Bedienung auch<br />
<strong>im</strong>mer einfacher werden wird. Gegenwärtig<br />
ist die Unkenntnis <strong>im</strong> Umgang mit den<br />
Programmen aber noch ein leistungsl<strong>im</strong>itierender<br />
Faktor <strong>im</strong> Hinblick auf die Ziele<br />
einer virtuellen Veranstaltung.<br />
• Die Freiheit, die sich aus dem Projektcharakter<br />
ergab, wurde allgemein positiv gesehen,<br />
dennoch stand dazu <strong>im</strong> Widerspruch,<br />
dass sich die Studierenden mehr<br />
Strukturvorgaben wünschten (z.B. mehrere<br />
best<strong>im</strong>mte Zwischentermine, genaue<br />
Angaben zur Erstellung, zum Umfang,<br />
usw.). Ein Zitat aus der Abschlussdiskussion,<br />
die in der Präsenzveranstaltung angefangen<br />
<strong>und</strong> dann über BSCW weitergeführt<br />
wurde, beschreibt stellvertretend die<br />
Meinung der Studierenden:<br />
"Im Gesamten gesehen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Hinblick<br />
auf die derzeit an den Schulen geforderte<br />
64<br />
Projektdidaktik hat mir dieses Virtuelle Seminar<br />
viele Aspekte (Planung, Kommunikation,<br />
Gruppenarbeit, Teamgeist, -fähigkeit,<br />
Problembewältigung, Präsentieren,<br />
...), die für ein Projekt erforderlich sind,<br />
mit vielen ihrer Vor- <strong>und</strong> Nachteile sowie<br />
Problemen gezeigt. Eine wichtige Gr<strong>und</strong>erfahrung,<br />
um später selbst Projekte mit<br />
Schülern durchführen zu können."<br />
• Entscheidend ist die Vorgabe strukturierender<br />
<strong>und</strong> ordnender Maßnahmen zu<br />
Beginn des Seminars. Insbesondere bedarf<br />
es klar formulierter Aufgabenstellungen,<br />
die den Studierenden den Einstieg in<br />
die inhaltliche Diskussion erleichtern.<br />
• Was wir zu wenig bedacht haben: Neben<br />
der Gruppenbewertung sollten auch die<br />
Leistungen der Einzelnen deutlicher herausgestellt<br />
werden. "Förderung der individuellen<br />
Verantwortlichkeit bei gleichzeitiger<br />
Gruppenbelohnung lautet die Gestaltungsformel."<br />
(Fischer u. Waibel 2002).<br />
• Bei einem Seminar über vier Universitäten<br />
hinweg ist es kaum leistbar, dass sich ein<br />
Dozent mit jeder Themenstellung intensiv<br />
auseinandersetzt. Insbesondere ist es<br />
kaum möglich, alle Beiträge <strong>im</strong> Diskussionsforum<br />
zu würdigen. Es ist deshalb<br />
notwendig, dass sich jeder der beteiligten<br />
Dozenten auf einen Teilbereich konzentriert.<br />
Dies könnte etwa dadurch erfolgen,<br />
dass jeder Dozent die Themengruppe betreut,<br />
die seinen Interessen am nächsten<br />
steht.<br />
• Vor allem <strong>im</strong> Hinblick auf die Darstellung<br />
von <strong>Internet</strong>seiten ist BSCW nicht das<br />
geeingete Werkzeug für ein virtuelles<br />
Seminar. Auch wird es gerade <strong>im</strong> Bereich<br />
der <strong>Mathematik</strong> sehr wichtig sein, mit einem<br />
Programm kommunizieren zu können,<br />
das die einfache Darstellung mathematischer<br />
Symbole <strong>und</strong> Skizzen erlaubt.<br />
Diese Veranstaltung, in der die Studierenden<br />
in Teamarbeit einen mathematischen Kontext<br />
erarbeiteten <strong>und</strong> ihn elektronisch recherchierten,<br />
aufbereiteten <strong>und</strong> präsentierten, sollte<br />
zunächst die Akzeptanz einer virtuellen Veranstaltung<br />
<strong>im</strong> Bereich der <strong>Mathematik</strong>didaktik<br />
seitens der Studierenden <strong>und</strong> seitens der<br />
Dozenten aufzeigen. Mit ihr wurden vor allem<br />
Möglichkeiten, aber auch Schwierigkeiten<br />
<strong>und</strong> Grenzen ausgelotet. Ob langfristige Veränderungen<br />
<strong>im</strong> Arbeitsverhalten oder in der<br />
Einstellung zu <strong>Mathematik</strong> bzw. zu <strong>Mathematik</strong>didaktik<br />
erzielt wurden, lässt sich <strong>im</strong> Moment<br />
noch nicht sagen.
Literatur<br />
Bett, K. u.a. (2002): Das Gruppenpuzzle als kooperative<br />
Lernmethode in virtuellen Seminaren<br />
<strong>—</strong> ein Erfahrungsbericht. In: Gudrun Bachmann,<br />
Odette Haefeli & Michael Kindt (Hrsg.)<br />
(2002): Campus 2002. Münster u.a.: Waxmann,<br />
357-365<br />
DMV & GDM (2001): Denkschrift zur Lehrerbildung.<br />
www.mathematik.de/gdm unter Stellungnahmen,<br />
Zugriffsdatum 17.11.2003<br />
Döring, Nicola (2002): Online-<strong>Lernen</strong>. In: Issing &<br />
Kl<strong>im</strong>sa (2002), 247–264<br />
Fischer, F. & M. C. Waibel (2002): Wenn virtuelle<br />
Lerngruppen nicht so funktionieren, wie sie eigentlich<br />
sollten. In: Rinn & Wedekind (2002),<br />
35–50<br />
Friedrich, H. F., W. Hesse, B. Garsoffky & A. Hron<br />
(2002): Netzbasiertes cooperatives <strong>Lernen</strong>. In:<br />
Issing & Kl<strong>im</strong>sa (2002), 283–298<br />
Friedrich, H. F. & A. Hron (2002): Gestaltung <strong>und</strong><br />
Evaluation virtueller Seminare. In: Rinn & Wedekind<br />
(2002), 11–34<br />
Issing, Ludwig J. & Paul Kl<strong>im</strong>sa (Hrsg.) (2002): Information<br />
<strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> mit Mult<strong>im</strong>edia <strong>und</strong> <strong>Internet</strong>.<br />
Weinhe<strong>im</strong>: Beltz PVU, 3. Auflage<br />
Ein virtuelles Seminar <strong>—</strong> Konzeption, Durchführung <strong>und</strong> Auswertung<br />
Krauthausen, Günter (1998): <strong>Lernen</strong> <strong>—</strong> <strong>Lehren</strong> <strong>—</strong><br />
<strong>Lehren</strong> lernen. Stuttgart: Klett<br />
Ludwig, Matthias & Gerald Wittmann (2002): Eine<br />
internetgestützte Wissensbasis zur Didaktik<br />
der Geometrie <strong>—</strong> Entwicklungsprinzipien <strong>und</strong><br />
Pilotstudie. In: mathematica didactica 24, 81–<br />
92<br />
Reinmann-Rothmeier, Gabi & Heinz Mandl (2001):<br />
Virtuelle Seminare in Hochschule <strong>und</strong> Weiterbildung.<br />
Göttingen: Huber<br />
Renkl, Alexander (1997): <strong>Lernen</strong> durch <strong>Lehren</strong>:<br />
Zentrale Wirkmechanismen be<strong>im</strong> kooperativen<br />
<strong>Lernen</strong>. Wiesbaden: DUV<br />
Rinn U. & J. Wedekind (Hrsg.) (2002): Referenzmodelle<br />
netzbasierten <strong>Lehren</strong>s <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>s.<br />
Virtuelle Komponenten der Präsenzlehre.<br />
Münster u.a.: Waxmann<br />
Stebler, R., K. Reusser & C. Pauli (1994): Interaktive<br />
Lehr-Lern-Umgebungen: Didaktische Arrangements<br />
<strong>im</strong> Dienst des gründlichen Verstehens.<br />
In: Reusser, K. <strong>und</strong> M. Reusser-Weyenth<br />
(1994): Verstehen. Psychologischer Prozess<br />
<strong>und</strong> didaktische Analyse. Göttingen: Huber,<br />
227–259<br />
Terhart, Ewald (1999) Perspektiven der Lehrerbildung<br />
in Deutschland. Weinhe<strong>im</strong>: Beltz<br />
Weth, Thomas (2005): MaDiN <strong>—</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik<br />
<strong>im</strong> Netz. In diesem Band<br />
65
� Der Kosinussatz <strong>—</strong> wiederentdeckt als Flächensatz<br />
1 Einleitung<br />
Heutzutage wird in den Schulbüchern der<br />
Kosinussatz üblicherweise bewiesen, indem<br />
ein gegebenes spitzwinkliges Dreieck in zwei<br />
rechtwinklige Teildreiecke zerlegt wird (bzw.<br />
<strong>im</strong> stumpfwinkligen Fall entsprechend ergänzt<br />
wird) <strong>und</strong> dann der Satz des Pythagoras<br />
angewandt wird.<br />
Dieser Beweis verfolgt einen algebraisch orientierten,<br />
statischen Ansatz. Die schließlich<br />
errechnete Formel dominiert. Sie bleibt dabei<br />
bezugslos, es gibt kein adäquates Bild zur<br />
Formel. Der Satz des Pythagoras wird <strong>im</strong><br />
Beweis zwar angewandt, bleibt aber unter<br />
der Oberfläche.<br />
66<br />
Hans-Jürgen Elschenbroich, Korschenbroich<br />
Der Beitrag beschreibt, welche Erfahrungen <strong>und</strong> Entdeckungen die Autoren elektronischer<br />
Geometrie-Arbeitsblätter (Elschenbroich & Seebach 2003) bei der Entwicklung von<br />
Aufgaben zum Kosinussatz machten, wie eine alte Idee mühsam wieder freigelegt wurde,<br />
wie sich dies bei der Lektüre alter Schulbücher entwickelte <strong>und</strong> wie sich schließlich mit<br />
DGS derartige alte Ideen mit neuen Werkzeugen dynamisch umsetzen lassen.<br />
Abb. 1: Duden Basiswissen Schule <strong>Mathematik</strong><br />
Abb. 2: Lambacher–Schweizer Klasse 10 (2000)<br />
Eine Verwandtschaft zum Pythagoras-Satz,<br />
die ja aus der Formel offensichtlich nahe<br />
liegt, ist in der Beweisfigur nicht mehr zu erkennen.<br />
Der Zusammenhang der Sätze ist<br />
völlig verdunkelt, er wird nicht einmal mehr<br />
<strong>im</strong> rechtwinkligen Sonderfall deutlich. Aus γ =<br />
90° folgt nur noch algebraisch der Wegfall<br />
eines Terms, weil ein Faktor darin 0 ist. Figürlich<br />
ist vom klassischen Pythagoras-<br />
Ansatz nichts zu finden, das betrachtete<br />
Dreieck mutiert nur zu einem rechtwinkligen<br />
Dreieck, in dem der Beweisansatz überhaupt<br />
nicht mehr sichtbar wird.<br />
Abb. 3a: Beweisfigur für γ > 90°
Abb. 3b: Beweisfigur für γ = 90°<br />
Unsere eigenen (Elschenbroich <strong>und</strong> Seebach)<br />
Erinnerungen an den Kosinussatz als<br />
Verallgemeinerung des Pythagoras fanden<br />
keine Entsprechung <strong>im</strong> heutigen Schulbuch.<br />
Es gab keinen textlichen Hinweis, geschweige<br />
denn eine entsprechende Figur, das Symbolische<br />
triumphierte über das Visuelle.<br />
2 Flächen(un)gleichheiten<br />
Abb. 4a: Fall γ = 90°: a 2 + b 2 = c 2<br />
Abb. 4b: Fall γ > 90°: a 2 + b 2 < c 2<br />
Der Kosinussatz <strong>—</strong> wiederentdeckt als Flächensatz<br />
Abb. 4c: Fall γ < 90°: a 2 + b 2 > c 2<br />
Ein qualitativer Zusammenhang zum Kosinussatz<br />
ist durch eine Dynamisierung <strong>und</strong><br />
Verallgemeinerung des Pythagoras-Satzes<br />
schnell <strong>und</strong> einfach herzustellen. Bei fester<br />
Seite c <strong>und</strong> beweglichem Eckpunkt C erhält<br />
man die Konfigurationen in Abb. 4a, b, c.<br />
Hierbei bleibt jedoch noch <strong>im</strong> Dunkeln, um<br />
wieviel a 2 + b 2 größer oder kleiner als c 2 ist<br />
<strong>und</strong> woran das liegt.<br />
3 Der Kosinussatz <strong>im</strong><br />
Spiegel der Schulbücher<br />
Unsere zunächst enttäuschte Erinnerung an<br />
den Kosinussatz als Verallgemeinerung des<br />
Pythagoras führte uns dazu, in älteren Schulbüchern<br />
nachzuschlagen. Im Lambacher-<br />
Schweizer der 70er Jahre wurden wir als erstes<br />
dahingehend fündig, dass wenigstens <strong>im</strong><br />
Text ein Bezug zum Satz des Pythagoras<br />
hergestellt wurde.<br />
Abb. 5: Lambacher-Schweizer 1975<br />
Im Lambacher-Schweizer der 60er Jahre<br />
fand sich dann folgende Formulierung des<br />
Satzes, die durch einen erhöhten Textanteil<br />
auffällt:<br />
Abb. 6: Lambacher-Schweizer 1960<br />
67
Hans-Jürgen Elschenbroich<br />
Es folgen dazu zweierlei Beweise, einmal der<br />
erwähnte Zerteilungsansatz <strong>und</strong> dann ein<br />
zweiter Beweis, in dem explizit eine pythagoras-ähnliche<br />
Figur auftaucht, in der der Charakter<br />
des Flächensatzes sichtbar wird.<br />
68<br />
Abb. 7: Lambacher-Schweizer 1960<br />
Auch ist hier <strong>im</strong> Text wieder der Hinweis auf<br />
die Verallgemeinerung des Pythagoras-Satzes<br />
zu finden.<br />
Fast die gleiche Figur ist dann auch <strong>im</strong> Lambacher-Schweizer<br />
von Ende 40er / Anfang<br />
50er Jahre zu finden. Es gibt jedoch einen<br />
kleinen, aber bedeutenden Unterschied: Der<br />
Hinweis b·cosγ am Rande des Quadrats<br />
über a ist nicht mehr vorhanden <strong>und</strong> die Formel<br />
c 2 = a 2 + b 2 - 2ab cosγ ist nicht mehr zu<br />
finden.<br />
Abb. 8: Lambacher-Schweizer ca. 1950<br />
Bemerkenswert: Der Satz ist hier rein als<br />
Flächensatz mit Quadraten <strong>und</strong> Teilrechtecken<br />
formuliert! Dies erklärt sich daraus,<br />
dass dieser Sachverhalt nicht <strong>im</strong> Kapitel Trigonometrie<br />
thematisiert wurde (die damals<br />
noch in der Oberstufe behandelt wurde),<br />
sondern <strong>im</strong> Kapitel "Flächensätze <strong>im</strong> rechtwinkligen<br />
Dreieck" unter "Vermischte Aufgaben"<br />
auftauchte. Anstelle des Kosinus wird<br />
hier mit der Projektion einer Strecke auf eine<br />
andere argumentiert.<br />
4 Der Ursprung<br />
Insgesamt fällt auf, dass die Formulierung<br />
von 1950 rein verbal ist <strong>und</strong> die Deutung des<br />
Sachverhalts als Kosinus-Satz offensichtlich<br />
neuzeitlicher zu sein scheint. Der Flächen-<br />
Aspekt samt Projektionsgedanken dürfte<br />
klassischer sein. Die weitere Rückverfolgung<br />
der Lambacher-Schweizer-Reihe stößt an eine<br />
natürliche Grenze. Ein Blick in den Klassiker,<br />
die Elemente des Euklid, brachte folgendes<br />
zu Tage:<br />
§ 13 (L. 12).<br />
An jedem spitzwinkligen Dreieck ist das<br />
Quadrat über der einem spitzen Winkel gegenüberliegenden<br />
Seite kleiner als die Quadrate<br />
über den diesen spitzen Winkel umfassenden<br />
Seiten zusammen um zwe<strong>im</strong>al das<br />
Rechteck aus einer der Seiten um diesen<br />
spitzen Winkel, nämlich der, auf die das Lot<br />
fällt, <strong>und</strong> der durch das Lot innen abgeschnittenen<br />
Strecke an dieser spitzen Ecke.<br />
Damit hat die Rückverfolgung des Kosinussatzes<br />
nun ihr Ende gef<strong>und</strong>en.<br />
5 Die Dynamisierung mit<br />
DGS<br />
Bei der Umsetzung in eine dynamische Konstruktion<br />
haben wir uns auf den Fall des<br />
spitzwinkligen Dreiecks beschränkt. Dabei<br />
kann man den Scherungsansatz des Beweises<br />
von Euklid zum Satz des Pythagoras<br />
aufgreifen 1 .<br />
Es ist ein spitzwinkliges Dreieck ABC gegeben<br />
samt Quadraten über den Seiten. (Wenn<br />
C so gezogen wird, dass das Dreieck stumpfwinklig<br />
würde, verschwindet es.)<br />
a) Woran erinnert dich diese Figur?<br />
b) Begründe: Die blau gefärbten Teilrechtecke<br />
in a² <strong>und</strong> c² sind gleich groß.<br />
Ziehe dazu an Zug1 <strong>und</strong> Zug2. Dann<br />
kannst du die blau schraffierten Flächen<br />
in eine solche Gestalt <strong>und</strong> Lage bringen,<br />
dass du ihre Kongruenz begründen<br />
kannst.<br />
1 Euklid hatte das selbst nicht so gemacht, sondern auf das Ergebnis<br />
des Pythagoras-Satzes zurück gegriffen <strong>und</strong> nicht auf den Beweisansatz.<br />
Die Scherungsargumentation macht aber den Flächenaspekt<br />
besonders deutlich.
Abb. 9a: Scherungsbeweis<br />
Abb. 9b: Scherungsbeweis<br />
Abb. 9c: Scherungsbeweis<br />
Üblicherweise wird dieser Satz jedoch heutzutage<br />
<strong>im</strong> Unterricht als eine Anwendung des<br />
Kosinus behandelt. Dem wurde in einem<br />
elektronischen Arbeitsblatt Rechenschaft getragen,<br />
das den Sachverhalt sowohl in heutiger<br />
Form formuliert, als ihn auch in Adaption<br />
der klassischen Flächensichtweise visuali-<br />
Der Kosinussatz <strong>—</strong> wiederentdeckt als Flächensatz<br />
siert. Die Schüler finden so einerseits die<br />
gängige Formulierung des Schulbuchs wieder<br />
<strong>und</strong> lernen andererseits den Flächenaspekt<br />
<strong>und</strong> die Verbindung zum Satz des Pythagoras<br />
kennen.<br />
Es ist ein spitzwinkliges Dreieck ABC gegeben<br />
samt Quadraten über den Seiten. (Wenn<br />
C so gezogen wird, dass das Dreieck stumpfwinklig<br />
würde, verschwindet es.)<br />
a) Woran erinnert dich diese Figur?<br />
b) Begründe: Die blau gefärbten Teilrechtecke<br />
in a² <strong>und</strong> c² sind gleich groß, die rot<br />
gefärbten in b² <strong>und</strong> c² ebenfalls.<br />
Tipp: Suche nach Teildreiecken von ABC,<br />
in denen du geeignete Seiten berechnen<br />
kannst.<br />
c) Zeige für die die schraffierten hellroten<br />
bzw. hellblauen Teilrechtecke, dass ihr<br />
Flächeninhalt a·c·cos(β) beträgt.<br />
Tipp: Suche nach Teildreiecken von ABC,<br />
in denen du geeignete Seiten berechnen<br />
kannst.<br />
d) Folgere daraus den Kosinussatz:<br />
c² = a² + b² – 2a·b·cos(γ).<br />
e) Findest du bekannte Sonderfälle?<br />
Abb. 10: Screenshot Elektronisches Arbeitsblatt<br />
Die Dynamik der Dateien kommt in der Printversion<br />
naturgemäß nur unzureichend zur<br />
Geltung, ebenso die farblichen Hilfen. Die<br />
Dateien sind Teil der CD "Dynamisch Geometrie<br />
entdecken Klasse 10" <strong>und</strong> können in<br />
einer Demo-Version auch aus dem <strong>Internet</strong><br />
(www.dynamische-geometrie.de) geladen<br />
werden.<br />
69
Hans-Jürgen Elschenbroich<br />
Literatur<br />
DUDEN (2001): Basiswissen Schule <strong>Mathematik</strong>.<br />
Berlin & Mannhe<strong>im</strong>: Duden-Verlag<br />
Elschenbroich, Hans-Jürgen & Günter Seebach<br />
(2003): Dynamisch Geometrie entdecken. Elektronische<br />
Arbeitsblätter Klasse 10. Rosenhe<strong>im</strong>:<br />
CoTec<br />
Euklid (1997): Die Elemente. Ostwalds Klassiker<br />
der exakten Wissenschaften. Frankfurt: Harri<br />
Deutsch<br />
70<br />
Lambacher-Schweizer Geometrie 2 (1948). Stuttgart:<br />
Klett<br />
Lambacher-Schweizer Ebene Trigonometrie<br />
(1960). Stuttgart: Klett Verlag, 12. Auflage<br />
Lambacher-Schweizer Geometrie 2 (1975). Stuttgart:<br />
Klett<br />
Lambacher-Schweizer Klasse 10 (2000). Stuttgart:<br />
Klett
� Konstruktiv arbeiten mit dem <strong>Internet</strong> in Schule <strong>und</strong><br />
Lehrerausbildung <strong>—</strong> Methoden der Content-Erstellung<br />
mit Beispielen aus der Praxis<br />
Astrid Ernst & Engelbert Niehaus, Münster<br />
Lehr- <strong>und</strong> Lernsysteme können es <strong>Lernen</strong>den ermöglichen, selber Inhalte in das System<br />
einzubringen <strong>und</strong> so zu Autoren <strong>und</strong> Autorinnen zu werden. In diesem Beitrag werden<br />
Möglichkeiten <strong>und</strong> Wege einer solchen konstruktiven Nutzung von Lehr- Lernsystemen in<br />
der Lehrerausbildung vorgestellt.<br />
0 Einleitung<br />
Der typische Umgang mit Lehr- <strong>und</strong> Lehrsystemen<br />
ist dadurch gekennzeichnet, dass<br />
<strong>Lehren</strong>de Inhalte in das System einstellen<br />
<strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>de die Inhalte für die Vor- <strong>und</strong><br />
Nachbereitung von Klausuren, Seminaren<br />
usw. "entnehmen". Zu diesem Zweck arbeiten<br />
dann didaktische <strong>und</strong> fachliche Experten<br />
am Aufbau einer Wissensbasis zusammen.<br />
In diesem Sinne werden <strong>im</strong> vom bmb+f geförderten<br />
MADIN-Projekt (homepage:<br />
http://www.madin.net) größere Wissensbereiche<br />
der Lehramtsausbildung <strong>Mathematik</strong><br />
für das <strong>Internet</strong> aufbereitet (vgl. auch die Beiträge<br />
von T. Weth <strong>und</strong> G. Wittmann zu<br />
MADIN in diesem Band).<br />
Betrachtet man die Anforderungen, die z.B.<br />
an Lehrer/innen in der Unterrichtspraxis gestellt<br />
werden, so ist die Anpassung gegebener<br />
Unterrichtsinhalte an die Lernvoraussetzungen<br />
der Lerngruppe eine zentrale Aufgabenstellung,<br />
die unabhängig vom unterrichteten<br />
Fach von jedem/r Lehrer/in geleistet werden<br />
muss. In diesem wie in vielen anderen<br />
Anwendungsbereichen genügt es heute nicht<br />
mehr, wenn <strong>Lernen</strong>de Inhalte ausschließlich<br />
rezeptiv nutzen. <strong>Internet</strong>basierte Lehr- <strong>und</strong><br />
Lernsysteme können <strong>Lernen</strong>de bei einer<br />
konstruktiven Nutzung von Inhalten auf unterschiedliche<br />
Weise unterstützen, z.B. indem<br />
die Inhalte als Informationsquelle für die<br />
Bearbeitung projektartiger Aufgabenstellungen<br />
in Gruppenarbeitssituationen gewinnbringend<br />
nutzbar sind. <strong>Internet</strong>basierte Lehr<strong>und</strong><br />
Lernsystemen können es <strong>Lernen</strong>den aber<br />
auch ermöglichen, Inhalte in einem persönlichen<br />
Bereich neu zu organisieren, neue<br />
Inhalte in das System einzubringen <strong>und</strong> so<br />
selbst zu Autorinnen <strong>und</strong> Autoren zu werden.<br />
Die <strong>im</strong> Rahmen des MADIN-Projektes von<br />
der Arbeitsgruppe um M. Stein, Münster,<br />
entwickelte Software SIMLA (System for internet<br />
based mult<strong>im</strong>edia enriched learning<br />
acitivites) unterstützt Studierende bei einer<br />
konstruktiven Nutzung des Lehr- <strong>und</strong> Lernsystems<br />
in diesem Sinne.<br />
Wenn es lediglich darum geht, einen Unterrichtsentwurf<br />
oder ein Video in ein System<br />
einzubinden, kann dies in der Regel "ad hoc"<br />
geschehen. Problematisch wird dieses Vorgehen<br />
aber, wenn viele Personen an einer<br />
Wissensbasis arbeiten bzw. größere Wissensbereiche<br />
aufbereitet werden. Es entsteht<br />
dann u.U. eine unstrukturierte Ansammlung<br />
von einzelnen Informationseinheiten, die für<br />
eine/n spätere/n Nutzer/in unüberschaubar<br />
werden können. Deshalb wurde zum einen<br />
ein internetbasiertes Lehr- <strong>und</strong> Lernsystem<br />
entwickelt, das die Präsentation, Reorganisation<br />
<strong>und</strong> Produktion von mathematischen <strong>und</strong><br />
didaktischen Inhalten unterstützt, <strong>und</strong> zum<br />
anderen eine darauf abgest<strong>im</strong>mte Methode<br />
erarbeitet, die Studierende bei der eigenständigen<br />
Aufbereitung von Inhalten für das<br />
Lehr-Lernsystem unterstützt. Diese Methode<br />
wurde innerhalb von drei Generationen von<br />
Examenstudentinnen <strong>und</strong> -studenten erprobt,<br />
die <strong>im</strong> Rahmen ihrer Examensarbeit ein mathematikdidaktisches<br />
Thema für das Lehr-<br />
Lernsystem aufbereiteten.<br />
Im Folgenden wird zunächst das entwickelte<br />
Lehr- <strong>und</strong> Lernsystem kurz vorgestellt. Anschließend<br />
werden Methoden behandelt, die<br />
Autoren/innen bei der Erstellung von Lernsoftware<br />
unterstützen können. Dazu werden<br />
zwei Modelle aus dem ISD (Instructional Systems<br />
Design) vorgestellt <strong>und</strong> ihre Eignung für<br />
den Einsatz <strong>im</strong> Lehramtsstudium <strong>und</strong> insbesondere<br />
<strong>im</strong> Rahmen von Examensarbeiten<br />
diskutiert. Die in Münster erarbeitete Lösung<br />
wird dann überblicksartig dargestellt. Abschließend<br />
werden Möglichkeiten behandelt,<br />
wie eine Autorentätigkeit <strong>im</strong> Lehramtsstudium<br />
schrittweise von Vorlesungen über Seminare<br />
bis hin zu Examensarbeiten aufgebaut<br />
werden kann. Wege einer konstruktiven Nut-<br />
71
Astrid Ernst & Engelbert Niehaus<br />
zung des Systems in der Referendarzeit <strong>und</strong><br />
später als Lehrer/in werden vorgestellt.<br />
1 Vorstellung des entwickelten<br />
Lehr-Lernsystems<br />
Das entwickelte webbasierte Lehr- <strong>und</strong> Lernsystem<br />
besteht aus zwei Komponenten:<br />
• der Navigationsumgebung, mit dem Inhalte<br />
angeschaut werden können.<br />
• dem Autorentool, mit dem neue Inhalte in<br />
das System "geladen" werden können<br />
<strong>und</strong> mit dem die Struktur der vorhandenen<br />
Inhalte in einem persönlichen Bereich<br />
modifiziert <strong>und</strong> erweitert werden kann.<br />
Abb. 1: Schreibtisch als Navigationselement, ermöglicht<br />
Zugriff auf theoretische Informationen,<br />
Anwendungsbeispiele, Anregungen zu Aktivitäten<br />
usw.<br />
Abb. 2: Menü ermöglicht Navigation in der hierarchisch<br />
vernetzten Inhaltsstruktur<br />
Zentrales Element der Navigationsumgebung<br />
ist der Schreibtisch, über den die Nutzer/innen<br />
auf die Inhalte zugreifen. Dieser<br />
wird kontextabhängig unterschiedlich gefüllt:<br />
Be<strong>im</strong> Thema "Bruchrechnung" enthält er theoretische<br />
Informationen, Anwendungsbeispiele,<br />
Anregungen zu Aktivitäten, Links ins<br />
<strong>Internet</strong> usw.. Navigiert der/die Nutzer/in mittels<br />
des Menüs (Abb. 2) zu einem anderen<br />
72<br />
Thema, so werden die Inhalte <strong>im</strong> Schreibtisch<br />
ausgetauscht (weitere Erläuterungen<br />
siehe Absatz "4 Gr<strong>und</strong>konzeption für den Inhaltsbereich<br />
des Lehr-Lernsystems").<br />
2 Modelle des Instructional<br />
Systems Design (ISD)<br />
ID- (Instructional Design) bzw. ISD- (Instructional<br />
System Design) Modelle stellen eine<br />
Hilfe dar, die für die Entwicklung eines Lernsystems<br />
relevanten Arbeitsschritte <strong>und</strong> Aspekte<br />
effizient zu planen <strong>und</strong> durchzuführen.<br />
Typischerweise findet sich bei den ISD-<br />
Modellen eine Einteilung in folgende größere<br />
Arbeitsabschnitte: Analyse, Planung, Entwicklung/Produktion,<br />
Implementierung, Evaluation/Revision<br />
(vgl. Issing 2002, 151; Wager<br />
et al. 1997; Fardouly 2002). Viele ISD-<br />
Modelle zielen auf die Erstellung eher linear<br />
organisierter Lernangebote ab <strong>und</strong> wurden<br />
insbesondere bei der Erstellung von Programmen<br />
in der Tradition von drill and practice<br />
angewendet. In Abbildung 3 ist ein ISD-<br />
Gr<strong>und</strong>modell zu sehen, in dem Issing (2002)<br />
typische Elemente von ISD-Modellen zusammenfasst.<br />
Modelle für die Entwicklung von konstruktivistisch<br />
orientierten Angeboten, wie z.B. von<br />
Hypermediasystemen, befinden sich in der<br />
Entwicklung. Ein solches Modell ist das von<br />
Blumstengel entwickelte (Abb. 4). Beide Modelle<br />
werden <strong>im</strong> Folgenden kurz vorgestellt.<br />
2.1 ISD-Gr<strong>und</strong>modell (vgl. Issing<br />
2002)<br />
Die Arbeitsphasen des Entwicklungsprozesses<br />
werden be<strong>im</strong> ISD typischerweise zeitlich<br />
weitgehend nacheinander durchgeführt. Der<br />
Entwicklungsprozess beginnt mit der Phase<br />
der "Analyse/Planung".<br />
2.1.1 Analyse/Planung:<br />
In der Analyse/Planung werden die didaktische<br />
<strong>und</strong> pädagogische Grob- <strong>und</strong> Feinplanung<br />
durchgeführt. Dazu wird zunächst<br />
eine didaktische Zielsetzung sowie ein didaktischer<br />
Entwurf für das Lernangebot erarbeitet.<br />
Typisches Element dieser Phase ist eine<br />
präzise "Definition der Lernziele". Diese bildet<br />
die Voraussetzung für die Ableitung geeigneter<br />
Methoden der Inhaltsvermittlung <strong>und</strong><br />
der Beurteilung des Lernerfolges. Bei der<br />
Entwicklung des didaktischen Entwurfes sollte<br />
auf Basis einer Zielgruppenanalyse eine
Abb. 3: Modell des Systematischen Instruktionsdesign<br />
(aus Issing 2002, 158)<br />
Abst<strong>im</strong>mung auf die Zielgruppe erfolgen<br />
("Identifizierung der Lernereigenschaften").<br />
Dabei sind insbesondere deren Vorwissen<br />
<strong>und</strong> Motivationslage wichtig.<br />
Die Planungen werden anschließend weiter<br />
verfeinert ("Auswahl <strong>und</strong> Vorbereitung der<br />
Lerninhalte" "Planung der Lehr- Lernmethode<br />
<strong>und</strong> der Medien"). Feinlernziele werden best<strong>im</strong>mt,<br />
Inhalte <strong>und</strong> Vermittlungsstrategien<br />
festgelegt, die Inhalte in eine Abfolge gebracht<br />
<strong>und</strong> geeignete Medien ausgewählt.<br />
2.1.2 Entwicklung <strong>und</strong> Produktion:<br />
Die praktische Umsetzung der Planungen ist<br />
Gegenstand der Entwicklungs- <strong>und</strong> Produktionsphase.<br />
Als Hilfsmittel werden u.a. Flowcharts<br />
verwendet, die insbesondere die Planung<br />
linearer Ablaufstrukturen unterstützen.<br />
Außerdem wird der Arbeitskräfteeinsatz <strong>und</strong><br />
die Teamzusammensetzung geplant, sowie<br />
der Zeit- <strong>und</strong> Mittelaufwand für die Medienproduktion<br />
kalkuliert. Es werden geeignete<br />
Werkzeuge <strong>und</strong> technische Hilfsmittel ausgewählt.<br />
2.1.3 Evaluation, Revision, Implementation:<br />
Die Erprobung der Einheiten sowie des Lehr-<br />
Lernprogramms in der Anwendung sollte als<br />
formative Evaluation den Entwicklungs- <strong>und</strong><br />
Produktionsprozess begleiten. Eine summative<br />
Evaluation ist mit einem wesentlich höherem<br />
Aufwand verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> mit verschiedenen<br />
Problemen der Umsetzung verb<strong>und</strong>en.<br />
Die Aussagen können aufgr<strong>und</strong> der langen<br />
Dauer des Evaluationsprozesses in der<br />
Konstruktiv arbeiten mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> Methoden der Content-Erstellung<br />
Regel nicht mehr für die Verbesserung des<br />
Produktes verwendet werden. Vielmehr sind<br />
die Ergebnisse für eine abschließende Beurteilung<br />
der Entwicklung von Interesse.<br />
2.2 Entwicklungsmodell für hypermediale<br />
Lernsysteme von<br />
Blumstengel (1998)<br />
Blumstengel (1998; s. Abb. 4) entwickelte ein<br />
an konstruktivistischen Konzepten orientiertes<br />
Entwicklungsmodell für hypermediale<br />
Lernsysteme, in dem sie Elemente des ISD<br />
aufgreift. So unterteilt auch Blumstengel<br />
(1998, 155–184) den Projektverlauf in größere<br />
Phasen, <strong>und</strong> zwar in Bedarfsanalyse, Entwicklung<br />
von Alternativen, Produktion/Planung<br />
sowie Anwendung <strong>und</strong> Evaluation.<br />
Abb. 4: Entwicklungsmodell für hypermediale<br />
Lernsysteme (Blumstengel 1998, Abb. 3.1, 156)<br />
In ihr Modell integriert Blumstengel das Konzept<br />
des "rapid prototyping", das aus der<br />
Software-Entwicklung stammt <strong>und</strong> durch die<br />
frühzeitige Produktion eines "Prototypen",<br />
seiner Erprobung in der Praxis <strong>und</strong> iterativen<br />
Verbesserungsmaßnahmen an dem Prototypen<br />
gekennzeichnet ist. Dies führt auch zu<br />
einer Überlappung von Arbeitsphasen, so<br />
dass eine eindeutige Abgrenzung der einzelnen<br />
Arbeitsphasen mit einer streng linearen<br />
Abfolge nicht mehr gegeben ist. In Abb. 4 ist<br />
das Modell in einer Grafik skizziert.<br />
Von dem oben dargestellten ISD Gr<strong>und</strong>modell<br />
unterscheidet sich das Modell von<br />
Blumstengel insbesondere in den folgenden<br />
Hinsichten:<br />
• Es wird keine genaue <strong>und</strong> detaillierte<br />
Lernzieldefinition vorgenommen. Statt<br />
dessen werden die Ziele "weicher" definiert,<br />
indem z.B. relevante Wissensdomä-<br />
73
Astrid Ernst & Engelbert Niehaus<br />
nen best<strong>im</strong>mt werden <strong>und</strong> ein Kernbereich<br />
festgelegt wird.<br />
• Die Phase der didaktischen Feinplanung<br />
<strong>und</strong> die Produktionsphase werden zu einer<br />
einzigen Phase zusammengefasst,<br />
nämlich zu der Produktions-/Planungsphase.<br />
In dieser Phase wird rapid prototyping<br />
eingesetzt. Es erfolgt daher eine verzahnte<br />
Entwicklung der (didaktischen)<br />
Feinplanung sowie der (softwaretechnischen)<br />
Realisierung. Die Planungs-/Produktionsphase<br />
wird von formativer Evaluation<br />
begleitet.<br />
• Die Planungen, deren Umsetzung <strong>und</strong><br />
Erprobung folgen rasch aufeinander <strong>und</strong><br />
werden in mehreren Entwicklungszyklen<br />
nachgebessert. Der Entwicklungsprozess<br />
ist daher nicht mehr streng linear, sondern<br />
von Phasenüberschneidungen gekennzeichnet.<br />
• Die Empfehlungen zur didaktischen Gestaltung<br />
des Lernangebotes sind auf lerner/innengesteuerte<br />
Systeme zugeschnitten.<br />
Als Planungshilfen werden beispielsweise<br />
concept maps <strong>und</strong> storyboards<br />
empfohlen, die auch die Planung nichtlinearer<br />
Strukturen unterstützen. Eine Linearisierung<br />
bzw. Sequenzialisierung von<br />
Lernschritten des geplanten Lernangebotes<br />
findet nicht statt.<br />
3 Anwendbarkeit der vorgestellten<br />
Modelle <strong>im</strong> Rahmen<br />
von Examensarbeiten<br />
Inwiefern sind die vorgestellten Modelle nun<br />
geeignet, Studierende des Lehramtes bei der<br />
Aufbereitung eines Inhaltes <strong>im</strong> Rahmen einer<br />
Examensarbeit zu unterstützen?<br />
Zentraler Bestandteil des ISD-Gr<strong>und</strong>modells<br />
sind genaue Lernzieldefinitionen <strong>und</strong> eine Linearisierung<br />
von Arbeitsschritten innerhalb<br />
des zu entwickelnden Lernangebotes. Beides<br />
ist mit den Zielsetzungen <strong>im</strong> vorliegenden<br />
Projekt nicht vereinbar: Studierenden soll es<br />
gerade ermöglicht werden, das Lernsystem<br />
unter verschiedenen Zielvorstellungen eigengesteuert<br />
zu durchwandern.<br />
In diesen Hinsichten erscheint das von<br />
Blumstengel entwickelte Modell angemessener.<br />
Allerdings beinhaltet dieses Modell auch<br />
zahlreiche Arbeitsschritte, die für die Studierenden<br />
nicht relevant sind bzw. die eine<br />
Überforderung darstellen würden. Dazu gehört<br />
beispielsweise die Planung der Teamzusammensetzung<br />
<strong>und</strong> der Produktionskosten<br />
74<br />
sowie die Erarbeitung einer gr<strong>und</strong>legenden<br />
didaktischen Konzeption.<br />
Da das Blumstengel-Modell auf viele verschiedene<br />
Anwendungssituationen übertragbar<br />
sein soll, sind die Hinweise <strong>und</strong> Hilfen,<br />
die zur Vorgehensweise bei der Aufbereitung<br />
von Inhalten gegeben werden, eher allgemein<br />
gehalten. Für Studierende, die mit der<br />
Erstellung von Inhalten für Lernsysteme in<br />
der Regel keine Erfahrung haben, wären hier<br />
detailliertere <strong>und</strong> konkretere Hilfen wünschenswert.<br />
Im Projekt wurden daher folgende Entscheidungen<br />
getroffen:<br />
• Es wird eine gr<strong>und</strong>legende didaktische<br />
Konzeption für den Inhaltsbereich des<br />
Lehr-Lernsystems bis hin zur Definition<br />
geeigneter "Formate" entwickelt.<br />
• Es wird eine Methode entwickelt, die die<br />
Studierenden bei der Erzeugung von Inhalten<br />
gemäß dieser Formate unterstützt.<br />
Diese Methode beschränkt sich auf die relevanten<br />
Aspekte der Inhaltsaufbereitung<br />
<strong>und</strong> beschreibt detailliert die notwendigen<br />
Arbeitsschritte. Zu der entwickelten Methode<br />
wird eine Art Anleitung oder Dokumentation<br />
entwickelt, in der die Abläufe<br />
<strong>und</strong> notwendigen Überlegungen beschrieben<br />
werden.<br />
4 Gr<strong>und</strong>konzeption für den<br />
Inhaltsbereich des Lehr-<br />
Lernsystems<br />
Die entwickelte Konzeption zeichnet sich<br />
durch folgende Merkmale aus:<br />
• Modulare Inhaltsaufbereitung: Die Inhalte<br />
sollen als Module konzipiert werden, die<br />
dann in einer "Wissensbasis" zusammengesteckt<br />
werden können.<br />
• Sachlogische hierarchisch vernetzte<br />
Gr<strong>und</strong>struktur: Die hierarchische Gr<strong>und</strong>struktur<br />
soll die Orientierung der Nutzer<br />
<strong>und</strong> Nutzerinnen <strong>im</strong> Informationsbestand<br />
unterstützen. Die Vernetzungen sollen ein<br />
eigengesteuertes Vorgehen erleichtern<br />
<strong>und</strong> Querbezüge aufzeigen.<br />
• Informationsbündel statt Informationsknoten:<br />
Zu jedem Thema gibt es verschiedene<br />
Informationsangebote wie Theorie,<br />
Anwendungsbeispiele, Anregung zur aktiven<br />
Auseinandersetzung mit den Inhalten,<br />
Hinweise auf weiterführende Literatur,<br />
Links ins <strong>Internet</strong> usw. Dadurch soll eine<br />
Verzahnung theoretischer Informationen
insbesondere mit Anwendungssituationen<br />
<strong>und</strong> Anregungen zur aktiven Auseinandersetzung<br />
mit den dargestellten Inhalten erreicht<br />
werden<br />
• Selbsterklärende Informationseinheiten:<br />
Soll ein eigengesteuertes Vorgehen möglich<br />
sein, so sind aus sich heraus verständliche<br />
Informationseinheiten eine wesentliche<br />
Voraussetzung.<br />
Diese Struktur wird innerhalb des Lehr- Lernsystems<br />
auf dem Bildschirm visualisiert: Ein<br />
Schreibtisch visualisiert die Informationsbündel<br />
(s. Abb. 1). Hier können Theorie, Anwendungsbeispiele,<br />
Anregungen zu Aktivitäten,<br />
Links ins <strong>Internet</strong>, Literaturhinweise, usw.<br />
"einsortiert" werden. Die hierarchisch vernetzte<br />
Struktur der Module spiegelt sich in<br />
dem Menü wieder (s. Abb. 2). Die Navigation<br />
<strong>im</strong> Informationsbaum füllt den Schreibtisch<br />
dann kontextabhängig mit Inhalten.<br />
Konstruktiv arbeiten mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> Methoden der Content-Erstellung<br />
Abb. 5: entwickelte Gr<strong>und</strong>struktur am Beispiel des Themas "Konzepte zur Bruchrechnung" (Th=Theorie,<br />
Bsp=Beispiel, Akt=Anregung zu Aktivitäten, Lin=Links ins <strong>Internet</strong>, Lit=Hinweis auf Quellen)<br />
5 Die entwickelte Methode<br />
Die entwickelte Methode ist als eine Schrittfür-Schritt-Anleitung<br />
konzipiert. Sie kann also<br />
in aufeinander folgenden Arbeitsschritten<br />
"abgearbeitet" werden. In Abbildung 6 ist eine<br />
Übersicht über den Ablauf der Methode<br />
zu sehen. Als sinnvoll hat sich die Integration<br />
des rapid prototyping hinsichtlich der technischen<br />
Umsetzung erwiesen: der frühe Beginn<br />
der technischen Umsetzung hilft Studierenden,<br />
die Stärken aber auch Schwächen<br />
der geplanten Module zu erkennen. Deshalb<br />
sollte mit der technische Umsetzung, ähnlich<br />
wie <strong>im</strong> Blumstengel-Modell, schon in der<br />
Phase der Planung begonnen werden.<br />
Die entwickelte Methode integriert das concept<br />
mapping als Planungshilfsmittel für die<br />
Strukturierung des Angebotes <strong>und</strong> greift Elemente<br />
des storyboarding auf. Die entwickelte<br />
Methode beginnt mit der Phase der Strukturierung.<br />
Abb. 6: Überblick über den Ablauf der entwickelten<br />
Methode. Die technische Umsetzung sollte<br />
früh begonnen werden.<br />
75
Astrid Ernst & Engelbert Niehaus<br />
5.1 Strukturierung<br />
In dieser Phase entwickeln die<br />
Studierenden zunächst eine<br />
concept map, mit der sie die Inhalte<br />
abgrenzen <strong>und</strong> vorstrukturieren<br />
(Schritt 1). Auf Basis der<br />
concept map entwickeln sie<br />
dann eine hierarchisch-vernetzte<br />
Struktur für die geplante Aufbereitung<br />
(Schritt 2). Dazu müssen<br />
Sie verschiedene Entscheidungen<br />
treffen: Bei welchen Beziehungen<br />
zwischen zwei Begriffen<br />
handelt es sich um Unterordnungen,<br />
bei welchen um Bezüge?<br />
Welche Begriffe sind zentral,<br />
welche nicht? Wie kann ich<br />
gleichwertige Unterthemen finden<br />
<strong>und</strong> eine st<strong>im</strong>mige Struktur<br />
aufbauen? Die Zuteilung der<br />
Begriffe zu den Kategorien erfolgt<br />
in enger Anlehnung an die<br />
OOA (objektorientierte Analyse,<br />
vgl. dazu auch Ernst 2005, Niehaus<br />
2001), eine Analysetechnik,<br />
die aus der Softwareentwicklung<br />
stammt.<br />
76<br />
Schritt 1<br />
Schritt 2<br />
Objektorientierte Themenbeschreibung "Konzepte zur Bruchrechnung"<br />
Kurzbeschreibung<br />
Wir zeigen in diesem Modul, wie Bruchzahlen unter fünf verschiedenen Konzeptionen definiert werden<br />
<strong>und</strong> wie dann mit ihnen gerechnet wird. Außerdem werden typische Schülerfehler analysiert <strong>und</strong> besprochen.<br />
In allen fünf Konzeptionen lassen sich Sätze <strong>und</strong> Regeln formulieren <strong>und</strong> exakt beweisen.<br />
Beschreibung/Unterthemen<br />
<strong>—</strong> Im Rahmen eines formalen Konzepts wird gezeigt, wie Bruchzahlen ausschließlich auf der Kenntnis<br />
der natürlichen Zahlen aufbauend behandelt werden können. In diesem Abschnitt wird ein vollständiger<br />
Kurs bis zum Beweis der Irrationalität von Wurzel 2 vorgestellt.<br />
<strong>—</strong> Das Äquivalenzklassenkonzept lehnt sich stark an die formale Theorie an. Die Überlegungen <strong>und</strong><br />
Begründungen werden allerdings exemplarisch durchgeführt.<br />
<strong>—</strong> Das Größenkonzept geht vom intuitiven Vorverständnis der Bruchzahlen als Maßzahlen aus.<br />
<strong>—</strong> Das Operatorkonzept sieht Bruchzahlen als "Zusammenbau" von Multiplikations- <strong>und</strong> Divisionsmaschinen.<br />
<strong>—</strong> Das Gleichungskonzept führt Bruchzahlen als Lösung von Gleichungen ein, also z.B. "3/4" ist die<br />
Lösung der Gleichung "4x=3".<br />
Zweck<br />
Die "sortenreine" Darstellung der fünf Konzepte stellt eine didaktische Fiktion dar. In der Schulwirklichkeit<br />
wird man keines dieser Konzepte in reiner Form antreffen; es wäre auch in keiner Weise sinnvoll,<br />
den Unterricht längs einer einzelnen Konzeption "sortenrein" zu gestalten. Die getrennte Benennung<br />
<strong>und</strong> Behandlung der Konzepte dient dem Zweck, die <strong>im</strong> Unterricht oder in Schulbüchern vorfindbaren<br />
Beispiele klassifizieren <strong>und</strong> beschreiben zu können. Ein Verständnis dessen, was ein Bruch<br />
"ist", kann aber nur als Wissensnetz zwischen den vielen verschiedenen Konzepten <strong>und</strong> ihren Ausdeutungen<br />
<strong>im</strong> Alltag aufgebaut werden.<br />
Bezug<br />
Im Modul Rechnen mit Brüchen wird gezeigt, wie die verschiedenen Themenkreise der Bruchrechnung<br />
mithilfe der verschiedenen Konzepte in der Schule behandelt werden können.<br />
Schritt 3
Ist eine st<strong>im</strong>mige Struktur gef<strong>und</strong>en, beginnt<br />
die Erstellung der Theorie-Seiten. Dazu wird<br />
zu jedem Thema der erarbeiteten Struktur<br />
eine Theorie-Seite erstellt. Ein Ziel bei der<br />
Erstellung der Seiten ist es, aus sich heraus<br />
verständliche Informationseinheiten zu erzeugen.<br />
Um dieses zu unterstützen, wurde<br />
aus der oo (objektorientierten) Analyse eine<br />
Seitenstruktur abgeleitet, die die Vollständigkeit<br />
der Seiten unterstützen soll. Jede Seite<br />
weist folgende Elemente auf (siehe Schritt 3):<br />
• eine Kurzbeschreibung, in der das Thema<br />
der Seite "definiert" wird,<br />
• einen Beschreibungs-/Unterthemen-Teil,<br />
in der das Thema der Seite ausführlicher<br />
erläutert wird <strong>und</strong> Unterthemen ggf. aufgelistet<br />
werden,<br />
• einen Zweck-Teil, in dem erläutert wird,<br />
wozu man die dargestellten Inhalte "verwenden"<br />
kann, <strong>und</strong><br />
• einen Bezüge-Teil, in dem interessante<br />
Bezüge zu anderen Themengebieten aufgelistet<br />
werden.<br />
Bei der Erstellung jeder Theorie-Seite muss<br />
auch die endgültige Verlinkungsstruktur festgelegt<br />
werden. Nach Fertigstellung aller<br />
Theorie-Seiten kann dann eine Übersichtskarte<br />
über die endgültige Modulstruktur angefertigt<br />
werden (s. Schritt 4).<br />
Konstruktiv arbeiten mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> Methoden der Content-Erstellung<br />
Schritt 4: In diesem Schritt besitzt jeder Knoten eine objektorientierte Themenbeschreibung.<br />
Durch die Erstellung der oo Themenbeschreibungen<br />
verändert sich u. U. auch die Baumstruktur.<br />
5.2 Informationsformen<br />
In dieser Phase konzipieren die Studierenden<br />
Anwendungsbeispiele, Anregungen zu<br />
Aktivitä-ten, Links ins <strong>Internet</strong>, weiterführende<br />
Literaturhinweise usw. Dazu finden sie in<br />
der zur Methode gehörigen Dokumentation<br />
Hilfestellungen <strong>und</strong> Beispiele. Die Konzep-<br />
tion der Informationsformen<br />
ist eng verb<strong>und</strong>en<br />
mit der nächsten<br />
Arbeitsphase, in der<br />
passende Medien ausgewählt<br />
werden.<br />
5.3 Medieneinsatz<br />
In dieser Phase wählen<br />
die Studierenden zu<br />
den konzipierten Informationsformengeeignete<br />
Medien aus.<br />
Dabei sollen Erkenntnisse<br />
aus der Mediendidaktik<br />
berücksichtigt<br />
werden, wie z.B. die<br />
besondere Eignung von Videos oder An<strong>im</strong>ationen<br />
für die Veranschaulichung von Prozessen.<br />
Insbesondere soll ein "zweck-loser"<br />
Medieneinsatz vermieden werden.<br />
5.4 Textliche Umsetzung<br />
Nun werden die Textteile der geplanten Dokumente<br />
hinsichtlich ihrer <strong>Internet</strong>-Tauglichkeit<br />
überarbeitet. Dazu gehört z.B. die<br />
Formulierung von kurzen, gut verständlichen<br />
Sätzen, die Fett-Markierung von Schlüsselwörtern,<br />
die Verwendung von Hints <strong>und</strong> Popup-Fenstern,<br />
aber auch Aspekte des Web-<br />
Designs wie die Auswahl von Schrifttypen<br />
<strong>und</strong> die Verwendung von Lay-out-Vorlagen.<br />
5.5 Technische Umsetzung<br />
Wie schon zuvor erläutert, sollte die technische<br />
Umsetzung den gesamten Entwicklungsprozess<br />
begleiten. In der zugehörigen<br />
Dokumentation werden in diesem Teil die relevanten<br />
Aspekte der technischen Realisierung<br />
behandelt.<br />
6 Anwendungsszenarien<br />
für den rezeptiven <strong>und</strong><br />
konstruktiven Umgang<br />
mit einer internetbasierten<br />
Wissensbasis<br />
Wie kann eine konstruktive Nutzung eines<br />
Lehr-Lernsystems durch <strong>Lernen</strong>de <strong>im</strong> Rahmen<br />
der Lehramtsausbildung aufgebaut werden?<br />
77
Astrid Ernst & Engelbert Niehaus<br />
Innerhalb der universitären Ausbildung erfolgt<br />
zunächst die Einführung in den rezeptiven<br />
Umgang mit einem Informationssystem<br />
mit dem Ziel, sich mit der Wissensbasis vertraut<br />
zu machen <strong>und</strong> diese ausbildungsbegleitend<br />
als Informationsressource zu nutzen.<br />
Beispielsweise können die <strong>im</strong> MADIN-Projekt<br />
erstellten Inhalte direkt aus dem Informationssystem<br />
entnommen <strong>und</strong> in Vorlesungen<br />
eingesetzt werden.<br />
In Seminaren wird diese Aufgabenstellung<br />
durch Inhaltsproduktionen der Studenten/innen<br />
erweitert. Dies beinhaltet das Zusammenstellen<br />
professionell erstellter Inhalte in<br />
einem persönlichen Arbeitsbereich <strong>und</strong> die<br />
Ergänzung von zusätzlichen selbst erstellten<br />
Inhalten. Die Ausbildung zielt in dieser Phase<br />
bereits darauf ab, die Trennung von Autoren/innen<br />
<strong>und</strong> Lesern/innen aufzuheben.<br />
Persönliche Bedürfnisse <strong>und</strong> Erfahrungen in<br />
Unterrichtspraktika best<strong>im</strong>men dabei ebenfalls<br />
die Wissensorganisation <strong>und</strong> die Adaption<br />
von Inhalten. Professionell erstellte Inhalte<br />
können in einem persönlichen Arbeitsbereich<br />
durch eigene Dokumente ergänzt bzw.<br />
ersetzt werden, ohne die Originaldokumente<br />
zu verändern. Im Zusammenhang mit der Erstellung<br />
von Projekten eröffnet internetbasierte<br />
Wissensrepräsentation zudem die<br />
Möglichkeit, kooperativ in der Lehrerbildung<br />
zu arbeiten <strong>und</strong> internetbasierte Projektentwicklung<br />
<strong>im</strong> Team zu erlernen. Im<br />
Folgenden werden die Anwendungsszenarien<br />
in den unterschiedlichen<br />
Ausbildungsphasen kurz skizziert. Alle<br />
bisherigen Erprobungen dieses<br />
Konzeptes fanden in Münster auf der<br />
Basis der SIMLA-Software statt.<br />
78<br />
dem Informationssystem. Studierende des<br />
Lehramts sollen in die Lage versetzt werden,<br />
Informationen zur Vorlesung zu recherchieren.<br />
Szenario 2:<br />
Nutzer: Studierendengruppe<br />
Nutzungsform: rezeptiv & konstruktiv <strong>—</strong> in<br />
Seminaren<br />
Nutzungsziel: Vorbereitung von Seminarvorträgen<br />
In einem Seminar bereiten die Studierenden<br />
in Gruppen einen Seminarvortrag vor. Dazu<br />
ist wie be<strong>im</strong> vorlesungsbegleitenden Einsatz<br />
auch die Fähigkeit zur Informationsrecherche<br />
notwendig. Professionell erstellte Inhalte<br />
werden entsprechend dem Vortragsthema in<br />
einem Arbeitsbereich zusammengestellt. Hinzu<br />
kommt, dass die Studierenden einen ersten<br />
Kontakt zur Inhaltserzeugung erhalten.<br />
Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Organisation<br />
des Wissensnetzes mit Hilfe von mind<br />
mapping <strong>und</strong> in Anfängen auch mit Hilfe der<br />
objektorientierten Themenanalyse <strong>und</strong> anschließender<br />
Umsetzung in vernetzte html-<br />
Dokumente. Eine von einer Studierendengruppe<br />
<strong>im</strong> Rahmen eines Seminars entwickelte<br />
Strukturierung ist in Abbildung 7 zu<br />
sehen.<br />
Szenario 1:<br />
Nutzer: Studierende<br />
Nutzungsform: rezeptiv <strong>—</strong> in Vorlesungen<br />
<strong>und</strong> zur Nachbereitung<br />
Nutzungsziel: ausbildungsbegleiten-<br />
Abb. 7: Von Studierenden <strong>im</strong> Rahmen eines Seminars erde<br />
Informationsrecherche<br />
stellte Strukturierung als Planung für eine <strong>Internet</strong>-Aufberei-<br />
In der Vorlesung werden Materialien tung des Themas<br />
wie An<strong>im</strong>ationen, Videos <strong>und</strong> HTML-<br />
Seiten für die Darstellung von Inhalten <strong>und</strong><br />
für Aufgabenstellungen für die Studierenden Szenario 3:<br />
verwendet. Der/die Studierende wird mit der Nutzer: Studierende<br />
Arbeitsumgebung vertraut gemacht Nach der<br />
Nutzungsform: konstruktiv <strong>—</strong> in Examens-<br />
Vorlesung können die Studierenden mit dem<br />
arbeiten<br />
aus der Vorlesung bekannten Navigationssystem<br />
auf die Information der Vorlesung on- Nutzungsziel: Erstellung <strong>und</strong> Einbettung der<br />
line zugreifen <strong>und</strong> zusätzliche Quellen zur Examensarbeit in ein Informationssystem<br />
Nachbereitung nutzen. Durch diese rezeptive Lehramtsstudierende fertigen <strong>im</strong> Rahmen der<br />
Arbeit bekommt der/die Studierende eine Prüfungsleistungen zum ersten Staatsexa-<br />
Vorstellung von der Wissensrepräsentation in men eine Hausarbeit zu einem best<strong>im</strong>mten
Thema an. Im Gegensatz zu Seminararbeiten,<br />
die bereits konstruktive Elemente enthielten,<br />
können bei der Erstellung von Examensarbeiten<br />
alle Aufbereitungsschritte von<br />
der objektorientierten Strukturierung <strong>und</strong> Seitenerstellung<br />
über die Konzeption der Informationsformen<br />
bis hin zur Medienauswahl<br />
berücksichtigt werden. Eine Ausarbeitung eines<br />
Inhaltes für ein internetbasiertes System<br />
erfordert die Einbettung eines erarbeiteten<br />
Inhaltes in eine bestehende Wissensstruktur.<br />
Bezogen auf eine internetbasierte Wissensrepräsentation<br />
enthält eine Examensarbeit<br />
daher drei wesentliche Bestandteile:<br />
• Den in die Wissensbasis einzubettenden<br />
Inhalt, der in der Examensarbeit ausgearbeitet<br />
wurde.<br />
• Die Analyse des Informationskontextes<br />
der Wissensbasis, in den der Inhalt eingebettet<br />
wird.<br />
• Die Dokumentation der Einbettung <strong>und</strong><br />
der notwendigen Anpassungen des Informationskontextes,<br />
in den der Inhalt eingebettet<br />
wurde.<br />
Szenario 4:<br />
Nutzer: Referendare<br />
Nutzungsform: rezeptiv & konstruktiv<br />
Nutzungsziel: Vorbereitung von Unterrichtsentwürfen<br />
mit kooperativer Planung<br />
Die Planung von Unterricht erfordert die Einarbeitung<br />
in didaktisches Wissen über die<br />
jeweiligen Unterrichtsinhalte. Dafür können<br />
die notwendigen Inhalte in den persönlichen<br />
Arbeitsbereich eingebettet werden. An Schulen<br />
müssen Referendare nach einer Einarbeitungsphase<br />
bedarfsdeckenden Unterricht<br />
erteilen. In dieser Phase ist der Betreuungsaufwand<br />
durch Mentoren min<strong>im</strong>al. Eine kooperative<br />
Planung <strong>und</strong> eine Weiterentwicklung<br />
von Unterrichtsideen in einer Gruppe<br />
kann durch die Verteilung der Referendare<br />
auf unterschiedliche Schulen durch eine internetbasierte<br />
kooperative Planung unterstützt<br />
werden.<br />
Szenario 5:<br />
Nutzer: Schülergruppen<br />
Nutzungsform: rezeptiv & konstruktiv<br />
Nutzungsziel: kooperative Projektplanung<br />
<strong>und</strong> Projektdokumentation<br />
Werden Unterrichtsprojekte durchgeführt, so<br />
können Schülergruppen für ihr Teilprojekt bereitgestellte<br />
Informationen in ihren Gruppenarbeitsbereich<br />
einbetten, wenn sie dieses für<br />
Konstruktiv arbeiten mit dem <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> Methoden der Content-Erstellung<br />
wesentlich erachten. Neben der rezeptiven<br />
Arbeit in den Teilprojekten können sich Schüler/innen<br />
bei online dokumentierten Inhalten<br />
jederzeit über den Stand der anderen Teilprojekte<br />
informieren <strong>und</strong> ihre Arbeit bei Veränderungen<br />
ggf. schnell anpassen. Die konstruktive<br />
Arbeit der Schülergruppen beinhaltet<br />
die Dokumentation des eigenen Teilprojektes,<br />
wie das Sammeln, Auswerten <strong>und</strong> Interpretieren<br />
von Daten.<br />
7 Fazit<br />
Die vorangegangenen Abschnitte zeigen einige<br />
Möglichkeiten <strong>und</strong> Wege eines konstruktiven<br />
Umgangs mit einer online verfügbaren<br />
Wissensbasis <strong>im</strong> Rahmen einer internetbasierten<br />
Lehrerausbildung auf. Die Anpassung<br />
von Lerninhalten an eine Lerngruppe<br />
ist eine gr<strong>und</strong>legende Fähigkeit, die Lehrer/innen<br />
in ihrer alltäglichen Arbeit benötigen.<br />
Die Entwicklung <strong>und</strong> der Ausbau dieser<br />
Fähigkeit sollte durch die Ermöglichung einer<br />
personalisierten Wissensorganisation <strong>und</strong><br />
-aufbereitung <strong>im</strong> Bereich der internetgestützten<br />
Lehrerausbildung die gesamte Lehrerausbildung<br />
durchziehen. Sie kann bei der<br />
Wissensorganisation von Studierenden <strong>und</strong><br />
Dozenten/innen für Vorlesungen <strong>und</strong> Seminaren<br />
beginnen <strong>und</strong> über die kooperative Unterrichtsplanung<br />
von Referendaren bis hin<br />
zur Planung <strong>und</strong> Dokumentation von Projekten<br />
in Schulen führen, bei denen Schülergruppen<br />
eigene Teilprojekte dokumentieren<br />
<strong>und</strong> mit anderen Schülergruppen ihre Ergebnisse<br />
abst<strong>im</strong>men. Die Recherche in einem internetbasierten<br />
Informationssystem, die individuelle<br />
Organisation der für die <strong>Lernen</strong>den<br />
wesentlichen Inhalte <strong>und</strong> das Ergänzen persönlicher<br />
Inhalte hat die folgende Zielsetzung:<br />
• Die <strong>Lernen</strong>den sollen ihr eigenes Wissen<br />
<strong>im</strong> Verlaufe ihrer Ausbildung durchgängig<br />
organisieren <strong>und</strong> erweitern lernen.<br />
• Die <strong>Lernen</strong>den sollen lernen, Inhalte so zu<br />
strukturieren <strong>und</strong> aufzubereiten, dass sie<br />
wiederum für andere gut lernbar sind.<br />
• Die <strong>Lernen</strong>den sollen sicher <strong>im</strong> Umgang<br />
mit <strong>Internet</strong> <strong>und</strong> digitalen Medien werden.<br />
• Die <strong>Lehren</strong>den bereiten Lerninhalte für<br />
Lerngruppen auf <strong>und</strong> stellen damit für die<br />
<strong>Lernen</strong>den einen Rahmen für die Unterstützung<br />
von individuellen Lernprozessen<br />
bereit (Dozent für Studierende oder Referendar/Lehrer<br />
für Schüler oder Fachleiter<br />
für Referendare).<br />
79
Astrid Ernst & Engelbert Niehaus<br />
Für die Organisation des eigenen Wissens ist<br />
es notwendig, Methoden für die Strukturierung<br />
von Inhalten bereitzustellen. Inhalte hypermedial<br />
so aufzubereiten, dass sie für andere<br />
gut erlernbar sind, stellt außerdem besondere<br />
Anforderungen an die Autoren <strong>und</strong><br />
Autorinnen. Das entwickelte Modell für die<br />
Aufbereitung von Inhalten (s. Ernst 2005)<br />
stellt diese Methoden zur Verfügung. Es unterstützt<br />
die Studierenden dabei, Inhalte modularisiert<br />
<strong>und</strong> vernetzt aufzubereiten, in Verbindung<br />
zu Anwendungssituationen zu stellen<br />
<strong>und</strong> die späteren Nutzer/innen zur aktiven<br />
Auseinandersetzung mit den Inhalten anzuregen.<br />
Unterstützt werden die Autoren/innen<br />
dabei durch das darauf abgest<strong>im</strong>mte Lehr-<br />
Lernsystem, das die angestrebte Strukturierung<br />
durch den Schreibtisch visualisiert <strong>und</strong><br />
somit ein Gerüst für die Integration eigener<br />
Inhalte in die Wissensbasis liefert.<br />
Bei der Integration einer internetbasierten<br />
Wissensorganisation in die Lehramtsausbildung<br />
wird der angehende Lehrer/ die angehende<br />
Lehrerin vom rezeptiven Einsatz in<br />
Vorlesungen zu einer konstruktiven Arbeit mit<br />
einer Wissensbasis in Seminaren, Examensarbeiten<br />
<strong>und</strong> Referendariat geführt. Die dabei<br />
gesammelten mediendidaktischen Erfahrungen<br />
dienen be<strong>im</strong> Wechsel von der lernenden<br />
in die lehrende Rolle dazu, selbst Wissen <strong>im</strong><br />
schulischen Zusammenhang für Schüler <strong>und</strong><br />
Schülerinnen internetbasiert bereit zu stellen<br />
<strong>und</strong> z.B. in einer Projektarbeit eigenverantwortliches<br />
Wissensmanagment bei den<br />
Schülergruppen zu initiieren.<br />
Insgesamt ist festzustellen, dass die Dynamik<br />
<strong>und</strong> kooperative Weiterentwicklung "unfertiger<br />
Inhalte" eine sinnvolle <strong>und</strong> wichtige<br />
Ergänzung zu der Nutzung "fertiger Inhalte"<br />
<strong>im</strong> Rahmen einer internetbasierte Lehrerbildung<br />
darstellt.<br />
Literatur<br />
Buzan Centres homepage:<br />
http://www.mind-map.com<br />
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80<br />
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New York: Holt, Rinehart & Winston, 3. Auflage
� Didaktische Aspekte der Einbeziehung von<br />
Elementen der 3D-Computergrafik in das<br />
Stoffgebiet Analytische Geometrie<br />
Andreas Filler, Berlin<br />
Die engen Beziehungen zwischen der 3D-Computergrafik <strong>und</strong> der Analytischen Geometrie<br />
können für eine anschaulichere <strong>und</strong> attraktivere Gestaltung des Stoffgebietes Analytische<br />
Geometrie in der SII genutzt werden. In diesem Beitrag werden Erfahrungen bei<br />
der Nutzung einer skriptgesteuerten 3D-Grafiksoftware für den Einstieg <strong>und</strong> die Visualisierung<br />
von traditionellen Inhalten dieses Stoffgebietes beschrieben. Weitere Möglichkeiten<br />
der Einbeziehung der Computergrafik sind u.a. die Beschreibung von Farben durch<br />
Vektoren <strong>und</strong> die Funktionsweise der Bildberechnung in 3D-Grafikprogrammen. Letztere<br />
beruht wesentlich auf dem Reflexionsgesetz, dessen analytische Formulierung für den<br />
Raum das Skalarprodukt sowie Normaleneinheitsvektoren benötigt.<br />
1 Warum 3D-Computergrafik<br />
<strong>im</strong> Stoffgebiet Analytische<br />
Geometrie?<br />
Über die Bedeutung der Analytischen Geometrie<br />
für die Allgemeinbildung bestehen<br />
kaum Zweifel. Die Autoren der Expertise<br />
(Borneleit u.a. 2001) sehen den allgemeinbildende<br />
Wert der Analytischen Geometrie in<br />
"ihren mächtigen Methoden <strong>und</strong> interessanten<br />
Objekten zur Erschließung des uns umgebenden<br />
Raumes" (S. 81). In den Einheitlichen<br />
Prüfungsanforderungen <strong>im</strong> Fach <strong>Mathematik</strong><br />
von 2002 wird hervorgehoben, dass<br />
dem Gebiet Lineare Algebra / Analytische<br />
Geometrie "unverändert zentrale Bedeutung<br />
zu(kommt)" (EPA 2002, 3).<br />
In den Curricula <strong>und</strong> in der weitläufig verbreiteten<br />
Unterrichtspraxis des Stoffgebietes<br />
"Analytische Geometrie" bestehen jedoch<br />
einige gravierende Defizite (vgl. Borneleit<br />
u.a. 2001, Schupp 2000, u.a.):<br />
• Durch die weitgehende Beschränkung auf<br />
lineare geometrische Objekte (Geraden<br />
<strong>und</strong> Ebenen) kennzeichnet eine Armut an<br />
Formen den Unterricht.<br />
• Die Untersuchung interessanter geometrischer<br />
Objekte wird zugunsten der Demonstration<br />
von Methoden vernachlässigt.<br />
Die Leistungsfähigkeit von Abstraktionen<br />
(Vektorbegriff), Beschreibungen (<strong>im</strong>plizite<br />
Gleichungen, Parameterdarstellungen)<br />
<strong>und</strong> Verfahren (Zurückführung von<br />
Schnittmengen auf Lösungsmengen von<br />
Gleichungssystemen) wird dadurch nicht<br />
genügend nachvollziehbar.<br />
• Es besteht ein Mangel an "echten", für die<br />
Schüler nachvollziehbaren Anwendungen<br />
sowie an stoffgebiets- <strong>und</strong> fächerübergreifenden<br />
Bezügen.<br />
• F<strong>und</strong>amentale Ideen des <strong>Mathematik</strong>unterrichts,<br />
die in der Analytischen Geometrie<br />
besonders behe<strong>im</strong>atet sein müssten,<br />
wie Koordinatisieren <strong>und</strong> räumliches<br />
Strukturieren, kommen ungenügend zur<br />
Geltung; der Bedeutung der Analytischen<br />
Geometrie für die Modellierung räumlicher<br />
Strukturen kann nur in Ansätzen entsprochen<br />
werden.<br />
• Der Unterricht ist durch eine starke Dominanz<br />
kalkülhaften Arbeitens gekennzeichnet.<br />
Die Darstellung <strong>und</strong> Untersuchung<br />
geometrischer Gebilde tritt häufig in den<br />
Hintergr<strong>und</strong> zugunsten des formalen Lösens<br />
von linearen Gleichungssystemen.<br />
Besonders gravierend wirken sich diese Probleme<br />
in Gr<strong>und</strong>kursen aus, in denen anspruchsvollere<br />
algebraisch-strukturelle Überlegungen<br />
kaum durchgeführt werden. Der<br />
Unterricht reduziert sich dadurch oft weitgehend<br />
auf das Lösen von Standardaufgaben.<br />
Die Einbeziehung der 3D-Computergrafik in<br />
den Unterricht der Analytischen Geometrie<br />
bietet die Möglichkeit, dieses Stoffgebiet zu<br />
"geometrisieren", den Modellierungsaspekt<br />
zu stärken <strong>und</strong> den Unterricht attraktiver zu<br />
gestalten. Mit der Einbeziehung von Elementen<br />
der 3D-Computergrafik werden vor allem<br />
folgende Ziele verfolgt:<br />
• Ergänzung der algebraischen Untersuchung<br />
geometrischer Objekte <strong>und</strong> Relationen<br />
durch Visualisierungen.<br />
81
Andreas Filler<br />
• Sichtbarmachen der Anwendungsrelevanz<br />
der Analytischen Geometrie auf einem<br />
Gebiet, das für viele Schüler sehr attraktiv<br />
ist.<br />
• Die Schüler erkennen bei der praktischen<br />
Arbeit an computergrafischen Darstellungen<br />
die Notwendigkeit, geometrische Objekte<br />
durch Koordinaten zu beschreiben,<br />
Gleichungen aufzustellen <strong>und</strong> Koordinaten<br />
parameterabhängig anzugeben.<br />
• Einbeziehung heuristischer <strong>und</strong> exper<strong>im</strong>enteller<br />
Arbeitsweisen in den Unterricht.<br />
• Größere Formenvielfalt durch Betrachtung<br />
nicht mehr <strong>im</strong> Unterricht vorkommender<br />
nichtlinearer geometrischer Objekte durch<br />
den mittels CG-Software möglichen visuellen<br />
<strong>und</strong> exper<strong>im</strong>entellen Zugang.<br />
• Ermöglichen stoffgebiets- <strong>und</strong> fächerübergreifender<br />
Bezüge (Analysis, Physik, Informatik,<br />
Kunst).<br />
• Motivierung durch den ästhetischen Reiz<br />
3D-computergrafischer Darstellungen.<br />
Im Gegensatz zu anderen Einsatzgebieten<br />
des Computers <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
kann die 3D-Computergrafik nicht nur als<br />
Hilfsmittel für den Unterricht dienen, sondern<br />
auch als Unterrichtsgegenstand den Schülern<br />
die Bedeutung <strong>und</strong> Nützlichkeit der Analytischen<br />
Geometrie an einem praxisrelevanten<br />
<strong>und</strong> interessanten Gegenstand verdeutlichen.<br />
Die Schüler können dabei mathematische<br />
Modelle (z.B. der Lichtausbreitung in<br />
der Realität) erarbeiten <strong>und</strong> deren Nutzen in<br />
für sie interessanten computergrafischen<br />
Anwendungen erleben.<br />
Bereits die Veranschaulichung von geometrischen<br />
Objekten <strong>und</strong> Lagebeziehungen mithilfe<br />
einer Grafiksoftware kann die überwiegend<br />
rechnerisch betriebene Analytische Geometrie<br />
sinnvoll visuell ergänzen. Die 3D-Computergrafik<br />
bietet jedoch mehr Möglichkeiten für<br />
eine interessantere Gestaltung des Stoffgebietes.<br />
Diese können allerdings nur zum Tragen<br />
kommen, wenn <strong>—</strong> gegenüber der aktuell<br />
praktizierten, meist von algebraischen Überlegungen<br />
ausgehenden Herangehensweise<br />
an das Stoffgebiet <strong>—</strong> Ausgangs- <strong>und</strong><br />
Schwerpunkte bei der Behandlung der Analytischen<br />
Geometrie modifiziert werden. Insbesondere<br />
ist dazu eine Prioritätensetzung zugunsten<br />
geometrischer Inhalte <strong>und</strong> Herangehensweisen<br />
gegenüber algebraischen<br />
Aspekten notwendig. In diese Richtung gehende<br />
Forderungen sind auch unabhängig<br />
von computergrafischen Inhalten u.a. von<br />
Schupp (2000) gestellt worden.<br />
82<br />
In diesem Beitrag gehe ich auf vier Gebiete<br />
der Einbeziehung von Elementen der 3D-<br />
Computergrafik in den Unterricht der Analytischen<br />
Geometrie ein:<br />
1. Einstieg in das Stoffgebiet über die Beschreibung<br />
von Körpern <strong>im</strong> Raum durch<br />
Koordinaten <strong>und</strong> die darauf basierende<br />
Modellierung von Objekten in einer 3D-<br />
Grafiksoftware,<br />
2. Nutzung einer Grafiksoftware zur Visualisierung<br />
herkömmlicher Inhalte des Stoffgebietes,<br />
3. Computergrafik <strong>und</strong> Vektorbegriff, Beschreibung<br />
von Farben durch Vektoren,<br />
4. Skalarprodukt <strong>und</strong> Normalenvektoren als<br />
zentrale mathematische Gr<strong>und</strong>lagen der<br />
3D-Computergrafik. 1<br />
2 Rahmenbedingungen<br />
Neben Vorschlägen zur Einbeziehung von<br />
Elementen der 3D-Computergrafik in den Unterricht<br />
werde ich in diesem Beitrag auf erste<br />
Erfahrungen eingehen, die ich damit in einem<br />
Unterrichtsversuch gesammelt habe, der <strong>im</strong><br />
Herbst 2003 in einem Gr<strong>und</strong>kurs ma-13 in<br />
Berlin-Friedrichshain stattfand. Bei der<br />
Durchführung des Unterrichtsversuches<br />
mussten natürlich die Vorgaben des Rahmenplanes<br />
berücksichtigt werden. Im Rahmenplan<br />
des Landes Berlin [4] tritt die Analytische<br />
Geometrie an drei Stellen auf.<br />
Am Ende von Klasse 11 sind 30 St<strong>und</strong>en für<br />
das Stoffgebiet Analytische Geometrie vorgesehen;<br />
dabei werden Punkte <strong>und</strong> Vektoren<br />
<strong>im</strong> kartesischen Koordinatensystem <strong>und</strong> Abstände<br />
von Punkten behandelt. Die Schüler<br />
sollen mit Vektoren rechnen <strong>und</strong> Geraden <strong>im</strong><br />
R 2 durch Gleichungen beschreiben. Am Ende<br />
der Klassenstufe 12 <strong>im</strong> Gr<strong>und</strong>kurs ma-2 sind<br />
15 Unterrichtsst<strong>und</strong>en für lineare Gleichungssysteme,<br />
dabei vor allem für die Behandlung<br />
des Gauß-Algorithmus, best<strong>im</strong>mt. In vielen<br />
Fällen wird jedoch weder am Ende von Klasse<br />
11 noch am Ende von Klasse 12 die vorgesehene<br />
Zeit für die Analytische Geometrie<br />
bzw. die Behandlung linearer Gleichungssysteme<br />
aufgewendet, da diese Stoffgebiete jeweils<br />
am Ende des Schuljahres liegen <strong>und</strong><br />
oft aufgr<strong>und</strong> von Verzögerungen verkürzt<br />
werden. Auch in dem Kurs ma-3, in dem der<br />
hier beschriebene Schulversuch stattfand,<br />
1 Damit sind nicht alle sinnvollen Bezüge zwischen der 3D-Computergrafik<br />
<strong>und</strong> dem Unterricht in Analytischer Geometrie erfasst.<br />
Ausführungen zu weiteren Aspekten, wie z.B. der visuellen Untersuchung<br />
von Kegelschnitten sowie von Flächen des Raumes, sind<br />
z.B. in Filler 2001 <strong>und</strong> 2002 enthalten.
ergaben Überprüfungen am Anfang des Kurses<br />
sehr lückenhafte Kenntnisse; <strong>—</strong> der Vektorbegriff<br />
z.B. wurde von den Schülern vor allem<br />
mit seiner aus der Physik bekannten Bedeutung<br />
für die Beschreibung von Kräften<br />
assoziiert.<br />
Schwerpunktmäßig wird die Analytische Geometrie<br />
nach dem Berliner Rahmenplan am<br />
Anfang des 13. Schuljahres (<strong>im</strong> Gr<strong>und</strong>kurs<br />
ma-3) behandelt; dabei sind folgende Themen<br />
vorgesehen:<br />
• Skalarprodukt von Vektoren, Rechenregeln,<br />
• Längen- <strong>und</strong> Winkelgrößen, Orthogonalität,<br />
• Geraden- <strong>und</strong> Ebenengleichungen in Parameter-<br />
<strong>und</strong> Koordinatenform,<br />
• Hessesche Normalenform der Ebenengleichung,<br />
• Lagebeziehungen, Schnittpunkte <strong>und</strong> -geraden,<br />
• Abstandsberechnungen (Punkt – Gerade,<br />
Punkt – Ebene),<br />
• Schnittwinkelberechnungen,<br />
• Gleichung der Kugel in allgemeiner Lage.<br />
2<br />
Der Berliner Rahmenplan zeigt die typische<br />
Ausrichtung bei der Behandlung der Analytischen<br />
Geometrie in Gr<strong>und</strong>kursen: Mit Ausnahme<br />
der Kugel (für deren Behandlung zudem<br />
oft keine Zeit bleibt) werden als geometrische<br />
Objekte lediglich Geraden <strong>und</strong> Ebenen<br />
betrachtet. Der Unterricht wird durch die Berechnung<br />
von Schnittpunkten <strong>und</strong> -geraden,<br />
Skalarprodukten sowie Längen <strong>und</strong> Winkelgrößen<br />
dominiert; <strong>—</strong> es bildet sich ein auch<br />
als "Aufgabeninseln" (Tietze u.a. 2000, 100)<br />
bezeichneter enger Kanon an Standardaufgaben<br />
heraus.<br />
Wie bereits dargelegt, erfordert jedoch eine<br />
geometrisch orientierte Behandlung der Analytischen<br />
Geometrie <strong>und</strong> die Einbeziehung<br />
von Elementen der Computergrafik die Betrachtung<br />
einer größeren Vielfalt von Objekten<br />
an Stelle der sehr ausführlichen Anwendung<br />
algebraischer Verfahren auf nur sehr<br />
wenige Objekte. Sollen die oben genannten<br />
Ziele in regulären Kursen unter Berücksichtigung<br />
der heute gültigen Rahmenpläne realisiert<br />
werden, so ist es notwendig, einen<br />
Kompromiss zwischen stärker koordinatenbezogenen<br />
geometrischen Überlegungen<br />
<strong>und</strong> der geforderten algebraisch orientierten<br />
2 Diese Aufzählung spiegelt natürlich nicht die Reihenfolge der Behandlung<br />
<strong>im</strong> Unterricht wider; vielmehr ist eine verzahnte Behandlung<br />
der genannten Stoffinhalte vorgesehen.<br />
Didaktische Aspekte der Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik<br />
Untersuchung von Geraden <strong>und</strong> Ebenen zu<br />
finden. Um die Anknüpfung an die Geometrie<br />
der Sek<strong>und</strong>arstufe I herzustellen, bietet es<br />
sich an, geometrische Gr<strong>und</strong>körper zu betrachten<br />
<strong>und</strong> durch Koordinaten zu beschreiben.<br />
Damit kann gleichzeitig der Einstieg in<br />
die Arbeit mit einer koordinatenorientierten<br />
3D-Grafiksoftware gef<strong>und</strong>en werden.<br />
3 Koordinatengeometrie als<br />
Gr<strong>und</strong>lage der Modellierung<br />
von Objekten<br />
Die Nutzung einer dreid<strong>im</strong>ensionalen Grafiksoftware<br />
eröffnet gute Visualisierungsmöglichkeiten<br />
für eine koordinatenbezogene<br />
Raumgeometrie. Gleichzeitig "zwingt" <strong>—</strong> falls<br />
eine skriptgesteuerte Software verwendet<br />
wird <strong>—</strong> der Wunsch, 3D-Computergrafiken<br />
zu erstellen, zur Beschreibung von Objekten<br />
durch Koordinaten. Ein gut geeignetes Programm<br />
ist die Freeware POV-Ray [3]. POV-<br />
Ray ermöglicht sehr hochwertige, fotorealistische<br />
Ergebnisse <strong>und</strong> steht in dieser Hinsicht<br />
kommerziellen Programmen, die für die<br />
Produktion computergenerierter Spielfilme<br />
benutzt werden, nicht nach. Jedoch müssen<br />
Objekte bei POV-Ray mithilfe einer Skriptsprache<br />
durch Koordinaten modelliert werden;<br />
<strong>—</strong> die Erstellung <strong>und</strong> Positionierung<br />
mithilfe der Maus ist nicht möglich. Insofern<br />
erfordert die Erzeugung von Computergrafiken<br />
mit POV-Ray tatsächlich die Beschäftigung<br />
mit der Analytischen Geometrie; <strong>—</strong> diese<br />
Tatsache erweist sich be<strong>im</strong> Einstieg in<br />
das Stoffgebiet in Klasse 13 als nützlich.<br />
Da allerdings dreid<strong>im</strong>ensionale Szenen nicht<br />
nur aus geometrischen Objekten bestehen,<br />
sondern auch die Beschreibung einer Kamera<br />
<strong>und</strong> von Lichtquellen erfordern (siehe z.B.<br />
Filler 2001 <strong>und</strong> 2002) ist der Einstieg in POV-<br />
Ray recht komplex <strong>und</strong> würde den zur Verfügung<br />
stehenden zeitlichen Rahmen sprengen.<br />
Aus diesem Gr<strong>und</strong>e habe ich Vorlagen<br />
entwickelt, bei denen Kameras <strong>und</strong> Lichtquellen<br />
bereits vorbereitet sind <strong>und</strong> außerdem<br />
sehr leicht ein die Orientierung erleichterndes<br />
Koordinatenkreuz in Szenen eingefügt<br />
werden kann. 3<br />
Unter Verwendung der Vorlagen können die<br />
Schüler recht schnell einfache geometrische<br />
Körper modellieren, <strong>im</strong> Raum positionieren<br />
<strong>und</strong> entsprechende Grafiken erzeugen. Nach<br />
einer kurzen Diskussion, durch welche Punkte<br />
<strong>und</strong> Größen Kugeln, Kegelstümpfe <strong>und</strong><br />
3 Die Vorlagen, eine kurze Anleitung für ihre Nutzung <strong>und</strong> einige<br />
Beispiele stehen auf der <strong>Internet</strong>seite [1] zur Verfügung.<br />
83
Andreas Filler<br />
Zylinder <strong>im</strong> Raum beschrieben werden, war<br />
die Verwendung der folgenden Befehle in<br />
POV-Ray für die Schüler unproblematisch:<br />
sphere{,r} (Koordinaten des Mittelpunktes<br />
<strong>und</strong> Radius),<br />
cylinder{,,r}<br />
(Koordinaten der Mittelpunkte von Gr<strong>und</strong><strong>und</strong><br />
Deckfläche, Radius),<br />
cone{,r1,,r2}<br />
(Koordinaten der Mittelpunkte sowie Radien<br />
von Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Deckfläche).<br />
Zusätzlich zu diesen Anweisungen, welche<br />
die Art <strong>und</strong> Lage geometrischer Körper <strong>im</strong><br />
Raum beschreiben, müssen noch Oberflächenerscheinungen<br />
(Texturen) der Körper<br />
festgelegt werden. Da sich die Schüler zu<br />
Anfang auf die Beschreibung geometrischer<br />
Objekte durch Koordinaten konzentrieren sollen,<br />
enthält die zur Verfügung gestellte Vorlage<br />
einfach anzuwendende Texturen, die<br />
nur die Eingabe von (in der Kurzanleitung<br />
dokumentierten) Begriffen wie blau_matt,<br />
silber oder holz erfordern.<br />
Bereits in der ersten Doppelst<strong>und</strong>e zur Analytischen<br />
Geometrie in Klasse 13 erhielten<br />
die Schüler die Aufgabe, unter Nutzung der<br />
Vorlagen <strong>und</strong> der Kurzanleitung einen<br />
Schneemann zu modellieren. Abbildung 1<br />
zeigt ein typisches Ergebnis einer Schülerin<br />
am Ende dieser Doppelst<strong>und</strong>e (nach ca. 35minütiger<br />
Arbeit mit POV-Ray).<br />
84<br />
Abb. 1<br />
Für die Erzeugung dieses Bildes gab die<br />
Schülerin folgenden Quelltext ein:<br />
sphere{, 2<br />
texture{blau_matt}}<br />
sphere{, 1.5<br />
texture{blau_matt}}<br />
sphere{, 2.7<br />
texture{blau_matt}}<br />
cylinder{,,<br />
2.5 texture{schwarz}}<br />
cylinder{,,<br />
1.2 texture{schwarz}}<br />
Das Hauptproblem bei der Erstellung des<br />
Schneemannes verlagerte sich für die Schüler<br />
sehr schnell von der Bedienung der Software<br />
hin zur Wahl geeigneter Koordinaten.<br />
Dabei gelangten sie von zunächst recht ziellosem<br />
Exper<strong>im</strong>entieren zu gezielten Veränderungen<br />
einzelner Koordinaten <strong>und</strong> überlegten,<br />
welche Anordnung der Objekte bezüglich<br />
der Koordinatenachsen ihre Positionierung<br />
vereinfacht. Durch geschicktes Variieren<br />
der Koordinaten mithilfe von Skizzen auf<br />
Papier gelang einigen Schülern sogar bereits<br />
eine annähernd realistische Anordnung von<br />
Knöpfen <strong>und</strong> Augen des Schneemannes. In<br />
der folgenden Unterrichtsst<strong>und</strong>e erfolgte eine<br />
Diskussion der dazu angestellten Überlegungen.<br />
Es wurde herausgearbeitet, dass es<br />
sinnvoll ist, Objekte <strong>—</strong> wenn möglich <strong>—</strong> entlang<br />
der Koordinatenachsen oder zumindest<br />
auf Koordinatenebenen zu positionieren, da<br />
ihre Koordinaten dann durch Skizzen oder<br />
einfache Berechnungen ermittelt werden<br />
können. Die Schüler erkannten, dass die Anordnung<br />
der Hauptbestandteile (Rumpf,<br />
Kopf) lediglich eind<strong>im</strong>ensionale Überlegungen<br />
erfordert, für die Positionierung der<br />
Knöpfe zweid<strong>im</strong>ensionale <strong>und</strong> die der Augen<br />
sogar dreid<strong>im</strong>ensionale Betrachtungen notwendig<br />
sind (s. Abb. 2).<br />
Abb. 2<br />
Die Erkenntnis, dass für eine völlig exakte<br />
Positionierung der Knöpfe <strong>und</strong> Augen somit<br />
Gleichungen des Kreises bzw. der Kugel benötigt<br />
werden, lag damit auf der Hand. In der<br />
folgenden Unterrichtsst<strong>und</strong>e wurden Gleichungen<br />
des Kreises <strong>und</strong> der Kugel mithilfe<br />
des Satzes des Pythagoras hergeleitet. Die<br />
Schüler lösten dann einige Beispielaufgaben<br />
zur Berechnung der fehlenden Koordinate<br />
eines Punktes, von dem zwei Koordinaten<br />
gegeben sind <strong>und</strong> der auf einer Kugel mit<br />
vorgegebenen Mittelpunktskoordinaten <strong>und</strong><br />
festgelegtem Radius liegen soll.
Im Anschluss beschäftigten sich die Schüler<br />
eine Doppelst<strong>und</strong>e lang mit der "Perfektionierung"<br />
ihrer Schneemänner <strong>und</strong> erreichten<br />
dabei teilweise beachtliche Ergebnisse (s.<br />
Abb. 3 <strong>—</strong> der betreffende Schüler fertigte<br />
durch Änderung der Kameraposition zwei<br />
Ansichten seines Modells an <strong>—</strong> <strong>und</strong> Abb. 4).<br />
Abb. 3<br />
Abb. 4<br />
Allerdings nutzten nicht alle Schüler die Kugelgleichung<br />
für die Positionierung der Augen,<br />
vielen gelang eine korrekte Anordnung<br />
am Kopf auch durch geschicktes schrittweises<br />
Ändern von Koordinaten. Die von mir beabsichtigte<br />
Motivierung der Kugelgleichung<br />
durch ihre Notwendigkeit für die exakte Positionierung<br />
gelang somit nicht vollständig<br />
überzeugend; <strong>—</strong> einen Einblick in die Nützlichkeit<br />
von Beschreibungen geometrischer<br />
Objekte durch Gleichungen für exakte Anordnungen<br />
<strong>im</strong> Raum <strong>und</strong> somit die Modellierung<br />
komplexerer Formen haben die Schüler<br />
jedoch erhalten. In jedem Falle haben sie<br />
durch die Arbeit an der sinnvollen Anordnung<br />
einiger Körper <strong>—</strong> auch durch schrittweises<br />
"Herantasten" <strong>—</strong> eine gewisse "Orientierungsfähigkeit"<br />
<strong>im</strong> räumlichen Koordinatensystem<br />
erlangt, die auch für andere Teile des<br />
Didaktische Aspekte der Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik<br />
Stoffgebietes Analytische Geometrie von<br />
Nutzen ist. Zugleich bietet ein derartiger Einstieg<br />
in das Stoffgebiet Anknüpfungspunkte<br />
an die Elementargeometrie der Sek<strong>und</strong>arstufe<br />
I, die ansonsten bei der heute gängigen<br />
Behandlung der Analytischen Geometrie<br />
kaum hergestellt werden.<br />
Es muss hinzugefügt werden, dass einige<br />
Schüler ihre z.T. recht ausgereiften Ergebnisse<br />
nicht in den insgesamt ca. 120 Minuten<br />
Unterrichtszeit erreicht haben, die dafür am<br />
Computer zur Verfügung standen, sondern<br />
auch (freiwillig) zu Hause oder in Freist<strong>und</strong>en<br />
an ihren Schneemännern arbeiteten; dies gilt<br />
u.a. für die Schülerin, die Abbildung 4 anfertigte.<br />
Neben Kugeln, Zylindern <strong>und</strong> Kegeln<br />
verwendete sie auch Quader, aus denen der<br />
Besen besteht. Die passende Anordnung der<br />
insgesamt 25 geometrischen Objekte, welche<br />
die Schülerin für ihr Modell verwendete,<br />
erfordert zu Beginn der Beschäftigung mit<br />
Koordinatengeometrie deutlich mehr Zeit als<br />
2 St<strong>und</strong>en. 4<br />
Bei einigen Schülern verlagerte sich das<br />
Hauptinteresse schnell von der perfekten<br />
Modellierung hin zu der Frage, wie sie ein Video<br />
ihres Modells erzeugen können. Dazu<br />
müssen in POV-Ray beliebige Werte in Abhängigkeit<br />
von einem Parameter "clock" angegeben<br />
werden, der sich in einem festgelegten<br />
Intervall verändert. Da die Kameraposition<br />
in der erwähnten Vorlage, die ich den<br />
Schülern zur Verfügung gestellt habe, durch<br />
einen Winkel beschrieben wird, gelang es ihnen<br />
durch An<strong>im</strong>ation dieses Winkels schnell,<br />
einen R<strong>und</strong>flug der Kamera um den Schneemann<br />
darzustellen. Einige Schüler arbeiteten<br />
auch mit Transformationen (Verschiebungen,<br />
Drehungen <strong>und</strong> Streckungen) von Objekten,<br />
die sie zeitabhängig ausdrückten. Aus Zeitgründen<br />
konnte ich hierauf <strong>im</strong> Unterricht<br />
nicht mehr eingehen, sondern nur noch einzelne<br />
Schüler beraten, die sich in ihrer Freizeit<br />
weiter damit beschäftigten. Die Erstellung<br />
von Videos (z.B. durch Veränderung der<br />
Kamerakoordinaten) würde sich jedoch gut<br />
eignen, um die Darstellung von Kurven <strong>im</strong><br />
Raum durch Parameterdarstellungen zu motivieren.<br />
Um eine gewünschte Kameraführung<br />
zu s<strong>im</strong>ulieren, müssen sich die Kamerakoordinaten<br />
auf einer Kurve des Raumes<br />
bewegen, also abhängig von einem Parameter<br />
(der Zeit) beschrieben werden. 5<br />
4 Die POV-Ray-Datei dieser Schülerin mit der Beschreibung des<br />
Schneemannes ist auf der <strong>Internet</strong>seite [1] unter der Rubrik<br />
"Raytracing-Praxis" zugänglich.<br />
5 Für eine Kurzanleitung zur Erstellung von Videos mithilfe von<br />
POV-Ray s. [1].<br />
85
Andreas Filler<br />
4 Nutzung einer Grafiksoftware<br />
zur Visualisierung<br />
herkömmlicher Inhalte<br />
des Stoffgebietes<br />
Nach dem skizzierten, insgesamt 6 Unterrichtsst<strong>und</strong>en<br />
umfassenden Einstieg in das<br />
Stoffgebiet Analytische Geometrie über Anwendungen<br />
der räumlichen Koordinatengeometrie<br />
wurde mit der Behandlung der durch<br />
den Rahmenplan vorgegebenen Inhalte des<br />
Stoffgebiets (Geraden, Ebenen <strong>und</strong> ihre Lagebeziehungen)<br />
begonnen. Die Erfahrungen<br />
mit der Bedienung von POV-Ray, welche die<br />
Schüler sich vorher aneigneten, nutzten sie<br />
dabei, um ergänzend zur rechnerischen Behandlung<br />
von Aufgaben der Analytischen<br />
Geometrie Visualisierungen anzufertigen <strong>und</strong><br />
damit ihre Ergebnisse zu überprüfen oder zu<br />
Vermutungen hinsichtlich best<strong>im</strong>mter Zusammenhänge<br />
zu gelangen.<br />
Da POV-Ray als fotorealistisches Grafikprogramm<br />
<strong>und</strong> nicht als Visualisierungswerkzeug<br />
für Zusammenhänge der Analytischen<br />
Geometrie vorgesehen ist, müssen Punkte<br />
als kleine Kugeln, Pfeile (die Vektoren repräsentieren<br />
sollen) als Vereinigungen von Zylindern<br />
mit Kegeln, Strecken als Zylinder mit<br />
geringem Radius, Geraden als Zylinder, die<br />
über die Grenzen des Bildes hinausreichen,<br />
<strong>und</strong> Ebenen z.B. als dünne Quader dargestellt<br />
werden. Allerdings wäre es <strong>im</strong> Rahmen<br />
der zur Verfügung stehenden Zeit für die<br />
Schüler nicht möglich, jeweils selbst mit diesen<br />
"Ersatzobjekten" zu arbeiten. Aus diesem<br />
Gr<strong>und</strong>e habe ich eine Sammlung von<br />
Makros <strong>und</strong> eine Vorlagendatei erstellt, die<br />
es den Schülern ermöglichen, unmittelbar<br />
Punkte (wahlweise einschließlich der Projektion<br />
auf die x-y-Ebene <strong>und</strong> der Lote auf die<br />
Koordinatenachsen), Vektoren (als Pfeile),<br />
Strecken, Geraden sowie Ebenen (anhand<br />
einer Parameterdarstellung oder durch die<br />
Koeffizienten einer Koordinatengleichung)<br />
darzustellen. Im Einzelnen stehen folgende<br />
Befehle zur Verfügung:<br />
punkt(,textur)<br />
Punkt (als kleine Kugel dargestellt),<br />
pluspunkt(,textur)<br />
Punkt mit Lot auf die x-y-Ebene <strong>und</strong> Verbindungsstrecken<br />
zu den Koordinatenachsen,<br />
ortsvektor(,textur)<br />
Ortsvektor des Punktes P,<br />
verbindungsvektor(,,textur)<br />
Verbindungsvektor der Punkte P <strong>und</strong> Q,<br />
86<br />
vektoranpunkt (,, textur)<br />
Pfeildarstellung des Vektors x r , angetragen an den<br />
Punkt P,<br />
strecke(,,textur)<br />
Strecke mit den Endpunkten P <strong>und</strong> Q,<br />
gerade (,,textur)<br />
Gerade durch die Punkte P <strong>und</strong> Q,<br />
ebenepar (,,,textur)<br />
Ebene durch P mit Richtungsvektoren a r <strong>und</strong> b r ,<br />
ebene (A,B,C,D,textur)<br />
Ebene mit der Gleichung Ax+By+Cz+D=0.<br />
An Stelle von bzw. sind jeweils die<br />
Koordinaten des Punktes bzw. Vektors einzugeben.<br />
Für textur müssen die Schüler<br />
jeweils <strong>—</strong> wie oben beschrieben <strong>—</strong> ein<br />
Schlüsselwort für die Oberflächenerscheinung<br />
des betreffenden Objekts angeben. Insbesondere<br />
für Ebenen können sie dazu auch<br />
transparente Texturen verwenden. 6<br />
Nach einer Zusammenfassung den Schülern<br />
bereits bekannter Aspekte des Vektorbegriffs<br />
bearbeiteten sie eine Folge von Aufgaben<br />
zur Darstellung von Vektoren als Pfeile, zu<br />
Orts- <strong>und</strong> Verbindungsvektoren sowie zur<br />
Vektoraddition, welche letztlich zur Parameterdarstellung<br />
der Geraden führt. 7<br />
Abb. 5<br />
• Stellen Sie 4 Punkte als pluspunkt dar,<br />
blenden Sie das Koordinatenkreuz ein.<br />
6 Das Makropaket für POV-Ray <strong>und</strong> die Vorlage stehen <strong>—</strong> zusammen<br />
mit einer kurzen Anleitung für die Nutzung <strong>und</strong> einer Dokumentation<br />
der Befehle <strong>—</strong> auf meiner <strong>Internet</strong>seite [1] zur Verfügung.<br />
Für den Fall, dass ein Grafikprogramm nur für die Veranschaulichung<br />
traditioneller Inhalte des Stoffgebietes genutzt, die<br />
Computergrafik also nicht thematisiert wird, können auch einfachere<br />
Programme, die speziell für das Stoffgebiet Analytische Geometrie<br />
entwickelt wurden, zum Einsatz kommen (z.B. DreiDGeo, s.<br />
Andraschko 2001). Die Verwendung von POV-Ray (<strong>im</strong> Zusammenhang<br />
mit geeigneten Makros <strong>und</strong> Vorlagen) bietet sich <strong>im</strong> Kontext<br />
mit den anderen hier unterbreiteten Vorschlägen zum Einstieg<br />
in das Stoffgebiet sowie zu weitergehenden Überlegungen zur<br />
Computergrafik an.<br />
7 Im Folgenden werden nur einige repräsentative Aufgaben <strong>und</strong><br />
mögliche Lösungen dargestellt. Eine umfangreichere Sammlung<br />
von Aufgaben kann unter [1] heruntergeladen werden. Die Abbildungen<br />
5 – 9 wurden von Schülern bei der Lösung der Aufgaben<br />
erstellt.
• Wählen Sie einen Vektor. Setzen Sie mittels<br />
vektoranpunkt an jeden der von<br />
Ihnen dargestellten Punkte einen Pfeil,<br />
der diesen Vektor beschreibt (Abb. 5).<br />
⎛ 1⎞<br />
• Stellen Sie die Vektoren a =<br />
⎜<br />
−1<br />
⎟<br />
,<br />
⎜ 3⎟<br />
⎝ ⎠<br />
r<br />
⎛ −2⎞<br />
b =<br />
⎜<br />
3<br />
⎟<br />
⎜ ⎟<br />
⎝ 1 ⎠<br />
r<br />
als Pfeile so dar, dass der zu a r gehörende<br />
Pfeil <strong>im</strong> Koordinatenursprung <strong>und</strong> der<br />
zu b r gehörende Pfeil in der Pfeilspitze<br />
von a r r r<br />
beginnt. Berechnen Sie a + b <strong>und</strong><br />
r r<br />
stellen Sie a + b als Pfeil dar, der <strong>im</strong> Koordinatenursprung<br />
beginnt.<br />
Abb. 6<br />
• Gegeben sind der Punkt P(2;-1;2) <strong>und</strong> der<br />
⎛ ⎞<br />
Vektor =<br />
⎜ ⎟<br />
⎜<br />
−<br />
⎟<br />
⎝<br />
1<br />
⎠<br />
1<br />
2<br />
a r<br />
.<br />
- Stellen Sie P als pluspunkt <strong>und</strong> a r<br />
als Pfeil, beginnend an P, dar.<br />
r<br />
- Stellen Sie die Punkte P + 0 , 5⋅<br />
a ,<br />
P a<br />
r<br />
r r<br />
+ , P + 1 , 5⋅<br />
a , P + 2 ⋅ a sowie<br />
r<br />
P − 0 , 5⋅<br />
a , P a<br />
r<br />
r<br />
− , P −1 , 5⋅<br />
a <strong>und</strong><br />
r<br />
P − 2 ⋅ a dar.<br />
- Betrachten Sie die Darstellung aus<br />
verschiedenen Richtungen.<br />
Anhand derartiger Aufgaben konnten sich die<br />
Schüler eine anschauliche Vorstellung von<br />
Vektoren <strong>im</strong> Raum verschaffen, gleichzeitig<br />
stellten sie nach Lösung der letzten Aufgabe<br />
(s. Abb. 7) sofort fest, dass alle genannten<br />
Punkte auf einer Geraden liegen. Nach der<br />
Betrachtung verfeinerter Darstellungen (Abb.<br />
8) <strong>und</strong> schließlich eines Videos, das die Entstehung<br />
einer Geraden durch kaum noch erkennbare<br />
Punkte zeigt (s. [1]) war ihnen auch<br />
klar, dass man alle Punkte dieser Geraden<br />
erhält, wenn man den gegebenen Vektor<br />
statt mit -2, -1,5, ..., 2 mit beliebigen reellen<br />
Zahlen multipliziert. Somit sind die Schüler<br />
auf visuellem Wege zur Parameterdarstellung<br />
der Geraden gelangt. Die Parameterdarstellung<br />
der Ebene wurde dann etwas später<br />
auf ähnliche Weise erarbeitet. Gerade bei<br />
der Herausarbeitung der Parameterdarstel-<br />
Didaktische Aspekte der Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik<br />
lungen erwiesen sich die computergrafischen<br />
Visualisierungsmöglichkeiten als sehr sinnvoll,<br />
da die Schüler diese Gleichungen so mit<br />
anschaulichen Vorstellungen verbinden.<br />
Abb. 7<br />
Abb. 8<br />
Im weiteren Verlauf des Unterrichts fertigten<br />
die Schüler computergrafische Darstellungen<br />
vor allem an, um die Lage von Objekten <strong>im</strong><br />
Raum sowie Lagebeziehungen zu veranschaulichen.<br />
Die <strong>im</strong> Rahmenplan vorgesehenen<br />
Aufgaben zu Lage- <strong>und</strong> Schnittberechnungen<br />
wurden somit visuell ergänzt.<br />
• Stellen Sie die Ebene mit der Parameterdarstellung<br />
( , )<br />
0, 5<br />
21 1<br />
2<br />
1 ⎛1⎞<br />
⎛− ⎞ ⎛ − ⎞<br />
: x = ⎜1⎟<br />
+ r ⋅⎜<br />
⎟ + s ⋅⎜<br />
− ⎟ r s ∈ R<br />
⎜1⎟<br />
⎜ ⎟ ⎜ ⎟<br />
⎝ ⎠ ⎝ ⎠ ⎝ ⎠<br />
r<br />
ε dar.<br />
(Nutzen Sie für die Darstellung der Ebene<br />
eine transparente Textur.) Stellen Sie außerdem<br />
den Aufpunkt <strong>und</strong> die beiden<br />
Richtungsvektoren der Ebene dar.<br />
Fügen Sie der Darstellung die Gerade, die<br />
durch die Punkte A(1;-1;1) <strong>und</strong> B(-5;1;-2)<br />
verläuft, hinzu. Schätzen Sie <strong>—</strong> so gut wie<br />
möglich <strong>—</strong> die Koordinaten des Schnittpunktes<br />
der Geraden <strong>und</strong> der Ebene.<br />
Auf analoge Weise wurden auch Aufgaben<br />
zur gegenseitigen Lage zweier Ebenen sowie<br />
später zu Normalenvektoren von Ebenen bearbeitet.<br />
8<br />
Im Unterricht wurden Visualisierungen aus<br />
Zeitgründen nur exemplarisch für einige Aufgaben<br />
angefertigt. Viele Schüler nutzten jedoch<br />
die Möglichkeit, Aufgaben der Analyti-<br />
8 Neben diesen Aufgaben <strong>und</strong> exemplarischen Lösungen befindet<br />
sich auf [1] auch eine etwas komplexere Visualisierung, die das<br />
Verhalten dreier durch Koordinatengleichungen beschriebener<br />
Ebenen bei der Durchführung des Gauss-Algorithmus veranschaulicht.<br />
87
Andreas Filler<br />
schen Geometrie mithilfe von POV-Ray grafisch<br />
darzustellen, auch für ihre Hausaufgaben,<br />
<strong>—</strong> obwohl dies nicht verlangt war. Als<br />
Gr<strong>und</strong> gaben sie an, dass sie sich so unter<br />
den Aufgaben mehr vorstellen <strong>und</strong> vor allem<br />
ihre rechnerischen Ergebnisse kontrollieren<br />
können.<br />
88<br />
Abb. 9<br />
5 Computergrafik <strong>und</strong><br />
Vektorbegriff<br />
Das dominierende Modell für Vektoren, welches<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht Verwendung<br />
findet, ist das der Pfeilklassen. Äquivalenzklassen<br />
werden dabei allerdings i.Allg. nicht<br />
thematisiert; statt dessen wird herausgearbeitet,<br />
dass Vektoren durch verschiedene<br />
gleich lange <strong>und</strong> gleich gerichtete Pfeile dargestellt<br />
werden können. Diese Vektorauffassung<br />
steht auch in Beziehung zum Physikunterricht<br />
der Sek<strong>und</strong>arstufe I, in dem Kräfte als<br />
vektorielle Größen bezeichnet, durch Pfeile<br />
beschrieben <strong>und</strong> grafisch addiert werden.<br />
Auch der Zusammenhang zwischen Verschiebungen<br />
<strong>und</strong> Vektoren wird anhand der<br />
Pfeilauffassung gut deutlich. Untersuchungen<br />
von G. Wittmann ergaben, dass Schüler zum<br />
großen Teil sinnvolle geometrische Vorstellungen<br />
von Vektoren erlangen, vielfach aber<br />
inhaltliche <strong>und</strong> begriffliche Probleme mit der<br />
Abstraktion, die der Vektorbegriff beinhaltet,<br />
bestehen (Wittmann 2003, 100–123).<br />
Ein weiterer Aspekt des Vektorbegriffs ergibt<br />
sich aus dem Rechnen mit Vektoren. Dazu<br />
werden diese durch n-Tupel (meist Paare<br />
oder Tripel) reeller Zahlen charakterisiert.<br />
Aus mathematischer Sicht stellen die n-Tupel<br />
ebenso ein Modell für den Vektorbegriff dar<br />
wie die Pfeilklassen. In der Auffassung von<br />
Schülern besteht diese Gleichwertigkeit<br />
meist nicht: Häufig verbinden sie in ihrer Vorstellung<br />
Vektoren mit Pfeilen, die durch Zahlentripel<br />
beschrieben werden, <strong>—</strong> wie auch<br />
Punkte durch Koordinatentripel beschrieben<br />
werden können (s. Tietze u.a. 2000, Wittmann<br />
2003, u.a.).<br />
In der Informatik (<strong>und</strong> auch <strong>im</strong> Informatikunterricht)<br />
versteht man unter Vektoren generell<br />
Zahlen-n-Tupel, die in den meisten Fällen<br />
keine geometrische Bedeutung besitzen. An<br />
diese Vektorauffassung angelehnt, heißt es<br />
z.B. in der Hilfe von POV-Ray:<br />
"A vector is a set of related float values."<br />
Vektoren in diesem Sinne, also Zahlen-n-Tupel,<br />
treten in der Computergrafik in sehr unterschiedlichen<br />
Zusammenhängen auf. Sie<br />
beschreiben in POV-Ray u.a.:<br />
• Punkte des Raumes: <br />
• Geometrische Transformationen:<br />
- Translationen:<br />
translate <br />
- Drehungen: rotate <br />
φx, φy <strong>und</strong> φz sind dabei die Drehwinkel<br />
um die x-, y- bzw. z-Achse.<br />
- Streckungen: scale <br />
sx, sy <strong>und</strong> sz geben die Skalierungsfaktoren<br />
in x-, y- bzw. z-Richtung an.<br />
• Farben: color rgb <br />
r steht für den Rot-, g für den Grün- <strong>und</strong> b<br />
für den Blau-Anteil einer Farbe. 9<br />
Von den genannten Bedeutungen des Vektorbegriffs<br />
ist die Beschreibung von Farben<br />
sicherlich am weitesten von den Beispielen<br />
entfernt, die <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht betrachtet<br />
werden. Die Farbvektoren sind aber<br />
insofern besonders interessant, als sie in vielen<br />
Bereichen moderner Medien (wie z.B. in<br />
der Bildbearbeitung <strong>und</strong> der Beschreibung<br />
von <strong>Internet</strong>seiten) ein große Bedeutung haben<br />
<strong>und</strong> zugleich ein Beispiel sinnvoller geometrischer<br />
Interpretation eines an sich ungeometrischen<br />
Sachverhaltes darstellen. Aus<br />
diesem Gr<strong>und</strong>e soll <strong>im</strong> Folgenden etwas näher<br />
auf die Beschreibung von Farben eingegangen<br />
werden.<br />
Nach der Trist<strong>im</strong>ulustheorie besitzt das<br />
menschliche Auge drei Arten von Sensoren<br />
(Synapsen) mit unterschiedlichen wellenlängenabhängigen<br />
Empfindlichkeiten. Die Empfindlichkeitsmax<strong>im</strong>a<br />
dieser Synapsen liegen<br />
<strong>im</strong> roten, grünen bzw. <strong>im</strong> blau-violetten Bereich<br />
des Farbspektrums (s. z.B. Nyman<br />
1999 <strong>und</strong> Watt 2002). Menschliche Farbwahrnehmung<br />
entsteht durch Auswertung<br />
der Intensitäten der Reize, die auf jede der<br />
Arten von Synapsen ausgeübt werden. Somit<br />
kann jede mögliche Farbempfindung durch<br />
9 Erweiterte Farbbeschreibungen durch Quadrupel oder Quintupel in<br />
POV-Ray beinhalten zusätzlich die Beschreibung von Transparenzeigenschaften,<br />
wobei zwei unterschiedliche Modelle von<br />
Transparenz zum Einsatz kommen (s. Hilfe von POV-Ray bzw.<br />
[3]).
drei Gr<strong>und</strong>farben hervorgerufen werden, deren<br />
Wellenlängen in der Nähe der Empfindlichkeitsmax<strong>im</strong>a<br />
liegen. Diese Tatsache liegt<br />
dem Aufbau elektronischer Bildwiedergabegeräte<br />
(wie Fernsehgeräte <strong>und</strong> Monitore) zu<br />
Gr<strong>und</strong>e, die in jedem ihrer Bildpunkte (Pixel)<br />
über drei Subpixel in den Farben Rot, Grün<br />
<strong>und</strong> Blau verfügen. Alle Farben werden somit<br />
durch geeignete Zusammensetzungen von<br />
Rot-, Grün- <strong>und</strong> Blauanteilen erzeugt. Eine<br />
Farbe lässt sich somit durch einen Vektor<br />
⎛ ⎞<br />
⎜<br />
g<br />
⎟<br />
⎜ ⎟<br />
⎝ b ⎠<br />
r beschreiben. Dabei ist es allerdings mathematisch<br />
nicht ganz korrekt, von Vektoren<br />
zu sprechen, da die Farben keinen Vektorraum<br />
bilden: Die Komponenten von rgb-Vektoren<br />
können nicht negativ sein <strong>und</strong> sind<br />
nach oben beschränkt. In POV-Ray sind die<br />
r-, g- <strong>und</strong> b-Komponenten reelle Zahlen aus<br />
dem Intervall [0;1], Bildbearbeitungsprogramme<br />
verwenden oft natürliche Zahlen zwischen<br />
0 <strong>und</strong> 255, in HTML müssen diese<br />
Werte in Hexadez<strong>im</strong>alschreibweise angegeben<br />
werden. Die Beschränkung auf 256 Werte<br />
kommt daher, dass sich für die Steuerelektronik<br />
von Monitoren eine Farbbeschreibung<br />
mit 8 bit je Gr<strong>und</strong>farbe durchgesetzt hat<br />
<strong>und</strong> somit 2 8 = 256 Stufen dargestellt werden<br />
können. Auch bei den gängigen Bilddateien<br />
ist eine Auflösung von 24 bit je Bildpunkt, also<br />
8 bit für jede Gr<strong>und</strong>farbe üblich. Die folgenden<br />
Ausführungen beziehen sich jedoch<br />
auf das u.a. von POV-Ray verwendete normierte<br />
System der Farbbeschreibung mit<br />
Komponenten aus dem Intervall [0;1].<br />
Abb. 10 10<br />
Die Menge aller rgb-Farbvektoren ist eine<br />
Teilmenge des R 3 . Betrachtet man nun diese<br />
Vektoren als Ortsvektoren von Punkten des<br />
Anschauungsraumes, so entspricht jeder<br />
Farbe genau ein Punkt des Würfels mit den<br />
Eckpunkten (0;0;0), (1;0;0), (0;1;0), (0;0;1),<br />
(1;0;0), (1;1;0), (1;0;1) <strong>und</strong> (1;1;1). Dieser<br />
10 Eine farbige Darstellung des RGB-Würfels, bei dem die Farben<br />
erkennbar werden, die den Punkten auf den Seitenflächen zugeordnet<br />
sind, <strong>und</strong> ein zugehöriges Video, in welchem sich der<br />
Würfel dreht, befinden sich auf der <strong>Internet</strong>seite [1].<br />
Didaktische Aspekte der Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik<br />
Würfel wird als Farbwürfel oder genauer<br />
RGB-Würfel bezeichnet (s. Abb. 10).<br />
Dem Koordinatenursprung entspricht die Farbe,<br />
die entsteht, wenn die Intensität aller drei<br />
Gr<strong>und</strong>farben Null ist: Schwarz. Bei max<strong>im</strong>aler<br />
Intensität aller drei Gr<strong>und</strong>farben wird<br />
Weiß erzeugt. Sehr gut lassen sich auf dem<br />
Farbwürfel Komplementärfarben erkennen;<br />
dabei handelt es sich um Farben, denen gegenüberliegende<br />
Eckpunkte zugeordnet sind.<br />
Die elementaren Vektoroperationen (Vektoraddition<br />
<strong>und</strong> Multiplikation mit Skalaren) sind<br />
für Farben sinnvoll anwendbar, so lange die<br />
Ergebnisse für alle Komponenten <strong>im</strong> Intervall<br />
[0;1] liegen. Es gilt z.B.:<br />
⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛1⎞<br />
Rot + Grün = ⎜ ⎟ + ⎜1⎟<br />
= ⎜1⎟<br />
⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ ⎟<br />
⎝ ⎠ ⎝0⎠<br />
⎝0⎠<br />
0 1<br />
0<br />
= Gelb,<br />
0<br />
⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛1⎞<br />
Rot + Grün + Blau = ⎜ ⎟ + ⎜ ⎟ + ⎜ ⎟ = ⎜1⎟<br />
⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ ⎟<br />
⎝ ⎠ ⎝ ⎠ ⎝1⎠<br />
⎝1⎠<br />
00 1<br />
0<br />
0 1<br />
0<br />
;<br />
0<br />
als Summe der drei Gr<strong>und</strong>farben ergibt sich<br />
also auch rein rechnerisch Weiß. Da Weiß<br />
die hellste mögliche Farbe ist, ergeben aber<br />
Ergebnisse bei der Farbaddition, die größere<br />
Komponenten als 1 besitzen, keinen Sinn.<br />
Eine sinnvolle allgemeine Definition für die<br />
Summe zweier Farbvektoren ist daher<br />
⎛ r1<br />
⎞ ⎛ r2<br />
⎞ ⎛ max( r1<br />
+ r2<br />
, 1)<br />
⎞<br />
⎜ ⎟<br />
+<br />
⎜ ⎟<br />
=<br />
⎜<br />
⎟<br />
⎜<br />
g1<br />
⎟ ⎜<br />
g 2 ⎟ ⎜<br />
max( g1<br />
+ g2<br />
, 1)<br />
⎟<br />
.<br />
⎝ b1<br />
⎠ ⎝ b3<br />
⎠ ⎝ max( b1<br />
+ b2,<br />
1)<br />
⎠<br />
Die Addition von Farben kann mit Bildbearbeitungsprogrammen<br />
wie Adobe Photoshop<br />
oder Corel Photopaint gut nachvollzogen<br />
werden. Dazu werden z.B. drei Kreise in den<br />
Gr<strong>und</strong>farben auf jeweils eine Ebene über einer<br />
schwarzen Hintergr<strong>und</strong>ebene gelegt. Für<br />
die Ebenen der Kreise wird jeweils der Ebenenverrechnungsmodus<br />
"Addieren" (Photopaint)<br />
bzw. "Aufhellen" (Photoshop) eingestellt.<br />
Es wird sofort sichtbar, zu welchen<br />
Farben sich die einzelnen Paare von Gr<strong>und</strong>farben<br />
addieren; Punkte, die <strong>im</strong> Durchschnitt<br />
aller drei Kreise liegen, werden weiß dargestellt<br />
(siehe Abb. 11).<br />
Das RGB-Modell <strong>—</strong> auch als additives Farbmodell<br />
bezeichnet <strong>—</strong> beschreibt sehr gut die<br />
Funktion elektronischer Bildwiedergabegeräte.<br />
Im Ausgangszustand (ohne Signal) bleibt<br />
der Bildschirm dunkel; folgerichtig entspricht<br />
der Koordinatenursprung der Farbe Schwarz,<br />
<strong>und</strong> Farben werden durch die Addition von<br />
Helligkeitswerten der drei Gr<strong>und</strong>farben gebildet.<br />
Demgegenüber verhält sich Papier umgekehrt;<br />
<strong>—</strong> ist es unbedruckt, so wirkt es<br />
weiß. So wie bei Bildschirmen die Farbkomponenten<br />
Helligkeit addieren, wird durch den<br />
Auftrag von Farbpigmenten (Reflexions-)<br />
89
Andreas Filler<br />
flexions-) Helligkeit des Papiers subtrahiert.<br />
Daher kann die Farbwiedergabe <strong>im</strong> Druck<br />
durch das subtraktive CMY-Modell mit den<br />
Gr<strong>und</strong>farben Cyan, Magenta <strong>und</strong> Gelb (Yellow)<br />
beschrieben werden. Wie der RGB-<br />
Farbwürfel (Abb. 10) zeigt, sind dies die<br />
Komplementärfarben der Farben Rot, Grün<br />
<strong>und</strong> Blau. Es gilt:<br />
90<br />
Abb. 11<br />
Weiß – Rot = Cyan, Weiß – Grün = Magenta,<br />
Weiß – Blau = Gelb.<br />
Im CMY-Würfel (Abb. 12) entspricht der Koordinatenursprung<br />
dem Weißpunkt; denn für<br />
diesen Punkt erfolgt kein Farbauftrag. Die<br />
Koordinatenachsen entsprechen den Intensitäten<br />
c, m <strong>und</strong> y der Farbauftragungen für die<br />
Gr<strong>und</strong>farben Cyan, Magenta <strong>und</strong> Gelb. Zwischen<br />
den rgb- <strong>und</strong> den cmy-Vektoren einer<br />
Farbe besteht daher der Zusammenhang<br />
⎛ ⎞ ⎛ ⎞ ⎛ ⎞<br />
⎜ ⎟ = ⎜ ⎟ −<br />
⎜<br />
g<br />
⎟<br />
⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ ⎟<br />
⎝ ⎠ ⎝ ⎠ ⎝ b ⎠<br />
r<br />
m<br />
y<br />
c 1<br />
1 .<br />
1<br />
Abb. 12 11<br />
Das RGB- <strong>und</strong> das CMY(K)-Modell orientieren<br />
sich an den Eigenschaften der Farbein-<br />
<strong>und</strong> -ausgabegeräte sowie an der Physiologie<br />
der Farbwahrnehmung. Demgegenüber<br />
wurden Farbmodelle geschaffen, welche besonders<br />
gut für Bildkomposition <strong>und</strong> Design<br />
genutzt werden können. Dazu gehört das<br />
HSB-Modell, wobei H für Hue (Farbton), S für<br />
Saturation (Farbsättigung) <strong>und</strong> B für Brightness<br />
(Helligkeit) stehen. Um zu diesem Mo-<br />
11 In der Praxis können Druckmaschinen durch den Aufdruck der<br />
drei Druckfarben Cyan, Magenta <strong>und</strong> Gelb kein überzeugendes<br />
Schwarz erzeugen. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e wird zusätzlich schwarze<br />
Druckfarbe verwendet, es kommt das CMYK-Modell zum Einsatz,<br />
wobei K für Schwarz steht (s. Nyman 1999).<br />
dell zu gelangen, wird der RGB-Farbwürfel<br />
(Abb. 10) parallel zur Schwarz-Weiß-Diagonalen<br />
auf die zu dieser Diagonalen orthogonale<br />
Ebene <strong>im</strong> Punkt W projiziert. Dabei entsteht<br />
ein regelmäßiges Sechseck mit den<br />
Eckpunkten Rot, Gelb, Grün, Cyan, Blau <strong>und</strong><br />
Magenta (Abb. 13). Jeder Farbton (außer<br />
Schwarz, Weiß <strong>und</strong> reinen Grautönen) wird<br />
nun durch einen Winkel <strong>im</strong> Intervall [0;360°)<br />
dargestellt. Diese Darstellung liegt auch dem<br />
häufig anzutreffenden Farbkreis zu Gr<strong>und</strong>e.<br />
Cyan<br />
(180°)<br />
Cyan<br />
(180°)<br />
Grün (120°) Gelb (60°)<br />
Weiß<br />
Schwarz<br />
Rot<br />
(0°)<br />
Blau (240°) Magenta (300°)<br />
Abb. 13<br />
B<br />
Grün (120°) Gelb (60°)<br />
B=1<br />
Weiß<br />
Rot<br />
(0°)<br />
Blau (240°) Magenta (300°)<br />
Schwarz<br />
(B=0)<br />
Abb. 14<br />
Das Farbsechseck bildet die Basis einer Pyramide<br />
(siehe Abb. 14), deren Spitze der Helligkeitswert<br />
0 (schwarz) entspricht. Die Achse<br />
dieser Pyramide bildet die Helligkeits- (B-)<br />
Achse; der Abstand einer Farbe von dieser<br />
Achse best<strong>im</strong>mt deren Sättigung S. Durch<br />
den bereits erwähnten Winkel <strong>im</strong> Farbkreis<br />
wird schließlich der Farbton H beschrieben.<br />
Das HSB-Modell unterstützt die Auswahl harmonisch<br />
wirkender Farben:<br />
• Die Kombination von Farben mit annähernd<br />
gleicher Sättigung wird als angenehm<br />
empf<strong>und</strong>en. Demgegenüber zählt<br />
die Verwendung von Farben mit sehr unterschiedlichen<br />
Sättigungswerten für inhaltlich<br />
vergleichbare Grafikelemente zu<br />
den häufigsten Fehlern bei der Gestaltung<br />
von Informationsgrafiken <strong>und</strong> <strong>Internet</strong>seiten.<br />
H<br />
S
• In vielen Fällen ist auch die Auswahl ähnlicher<br />
Helligkeitswerte sinnvoll.<br />
• Für korrespondierende Grafikelemente ist<br />
die Auswahl komplementärer Farben (H-<br />
Differenz 180°) bzw. von Farben mit H-<br />
°<br />
Differenzen von m ⋅<br />
n<br />
360 (für n Grafikelemente,<br />
m = 1,...,n) sinnvoll.<br />
Die Beschreibung von Farben durch Vektoren<br />
kann dazu beitragen, dass die Schüler<br />
die Bedeutung des Vektorbegriffes etwas<br />
umfassender sehen <strong>und</strong> ein Beispiel für die<br />
sinnvolle <strong>und</strong> offensichtlich nützliche geometrische<br />
Interpretation eines nichtgeometrischen<br />
Sachverhaltes kennen lernen. Die n-<br />
Tupel bilden dabei ein "Bindeglied" zwischen<br />
sehr verschiedenen Bedeutungen, die Vektoren<br />
haben können. 12<br />
6 Gr<strong>und</strong>lagen der Computergrafik:<br />
Skalarprodukt<br />
<strong>und</strong> Normalenvektoren<br />
Computergrafische Anwendungen können für<br />
die Motivierung zentraler Inhalte der Analytischen<br />
Geometrie genutzt werden. Besonders<br />
bietet sich dies bei der Behandlung des Skalarproduktes<br />
<strong>und</strong> des Winkels zwischen Vektoren<br />
sowie von Normalen(einheits-)vektoren<br />
an. Dabei sollte aber die Frage, wie die Software<br />
Bilder berechnet, nicht nur theoretisch<br />
diskutiert werden. Die Schüler können den<br />
praktischen Nutzen des Verständnisses dieser<br />
Zusammenhänge anhand von Möglichkeiten<br />
erfahren, die sie dadurch für die Gestaltung<br />
von Oberflächen <strong>und</strong> die bewusste<br />
Wahl dafür geeigneter Parameter <strong>—</strong> letztlich<br />
also für die Erstellung eigener Bilder <strong>—</strong> gewinnen.<br />
Ausgangspunkte der Betrachtungen<br />
zum Skalarprodukt <strong>und</strong> zu Normalenvektoren<br />
bilden die folgenden Fragen:<br />
• Wie werden geometrisch komplizierte "reale"<br />
Objekte wie z.B. Menschen <strong>und</strong> Tiere<br />
in der Computergrafik beschrieben <strong>und</strong><br />
dargestellt?<br />
12 Den Vektorbegriff unmittelbar am Anfang des Stoffgebietes Analytische<br />
Geometrie zu thematisieren, erscheint m.E. nicht empfehlenswert.<br />
Anhand der Beschreibung von Punkten <strong>und</strong> einfachen<br />
geometrischen Objekten durch Koordinaten finden die<br />
Schüler einen anschaulicheren <strong>und</strong> einfacheren Einstieg in die<br />
Analytische Geometrie (s. z.B. Filler & Wittmann 2003), als wenn<br />
gleich am Anfang der vergleichsweise abstrakte Vektorbegriff<br />
"auf Vorrat" eingeführt wird. Eine spätere Zusammenfassung der<br />
verschiedenen Auffassungen <strong>und</strong> Anwendungen von Vektoren<br />
(Zahlentripel, Klassen bzw. Mengen von Pfeilen, Kräfte, Verschiebungen,<br />
Farben) bietet sich an, um den Schülern einen<br />
Einblick in Leistungsfähigkeit <strong>und</strong> Universalität des Vektorbegriffs<br />
zu vermitteln.<br />
Didaktische Aspekte der Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik<br />
• Wie wird das Aussehen von Oberflächen<br />
<strong>—</strong> über die Farbgebung hinaus <strong>—</strong> modelliert?<br />
Wodurch unterscheiden sich spiegelnde<br />
von matten, glänzende von rauen<br />
Oberflächen?<br />
Indem die Schüler den POV-Ray-Quelltext<br />
eines komplexeren dreid<strong>im</strong>ensionalen Modells<br />
analysieren, stellen sie fest, dass Objekte<br />
durch die Vereinigung einer großen<br />
Zahl von Dreiecken dargestellt werden. Der<br />
in Abb. 15 dargestellte Fisch besteht z.B. aus<br />
ca. 6000 Zeilen der Form<br />
triangle { ,<br />
,<br />
} .<br />
Abb. 15<br />
Bei der Berechnung des Bildes in POV-Ray<br />
sind die dreieckigen Facetten deutlich erkennbar.<br />
Bereits an dieser Stelle können die<br />
Schüler eine Datei analysieren, bei der dieses<br />
Problem gelöst wurde <strong>—</strong> der in Abb. 16<br />
dargestellte Fisch besteht aus ebenso vielen,<br />
jedoch "geglätteten" Dreiecken:<br />
Abb. 16<br />
smooth_triangle {<br />
,<br />
,<br />
,<br />
,<br />
,<br />
}<br />
Bei dieser Darstellung wird zu jedem Eckpunkt<br />
ein aus den anliegenden Dreiecksfacetten<br />
gemittelter Normaleneinheitsvektor<br />
angegeben. Aus den zu den Eckpunkten gehörenden<br />
Normalenvektoren werden be<strong>im</strong><br />
Rendern die Helligkeits- bzw. Farbwerte der<br />
einzelnen Oberflächenpunkte interpoliert.<br />
91
Andreas Filler<br />
Dieses Verfahren (Gouraud- bzw. Phong-<br />
Shading, vgl. z.B. Watt 2002 oder Xiang &<br />
Plastock 2003) können die Schüler an dieser<br />
Stelle noch nicht nachvollziehen; <strong>—</strong> dazu<br />
sind Kenntnisse über das Skalarprodukt <strong>und</strong><br />
über Normaleneinheitsvektoren erforderlich.<br />
Zu dieser Erkenntnis führen die <strong>im</strong> Folgenden<br />
geschilderten <strong>—</strong> an den Physikunterricht<br />
der Sek<strong>und</strong>arstufe I anknüpfenden <strong>—</strong> Überlegungen<br />
zur prinzipiellen Funktionsweise<br />
der 3D-Computergrafik. 13<br />
Die Bildberechnung in hochwertiger 3D-Computergrafiksoftware<br />
wie POV-Ray erfolgt<br />
nach dem Raytracing-Verfahren, bei dem<br />
Verläufe von Lichtstrahlen ausgehend vom<br />
Auge des Beobachters (bzw. der Kamera)<br />
über Spiegelungen an Körpern der Szene<br />
<strong>und</strong> evtl. Durchdringungen transparenter<br />
Körper hin zu den Lichtquellen zurück verfolgt<br />
werden. Eine kurze Beschreibung des<br />
Verfahrens habe ich in (Filler 2001) sowie auf<br />
der <strong>Internet</strong>seite [1] gegeben, ausführlichere<br />
Darstellungen finden sich u.a. in (Watt 2002)<br />
<strong>und</strong> (Xiang & Plastock 2003). Nach einer<br />
kurzen Erläuterung der <strong>—</strong> recht nahe liegenden<br />
<strong>—</strong> Funktionsweise des Raytracing liegt<br />
für die Schüler auf der Hand, dass die Berechnung<br />
von Reflexionen entscheidend für<br />
die Generierung computergrafischer Darstellungen<br />
ist. Davon ausgehend wird das Reflexionsgesetz<br />
aus dem Physikunterricht der<br />
Mittelstufe wiederholt. Dieses besagt, dass<br />
Einfallswinkel <strong>und</strong> Reflexionswinkel maßgleich<br />
sind, wobei der Einfallswinkel α vom<br />
einfallenden Strahl <strong>und</strong> dem Einfallslot, der<br />
Reflexionswinkel β vom reflektierten Strahl<br />
<strong>und</strong> dem Einfallslot gebildet wird. Als Einfallslot<br />
wird die auf der spiegelnden Oberfläche<br />
<strong>im</strong> Auftreffpunkt des einfallenden Strahles errichtete<br />
Senkrechte verstanden (siehe Abb.<br />
17). Teilweise wird hinzugefügt, dass die<br />
beiden Lichtstrahlen <strong>und</strong> das Einfallslot in einer<br />
Ebene liegen; <strong>im</strong> Allgemeinen werden jedoch<br />
ebene Versuchsaufbauten als selbstverständlich<br />
vorausgesetzt.<br />
Um das Reflexionsgesetz für allgemeine Anordnungen<br />
<strong>im</strong> Raum zu formulieren <strong>und</strong> Verläufe<br />
reflektierter Lichtstrahlen berechnen zu<br />
können, ist es notwendig, Einfallslote für beliebige<br />
Ebenen <strong>im</strong> Raum anzugeben <strong>und</strong><br />
Winkel zwischen diesen Einfallsloten <strong>und</strong><br />
13 Es sei hier noch angemerkt, dass die Betrachtung der in der<br />
Computergrafik üblichen Darstellung realer Objekte durch Dreiecksfacetten<br />
<strong>—</strong> also ebene Oberflächen <strong>—</strong> als Motivierung für<br />
die ansonsten geometrisch recht bedeutungsarme, <strong>im</strong> Unterricht<br />
jedoch sehr ausführliche Behandlung der Ebenen dienen kann.<br />
Ein offensichtlich für Computerspiele begeisterter Schüler merkte<br />
bei der Diskussion dieser Thematik <strong>im</strong> Unterricht an, dass er nun<br />
den Aufdruck "Dreiecksdurchsatz: 4,2 Mill./Sek<strong>und</strong>e" auf dem<br />
Karton seiner Grafikkarte verstehe.<br />
92<br />
Lichtstrahlen in Abhängigkeit von den Richtungsvektoren<br />
auszudrücken. Ausgehend<br />
von diesen Überlegungen wird das Skalarprodukt<br />
zweier Vektoren eingeführt sowie der<br />
Zusammenhang zwischen dem Winkel zwischen<br />
zwei Vektoren <strong>und</strong> ihrem Skalarprodukt<br />
behandelt. Durch Darstellung von Beispielen,<br />
die in Aufgaben vorkommen, mithilfe<br />
von POV-Ray können die Schüler zumindest<br />
qualitativ den Zusammenhang zwischen dem<br />
Winkel zweier Vektoren, dem Produkt ihrer<br />
Beträge <strong>und</strong> dem Skalarprodukt erkennen.<br />
Geeignete Anregungen stehen auf der <strong>Internet</strong>seite<br />
[1] zur Verfügung.<br />
Abb. 17<br />
Bei der Einführung der Normalenvektoren<br />
stellen die Schüler durch die Darstellung<br />
mehrerer Ebenen, die durch Koordinatengleichungen<br />
der Form Ax + By + Cz = D gegeben<br />
sind, <strong>und</strong> der jeweils zugehörigen<br />
⎛ ⎞<br />
Vektoren ⎜ ⎟<br />
⎜ ⎟<br />
⎝C<br />
⎠<br />
BA in POV-Ray fest, dass diese<br />
Vektoren jeweils senkrecht zu den zugehörigen<br />
Ebenen sind. Die betrachteten Koeffizientenvektoren<br />
werden dann als Normalenvektoren<br />
bezeichnet. Anschließend untersuchen<br />
die Schüler die Zusammenhänge zwischen<br />
den Normalen- <strong>und</strong> den Richtungsvektoren<br />
der Ebenen.<br />
Nach diesen Betrachtungen kann mithilfe des<br />
Skalarproduktes <strong>und</strong> des Normaleneinheitsvektors<br />
das Reflexionsgesetz nun folgendermaßen<br />
formuliert werden: Ist n r der Normaleneinheitsvektor<br />
der spiegelnden Oberfläche<br />
<strong>und</strong> sind l r <strong>und</strong> b r die normierten<br />
Richtungsvektoren des einfallenden bzw. reflektierten<br />
Lichtstrahls, so gilt:<br />
1. n r , l r <strong>und</strong> b r sind komplanar,<br />
2.<br />
r r<br />
n,<br />
l =<br />
r r<br />
n,<br />
b .<br />
Abb. 18
Einzelne Berechnungen des Verlaufes reflektierter<br />
Lichtstrahlen können anhand dieser<br />
Formulierung des Reflexionsgesetzes zwar<br />
durchgeführt werden, entsprechen aber<br />
kaum Anwendungsbedürfnissen in der Computergrafik.<br />
Interessanter ist es, anhand von<br />
Beobachtungen der Realität zu diskutieren,<br />
ob die durch das Reflexionsgesetz beschriebene<br />
direkte Reflexion die einzige Art ist, in<br />
der Körper beleuchtet werden, <strong>und</strong> welchen<br />
Einfluss hierauf die Glätte oder Rauheit der<br />
Körperoberfläche hat. Neben der direkten<br />
(spiegelnden) Reflexion sind auch eine völlig<br />
richtungsunabhängige (ambiente) Beleuchtung,<br />
die durch Unebenheit von Körperoberflächen<br />
verursachte diffuse Beleuchtung sowie<br />
die durch nicht ganz exakte Reflexion<br />
von Lichtquellen ausgehender Strahlen entstehenden<br />
"Leuchtflecken" (Highlights) von<br />
Bedeutung. Diese Beleuchtungskomponenten<br />
können durch die Normalenvektoren sowie<br />
die Verbindungsvektoren zu den Lichtquellen<br />
<strong>und</strong> zur Kamera realitätsnah beschrieben<br />
werden. So ist es den Schülern<br />
möglich, geeignete mathematische Modelle<br />
der Beleuchtungskomponenten zu entwickeln.<br />
In engem Zusammenhang damit können<br />
sie die Wirkung der entsprechenden Parameter<br />
ambient, diffuse, reflexion<br />
<strong>und</strong> phong in POV-Ray erproben. 14<br />
Die am Beispiel des Fisches erwähnte Glättung<br />
von Kanten durch Normaleninterpolation<br />
können die Schüler nach der Behandlung der<br />
Normalenvektoren von Ebenen anhand eines<br />
Körpers mit wenigen Facetten selbst nachvollziehen.<br />
Dazu bietet sich z.B. das Oktaeder<br />
mit den Eckpunkten (1;0;0), (0;1;0),<br />
(-1;0;0), (0;-1;0), (0;0;-1) <strong>und</strong> (0;0;1) an. Zunächst<br />
stellen die Schüler dieses Oktaeder<br />
als Vereinigung von Dreiecken dar, wodurch<br />
sich in POV-Ray das erwartete Bild ergibt.<br />
Anschließend best<strong>im</strong>men sie die Normalenvektoren<br />
der Ebenen, in denen die Seitenflächen<br />
des Oktaeders liegen. Um die Kanten<br />
des Oktaeders zu glätten, werden für jeden<br />
Punkt die Mittelwerte der Normalenvektoren<br />
der anliegenden Facetten komponentenweise<br />
berechnet <strong>und</strong> normiert; <strong>—</strong> für das gewählte<br />
Oktaeder stellt sich heraus, dass die<br />
Koordinaten dieser "Mittelwertvektoren" mit<br />
denen der zugehörigen Eckpunkte identisch<br />
sind. Durch Darstellung der Vereinigung von<br />
8 geglätteten Dreiecken der Form<br />
smooth_triangle {,,<br />
,,<br />
, }<br />
14 Eine Beschreibung der Beleuchtungskomponenten <strong>und</strong> Beispiele<br />
für die Wirkung der genannten Parameter sind u.a. auf der <strong>Internet</strong>seite<br />
[1] unter "Ray-Tracing-Theorie" zu finden.<br />
Didaktische Aspekte der Einbeziehung von Elementen der 3D-Computergrafik<br />
in POV-Ray (siehe Abb. 19) ergibt sich auch<br />
für das Oktaeder eine Kantenglättung wie für<br />
den in Abb. 16 dargestellten Fisch.<br />
Abb. 19<br />
Es fällt auf, dass die durch die Software vorgenommene<br />
Kantenglättung in diesem extremen<br />
Fall merkwürdige Effekte in der Darstellung<br />
verursacht. Dass der dargestellte<br />
Körper geometrisch <strong>im</strong>mer noch ein Oktaeder<br />
ist, sehen die Schüler, wenn sie ihn<br />
durch Änderung der Kameraposition aus verschiedenen<br />
Richtungen betrachten. 15<br />
Die Glättung der Kanten des Oktaeders, welche<br />
die Schüler durch eigene Berechnungen<br />
vornahmen, löste bei ihnen Erstaunen aus.<br />
Durch den Bezug auf das Beispiel des Fisches,<br />
das sie zuvor kennen gelernt hatten,<br />
war ihnen bewusst, dass sie eine der wichtigsten<br />
Berechnungen, die für Computerspiele<br />
<strong>und</strong> Spielfilme millionenfach vorgenommen<br />
werden muss, selbst ausgeführt haben.<br />
7 Schlussbemerkungen<br />
Die bisherigen Erfahrungen mit der Einbeziehung<br />
von Elementen der 3D-Computergrafik<br />
in das Stoffgebiet Analytische Geometrie<br />
schätze ich als ermutigend ein. Die Schüler<br />
zeigten sich sehr interessiert an dieser<br />
Thematik; die Anfertigung eigener Computergrafiken<br />
empfanden sie als ausgesprochen<br />
reizvoll. Die Verwendung einer skriptgesteuerten<br />
Software wie POV-Ray führt<br />
zwangsläufig dazu, dass reines "Spielen" zu<br />
keinen Ergebnissen führt <strong>und</strong> die Schüler<br />
sich mit der <strong>Mathematik</strong>, die "hinter der Computergrafik<br />
steht", auseinander setzen müssen,<br />
um zu Ergebnissen gelangen.<br />
Neben den besonders reizvollen Beispielen<br />
Schneemannbau <strong>und</strong> Glättung des Oktaeders<br />
empfanden die Schüler auch die Vi-<br />
15 Ein Video, das dies deutlich zeigt, steht <strong>—</strong> neben den entsprechenden<br />
POV-Ray-Dateien <strong>—</strong> auf der <strong>Internet</strong>seite [1] zur Verfügung.<br />
93
Andreas Filler<br />
sualisierung von Standardaufgaben der Analytischen<br />
Geometrie als sinnvolle Ergänzung<br />
zu deren rechnerischer Bearbeitung.<br />
Die Beschreibung von Farben sowie der bewusste<br />
Einsatz der Beleuchtungskomponenten<br />
führen <strong>—</strong> miteinander kombiniert <strong>—</strong> zu<br />
weit gehenden Möglichkeiten der Gestaltung<br />
von Körperoberflächen. Die zu Gr<strong>und</strong>e liegenden<br />
mathematischen Modelle sind recht<br />
elementar <strong>und</strong> schaffen nicht nur ein Verständnis<br />
der Funktionsweise der Computergrafik<br />
sondern auch einen anderen Blick auf<br />
Erscheinungen der täglichen Umgebung.<br />
Klassische Inhalte der Analytischen Geometrie<br />
können dadurch von den Schülern mit einer<br />
anderen Bedeutung wahrgenommen<br />
werden, als dies anhand der <strong>im</strong> Unterricht<br />
normalerweise behandelten Beispiele der<br />
Fall ist.<br />
Als problematisch erwies es sich, in der vorgegebenen<br />
Zeit die vom Rahmenplan festgelegten<br />
Inhalte zu bearbeiten <strong>und</strong> Fragen der<br />
Computergrafik zu thematisieren. Die Spielräume,<br />
die der Berliner Rahmenplan lässt,<br />
sind sehr gering; auf die Behandlung der Farben<br />
musste ich deshalb z.B. verzichten.<br />
In Cottbus führte F. Rieper (ebenfalls in einem<br />
Gr<strong>und</strong>kurs ma-13) ein dreiwöchiges Unterrichtsprojekt<br />
zur 3D-Computergrafik durch<br />
<strong>und</strong> lies den Schülern große Freiräume bei<br />
der Wahl der Schwerpunkte. Die Ergebnisse<br />
dieses Projektes sind hinsichtlich der erstellten<br />
Grafiken, noch mehr aber aufgr<strong>und</strong> der<br />
von den Schülern verwendeten mathematischen<br />
Beschreibungen beeindruckend (s.<br />
[2]). Diese Ergebnisse unterstreichen die<br />
Forderung, durch veränderte Rahmenpläne<br />
Freiräume für weitergehende Überlegungen<br />
<strong>und</strong> Unterrichtsprojekte zu schaffen.<br />
Da die Einbeziehung von Elementen der 3D-<br />
Computergrafik Zeit benötigt, sollten Abstriche<br />
an den traditionellen, stärker algebraisch<br />
orientierten Inhalten des Stoffgebietes möglich<br />
sein. Das Setzen von Schwerpunkten,<br />
die Beschränkung auf Kernthemen, die vertieft<br />
<strong>und</strong> durch Anwendungen motiviert <strong>und</strong><br />
gefestigt werden, sowie die Reduzierung der<br />
mit Routineaufgaben verbrachten Zeit sind<br />
Ansätze für Straffungen. Das durch visuelle<br />
Vorstellungen unterstütze Verständnis kann<br />
die Reduzierung der für Routineaufgaben<br />
aufgewendeten Zeit zumindest teilweise<br />
kompensieren. Auch wenn an einigen Stellen<br />
Abstriche gemacht werden müssen, kann eine<br />
stärker geometrische <strong>und</strong> anwendungs-<br />
94<br />
orientierte Behandlung der Analytischen Geometrie<br />
eine Bereicherung für den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
in der Sek<strong>und</strong>arstufe II sein.<br />
Literatur <strong>und</strong> <strong>Internet</strong><br />
Andraschko, H. (2001): DreiDGeo <strong>—</strong> ein Computerwerkzeug<br />
für die analytische Geometrie <strong>im</strong><br />
E 3 . In: Der <strong>Mathematik</strong>unterricht 47, Heft 5,<br />
54–68<br />
Borneleit, Peter, Rainer Danckwerts, Hans-Wolfgang<br />
Henn & Hans-Georg Weigand (2001):<br />
Expertise zum <strong>Mathematik</strong>unterricht in der<br />
gymnasialen Oberstufe. In: Journal für <strong>Mathematik</strong>-Didaktik<br />
22, 73–90<br />
EPA (Einheitliche Prüfungsanforderungen) (2002).<br />
Beschluss der 298. Kultusministerkonferenz<br />
am 23./24.05.2002 in Eisenach<br />
Filler, Andreas (2001): Dreid<strong>im</strong>ensionale Computergrafik<br />
<strong>und</strong> Analytische Geometrie. In: mathematica<br />
didactica 24, Heft 2, 21–56<br />
Filler, Andreas (2002): 3D-Computergrafik <strong>und</strong><br />
Analytische Geometrie <strong>—</strong> Vorschläge für den<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht in der Sek<strong>und</strong>arstufe II.<br />
In: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht 2002,<br />
Hildeshe<strong>im</strong> & Berlin: Franzbecker, 163–166<br />
Filler, Andreas & Gerald Wittmann (2004): Raumgeometrie<br />
vom ersten Tag an! Einstiege in die<br />
Analytische Geometrie. In: Der <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
50, Heft 1/2, 91–103<br />
Nyman, M. (1999): 4 Farben 1 Bild. Berlin, Heidelberg<br />
& New York: Springer<br />
Schupp, Hans (2000): Geometrie in der Sek<strong>und</strong>arstufe<br />
II. In: Journal für <strong>Mathematik</strong>-Didaktik<br />
21, 50–60<br />
Tietze, Uwe-Peter, Manfred Klika & Hans Wolpers<br />
(2000): <strong>Mathematik</strong>unterricht in der Sek<strong>und</strong>arstufe<br />
II, Band 2: Didaktik der Analytischen Geometrie<br />
<strong>und</strong> Linearen Algebra.Braunschweig &<br />
Wiesbaden: Vieweg<br />
Watt, A. (2002): 3D-Computergrafik. München:<br />
Pearson Education<br />
Wittmann, Gerald (2003): Schülerkonzepte zur<br />
Analytischen Geometrie. Hildeshe<strong>im</strong> & Berlin:<br />
Franzbecker<br />
Xiang, Z. & R. A. Plastock (2003): Computergrafik.<br />
Bonn: mitp-Verlag<br />
[1] <strong>Internet</strong>seite des Autors mit Materialien zum<br />
Thema dieses Beitrags: http://www-didaktik.<br />
mathematik.hu-berlin.de/org/filler/3D<br />
[2] Mathe-Projekt "Raytracing" in einem Gr<strong>und</strong>kurs<br />
ma-13, Fürst-Pückler-Gymnasium Cottbus:<br />
http://fpg-cottbus.de/faecher/mathematik/<br />
povrayprojekt.html<br />
[3] POV-Ray-Homepage: http://www.povray.org/<br />
[4] Rahmenpläne des Landes Berlin:<br />
http://www.senbjs.berlin.de/schule/<br />
rahmenplaene/thema_rahmenplaene.asp
� Konstruktion <strong>und</strong> Kontinuität in der Dynamischen<br />
Geometrie<br />
Thomas Gawlick, Landau<br />
Das Erscheinen der Dynamischen Geometrie-Software (DGS) "Cinderella" war der Auslöser<br />
für eine aspektreiche <strong>und</strong> teils kontroverse Diskussion über die Frage: Was ist das<br />
korrekte Verhalten von DGS <strong>im</strong> Zugmodus? "Dazu muss festgelegt werden, was man als<br />
korrekt ansieht, <strong>und</strong> eine naheliegende Forderung ist[,] hier Kontinuität zu erreichen. Dabei<br />
entspricht der Begriff der Kontinuität dem der Stetigkeit (eine sinnvolle Topologie vorausgesetzt).<br />
... Da Kontinuität offensichtlich nicht trivial zu erreichen ist, stellt sich die<br />
Frage, ob sie denn überhaupt erreichbar ist. Die Frage kann positiv beantwortet werden,<br />
<strong>und</strong> mit Cinderella ist inzwischen ein[e] kontinuierliche DGS erhältlich." (Kortenkamp<br />
2000). In Teil I. werden wir zeigen, dass diese Antwort in zweierlei Hinsicht mehr Probleme<br />
aufwirft, als sie löst. Scheut man jedoch zurück vor der Tragweite solcher Gr<strong>und</strong>satzüberlegungen,<br />
aber auch vor den bekannten Nebenwirkungen des stetigen Zug-<br />
Paradigmas, stellt sich natürlich um so dringender die Frage: Kann man auch auf andere<br />
Weise korrektes Verhalten von DGS <strong>im</strong> Zugmodus herbeiführen? Ja, das kann man <strong>—</strong> in<br />
Teil II. zeigen wir, dass die Restrukturierung des dynamischen Konstruktionsbegriffs<br />
zu einem Lösungsweg führt, der auch didaktisch fruchtbar gemacht werden kann.<br />
I. Das Problem der Kontinuität<br />
Postuliert man, dass DGS sich stetig verhalten<br />
soll, stellen sich zwei neue Fragen:<br />
(1) Welches Zug-Verhalten ist als stetig zu<br />
bezeichnen?<br />
(2) Wie stellt man es her?<br />
Die Antwort auf (1) ist nur scheinbar offenk<strong>und</strong>ig;<br />
<strong>—</strong> in Kap. I.1 werden wir sehen, dass<br />
man hierüber schon in einfachsten Beispielen<br />
ganz unterschiedlicher Ansicht sein kann.<br />
Und es zeigt sich in Kap. I.2, dass die konträren<br />
Auffassungen sich tatsächlich jeweils auf<br />
verschiedene mögliche Präzisierungen des<br />
Begriffs Kontinuität stützen können. Schließlich<br />
lehrt auch der geschichtliche Rückblick in<br />
Kap. I.3, dass sich aus der historischen Entwicklung<br />
das Kontinuitätsprinzips keineswegs<br />
so einfach <strong>und</strong> eindeutig einer dieser<br />
Interpretationen den Vorzug geben lässt.<br />
Nun könnte man meinen, dass sich doch<br />
wenigstens aus der Antwort auf (2) eine<br />
Maßregel für stetiges Verhalten ableiten<br />
lässt. Dem ist jedoch nicht so; <strong>—</strong> in Kap. I.4<br />
beschreiben wir, wie in "Cinderella" Stetigkeit<br />
erzeugt werden soll, indem Ausnahmesituationen<br />
durch Umwege ins Komplexe vermieden<br />
werden. Ebenso gut kann man jedoch<br />
als Geometer auch einen reellen Umweg beschreiten;<br />
<strong>—</strong> <strong>und</strong> das führt zu einem abweichenden<br />
Verhalten, welches gemäß der Analyse<br />
in Kap. I.2 sogar höhere Stetigkeitseigenschaften<br />
hat. Insofern muss also offen<br />
bleiben, ob überhaupt eine einzige Zug-<br />
Strategie als die stetige benannt werden<br />
kann.<br />
I.1 Springende Punkte: unstetig<br />
<strong>—</strong> oder auch nicht<br />
F<br />
A<br />
Abb. 1<br />
Bei spielerischen Erk<strong>und</strong>ungen <strong>im</strong> Vorfeld<br />
der klassischen Zweikreis-Konstruktion der<br />
Mittelsenkrechten kann man folgende Erfahrung<br />
machen: Gegeben seien zwei Kreise<br />
mit gleichem Radius r <strong>und</strong> Mittelpunkten A,<br />
E, die frei beweglich gedacht sind <strong>—</strong> <strong>und</strong> mit<br />
DGS auch so erfahren werden können. Für<br />
0
Thomas Gawlick<br />
nen der Mittelpunkte ein wenig, so wird F<br />
sich ebenfalls mitbewegen, <strong>—</strong> <strong>und</strong> zwar stetig.<br />
Das wird sicher als so natürlich empf<strong>und</strong>en,<br />
dass man es gar nicht bewusst wahrn<strong>im</strong>mt.<br />
Über kurz oder lang bemerkt man jedoch<br />
folgende Phänomene:<br />
(V1) Werden E <strong>und</strong> A zur Übereinst<strong>im</strong>mung<br />
gebracht, verschwindet F. 1<br />
(V2) Entfernt man E weit genug von A, verschwindet<br />
F ebenfalls.<br />
Abbildung 2 zeigt für (V1) verschiedene Stadien<br />
einer solchen Bewegung: E1, E2 <strong>und</strong> E3<br />
sind vorherige Positionen von E, sowie F1,<br />
F2 <strong>und</strong> F3 die dazugehörigen "früheren"<br />
Schnittpunkte.<br />
In beiden Fällen ist offenbar die Bedingung<br />
0
A<br />
F<br />
Abb. 4<br />
1. scheinen (V1) <strong>und</strong> (V2) doch nur oberflächlich<br />
ähnliche Situationen <strong>und</strong> Verhaltensweisen<br />
darzustellen, dem Sinne nach<br />
aber ganz verschieden zu sein,<br />
2. wird man (V1) <strong>und</strong> (V2) zunächst ganz unterschiedlich<br />
werten: während das abweichende<br />
Verhalten von "Euklid" in (V1)<br />
Ausdruck eines mathematischen Mangels<br />
(Unstetigkeit) zu sein scheint, ist man<br />
wohl geneigt, die mangelnde Erwartungskonformität<br />
von "Cinderella" in (V2) eher<br />
als eine harmlose Kuriosiät zu betrachten.<br />
Beide Ansichten erweisen sich jedoch bei<br />
näherer Betrachtung als falsch:<br />
1. (V1) <strong>und</strong> (V2) hängen dadurch zusammen,<br />
dass "Cinderella" Situationen vom Typ<br />
(V1) behandelt, indem es sie <strong>—</strong> <strong>und</strong> nicht<br />
nur sie! <strong>—</strong> in Situationen des Typs (V2)<br />
verwandelt.<br />
2. Es wird sich sowohl bei (V1) als auch bei<br />
(V2) zeigen, dass die Bewertung, was tatsächlich<br />
abweichend sein soll <strong>und</strong> wie<br />
schwer es wiegt, aus guten Gründen anders<br />
ausfallen kann.<br />
Der Zusammenhang zwischen beiden Sondersituationen<br />
wird anhand einer weiteren offenbar:<br />
(V3) Erhöht man den Abstand zwischen E<br />
<strong>und</strong> A auf 2r, fallen Fo <strong>und</strong> Fu zusammen.<br />
Verringert man anschließenden den Abstand<br />
wieder, gibt es aus der Anschauung der Situation<br />
heraus offenbar keinerlei sinnvolle<br />
Vorerwartung an das Verhalten von F: Fo <strong>und</strong><br />
Fu sind a priori gleichberechtigte Kandidaten<br />
für die Fortsetzung von F! Wenn man denn<br />
überhaupt eine generelle Regel formulieren<br />
will, nach der DGS eigenständig in solchen<br />
Situationen die Entscheidung trifft, bedarf es<br />
dafür einer gr<strong>und</strong>sätzlich anders gearteten<br />
Richtschnur, um unserer geometrischen Anschauung<br />
hierfür die Richtung zu weisen.<br />
E<br />
Konstruktion <strong>und</strong> Kontinuität in der Dynamischen Geometrie<br />
Bedingt vergleichbar ist die Geschichte des<br />
Parallelenaxioms: bemühte man sich schon<br />
seit Euklid um einen Beweis <strong>und</strong> erwog dabei<br />
durchaus auch seine Verneinung, erwuchs<br />
doch erst aus dem Studium alternativer Modelle<br />
der Geometrie eine Leitlinie, die es ermöglichte,<br />
mit den vormals als bloße Absurditäten<br />
erscheinenden Aussagen der Nichteuklidischen<br />
Geometrie erstmals eine wirkliche<br />
Anschauung zu verbinden (etwa für sich<br />
schneidende Parallelen) <strong>und</strong> auf dieser<br />
Gr<strong>und</strong>lage tragfähige Alternativen zum Parallelenaxiom<br />
zu formulieren. Zugleich wurde<br />
auch klar, dass es für die <strong>Mathematik</strong> nicht<br />
darum gehen kann, ein für alle Mal ein solches<br />
Axiom als absolute Wahrheit zu setzen,<br />
sondern dass situativ Maßregeln zu entwickeln<br />
sind, welche Axiome für best<strong>im</strong>mte<br />
Zwecke geeignet ist, die jeweilige Situation<br />
zu modellieren. (Bis zu welchem Maßstab<br />
darf ein Kartograph die Erdkrümmung ignorieren<br />
<strong>und</strong> die Vermessungspunkte einer<br />
Landschaft in einem euklidischen Modell<br />
(Landkarte!) repräsentieren?)<br />
Auch in der Dynamischen Geometrie erwächst<br />
das propagierte Stetigkeitsprinzip aus<br />
einer Modellierung: Kortenkamp & Richter-<br />
Gebert (2001) postulieren, dass ihre funktionentheoretische<br />
Auffassung des Ponceletschen<br />
Kontinuitätsprinzips sowohl eine solche<br />
konzeptionelle Ausdeutung des Zugmodus<br />
liefert als auch zugleich eine Hintergr<strong>und</strong>theorie<br />
<strong>und</strong> gegenüber rein geometrischen<br />
Zugängen anderer DGS stets zu höherer<br />
mathematischer Konsistenz führe, was<br />
auch didaktisch vorteilhaft sei. Wie jedoch<br />
die Beispiele in (Gawlick 2002) zeigen, bewirkt<br />
ihr Ansatz auch diverse Aberrationen<br />
der "Cinderella"-Geometrie von der (Schul-)<br />
Geometrie, die geeignet sind, den Lernprozess<br />
zu beeinträchtigen (vgl. Kap. I.3).<br />
Aber auch schon das obige Beispiel gibt Anlass,<br />
die Zugstrategie von "Cinderella" zu<br />
überdenken: Da Situationen vom Typ (V3)<br />
sich rein geometrisch nicht auflösen lassen,<br />
müssen sie vermieden werden. In "Cinderella"<br />
wird dazu jede Zugbewegung so abgeändert,<br />
dass Situationen des Typs (V2) entstehen,<br />
die sich in der funktionentheoretischen<br />
Modellierung behandeln lassen. Insofern<br />
hängt alles an der St<strong>im</strong>migkeit dieses "Prinzips<br />
der ständigen Verformung": Denn<br />
man wird solch eine nichttriviale Modifikation<br />
des Bewegungsvorganges doch nur dann als<br />
Richtschnur für sein Ergebnis akzeptieren,<br />
wenn sie in einfach nachvollziehbaren Spezialfällen<br />
Ergebnisse liefert, die mit der eigenen<br />
Anschauung übereinst<strong>im</strong>men.<br />
97
Thomas Gawlick<br />
Im Beispiel führt jedoch die von "Cinderella"<br />
vorgenommene Ersetzung des "gestörten"<br />
Zugweges zu anderen Ergebnissen, als es<br />
die Anschauung nahe legt. Schauen wir uns<br />
das etwas näher an:<br />
Im einfachsten Fall zieht man E also längs<br />
einer Geraden auf A (Abb. 5a). Im Grenzfall<br />
E=A ist F offenbar zunächst nicht definiert,<br />
danach aber stetig fortsetzbar.<br />
98<br />
Abb. 5a<br />
Abb. 5b<br />
Wenn man E über A hinaus bewegt, gibt es<br />
offenbar genau zwei Möglichkeiten:<br />
• F wird weiter durch den "oberen" Schnittpunkt<br />
Fo fortgesetzt: stetiges Verhalten,<br />
<strong>—</strong> so scheint es wenigstens ...<br />
• F wird nun durch den "unteren" Schnittpunkt<br />
Fu fortgesetzt: Dieses „sprunghafte“<br />
Verhalten ist scheinbar unstetig.<br />
Abb. 6<br />
"Euklid" realisiert (wie die meisten DGS) das<br />
scheinbare Umspringen von F in den anderen<br />
Schnittpunkt (Abb. 5b).<br />
Man beachte jedoch: Definitionsgemäß ist<br />
die Zugfigur von F dennoch auch <strong>im</strong> zweiten<br />
Fall der Graph einer stetigen Funktion, die<br />
abschnittsweise durch E a F bzw. E a Fu gegeben<br />
ist. Denn für E=A ist diese Funktion ja<br />
nicht definiert. Ihr Definitionsbereich ist also<br />
unzusammenhängend; <strong>—</strong> <strong>und</strong> auf den beiden<br />
Komponenten ist sie offenbar stetig! Man<br />
sollte daher nicht von "sprunghaft" sprechen,<br />
sondern eher von "lückenhaft".<br />
Trotzdem erscheint die erste Lösung zunächst<br />
als die bessere: Wird doch in diesem<br />
Fall die Zugfigur durch den "oberen" Schnittpunkt<br />
Fo zum Graphen der stetigen Funktion<br />
E a Fo auf dem ganzen Zugweg fortgesetzt.<br />
Doch diese von "Cinderella" realisierte Möglichkeit<br />
führt selbst zu einer Unstetigkeit:<br />
Betrachten wir dazu (in Abb. 6) die geradlinige<br />
Bewegung von E durch A als Grenzfall einer<br />
geradlinigen Bewegung durch D, wobei D<br />
<strong>im</strong>mer näher an A liegt. Durchläuft E für festes<br />
D eine solche Gerade c, bewegt sich dabei<br />
stets das jeweilige F=F D auf dem festen<br />
Kreis um A <strong>im</strong>mer weiter nach unten, je näher<br />
D an A liegt, um dann wieder nach oben<br />
zurückzukehren. Der scheinbare "Sprung" in<br />
der Bewegung von E durch A in Abb. 5b ist<br />
also der stetige Grenzfall dieser Bewegung.<br />
Abbildung 6 zeigt vier Stadien der Annäherung.<br />
Bewegt man D auf A zu, gilt offenbar<br />
F D ØFu für jedes Zwischenstadium der Bewegung<br />
von E "links" von A. Mit anderen Worten:<br />
Die Folge der Funktionen E a F D zu festem<br />
D konvergiert für DØA nicht gegen die<br />
überall stetige Funktion E a Fo, sondern ge-
gen die "lückenhafte" Funktion, die stückweise<br />
durch E a Fo bzw. E a Fu definiert ist.<br />
I.2 Was bedeutet Kontinuität in<br />
der Dynamischen Geometrie?<br />
Die Unklarheit, was für die Zweikreisfigur als<br />
"richtige" Auffassung von Stetigkeit gelten<br />
soll, motiviert sicher den Versuch, dies nicht<br />
durch "lokale Anschauung" sondern aus<br />
"globalen Prinzipien" abzuleiten. Zur Begründung<br />
des Zug-Verhaltens der Zug-Strategie<br />
von "Cinderella" wird von seinen Autoren das<br />
Ponceletsche Kontinuitätsprinzip (KP) angeführt:<br />
"Ist eine Figur aus einer anderen durch<br />
stetige Veränderung hervorgegangen <strong>und</strong><br />
'ebenso allgemein als diese', so kann eine<br />
an der ersten Figur bewiesene Eigenschaft<br />
ohne weiteres auf die andere übertragen<br />
werden." (Poncelet 1822, z.n. Kötter<br />
1901, 121)<br />
In dieser Form definiert das Prinzip jedoch<br />
nicht die Stetigkeit der Veränderung, sondern<br />
folgert aus ihr eine andere Eigenschaft: die<br />
Theoreminvarianz (TI):<br />
Bewiesene Sätze bleiben bei stetiger Veränderung<br />
richtig.<br />
KP liefert damit eine notwendige Bedingung<br />
für das Vorliegen stetiger Veränderung: nur<br />
wenn Theoreme "zug-invariant" sind, kann<br />
man das Verziehen einer Konstruktion stetig<br />
nennen. Was stetige Veränderung als solche<br />
bedeuten soll, wird dagegen wohl eher in<br />
Leibniz' Version des Kontinuitätsgesetzes<br />
(KL) deutlich:<br />
"Wenn sich (bei den gegebenen Größen)<br />
zwei Fälle stetig einander nähern, so daß<br />
schließlich der eine in den anderen übergeht,<br />
muss notwendig bei den abgeleiteten<br />
bzw. abhängigen (gesuchten) Größen<br />
dasselbe geschehen." (Leibniz 1687 &<br />
1996, 192f)<br />
Dies lässt sich mit Hilfe eines geeigneten<br />
Abstandsbegriffs (etwa des verallgemeinerten<br />
Euklidischen Abstands auf einem höherd<strong>im</strong>ensionalen<br />
Raum) schon als eine "moderne"<br />
Stetigkeitseigenschaft formulieren.<br />
Gehen nämlich in einer Konstruktion aus den<br />
unabhängigen Elementen u=(u1, ..., un) die<br />
abhängigen Elemente a=(a1, ..., ak) hervor,<br />
so bedeutet (KL) nichts anders als stetige<br />
Abhängigkeit (sA) <strong>im</strong> gewohnten Sinne:<br />
d(u, u’) → 0 ⇒ d(a, a’) → 0<br />
Lässt sich die betrachtete Konstruktion als<br />
funktionaler Zusammenhang a=f(u) auffassen,<br />
ist diese Bedingung offenbar gleichbe-<br />
Konstruktion <strong>und</strong> Kontinuität in der Dynamischen Geometrie<br />
deutend mit der üblichen Stetigkeit von f; <strong>—</strong><br />
allerdings ist genau diese funktionale Beschreibung<br />
der konstruktiven Abhängigkeit<br />
oftmals nicht möglich, weil die verwendeten<br />
Operationen mehrdeutig sind: Ein Winkel hat<br />
zwei Halbierende, zwei Kreise schneiden<br />
sich i.a. in zwei Punkten etc. Üblicher Weise<br />
wählt man stets nur eine Instanz a der abhängigen<br />
Elemente einer Konstruktion zu<br />
den unabhängigen Elementen u aus; <strong>—</strong> allerdings<br />
ist diese Auswahl in der Regel nicht<br />
stabil gegenüber stetiger Veränderung: Wird<br />
u längs eines geschlossenen Weges wieder<br />
auf den Ausgangspunkt bewegt, wird a nicht<br />
notwendig in sich überführt, sondern i.a. in<br />
eine andere Instanz a* derselben Konstruktion!<br />
Das paradigmatische<br />
Beispiel hierfür ist das<br />
folgende: Sei w die innere<br />
Halbierende von<br />
<strong>—</strong>AMB <strong>und</strong> S der<br />
Schnittpunkt von w mit<br />
dem Kreis k um M durch<br />
Abb. 7<br />
A. Für u=B→A "von unten"<br />
gilt nicht a=S→A (vgl. Abb. 7). Denn<br />
<strong>—</strong>AMB→360°, also <strong>—</strong>AMS→180°. In dieser<br />
Betrachtungsweise kann (KL) durch kein<br />
DGS erfüllt werden!<br />
Dennoch n<strong>im</strong>mt "Cinderella" für sich in Anspruch,<br />
stetiges Verhalten zu realisieren; <strong>—</strong><br />
<strong>und</strong> in der Regel n<strong>im</strong>mt der Benutzer dabei<br />
auch keine Sprünge wahr. Das aber bedeutet<br />
hier nur das Vorliegen einer stetigen Hochhebung<br />
(sH) von u auf a:<br />
Bewegt man u längs eines stetigen Weges<br />
t→u(t), t∈[0,1], so gibt es auch einen<br />
stetigen Weg t→a(t), der die Bewegung<br />
des abhängigen Elements a beschreibt.<br />
Wir schreiben dafür u�a.<br />
Insbesondere wird dabei nicht behauptet,<br />
dass aus u(1)=u(0) auch a(1)=a(0) folgt! Eine<br />
DGS mit (sH) braucht also nicht deterministisch<br />
zu sein. Erschwerend kommt Folgendes<br />
hinzu: Die Eigenschaft (sH) ist nicht nur<br />
wesentlich schwächer als (KL); <strong>—</strong> sie verändert<br />
auch auf subtile Art die Auffassung von<br />
Punkten; <strong>—</strong> es gibt jetzt nicht mehr den unabhängigen<br />
Punkt u der Ebene, anhand dessen<br />
sich Aussagen über die abhängigen Elemente<br />
a der Konstruktion machen lassen,<br />
wie man es aus der statischen Geometrie ja<br />
gewohnt ist; <strong>—</strong> vielmehr kommt es nun entscheidend<br />
auf die "Vergangenheit" von u an.<br />
An dieser Stelle divergieren also die intendierte<br />
Visualisierung durch die DGS <strong>und</strong> die<br />
ihr zugr<strong>und</strong>e liegende begriffliche Modellierung<br />
auf wesentliche Weise! Sichtbar ma-<br />
99
Thomas Gawlick<br />
chen lässt sich dies am leichtesten, indem<br />
man "Cinderella" in Abb. 7 <strong>—</strong>AMB anzeigen<br />
lässt; <strong>—</strong> be<strong>im</strong> Bewegen <strong>im</strong> bzw. gegen den<br />
Uhrzeigersinn erhält man dann beliebig kleine<br />
bzw. große Werte für <strong>—</strong>AMB. Dies zeigt,<br />
dass B "in Wirklichkeit" gar nicht in der Euklidischen<br />
Ebene E bewegt wird. Wo aber<br />
dann?<br />
Um die Information über die Auswahl von a<br />
gleichsam in u zu konzentrieren <strong>und</strong> so beide<br />
Seiten wieder etwas anzunähern, bietet es<br />
sich an, u mit "Zustandsinformation" darüber<br />
anzureichern, welche der möglichen Instanzen<br />
für a aktuell gewählt wurde. Das entspricht<br />
dem Übergang von Punkten u in der<br />
Euklidischen Ebene E zu Paaren (u,a)∈E×E .<br />
Diese Paare bilden eine Überlagerung von<br />
E: "über" jedem u (außer dem Verzweigungspunkt<br />
M) liegen zwei Paare (u,a). Vermöge<br />
der Projektion (u,a)→u wird diese<br />
Überlagerung von "Cinderella" in der Bildschirmebene<br />
dargestellt. Dabei gehen best<strong>im</strong>mte<br />
Information notwendig verloren, <strong>—</strong><br />
ähnlich wie bei der ebenen Projektion eines<br />
Kantenmodells: Wenn Kanten <strong>im</strong> Bild zusammenfallen,<br />
kann man allein aus der Abbildung<br />
nicht mehr erschließen, welche gemeint<br />
ist. Erst be<strong>im</strong> Bewegen wird das deutlich,<br />
<strong>—</strong> ähnlich bei "Cinderella": hier jedoch<br />
sieht man stets nur einen der beiden möglichen<br />
Punkte, <strong>—</strong> <strong>und</strong> muss sich überlegen,<br />
welcher. Durch Ziehen lässt sich das evtl.<br />
entscheiden; <strong>—</strong> allerdings ändert sich dabei<br />
dann auch die Auswahl des Punktes ... Auch<br />
Kortenkamp <strong>und</strong> Richter-Gebert konzedieren,<br />
"dass das auf einem Computerbildschirm<br />
gezeigte reelle [sic!] Verhalten eines<br />
DGS nur ein unvollständiges Bild des gesamten<br />
mathematischen Inhalts einer Konstruktion<br />
angibt ... Vielmehr hat der Weg, den<br />
man von einer Startsituation aus n<strong>im</strong>mt, entscheidenden<br />
Einfluss. Das st<strong>im</strong>mt sogar<br />
dann noch, wenn die komplette Bewegungssituation<br />
auf einen Parameter t reduziert<br />
worden ist. Selbst dann entscheidet <strong>im</strong>mer<br />
noch die relative Windungszahl in C des Weges<br />
von t um die Verzweigungspunkte über<br />
die erreichte Endinstanz." (a.a.O., 138f) All<br />
diese Sachverhalte wird man aber wohl<br />
kaum einem Lehrer (zu schweigen von Schülern!)<br />
deutlich machen können; <strong>—</strong> dennoch<br />
beeinflussen sie auf nachdrückliche Weise<br />
die Gesetze der "Cinderella"-Geometrie,<br />
wie wir sehen werden.<br />
Noch weitreichender ist jedoch die in<br />
Kap. I.1 offenbar gewordene Unstetigkeit der<br />
"Cinderella"-Fortsetzung bei Verformung des<br />
Zugweges! Man mag diese bloß für eine Erschwernis<br />
der Aufgabenstellung halten, <strong>und</strong><br />
100<br />
daher für unpassend, solange nicht einmal<br />
die Ausgangsfrage geklärt ist. Tatsächlich<br />
wird aber die Analyse der Zugstrategie von<br />
"Cinderella" in Kap. I.4 nachweisen, dass<br />
genau diese Eigenschaft essentiell für ihre<br />
tatsächliche Umsetzung ist. Wir kommen insofern<br />
nicht umhin, noch eine weitere Bedingung<br />
für stetiges Verhalten zu formulieren,<br />
die sich als notwendig für "Cinderella" erweisen<br />
wird!<br />
Stetige Verformung von Wegen führt auf den<br />
topologischen Begriff der Homotopie, worauf<br />
hier aber nicht eingegangen werden braucht:<br />
Interpretieren wir nämlich wie in (Gawlick<br />
2001) die stetige Verformung einer Figur<br />
selbst wieder als neue Figur <strong>—</strong> die Zugfigur!<br />
<strong>—</strong>, können wir auch deren stetige Deformation<br />
(sD) verlangen:<br />
Verformt man den Zugweg einer Figur<br />
stetig, soll sich die Zugfigur ebenfalls stetig<br />
verhalten.<br />
Sinnvoller Weise wird (sH) vorausgesetzt.<br />
Dann lässt sich (sD) mittels (KL) beschreiben:<br />
Der Zugweg eines Punktes u ist nichts anderes<br />
als die Zugfigur U von u, wenn man u als<br />
Figur auffasst. Entsprechend sei A die Zugfigur<br />
eines abhängigen Punktes a. Dann bedeutet<br />
(sD) nichts anderes als stetige Abhängigkeit<br />
der Zugfigur (sZ):<br />
d(U, U’) → 0 ⇒ d(A, A’) → 0<br />
Man genieße die Kürze <strong>und</strong> Eleganz dieser<br />
Formel <strong>und</strong> ihre starke Ähnlichkeit mit (sA)!<br />
Mit Wegen lässt (sD) sich so formulieren:<br />
u' � a'<br />
↓ ↓<br />
u � a<br />
Also ist (sD) nichts anderes als (KL) für Wege!<br />
Die Autoren von "Cinderella" versuchen jedoch,<br />
noch einen Schritt weiter zu gehen <strong>und</strong><br />
(sD) zur Behebung von Ausnahmesituationen<br />
zu benutzen. Das ist mehr als Kontinuität<br />
<strong>—</strong> sozusagen das Prinzip der stetigen Erweiterung<br />
(sE):<br />
Zugfiguren längs Wegen durch Ausnahmesituationen<br />
sollen stetig fortgesetzt<br />
werden, indem der durchlaufene Weg stetig<br />
abgeändert wird.<br />
Damit dies von Erfolg gekrönt ist, muss die<br />
Zugfigur sich bei einer solchen Verformung<br />
natürlich ebenfalls stetig verhalten, also (sZ)<br />
<strong>und</strong> damit auch (sD) gelten. Unsere Beispiele
zeigen jedoch folgenden, in Kap. I.4 zu beweisenden,<br />
Ausschließungssatz: (sD) <strong>und</strong> (sE) sind<br />
unvereinbare Prinzipien der Dynamischen<br />
Geometrie.<br />
Fassen wir nun zusammen, was all diese<br />
Prinzipien für die Dynamische Geometrie<br />
hergeben:<br />
• (KP) liefert keine Präzisierung des Stetigkeitsbegriffs,<br />
<strong>—</strong> aber eine notwendige<br />
Bedingung für eine solche: (TI).<br />
• (KL) lässt sich dagegen in die Stetigkeitsbedingung<br />
(sA) übersetzen; <strong>—</strong> deren Voraussetzungen<br />
sind jedoch i.A. zu stark.<br />
• (sH) lässt sich dagegen für die Dynamische<br />
Geometrie als Stetigkeitsbedingung<br />
verwenden, <strong>—</strong> liefert aber zwischen den<br />
beiden Fortsetzungen von E a F aus<br />
Kap. I.1 nicht unbedingt die gewünschte<br />
Abgrenzung:<br />
o Auch die "lückenhafte" Fortsetzung<br />
durch E a Fu erfüllt (sH).<br />
o Die überall stetige Fortsetzung E a Fo<br />
erfüllt (sH) zwar in einem Punkt mehr;<br />
<strong>—</strong> dass man dadurch auch in diesem<br />
Beispiel die Euklidische Ebene verlässt,<br />
wird von (sH) aber natürlich nicht<br />
erfasst.<br />
• (sD) ist als (sZ) bündig präzisierbar <strong>und</strong><br />
daher gut als Prüfstein tauglich,<br />
• (sE) ist wohl die stärkste Forderung, genügt<br />
aber nicht als alleiniges Kriterium der<br />
Unterscheidung:<br />
o (sD) wird von "Cinderella" <strong>im</strong> Beispiel<br />
aus Kap. I.1 verletzt, <strong>—</strong> obwohl notwendige<br />
Bedingung der internen Zugstrategie!<br />
o Dagegen erfüllen andere DGS (sD) <strong>im</strong><br />
Beispiel aus Kap. I.1; <strong>—</strong> sie verzichten<br />
aber auf (sE) Erweiterung der Gültigkeit<br />
von (sH) auf E=A.<br />
Die Autoren von "Cinderella" entscheiden<br />
sich dafür, (sD) zu opfern, um (sH) durchgängig<br />
zu realisieren. Ob dies tatsächlich<br />
(KP) entspricht, muss jedoch fraglich bleiben,<br />
da doch in einigen Beispielen (TI) verletzt zu<br />
werden scheint (vgl Kap. I.3). Die anderen<br />
DGS erkaufen dagegen die Gültigkeit von<br />
(sD) mit der scheinbaren "Sprunghaftigkeit"<br />
von Zugfiguren, deren Definitionsbereich<br />
eben nicht um E=A erweiterbar ist, ohne Widersprüche<br />
zu produzieren.<br />
Welchem dieser widersprüchlichen Prinzipien<br />
soll aber der Anwender nun den Vorzug geben?<br />
Eine genauere Analyse ihrer begriffli-<br />
Konstruktion <strong>und</strong> Kontinuität in der Dynamischen Geometrie<br />
chen Relationen erfordert sicherlich mehr<br />
<strong>Mathematik</strong>, als man billigerweise von Lehrern<br />
als fertig abrufbar verlangen wird, <strong>—</strong><br />
umso mehr, als dies letztlich nicht zu definitiven<br />
Antworten führen kann, da sich der Widerspruch<br />
zwischen Erfüllbarkeit von (sD)<br />
<strong>und</strong> (sE) auch nicht auf höherer Ebene auflösen<br />
wird. Diesen Weg weiter zu begehen,<br />
wäre ggf. wohl eher ein adäquater Gegenstand<br />
für Topologie-Vorlesungen, <strong>—</strong> die sich<br />
zukünftig ja vielleicht auch mehr solch konkreten<br />
Dingen zuwenden werden ...<br />
I.3 Das historische Ringen um<br />
das Kontinuitätsprinzip<br />
Das vorige Kapitel lieferte statt der gewünschten<br />
"globalen Ableitung" einer Präzisierung<br />
des Kontinuitätsprinzips deren mehrere,<br />
die in durchaus nicht einfach zu durchschauender<br />
Beziehung zueinander stehen.<br />
Dies kann zu einem Gefühl der Verwirrung<br />
führen, von dem man sich vielleicht durch<br />
den Rückgriff auf historische Autoritäten befreien<br />
möchte, die diese Entscheidung eventuell<br />
bereits mit größerem Weitblick getroffen<br />
haben könnten. Wie auch <strong>im</strong>mer, bei ihrer<br />
Lesart des Kontinuitätsprinzips berufen sich<br />
die Autoren von "Cinderella" jedenfalls auf<br />
Felix Kleins Interpretation: "Erst die Bezugnahme<br />
auf die Analysis, die Poncelet gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
ablehnt, konnte das neue Gedankengebäude<br />
auf eine sichere Gr<strong>und</strong>lage stellen.<br />
Der <strong>im</strong>aginäre Punkt ist dann ebenso wie<br />
der reelle nur ein gemeinsamer Lösungswert<br />
einer Anzahl gleichzeitig erfüllter Gleichungen,<br />
die je eines der zum Schnitt gebrachten<br />
Gr<strong>und</strong>gebilde darstellen. ... Ein jeder geometrischer<br />
Satz ist analytisch auszudrücken<br />
(wenn wir Geometrie so umgrenzen, wie es<br />
damals üblich war) durch die Nullsetzung einer<br />
algebraischen oder auch nur analytischen<br />
Funktion f(a,b,c,...) der darin in Beziehung<br />
gesetzten Stücke a, b, c, ... der Figur.<br />
Das Prinzip der Kontinuität spricht dann<br />
nichts anderes aus, als dass eine analytische<br />
Funktion, die längs eines noch so kleinen<br />
Stückes ihres Bereiches verschwindet, überhaupt<br />
Null ist." (Klein 1928, 82)<br />
Schon zu Kleins Zeiten war allerdings deutlich,<br />
dass diese Sicht von Geometrie zahlreiche<br />
elementargeometrische Sachverhalte<br />
<strong>und</strong> Beweise nicht erfasst, <strong>—</strong> nämlich insbesondere<br />
die, welche auf Lageverhältnissen<br />
beruhen:<br />
• Z.B. der Umfangwinkelsatz lässt sich nicht<br />
mehr wie gewohnt darstellen, weil die<br />
Voraussetzung, dass ein Punkt auf einem<br />
101
Thomas Gawlick<br />
Kreisbogen liegt, nicht als Gleichung formuliert<br />
werden kann.<br />
• Ebenso wenig lässt sich der bekannte<br />
(fehlerhafte) Beweis, dass alle Dreiecke<br />
gleichschenklig sind, in dieser Sprache<br />
untersuchen, da sie keinen Ausdruck dafür<br />
hat, ob ein Punkt inner- oder außerhalb<br />
eines Dreiecks liegt.<br />
In der Arbeit (Gawlick 2002) wurden weitere<br />
Aberrationen der "Cinderella"-Geometrie gezeigt.<br />
Ein lehrreiches Beispiel wird auch in<br />
Teil II. genauer analysiert.<br />
Darüber hinaus weiß man heute, dass es<br />
aber auch Sätze gibt, die <strong>im</strong> Komplexen<br />
falsch werden, ohne dass sie auf solchen<br />
Lagebezeichnungen beruhen, z.B. der folgende<br />
Satz (MacLane):<br />
Seien A0, ..., A7 Punkte mit Ai+3∈AiAi+1 für<br />
i=0,…,7 (alle Indizes mod 8). Dann sind<br />
A0, ..., A7 kollinear.<br />
Dies merkt man allerdings in der Regel nicht,<br />
da eine solche Konfiguration sich mit "Cinderella"<br />
wohl nur <strong>im</strong> Reellen erstellen lässt (sollte<br />
dem Leser dennoch ein Trick zur Realisierung<br />
einer nichtkollinearen komplexen Mac-<br />
Lane-Konfiguration in "Cinderella" einfallen,<br />
möge er dies dem Vf. mitteilen!). Wer sich<br />
auf die (ohnehin nur probabilistisch) von<br />
"Cinderella" verifizierte Zugfestigkeit dieser<br />
Aussage verlässt, erliegt also einem kategorialen<br />
Irrtum!<br />
Auf diesem Hintergr<strong>und</strong> stellt sich die Frage,<br />
ob die von Klein propagierte Auffassung der<br />
Elementargeometrie als komplex-analytische<br />
Geometrie nicht doch zu kurz greift. Und ein<br />
historischer Rückblick zeigt, dass diese Kalkülisierung<br />
des Prinzips auch keineswegs so<br />
zwangsläufig ist, wie Klein es nahe legt: Eine<br />
Theorie <strong>im</strong>aginärer (Schnitt-) Punkte, die für<br />
die Dynamische Geometrie natürlich benötigt<br />
wird, lässt sich ja nämlich auch rein synthetisch<br />
betreiben, wie von Staudt (1856) gezeigt<br />
hat. Aber auf diese Weise vermeidet<br />
man natürlich ebenso wenig das in Kap. I.1<br />
geschilderte Dilemma. Hier offenbart sich,<br />
dass die didaktisch scheinbar so nutzbringende<br />
Konkretisierung vorgestellter Veränderungen<br />
durch reale Bilder in gewissem Sinne<br />
den Teufel mit dem Beelzebub austreibt, weil<br />
die Fülle der mit ihr erzeugten Bilder so recht<br />
auf keinen theoretischen Begriff mehr zu<br />
bringen ist. Nahe gelegt wird diese Sicht der<br />
Dinge u.a. von den prophetischen Worten eines<br />
historischen Protagonisten des Ponceletschen<br />
Kontinuitätsprinzips:<br />
"Die alte Geometrie strotzt von Figuren.<br />
Das Raisonnement darin ist einfach. ...<br />
Man hat aber die Unbequemlichkeit dieser<br />
102<br />
Verfahrungsart erfahren durch die<br />
Schwierigkeit der Construction gewisser<br />
Figuren <strong>und</strong> durch die Complication, welche<br />
das Verständnis mühsam <strong>und</strong> beschwerlich<br />
macht. ... Man muss sich hiernach<br />
fragen, ob es nicht auch in der reinen<br />
<strong>und</strong> speculativen Geometrie eine Art<br />
des Raisonnements gäbe, wobei nicht<br />
beständig Figuren nöthig wären, deren<br />
wirkliche Unbequemlichkeit, selbst wenn<br />
die Konstruktion leicht ist, doch <strong>im</strong>mer<br />
darin besteht, den Geist zu ermüden <strong>und</strong><br />
die Gedanken zu hemmen." (Chasles<br />
1839)<br />
Selbst wenn eine DGS für sich in Anspruch<br />
nehmen könnte, das Ponceletsche Kontinuitätsprinzip<br />
getreuer als andere zu realisieren<br />
<strong>—</strong> gemäß einer definitiven Lesart, die freilich<br />
<strong>im</strong>mer noch zu ermitteln bliebe! <strong>—</strong>, wäre damit<br />
noch keineswegs der Intention dieses<br />
Prinzips entsprochen, das offenbar doch ersonnen<br />
wurde, um sich von der Vielfältigkeit<br />
konkreter Figuren nicht den Blick verstellen<br />
zu lassen.<br />
Es ist in diesem Zusammenhang sehr bemerkenswert,<br />
dass sowohl Leibniz als auch<br />
Poncelet sich zwar ausführlichst über die philosophische<br />
Begründung des Kontinuitätsprinzips<br />
äußern, die Anwendung auf konkrete<br />
Situationen aber stets nur knapp <strong>und</strong> vage<br />
beschreiben. Insbesondere verlieren beide<br />
nach Kenntnis des Vf. kein einziges Wort<br />
darauf, die Schwierigkeit in Kap. I.1 (oder<br />
ähnlich s<strong>im</strong>plen Situationen) auch nur anzudeuten,<br />
geschweige denn aufzulösen. Dennoch<br />
wäre sie sicherlich diesen Geistesgrößen<br />
(aber auch ihren Nachfolgern) nicht entgangen;<br />
<strong>—</strong> wenn sie sich denn einer solch<br />
konkreten Betrachtung figürlicher Veränderung<br />
überhaupt unterzogen hätten. Hierfür<br />
fehlte ihnen aber doch wohl weniger das<br />
rechte Werkzeug als vielmehr das Bedürfnis!<br />
Bei Leibniz gibt es i.W. überhaupt nur ein<br />
geometrisches Beispiel: die bewegte Variation<br />
eines Kegelschnitts. Er kommt dabei zur<br />
Herleitung von Tangenteneigenschaften<br />
auch auf das Verhalten von Schnittpunkten<br />
zu sprechen: "Nun kann die den Kreis<br />
schneidende Gerade so bewegt werden,<br />
dass sie mehr <strong>und</strong> mehr aus diesem heraustritt<br />
<strong>und</strong> sich die Schnittpunkte mehr <strong>und</strong><br />
mehr einander nähern, bis sie schließlich<br />
koinzidieren, in welchem Fall die Gerade den<br />
Kreis verlässt <strong>und</strong> zur Tangente wird" (Leibniz<br />
1687 & 1996, 192f). Dieses Verhalten<br />
wird auf Kegelschnitte übertragen: "Wenn<br />
deshalb die Gerade den Kreis berührt, wird<br />
auch die Projektion der Geraden den zugehörigen<br />
Kegelschnitt tangieren. Auf diese
Weise lässt sich eines der Haupttheoreme<br />
über Kegelschnitte beweisen, ohne Umschweife<br />
<strong>und</strong> Aufwand von Figuren, auch<br />
nicht für jeden Kegelschnitt besonders, sondern<br />
ganz allgemein, durch bloße geistige<br />
Anschauung." Leibniz spricht also <strong>im</strong>mer nur<br />
von "zwei Punkten", ohne sie zu unterscheiden;<br />
<strong>—</strong> <strong>und</strong> da er sie "durch bloße geistige<br />
Anschauung" nur zusammen-, aber nicht<br />
wieder auseinanderlaufen lässt, braucht er<br />
auch nicht genauer betrachten, wie sie sich<br />
dabei ggf. unterscheiden lassen, <strong>—</strong> <strong>und</strong> ob<br />
überhaupt! Ganz genauso spricht Poncelet<br />
angesichts der Verwandlung einer Geraden<br />
in eine Kreistangente <strong>im</strong>mer nur von einem<br />
"System von Punkten"; <strong>—</strong> <strong>und</strong> auch bei ihm<br />
wird die umgekehrte Bewegung nicht angesprochen.<br />
Schon <strong>im</strong> Vorfeld der Veröffentlichung von<br />
Poncelets Kontinuitätsprinzips kam es jedoch<br />
auch zu Zweifeln an seiner Gültigkeit: Cauchy<br />
sprach 1820 in seinem "Rapport à l'académie<br />
des sciences... sur un mémoire ... par<br />
M. Poncelet" nur von einer "induction forte"!<br />
Aus der so begonnenen Auseinandersetzung<br />
um die Rechtfertigung des Kontinuitätsprinzips<br />
(<strong>und</strong> durch persönlichen Querelen aufgr<strong>und</strong><br />
von Prioritätsstreitigkeiten!) erwuchs<br />
ein recht fruchtbar wirkender Gegensatz von<br />
synthetischer <strong>und</strong> analytischer Geometrie,<br />
der schließlich in von Staudts rein synthetischer<br />
Auffassung gipfelte, wie man dem lesenswerten<br />
Aufsatz von Fano (1903–1915)<br />
entn<strong>im</strong>mt. Dagegen scheiterte der Versuch<br />
von Schubert (1879), das algebraische Kontinuitätsprinzip,<br />
die o.a. Problematik durch<br />
Reduktion allein auf den quantitativen Aspekt<br />
als "Prinzip von der Erhaltung der Anzahl" zu<br />
retten:<br />
Kohn (1902) führt eine Anzahl von Gegenbeispielen<br />
auf <strong>und</strong> schließt mit dem vernichtenden<br />
Urteil: "Das Schubertsche Prinzip von<br />
der Erhaltung der Anzahl als Prinzip mathematischer<br />
Beweisführung ist krank, unheilbar<br />
krank sogar in gewissem Sinne; allein als<br />
heuristisches Prinzip von allzeit frischer Kraft<br />
wird es fortleben in der Wissenschaft." Und<br />
schließlich führte sogar Hilbert (1900) in seiner<br />
berühmten Liste ungelöster Probleme als<br />
Nr. 15 die "Strenge Begründung von Schuberts<br />
Abzählungskalkül" auf, was er wie folgt<br />
begründete: "Wenn auch die heutige Algebra<br />
die Durchführbarkeit der El<strong>im</strong>inationsprocesse<br />
<strong>im</strong> Princip gewährleistet, so ist zum Beweise<br />
der Sätze der abzählenden Geometrie<br />
erheblich mehr erforderlich, nämlich die<br />
Durchführung der El<strong>im</strong>ination bei besonders<br />
geformten Gleichungen in der Weise, daß<br />
der Grad der Endgleichungen <strong>und</strong> die Vielfachheit<br />
ihrer Lösungen sich voraussehen<br />
Konstruktion <strong>und</strong> Kontinuität in der Dynamischen Geometrie<br />
läßt." Die Lösung dieses Problems durch van<br />
der Waerden u.a. <strong>im</strong> Rahmen der gr<strong>und</strong>legenden<br />
Neugestaltung der Algebraischen<br />
Geometrie in der ersten Hälfte des vorigen<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts erfordert ganz andersartige<br />
Begriffe <strong>und</strong> Methoden; <strong>—</strong> sie lässt dementsprechend<br />
von der ursprünglichen Fragestellung<br />
kaum noch etwas erahnen ... Von dem<br />
Versuch, die anschauliche Fragestellung aus<br />
Kap. I.1 in diese so ganz andersartige Sprache<br />
zu übersetzen, soll hier abgesehen werden;<br />
<strong>—</strong> selbst wenn es darauf dort auch eine<br />
Antwort geben mag, ist doch deren Rückübersetzbarkeit<br />
fraglich, sicherlich aber wenig<br />
erhellend.<br />
I.4 Cinderellas Behandlung von<br />
Ausnahmesituationen<br />
Um die funktionentheoretische Interpretation<br />
von (KP) zu realisieren, verwenden die Autoren<br />
von "Cinderella" noch eine weitere wesentliche<br />
Idee:<br />
Ausnahmesituationen werden durch Abänderung<br />
des Weges vermieden.<br />
Konkret bedeutet das:<br />
Die Bewegung des unabhängigen Elements<br />
u wird in einer Serie u0, u1, ..., un von Stützstellen<br />
repräsentiert, die sich z.B. aus der<br />
Position des Mauszeigers zu verschiedenen<br />
Zeitpunkten ergeben. Diese Stützstellen sind<br />
nun durch stetige Wege zu verbinden. Dabei<br />
machen die Autoren von "Cinderella" jedoch<br />
zwei wesentliche Einschränkungen:<br />
- Punkte dürfen nur linear verb<strong>und</strong>en werden.<br />
- Umwege dürfen nur auf komplex-lineare<br />
Wegen in einer Koordinate vorgenommen<br />
werden.<br />
Vgl. dazu Abb. 8 aus Richter-Gebert (o.J.).<br />
Die Homogenität dieser Darstellung lässt<br />
leicht übersehen, dass gerade die zweite<br />
Einschränkung sehr wesentlich ist: Denn sie<br />
erfolgt keineswegs nur, um Ausnahmesituationen<br />
möglichst zu vermeiden sondern überhaupt<br />
bei jeder Bewegung: "'Cinderella' erzeugt<br />
für je zwei aufeinander folgende Stützstellen<br />
einen quasi-linearen Weg, bei dem<br />
der Kontrollparameter durchs Komplexe<br />
führt" (Kortenkamp & Richter-Gebert 2001).<br />
Mit anderen Worten: "Cinderella" führt nie die<br />
visualisierte reelle Bewegung aus, <strong>—</strong> selbst<br />
dann nicht, wenn diese bereits linear ist: hat<br />
etwa <strong>im</strong> Musterfall der Anwender die Bewegung<br />
von E durch A so modelliert, dass E auf<br />
einer Geraden durch A bewegt wird, so wird<br />
be<strong>im</strong> Ziehen nicht diese Bewegung ausge-<br />
103
Thomas Gawlick<br />
führt, sondern durch eine Sequenz komplexer<br />
Kreisbögen zwischen den Interpolationspunkten<br />
des Mauszeigers ersetzt.<br />
All dies könnte als nachrangiges Implementationsdetail<br />
hier unerwähnt bleiben, <strong>—</strong> wenn<br />
es denn eines wäre! Dazu müsste aber gesichert<br />
sein, dass diese Ersetzung jeder<br />
durchgeführten Bewegung durch einen komplexen<br />
Umweg tatsächlich nichts Wesentliches<br />
verändert oder höchstens verbessert.<br />
Das sollte bedeuten:<br />
• War die Ersetzung "unnötig" (keine Ausnahmesituation<br />
auf dem Weg des Benutzers),<br />
kommt Dasselbe heraus, wie wenn<br />
nicht ersetzt wird.<br />
• War die Ersetzung "nötig" (Ausnahmesituation<br />
auf dem Weg), ist dieser Vergleich<br />
nicht möglich, daher sollte gelten:<br />
A) Für die Ersetzung gibt es <strong>im</strong> Wesentlichen<br />
nur eine Möglichkeit.<br />
B) Bei der vorgenommenen Ersetzung<br />
sollte Dasselbe herauskommen wie<br />
bei anderen Umwegen, <strong>—</strong> d.h.: durch<br />
stetige Verformung des Ersetzungsweges<br />
sollen die Zugfiguren ineinander<br />
überführbar sein, also (sD) erfüllen:<br />
Genau das ist aber Beides nicht der Fall:<br />
A) Wie wir sehen werden, gibt es eine<br />
geometrisch naheliegende Variante<br />
der Ersetzungsstrategie; <strong>—</strong> reelle statt<br />
komplexe Umwege! <strong>—</strong> die zu einem<br />
abweichenden Ergebnis führt,<br />
B) <strong>im</strong> Fall der Zweikreisfigur zeigt sich,<br />
dass der von Cinderella gewählte komplexe<br />
Umweg (sD) verletzt.<br />
Wir weisen zunächst B) nach: Der obstruierte<br />
Weg ut wird in einer ε-Umgebung der Ausnahmestelle<br />
t=1/2 durch ein komplexes<br />
Kreisbogenstück u't(ε) ersetzt. Für ε→0 gilt<br />
dann u't(ε)→u (Abb. 9). Wenn sich die Wege<br />
u't(ε) der unabhängigen Punkte hochheben<br />
104<br />
Abb. 8<br />
x<br />
Im_x<br />
A E<br />
lassen zu stetigen Wegen a't(ε) der abhängigen<br />
Punkte <strong>und</strong> diese Wege für ε→0 ebenfalls<br />
gegen einen Weg a' konvergieren, lässt<br />
sich dieser Folgengrenzwert in sinnvoller<br />
Wiese als Ersatz für die Hochhebung des<br />
obstruierten Weges ut verwenden. Und definitionsgemäß<br />
gilt dann a'(ε)→a', so dass wenigsten<br />
für diese Folge (sD) erfüllt ist:<br />
u'(ε) � a'(ε)<br />
↓ ε→0 ↓<br />
u � a'<br />
Wie sieht es aber mit anderen Wegen aus?<br />
Dazu folgt die Best<strong>im</strong>mung von a' <strong>im</strong> Beispiel.<br />
Für ε=1/2 zeigt Abb. 10 die Abänderung<br />
von ut durch u't(ε). Der Einfachheit halber<br />
rechnen wir <strong>im</strong> Folgenden aber nur mit<br />
ε=1. <strong>—</strong> Bei der Bewegung des Punktes E<br />
von u0=E0=(1,0) nach u1=E1=(-1,0) wird dann<br />
y<br />
F<br />
Abb. 9<br />
ε→ 0<br />
<strong>im</strong>_x<br />
u'(ε)<br />
A u<br />
Abb. 10<br />
E<br />
1<br />
x
die "quasi-lineare" Verbindung ut=Et=<br />
(1-2t, 0), t=0,...,1, ersetzt durch den "quasilinearen"<br />
Weg u't mit u'0=u0, u'1=u1, aber<br />
u't∉R für t≠0, 1. Der Einfachheit halber betrachten<br />
wir hier u't=(x't,y't)=(cos(πt)+i·sin(πt),<br />
0), t=0,...,1. (Dieser Weg erfüllt übrigens <strong>im</strong><br />
Gegensatz zu dem a.a.O., 138, betrachteten<br />
Weg die Definition von "quasi-linear" mit<br />
komplexem Kontrollparameter!)<br />
Der abhängige Punkt a=F ist eine der beiden<br />
Lösungen des Gleichungssystems<br />
x²+y²=1<br />
(x-1)²+y²=1<br />
Längs des abgeänderten Weges u't wird a<br />
stetig durch den Punkt at=F't fortgesetzt, wobei<br />
die Koordinaten (x,y) von at jeweils<br />
x²+y²=1<br />
(x-x't)²+(y-y't)²=1<br />
erfüllen. Erst durch die Stetigkeitsforderung<br />
ist at eindeutig best<strong>im</strong>mt. Man rechnet nach,<br />
dass für a0=(1/2, 1/2· 2 )=F tatsächlich a1=<br />
(-1/2, 1/2· 2 )=Fo entsteht. Für ε→0 folgt daher:<br />
a' ist die bereits in Kap. I.1 betrachtete<br />
Hochhebung von u zu der stetigen Fortsetzung<br />
von F durch Fo.. Unsere Berechnung<br />
st<strong>im</strong>mt also mit dem von "Cinderella" gezeigten<br />
Ergebnis überein. Wir wissen aber bereits,<br />
dass diese Fortsetzung nicht als<br />
Grenzwert der linearen Abänderung des Zugweges<br />
entsteht, die ja auch möglich sein soll.<br />
Daher ist (sD) verletzt, also B) gezeigt.<br />
y<br />
u 0 (ε)<br />
ε→ 0<br />
A u<br />
E<br />
Nun zu A): Vom geometrischen Standpunkt<br />
aus ist es einfacher <strong>und</strong> anschaulicher, die<br />
Ausnahmesituation ut=Et=A für t=1/2 nicht<br />
durch einen komplexen, sondern durch einen<br />
reellen Umweg zu umgehen. Statt eines<br />
Halbkreises in C nehme man einen in R 2 :<br />
u o t=(cos(πt), sin(πt)), t=0,...,1.<br />
Die Bewegung von E längs dieses Weges<br />
kann man mit jedem DGS selbst nachvollziehen<br />
<strong>und</strong> sich davon überzeugen, dass a o t<br />
dabei E o 0=E0 nach E o 1=FU überführt.<br />
Es bietet sich also an, E1 (die nicht definierte<br />
Fortsetzung längs ut) als E o 1 zu definieren<br />
<strong>und</strong> entsprechend auch at:=Et:=(1/2–t,<br />
sign(1/2–t)· 1–(1/2-t) 2 Abb. 11<br />
) für t≠1/2. Dieser Weg<br />
ist stetig auf seinem Definitionsbereich, wenn<br />
auch nicht stetig fortsetzbar nach t=1/2.<br />
x<br />
1<br />
Konstruktion <strong>und</strong> Kontinuität in der Dynamischen Geometrie<br />
Insbesondere entsteht bei dieser reellen Ersetzung<br />
eine andere Fortsetzung als zuvor,<br />
diesmal nämlich die "lückenhafte" Fortsetzung<br />
von F durch Fu. Damit ist A) gezeigt.<br />
Aber mehr noch:<br />
C) Die reelle Ersetzung erfüllt (sD).<br />
Denn sie hat die folgende angenehme Eigenschaft:<br />
Ist u n<br />
t irgendein Weg der unabhängigen<br />
Elemente mit u n<br />
t→ut für n→∞, so<br />
gilt auch a n<br />
t→at. Es gilt also:<br />
u n<br />
t � a n<br />
t<br />
↓ n→∞ ↓<br />
ut � at<br />
Der Weg at ist also zwar selbst nicht stetig<br />
erweiterbar, erfüllt aber die nächsthöhere<br />
Kontinuitätseigenschaft (sD). Insgesamt folgt<br />
aus A), B) <strong>und</strong> C) der angekündigte<br />
Ausschließungssatz: (sD) <strong>und</strong> (sE) sind<br />
unvereinbare Prinzipien der Dynamischen<br />
Geometrie.<br />
Denn natürlich lässt sich die reelle Abänderung<br />
des Weges stetig in die komplexe deformieren<br />
(Abb. 12). Aber diese Deformation<br />
lässt sich nicht auf die Wege der abhängigen<br />
Punkte hochheben: Denn <strong>im</strong> Beispiel erfüllt<br />
ja die reelle Ersetzung (sD), aber nicht (sE).<br />
Bei der komplexen Ersetzung ist es umgekehrt:<br />
sie erfüllt (sE), aber nicht (sD). Daher<br />
können diese beiden Zugfiguren nicht stetig<br />
ineinander überführbar sein, wie man mit einem<br />
CAS nachrechnen kann (Abb. 13):<br />
I.5 Diskussion<br />
Abb. 12<br />
U 0 � A 0<br />
↓ ↓<br />
U' � A'<br />
u 0 (ε)<br />
A E<br />
Nach Auffassung des Vf. kann sich die in<br />
Kap. I.4 verwendete reelle Ersetzungsstrategie<br />
mit gleichem Recht auf Poncelets Kontinuitätsprinzip<br />
stützen wie die komplexe.<br />
Nach der Diskussion auf der Tagung in Dillingen<br />
hat jedoch Herr Kortenkamp einge-<br />
sD<br />
105
Thomas Gawlick<br />
106<br />
Abb. 13<br />
u0 a<br />
(ε)<br />
sD<br />
0 (ε)<br />
x<br />
A E<br />
u'(ε)<br />
a'(ε)<br />
wandt, diese Anwendung von (KP) sei unzulässig:<br />
Die Bewegung von E durch A dürfe<br />
nur durch einen linearen Weg beschrieben<br />
<strong>und</strong> dieser daher nur durch einen rein-<strong>im</strong>aginären,<br />
nicht etwa durch einen reellen Weg<br />
ersetzt werden. Dazu ist folgendes zu sagen:<br />
• Die von uns in Kap. I.1 gewählte freie<br />
Beweglichkeit der Punkte E <strong>und</strong> A dürfte<br />
doch wohl eher dem entsprechen, was<br />
vor dem geistigen Auge eines unvoreingenommenen<br />
Betrachters abläuft, als eine<br />
wie <strong>im</strong>mer begründete Einschränkung<br />
durch Linearisierung <strong>und</strong> Koordinatisierung.<br />
• Formal könnte man das so begründen:<br />
Die Fragestellung "Wie verhält sich F bei<br />
Bewegung von E durch A?" gehört zunächst<br />
einmal zur synthetischen Dynamischen<br />
Geometrie als möglicher Erweiterung<br />
der statischen Euklidischen Geometrie:<br />
Hier ist zu fragen, welche zusätzlichen<br />
Axiome die anschaulichen Vorstellungen<br />
vom Verhalten bewegter Punkte<br />
adäquat beschreiben; <strong>—</strong> <strong>und</strong> solche Vorstellungen<br />
treten ja explizit schon <strong>im</strong> Originalbeweis<br />
von Euklids Proposition I,2<br />
auf! Damit dürfte aber auch klar sein,<br />
dass von Anfang <strong>—</strong> zumindest von Euklid!<br />
<strong>—</strong> an eine Beschränkung auf lineare Bewegungsmöglichkeiten<br />
nicht gedacht war.<br />
Es müsste also erst noch dargelegt werden,<br />
aus welcher späteren Entwicklungslinie<br />
eine solche Beschränkung herrühren<br />
<strong>und</strong> wie sie gerechtfertigt werden sollte.<br />
• Im Sinne der kinematischen Geometrie<br />
würde man die Bewegung der Punkte in<br />
obiger Fragestellung adäquat mittels stetiger<br />
Wege beschreiben; <strong>—</strong> so dürfte es<br />
wohl auch Leibniz verstanden haben. Der<br />
Schritt von stetigen zu linearen Wegen ist<br />
aber natürlich groß <strong>und</strong> auch nicht dadurch<br />
zu rechtfertigen, dass er etwa zu<br />
stärkeren Aussagen führt (s.u.).<br />
• Erst nach einer Koordinatisierung <strong>und</strong><br />
Komplexifizierung des Anschauungsraums<br />
leuchtet die von Herrn Kortenkamp<br />
nahegelegte Einschränkung ein: dann<br />
wird die Bewegung von E durch A nämlich<br />
durch einen reell-differenzierbaren Weg in<br />
einem komplex-eind<strong>im</strong>ensionalen Gebilde<br />
beschrieben. Und erst auf solche Wege<br />
lässt sich dann die klassische Funktionentheorie<br />
in der von Klein beschriebenen<br />
Weise anwenden.<br />
Deutlich wurde aber bereits in Kap. I.4, dass<br />
diese Vorgehensweise auf wesentlichen Einschränkungen<br />
basiert, die nicht aus der Fragestellung<br />
zu rechtfertigen sind; <strong>—</strong> das konzedieren<br />
<strong>im</strong> Gr<strong>und</strong>e auch "Cinderellas" Autoren:<br />
"Es mag zunächst befremdlich erscheinen,<br />
dass in der Definition von Kontinuität lediglich<br />
das Verhalten auf quasi-linearen <strong>und</strong><br />
nicht auf quasi-stetigen Wegen als Eingangsvariation<br />
berücksichtigt wird. Würde die Definition<br />
aber auf allgemeinen quasi-stetigen<br />
Wegen aufbauen, so könnten wir nicht erwarten,<br />
dass es überhaupt nicht-triviale kontinuierliche<br />
formale DGS gibt" (Kortenkamp &<br />
Richter-Gebert 2001, 133). Wir teilen jedoch<br />
nicht den <strong>im</strong>pliziten Umkehrschluss, dass<br />
sich dies durch Einschränkung auf quasilineare<br />
Wege abwenden lässt! Denn man<br />
überlegt sich leicht, dass das nicht zu einer<br />
Verbesserung der Antwort führen kann: Bekanntlich<br />
lässt sich jede stetige reelle Funktion<br />
auf einem abgeschlossenen Intervall<br />
gleichmäßig durch Polynome approx<strong>im</strong>ieren<br />
(Satz von Stone-Weierstraß). Und jedes Polynom<br />
kann auf einem Intervall durch hinreichend<br />
viele Stützstellen gleichmäßig gut<br />
durch stückweise quasi-lineare Funktionen<br />
interpoliert werden. Wendet man beides zusammen<br />
auf die Komponenten eines quasistetigen<br />
Weges an, sieht man, dass man ihn<br />
gleichmäßig durch quasi-lineare Wege approx<strong>im</strong>ieren<br />
kann. Jedes Stetigkeitsresultat<br />
für quasi-lineare Wege lässt sich daher auf<br />
quasi-stetige Wege übertragen.<br />
Umgekehrt lässt sich auf diesem Hintergr<strong>und</strong><br />
vermuten, dass sich die begrüßenswerte Absicht,<br />
"man kann aber auch a priori best<strong>im</strong>mte<br />
Qualitätsmerkmale axiomatisch fordern<br />
<strong>und</strong> auf mathematischer Basis zeigen, dass<br />
eine best<strong>im</strong>mte Modellierung diesen Qualitätsansprüchen<br />
genügt, <strong>—</strong> oder zeigen, dass<br />
es eine solche Modellierung nicht geben<br />
kann" (Kortenkamp & Richter-Gebert 2001,<br />
124), für den selbst gestellten Anspruch,<br />
Zugfiguren max<strong>im</strong>al stetig zu erweitern <strong>und</strong><br />
zugleich stetig zu verformen, nur in der letztgenannten<br />
negativen Hinsicht erfüllen lässt:<br />
Entgegen dem ersten Augenschein ist nicht<br />
nur "Cinderella" offenbar nicht in der Lage,<br />
zugleich (sD) <strong>und</strong> (sE) zu realisieren, <strong>—</strong> sondern<br />
wohl überhaupt kein DGS.
I.6 Fazit<br />
Die Autoren von "Cinderella" beantworten die<br />
einleitenden Fragen nach dem korrekten<br />
Verhalten von DGS <strong>im</strong> Zugmodus auf folgende<br />
neuartige Weise:<br />
(1) Stetigkeit ist <strong>im</strong> Sinne einer funktionentheoretischen<br />
Interpretation des<br />
Ponceletschen Kontinuitätsprinzips zu<br />
verstehen.<br />
(2) Stetigkeit ist durch geeignete Veränderung<br />
des "Zug-Weges" zu erreichen.<br />
Wir haben gesehen: Die Antwort auf (1) kann<br />
auch durchaus anders ausfallen; <strong>—</strong> <strong>und</strong> dafür<br />
gibt es aus mathematischen <strong>und</strong> historischen<br />
Gründen auch ganz gute Argumente.<br />
Und diese alternative Antwort lässt sich auch<br />
geometrisch realisieren, wenn man sich die<br />
Antwort auf (2) zueigen macht, aber nicht<br />
einseitig auf eine Interpretation verengen<br />
lässt.<br />
II. Geometrie <strong>—</strong> mit dem<br />
dynamischen Lineal<br />
Der Zug-Modus von "Cinderella" zeigt interessante<br />
Phänomene; <strong>—</strong> wie sie zustande<br />
kommen, ist aber für (viele) Schüler <strong>und</strong> (einige)<br />
Lehrer nicht leicht zu verstehen <strong>und</strong><br />
lässt sich auch nicht so ohne weiteres aus<br />
einfachen Antworten auf klare Fragen ableiten.<br />
Daher bietet es sich an, weniger nach<br />
der DGS mit dem "richtigen" Zugmodus zu<br />
suchen, sondern vielmehr nach der passenden<br />
Art, das gesuchte Zug-Verhalten einer<br />
Figur konstruktiv zu erzeugen.<br />
II.1 Die Notwendigkeit, den dynamischen<br />
Konstruktionsbegriff<br />
zu restrukturieren<br />
Man betrachte dazu folgendes Beispiel:<br />
Durch Ziehen an den Ecken des Dreiecks<br />
kann man entdecken, dass sich die Winkelhalbierenden<br />
stets <strong>im</strong> Inkreismittelpunkt I<br />
schneiden. Die "Cinderella"-Version dieser<br />
Konstruktion erlaubt eine überraschende Variante:<br />
zieht man B durch A, bewegt sich I allerdings<br />
manchmal aus dem Dreieck heraus<br />
(Abb. 14).<br />
Offenbar läuft ein solches Verhalten dem Ziel<br />
der interaktiven Satzfindung völlig zuwider<br />
<strong>und</strong> wirft <strong>im</strong> geometrischen Einführungsunterricht<br />
der Sek<strong>und</strong>arstufe I erhebliche didaktische<br />
Probleme auf. Nun könnte man meinen,<br />
dass es sich dabei um nichts anderes<br />
Konstruktion <strong>und</strong> Kontinuität in der Dynamischen Geometrie<br />
Abb. 14<br />
als einen offenbaren Software-Fehler handelt;<br />
<strong>—</strong> warum also nicht einfach "Cinderella"<br />
debuggen? Es lässt sich aber zeigen (Gawlick<br />
2001), dass das nicht möglich ist: dieses<br />
Verhalten ist eine mathematisch notwendige<br />
Konsequenz der Stetigkeit! Angesichts<br />
der Dichotomie von Stetigkeit <strong>und</strong> Determinismus<br />
könnte dieser schwer kontrollierbare<br />
Seiteneffekt stetigen Verhaltens für unterrichtliche<br />
Zwecke die Wahl eines deterministischen<br />
Systems als vorteilhaft erscheinen<br />
lassen, <strong>—</strong> aber wie wir gleich sehen werden,<br />
liegt die Sache noch etwas komplizierter:<br />
Was ist der Ort I des Inkreismittelpunkts I eines<br />
gleichschenkligen Dreiecks ABC, wenn<br />
C den Kreis durch B um A durchläuft? Eine<br />
Konstruktion von I mittels "Euklid" liefert eine<br />
Ortskurve mit einer Singularität, bei der es<br />
sich scheinbar um eine Spitze handelt.<br />
Abb. 15<br />
Warneke (2001) hat jedoch erläutert, wie<br />
man mittels elementarer Trigonometrie eine<br />
Parameterdarstellung für I erhält, aus der<br />
man dann durch algebraische Umformungen<br />
à la Pythagoras eine Gleichung für I gewinnen<br />
kann. Der Gleichung zufolge ist die Kurve<br />
vom Typ der Strophoide; <strong>—</strong> der singuläre<br />
Punkt muss also ein Doppelpunkt sein!<br />
Durch Plotten der Kurve bemerkt man, dass<br />
der geometrische Ort nur ein Teil des alge-<br />
107
Thomas Gawlick<br />
braischen Orts ist: man erhält nur den Teil<br />
der Kurve, der sich <strong>im</strong> Innern des Kreises befindet.<br />
Dies widerspricht der gewohnten Auffassung<br />
der Cartesischen Korrespondenz,<br />
wonach jeder geometrisch erzeugte Ort sich<br />
in Koordinaten als Nullstellenmenge einer<br />
geeigneten, zumeist algebraischen Gleichung<br />
beschreiben lässt.<br />
Man ist zunächst versucht zu folgern, dass<br />
das kontinuierliche Verhalten von "Cinderella"<br />
hier ein didaktischer Vorteil ist, da es den<br />
gesamten Ort zu erzeugen erlaubt (Abb. 16).<br />
Aber der Preis, den man dafür zahlen muss,<br />
lautet: Akzeptiere, dass der Inkreismittelpunkt<br />
I sich bei jedem zweiten Durchlauf aus<br />
dem Dreieck ABC herausbewegt!<br />
Im Gr<strong>und</strong>e wird durch das stetige Verhalten<br />
von "Cinderella" hier auch eine Kontinuität<br />
der Konstruktion vorgetäuscht, die so nicht<br />
gegeben ist: offenbar hört I ja "unterwegs"<br />
auf, der Inkreismittelpunkt des Dreiecks zu<br />
sein; <strong>—</strong> aber was repräsentiert I denn dann?<br />
Be<strong>im</strong> Ziehen wird ja die Innen- stetig in die<br />
Außenwinkelhalbierende überführt, I wird also<br />
zum Ankreismittelpunkt!<br />
An der Stelle wird deutlich, dass derartige<br />
Phänomene allein durch die Wahl der Zug-<br />
Strategie nicht zufriedenstellend geklärt werden<br />
können, sondern dass ein neuer Begriff<br />
von Konstruktion erforderlich ist: Eine dynamische<br />
Konstruktion hat offenbar einen Gültigkeitsbereich,<br />
der sowohl von der Lage der<br />
Ausgangspunkte als auch von ihrer "Geschichte"<br />
abhängt. Dafür gibt es in der statischen<br />
Geometrie keine Parallele.<br />
Auf der Basis des gewohnten Konstruktionsbegriffs<br />
lässt sich die obige Schwierigkeit jedoch<br />
ebenfalls beheben; <strong>—</strong> wenn man die<br />
gewohnte Konstruktion der Strophoide durch<br />
eine Linealkonstruktion ersetzt, wird auch<br />
von deterministischen DGS die ganze Ortslinie<br />
erzeugt!<br />
108<br />
Abb. 16<br />
II.2 Dynamische Linealkonstruktionen<br />
Gewöhnlich beschreibt man die Mächtigkeit<br />
eines Zeichengeräts durch die Menge der mit<br />
ihm konstruierbaren Punkte. Dann gilt bekanntlich<br />
(Bieberbach 1952) der<br />
Satz: Die Koordinaten der mit dem Lineal<br />
konstruierbaren Punkte sind genau die, die<br />
sich durch rationale Ausdrücke in den Koordinaten<br />
der gegebenen Punkte beschreiben<br />
lassen.<br />
Ein neues Element tritt jedoch<br />
dann hinzu, wenn man<br />
die Beweglichkeit der gegebenen<br />
Punkte zu erfassen<br />
sucht.<br />
Variiert ein Punkt P auf einer<br />
Geraden, sind seine Koordinaten<br />
lineare Funktionen eines<br />
Parameters t, die wir mit diesem<br />
halbfreien Punkt identifizieren<br />
können. Ein Punkt Q,<br />
der aus P <strong>und</strong> weiteren festen<br />
Punkten allein mit Hilfe des Lineals<br />
konstruiert ist, hat Koordinaten,<br />
die rationale Funktionen<br />
von t sind. Die Ortslinie von Q bei Variation<br />
von P nennen wir dynamisches Linealkonstrukt.<br />
Den bekannten Satz über die<br />
Konstruierbarkeit mit dem Lineal können wir<br />
daher so dynamisieren.<br />
Satz über dynamische Linealkonstrukte:<br />
Die dynamischen Linealkonstrukte<br />
sind genau die Ortslinien, für die es eine<br />
rationale Parameterdarstellung gibt.<br />
Überraschend ist nun, wie groß die Klasse<br />
der Ortlinien mit diesen beiden äquivalenten<br />
Eigenschaften ist; <strong>—</strong> zunächst einmal erweist<br />
sich der Kreis als dynamisches Linealkonstrukt:<br />
Dies haben wir in (Gawlick 2004a) auf<br />
dreierlei Art sowohl algebraisch als auch geometrisch<br />
gezeigt. Am einfachsten zugänglich<br />
ist wohl folgende Anwendung der Umkehrung<br />
des Satzes von Thales: Sind P <strong>und</strong><br />
Q diametrale Punkte des Kreises k <strong>und</strong><br />
durchläuft R eine von PQ verschiedene Gerade<br />
g, so durchläuft der Schnittpunkt S von<br />
PR <strong>und</strong> des Lots aus Q auf PR den Kreis, <strong>—</strong><br />
der umgekehrt so mit dem Lineal allein rekonstruiert<br />
werden kann (vgl. Abb. 17)!<br />
Aber auch die algebraische Zugangsweise<br />
vermittelt wertvolle Einsichten: Für den Beweis<br />
der obigen Sätze überlegt man sich ja,<br />
dass sich mit Hilfe des Lineals alle vier<br />
Gr<strong>und</strong>rechenarten geometrisch realisieren<br />
lassen. Zur konkreten Durchführung der in<br />
(Gawlick 2004a) erläuterten Konstruktionen
P<br />
R<br />
Abb. 17<br />
ist schon <strong>im</strong> Fall des dynamischen Linealkreises<br />
die Verfügbarkeit von Makros praktisch<br />
unerlässlich. Auf diese Weise kommt es<br />
<strong>im</strong> Geometrieunterricht dann einmal zu der<br />
oft als Ziel angestrebten Restrukturierung einer<br />
Konstruktion durch Zusammenfassung<br />
ganzer Sequenzen von Konstruktionsschritten<br />
zu einem neuen Ganzen. Aber auch inhaltlich<br />
weist dieser Zugang weit über den<br />
Kreis hinaus: zu den rational parametrisierbaren,<br />
also mit dem Lineal konstruierbaren<br />
Kurven gehören nämlich insbesondere die<br />
Ortslinien des Höhenschnittpunkts <strong>und</strong> der<br />
Mittelpunkte von Um- <strong>und</strong> in einigen Fällen<br />
auch Inkreis (Gawlick (2004b). Dieser algebraische<br />
Sachverhalt wirft geometrische Fragen<br />
auf: Lassen sich denn auch Mittelsenkrechten,<br />
Höhen <strong>und</strong> Winkelhalbierende allein<br />
mit dem Lineal konstruieren? Das würde<br />
überraschen, da sie ja auf metrischen Eigenschaften<br />
wie "senkrecht" oder "halbierend"<br />
basieren. Diese sind allein mit Linealkonstruktionen<br />
nicht zu realisieren; <strong>—</strong> aber es ist<br />
möglich, sie in der Menge der Startpunkte zu<br />
kapseln:<br />
Abb. 18<br />
Denn man kann aus ihnen die Koordinatenachsen<br />
<strong>und</strong> den Ursprung U konstruieren<br />
<strong>und</strong> hat auf diesen je zwei Punkte mit Mittelpunkt.<br />
Zu einer solchen Geraden AB kann<br />
man aber die Parallele durch einen gegebenen<br />
Punkt F ziehen, wenn man noch über einen<br />
weiteren Punkt R auf AF verfügt, von<br />
dessen Existenz man sich jeweils vorher<br />
überzeugen muss: Ist E der Mittelpunkt von<br />
S<br />
Q<br />
g<br />
Konstruktion <strong>und</strong> Kontinuität in der Dynamischen Geometrie<br />
A <strong>und</strong> B, D = ER∩BF <strong>und</strong> G = AD∩BR, dann<br />
gilt AB⎟⎜FG (vgl. Abb. 18).<br />
Auf das Parallelenziehen kann man die meisten<br />
elementargeometrischen Konstruktionen<br />
zurückführen (vgl. Gawlick 2004b):<br />
II.3 Die Elementargeometrie als<br />
Linealgeometrie<br />
Mit einem Parallelenlineal sind fast alle<br />
Gr<strong>und</strong>aufgaben lösbar:<br />
Senkrechte zu einer Geraden g durch U: g<br />
schneide die x-Achse in Q. Die Parallele zu<br />
x1y1 durch P schneide die x-Achse in P', die<br />
durch Q schneide die y-Achse in PQ'. P'Q' ist<br />
das Spiegelbild von g = PQ an der ersten<br />
Winkelhalbierenden. Sei P" der Schnittpunkt<br />
der Parallelen durch P' <strong>und</strong> Q' zu den Koordinatenachsen.<br />
Dann steht UP" senkrecht<br />
auf g (vgl. Abb. 19).<br />
g<br />
Q'<br />
P<br />
y1<br />
U<br />
P''<br />
x1 P'<br />
Q<br />
Abb. 19<br />
Senkrechte zu g durch einen beliebigen<br />
Punkt R: Diese erhält man als Parallele zu<br />
der eben konstruierten Senkrechten durch<br />
den Punkt R.<br />
Mittelpunkt M = MP(A,B) der Punkte A <strong>und</strong><br />
B: Sei C ein Punkt außerhalb von AB <strong>und</strong> D<br />
ein Punkt auf der Parallelen zu AB durch C.<br />
Sei E = AC∩BD <strong>und</strong> F = AD∩BC. Aufgr<strong>und</strong><br />
der harmonischen Eigenschaften des vollständigen<br />
Vierseits ist dann M = AB∩EF (vgl.<br />
Abb. 20 <strong>und</strong> Bieberbach 1952).<br />
Mittelsenkrechte MS(A,B) der Punkte A <strong>und</strong><br />
B: Dies ist natürlich die Senkrechte auf AB in<br />
M.<br />
Seitenhalbierende <strong>und</strong> Höhen des Dreiecks<br />
ergeben sich entsprechend. Folglich sind<br />
auch Umkreismittelpunkt, Schwerpunkt<br />
<strong>und</strong> Höhenschnittpunkt des Dreiecks schon<br />
allein mit dem Lineal konstruierbar! Dabei<br />
haben wir gesehen, dass man nicht nur, wie<br />
üblich, das Parallelenziehen auf das Lotfällen<br />
zurückführen kann, sondern auch umgekehrt.<br />
Der Einfachheit halber bietet es sich aber an,<br />
109
Thomas Gawlick<br />
ein Lineal zu benutzen, mit dem man, wie<br />
gewohnt, Senkrechte konstruieren kann.<br />
110<br />
A M<br />
B<br />
C<br />
F<br />
E<br />
D<br />
Abb. 20<br />
Welche Konsequenzen zieht nun die Durchführbarkeit<br />
der meisten elementargeometrischen<br />
Konstruktionen mit dem Lineal allein<br />
nach sich? Dass man auf den Zirkel weitgehend<br />
verzichten kann, ist ja nichts Neues; <strong>—</strong><br />
schon Steiner zeigte, dass sich die üblichen<br />
Konstruktionen allein mit dem Lineal <strong>und</strong> einem<br />
festen Kreis durchführen lassen. Hier<br />
liegen die Dinge etwas anders: DGS kann ja<br />
in Makros eine Vielzahl von Konstruktionsschritten<br />
zu einem einzigen zusammenfassen;<br />
<strong>—</strong> dadurch ist es möglich, die effektive<br />
Durchführbarkeit von Linealkonstruktionen<br />
wesentlich zu erhöhen. Die Benutzung einer<br />
DGS entspricht also der Verwendung eines<br />
Rechtwinkellineals, das nicht nur Geraden<br />
zeichnen kann, sondern auch Lote fällen: Mit<br />
dem Rechtwinkellineal lassen sich außer<br />
dem Winkelhalbieren alle elementargeometrischen<br />
Konstruktionen fast ebenso effizient<br />
ausführen wie mit dem Zirkel. In diesem Sinn<br />
gilt also:<br />
Die Elementargeometrie ist eine (Rechtwinkel-)<br />
Linealgeometrie!<br />
Man beachte dabei: Die Mächtigkeit des<br />
Rechtwinkellineals ist nicht größer als die<br />
des gewöhnlichen, sofern die Startpunkte die<br />
metrischen Daten enthalten; <strong>—</strong> aber es erhöht<br />
die praktische Durchführbarkeit von Linealkonstruktionen.<br />
Was bedeutet diese Einsicht für die Nutzung<br />
von DGS? Auf der positiven Seite gilt: Viele<br />
Konstruktionen lassen sich durchführen, ohne<br />
auf mehrdeutige Operationen wie den<br />
Schnitt mit Kreisen oder das Halbieren von<br />
Winkeln zurückgreifen zu müssen. Das beschränkt<br />
die Auswirkungen des stetigen Verhalten<br />
einer DGS. Das Rechtwinkellineal liefert<br />
stets eindeutige Ergebnisse; <strong>—</strong> daher<br />
lässt sich damit die Stetigkeitsproblematik<br />
umschiffen. Sie tritt nur auf, wenn sich die<br />
Verwendung von Winkelhalbierenden nicht<br />
vermeiden lässt; <strong>—</strong> aber in manchen Fällen<br />
ist dennoch sogar die Ortslinie des Inkreismittelpunkts<br />
mit dem Lineal konstruierbar:<br />
II.4 Linealisierung der Strophoide<br />
Aufgr<strong>und</strong> der Charakterisierung der Linealkurven<br />
als rationale Kurven muss es eine Linealkonstruktion<br />
der Strophoiden geben (die<br />
Rationalität liest man aus ihrer Gleichung ab,<br />
vgl. Gawlick 2004c). Insbesondere ist diese<br />
dann mit deterministischen DGS durchführbar.<br />
Offenbar erhält man dabei aber als geometrischen<br />
Ort nur den <strong>im</strong> Innern von k liegenden<br />
Teil der Kurve, wenn man verlangt,<br />
dass I der Schnittpunkt von Innenwinkelhalbierenden<br />
ist <strong>—</strong> <strong>und</strong> bleibt: dann muss nämlich<br />
die Winkelhalbierende in B be<strong>im</strong> Passieren<br />
von C durch B um 90° springen. (Verhält<br />
sie sich demgegenüber stetig, so verlassen<br />
bei dieser Bewegung die Winkelhalbierende<br />
wB <strong>und</strong> der Inkreismittelpunkt das Dreieck!)<br />
Es ist daher nötig, wB <strong>und</strong> I anders zu interpretieren.<br />
Nur so erhält man die ganze<br />
Strophoide als Ortslinie einer deterministischen<br />
DGS, etwa durch folgende Konstruktion:<br />
Man lässt β = ∠ABC/2 die Bewegung<br />
der Figur steuern, indem man die Winkelhalbierende<br />
um B dreht, <strong>—</strong> etwa durch Bewegung<br />
des Zugpunktes Z auf einem Kreis um<br />
B (Abb. 21). wA ist lineal-konstruierbar als<br />
MS(B,C). I ergibt sich als Schnitt von wA <strong>und</strong><br />
wB. Mit einer Linealkonstruktion des Trägerkreises<br />
von Z ist die Linealkonstruktion der<br />
Strophoide komplett!<br />
wB<br />
II.5 Ausblick<br />
C<br />
γ<br />
α<br />
A<br />
I<br />
Abb. 21<br />
Z<br />
β<br />
Geben wir nun abschließend dem Studium<br />
der lineal-konstruierbaren Kurven seine theoretische<br />
Abr<strong>und</strong>ung: Eine Kurve ist, wie gesagt,<br />
genau dann mit dem Lineal konstruierbar,<br />
wenn sie rational ist, also eine rationale<br />
Parameterdarstellung besitzt. Das ist zunächst<br />
einmal eine gute Eigenschaft: Für rationale<br />
Kurven lassen sich effektiv Gleichungen<br />
ermitteln <strong>und</strong> Schnittpunkte exakt berechnen.<br />
Damit sind sie für jegliche Art professioneller<br />
geometrischer Datenverarbeitung<br />
das geeignete Terrain. Im Computer Aided<br />
Design (CAD) ist sogar der Begriff "Parametrisierung"<br />
mittlerweile synomyn zu "rati-<br />
A'<br />
B
onale Parametrisierung", da diese offenbar<br />
die einzig praktisch verwendbaren darstellen.<br />
Auch <strong>im</strong> Hinblick auf eine Integration symbolisch-algebraischer<br />
Methoden in die Arbeitsweise<br />
von DGS sind die Linealkurven also<br />
der adäquate Gegenstand.<br />
Es gibt aber auch problematische Auswirkungen:<br />
Damit Rationalität vorliegt, muss<br />
aufgr<strong>und</strong> der erwähnten Plücker-Formel eine<br />
Kurve umso singulärer sein, je höher ihr<br />
Grad ist. Damit handelt man sich systematisch<br />
Phänomene des Typs ein, dass eine<br />
Kurve eigentlich Singularitäten hat, die aber<br />
nicht sichtbar sind, da komplex oder unendlich<br />
fern; <strong>—</strong> <strong>und</strong> dennoch beeinflussen sie<br />
die sichtbare Geometrie. Bestes Beispiel dafür<br />
sind wohl die Höhenschnittpunktskurven<br />
(vgl. Gawlick 2000, 2001c!)<br />
Hier ist also etwas Theorie nötig <strong>und</strong> hilfreich,<br />
um mit dynamischen Figuren sachgerecht<br />
umgehen zu können. Und wer in der<br />
am Beispiel der Strophoide gezeigten Art die<br />
Konstruktion nicht nur einer Kurve, sondern<br />
einer ganzen Kurvenklasse restrukturiert, betreibt<br />
ja globales Ordnen <strong>im</strong> Sinne Freudenthals;<br />
<strong>—</strong> <strong>und</strong> das ist die höchste Stufe des<br />
geometrischen Denkens, die allerdings auf<br />
der Schule oft nicht (mehr) erreicht wird ...<br />
Derartige Überlegungen werfen aber neues<br />
Licht auf den Hintergr<strong>und</strong> der Schulgeometrie<br />
<strong>und</strong> sind daher hilfreich für die Lehreraus<strong>und</strong><br />
-weiterbildung, aber auch <strong>im</strong> Kontext der<br />
Begabtenförderung: Denn aus der Reflexion<br />
der Phänomene erwachsen Einsichten, die<br />
weit über die Schulgeometrie hinaus zu aktuellen<br />
Themen der mathematischen Forschung<br />
weisen können. Dies gibt Begabten<br />
die Möglichkeit, ihr Potential zu erproben <strong>und</strong><br />
einen möglichen zukünftigen Tätigkeitsbereich<br />
zu erk<strong>und</strong>en.<br />
Literatur<br />
Bieberbach, Ludwig (1952): Theorie der geometrischen<br />
Konstruktionen. Basel: Birkhäuser<br />
Chasles, Michel (1839 & 1968): Geschichte der<br />
Geometrie. Wiesbaden: Sändig, Nachdruck<br />
Elschenbroich, Hans-Jürgen, Thomas Gawlick &<br />
Wolfgang Henn (Hrsg.) (2001): Zeichnung –<br />
Figur – Zugfigur. Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker<br />
Fano, G. (1903–1915): Gegensatz von synthetischer<br />
<strong>und</strong> analytischer Geometrie. In: Encyclopädie<br />
der mathematischen Wissenschaften,<br />
Band III, 1. Leipzig: Teubner<br />
Gawlick, Thomas (2000): Die Ortslinie des Höhenschnittpunktes.<br />
Einführende didaktische <strong>und</strong><br />
mathematische Bemerkungen. Vechtaer fachdidaktische<br />
Forschungen <strong>und</strong> Berichte, Heft 3.<br />
Vechta: Institut für Didaktik, 43–54<br />
Konstruktion <strong>und</strong> Kontinuität in der Dynamischen Geometrie<br />
Gawlick, Thomas (2001a): Über einige Prinzipien<br />
der Dynamischen Geometrie. In: Beiträge zum<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht 2001. Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker,<br />
213–216<br />
Gawlick, Thomas (2001b): Zur Mathematischen<br />
Modellierung des Dynamischen Zeichenblatts.<br />
In: Elschenbroich u.a. (2001), 55–67<br />
Gawlick, Thomas (2001c): Exploration reell algebraischer<br />
Kurven mit DGS. In: Elschenbroich,<br />
Gawlick & Henn (2001), 69–76<br />
Gawlick, Thomas (2002): Dynamic Notions for<br />
Dynamic Geometry. In: Manfred Borovcnik &<br />
Hermann Kautschitsch (Hrsg.) (2002): Proceedings<br />
of ICTMT 5. Plenary Lectures and<br />
Strands. Wien: öbv & hpt, 297–300<br />
Gawlick, Thomas (2004a): Dynamische Konstruierbarkeit<br />
des Kreises allein mit dem Lineal.<br />
In Praxis der <strong>Mathematik</strong> 3, 126–129<br />
Gawlick, Thomas (2004b): Dynamische Linealkonstruktionen<br />
von Ortslinien der besonderen<br />
Punkte des Dreiecks. In: Der <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
50, Heft 4, 31–37<br />
Gawlick, Thomas (2004c): Dynamische Linealkonstruktionen<br />
höherer Kurven. In: Der <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
50, Heft 4, 38–50<br />
Hilbert, David (1900): Mathematische Probleme.<br />
Göttinger Nachrichten mathematisch-physikalische<br />
Klasse 3, 253–297<br />
Hölzl, Reinhard (1999): Qualitative Unterrichtsstudien<br />
zur Verwendung dynamischer Geometrie-<br />
Software. Augsburg: Wissner<br />
Klein, Felix (1928): Vorlesungen über die Entwicklung<br />
der <strong>Mathematik</strong> <strong>im</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Berlin:<br />
Springer<br />
Kohn, Gustav (1902): Über das Prinzip von der<br />
Erhaltung der Anzahl. In: Archiv für <strong>Mathematik</strong><br />
<strong>und</strong> Physik 4, 312–316<br />
Kötter, Ernst (1901): Die Entwickelung der synthetischen<br />
Geometrie. DMV Jahresbericht 5.<br />
Leipzig: Teubner<br />
Kortenkamp, Ulrich & Jürgen Richter-Gebert<br />
(2001): Gr<strong>und</strong>lagen dynamischer Geometrie.<br />
In: Elschenbroich u.a. (2001), 123–144<br />
Leibniz, Gottfried (1687 & 1996): Ein allgemeines<br />
Prinzip, das nicht nur in der <strong>Mathematik</strong>, sondern<br />
auch in der Physik von Nutzen ist. In: T.<br />
Leinkauf (1996): Leibniz. München: Diederichs<br />
Richter-Gebert, Jürgen (o.J.): Das komplexe Verhalten<br />
geometrischer Objekte. http://<br />
www-m10.ma.tum.de/~richter/Papers/HTML/<br />
ComplexityIssues_dt/S_50_Continuitaet.html<br />
Schubert, H. (1879): Kalkül der abzählenden Geometrie.<br />
Leipzig: Teubner<br />
von Staudt, G. C. C. (1856): Beiträge zur Geometrie<br />
der Lage. Nürnberg: Bauer & Raspe<br />
Warneke, Klaus (2001): Mit dynamischer Geometrie-Software<br />
zu algebraischen Kurven. In: Der<br />
mathematische <strong>und</strong> naturwissenschaftliche<br />
Unterricht 54, 81–83<br />
Zeuthen, H. G. (1903–1915): Abzählende Methoden.<br />
In: Encyclopädie der mathematischen<br />
Wissenschaften, Band III,2,1. Leipzig: Teubner<br />
111
� Ein Java-Applet zur Eingabe <strong>und</strong> Überprüfung<br />
mathematischer Terme<br />
1 Einleitung<br />
Schlägt man ein beliebiges Algebra-Buch<br />
auf, stößt man nahezu zwangsläufig auf sogenannte<br />
"Aufgaben-Plantagen". Das Durcharbeiten<br />
<strong>im</strong> herkömmlichen Stil (ein Schüler<br />
rechnet vor, die anderen schreiben von der<br />
Tafel ab <strong>—</strong> oder noch schl<strong>im</strong>mer: der Lehrer<br />
rechnet vor, um "Zeit zu sparen") führt bei<br />
unserer medien-verwöhnten Schülerschaft<br />
schnell zu Langeweile. Der Spruch "Wenn alles<br />
schläft <strong>und</strong> einer spricht, das Ganze<br />
nennt man Unterricht", ist schon alt. Manche<br />
Kollegen lockern den Unterricht mit Gruppenarbeit<br />
auf, oder sie verpacken die Algebra-Aufgaben<br />
in Spielchen <strong>und</strong> verkaufen<br />
das Ganze als "Freiarbeit". Zu Recht wird eine<br />
neue Schwerpunktsetzung in der<br />
Aufgabenkultur gefordert.<br />
Wie dem auch sei, auf Übungsphasen als<br />
Anwendung der Theorie wird man bei keinem<br />
Unterrichtsstil verzichten können. Es genügt<br />
nicht, den Schülern die Vorzeichen-Rechenregeln<br />
bei der Multiplikation nur mitzuteilen<br />
(oder herzuleiten) <strong>—</strong> man muss sie einüben<br />
<strong>—</strong> mit mehr als zwei Faktoren, mit Variablen,<br />
mit Abgrenzung von den Rechenregeln für<br />
die Addition, mit Wiederholung des Bruchrechnens<br />
usw. Bei solchen Übungsphasen<br />
ist es wünschenswert, den Großteil der<br />
Schüler aus der Passivität des bloßen Abschreibens<br />
von der Tafel herauszuholen.<br />
Möglichst viele Schüler sollten den Aufgaben-F<strong>und</strong>us<br />
gleichzeitig unabhängig voneinander<br />
bearbeiten können <strong>und</strong> unmittelbar eine<br />
Rückmeldung in der Form "richtig/falsch"<br />
erhalten. Diesem Ziel kommen die Freiarbeits-Aufgaben<br />
der ALP Dillingen (Lippert et<br />
al. 1999) sehr nahe. Sie bieten Aufgaben auf<br />
der Vorderseite <strong>und</strong> Lösungen zur Selbstkontrolle<br />
auf der Rückseite. Eine Umsetzung<br />
112<br />
Rudolf Großmann, Stein<br />
Das hier vorgestellte Java-Applet erlaubt einerseits die Darstellung (Ausgabe) von Termen<br />
mit Brüchen, Wurzeln <strong>und</strong> Funktionen auf HTML-Seiten, andererseits die Eingabe<br />
eines Terms <strong>und</strong> die Überprüfung auf Übereinst<strong>im</strong>mung mit einem vorgegebenen Lösungsterm.<br />
Dabei werden auch äquivalente Terme als Lösung akzeptiert. Als Anwendung<br />
können Übungsaufgaben auf Datenträger oder <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> bereitgestellt werden, bei<br />
denen der Schüler sofort eigenständig die Richtigkeit seines Ergebnisses überprüfen<br />
kann. Zur Erstellung solcher Übungsaufgaben sind nur gr<strong>und</strong>liegende HTML-Kenntnisse<br />
notwendig. Das Applet wird laufend fortentwickelt <strong>und</strong> kann zu Testzwecken über die<br />
Homepage des Autors [1] bezogen werden.<br />
dieses Konzeptes auf HTML-Basis ist mit<br />
den unten beschriebenen Java-Applets möglich.<br />
An unserer Schule müssten die Schüler noch<br />
in den (inzwischen gut ausgebuchten) Informatikraum<br />
umziehen, <strong>und</strong> es stünde nur ca.<br />
ein Rechner für zwei Schüler zur Verfügung.<br />
Wenn sich die Entwicklung der letzten Jahre<br />
auf dem Computer-Markt wie bisher fortsetzt,<br />
kann man vorausahnen, dass in einigen Jahren<br />
die Schüler mit dem (eigenen) Notebook<br />
<strong>im</strong> Unterricht ebenso umgehen wie heute mit<br />
dem Taschenrechner, noch dazu über Funk<br />
miteinander <strong>und</strong> mit dem <strong>Internet</strong> vernetzt.<br />
Man mag dieser Entwicklung durchaus kritisch<br />
gegenüberstehen, wie Clifford Stoll in<br />
seinem lesenswerten Buch "LogOut" (Stoll<br />
2001); <strong>—</strong> aufhalten wird man sie nicht. Wir<br />
müssen uns für das Zeitalter des Computer<br />
Aided Learning (CAL) rüsten.<br />
2 Das Trio der Formel-<br />
Applets<br />
2.1 Das Formelausgabe-Applet<br />
Es gibt viele Möglichkeiten, mathematische<br />
Formeln auf Seiten <strong>im</strong> <strong>WWW</strong> darzustellen.<br />
Zum Beispiel existiert mit MathML [2] ein<br />
HTML-Abkömmling speziell für die Darstellung<br />
mathematischer Inhalte <strong>im</strong> <strong>Internet</strong>. Leider<br />
verstehen nur einige spezielle Browser,<br />
z.B. Amaya [3] MathML. Hier wären die<br />
Browser-Hersteller <strong>—</strong> allen voran Microsoft<br />
<strong>—</strong> aufgefordert, endlich MathML-Unterstützung<br />
in ihre Browser zu integrieren.<br />
Mit "Hot Equation" [4] der Ruhr-Universität<br />
Bochum gibt es ein sehr leistungsfähiges
Applet, das TEX-Input in Formeln umsetzen<br />
kann.<br />
Schließlich kann man Formeln innerhalb eines<br />
Dokuments von MS Word mit dem Formel-Generator<br />
erstellen <strong>und</strong> das Dokument<br />
als HTML-Datei speichern. Die Formeln werden<br />
dann in Bitmap-Grafiken umgewandelt<br />
<strong>und</strong> an den entsprechenden Stellen <strong>im</strong> Text<br />
eingeb<strong>und</strong>en. Word erzeugt allerdings einen<br />
HTML-Code, der nur schwer von Hand nachzubearbeiten<br />
ist. Daher empfehle ich die letzte<br />
Methode nicht.<br />
Bei so vielen schon existierenden Möglichkeiten<br />
bräuchte man das Formelausgabe-<br />
Applet gar nicht. Es bietet jedoch den Vorzug<br />
eines einheitlichen Designs für die Eingabe<br />
<strong>und</strong> Ausgabe. Durch Anpassung der Hintergr<strong>und</strong>farbe<br />
an den Hintergr<strong>und</strong> der umgebenden<br />
HTML-Seite wird die rechteckige<br />
Applet-Begrenzung gleichsam unsichtbar.<br />
2.2 Das Formeleingabe-Applet<br />
Das Eingabe-Applet erlaubt neben der Verwendung<br />
der vier Gr<strong>und</strong>rechenarten die Eingabe<br />
von Klammern, Brüchen, Quadratwurzeln<br />
<strong>und</strong> der Funktionen sin, cos, tan, ln, lg<br />
<strong>und</strong> Betrag. So lange die Eingabe nicht abgeschlossen<br />
ist, ist der Hintergr<strong>und</strong> des<br />
Applets hellblau. Die Eingabe wird mit der<br />
Enter-Taste oder dem Drücken des optionalen<br />
OK-Knopfes abgeschlossen. Gleichungen<br />
können (noch) nicht eingegeben werden.<br />
Das Applet reagiert vorläufig mit Grünfärbung<br />
des Hintergr<strong>und</strong>es auf richtige Eingaben <strong>und</strong><br />
Abb. 1: Das Formelausgabe- <strong>und</strong> Eingabe-Applet<br />
Ein Java-Applet zur Eingabe <strong>und</strong> Überprüfung mathematischer Terme<br />
mit Orangefärbung auf falsche Eingaben. Alle<br />
Farben können mit in der HTML-Seite eingebettetem<br />
JavaScript-Code dem persönlichen<br />
Geschmack angepasst werden. Die<br />
Reaktionsfähigkeit soll in zukünftigen Versionen<br />
stark erweitert werden, so dass eine differenzierte<br />
Reaktion auf verschiedene Arten<br />
von Falscheingaben möglich ist, beispielsweise<br />
der Sprung zu anderen HTML-Seiten<br />
je nach Fehler-Art.<br />
Abbildung 1 zeigt ein Beispiel einer Übungsseite<br />
mit Ein- <strong>und</strong> Ausgabe-Applet.<br />
Das Eingabe-Applet kennt folgende Sondetasten:<br />
Taste Funktion<br />
Strg-W Wurzel<br />
Strg-B Bruchstrich<br />
Cursor hoch Exponent<br />
5½ wird wie folgt eingegeben: "5, Strg-B, 1,<br />
Cursor runter, 2". Das Eingabe-Applet erlaubt<br />
auch eine Ansteuerung mit beschrifteten<br />
Knöpfen als Eingabehilfe, so dass man sich<br />
die Sondertasten nicht merken muss.<br />
2.3 Das Editor-Applet<br />
Das Editor-Applet benötigt nur, wer selbst<br />
Übungsseiten mit Ein- <strong>und</strong> Ausgabe-Applets<br />
erstellen will, also z.B. der Lehrer als Autor<br />
von Übungsaufgaben, nicht der Schüler als<br />
Leser von Übungsaufgaben.<br />
Das Eingabe-Applet erscheint <strong>im</strong> HTML-<br />
Quellcode z.B. wie in Abb. 2.<br />
Der Term, den das Ausgabe-Applet darstellen<br />
soll, bzw. der<br />
Term, den das Eingabe-Applet<br />
als Lösung<br />
akzeptieren soll, wird<br />
dem Applet in Form<br />
eines Textes als Parameter<br />
übergeben (in<br />
Abb. 2 kursiv). Dieser<br />
Parameter stellt, hexadez<strong>im</strong>al<br />
codiert,<br />
den Term dar. Das<br />
Editor-Applet erzeugt<br />
als Output genau diesen<br />
Code-Text, der<br />
dann <strong>im</strong> HTML-Code<br />
der Übungsaufgabe<br />
eingebettet wird. Das<br />
klingt komplizierter,<br />
als es ist.<br />
113
Rudolf Großmann<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
114<br />
Abb. 2: HTML-Code des Eingabe-Applets<br />
Das Editor-Applet muss diesen Code-Text<br />
auf Festplatte speichern oder über die Zwischenablage<br />
exportieren können. Damit es<br />
das darf, wurde das Applet von mir digital<br />
signiert. Wird es geladen, muss der Benutzer,<br />
d.h. der Autor von Übungsseiten, ihm<br />
erst die Erlaubnis dazu erteilen (s. Abb. 3).<br />
Das ist eigentlich nichts Besonderes <strong>im</strong> Vergleich<br />
dazu, dass z.B. jedes Installationsprogramm<br />
unter Windows in der Regel beliebige<br />
Dateien anlegen <strong>und</strong> ausführen darf.<br />
Wer Vertrauen in Shareware unbekannten<br />
Ursprungs hat, kann auch dem Editor-Applet<br />
erlauben, seinen Formel-Code-Text in die<br />
Zwischenablage zu exportieren.<br />
3 Wieso gerade Java?<br />
3.1 Vorteile von Java<br />
3.1.1 Betriebssystem-Unabhängigkeit<br />
Java ist eine betriebssystem-unabhängige<br />
Programmiersprache, d.h. das gleiche Java-<br />
Abb. 3: Das Editor-Applet bekommt Schreibrechte<br />
Applet läuft unter Windows ebenso wie unter<br />
Linux oder auf einem Macintosh, vorausgesetzt,<br />
es steht, wie momentan üblich, ein<br />
Browser zur Verfügung, der Java unterstützt.<br />
3.1.2 Einbindung in HTML<br />
Durch die Einbindung des Applets in HTML<br />
stehen die vielfältigen Möglichkeiten der Seitengestaltung<br />
zur Verfügung, die HTML bietet.<br />
Die "Auslieferung" der Seiten kann über<br />
das <strong>Internet</strong> erfolgen.<br />
3.1.3 Erweiterbarkeit mit JavaScript<br />
Die Funktionalität (z.B. differenzierte Reaktion<br />
auf Falsch-Eingaben) kann durch die Bereitstellung<br />
geeigneter Schnittstellen mittels<br />
der Sprache JavaScript durch den Benutzer<br />
(Autor von Übungsseiten) erweitert werden,<br />
ohne dass dieser in Java programmieren<br />
muss. Verwechseln Sie JavaScript [5] nicht<br />
mit Java.<br />
3.2 Nachteile von Java<br />
3.2.1 Zeit- <strong>und</strong> Speicherprobleme<br />
Java hat den Ruf, langsam <strong>und</strong> speicherhungrig<br />
zu sein. Tatsächlich zeigt das Eingabe-Applet<br />
auf Rechnern älterer Bauart merkliche<br />
Reaktionszeiten auf Eingaben. Es läuft<br />
gut auf Rechnern ab ca. 500 MHz Taktfrequenz.<br />
Wenn die Entwicklung <strong>im</strong>mer schnellerer<br />
Prozessoren <strong>und</strong> der Preisverfall bei<br />
Arbeitsspeichern so weitergeht wie bisher,
dürfte diese Thematik kein Problem darstellen.<br />
3.2.2 Die falsche Java-Version?<br />
Bei der Verwendung von Java taucht manchmal<br />
folgendes Problem auf: Das Applet ist<br />
mit Version Y programmiert <strong>und</strong> kompiliert<br />
worden, der Browser des Benutzers, d.h. des<br />
Schülers, verwendet aber die ältere Java-<br />
Version X <strong>und</strong> findet ein paar Java-"Classes"<br />
nicht. An der Stelle des Applets bleibt der<br />
Bildschirm leer. Um diese Situation zu vermeiden,<br />
habe ich bei dem Aus- <strong>und</strong> Eingabe-<br />
Applet das "alte" Java 1.1.8 verwendet. Nur<br />
das Editor-Applet setzt eine neuere Java-<br />
Version (ab 1.3) voraus.<br />
3.2.3 Microsoft boykottiert Java<br />
Mit Windows XP wird als Standard-Browser<br />
ein <strong>Internet</strong> Explorer ausgeliefert, der kein<br />
Java unterstützt <strong>—</strong> passend zur Firmenpolitik<br />
Microsofts <strong>—</strong> ärgerlich für die Benutzer. Wer<br />
als Autor von Übungsaufgaben das Editor-<br />
Applet verwenden will, muss seinen Browser<br />
mit einer Java-Version 1.3 oder neuer ausstatten.<br />
Man kann sich hierzu die neueste<br />
Java-Version von SUN herunterladen [6]. Für<br />
unsere Zwecke genügt die "Java Runt<strong>im</strong>e<br />
Engine" (JRE). Sie ist für Windows ca.<br />
8 Megabyte groß. Nur wer selbst in Java programmieren<br />
will, braucht das "Java Development<br />
Kit" (JDK). Man kann alternativ auch<br />
auf den Begleit-CDs der aktuellen Computer-<br />
Fachzeitschriften nach den Browsern "Opera"<br />
oder "Mozilla" (Netscape-Nachfolger) suchen.<br />
Die Installationsprogramme dieser<br />
Browser installieren in der Regel Java mit<br />
<strong>und</strong> versorgen auch den Microsoft <strong>Internet</strong><br />
Explorer mit dem Java-Plugin von SUN.<br />
3.2.4 Speichern verboten?<br />
Das Sicherheits-Konzept von Java verhindert<br />
zunächst, dass Applets lesend oder schreibend<br />
auf die lokale Festplatte oder die Zwischenablage<br />
zugreifen. So wird verhindert,<br />
dass Java-Applets dazu missbraucht werden,<br />
bösartigen Code (Viren, Würmer, ...) be<strong>im</strong><br />
Surfen <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> einzuschleusen. Wie in 2.3<br />
beschrieben, muss der Benutzer des Editor-<br />
Applets erst zust<strong>im</strong>men, dass das von mir digital<br />
signierte Applet diese Rechte erhält. Damit<br />
die Rechte-Verwaltung klappt, ist, wie<br />
oben erwähnt, eine neuere Java-Version (ab<br />
1.3) nötig. Meine digitale Signatur könnte ich<br />
wiederum von einer Firma wie z.B. VeriSign<br />
signieren lassen, die dann dafür garantiert,<br />
dass die Signatur wirklich von mir stammt.<br />
Ein Java-Applet zur Eingabe <strong>und</strong> Überprüfung mathematischer Terme<br />
Das kostet allerdings nicht unerhebliche Gebühren,<br />
die nicht einmalig, sondern jährlich<br />
erhoben werden. Sie haben sicherlich Verständnis,<br />
dass ich eine Signatur verwende,<br />
die nicht von einer „Certification Authority“ signiert<br />
wurde.<br />
3.3 Pro <strong>und</strong> contra Java<br />
Resümee: Die Nachteile von Java lassen<br />
sich mit vertretbarem Aufwand alle überwinden.<br />
Die Vorteile überwiegen. Daher fiel meine<br />
Entscheidung zugunsten von Java als zu<br />
verwendender Programmiersprache für meine<br />
Zwecke.<br />
4 Zielgruppen für die<br />
Formel-Applets<br />
4.1 Der engagierte Mathelehrer<br />
Jeder interessierte Kollege kann sich bereits<br />
jetzt (September 2003) von meiner Homepage<br />
[1] eine Vorab-Version der drei Formel-<br />
Applets mit Beispielen herunterladen. Das<br />
Editor-Applet (nicht das Eingabe-Applet) hat<br />
einen eingeschränkten Funktionsumfang: Es<br />
erlaubt nicht die Eingabe von Quadratwurzeln<br />
<strong>und</strong> Funktionen. Man kann damit<br />
Übungsseiten erstellen, die einen Großteil<br />
der gymnasialen Applets Algebra bis zur<br />
8. Jahrgangsstufe abdecken.<br />
4.2 Der Schulbuch-Verlag<br />
So manches Übungsprogramm aus dem<br />
Edutainment-Sektor entspricht dem Schema<br />
"viel Verpackung, wenig Inhalt". Die Lernsoftware<br />
ist oft mult<strong>im</strong>edial mit An<strong>im</strong>ationen <strong>und</strong><br />
Sprachausgabe aufgepeppt. Die eigentlichen<br />
Übungen sind dann bessere Multiple-Choice-<br />
Tests, decken nur Arithmetik ab oder akzeptieren<br />
nur sture Lösungen in Texteingabe-<br />
Fenstern, sagen z.B. bei "a+b" "richtig", aber<br />
bei "b+a" "falsch".<br />
Bisher kenne ich nur zwei Titel mathematischer<br />
Lernsoftware, die einigermaßen flexibel<br />
auf die Eingaben der Schüler reagieren.<br />
Erstens: "Ali, der Mathemaster" (Heureka-<br />
Klett, 1998). "Ali" ist zwar schon alt; ihn gab<br />
es schon für den legendären Commodore<br />
C 64. Das Programm erlaubt aber sogar die<br />
Eingabe eigener Aufgaben, die es dann auf<br />
Wunsch vorrechnet!<br />
115
Rudolf Großmann<br />
Zweitens: Das "Telekolleg Algebra" aus dem<br />
Lernpaket "Mathe <strong>und</strong> Physik" des Franzis-<br />
Verlags teilt Ergebnisse nicht nur in "richtig"<br />
oder "falsch" ein, sondern kommentiert eine<br />
Eingabe auch mal mit "Das ist zwar richtig.<br />
Du kannst aber weiter vereinfachen". Eine<br />
Weiterentwicklung des Eingabe-Applets<br />
könnte in Verbindung mit JavaScript eine<br />
ähnliche Funktionalität bieten.<br />
Genau auf ein Schulbuch abgest<strong>im</strong>mte Begleitsoftware<br />
gibt es bereits <strong>im</strong> Fremdsprachenbereich<br />
(z.B. "Green Line" von Klett). Mit<br />
den Formel-Applets lassen sich Übungsseiten<br />
erstellen, die dementsprechend auf ein<br />
Algebra-Buch abgest<strong>im</strong>mt sind.<br />
Ähnlich wie bei einem Vokabel-Trainer könnte<br />
der Lernerfolg in einer Datenbank mitnotiert<br />
<strong>und</strong> grafisch aufbereitet dargestellt werden.<br />
Aufgabentypen mit vielen Fehlern werden<br />
häufiger, gut beherrschte Aufgaben seltener<br />
abgefragt.<br />
4.3 Die Fachdidaktik <strong>Mathematik</strong><br />
An der Universität Bayreuth wurde ein Java-<br />
Applet namens "GeoNeXt" entwickelt [7], mit<br />
dem man dynamische Geometrie betreiben<br />
kann, ähnlich wie mit "Euklid", "Cinderella",<br />
"Cabri Geometre" usw.<br />
Was "GeoNeXt" für die Geometrie leistet,<br />
könnte das Formel-Applet bei entsprechender<br />
Weiterentwicklung für die Algebra leisten.<br />
Denkbar wäre ein <strong>im</strong> Team entwickeltes mathematisches<br />
Lehrwerk, das auf CD oder<br />
über das <strong>Internet</strong> bereitgestellt wird.<br />
4.4 Last but not least <strong>—</strong> die<br />
Schüler<br />
Die Schüler benutzen nur Ein- <strong>und</strong> Ausgabe-<br />
Applets, basierend auf Java 1.1.8, so dass<br />
die Übungsseiten auch auf älteren Browsern<br />
dargestellt werden können.<br />
5 Die Zukunft der Formel-<br />
Applets<br />
5.1 Die endlose Geschichte<br />
Wann ist ein Programm fertig? Eigentlich nie.<br />
Wie lange gibt es "Word"? Und <strong>im</strong>mer noch<br />
erscheint beinahe jährlich eine neue Version.<br />
Und <strong>im</strong>mer noch stolpert es manchmal bei<br />
den Fußnoten.<br />
116<br />
Auch Hobby-Programmier-Projekte sind in<br />
der Gefahr, nie fertig zu werden. Zu oft haben<br />
Außenstehende Wünsche nach neuen<br />
"Features", die man dann aus Ehrgeiz versucht<br />
zu verwirklichen. Dabei vergisst man<br />
allzu oft, dass der Zeitaufwand für das Programmieren<br />
zu ca. 90 Prozent aus Fehlersuche<br />
besteht.<br />
5.2 Was noch verwirklicht wird<br />
Im Formeleingabe-Applet lassen sich mit der<br />
Backspace-Taste einzelne Variablen <strong>und</strong> Ziffern<br />
von Zahlen löschen, jedoch z.B. keine<br />
Rechenzeichen. Hat man sich so vertippt,<br />
dass die Struktur des Terms nicht st<strong>im</strong>mt,<br />
sollte man die ganze Formel mit der Entfernen-Taste<br />
löschen <strong>und</strong> neu mit der Eingabe<br />
beginnen. Das Eingabe-Applet ist in der gegenwärtigen<br />
Version noch zu wenig fehlertolerant<br />
gegen Fehleingaben, als dass es bereits<br />
für den Einsatz <strong>im</strong> harten Unterrichtsalltag<br />
taugen würde. (Stand: September 2003)<br />
Für die 10. Jahrgangsstufe fehlen noch Logarithmen<br />
zur allgemeinen Basis b <strong>und</strong> höhere<br />
Wurzeln.<br />
Der Definitionsbereich von Termen darf bisher<br />
nicht eingeschränkt sein.<br />
5.3 Was das Formel-Applet nie<br />
werden wird<br />
Das Formel-Applet wird nicht zu einem Computer-Algebra-System<br />
(CAS) wie "Mathematica",<br />
"Derive", "MuPAD" usw. ausgebaut<br />
werden. Es gibt schon genug CAS. Die Verwendung<br />
eines CAS in der Unter- <strong>und</strong> Mittelstufe<br />
ist auch didaktisch wenig sinnvoll, da<br />
die Einstiegshürden durch die spezielle Umgebung,<br />
Syntax usw. viel zu hoch sind. Außerdem<br />
wird zwar der Output in herkömmlicher<br />
Schreibweise (Bruchstriche, Wurzeln<br />
usw.) dargestellt, aber nicht der Input. Der<br />
geschieht meist in einer Textzeile <strong>und</strong> ist daher<br />
fremdartig <strong>im</strong> Vergleich zur Tafel-<br />
Schreibweise.<br />
5.4 Was noch verwirklicht werden<br />
könnte<br />
In loser Reihenfolge: Periodenstrich, Griechische<br />
Buchstaben, Konstante Pi, Grad, physikalische<br />
Einheiten, Gleichungen <strong>und</strong> Ungleichungen,<br />
Integralzeichen, Summenzeichen,<br />
Taste "EE" für Zehnerpotenzen, Indizes.
Sicher haben Sie noch ein paar Anregungen<br />
für mich.<br />
E-Mail: rudolf.grossmann@odn.de<br />
Literatur<br />
Lippert, Gerhard & Wolfram Thom (Hrsg.) (1999):<br />
Freies Arbeiten am Gymnasium, Band 2, Aka-<br />
<strong>Internet</strong><br />
[1] Testversion des Formel-Applets:<br />
www.users.odn.de/~odn22355/formelapplet<br />
www.fuemo.de/formelapplet<br />
[2] MathML Dokumentation (engl.):<br />
www.w3.org/Math/<br />
Informationen zu MathML (deutsch)<br />
www.formelbaska.com/deutsch/foba_mathml.html<br />
Ein Java-Applet zur Eingabe <strong>und</strong> Überprüfung mathematischer Terme<br />
demiebericht Nr. 330. Dillingen: Akademie für<br />
Lehrerfortbildung <strong>und</strong> Personalführung<br />
Neidhardt, Wolfgang & Thomas Oetterer (2000):<br />
Geonet … <strong>und</strong> die Geometrie lebt! Bamberg:<br />
Buchner<br />
Ostermann, Peter et al. (1998): Ali, der Mathemaster.<br />
Stuttgart: Heureka-Klett<br />
Stoll, Clifford (2001): LogOut. Frankfurt: Fischer<br />
Versch. Autoren (2001): Lernpaket Mathe & Physik.<br />
Poing: Franzis<br />
[3] Amaya Homepage (Browser mit MathML-Unterstützung):<br />
www.w3.org/Amaya/<br />
[4] Hot Equation Java-Applet<br />
www.esr.ruhr-uni-bochum.de/VCLab/software/HotEqn/HotEqn.html<br />
[5] Vergleich von JavaScript mit Java<br />
www.bluedom.de/bluedom/wissen_javascript.php<br />
[6] Java-Plugin von SUN:<br />
java.sun.com<br />
[7] GeoneXt Java-Applet <strong>und</strong> -Applikation:<br />
www.geonext.de<br />
117
� Echtzeit-Online-Fortbildungen für Lehrkräfte zum<br />
Thema: <strong>Mathematik</strong> mit grafischen Taschenrechnern<br />
<strong>und</strong> CAS<br />
Es hat einerseits noch nie ein so dringender<br />
Bedarf an Fort- <strong>und</strong> Weiterbildung bestanden<br />
wie gegenwärtig, um <strong>Mathematik</strong>lehrerinnen<br />
<strong>und</strong> -lehrer in neue Technologien wie grafische<br />
Taschenrechner, Taschencomputer mit<br />
einem CAS, Dynamische-Geometrie-Software<br />
<strong>und</strong> CAS für PCs einzuführen. Es liegt<br />
daher nahe, klassische Fort- <strong>und</strong> Weiterbildungsmaßnahmen<br />
zur Einführung in die beschriebenen<br />
Systeme durch internetbasierte<br />
Veranstaltungen zu ergänzen. Ich habe dazu<br />
ausgenutzt, dass das IQSH in Kiel (Schleswig-Holstein)<br />
seit einigen Jahren die Möglichkeit<br />
bietet, kostenlos Echtzeit-Online-Fortbildung<br />
für Lehrkräfte durchzuführen.<br />
Auf der von der Fa. Interwise angemieteten<br />
Plattform habe ich bisher ca. 40 Fortbildungen<br />
über den Einsatz von Taschencomputern<br />
mit CAS bzw. CAS auf PCs <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
abgehalten. Die Einheiten habe<br />
ich als Online-Workshops zu organisieren<br />
versucht, in denen Teilnehmer ähnlich wie in<br />
einer Präsenzveranstaltung meine Vorschläge<br />
auch sofort auf den eigenen PCs oder<br />
Handheld-Geräten erproben konnten. In diesen<br />
Veranstaltungen besteht eine Audio-Verbindung<br />
zwischen den Teilnehmern, <strong>und</strong> außerdem<br />
können Bildschirminhalte z.B. des<br />
Tutors allen sichtbar gemacht werden. Ziel ist<br />
es, Lehrkräften vorzuführen, wie neue Technologien<br />
(CAS, DGS, Handheld-Geräte mit<br />
CAS) <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht genutzt werden<br />
können.<br />
Um den Bedarf innerhalb der Lehrerschaft zu<br />
erfahren, wurde eine Online-Umfrage bei den<br />
Lehrkräften durchgeführt, die sich bereits<br />
mindestens einmal zu Präsenzfortbildungen<br />
gemeldet hatten <strong>und</strong> deren Email-Adressen<br />
deshalb bekannt waren. Der Fragebogen<br />
kann <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> unter<br />
118<br />
Karl-Heinz Keunecke, Kiel<br />
Das IQSH in Kiel stellt seit 2000 eine Plattform zur Verfügung, auf der es möglich ist, <strong>im</strong><br />
<strong>Internet</strong> innerhalb einer geschlossenen Gruppe gleichzeitig Sprache <strong>und</strong> Daten auszutauschen.<br />
Die Teilnehmer benötigen dafür lediglich ein 56k-Modem <strong>und</strong> ein Mikrofon.<br />
Diese Plattform wird seit ca. 2 Jahren genutzt, um <strong>Mathematik</strong>lehrkräfte in die Benutzung<br />
von CAS <strong>und</strong> Taschencomputer mit CAS <strong>im</strong> Unterricht einzuführen. Die Veranstaltungen<br />
finden in den Abendst<strong>und</strong>en statt <strong>und</strong> dauern etwa zwei St<strong>und</strong>en.<br />
http://zkl.uni-muenster.de/t3/Umfrage/<br />
umfrag1.htm<br />
abgerufen werden. Die Umfrage ist bisher sicherlich<br />
nicht repräsentativ wegen des kleinen<br />
Stichprobenumfanges (ca. 200 Antworten),<br />
<strong>und</strong> weil bereits 90% der Befragten<br />
neue Technologien in ihrem Unterricht gelegentlich<br />
oder regelmäßig einsetzen. Trotzdem<br />
besteht auch bei dieser Gruppe noch<br />
ein großer Bedarf an Fortbildungen bei allen<br />
nachgefragten Technologien. Das CAS Derive<br />
ist am häufigsten angegeben worden, darauf<br />
folgen CAS-Taschencomputer, <strong>und</strong> am<br />
wenigsten Hilfe wurde für grafische Taschenrechner<br />
angefordert.<br />
Nur wenige (13%) wollen nach einer Einführung<br />
in die Technologie auch noch eine umfassende<br />
Einführung in das Unterrichten mit<br />
der neuen Technologie. Die Antworten kann<br />
man so interpretieren, dass drei Viertel der<br />
Lehrkräfte nur eine Starthilfe benötigen <strong>und</strong><br />
dann nach Bedarf Angebote nutzen wollen.<br />
Diese sollten sich auf Literatur zu den neuen<br />
Technologien <strong>und</strong> auf überzeugende Unterrichtsbeispiele<br />
beziehen. Die meisten Lehrkräfte<br />
sind bereit, an Fortbildungen außerhalb<br />
der regulären Schulzeit teilzunehmen<br />
<strong>und</strong> auch für die Kosten für den <strong>Internet</strong>-Zugang<br />
aufzukommen. Die zeitliche Belastung<br />
durch die zusätzlichen Online-Fortbildungen<br />
ist für sie offensichtlich kritischer. Eine wöchentliche<br />
Teilnahme glauben nur 16% sich<br />
leisten zu können, während 55% eine 14tägige<br />
oder monatliche Frequenz wünschen.<br />
19% st<strong>im</strong>men einer Blockbildung zu. Fast<br />
65% der Lehrkräfte halten die Abendst<strong>und</strong>en<br />
von 18 bis 22 Uhr für Online-Fortbildungen<br />
für am besten geeignet. 11% der befragten<br />
Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen sind erfreulicherweise<br />
ihrerseits bereit, ihre bisherigen Erfahrungen<br />
mit den neuen Technologien auch in
Online-Fortbildungen an andere Lehrkräfte<br />
weiterzugeben.<br />
Als Ergebnis dieser Umfrage werden ab<br />
2004 vier bis sechs Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen<br />
regelmäßig Online-Fortbildungen für <strong>Mathematik</strong>lehrkräfte<br />
in den Abendst<strong>und</strong>en anbieten.<br />
Damit soll die Möglichkeit geboten<br />
werden, Angebote <strong>und</strong> Arbeitsunterlagen für<br />
ihren aktuellen Unterricht auszuwählen, die<br />
von erfahrenen Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen<br />
präsentiert werden. Der Veranstaltungskalender<br />
von "Fortbildung Online" kann bei<br />
http://www.lernnetz-sh.de/l3n/bildung1.html<br />
eingesehen werden.<br />
Echtzeit-Online-Fortbildungen zu grafischen Taschenrechnern <strong>und</strong> CAS<br />
Da die Teilnahme an den Online-Veranstaltungen<br />
freiwillig ist, loggen sich die Lehrkräfte<br />
nur ein, wenn sie sich davon einen Nutzen<br />
versprechen. Das Steigen der Teilnehmerzahlen<br />
deutet daraufhin, dass hier ein Weg<br />
gef<strong>und</strong>en wurde, um Lehrkräfte bei der<br />
Einführung neuer Technologien in der Schule<br />
zu unterstützen.<br />
Adresse des Autors:<br />
Dr. Karl-Heinz Keunecke<br />
Gorch Fock Str. 2<br />
24159 Kiel<br />
kh.keunecke@t-online.de<br />
119
� Exper<strong>im</strong>entieren <strong>und</strong> Publizieren<br />
1 Einleitung<br />
Dynamische Geometrie-Software ist inzwischen<br />
als dritte Säule des <strong>Mathematik</strong>unterrichts<br />
mit neuen Medien etabliert; sie wird unterstützt<br />
von CAS <strong>und</strong> Tabellenkalkulation.<br />
Die Grenzen zwischen den drei Säulen verschwinden<br />
zusehends, da die Ergebnisse,<br />
die mit einem Paket gewonnen wurden, auch<br />
mit den anderen weiterverwendet werden<br />
sollen.<br />
In diesem Artikel möchte ich auf Anwendungsszenarios<br />
von DGS <strong>und</strong> verwandter<br />
Software eingehen <strong>und</strong> sie einander gegenüberstellen.<br />
Dabei werden Lücken <strong>im</strong> derzeitigen<br />
Softwareangebot identifiziert, die wir<br />
über technische Erweiterungen einer DGS zu<br />
schließen vermögen. Die technische Umsetzung<br />
dieser Erweiterung bietet zudem neue<br />
Möglichkeiten für die empirische Forschung<br />
zum Einsatz von DGS <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />
2 Exper<strong>im</strong>entieren<br />
DGS stellt eigene Welten zum Exper<strong>im</strong>entieren<br />
<strong>und</strong> Forschen zur Verfügung. Die vielfältigen<br />
Möglichkeiten sind inzwischen bekannt<br />
<strong>und</strong> dokumentiert. Für den Unterrichtseinsatz<br />
existieren Sammlungen fertiger elektronische<br />
Arbeitsblätter; DGS hat einen festen Platz in<br />
vielen Lehr- <strong>und</strong> Rahmenplänen.<br />
Zu einem Zeitpunkt, wo die anfängliche Euphorie<br />
einer gewissen Routine gewichen ist,<br />
lohnt es sich, einen Blick zurück in die Anfänge<br />
des DGS-Einsatzes zu wagen, um<br />
fehlende Mosaiksteine aus der Vision zu identifizieren.<br />
120<br />
Ulrich Kortenkamp, Berlin<br />
In diesem Artikel werden zwei Erweiterungen Dynamischer Geometrie-Software (DGS)<br />
vorgestellt, die bisher vorhandene Lücken schließen <strong>und</strong> neue didaktische Impulse geben<br />
können. Zum einen wird die Unterstützung von Algorithmen in DGS <strong>und</strong> die Erweiterung<br />
durch selbst geschriebene Module beschrieben, wie sie bereits prototypisch in Cinderella<br />
<strong>im</strong>plementiert ist. Zum anderen wird CINErella vorgestellt, eine Kombination aus<br />
Interaktion <strong>und</strong> Film, die sich zum Beispiel für die Dokumentation von Forschungsarbeit<br />
mit der DGS eignet.<br />
2.1 Entwicklungsperspektive '91<br />
Schon 1991 zeigt Schumann eine Entwicklungsperspektive<br />
für plan<strong>im</strong>etrische Werkzeuge<br />
auf, die inzwischen durch eine Vielzahl<br />
von Systemen zum größten Teil umgesetzt<br />
wurde. Insbesondere zählt er die in den<br />
folgenden Abschnitten aufgeführten plan<strong>im</strong>etrischen<br />
Module auf:<br />
2.1.1 Konstruktionssystem (PKS)<br />
Dieses Modul ist das, was heutzutage den<br />
Kern einer DGS darstellt. Die meisten Systeme<br />
sind menü-gesteuert, es existieren aber<br />
auch kommandobasierte oder alternativ kommandobasierte<br />
System wie Geolog oder<br />
Z.u.L., um nur zwei frühe Vertreter zu nennen.<br />
Entscheidendes Merkmal dieser Systeme ist<br />
die Manipulation <strong>im</strong> Zugmodus, die das Exper<strong>im</strong>entieren<br />
<strong>im</strong> Sinne von "Was-wärewenn?"<br />
erlaubt. In (K. 1999) wird dargestellt,<br />
welche mathematischen Schwierigkeiten bei<br />
einer konsistenten Implementierung des Zugmodus<br />
auftreten (<strong>und</strong> eine mathematisch<br />
f<strong>und</strong>ierte Lösung für diese Probleme angeboten).<br />
Diese sind speziell für die Umsetzung<br />
einer DGS in eine exper<strong>im</strong>entierfähige Umgebung<br />
zu beachten, da die stoffdidaktische<br />
Gr<strong>und</strong>lage der Fachwissenschaft nicht außer<br />
Acht gelassen werden kann.<br />
Leider führt die konsequente Umsetzung der<br />
<strong>Mathematik</strong> auch zu neuen didaktischen<br />
Schwierigkeiten (u.a. dokumentiert von Gawlick),<br />
die bislang nicht ausreichend wissenschaftlich<br />
untersucht wurden. Somit bleibt<br />
auch <strong>im</strong> Bereich der reinen Konstruktionssysteme<br />
<strong>im</strong>mer noch die offene Frage, wie diese<br />
zu gestalten sind, um sie <strong>im</strong> Unterricht gewinnbringend<br />
einzusetzen. Die meisten Untersuchungen<br />
differenzieren zunächst zwischen<br />
Computereinsatz <strong>und</strong> herkömmlichen<br />
Methoden, <strong>und</strong> vergleichen nicht mehrere
Programme. Angesichts der schon <strong>im</strong>mensen<br />
organisatorischen <strong>und</strong> methodischen<br />
Schwierigkeiten für solche Untersuchungen<br />
ist das eine nicht zu unterschätzende Leistung.<br />
Es soll aber nicht unerwähnt bleiben,<br />
dass die Gestaltung <strong>und</strong> Ausstattung von<br />
DGS nicht allein dem Markt überlassen werden<br />
kann, da sonst subjektive oder gar rein<br />
finanzielle Gründe über die eingesetzte Software<br />
entscheiden, <strong>und</strong> nicht didaktische oder<br />
fachwissenschaftliche Argumente. Aus diesem<br />
Gr<strong>und</strong> ist es dringend geboten, eine<br />
größere Vergleichsstudie durchzuführen.<br />
2.1.2 Berechnungssystem (PBS)<br />
Längen, Winkel <strong>und</strong> Flächen sollen gemessen<br />
werden können, <strong>und</strong> die gemessenen<br />
Werte sollen numerisch für weitere Berechnungen<br />
zur Verfügung stehen. Die Berechnungen<br />
sind dynamisch; der Zugmodus verändert<br />
die gemessenen Werte <strong>und</strong> die daraus<br />
resultierenden Ergebnisse.<br />
Die meisten kommerziellen Programme<br />
(Cabri, Sketchpad, Euklid Dynageo) unterstützen<br />
diese Berechnungen in der einen<br />
oder anderen Form. Zum Exper<strong>im</strong>entieren ist<br />
ein solches Modul gerade dadurch geeignet,<br />
dass ein Bezug zwischen realen Daten <strong>und</strong><br />
der Modellierung <strong>im</strong> Computer hergestellt<br />
werden kann. Die virtuellen Exper<strong>im</strong>ente<br />
werden <strong>im</strong> Umfeld der Schülerinnen <strong>und</strong><br />
Schüler verankert.<br />
2.1.3 Algebrasystem (PAS)<br />
Hier fordert Schumann die bereits oben angesprochene<br />
Konvergenz: Computeralgebra-<br />
Systeme sollen so an DGS angeb<strong>und</strong>en werden,<br />
dass Generalisierungen möglich sind<br />
<strong>und</strong> konstruierte Figuren symbolisch behandelt<br />
werden können.<br />
Die Umsetzung dieser Forderung erfordert<br />
erhebliche konzeptionelle Arbeit. Die bisher<br />
verfügbaren Systeme, die Ansätze in dieser<br />
Richtung zeigen (Geonext <strong>und</strong> das u.a. in<br />
diesem Band von Hohenwarter vorgestellte<br />
GeoGebra) geben zwar vor, Computeralgebra-Systeme<br />
zu enthalten, doch diese beschränken<br />
sich auf die Definition <strong>und</strong> einfache<br />
symbolische Manipulation von Formeln.<br />
Damit erfüllen sie eher die Anforderungen an<br />
ein plan<strong>im</strong>etrisches Berechnungssystem,<br />
nicht aber an ein plan<strong>im</strong>etrisches Algebrasystem.<br />
Dies soll nicht den didaktischen Wert<br />
dieser Module schmälern! Als PBS sind sie<br />
eine große Bereicherung für den Unterricht.<br />
Wie schwer die wirkliche Umsetzung eines<br />
PAS ist, kann man an dem jüngst vorgestell-<br />
Exper<strong>im</strong>entieren <strong>und</strong> Publizieren<br />
ten System Feli-X von Oldenburg (2002) sehen;<br />
die <strong>im</strong>mensen Möglichkeiten einer echten<br />
CAS-Umgebung gehen teilweise zu Lasten<br />
der einfachen, unmittelbaren Manipulation.<br />
Ein Einsatz in der Schule scheint derzeit<br />
noch in weiter Ferne zu liegen; zu sehr ähnelt<br />
die Benutzung des Systems einer Gratwanderung.<br />
Dies liegt keineswegs in der<br />
Verantwortung von Oldenburg: Die Freiheit<br />
des CAS ist eben auch die Freiheit, mit wenigen<br />
Symbolen die Komplexität der Berechnung<br />
zu sprengen. Schränkt man diese Freiheit<br />
ein, so werden die Schülerinnen <strong>und</strong><br />
Schüler wieder "an der kurzen Leine geführt";<br />
<strong>—</strong> dann wiederum braucht man kein CAS<br />
mehr. Gerade die Arbeit von Oldenburg ist<br />
aber ein notwendiger Schritt hin zu einer<br />
konsequenten Umsetzung, <strong>und</strong> die mit Feli-X<br />
gewonnenen Erfahrungen müssen in eine<br />
weitere Konzeption einfließen.<br />
2.1.4 Hypothesen-Prüfsystem (PHS)<br />
Schumann bezieht sich hier auf "Mechanical<br />
Geometry Theorem Proving", also die automatische<br />
Generierung von Beweisen für Sätze<br />
der Geometrie mit Hilfe eines Computers<br />
(oder eines sonstigen technischen Hilfsmittels).<br />
Es existiert eine große Gemeinde von<br />
Wissenschaftlern, die sich mit diesem Gebiet<br />
der <strong>Mathematik</strong> beschäftigen, zum größten<br />
Teil wird die Arbeit dort aber nicht in der <strong>Mathematik</strong>didaktik<br />
wahrgenommen. Dieses ist<br />
in den fernab der Schulmathematik liegenden<br />
Methoden für die dortigen Beweise, die meist<br />
aus der Algebra stammen, begründet. Die<br />
automatisch generierten Beweise haben für<br />
sich genommen wenig didaktischen Wert; da<br />
meist von Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern weder<br />
die Methode noch die konkrete Beweisführung<br />
auch nur ansatzweise verstanden werden<br />
kann, sind sie dem "Autoritätsbeweis"<br />
("Das ist so.") nicht überlegen.<br />
Solche "Beweise" kann man auch durch das<br />
Verifizieren <strong>im</strong> Zugmodus ersetzen, sofern<br />
nicht programminterne Details falsche Tatsachen<br />
vorspiegeln (siehe dazu Hölzl, 1994,<br />
der auf die Problematik halbfreier Punkte auf<br />
Strecken, die das Teilungsverhältnis gleich<br />
halten, hinweist).<br />
Es gibt aber auch durchaus viel versprechende<br />
Ansätze, ein PHS-Modul in eine DGS<br />
zu integrieren. Gao (2004) stellte mit dem <strong>—</strong><br />
leider nur schwer erhältlichen <strong>—</strong> Geometry<br />
Expert (inzwischen MMP/Geometer) ein System<br />
vor, welches mehrere verschiedene Beweisstrategien<br />
enthält. Die automatisch gef<strong>und</strong>enen<br />
Beweise können in textueller Form<br />
angezeigt werden. So sehr allerdings die<br />
Beweiskompetenz (es werden für alle rele-<br />
121
Ulrich Kortenkamp<br />
vanten Sätze Beweise gef<strong>und</strong>en) beeindruckt,<br />
so wenig ist klar, wie diese <strong>im</strong> Unterricht<br />
Gewinn bringend eingesetzt werden<br />
können.<br />
Die DGS Cinderella integriert ein Beweismodul,<br />
welches zur Gestaltung von interaktiven<br />
Arbeitsblättern mit Kontrollfunktion genutzt<br />
werden kann. Die eigentlichen Beweise sind<br />
nicht zugreifbar, stattdessen wird ausgenutzt,<br />
dass das Programm den individuellen Fortschritt<br />
innerhalb einer Aufgabe analysieren<br />
kann. Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage entstand die<br />
Schulversion der DGS (Richter-Gebert & K.<br />
1999). Weitere Informationen finden sich in<br />
(K. & Richter-Gebert 2004) <strong>und</strong> (K. 1999).<br />
2.1.5 Programmiersystem (PPS)<br />
Das letzte von Schumann gewünschte Modul<br />
ist bisher von den Herstellern1 von DGS<br />
ignoriert worden. Die gewünschte "komfortable<br />
grafische Benutzersprache" zur "direkten<br />
Manipulation" existiert in dieser Form<br />
bisher in keinem mir bekannten Programm.<br />
Es ist daher nicht möglich, algorithmische<br />
Fragestellungen in DGS zufrieden stellend zu<br />
behandeln, selbst wenn diese sich ausdrücklich<br />
mit geometrischen Sachverhalten beschäftigen.<br />
Sollte ein vollständiges CAS (beispielsweise<br />
Mathematica oder Maple) an eine DGS angeb<strong>und</strong>en<br />
werden können, so würde dieses<br />
natürlich eine mächtige Programmierumgebung<br />
bieten; in Feli-X kann dies zum Beispiel<br />
zur automatisierten Herstellung von Konstruktionen<br />
verwendet werden. Komfortabel<br />
<strong>und</strong> grafisch ist dies aber nicht, <strong>und</strong> man wird<br />
Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern wohl kaum zumuten,<br />
in einem solchen System algorithmische<br />
Fragestellungen zu untersuchen.<br />
2.2 Algorithmen <strong>im</strong> Unterricht<br />
Besteht überhaupt Bedarf für das Programmier-Modul?<br />
Was könnte man mit dem <strong>—</strong><br />
bislang hypothetischen <strong>—</strong> Einsatz bezwecken?<br />
Dies soll in den nächsten Abschnitten<br />
geklärt werden, die sich mit Algorithmen <strong>im</strong><br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht beschäftigen. Ausdrücklich<br />
sind damit nicht Standardalgorithmen<br />
wie das schriftliche Multiplizieren oder<br />
Dividieren gemeint, sondern weiterführende<br />
strukturierte Vorschriften, die komplexe Pro-<br />
1 Als Hersteller bezeichnen wir hier alle diejenigen, die mit der Entwicklung<br />
von DGS befasst sind. Schumann (1991) spricht hier<br />
"Teams aus Geometriedidaktikern, Informatikern, professionellen<br />
Programmierern <strong>und</strong> Geometrielehrern" an; in der Realität sind<br />
diese Teams eher vermöge Personalunion aus ein bis zwei Personen<br />
zusammengesetzt.<br />
122<br />
bleme durch die Zerlegung in einfachere Einzelprobleme<br />
lösen.<br />
2.2.1 Logo<br />
Die Idee, algorithmisches Denken <strong>im</strong> Unterricht<br />
zu schulen, ist nicht neu, <strong>und</strong> mit der<br />
Programmiersprache Logo ist auch schon<br />
seit mehr als zwei Jahrzehnten eine gute Lösung<br />
verfügbar, mit der die Gr<strong>und</strong>konzepte<br />
von Algorithmen vermittelt werden können.<br />
Hier handelt es sich tatsächlich um eine komfortable<br />
grafische Benutzersprache für die<br />
Manipulation von Grafik; lediglich das Konzept<br />
von geometrischen Objekten ist nur bedingt<br />
vorhanden. Es handelt sich aber ganz<br />
klar nicht um ein Modul, welches mit den anderen<br />
genannten Modulen kompatibel ist;<br />
diese Kompatibilität (<strong>im</strong> Sinne des einfachen<br />
Austausch von Daten <strong>und</strong> Konzepten) ist jedoch<br />
eine wichtige Forderung, die Schumann<br />
mit einem Diagramm des K5, dem vollständigen<br />
Graphen auf 5 Knoten, illustriert:<br />
Abb. 1: Erwünschte Kompatibilität unter Plan<strong>im</strong>etrischen<br />
Modulen nach Schumann (1991)<br />
Gemäß den bisherigen Ausführungen existieren<br />
zwar alle Knoten dieses Graphen, <strong>—</strong> die<br />
Kanten, d.h. die Querverbindungen zwischen<br />
den einzelnen Modulen, jedoch nicht.<br />
2.2.2 Diskrete <strong>Mathematik</strong><br />
Gerade die diskrete <strong>Mathematik</strong>, <strong>und</strong> dort<br />
insbesondere die Graphentheorie, bietet sich<br />
für algorithmische Fragestellungen an. Viele<br />
interessante Probleme lassen sich mit Hilfe<br />
von Graphen modellieren, <strong>und</strong> mit einfachen<br />
Algorithmen wie Tiefen- oder Breitensuche<br />
lösen. Opt<strong>im</strong>ierungsfragen können oft mit<br />
Kürzeste-Wege-Algorithmen oder min<strong>im</strong>alen<br />
aufspannenden Bäumen gelöst werden.<br />
Es ist keine neue Idee, Graphen <strong>und</strong> Algorithmen<br />
in den Schulunterricht zu bringen<br />
(siehe z.B. Bodendiek 1973); neu ist, dass<br />
diesen Themen in den Lehr- <strong>und</strong> Rahmenplänen<br />
der Länder mehr Platz zugestanden<br />
wird. Die Kompetenzen, die in diesem Gebiet<br />
erworben werden können, sind Bestandteil<br />
der Bildungsstandards der KMK. So nennen
eispielsweise die Bildungsstandards für den<br />
Hauptschulabschluss das Reflektieren <strong>und</strong><br />
kritische Beurteilen von "Darstellungen von<br />
Zuordnungen, Zeichnungen, strukturierte[n]<br />
Darstellungen [<strong>und</strong>] Ablaufplänen" <strong>im</strong> Anforderungsbereich<br />
III (Verallgemeinern <strong>und</strong> Reflektieren).<br />
2.3 Algorithmen in DGS<br />
Es gibt zurzeit keine Möglichkeit, Graphenalgorithmen<br />
innerhalb einer DGS zu untersuchen,<br />
obwohl die Darstellung von Graphen<br />
durchaus nahe legt, das es sich um ein geometrisches<br />
Problem handelt. Spezielle Visualisierungen<br />
von einzelnen Graphenalgorithmen<br />
oder auch ganze Programmpakete (z.B.<br />
CATBox/GATO von Schliep & Hochstättler<br />
2001) wirken auf den ersten Blick wie DGS!<br />
Die Ähnlichkeit beschränkt sich aber auf die<br />
interaktive Eingabe der Graphen. Es wäre<br />
wünschenswert, wenn die durch ein weiteres<br />
Programmpaket in den Unterricht gebrachte<br />
Komplexität umgangen werden könnte, d.h.,<br />
wenn ein PPS <strong>im</strong>plementiert wäre, mit dem<br />
algorithmische Aspekte in Geometriesoftware<br />
aufgenommen werden können.<br />
Aus dieser Motivation heraus wurde eine<br />
Programmierschnittstelle für die Java-basierte<br />
DGS Cinderella entwickelt, mit der es erstmals<br />
möglich wird, selbst entwickelte (aber<br />
natürlich auch vorgefertigte) Algorithmen direkt<br />
auf geometrischen Konstruktionen ablaufen<br />
zu lassen.<br />
Abb. 2: Ein in Cinderella modellierter Graph<br />
Die Algorithmen können schrittweise abgearbeitet<br />
werden, so dass für verschiedene Eingabedaten<br />
nachvollzogen werden kann, wie<br />
der Algorithmus arbeitet. Zusätzlich können<br />
Exper<strong>im</strong>entieren <strong>und</strong> Publizieren<br />
die Algorithmen aber auch interaktiv verwendet<br />
werden: Während die Eingabe <strong>im</strong> Zugmodus<br />
manipuliert wird, wird für jede Position<br />
neu der gesamte Algorithmus durchlaufen,<br />
<strong>und</strong> die Anzeige aktualisiert.<br />
Diese algorithmische Schnittstelle ist derzeit<br />
nur exper<strong>im</strong>entell; es fehlen Erfahrungen<br />
zum Unterrichtseinsatz. In Anbetracht des<br />
"Arbeitsprogramms" in (Schumann 1991)<br />
wird hier aber damit begonnen, eine Lücke<br />
zu schließen. Die sich daraus ergebenden<br />
didaktischen Konsequenzen sind noch nicht<br />
abzusehen. In Abschnitt 4 gehen wir auf diesen<br />
Punkt noch einmal ein.<br />
Abb. 3: Ein Phasenfoto aus der Best<strong>im</strong>mung eines min<strong>im</strong>alen<br />
spannenden Baumes mit dem Algorithmus von<br />
Boruvka. Es ist bereits ein Wald (fette Kanten) best<strong>im</strong>mt<br />
worden, der nun durch weitere Kanten zu einem einzigen<br />
Baum verschmilzt.<br />
Abb. 4: Dresden wird verschoben, der min<strong>im</strong>ale aufspannende<br />
Baum verändert sich in Echtzeit.<br />
123
Ulrich Kortenkamp<br />
3 Publizieren<br />
Ergebnissicherung <strong>und</strong> Reflektion sind unverzichtbare<br />
Bestandteile des Forschens <strong>und</strong><br />
Entdeckens. Ein Unterricht, in dem Schülerinnen<br />
<strong>und</strong> Schüler exper<strong>im</strong>entieren, zieht einen<br />
Teil seines Erfolges daraus, dass es einen<br />
gewissen Zwang zur Niederschrift des<br />
Gesehenen, Gesagten, <strong>und</strong> Gedachten gibt.<br />
DGS sind prädestiniert für die Aufbereitung<br />
<strong>und</strong> Publikation von geometrischen Daten.<br />
Wir stellen nun vier Publikationsformen vor.<br />
3.1 Herkömmlicher Druck<br />
Jede gute DGS ist in der Lage, die dargestellte<br />
Grafik in hoher Auflösung für den Ausdruck<br />
aufzubereiten. Gerade weil <strong>im</strong> Zugmodus<br />
einfach Korrekturen angebracht werden<br />
können, sind mit dem Computer erzeugte Figuren<br />
oft besser <strong>—</strong> in vielerlei Hinsicht <strong>—</strong> als<br />
die von Hand gezeichneten Pendants. Es ist<br />
<strong>im</strong>mer noch wichtig, dass die händische Arbeit<br />
gerade in den unteren Jahrgangsstufen<br />
nicht vom Computer verdrängt wird; für feinmotorisch<br />
unbegabte Schülerinnen <strong>und</strong><br />
Schüler ergibt sich mit dem Computer aber<br />
eine große Chance, Erfolgserlebnisse zu haben,<br />
auf die sie sonst verzichten müssten.<br />
Die Ästhetik der <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> insbesondere<br />
der Geometrie leidet nicht durch den<br />
Computer, sondern ihr wird zu einer neuen<br />
D<strong>im</strong>ension verholfen, die es zu nutzen gilt.<br />
3.2 Interaktiv <strong>im</strong> <strong>WWW</strong><br />
Geht es um dynamische Zusammenhänge,<br />
so ist die Darstellung auf Papier oft nicht angemessen.<br />
Dies wird selbst in diesem Artikel<br />
klar: Abbildung 3 ergibt nur durch einen zusätzlichen<br />
Erklärungstext Sinn; schöner <strong>und</strong><br />
deutlicher wäre es, könnte man die dort beschriebene<br />
Manipulation selbst durchführen.<br />
Moderne DGS ermöglichen es, interaktive<br />
Konstruktionen als Webseiten abzuspeichern,<br />
wobei die Dynamik erhalten bleibt.<br />
Dabei wird entweder auf das plattform-unabhängige<br />
Java (Cinderella, Geonext, Geo-<br />
Gebra, Cabri Java, Java Sketchpad, Z.u.L.)<br />
oder hersteller-abhängige Lösungen wie ActiveX<br />
(Euklid Dynageo) zurückgegriffen. Die<br />
Funktionalität der Java-Versionen variiert<br />
stark, doch alle bieten wenigstens den Zugmodus.<br />
Bei manchen Produkten kann man<br />
auch die Konstruktion Schritt für Schritt einblenden<br />
lassen, oder mit Aktions-Schaltflächen<br />
Teile der Konstruktion zeigen oder verstecken.<br />
124<br />
3.3 Bildschirm-Videos<br />
Es gibt verschiedene Softwareprodukte, mit<br />
denen "Filme" vom Bildschirminhalt aufgezeichnet<br />
werden können. Damit kann man<br />
manche Abläufe besser, als unter 3.2 beschrieben,<br />
erfassen <strong>und</strong> wiedergeben. An<br />
Stelle von langatmigen Erklärungen ("Ziehe<br />
zuerst an A in Richtung B. Dann verschiebe<br />
M auf S <strong>und</strong> schaue, was passiert. …") können<br />
fertige Sequenzen abgespielt werden.<br />
Im <strong>Internet</strong>-Projekt MADIN wurden solche<br />
Filme eingeb<strong>und</strong>en, ebenso wie die <strong>im</strong> vorherigen<br />
Abschnitt beschriebenen interaktiven<br />
Darstellungen.<br />
3.4 CINErella<br />
Die Darstellung über eine interaktive <strong>WWW</strong>-<br />
Seite stellt eine Erweiterung der Interaktionsmöglichkeiten<br />
dar. Die Darstellung als<br />
Film erweitert <strong>—</strong> <strong>im</strong> Vergleich zum statischen<br />
Ausdruck <strong>—</strong> die Konstruktion um die Zeit-<br />
D<strong>im</strong>ension.<br />
Abb. 5: Einordnung von CINErella<br />
In Abb. 5 sind diese Beziehungen schematisch<br />
dargestellt. Zusätzlich ist in der Grafik<br />
die neue Cinderella-Erweiterung CINErella<br />
eingeordnet, die die Vorteile der Interaktion<br />
<strong>und</strong> des automatischen Abspielens miteinander<br />
verbinden soll.<br />
Mit CINErella kann die gesamte Interaktion<br />
mit der DGS "mitgeschnitten" werden. Dabei<br />
werden allerdings keine Bildschirmfotos aufgezeichnet,<br />
sondern die abstrakt (<strong>im</strong> Koordinatensystem<br />
der DGS) dargestellten Bewegungen<br />
<strong>und</strong> Aktionen der Maus. Diese können<br />
dann wieder abgespielt werden, so dass<br />
der Bewegungsablauf reproduziert wird. Als<br />
erster Vorteil gegenüber dem Mitschnitt gegenüber<br />
der in 3.3 dargestellten Methode<br />
lässt sich festhalten, dass die Speicherung<br />
wesentlich kompakter ist als wenn für jedes
Einzelbild ein aus Pixeln zusammengesetztes<br />
Bild gespeichert wird. In nur wenigen Kilobyte<br />
kann eine lange Sequenz gespeichert<br />
<strong>und</strong> <strong>—</strong> wichtiger! <strong>—</strong> übertragen werden. Dadurch<br />
ist das CINErella-Verfahren gerade für<br />
<strong>Internet</strong>-basierte Lehr-/Lernumgebungen hervorragend<br />
geeignet.<br />
Die Speicherung als Folge von Manipulationen<br />
einer Konstruktion ist aber auch aus weiteren<br />
Gründen sinnvoll. Mit Bilddaten wäre<br />
es nicht möglich, in einen Film "einzugreifen"<br />
<strong>und</strong> die aktuell vorhandene Konstruktion eigenhändig<br />
mit der Maus zu manipulieren. Mit<br />
CINErella kann man diese Funktionalität<br />
leicht zur Verfügung stellen. Damit sind interaktive<br />
Tutorials machbar, die die <strong>Lernen</strong>den<br />
mit einbeziehen <strong>und</strong> ihnen Hilfestellungen<br />
geben sowie Vorgaben machen. So kann<br />
beispielsweise die Konstruktion der Mittelsenkrechten<br />
z.T. vorgeführt werden (zwei<br />
Kreise werden eingefügt); <strong>und</strong> diese Konstruktion<br />
soll dann durch das Einzeichnen<br />
der Mittelsenkrechten vervollständigt werden.<br />
Da sich diese Beispiele nicht in einem gedruckten<br />
Artikel wiedergeben lassen, stehen<br />
sie unter http://cinderella.de/cinerella bereit.<br />
Zusätzlich zu den Konstruktionsdaten kann<br />
auch eine Tonspur angelegt werden, die<br />
dann synchron abgespielt wird. Wird keine<br />
Tonspur mitgeschrieben, so werden Leerlaufzeiten<br />
automatisch gekürzt, außerdem können<br />
die Dateien auch mit höherer Geschwindigkeit<br />
abgespielt werden (fast forward).<br />
Ein Nachteil muss allerdings auch verzeichnet<br />
werden: Mit CINErella gespeicherte Sequenzen<br />
können nicht einfach rückwärts gespielt<br />
werden; diese Navigation muss aufwändig<br />
neu gerechnet werden, denn aus einer<br />
Folge von Maus-Aktionen kann zwar der<br />
Zustand einer Konstruktion nach dem Ausführen<br />
dieser Aktionen berechnet werden,<br />
aber es ist nicht ohne weiteres möglich, aus<br />
einer Aktion den Zustand vor deren Durchführen<br />
zu berechnen. Wenn zum Beispiel eine<br />
gespeicherte Aktion "bewege Maus mit<br />
gedrückter Taste von (x0,y0) nach (x1,y1)" lautet,<br />
<strong>und</strong> bei (x1,y1) befindet sich nach dieser<br />
Aktion ein Punkt, so kann nicht entschieden<br />
werden, ob dieser durch diese Aktion von<br />
(x0,y0) nach (x1,y1) verschoben wurde oder<br />
ob er sich bereits vorher bei (x1,y1) befand.<br />
Es ist ebenfalls nicht möglich, nach dem Eingriff<br />
des Benutzers einen begonnenen CINErella-Film<br />
weiter abzuspielen, da es dabei zu<br />
verwirrenden Inkonsistenzen kommen könnte.<br />
Es ist nicht klar, ob an dieser Stelle das<br />
Beweissystem von Cinderella helfen könnte,<br />
um in eindeutigen Fällen doch nach einer<br />
Unterbrechung fortsetzen zu können.<br />
Exper<strong>im</strong>entieren <strong>und</strong> Publizieren<br />
3.5 Elektronische Lerntagebücher<br />
Alle in den vorigen Abschnitten vorgestellten<br />
Dokumentationsmöglichkeiten eignen sich für<br />
die Erstellung von Lerntagebüchern. Wenn<br />
es möglich ist, elektronische Lerntagebücher<br />
<strong>—</strong> also zum Beispiel <strong>WWW</strong>-Seiten <strong>—</strong> herstellen<br />
zu lassen, dann kann die CINErella-<br />
Erweiterung neue Impulse liefern. Die Schülerinnen<br />
<strong>und</strong> Schüler können "vormachen",<br />
was sie meinen, <strong>und</strong> den Film in ihre Dokumentation<br />
übernehmen.<br />
Es muss aber beachtet werden, dass diese<br />
einfache Art der Dokumentation nur dort angewandt<br />
wird, wo es darum geht, sonst nicht<br />
anders zu beschreibende Sachverhalte darzustellen.<br />
Diese Erleichterung darf nicht dazu<br />
missbraucht werden, das Denken zu vermeiden<br />
<strong>und</strong> die Formulierung in Sätzen zu ersetzen.<br />
Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern, deren<br />
Tagebuch aus Textbrocken wie "<strong>und</strong> dann<br />
habe ich so gemacht, <strong>und</strong> dann das, <strong>und</strong><br />
dann noch dieses" besteht, fehlt die Schulung<br />
ihrer Kommunikations- <strong>und</strong> damit Strukturierungsfähigkeiten.<br />
4 Zusammenfassung <strong>und</strong><br />
Aussichten<br />
In diesem Artikel wurden zwei Lücken identifiziert,<br />
die seit über einem Jahrzehnt von keiner<br />
DGS gefüllt werden konnten. Die Entwicklung<br />
eines plan<strong>im</strong>etrischen Programmiersystem<br />
wurde bereits 1991 gefordert,<br />
erste Schritte in diese Richtung haben wir<br />
hier beschrieben.<br />
Die beschriebenen Erweiterungen waren<br />
zum Zeitpunkt der Dillinger Tagung 2003 nur<br />
in der Entwicklerversion von Cinderella <strong>im</strong>plementiert.<br />
Für 2005 ist die Veröffentlichung<br />
von Cinderella.2 angekündigt, in der diese<br />
Schnittstellen weiter ausgebaut <strong>und</strong> vereinheitlicht<br />
wurden. Im Projekt Visage (G6) des<br />
DFG-Forschungszentrum Matheon wurden<br />
zudem Unterrichtsmaterialien für den computergestützten<br />
Unterricht zur Diskreten <strong>Mathematik</strong><br />
entwickelt, die derzeit evaluiert werden.<br />
Diese basieren auf den Erfahrungen mit<br />
dem hier beschriebenen Prototypen.<br />
Unter anderem kann Cinderella.2 nun in der<br />
Skriptsprache Python erweitert werden; damit<br />
ergeben sich weitere Anwendungsmöglichkeiten<br />
auch <strong>im</strong> Informatik-Unterricht.<br />
Auf der GDM-Tagung 2005 haben Schumann<br />
<strong>und</strong> Knapp vorgestellt, wie Instruktionsvideos<br />
für die Einführung in DGS verwendet<br />
werden können. Hier bietet es sich<br />
an, die Neuerungen von CINErella zu ver-<br />
125
Ulrich Kortenkamp<br />
wenden, um von der narrativen Präsentation<br />
zur interaktiven Rezeption zu gelangen.<br />
Die Umkehrung der Abspielrichtung von CI-<br />
NErella-Videos ist eine wünschenswerte Ergänzung.<br />
Hier sollte erforscht werden, ob<br />
dies effizient möglich ist, <strong>und</strong> welche zusätzlichen<br />
Daten hierfür gespeichert werden<br />
müssten. So genannte keyframes, also die<br />
Abspeicherung der Gesamtsituation in festgelegten<br />
(kurzen) Zeitintervallen, wären eine<br />
Möglichkeit, das Problem zu lösen.<br />
Zuguterletzt soll auf die neuen Möglichkeiten<br />
in der empirischen Unterrichtsforschung eingegangen<br />
werden. Die mit CINErella mitgeschnittenen<br />
Sequenzen liegen nämlich in einer<br />
statistisch auswertbaren Form vor. Das<br />
kompakte Datenformat lässt es zu, die Arbeit<br />
aller Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler einer Klasse<br />
über mehrere Schulst<strong>und</strong>en hinweg auf dem<br />
Rechner zu speichern. Diese Dateien werden<br />
mit einem Zeitcode versehen, so dass die Interaktionen<br />
mit zusätzlichen Videoaufnahmen<br />
synchronisiert werden können. Diese<br />
elektronischen Transkripte sind nicht nur<br />
leichter handhab- <strong>und</strong> herstellbar, sondern<br />
sie sind auch statistischen Methoden zugänglich,<br />
so dass auffällige oder besonders<br />
interessante Verhaltensmuster schnell aufgef<strong>und</strong>en<br />
werden können. Zudem können Konstruktionen,<br />
die <strong>im</strong> Unterricht durchgeführt<br />
wurden, sofort "benutzt" werden, z.B., um sie<br />
auf Korrektheit zu prüfen (diese ist aus einem<br />
Video allein nicht <strong>im</strong>mer leicht zu erkennen).<br />
Basierend auf diesen Neuvorstellungen sollen<br />
jetzt konkrete Unterrichtserfahrungen gesammelt<br />
werden.<br />
Literatur<br />
Bodendiek, Rainer (1973): Ecken, Wege, Bäume,<br />
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Elschenbroich, Hans-Jürgen, Thomas Gawlick &<br />
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Schliep, Alexander & Winfried Hochstättler (2001):<br />
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Haydee Morales, Konrad Polthier & Jose<br />
Francisco Rodrigues (Hrsg.) (2001): Proceedings<br />
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Schumann, Heinz (1991): Schulgeometrisches<br />
Konstruieren mit dem Computer. Stuttgart:<br />
Metzler & Stuttgart: Teubner (besonders 219f.)<br />
Schumann, Heinz & Olaf Knapp (2005): Instruktionsvideos<br />
für das Arbeiten mit Computerwerkzeugen.<br />
Erscheint in: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
2005. Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker<br />
Stein, Martin, Uwe-Peter Tietze, Hans-Georg Wiegand<br />
& Thomas Weth (2004): MADIN <strong>—</strong> eine<br />
internetgestützte Lehr-Lernumgebung für das<br />
Lehramtsstudium <strong>Mathematik</strong><br />
http://www.madin.net
� Dynamische Visualisierung einer Aufgabe<br />
(in Variationen)<br />
Ingmar Lehmann, Berlin<br />
Wir legen um den Äquator (in Gedanken) ein Seil, das 1 m länger ist als der Äquator.<br />
Welchen Abstand hat das Seil von der Erdoberfläche, wenn das Seil konzentrisch gespannt<br />
wird? <strong>—</strong> So etwa lautet die "übliche" Fassung dieser Aufgabe.<br />
Mit dieser Aufgabe gelingt es noch <strong>im</strong>mer, Interesse <strong>und</strong> Aktivität der Schüler zu wecken.<br />
Diese Aufgabe werden wir <strong>im</strong> Folgenden variieren <strong>und</strong> dabei auf zum Teil unerwartete<br />
Resultate stoßen. Obwohl die Ergebnisse nachvollziehbar sind, bleibt ein Unbehagen:<br />
"Ich verstehe es, aber glaube es nicht." Mit Hilfe dynamischer Geometriesoftware werden<br />
die Resultate erlebbar!<br />
Überraschende oder unerwartete Ergebnisse<br />
st<strong>im</strong>ulieren den Fortgang mathematischen<br />
Exper<strong>im</strong>entierens ebenso wie auftretende<br />
Widersprüche. Diese Widersprüche können<br />
dabei auch nur scheinbare sein.<br />
Abb. 1<br />
Die oben gestellte Aufgabe ist alt, "uralt"; <strong>—</strong><br />
dennoch hält sie noch <strong>im</strong>mer einige Überraschungen<br />
parat. Dabei nehmen wir der Einfachheit<br />
halber an, die Erde sei eine (vollkommene)<br />
Kugel <strong>und</strong> der Äquator sei exakt<br />
40 000 km lang. Die Aufgabe werden wir <strong>im</strong><br />
Folgenden variieren <strong>und</strong> dabei auf zum Teil<br />
völlig unerwartete Resultate stoßen.<br />
1 Das "konzentrische" Seil<br />
1.1 "Urfassung" der Aufgabe<br />
Aufgabe 1:<br />
Um den Äquator wird konzentrisch ein Seil<br />
gespannt, das 1 m länger ist als der Äquator.<br />
Welchen Abstand a hat das Seil von der<br />
Erdoberfläche? (vgl. Abb. 1, 2)<br />
u+1<br />
u<br />
Abb. 2<br />
Zunächst wird man die Schüler schätzen lassen!<br />
Auch Fragen wie "Könnte man ein Blatt<br />
Papier, das etwa ein Zehntel Mill<strong>im</strong>eter dick<br />
ist, zwischen Seil <strong>und</strong> Erdoberfläche hindurchschieben?"oder<br />
"Könnte eine Fliege, eine<br />
Maus darunter hindurchkriechen?" sollten<br />
die Schüler veranlassen, die Aufgabe mit Interesse<br />
in Angriff zu nehmen.<br />
Lösung:<br />
Die Schüler müssen lediglich den Zusammenhang<br />
zwischen Radius <strong>und</strong> Umfang eines<br />
Kreises kennen (u = 2πr) sowie einfachste<br />
Termumformungen beherrschen.<br />
lSeil = uÄquator+1 = 2πr+1<br />
Da das Seil selbst auch einen Kreis beschreibt,<br />
nämlich mit dem Radius r+a, gilt<br />
ferner<br />
lSeil = 2π(r+a),<br />
r<br />
r<br />
a<br />
127
Ingmar Lehmann<br />
sodass sich die Gleichung 2πr+1 = 2π(r+a)<br />
ergibt. Mit 2πr+1 = 2π(r+a) = 2πr+2πa folgt<br />
1<br />
unmittelbar 1 = 2πa, also a = .<br />
2π<br />
Da alle Längen in Meter angegeben worden<br />
sind, erhalten wir<br />
a = 0,1591549430 ... m ≈ 16 cm.<br />
Das ist für die Schüler paradox. Das Ergebnis<br />
ist vom Radius r (der Erde) unabhängig;<br />
<strong>—</strong> <strong>und</strong> gerade dieser Sachverhalt widerspricht<br />
der Erwartung.<br />
Man kann dieses für die Schüler paradoxe<br />
Resultat auch folgendermaßen formulieren:<br />
Für die Differenz der Umfänge zweier konzentrischer<br />
Kreise mit den Radien r1 <strong>und</strong> r2<br />
sowie dem Abstand a gilt<br />
u1–u2 = 2πr1–2πr2 = 2π(r2+a)–2πr2 = 2πa,<br />
d.h., diese Differenz der Umfänge ist konstant,<br />
wenn die beiden konzentrischen Kreise<br />
nur denselben Abstand voneinander haben.<br />
Das Ergebnis veranlasst Schüler sogar, die<br />
ganze Rechnung zu wiederholen, <strong>—</strong> um den<br />
vermeintlichen Fehler zu entdecken!<br />
Das ist ein guter Gr<strong>und</strong>, mit dieser Aufgabe<br />
in die Thematik "Umfang von Kreisen" zu<br />
starten. Walsch (2000) schreibt dazu:<br />
"Die Aufgabe ist zwar nicht auf vordergründige<br />
Art 'realitätsnah'. Sie trägt aber dazu bei,<br />
geometrisches Vorstellungsvermögen zu fördern,<br />
zu kritischer Distanz gegenüber intuitiven<br />
Urteilen zu erziehen, Einsichten in theoretische<br />
Zusammenhänge zu gewinnen (hier<br />
insbesondere die Unabhängigkeit des Abstandes<br />
vom Radius der Kugel zu erkennen),<br />
das Arbeiten mit dem 'mathematischen<br />
Handwerkszeug' zu üben."<br />
Mit dieser Aufgabe gelingt es in jedem Fall,<br />
Interesse <strong>und</strong> Aktivität der Schüler zu wecken.<br />
1.2 Vier "natürliche" Variationen<br />
von Aufgabe 1<br />
Aufgabe 2: Der Abstand des Seils zum<br />
Äquator ist gegeben<br />
Um den Äquator wird konzentrisch ein Seil<br />
gespannt, das einen Abstand von 1 m von<br />
der Erdoberfläche hat. Wie lang ist das Seil?<br />
Lösung:<br />
Für die Differenz der Umfänge gilt<br />
lSeil–uÄquator = 2π(r+a) – 2πr = 2πa = 2π.<br />
128<br />
Das Seil wäre dann nur etwas mehr als 6 m<br />
länger als der Äquator. Es hätte also die Länge<br />
lSeil = 2π(r+a) ≈ 40 000 006,28 [m].<br />
Ein Flugzeug umr<strong>und</strong>et bei konstanter Flughöhe<br />
von 10 000 m einmal die Erde (den<br />
Äquator). Wie lang ist die Flugstrecke?<br />
Aufgabe 3: Ein Mensch unterquert am<br />
Äquator das Seil<br />
Um den Äquator wird konzentrisch ein Seil<br />
gespannt. Um wie viel Meter/Kilometer müsste<br />
man dieses Seil verlängern, damit jeder<br />
Mensch aufrecht das (konzentrisch um den<br />
Äquator gespannte) Seil unterqueren könnte?<br />
Lösung:<br />
Das ist Aufgabe 2 in anderem Gewand:<br />
Seil Äquator<br />
lSeil–uÄquator = 2πa bzw. a =<br />
2π<br />
u l −<br />
.<br />
Das Seil müsste höchstens 16 m länger als<br />
der Äquator sein (a ≈ 2,55 m).<br />
Aufgabe 4: Ein Apfel statt der Erde<br />
Um einen Apfel (oder eine Münze) wird konzentrisch<br />
ein Faden gespannt, der um 1 m<br />
länger ist als der Apfelumfang (Münzumfang)<br />
selbst. Welchen Abstand a hat der Faden<br />
vom Apfelrand (vom Münzrand)?<br />
Lösung: (vgl. Abb. 3)<br />
Das Ergebnis, dass der Abstand a vom Radius<br />
(der Erde, eines Apfels oder eines<br />
Tischtennisballs) unabhängig ist, wird auf<br />
diese Weise besonders anschaulich bestätigt.<br />
Der Abstand a hängt lediglich von der<br />
gewählten Verlängerung (1 m) des Umfangs<br />
1<br />
ab: a = ≈ 16 [cm].<br />
2π<br />
Abb. 3
Verkleinern wir den (Ausgangs-) Kreis weiter,<br />
schrumpft der Äquator schließlich zu einem<br />
Punkt zusammen; d.h., in diesem Extremfall<br />
haben Äquator <strong>und</strong> Radius die Länge Null.<br />
Das Ergebnis bleibt dennoch dasselbe. Jetzt<br />
wird die "Verlängerung" (um 1 m) selbst zum<br />
(Kreis-) Umfang <strong>und</strong> dessen Radius der gesuchte<br />
Abstand a.<br />
Aufgabe 5: Zwei Münzen bilden eine "8":<br />
1 € <strong>und</strong> 1 c<br />
Eine 1-Euro-Münze <strong>und</strong> eine 1-Cent-Münze<br />
werden nebeneinander auf einen Tisch gelegt.<br />
Um beide Münzen wird ein Faden in<br />
Form zweier Kreise <strong>—</strong> wie eine Acht ("8") <strong>—</strong><br />
gespannt, wobei der Faden um 1 m [zum<br />
Ausprobieren evtl. besser 10 cm] länger ist<br />
als beide Münzumfänge zusammen.<br />
(Durchmesser: 1€: d€ = 25,75 mm; 1c: dc =<br />
16,25 mm)<br />
Welchen Abstand hat der Faden vom jeweiligen<br />
Münzrand? (vgl. Abb. 4)<br />
MC Cent<br />
r E<br />
M E<br />
Euro<br />
r C<br />
Abb. 4<br />
b<br />
k 2 Faden<br />
a<br />
k 1 Faden<br />
Lösung:<br />
Viele Schüler argumentieren richtig, dass<br />
jetzt zwei Kreise "mitspielen", also die Verlängerung<br />
um 1 m nicht durch 2π sondern<br />
durch 2 . 2π zu teilen sei, also für den Abstand<br />
1 . 1 1<br />
gelten muss: a = = [m] (≈ 8 cm).<br />
2 2π<br />
4π<br />
Das ist allerdings nur dann richtig, wenn zusätzlich<br />
gefordert wird, dass der Faden zu<br />
beiden Münzen denselben Abstand haben<br />
soll.<br />
Dynamische Visualisierung einer Aufgabe (in Variationen)<br />
Mit 2πr€+2πrc+1 = 2πr€+2πrc+2πa+2πb folgt<br />
1<br />
unmittelbar a+b = .<br />
2π<br />
Es gibt also unendlich viele Lösungen. Für<br />
1<br />
a = b erhalten wir a ( = b ) = [m] ≈ 8 [cm].<br />
4π<br />
1.3 Vier "künstliche", aber wirkungsvolle<br />
Variationen von<br />
Aufgabe 1<br />
Statt des Äquators (bzw. eines Kreises) wird<br />
ein Quadrat gewählt. Dieser Vorschlag geht<br />
auf Winter (1991) zurück:<br />
"Eine produktive anschauliche Aufklärung<br />
besteht darin, die Kreissituation auf eine analoge<br />
Quadratsituation zu übertragen (Analogie<br />
des Heurismus!) ..."<br />
Aufgabe 6: Ein Seil um ein Quadrat<br />
Um ein Quadrat wird ein Fadenquadrat gespannt,<br />
das um 1 m länger ist als der gegebene<br />
Quadratumfang. Der Faden wird dabei<br />
so gespannt, dass die jeweiligen Quadratseiten<br />
zueinander parallel sind (vgl. Abb. 5).<br />
s<br />
s<br />
Abb. 5<br />
Welchen Abstand a hat der Faden vom<br />
Quadratrand? Genauer: Welchen Abstand a<br />
haben die jeweiligen zueinander parallelen<br />
Quadratseiten?<br />
Lösung:<br />
Die Abbildung zeigt deutlich, wie sich die<br />
Überhänge des Fadenquadrates, also die<br />
Zugabe von 1 m, auf 8 gleich lange Stücke<br />
an den 4 Ecken verteilen.<br />
Mit 4s+1 = 4s+8a folgt unmittelbar 1 = 8a; also<br />
muss der Abstand a = 12,5 cm betragen.<br />
s<br />
a<br />
a<br />
a<br />
s<br />
a<br />
129
Ingmar Lehmann<br />
Auch dieser Abstand a zwischen beiden<br />
Quadraten ist somit unabhängig von der Seitenlänge<br />
des Ausgangsquadrates. Das gilt<br />
damit auch für ein Quadrat mit der Seitenlänge<br />
von 10 000 km.<br />
Die Verlängerung um 1 m erzeugt daher<br />
auch in diesem <strong>—</strong> dem Äquator nachempf<strong>und</strong>enen<br />
<strong>—</strong> Beispiel einen Abstand von<br />
12,5 cm. Hier erscheint das Ergebnis "glaubhafter"<br />
als die 16 cm (für das Seil um den<br />
Äquator), da man ja "sieht", wo die Verlängerung<br />
um 1 m bleibt!<br />
Anstelle eines Quadrates kann man auch ein<br />
gleichseitiges Dreieck, allgemein ein regelmäßiges<br />
Vieleck, betrachten <strong>und</strong> nach dem<br />
Abstand des Fadens vom Vielecksrand fragen.<br />
Aufgabe 7: Ein Seil um ein regelmäßiges<br />
n-Eck<br />
Um ein regelmäßiges n-Eck wird ein Fadenn-Eck<br />
gespannt, das um 1 m länger ist als<br />
der Umfang des gegebenen n-Ecks.<br />
Der Faden wird dabei so gespannt, dass die<br />
jeweiligen n-Eckseiten zueinander parallel<br />
sind (vgl. Abb. 6, 7, 8).<br />
Welchen Abstand a hat der Faden vom Rand<br />
des Ausgangs-n-Ecks? Genauer: Welchen<br />
Abstand a haben die jeweiligen zueinander<br />
parallelen n-Eck-Seiten?<br />
Lösung: (<strong>im</strong> Überblick)<br />
Auch für die drei regelmäßigen Vielecke in<br />
Abb. 6, 7, 8 ist also der Abstand a zwischen<br />
den jeweiligen zueinander parallelen Vieleckseiten<br />
unabhängig von der Seitenlänge<br />
des Ausgangsvielecks.<br />
Für ein beliebiges regelmäßiges n-Eck gilt<br />
mit n·s+1 = n·s+2·n·b dann 1 = 2·n·b; mit<br />
π<br />
cot<br />
π b 1<br />
tan = folgt damit a = = n .<br />
n a<br />
π 2n<br />
2n<br />
tan<br />
n<br />
Je größer die Eckenzahl n ist, umso größer<br />
wird der Abstand a. Wächst a beliebig?<br />
Natürlich kann dieser Abstand a niemals<br />
größer werden als der <strong>im</strong> Falle des Kreises!<br />
Der Abstand a liegt <strong>im</strong> Falle des regelmäßigen<br />
Sechsecks (14,4 cm) schon relativ nahe<br />
an dem Grenzwert, den wir in Aufgabe 1<br />
gewonnen haben (≈16 cm):<br />
a = l<strong>im</strong><br />
n→∞<br />
130<br />
1 1<br />
= ≈16 [cm].<br />
π<br />
2n<br />
tan<br />
2π<br />
n<br />
s<br />
s + 2b<br />
Abb. 6: a ≈ 9,6 cm<br />
s<br />
s + 2b<br />
a<br />
Abb. 7: a ≈ 13,8 cm<br />
s<br />
s + 2b<br />
a<br />
Abb. 8: a ≈ 14,4 cm<br />
Aufgabe 8: Ein Seil um ein Kreisbogendreieck<br />
Um ein Reuleauxsches Dreieck (mit Kreisbögen<br />
vom Radius r) wird ein Faden gespannt,<br />
der um 1 m länger ist als der Umfang des<br />
Reuleauxschen Dreiecks selbst. Der Faden<br />
wird dabei so gespannt, dass er wieder ein<br />
Reuleauxsches Dreieck bildet. Beide Reuleauxschen<br />
Dreiecke sollen "konzentrisch"<br />
liegen, d.h., die Schwerpunkte der beiden<br />
Trägerdreiecke fallen zusammen <strong>und</strong> die<br />
a<br />
b<br />
b<br />
a<br />
a<br />
a<br />
b<br />
b<br />
b<br />
b
Eckpunkte des zweiten Trägerdreiecks liegen<br />
auf den Winkelhalbierenden des ersten Trägerdreiecks.<br />
(vgl. Abb. 9)<br />
u + 1<br />
b<br />
u<br />
r<br />
r<br />
r '<br />
Abb. 9<br />
Welchen Abstand a haben die Mittelpunkte<br />
der jeweiligen (zueinander ähnlichen) Kreisbögen<br />
der beiden Reuleauxschen Dreiecke?<br />
Welchen Abstand b haben die auf einer Winkelhalbierenden<br />
liegenden Eckpunkte der<br />
beiden Reuleauxschen Dreiecke?<br />
Lösung:<br />
Überraschender Weise ist zunächst der Umfang<br />
eines Reuleauxschen Dreiecks der Dicke<br />
r gerade gleich dem Umfang des Kreises<br />
mit dem Durchmesser dieser Dicke des Reuleauxschen<br />
Dreiecks. Das ist der Satz von<br />
Emile Barbier (1839–1889): u = πr.<br />
Mit πr+1 = π(r+a+b) = πr+π(a+b) folgt unmit-<br />
1<br />
telbar 1 = π(a +b), also a+b = ≈ 32 [cm].<br />
π<br />
Man kann dann zeigen, dass sich so<br />
3 − 3<br />
3<br />
a = ≈13,5 [cm]; b = ≈ 18,4 [cm] er-<br />
3π<br />
3π<br />
geben. Diese beiden Abstände sind von der<br />
"Dicke" r des gegebenen Reuleauxschen<br />
Dreiecks unabhängig.<br />
Aufgabe 9: Ein Seil um ein Kreisbogenviereck<br />
Um ein Quadrat der Seitenlänge s werden<br />
vom Mittelpunkt jeder Seite Kreisbögen<br />
durch die gegenüber liegenden Eckpunkte<br />
geschlagen. Um dieses Kreisbogenviereck<br />
wird ein Faden gespannt, der um 1 m länger<br />
ist als der Umfang des Kreisbogenvierecks<br />
selbst.<br />
Der Faden wird dabei so gespannt, dass er<br />
wieder ein Kreisbogenviereck bildet. Beide<br />
Kreisbogenvierecke sollen so liegen, dass<br />
die Mittelpunkte der beiden Trägerquadrate<br />
zusammenfallen <strong>und</strong> die Eckpunkte des<br />
zweiten Trägerquadrates auf den Winkelhal-<br />
a<br />
Dynamische Visualisierung einer Aufgabe (in Variationen)<br />
bierenden des ersten Trägerquadrates liegen.<br />
(vgl. Abb. 10)<br />
u + 1 u<br />
a<br />
b<br />
M<br />
s<br />
s '<br />
Abb. 10<br />
Welchen Abstand a haben die Mittelpunkte<br />
der jeweiligen (zueinander ähnlichen) Kreisbögen<br />
der beiden Kreisbogenquadrate? Welchen<br />
Abstand b haben die auf einer Winkelhalbierenden<br />
liegenden Eckpunkte der beiden<br />
Kreisbogenquadrate?<br />
Lösung:<br />
Mit etwas Geduld erhält man auch hier, dass<br />
die beiden Abstände a <strong>und</strong> b von der Seitenlänge<br />
s des gegebenen Quadrates unabhängig<br />
sind: a ≈ 14,9 cm; b ≈ 17,1 cm. Ihre<br />
Summe a+b ist damit ebenfalls etwa 32 cm.<br />
1.4 Eine sportliche <strong>und</strong> fünf<br />
physikalische Variationen<br />
von Aufgabe 1<br />
Statt des Seils, das <strong>im</strong> Abstand von 1 m von<br />
der Erdoberfläche um den Äquator gespannt<br />
wird, findet man in der Literatur auch die Version,<br />
ein Eisenbahngleis um den Äquator zu<br />
verlegen. Dass es sich hierbei erst recht um<br />
ein Gedankenexper<strong>im</strong>ent handelt, sei noch<br />
einmal hervorgehoben.<br />
Aufgabe 10: Per D-Zug um den Äquator <strong>—</strong><br />
ein "fragwürdiges" Eisenbahngleis<br />
Ein Eisenbahngleis, das r<strong>und</strong> um den Äquator<br />
führt <strong>und</strong> komplett in der Äquatorebene<br />
liegen möge, verlaufe mit der inneren Schiene<br />
direkt auf dem Äquator, die äußere<br />
Schiene liege in der Luft.<br />
Um wie viel Meter wäre die äußere Schiene<br />
länger als die innere Schiene? (vgl. Abb. 11)<br />
(a = Gleisbreite = Spurweite = 1,46 m)<br />
r<br />
r '<br />
131
Ingmar Lehmann<br />
132<br />
Abb. 11<br />
Lösung:<br />
Die Lösung folgt dem Muster in Aufgabe 2.<br />
Statt der Länge von etwa 6,30 m, die sich<br />
dort als Differenz bei 1 m Abstand ergab, erhalten<br />
wir in diesem Fall läußereSch–linnereSch =<br />
2πa ≈ 9,17 [m].<br />
Dagegen erhalten wir ein ganz anderes Resultat,<br />
wenn das ganze Gleis auf der Erde<br />
verlegt wird, d.h. die eine Schiene auf dem<br />
Äquator, die andere auf einem (parallelen)<br />
Breitenkreis zum Äquator liegt (Aufgabe 15).<br />
Aufgabe 10 lässt sich auch so formulieren,<br />
dass überhaupt kein Seil mehr (oder Gleis) in<br />
Erscheinung tritt:<br />
Aufgabe 11: Einmal zu Fuß um den Äquator<br />
Ein Mensch, der (a =) 1,80 m groß ist, laufe<br />
(in Gedanken) einmal längs des Äquators um<br />
die Erde. Dabei ist der Weg des Kopfes länger<br />
als der der Füße.<br />
Um wie viel ist der "Kopfweg" länger?<br />
Lösung:<br />
lKopfweg–lFußweg = 2πa ≈ 11,31 [m].<br />
Alternativ bietet sich auch an, den größten<br />
<strong>und</strong> kleinsten Schüler auszuwählen, <strong>und</strong> zu<br />
fragen, wessen Differenz zwischen Kopf- <strong>und</strong><br />
Fußweg größer (kleiner) ist.<br />
Der Extremfall, dass die Füße an einer Achse<br />
(z. B. einer Reckstange) "drehbar befestigt"<br />
sind <strong>und</strong> der gestreckte Körper eine vollständige<br />
Drehung um diese Achse vollführt,<br />
liefert diesen Wert für die Wegdifferenz zwischen<br />
Kopf <strong>und</strong> Füßen unmittelbar; der<br />
"Äquator", d.h. der Weg der Füße, schrumpft<br />
auf Null.<br />
Der Felgumschwung wäre besser geeignet,<br />
allerdings würden dann die Hände die Rolle<br />
der Füße übernehmen, während diese die<br />
Rolle des Kopfes spielen würden. (vgl. Abb.<br />
12)<br />
Abb. 12<br />
Aufgabe 12: Ein "kaltes" Drahtseil um den<br />
Äquator<br />
Diesmal legen wir einen Draht, ein Stahlseil,<br />
straff um den Äquator.<br />
Wie tief schneidet sich der Draht (konzentrisch)<br />
in die Erde hinein, wenn der Draht um<br />
1°C (oder 1°K) abgekühlt wird <strong>und</strong> wir annehmen,<br />
dass der Draht dabei nicht reißt <strong>und</strong><br />
auch nicht mechanisch beeinflusst wird?<br />
Lösung:<br />
Die Längenänderung ∆l hängt von der ursprünglichen<br />
Länge l, der Temperaturdifferenz<br />
∆t <strong>und</strong> dem linearen Ausdehnungskoef-<br />
1<br />
fizienten α ab (αStahl = 0,000013 [ ]):<br />
° K<br />
∆l = α·l·∆t.<br />
Damit erhalten wir bei Abkühlung um ∆t (°C)<br />
die neue Länge l–∆l = l–α·l·∆t = l(1–α·∆t).<br />
In unserem Fall ergibt sich dann<br />
∆l = lÄquator–lDraht = α·lÄquator·∆t ≈ 520 m.<br />
Für die Differenz aus ursprünglicher <strong>und</strong> abgekühlter<br />
Drahtlänge erhalten wir ferner<br />
∆l = 2πr–2π(r–a) = 2πa.<br />
Der Draht schneidet sich mit einer Tiefe von<br />
knapp 83 m in die Erdoberfläche hinein.<br />
Aufgabe 13: Ein "heißes" Drahtseil um<br />
den Äquator<br />
Wir legen wieder einen Draht (Stahlseil)<br />
straff um den Äquator. Um wie viel Grad<br />
müsste dieser Draht erwärmt werden, damit<br />
er genau 1 m länger als der Äquator wird?<br />
Oder anders gefragt:<br />
Um wie viel Grad müsste ein solcher konzentrisch<br />
gespannter Draht erwärmt werden,<br />
damit er überall denselben Abstand vom<br />
Äquator hätte wie das Seil aus der "Urfassung"<br />
der Aufgabe (a ≈ 16 cm)?
Lösung:<br />
Mit lÄquator+1 = lÄquator+lÄquator·α·∆t erhalten wir<br />
∆t ≈ 0,002°C.<br />
Es genügt also eine winzige Temperaturerhöhung<br />
von etwa 0,002°C, um diesen Abstand<br />
von etwa 16 cm herzustellen.<br />
Aufgabe 14: Per D-Zug um den Äquator <strong>—</strong><br />
ein "gewagtes" Eisenbahngleis<br />
Ein Eisenbahngleis wird entlang des Äquators<br />
verlegt. Eine Schiene folgt exakt dem<br />
Äquator ("Äquatorschiene"), die dazu parallele<br />
Schiene soll ganz auf der Erde verlegt<br />
werden, also auf einem (parallelen) Breitenkreis<br />
zum Äquator ("Parallelschiene"). Die<br />
Äquatorschiene sei genau 1 m länger als die<br />
Parallelschiene. (vgl. Abb. 13)<br />
Wie groß ist der Gleisabstand a?<br />
Oder anders gefragt: Auf welchem Breitenkreis<br />
verläuft die Parallelschiene?<br />
Lösung:<br />
h<br />
M'<br />
M<br />
Abb. 13<br />
r<br />
r '<br />
B<br />
a<br />
α a/2<br />
α/2<br />
r C<br />
r<br />
a = ≈ 1423,5 [m]. Die Spurweite wäre al-<br />
π<br />
so "gigantisch", nämlich fast 1½ km.<br />
Aufgabe 15: Per D-Zug um den Äquator –<br />
ein normales Eisenbahngleis<br />
Ein Eisenbahngleis wird entlang des Äquators<br />
verlegt. Eine Schiene folgt exakt dem<br />
Äquator ("Äquatorschiene"), die dazu parallele<br />
Schiene soll ganz auf der Erde verlegt<br />
werden, also auf einem (parallelen) Breitenkreis<br />
zum Äquator ("Parallelschiene").<br />
Um wie viel Meter wäre die Äquatorschiene<br />
eines solchen Gleises, das r<strong>und</strong> um den<br />
Äquator führt, länger als die zugehörige Parallelschiene,<br />
wenn angenommen wird, dass<br />
die Parallelschiene ganz auf der Erde verlegt<br />
b<br />
A<br />
Dynamische Visualisierung einer Aufgabe (in Variationen)<br />
wird, also auf einem Parallelkreis zum Äquator?<br />
(a = Gleisbreite = Spurweite = 1,46 m)<br />
Lösung:<br />
Die Spurweite a können wir wegen des sehr<br />
kleinen Winkels α mit dem Bogen b identifizieren.<br />
Ein erwartetes <strong>—</strong> oder wohl eher unerwartetes<br />
Resultat: die Schienen unterscheiden<br />
sich in ihrer Länge nicht! Der Taschenrechner<br />
zeigt ∆l = 0 an; die Grenze der Genauigkeit<br />
ist hier erreicht. Selbst per Computer-<br />
Algebra-System wird erst bei 25- bzw. 30stelliger<br />
Anzeige ein von Null verschiedener<br />
Wert ermittelt. Der TI-92 liefert ∆l = 1,2 µm.<br />
2 Das hochgezogene Seil<br />
2.1 Die "aufgehängte" Erdkugel<br />
Aufgabe 16:<br />
Das Seil wird – wie in Aufgabe 1 – um 1 m<br />
verlängert. Aber jetzt soll es nicht konzentrisch<br />
liegen, sondern so gezogen werden,<br />
dass es an einer Stelle max<strong>im</strong>alen Abstand<br />
von der Erdoberfläche besitzt. (vgl. Abb. 14)<br />
Wie weit lässt sich das Seil hochziehen?<br />
Q<br />
T<br />
R<br />
M<br />
x<br />
α<br />
Abb. 14<br />
Das Ergebnis ist scheinbar (wieder) paradox!<br />
Hatten die Schüler in Aufgabe 1 zunächst<br />
wohl eher erwartet, das Seil lasse bei 1 m<br />
Verlängerung <strong>und</strong> konzentrischer Spannung<br />
kaum Spielraum für eine Maus zum Hindurchkriechen,<br />
so liefert dieselbe Verlängerung<br />
um 1 m, jetzt aber tangentialer "Aufhängung"<br />
der Erde <strong>im</strong> Seil, ein wieder ganz unerwartetes<br />
Resultat: fast 122 m (Meter!).<br />
b<br />
y<br />
r<br />
S<br />
133
Ingmar Lehmann<br />
Lösung:<br />
2π ⋅ r ⋅α<br />
Die Gleichung b = = r·tanα–0,5 lässt<br />
360°<br />
sich nicht geschlossen lösen. Man kann sie<br />
aber numerisch lösen. Mit einem Computer-<br />
Algebra-System ist das kein Problem<br />
(DERIVE: α = 0,3538811189°). Der TI-92 liefert<br />
α = 0,353881176881° als Lösung.<br />
Auch sinnvolles Probieren (mittels TR) führt<br />
uns zur Lösung dieser Gleichung (mit r =<br />
6 366 198 m als Erdradius). Für α = 0,354°<br />
2π ⋅ r ⋅α<br />
st<strong>im</strong>men die Terme <strong>und</strong> r·tanα– 0,5<br />
360°<br />
dann bereits in 8 Ziffern überein.<br />
Das Seil liegt somit knappe (y =) 40 km nach<br />
jeder Seite in der Luft, ehe es sich an den<br />
Äquator anschmiegt. Für die gesuchte Höhe<br />
x = r·( α<br />
2<br />
1<br />
1+ tan –1) = r·( –1) finden wir<br />
cosα<br />
so die bereits angebene Weite (121,5 m).<br />
Jetzt ist das Ergebnis also vom Radius r (<strong>und</strong><br />
vom Winkel α) abhängig!<br />
Dieses Resultat ist vielleicht auch deshalb<br />
erstaunlich, weil man intuitiv ann<strong>im</strong>mt, dass<br />
bei einem solchen Erdumfang (von 40 000<br />
km) ein zusätzlicher Meter quasi "verschwinden"<br />
müsste. Aber das ist der Irrtum! Je größer<br />
nämlich die Kugel ist, desto weiter kann<br />
das Seil weggezogen werden.<br />
Gawlick (2001) hebt hervor, dass sich die<br />
Aufgabe als exemplarisches Beispiel zum reflektierten<br />
Umgang mit einem Computer-<br />
Algebra-System eignet. Kirsch (2002) betont,<br />
dass der Fehler des zur Seilverlängerung<br />
1 m gef<strong>und</strong>enen Abstandes von 121,50 m<br />
1<br />
weniger als von 0,041% beträgt, <strong>und</strong> das<br />
64<br />
ist jedenfalls weniger als 1 mm!<br />
2.2 Sieben Variationen des<br />
hochgezogenen Seils<br />
Wie in Aufgabe 4 wird statt der Erde ein Apfel,<br />
ein Tischtennisball oder sogar nur eine<br />
Scheibe, etwa eine Euro-Cent-Münze, gewählt.<br />
Aufgabe 17: Die "aufgehängte" Cent-Münze<br />
Ein Faden wird um eine Euro-Cent-Münze<br />
gelegt (Durchmesser 16,25 mm), um 1 m<br />
verlängert <strong>und</strong> so gezogen, dass er an einer<br />
Stelle max<strong>im</strong>alen Abstand vom Münzrand<br />
besitzt.<br />
Wie weit lässt sich der Faden hochziehen?<br />
134<br />
Lösung:<br />
Das Ergebnis ist diesmal nicht unerwartet:<br />
Mit α ≈ 89,092° ergibt sich x ≈ 504,6 mm.<br />
Das ist fast das Ergebnis des Extremfalles, in<br />
dem der Radius des Kreises auf Null<br />
schrumpft (x = 0,5 m).<br />
Anschauung <strong>und</strong> Erfahrung helfen <strong>im</strong> Falle<br />
der Aufgabe 16 (der "aufgehängten" Erdkugel)<br />
i.Allg. gar nicht weiter; sie stehen einer<br />
Lösung eher <strong>im</strong> Wege. Im täglichen Leben<br />
abstrahieren wir von der Erdkrümmung; wir<br />
sehen die Umgebung als eben an.<br />
Schwier (1997) hat gezeigt, wie man sich<br />
dennoch dieser unerwarteten Lösung (x ≈<br />
122 m) nähern kann, indem zuvor eine entsprechende<br />
Betrachtung in der Ebene angestellt<br />
wird: (vgl. Abb. 15)<br />
l<br />
+ 0,5<br />
2<br />
C<br />
x<br />
l<br />
+ 0,5<br />
2<br />
A<br />
l<br />
M<br />
l<br />
B<br />
2<br />
2<br />
Abb. 15<br />
Das Seil der Länge l liege straff gespannt<br />
zwischen den Punkten A <strong>und</strong> B. Wird das<br />
Seil jetzt um 1 m verlängert <strong>und</strong> in der Mitte<br />
max<strong>im</strong>al nach oben gezogen, lässt sich dieser<br />
Abstand x leicht berechnen. Ein fast 20<br />
km langes Seil lässt sich bereits fast 100 m<br />
in der Mitte anheben! (Dabei wird natürlich<br />
vernachlässigt, dass sich das Seil bei zu<br />
großer Länge kaum noch geradlinig spannen<br />
ließe.)<br />
Aufgabe 18: Das "aufgehängte" Quadrat<br />
s = u<br />
4<br />
Q<br />
A<br />
y y<br />
x<br />
s u<br />
=<br />
2 8<br />
T<br />
R<br />
s = u<br />
4<br />
Abb. 16<br />
S<br />
B
Um ein Quadrat (Umfang u = 40 000 km)<br />
wird ein Seil gespannt, das um 1 m länger ist<br />
als der Quadratumfang selbst. Das Seil wird<br />
dabei so gespannt, dass es über der Mitte<br />
einer Quadratseite max<strong>im</strong>al weggezogen<br />
wird. (vgl. Abb. 16)<br />
Welchen Abstand x hat das Seil in diesem<br />
Punkt vom Quadratrand?<br />
Lösung:<br />
Mit lSeil = uQuadrat+1 = 4s+1 = 3s+2y folgt<br />
s + 1 2 s + 1<br />
y = <strong>und</strong> x = (Pythagoras).<br />
2<br />
2<br />
Mit s = 10 000 km (u = 40 000 km) erhebt<br />
sich damit das Seil in die "schwindelerregende"<br />
Höhe von x ≈ 2 236 m.<br />
Aufgabe 19: Das "aufgehängte", aber gekippte<br />
Quadrat<br />
Um ein Quadrat (Umfang u = 40 000 km)<br />
wird ein Seil gespannt, das um 1 m länger ist<br />
als der Quadratumfang selbst. Das Seil wird<br />
dabei so gespannt, dass es entlang einer Diagonalenrichtung<br />
(des Quadrates) max<strong>im</strong>al<br />
weggezogen wird.<br />
Wie weit lässt sich das Seil hochziehen?<br />
M.a.W.: Welchen Abstand x hat das Seil in<br />
diesem Punkt vom nächstgelegenen Eckpunkt<br />
des Quadrates? (vgl. Abb. 17)<br />
A<br />
α<br />
y<br />
E<br />
β<br />
M<br />
β<br />
s s<br />
B<br />
x<br />
D<br />
Abb. 17<br />
Lösung:<br />
Im Unterschied zu Aufgabe 18 "hängt" in diesem<br />
Fall das Quadrat in einer stabilen Lage:<br />
y<br />
α<br />
C<br />
Dynamische Visualisierung einer Aufgabe (in Variationen)<br />
2 1<br />
x = – s+ 2 4 1<br />
2 2<br />
2<br />
s + s + ≈ 71 cm. Wieder<br />
eine Überraschung! Nachdem wir jetzt, d.h.<br />
nach den vorangehenden Varianten, eher<br />
wieder mit einer langen Strecke "gerechnet"<br />
hätten, ist sie in Wirklichkeit sehr kurz.<br />
Aufgabe 20: Das "aufgehängte" Gleichdick<br />
<strong>—</strong> Spitze nach unten<br />
Um ein Reuleauxsches Dreieck (mit Kreisbögen<br />
vom Radius r) wird ein Seil gespannt,<br />
das um 1 m länger ist als der Umfang des<br />
Reuleauxschen Dreiecks selbst. Das Seil<br />
wird dabei so nach oben gezogen, dass das<br />
Reuleauxsche Dreieck mit einer Ecke nach<br />
unten <strong>im</strong> Seil "aufgehängt" wird. (vgl. Abb.<br />
18, 19)<br />
b<br />
y<br />
D<br />
x<br />
N c<br />
A B<br />
b<br />
C<br />
Abb. 18<br />
y<br />
D<br />
x y<br />
TA c<br />
Nc TB c<br />
A B<br />
C<br />
Abb. 19<br />
y<br />
r<br />
b<br />
b<br />
135
Ingmar Lehmann<br />
Wie weit lässt sich das Seil hochziehen?<br />
Lösung:<br />
Wenn das Reuleauxsche Dreieck einen Umfang<br />
von 40 000 km hat, ist x ≈ 153 m (Fall 2<br />
in Abb. 19). Fall 1 in Abb. 18 kann dann nicht<br />
eintreten.<br />
Aufgabe 21: Das "aufgehängte" Gleichdick<br />
<strong>—</strong> Spitze nach oben<br />
Diesmal wird das Seil so nach oben gezogen,<br />
dass das Reuleauxsche Dreieck mit einem<br />
Kreisbogen nach unten <strong>im</strong> Seil "aufgehängt"<br />
wird. (vgl. Abb. 20)<br />
Wie weit lässt sich das Seil hochziehen?<br />
136<br />
z<br />
T b<br />
D<br />
y C y<br />
A B<br />
b<br />
x<br />
Abb. 20<br />
Lösung:<br />
Wenn das Reuleauxsche Dreieck einen Umfang<br />
von 40 000 km hat, ist x ≈ 89 cm.<br />
Aufgabe 22: Das "aufgehängte" Kreisbogenquadrat<br />
Um ein Kreisbogenquadrat (Quadrat der Seitenlänge<br />
s) wird ein Seil gespannt, das um<br />
1 m länger ist als der Umfang des Kreisbogenvierecks<br />
selbst. Das Seil wird dabei über<br />
dem Mittelpunkt eines Kreisbogens nach<br />
oben gezogen, sodass das Kreisbogenquadrat<br />
<strong>im</strong> Seil "aufgehängt" wird. (vgl. Abb. 21,<br />
22)<br />
Wie weit lässt sich das Seil hochziehen?<br />
Lösung:<br />
Wenn das Kreisbogenquadrat einen Umfang<br />
von 40 000 km hat, ist x ≈ 145 m (Fall 2 in<br />
Abb. 22). Fall 1 in Abb. 21 kann dann nicht<br />
eintreten.<br />
b'<br />
T a<br />
z<br />
x<br />
D C<br />
E<br />
A B<br />
F<br />
Abb. 21<br />
D<br />
TD E<br />
x<br />
F<br />
TC C<br />
A M B<br />
s<br />
Abb. 22<br />
Aufgabe 23: Das "aufgehängte", aber gekippte<br />
Kreisbogenquadrat<br />
Diesmal wird das Seil so nach oben gezogen,<br />
dass das Kreisbogenquadrat mit einer<br />
Ecke nach unten <strong>im</strong> Seil "aufgehängt" wird.<br />
(vgl. Abb. 23, 24)<br />
Wie weit lässt sich das Seil hochziehen?<br />
Lösung:<br />
Der Fall 1 (EA, EC sind keine Tangenten) bereitet<br />
keine Probleme (Abb. 23). Wenn das<br />
Kreisbogenquadrat jedoch einen Umfang von<br />
40 000 km haben soll, kommt nur Fall 2<br />
(Abb. 24) in Frage. Dieses Problem ist offen!
A<br />
A<br />
d<br />
T A<br />
c<br />
c<br />
y<br />
F<br />
y<br />
s<br />
D<br />
E<br />
B<br />
x<br />
Abb. 23<br />
s<br />
s s<br />
r<br />
D<br />
E<br />
B<br />
x<br />
Abb. 24<br />
3 Dynamische Geometriesoftware<br />
<strong>und</strong> die<br />
Äquator-Seil-Aufgabe<br />
Wir setzen <strong>im</strong> Folgenden den Zugmodus ein,<br />
über den jede dynamische Geometriesoftware<br />
(DGS) verfügt. Der Zugmodus gestattet<br />
r<br />
y<br />
y<br />
G<br />
c<br />
c<br />
T B<br />
d<br />
C<br />
C<br />
Dynamische Visualisierung einer Aufgabe (in Variationen)<br />
es, an einem (unabhängigen) Punkt in einer<br />
Konstruktion beliebig ziehen zu können, ohne<br />
dadurch die geometrischen Beziehungen<br />
zwischen den konstruierten Objekten zu verändern.<br />
So bleibt also die Mittelsenkrechte einer<br />
Strecke AB stets ihre Mittelsenkrechte, auch<br />
wenn diese Strecke durch Ziehen an einem<br />
der beiden Endpunkte vergrößert, verkleinert<br />
bzw. verlagert wird. Die Schüler können unmittelbar<br />
beobachten, verfolgen, was mit der<br />
konstruierten Figur passiert, wenn sie an diesem<br />
oder jenem Punkt ziehen. Was ändert<br />
sich, was bleibt erhalten?<br />
Es ist gerade der Zugmodus, der die Schüler<br />
reizt, etwas selbst auszuprobieren.<br />
Wie lässt sich nun diese Dynamik solcher<br />
Geometriesoftware für unsere Zwecke nutzen?<br />
3.1 Ein Seil um einen Kreis<br />
Wie lässt sich die Situation, die Abb. 2 wiedergibt,<br />
dynamisch visualisieren?<br />
Vorab aber eine Anmerkung:<br />
Die Größenverhältnisse 40 000 km auf der<br />
einen Seite <strong>und</strong> 1 m auf der anderen Seite<br />
lassen sich natürlich am Bildschirm nicht<br />
nachvollziehen.<br />
Für eine aussagekräftige Zeichnung verlängern<br />
wir deshalb den Umfang u besser um<br />
eine Länge v, die <strong>im</strong> Größenbereich von r<br />
liegt.<br />
Jetzt können wir zeigen, wie die Konstanz<br />
des Abstandes zwischen den beiden Kreisen<br />
erlebbar wird. (vgl. Abb. 25 <strong>—</strong> "in Aktion")<br />
Durch Ziehen am ("oberen") Punkt A vergrößern<br />
oder verkleinern wir den Radius r.<br />
Die Änderungen werden unmittelbar angezeigt<br />
(per Messbefehl). Der Abstand a bleibt<br />
konstant.<br />
Dass es sich hierbei aber nicht um eine fest<br />
eingegebene Länge handelt, wird deutlich,<br />
wenn nun auch die Verlängerung v verändert<br />
wird (Ziehen am Punkt Q).<br />
Der entscheidende Punkt ist die Konstruktion<br />
des (Seil-) Kreises mit dem Umfang u+v. Mit<br />
Hilfe des in die DGS integrierten Rechners<br />
u + v<br />
ermitteln wir den zugehörigen Radius<br />
2π<br />
(= r+a) <strong>und</strong> nutzen den Befehl "Kreis aus Mittelpunkt<br />
<strong>und</strong> Radius".<br />
Die Schüler können hier die Konstruktion beliebig<br />
verändern; das "paradoxe" Resultat<br />
wird <strong>im</strong>mer wieder aufs Neue bestätigt.<br />
137
Ingmar Lehmann<br />
138<br />
r<br />
M A<br />
P v<br />
Q<br />
Ausgangskreis: Radius:<br />
Fadenkreis: Umfang:<br />
u + v<br />
u<br />
Umfang:<br />
Verlängerung:<br />
Radius:<br />
Abstand:<br />
r = 5,00 cm<br />
u = 31,42 cm<br />
v = 9,00 cm<br />
u+v = 40,42 cm<br />
u+v<br />
= 6,43 cm<br />
2⋅π<br />
a = 1,43 cm<br />
M<br />
Abb. 25<br />
a<br />
C<br />
D<br />
r<br />
r + a<br />
Für den Fall r = 0 versagt das Programm, da<br />
der äußere Kreis in Abhängigkeit vom inneren<br />
Kreis konstruiert worden ist.<br />
s<br />
v<br />
Ausgangsquadrat: Seite:<br />
Fadenquadrat: Umfang:<br />
s<br />
Umfang:<br />
Verlängerung:<br />
Seite:<br />
Abstand:<br />
s<br />
s = 10,00 cm<br />
u = 40,00 cm<br />
v = 5,00 cm<br />
a = 1,25 cm<br />
a s<br />
a<br />
Abb. 26<br />
A<br />
u+v = 45,01 cm<br />
( u+v)<br />
= 11,25 cm<br />
4<br />
B<br />
a<br />
s<br />
a<br />
3.2 Ein Seil um ein Quadrat<br />
Analog zeigen wir die Konstanz des Abstandes<br />
zwischen den beiden Quadraten. (vgl.<br />
Abb. 5, 26)<br />
u + v<br />
Hier muss zunächst die Seite (= s+2a)<br />
4<br />
des Fadenquadrates konstruiert werden.<br />
Wenn wir dann die gegebene Seitenlänge s<br />
des Ausgangsquadrates verändern, bleibt<br />
der Abstand a zwischen beiden Quadraten<br />
unverändert; anschließend variieren wir die<br />
Verlängerung v (des Umfangs u).<br />
3.3 Das hochgezogene Seil<br />
Um diese Aufgabe "dynamisieren" zu können<br />
(vgl. Abb. 14), stützen wir uns auf die Näherungsberechnung<br />
des Winkels α.<br />
Mit α ≈ 3<br />
3<br />
können wir (allerdings nur für<br />
2r<br />
kleine α – hier ist der "Haken") dann die Hö-<br />
1<br />
he x [= r · ( – 1)] berechnen. Damit<br />
cosα<br />
sind wir in der Lage, die Punkte T <strong>und</strong> S<br />
(Thales) zu konstruieren. (vgl. Abb. 27)<br />
Eine andere Möglichkeit der Konstruktion<br />
bietet sich über die Sehne RS. Das Dilemma,<br />
für den am Bildschirm benötigten Winkel α<br />
(zwischen 20° <strong>und</strong> 70°) keine einfache Näherungslösung<br />
zu besitzen, lässt sich aber<br />
auch damit nicht beheben.<br />
Immerhin lassen sich aber best<strong>im</strong>mte Zusammenhänge<br />
zwischen den gegebenen<br />
Größen r <strong>und</strong> v sowie den abhängigen Größen<br />
α, b, y <strong>und</strong> schließlich x demonstrieren.<br />
Insbesondere lässt sich auch die "Grenzlage"<br />
mit α ≈ 90° s<strong>im</strong>ulieren:<br />
Ausgangskreis: Radius r = 5,90 cm<br />
Umfang u = 37,07 cm<br />
Verlängerung v = 15,24 cm<br />
Faden: Länge: u+v = 52,31 cm<br />
Winkel: α = 89,99°<br />
Abstand: x = 32 459,15 cm ≈ 325 m (!)<br />
Vielleicht "glauben" wir jetzt auch an die fast<br />
122 m <strong>im</strong> Falle des Äquatorseils?!
Faden: Länge: u+v = 41,42 cm<br />
v<br />
Winkel: α ≈ ( 43,62°<br />
u = 39,57 cm<br />
v = 1,85 cm<br />
2,40 cm<br />
3v<br />
2r )<br />
1<br />
3 =<br />
(für kleine α ; hier schon verletzt!)<br />
Tang.Absch.: y = b + v<br />
M A<br />
P Q<br />
Ausgangskreis: Radius: r = 6,30 cm<br />
Umfang:<br />
2<br />
Verlängerung:<br />
1<br />
Abstand: x = r ⋅ ( - 1) =<br />
cos α<br />
Nachtrag<br />
Das in Aufgabe 23 (das "aufgehängte", aber<br />
gekippte Kreisbogenquadrat) gestellte Problem<br />
(Fall 2) konnte inzwischen von Herrn<br />
Dr. Thomas Gawlick mit Methoden der analytischen<br />
Geometrie gelöst werden: Der Punkt<br />
G in Abb. 24 wird in den Koordinatenursprung<br />
gelegt. (s. Abb. 28)<br />
Dabei wird insbesondere deutlich, wie die<br />
heuristische Lösungsfunktion eines DGS dazu<br />
verwendet werden kann, einen plausiblen<br />
algebraischen Schluss streng abzusichern.<br />
A<br />
Q<br />
T A<br />
-5<br />
F<br />
s<br />
B<br />
T<br />
R<br />
M<br />
x<br />
α<br />
r<br />
s/2<br />
b<br />
y<br />
r<br />
Abb. 28<br />
r<br />
10<br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
-2<br />
D<br />
G<br />
S<br />
Abb. 27<br />
x<br />
r<br />
E<br />
b<br />
s<br />
A<br />
y<br />
TB d<br />
C<br />
Dynamische Visualisierung einer Aufgabe (in Variationen)<br />
Literatur<br />
Gawlick, Thomas (2001): Die aufgehängte<br />
Erdkugel als Aufhänger. In: Praxis<br />
der <strong>Mathematik</strong> 43, 241–243<br />
Kirsch, Arnold (2002): Die aufgehängte<br />
Erdkugel <strong>—</strong> mehr Durchblick mit Näherungsrechnung?<br />
In: Praxis der <strong>Mathematik</strong><br />
44, 82–83<br />
Schwier, Manfred (1997): Paradoxien<br />
<strong>und</strong> ihre didaktische Funktion. In: <strong>Mathematik</strong><br />
in der Schule 35, Heft 1, 30–<br />
40<br />
Walsch, Werner (2000): Die aufgehängte<br />
Erdkugel <strong>und</strong> andere praxisferne Anwendungsaufgaben.<br />
In: Mathematische<br />
Unterrichtspraxis 21, Heft 1,<br />
31–35<br />
Winter, Heinrich (1991): Entdeckendes<br />
<strong>Lernen</strong>. Wiesbaden & Braunschweig:<br />
Vieweg<br />
139
� Von Pr<strong>im</strong>zahlen zur Verschlüsselung mit RSA <strong>—</strong><br />
Eine Unterrichtseinheit <strong>im</strong> <strong>WWW</strong> für eine 11. Klasse<br />
1 Vorbemerkung<br />
Die meisten beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg<br />
verwenden seit einigen<br />
Jahren Computeralgebrasysteme <strong>im</strong> Unterricht<br />
<strong>und</strong> <strong>im</strong> Abitur, an meiner Schule wird<br />
nach dem TI-89, 92 <strong>und</strong> 92+ nun der TI-<br />
140<br />
Carsten Münchenbach, Emmendingen<br />
In den letzten Jahren wurden zahlreiche Lehr- <strong>und</strong> Lernportale <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> erstellt, in denen<br />
Wissen <strong>und</strong> Informationen aufbereitet werden. Ich habe <strong>im</strong> Rahmen meiner zweiten<br />
Staatsexamensarbeit 1999 versucht, eine komplette Unterrichtseinheit zum Thema Kryptographie<br />
für die interaktive Verwendung <strong>im</strong> <strong>WWW</strong> umzusetzen. Das Ergebnis ist seit<br />
damals online <strong>und</strong> wird von Lehrern, Schülern, Studenten <strong>und</strong> mathematisch interessierten<br />
Menschen genutzt.<br />
Voyage 200 eingesetzt. Unterricht in Computertechnik<br />
spielt ebenfalls eine größere Rolle<br />
als am allgemeinbildenden Gymnasium in<br />
BW. Meine Schule ist deshalb recht gut mit<br />
Computerräumen ausgestattet. Das hier vorgestellte<br />
Projekt ist erst durch diese Umstände<br />
möglich geworden.<br />
Abb. 1: Der Zeitplan der Unterrichtseinheit mit Themenübersicht
2 Die Staatsexamensarbeit<br />
Die über 2000 Jahre alte Kunst der Kryptographie<br />
(Gehe<strong>im</strong>schrift) <strong>und</strong> Kryptoanalyse<br />
(Analyse von Gehe<strong>im</strong>schriften) faszinierte die<br />
Menschen schon <strong>im</strong>mer, die Bedeutung der<br />
Gehe<strong>im</strong>haltung ist aber heute so groß wie<br />
nie in der Menschheitsgeschichte zuvor. Waren<br />
früher nur Feldherren <strong>und</strong> Kaiser auf sichere<br />
Kommunikation angewiesen, wird "Otto<br />
Normalverbraucher" heute von PIN, TAN,<br />
Passwörtern be<strong>im</strong> E-Mailen oder allgemein<br />
am Computer, abhörsicheren verschlüsselten<br />
Handy-Telefonaten, Pay-TV-Karten, usw. auf<br />
Schritt <strong>und</strong> Tritt von Verschlüsselungsverfahren<br />
verfolgt, oft ohne dass er es merkt.<br />
Das Ziel meiner Staatsexamensarbeit war,<br />
den Schülern mit einem public-key-Verfahren,<br />
dem RSA-Verfahren, eine Anwendung<br />
der reinen <strong>Mathematik</strong> zu vermitteln. Das<br />
RSA-Verfahren ist ein Verschlüsselungsverfahren,<br />
das bei sorgsamer Wahl der Schlüsselgröße<br />
auch heute mit genügend leis-<br />
Von Pr<strong>im</strong>zahlen zur Verschlüsselung mit RSA <strong>—</strong> Eine Unterrichtseinheit <strong>im</strong> <strong>WWW</strong><br />
tungsstarken Rechnern nicht geknackt werden<br />
kann. Das Verfahren beruht auf wenigen<br />
Sätzen der Zahlentheorie (Satz von Euler,<br />
Kleiner Satz von Fermat), die relativ einfach<br />
zu verstehen sind, der Tatsache, dass die<br />
Faktorisierung von Zahlen mit zunehmender<br />
Größe <strong>im</strong>mer schwieriger wird, <strong>und</strong> auf dem<br />
Rechnen mit Restklassen.<br />
Eingebettet wurde das Ganze in Historisches<br />
zur Zahlentheorie, Betrachtungen zu Pr<strong>im</strong>zahlen,<br />
Kongruenzrechnung <strong>und</strong> Faktorisierung<br />
(s.a. Abb. 1). So entstand eine Unterrichtseinheit<br />
über sechs Doppelst<strong>und</strong>en.<br />
Die gesamte Unterrichtseinheit wurde als<br />
Lernprogramm in Form einer Webseite zusammengefasst,<br />
die den Schülern <strong>im</strong> Unterricht<br />
zum Arbeiten, Wiederholen, Stöbern<br />
<strong>und</strong> Suchen von Hintergr<strong>und</strong>informationen<br />
zur Verfügung stand.<br />
Die Arbeitsaufträge zum selbständigen Arbeiten<br />
mit dem CAS wurden den Schülern in<br />
Form von MuPAD-Worksheets übergeben, in<br />
einer überarbeiteten Version habe ich diese<br />
Abb. 2: Das Sieb des Eratosthenes, interaktiv mit Hilfe von JavaScript<br />
141
Carsten Münchenbach<br />
auch als .9xp-Dateien für den TI-Voyage<br />
oder 92+ gespeichert.<br />
3 Das Lernprogramm<br />
Es handelt sich bei dem Lernprogramm nicht<br />
um ein eigenständig lauffähiges Programm,<br />
sondern um ein Lernprogramm auf HTML-<br />
JavaScript-Basis, also eine Webseite. Es ist<br />
also lediglich ein Webbrowser nötig, um mit<br />
dem Lernprogramm zu arbeiten, wodurch der<br />
Einsatz auch auf älteren Computern <strong>und</strong> unter<br />
fast jedem Betriebsystem möglich ist. Das<br />
Design wurde für damals übliche Hard- <strong>und</strong><br />
Softwarekonfigurationen opt<strong>im</strong>iert. Für die<br />
opt<strong>im</strong>ale Darstellung wird eine Bildschirmauflösung<br />
von 800*600 (besser 1074*768) Pixeln<br />
benötigt, was die meisten Computer, die<br />
heute in Schulen oder bei den Schülern zu<br />
Hause zu finden sind, darzustellen in der Lage<br />
sind. Zur korrekten Wiedergabe ist lediglich<br />
ein Browser von Netscape/Mozilla oder<br />
Microsoft ab Version 4 nötig. Das Lernprogramm,<br />
das die komplette Unterrichtseinheit<br />
umfasst, ist über das <strong>Internet</strong> verfügbar. Zusätzlich<br />
wurde das Lernprogramm Schülern<br />
ohne eigenen <strong>Internet</strong>zugang zu Beginn der<br />
Unterrichtseinheit auf Diskette zur Verfügung<br />
gestellt.<br />
Der Anzeigebereich des Webbrowsers wurde<br />
in vier verschiedene, frei definierbare Segmente<br />
aufgeteilt, sogenannte "frames” oder<br />
Rahmen (s. Abb. 2). Rahmen bieten die<br />
Möglichkeit, einen (linearen) Text aufzubrechen<br />
<strong>und</strong> in nicht-linearer Weise aufzubereiten.<br />
Hierdurch ist eine bessere Gliederung<br />
<strong>und</strong> größere Übersichtlichkeit möglich. Der<br />
größte Rahmen (Rahmen 1, etwas heller, in<br />
der Mitte) ist der zentrale Anzeigebereich des<br />
Lernprogramms. Hier werden alle Inhalte<br />
dargestellt. Die Rahmen 2 (links) <strong>und</strong> 3<br />
(oben) sind statisch <strong>und</strong> verändern sich nicht.<br />
Im Rahmen 2 befindet sich die Hauptnavigation<br />
des Lernprogramms mit Verweisen zu<br />
dem "Zeitplan", einer Einführung in "MuPAD",<br />
der "Literaturliste", der "Linkliste", den "Lösungen"<br />
zu den Aufgaben, einer "Bildergalerie"<br />
<strong>und</strong> einer "Kommentarseite". Die Inhalte<br />
zu den Menüpunkten werden dann <strong>im</strong> Rahmen<br />
1 dargestellt. Im Rahmen 3 befindet sich<br />
eine Nebennavigationsleiste. Die Reiter<br />
("D(oppel)st<strong>und</strong>e 1", ..., "DSt<strong>und</strong>e 6") in diesem<br />
Rahmen verweisen auf die entsprechenden<br />
Abschnitte des Lernprogramms. Aus<br />
Gründen der Übersichtlichkeit wird <strong>im</strong> Rahmen<br />
1 nur soviel Text dargestellt, wie bei<br />
normaler Bildschirmauflösung gerade wiedergegeben<br />
werden kann. Der Benutzer kann<br />
142<br />
mit einer weiteren Navigationsleiste, die sich<br />
unter dem Text <strong>im</strong> Rahmen 1 befindet, zur<br />
nächsten oder vorherigen Seite springen.<br />
Der Text <strong>und</strong> das Layout <strong>im</strong> gesamten Lernprogramm<br />
wurde einheitlich gestaltet. Als<br />
Schrift wurde Arial, eine serifenlose Standardschriftart,<br />
gewählt. Das Seitenlayout <strong>und</strong><br />
die Farbgestaltung <strong>im</strong> Lernprogramm bleiben<br />
durchgängig gleich. Hyperlinks <strong>im</strong> Text sind<br />
an dunkelblauem fettgesetzten Text von normalem<br />
Text zu unterscheiden.<br />
4 <strong>Lernen</strong> <strong>im</strong> <strong>und</strong> mit dem<br />
<strong>WWW</strong><br />
Über das <strong>Lernen</strong> mit Medien (Mittlern) wurde<br />
in den letzten Jahren auf den AK-Tagungen<br />
wie auch 2003 vielfach referiert, die Vor- <strong>und</strong><br />
Nachteile diskutiert <strong>und</strong> erörtert. Diese Beiträge<br />
sollen an dieser Stelle nicht aufgegriffen,<br />
sondern mit den Erfahrungen <strong>und</strong> Meinungen<br />
<strong>im</strong> Bezug auf dieses Projekt ergänzt<br />
werden.<br />
Was kann das <strong>Lernen</strong> <strong>im</strong> <strong>WWW</strong> bzw. mit<br />
diesem Lernprogramm leisten, was von herkömmlichen<br />
Medien nicht oder nur schwer<br />
erreicht werden kann?<br />
Im Folgenden habe ich zunächst einige Thesen<br />
mit Kommentaren <strong>und</strong> zugehörigen Zitaten<br />
von Schülern zusammengefasst <strong>und</strong><br />
dann einige Kritikpunkte zum <strong>Lernen</strong> <strong>im</strong><br />
<strong>WWW</strong> aufgeführt.<br />
Thesen zum <strong>Lernen</strong> <strong>im</strong> <strong>WWW</strong>:<br />
<strong>Lernen</strong> <strong>im</strong> <strong>WWW</strong> ...<br />
... macht mehr Spaß<br />
• Arbeiten am Rechner macht den meisten<br />
Schülern Spaß.<br />
• Das Medium "<strong>Internet</strong>/Computer" fasziniert.<br />
• "Meistens macht <strong>Lernen</strong> keinen Spaß.<br />
<strong>Lernen</strong> bedeutet Arbeit <strong>und</strong> Disziplin." (Stoll,<br />
2002)<br />
... macht den Unterricht spannender <strong>und</strong><br />
anschaulicher<br />
• "Anschauung wird durch Interaktivität gesteigert."<br />
• "Ohne Computer zu trocken."<br />
• Alles andere als der übliche Unterricht ist<br />
für Schüler spannender.
... hilft, mehr Informationen zu vermitteln<br />
• "Ohne den Einsatz am Computer wäre<br />
diese Fülle an Informationen nicht vermittelbar<br />
gewesen."<br />
• Wirklich mehr?<br />
... hilft, Informationen übersichtlicher zu<br />
gestalten<br />
• Durch das Aufbrechen von Text in Hypertext<br />
kann Text besser strukturiert werden,<br />
aber auch der gegenteilige Effekt ist möglich.<br />
... erleichtert das Wiederholen<br />
... ermöglicht weltweite Verfügbarkeit bzw.<br />
Verfügbarkeit von zuhause<br />
• "Ich würde gerne das, was wir in der<br />
Schule gelernt haben, zuhause wiederholen."<br />
• Selbstbest<strong>im</strong>mtes <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> Wiederholen<br />
von zuhause ist möglich.<br />
... erleichtert das Behalten von Lerninhalten<br />
• Intrinsische Motivation zu lernen n<strong>im</strong>mt<br />
zu.<br />
• Oberflächliches Stöbern (browsen) n<strong>im</strong>mt<br />
ebenfalls zu.<br />
... ermöglicht eigenes Lerntempo<br />
• Ganz sicher.<br />
... ermöglicht Vernetzen von Informationen<br />
mit Hilfe von Hypertext<br />
• Vernetzung erleichtert Darstellung komplexer<br />
Zusammenhänge.<br />
• Vernetzung führt u.U. aber auch zu Desorientierung<br />
<strong>im</strong> Dokument (Lost-in-Hyperspace-Syndrom).<br />
... ermöglicht effektive Recherche in globalen<br />
Datenbeständen<br />
• Externe Quellen <strong>im</strong> <strong>WWW</strong> können miteinbezogen<br />
werden <strong>und</strong> ermöglichen interessierten<br />
Schülern den Zugang zu zusätzlichem<br />
Hintergr<strong>und</strong>wissen.<br />
• Aber: Im <strong>WWW</strong> gibt es viele zweifelhafte<br />
oder falsche Informationen <strong>und</strong> Halbwahrheiten.<br />
... ermöglich interaktive Anwendungen<br />
<strong>und</strong> Mult<strong>im</strong>edia<br />
• Java-Applets, JavaScript-Programme ermöglichen<br />
Interaktivität statt nur passives<br />
<strong>Lernen</strong> (s. Abb. 2).<br />
Von Pr<strong>im</strong>zahlen zur Verschlüsselung mit RSA <strong>—</strong> Eine Unterrichtseinheit <strong>im</strong> <strong>WWW</strong><br />
Kritik am <strong>Lernen</strong> mit Computern in<br />
der Schule:<br />
<strong>Lernen</strong> <strong>im</strong> <strong>WWW</strong> ...<br />
... erfordert Computer<br />
• Für die Durchführung ist Hard- <strong>und</strong> Software<br />
wie Computer, Beamer, CAS in ausreichender<br />
Menge nötig.<br />
... erfordert geeignete Räume<br />
• Ein Raum ist notwendig, der sowohl als<br />
Computerraum, als auch als Klassenz<strong>im</strong>mer<br />
zum Schreiben <strong>und</strong> Lesen genutzt werden<br />
kann.<br />
... erfordert eine geeignete Lernumgebung<br />
• Infrastrukturelle Voraussetzungen <strong>im</strong><br />
Netzwerk, <strong>—</strong> d.h. ein zu restriktives geführtes<br />
Netzwerk behindert die Vorbereitung <strong>und</strong><br />
Durchführung, z.B durch strenge Rechtevergabe.<br />
... erfordert Disziplin<br />
• Disziplinprobleme: Surfen <strong>im</strong> Unterricht.<br />
• Unsere Gesellschaft ist oft hektisch <strong>und</strong><br />
oberflächlich, die Informationsdichte, der<br />
man ausgesetzt ist, ist sehr hoch. Die Programme<br />
zu Darstellung von Webseiten, die<br />
Browser haben ihren Namen von "to<br />
browse", was so viel heißt wie blättern oder<br />
schmökern. Tatsächlich beobachtet man,<br />
dass Webseiten, oder ganz allgemein Textseiten<br />
am Computer, oft nur überflogen <strong>und</strong><br />
nicht konzentriert durchgearbeitet werden.<br />
Dies gilt natürlich auch für Lernprogramme<br />
<strong>und</strong> senkt die Effektivität des Lernprogramms<br />
drastisch.<br />
... ermüdet<br />
• Die meisten Menschen empfinden es sehr<br />
schwierig <strong>und</strong> ermüdend, am Bildschirm konzentriert<br />
einen längeren Text zu lesen. Ein<br />
Schüler hat sich aus diesem Gr<strong>und</strong> eines der<br />
MuPAD-Notebooks ausgedruckt.<br />
... erfordert Lernprogramme<br />
• Lernprogramme kosten Geld in der Anschaffung.<br />
• Das Herstellen von eigenen Lernprogrammen<br />
ist sehr zeitintensiv (siehe nächster<br />
Absatz).<br />
143
Carsten Münchenbach<br />
5 Kosten-Nutzen-Verhältnis<br />
"Da haben Sie sich aber 'sau-viel' Arbeit gemacht!"<br />
war der Kommentar eines Schülers.<br />
In der Tat war das Programmieren <strong>und</strong> Zusammensuchen<br />
von Materialien sehr viel Arbeit.<br />
Ballin et al. bewerten den Aufwand so:<br />
"Die Entwicklung mult<strong>im</strong>edialer Lernsysteme<br />
stellt komplexe Anforderungen an die inhaltliche,<br />
methodische, didaktische, organisatorische,<br />
künstlerische, innovative <strong>und</strong> kreative<br />
Gestaltungsfähigkeit <strong>und</strong> setzt Managementfähigkeiten<br />
<strong>im</strong> selben Maß wie neue Lerntechnologien<br />
<strong>und</strong> entsprechende Lernarrangements<br />
voraus. Der einzelne ist dabei in der<br />
Regel überfordert ... Die Zusammenarbeit<br />
zwischen Autor, Drehbuchschreiber, Mult<strong>im</strong>edia-Entwickler,<br />
Medienpädagoge <strong>und</strong> Projektmanager<br />
zur Koordination der Arbeiten<br />
eines Projekts sind unverzichtbar. Entwicklungskosten<br />
von 1000 DM/min [Kommentar:<br />
wohl eher 1000 DM/(Mann*Tag)] <strong>und</strong> mehr<br />
sind keine Seltenheit ... <strong>und</strong> lohnen sich nur,<br />
wenn die entwickelte Lernsoftware von möglichst<br />
vielen Adressaten nachgefragt wird."<br />
(Ballin et al. 1996) Der Entwicklungsaufwand<br />
für Lernsoftware wird zwischen 1:20 über<br />
1:70 bis zu 1:200 geschätzt, für "normale"<br />
St<strong>und</strong>en nur bei 1:4 bis 1:10. Für Unternehmen<br />
lohnt sich der Aufwand dennoch ab circa<br />
100 Teilnehmern (Riehm & Wingert 1996).<br />
Ich habe während der Entwicklung des Lernprogramms<br />
etwa 150 St<strong>und</strong>en programmiert,<br />
die Materialsuche <strong>und</strong> sonstige Vorbereitung<br />
dauerte ca. 50 St<strong>und</strong>en. Für sechs mal 90<br />
Minuten Unterricht ergab sich also ein Faktor<br />
von 1:22. Hinzu kommen noch die Kosten<br />
bzw. der Zeitaufwand für die dauerhafte<br />
Pflege der Webseiten.<br />
Dieser Aufwand ist für eine reguläre Unterrichtsvorbereitung<br />
unüblich. Ich denke dennoch,<br />
dass er sich gelohnt hat. Allein die positive<br />
Resonanz von den Schülern <strong>und</strong> die<br />
Reaktionen, die ich <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> auf das Lernprogramm<br />
bekommen habe, zeigen, dass<br />
der Weg, Lernprogramme einzusetzen, richtig<br />
ist. Bei entsprechender Modifikation des<br />
Lernprogramms <strong>und</strong> Überarbeitung des Projekts<br />
unter Berücksichtigung der erkannten<br />
Schwachpunkte lässt sich das Projekt ohne<br />
144<br />
übermäßig große Vorbereitung leicht erneut<br />
durchführen.<br />
6 Fazit<br />
Clifford Stoll meint sinngemäß, dass <strong>Lernen</strong><br />
keine Spaß machen kann, weil <strong>Lernen</strong> Arbeit<br />
<strong>und</strong> Disziplin bedeutet (Stoll 2002). Was haben<br />
die Schüler dann bei mir gelernt? Kann<br />
man mit so einem Lernprogramm etwas lernen?<br />
Ein Ziel war, dass <strong>Mathematik</strong> den Schülern<br />
Spaß machen soll. Die Rückmeldung zeigt,<br />
dass dieses Ziel größtenteils erreicht wurde.<br />
<strong>Lernen</strong> bedeutet aber <strong>im</strong>mer auch Arbeit, das<br />
ist unbestritten. Mit Interesse <strong>und</strong> Spaß am<br />
Thema steigt jedoch auch die Freude am<br />
<strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> Arbeiten. Davon kann jeder Lehrer<br />
berichten, der mit den Schülern einen<br />
Blick über den Tellerrand der Schulmathematik<br />
wirft oder aktivere Lern- <strong>und</strong> Arbeitsformen<br />
für seinen Unterricht wählt. Lernprogramme<br />
können nicht gebraucht <strong>und</strong> dürfen<br />
nicht dazu missbraucht werden, einen Lehrer<br />
zu ersetzen <strong>und</strong> als einziges Medium Unterricht<br />
zu gestalten. Sie sind ein weiteres Medium,<br />
das Lehrern helfen kann, einen guten<br />
<strong>und</strong> für die Schüler interessanten sowie lehrreichen<br />
Unterricht zu gestalten. Und dabei<br />
können die Schüler sicherlich etwas lernen,<br />
so wie auch mit anderen Medien, vielleicht<br />
auch ein wenig besser.<br />
Literatur<br />
Stoll, Clifford (2002): LogOut <strong>—</strong> Warum Computer<br />
nichts <strong>im</strong> Klassenz<strong>im</strong>mer zu suchen haben.<br />
Frankfurt: Fischer<br />
Ballin, D., M. Brater & D. Blume (Hrsg.) (1996):<br />
Handlungsorientiert <strong>Lernen</strong> mit Mult<strong>im</strong>edia.<br />
Nürnberg: BW Bildung <strong>und</strong> Wissen<br />
Riehm, U. & B. Wingert (1996): Mult<strong>im</strong>edia: Mythen,<br />
Chancen <strong>und</strong> Herausforderungen. Mannhe<strong>im</strong>:<br />
Bollmann<br />
Das Lernprogramm ist <strong>im</strong> <strong>WWW</strong> unter<br />
http://www.hydrargyrum.de/kryptographie erreichbar.
� Vom 19. ins 21. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>—</strong> Ändert das <strong>Internet</strong><br />
die Chancen für den Zugang zur <strong>Mathematik</strong>?<br />
Vorbemerkung<br />
Aus technischen Gründen musste die Schriftfassung<br />
des Beitrags <strong>im</strong> Mai 2005 neu erstellt<br />
werden.<br />
Hinführung<br />
In der "guten alten Zeit" gab es weder Computer<br />
noch Massenmedien, nicht einmal Bücher.<br />
Wissen wurde von Weisen <strong>im</strong> mündlichen<br />
Vortrag weitergegeben <strong>und</strong> von Schülern<br />
aufgenommen. Seither hat sich die Welt<br />
verändert. Information kann in vielfältiger<br />
Weise gespeichert <strong>und</strong> interaktiv wieder abgerufen<br />
werden. Auf die Organisation von<br />
<strong>Lernen</strong> hat sich diese Veränderung bisher<br />
nur in verschwindend geringem Umfang ausgewirkt.<br />
Im Vordergr<strong>und</strong> steht <strong>im</strong>mer noch<br />
die klassische Schule, in der in altershomogenen,<br />
kleinen Gruppen vieltausendfache<br />
Parallelarbeit ohne nennenswerte gruppenübergreifende<br />
Kontrolle als "Unterricht" inszeniert<br />
wird.<br />
Im Abstract wurde die Auseinandersetzung<br />
mit drei Fragen angekündigt:<br />
1 Muss <strong>Mathematik</strong> gelehrt werden? (Gibt<br />
es da eine Frage??)<br />
2 Kann das <strong>Internet</strong> das <strong>Lernen</strong> von <strong>Mathematik</strong><br />
fördern?<br />
3 Wie kann festgestellt werden, ob <strong>Mathematik</strong><br />
gelernt worden ist?<br />
1<br />
Fritz Nestle, Ulm<br />
In den vergangenen zwei Jahrh<strong>und</strong>erten haben sich die landwirtschaftliche <strong>und</strong> die industrielle<br />
Produktion gr<strong>und</strong>sätzlich geändert. Gr<strong>und</strong>lage dafür sind lokal verfügbare<br />
Energiequellen sowie neue Organisationsformen <strong>und</strong> Besitzverhältnisse.<br />
Im Bildungswesen steht die angemessene Nutzung der Informationsverarbeitung noch<br />
aus. Durch Schaffung eines Angebots von ubiquitär zugänglichen, überprüfbaren Bildungsstandards,<br />
deren Anwendung schulischen Leistungsnachweisen gleichgestellt wird,<br />
kann der <strong>Lernen</strong>de von bisherigen Zwängen befreit werden. Zugleich ändert sich die Lehrerolle<br />
in ähnlicher Weise, wie dies mit der Handarbeit <strong>im</strong> produzierenden Gewerbe geschehen<br />
ist.<br />
Die unten folgenden Axiome zum derzeitigen<br />
<strong>Lernen</strong> von <strong>Mathematik</strong> werden bis heute<br />
überwiegend nicht in Frage gestellt <strong>—</strong> wie<br />
von Seiten der <strong>Mathematik</strong>er die Axiome der<br />
euklidischen Geometrie, bis der Außenseiter<br />
Lobatschewski den Mut hatte, ein(en) Traktat<br />
über eine nichteuklidische Geometrie zu<br />
schreiben. Sein Vorgehen: Er ersetzte ein<br />
Axiom durch ein Gegenteil. Der princeps mathematicorum<br />
Gauß war wohl in der gleichen<br />
Zeit zu ähnlichen Erkenntnissen gekommen,<br />
fürchtete sich jedoch vor dem Spott der<br />
Fachkollegen ("Ich fürchtete das Geschrei<br />
der Böoter"). Erst nachdem Lobatschewskis<br />
Arbeiten Interesse gef<strong>und</strong>en hatten, hätte er<br />
gern die Priorität für sich in Anspruch genommen.<br />
Beispiele für Axiome des <strong>Mathematik</strong>lernens:<br />
- <strong>Mathematik</strong> lernt man in der Schule.<br />
- Zum <strong>Lernen</strong> braucht man einen <strong>Mathematik</strong>lehrer.<br />
- Der Mathelehrer wird an der Hochschule<br />
für seinen Beruf ausgebildet.<br />
- Jedes Kind kann <strong>Mathematik</strong> lernen.<br />
- Der <strong>Mathematik</strong>unterricht beginnt in der<br />
Gr<strong>und</strong>schule.<br />
- Das <strong>Internet</strong> ist für den normalen Mathelehrer<br />
bedeutungslos.<br />
- Das <strong>Internet</strong> spielt für den normalen<br />
Schüler be<strong>im</strong> Mathelernen keine Rolle.<br />
- Außerhalb der Schule erworbene Qualifikationen<br />
sind bedeutungslos.<br />
- Aus den früheren Lehrplänen sind <strong>—</strong> fast<br />
nur durch Umbenennung <strong>—</strong> Bildungspläne,<br />
Lernzielkataloge <strong>und</strong> jetzt Bildungsstandards<br />
geworden.<br />
Im vorliegenden Beitrag sollen nur die ersten<br />
beiden <strong>und</strong> die letzten beiden Aussagen hinterfragt<br />
werden.<br />
Zuerst ein Beispiel zum "neuen" <strong>Lernen</strong>:<br />
145
Fritz Nestle<br />
Es gibt nicht wenige Kids, die den Umgang<br />
mit dem Computer besser beherrschen als<br />
ihre Lehrer. Wo haben diese Kids den Umgang<br />
mit dem Computer gelernt? Doch nicht<br />
in der Schule, sondern zuhause oder bei<br />
Fre<strong>und</strong>en. Weil der Computer personenunabhängig<br />
Rückmeldungen gibt, ist selbstorganisiertes<br />
<strong>Lernen</strong> möglich. Rückmeldungen<br />
aus der sozialen Gruppe erhöhen die Effektivität<br />
des <strong>Lernen</strong>s.<br />
Ein Beispiel dafür, dass über "neues" <strong>Lernen</strong><br />
schon früher nachgedacht wurde, finden wir<br />
in der Literatur des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts: Theodor<br />
Storm lässt schon 1888 <strong>im</strong> Sch<strong>im</strong>melreiter<br />
seinen Hauke Haien Geometrie aus einem<br />
Euklid lernen:<br />
146<br />
Abb. 1<br />
(Hatten Sie schon einmal einen in der Hand?)<br />
Abb. 2<br />
Euklid ist als Lehrmaterial nicht besonders<br />
gut aufbereitet. Bei Hauke Haien kam noch<br />
eine Erschwernis hinzu: Hauke Haien ist<br />
Deutscher, sein Euklid liegt in Holländisch<br />
vor. Außer dem holländischen Euklid hatte er<br />
Zugriff auf eine holländische Grammatik. Bei<br />
Storm hatte Haien erfolgreich <strong>Mathematik</strong><br />
gelernt mit zwei nur mäßig geeigneten Lehrmedien.<br />
Was heute für selbstorganisiertes<br />
<strong>Lernen</strong> angeboten wird <strong>und</strong> angeboten werden<br />
könnte, ist Größenordnungen besser geeignet<br />
<strong>und</strong> erleichtert den Einstieg.<br />
Storm zeigt, dass man auch ohne Schule<br />
<strong>Mathematik</strong> lernen kann. Das Beispiel Computer<br />
beweist, dass <strong>Lernen</strong> außerhalb der<br />
Schule <strong>—</strong> ohne Lehrer <strong>—</strong> mit Hilfe von Medien<br />
auch heute möglich ist. Wie für nichteuklidische<br />
Geometrien liegt damit für außerschulisches<br />
<strong>Lernen</strong> ohne Lehrer der Existenzbeweis<br />
vor. Die Geometrie zeigt zugleich,<br />
dass es Jahrzehnte dauert, bis ein<br />
neuer Gedanke Allgemeingut wird.<br />
Hier nochmals die Entwicklung der Lernmöglichkeiten:<br />
In der Vorzeit gibt es nur die<br />
mündliche Überlieferung durch Weise, singulär<br />
<strong>und</strong> geb<strong>und</strong>en an Ort <strong>und</strong> Person. Die Erfindung<br />
des Buchdrucks hebt die Bindung an<br />
die Person oder teure Handschriften auf; der<br />
Weg zur preiswerten Vervielfältigung von Information<br />
ist frei. Nicht zuletzt dadurch kann<br />
Adam Riese eine neue Rechenmethode <strong>—</strong><br />
ohne Abakus auf Papier <strong>—</strong> rasch verbreiten.<br />
Abb. 3
Die Abhängigkeit von den alten Rechenmeistern<br />
hat aufgehört. Jedermann (jedefrau)<br />
kann mit der neuen Methode selbst rechnen.<br />
Bald freilich erhält die Schule das Monopol,<br />
Zertifikate über die individuellen Rechenfähigkeiten<br />
auszustellen. Nicht viel mehr dauert<br />
es, bis der Missbrauch dieses Monopols zum<br />
Regelfall wird <strong>und</strong> die Lehrerschaft ihre Misserfolge<br />
be<strong>im</strong> <strong>Lehren</strong> durch gute Noten zuzudecken<br />
beginnt, das heißt, Lehrerfolge werden<br />
nicht an externen Kriterien gemessen.<br />
Vielmehr kann jeder einzelne Lehrer (oder<br />
Hochschullehrer trotz ETCS) seine eigenen<br />
Maßstäbe verwenden. Der Manipulation sind<br />
Tür <strong>und</strong> Tor geöffnet.<br />
Zusammenfassend kann Frage 1 jetzt beantwortet<br />
werden: <strong>Mathematik</strong> muß nicht gelehrt,<br />
sie muss vielmehr gelernt, erf<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> entdeckt werden. Manchmal kann ein<br />
Lehrer dabei helfen, manchmal ist der Erfolg<br />
ohne Lehrer größer <strong>und</strong> vor allem interindividuell<br />
vergleichbar. Die "soft skills" werden bei<br />
selbstorganisiertem <strong>Lernen</strong> besser entwickelt.<br />
Ergänzung 1<br />
Je besser <strong>und</strong> vielfältiger die Rückmeldungen<br />
durch das Lernmaterial, desto "angenehmer"<br />
das <strong>Lernen</strong>.<br />
Ergänzung 2<br />
Nur solange Berechtigungen an Schulnoten<br />
geknüpft sind <strong>und</strong> solange Schulnoten nur<br />
von Lehrern vergeben werden dürfen, sind<br />
Lehrer unverzichtbar, aber ohne externe<br />
Kontrolle unterliegen sie (durch Schulverwaltung,<br />
Kollegen, Eltern, Politik!) einem korrumpierenden<br />
Druck, Noten zu schönen.<br />
Ich habe dazu einen Traum:<br />
Die Ziele des <strong>Lernen</strong>s sind so formuliert,<br />
dass das Lernsubjekt selbst seinen Abstand<br />
von den Zielen feststellen kann. Aus<br />
"Wer lehrt, prüft!"<br />
wird<br />
"Wer lehrt, darf nicht prüfen!"<br />
Man kann diesen Traum auch den Traum<br />
von Chancengleichheit <strong>und</strong> Chancengerechtigkeit<br />
nennen. Das <strong>Internet</strong> macht diesen<br />
Traum technisch möglich.<br />
2<br />
Der Traum ist die Antwort auf Frage 2:<br />
Kann das <strong>Internet</strong> das <strong>Lernen</strong> von <strong>Mathematik</strong><br />
fördern? <strong>—</strong> Ja, wenn man will!<br />
Vom 19. ins 21. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>—</strong> Ändert das <strong>Internet</strong> die Chancen?<br />
3<br />
Wie kann festgestellt werden, ob <strong>Mathematik</strong><br />
gelernt worden ist?<br />
Zunächst: Wer stellt das fest?<br />
- Der Lehrer <strong>—</strong> in der derzeitigen Schule.<br />
Das ist der status quo.<br />
- Dritte <strong>—</strong> TIMSS, PISA, zentrale Vergleichsarbeiten;<br />
das Beurteilungsmonopol<br />
der Institutionen wird dabei nicht in Frage<br />
gestellt.<br />
- Das lernende Subjekt selbst; <strong>—</strong> der<br />
Traum vom selbstorganisierten <strong>Lernen</strong>;<br />
technische Schwierigkeiten wären dazu<br />
nicht mehr zu überwinden.<br />
Zur Thematik wird auf einschlägige Abschnitte<br />
der Sites [1] – [4] verwiesen:<br />
Die Stellungnahme der B<strong>und</strong>esvereinigung<br />
der Deutschen Arbeitgeberverbände (online<br />
seit 8.9.03; kein Ort innerhalb des Sites zitierbar)<br />
akzeptiert <strong>im</strong> Wesentlichen die aufgeführten<br />
Ausarbeitungen, das heißt, die offiziellen<br />
Äußerungen des BMBF [2], das das<br />
Sagen haben möchte, <strong>und</strong> der KMK [3], die<br />
das Sagen hat. Die Ausarbeitung des BMBF<br />
ignoriert die heutigen Möglichkeiten der Informationsverarbeitung<br />
vollständig; es beschäftigt<br />
sich deskriptiv mit der Schule <strong>und</strong> soziologischen<br />
Fragen der Vergangenheit vornehmlich<br />
der letzten 50 Jahre. In den ersten<br />
KMK-"Standards" verweisen zwar die Englischdidaktiker<br />
auf ausländische <strong>Internet</strong>veröffentlichungen,<br />
stellen jedoch herkömmliche<br />
Modelle der Lernorganisation nicht in Frage.<br />
Was die KMK als "Standards" bezeichnet,<br />
hat indessen mit einem Standard wenig zu<br />
tun. Worin besteht zum Beispiel die Standardisierung<br />
bei der Formulierung "Die Schülerinnen<br />
<strong>und</strong> Schüler entwickeln sinntragende<br />
Vorstellungen von natürlichen, ganzen, gebrochenen<br />
<strong>und</strong> rationalen Zahlen <strong>und</strong> nutzen<br />
diese entsprechend der Verwendungsnotwendigkeit."<br />
Verbindlichkeit ist keine zu erkennen;<br />
die Interpretationsspielraum ist riesig.<br />
Die Interpretation wird Tausenden von <strong>Mathematik</strong>lehrern<br />
aufgebürdet, weil sich die<br />
Behörde um die Formulierung konkreter Anforderungen<br />
drückt. Gegebenenfalls kann sie<br />
den Schwarzen Peter <strong>im</strong>mer an die Lehrer<br />
weitergeben. Man muss sich auch einmal<br />
klar machen, welche Verschwendung von<br />
Ressourcen damit verb<strong>und</strong>en ist, dass jeder<br />
einzelne Lehrer gezwungen wird, aus einem<br />
solchen Wortgeklingel ein tragbares Unterrichtskonzept<br />
zu entwickeln. Jede Lehrkraft<br />
muss selbst entscheiden, was sie für Anfor-<br />
147
Fritz Nestle<br />
derungen stellen will <strong>und</strong> wie sie konkrete<br />
Lernergebnisse der Schüler bewerten will.<br />
In der industriellen Produktion von Wirtschaftsgütern<br />
ist man von diesem Verfahren<br />
schon vor mehr als h<strong>und</strong>ert Jahren abgekommen<br />
mit dem Ergebnis, dass heute jeder<br />
Bürger unseres Landes nach eigenen Wünschen<br />
aus einem Riesenangebot hochwertiger<br />
Waren auswählen kann; die Konkurrenz<br />
sorgt dabei mit für Qualität. Maßarbeit, zum<br />
Beispiel bei Schuhen, wird nur noch von<br />
Krüppeln, Wirtschaftsbossen <strong>und</strong> arrivierten<br />
Politikern in Auftrag gegeben.<br />
Im Bildungswesen werden dagegen klassenindividuelle<br />
Produkte zusammengeschustert,<br />
deren Qualität, wie TIMSS <strong>und</strong> PISA gezeigt<br />
haben, viele Wünsche offen läßt. Den Kindern<br />
lässt man keine Wahl! Wenn es keine<br />
anderen Möglichkeiten geben würde, müsste<br />
man das hinnehmen. Wenn die Ursache indessen<br />
<strong>im</strong> Fehlen von Visionen bei Kultusverwaltung<br />
<strong>und</strong> Lehrerbildung, <strong>im</strong> Ignorieren<br />
konkreter, praktikabler Vorschläge <strong>und</strong> mangelnder<br />
IT-Kompetenz der Verantwortlichen<br />
zu suchen ist, ist das eine Katastrophe für<br />
unser Land.<br />
Im Site www.bildungsstandards.de sind solche<br />
konkreten <strong>und</strong> praktikablen Vorschläge<br />
in den Kernaussagen<br />
(www.bildungsoptionen.de/manifest.htm)<br />
lang vor den Veröffentlichungen der KMK publiziert<br />
<strong>und</strong> der KMK als Stellungnahme unmittelbar<br />
übersandt worden. Der Eingang<br />
wurde nicht bestätigt, der Inhalt von den anonymen<br />
Experten der KMK <strong>—</strong> <strong>und</strong> der Fachdidaktik?<br />
<strong>—</strong> ignoriert. Liegt es daran, dass<br />
der Autor des Sites von der Sache nicht genug<br />
versteht <strong>und</strong> seine Vorschläge nicht<br />
praktikabel sind, oder liegen die Gründe bei<br />
den anonymen Experten, die ökonomisch mit<br />
ihrer Zeit umgehen <strong>und</strong> sich deshalb auf einen<br />
neuen Aufguss von "Bewährtem" beschränken?<br />
Das kann nur entscheiden, wer<br />
neben den Papieren der KMK auch die Forderungen<br />
<strong>und</strong> Vorschläge des Sites<br />
www.bildungsstandards.de kennt. Hier ist eine<br />
Zusammenfassung der Letzteren:<br />
- Ein Bildungsstandard wird definiert als<br />
Klasse von Aufgaben, die den Standard<br />
repräsentieren, das heißt, durch konkrete,<br />
eindeutig überprüfbare Anforderungen.<br />
Unter<br />
www.bildungsstandards.de/praxis.htm finden<br />
Sie Beispiele.<br />
- Bildungsstandards sind öffentlich, das<br />
heißt, der Aufgabenpool ist der freien Diskussion,<br />
nicht der einseitigen Vorgabe<br />
durch die Schulverwaltung unterworfen.<br />
148<br />
Das <strong>Internet</strong> ist eine fast ideale Plattform<br />
für diese Diskussion.<br />
- Lernergebnisse, die an <strong>Internet</strong>angeboten<br />
nachgewiesen werden, erhalten bei zertifizierter<br />
Bearbeitung den Rang von Schulzeugnissen.<br />
Im Gegensatz zu den Schulzeugnissen<br />
kann bei "Zeugnissen" aus<br />
dem <strong>Internet</strong> nachvollzogen werden, welche<br />
Anforderungen nachgewiesen worden<br />
sind.<br />
Wenn die letzte dieser drei Forderungen erfüllt<br />
wird, beginnt die größte "Schul"reform<br />
dieses Jahrtausends. Der Erwerb von Bildung<br />
verändert sich dadurch so, wie sich die<br />
Herstellung von industriellen <strong>und</strong> landwirtschaftlichen<br />
Produkten (Stahl, Nägel, Schuhe,<br />
..., Gr<strong>und</strong>nahrungsmittel) in den vergangenen<br />
zwei Jahrh<strong>und</strong>erten geändert hat. <strong>Lernen</strong><br />
wird zu einem teilweise rationalen Prozess.<br />
An die Stelle der Anpassung an die<br />
Lehrkraft tritt die Auseinandersetzung mit der<br />
Sache. Der Lehrer wird von der gehassten<br />
Autorität zum Lernberater <strong>und</strong> -helfer.<br />
Welche Veränderung sich dadurch für den<br />
Beruf des Lehrers ergibt, mag das Beispiel<br />
der Milcherzeugung verdeutlichen: Noch in<br />
meiner Kindheit gab es in den größeren<br />
Milchbetrieben die "Schweizer". Jeder<br />
Schweizer musste täglich zwei Mal die gleichen<br />
20 bis 30 Kühe melken; so wurden <strong>im</strong><br />
Jahr 1000 bis 2000 Liter Milch pro Kuh gewonnen.<br />
Nach einer Zwischenlösung mit<br />
Melkmaschinen, deren Sauger von Hand angelegt<br />
werden mussten, gehen heute in modernen<br />
Betrieben die Kühe zum Melkstand,<br />
wenn sie gerade das Bedürfnis haben, identifizieren<br />
sich mit einem Transponder <strong>und</strong> geben<br />
ihre Milch ab <strong>—</strong> bis zu 8000 Liter <strong>im</strong><br />
Jahr. Die Milchproduktion wird damit der einzelnen<br />
Kuh mit einem objektiven Maß zugeordnet.<br />
Ich möchte die Parallele nicht <strong>im</strong> Einzelnen<br />
ausführen. Interessant sind sowohl<br />
die positiven als auch die negativen Seiten<br />
des Vergleichs.<br />
Landwirtschaft <strong>und</strong> Industrie haben sich <strong>im</strong><br />
21. Jahrh<strong>und</strong>ert etabliert; die Gr<strong>und</strong>struktur<br />
des Bildungswesens hat den Stand des 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts noch nicht überw<strong>und</strong>en.<br />
Das <strong>Internet</strong> könnte der automatische Melkstand<br />
der Bildung werden. Während die<br />
Milch einseitig von der Kuh in den Milchtank<br />
strömt, kann die Information auf interaktiven<br />
<strong>Internet</strong>seiten in beiden Richtungen fließen.<br />
Die Eingaben der <strong>Lernen</strong>den können vom<br />
System nach transparenten, für alle Schüler<br />
gleichen Kriterien bewertet <strong>und</strong> unverzüglich<br />
zurückgemeldet werden. (Auch die Kühe erhalten<br />
an modernen Melkständen motivie-
ende Rückmeldungen.) Im Gegensatz zur<br />
Schule kann <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> eine weitaus größere<br />
Themenvielfalt angeboten werden. Die Auswahl<br />
der Themen durch die <strong>Lernen</strong>den kann<br />
durch einschlägige Beratung gesteuert werden.<br />
Dadurch wird das System wesentlich<br />
flexibler als der konventionelle Klassenunterricht.<br />
Ist die Umgestaltung des Bildungswesens ein<br />
utopischer Traum <strong>—</strong> oder die dringlichste<br />
Aufgabe der Gegenwart auch für die Lehrerbildung?<br />
Neuerdings wird von einzelnen Didaktikern<br />
(Elschenbroich, Profke, ...) die Frage erörtert,<br />
ob es überhaupt genügend Menschen gibt,<br />
die mit Erfolg als Lehrer ausgebildet werden<br />
können. Man muss die Augen schon vollkommen<br />
vor der Wirklichkeit verschließen,<br />
wenn man diese Frage übergehen will. Wir<br />
sind uns sicher darin einig, dass nur die Besten<br />
den Lehrberuf ergreifen sollen. Leider<br />
finden wir diese Einigkeit auch für den Arzt-,<br />
Ingenieur-, Politikerberuf <strong>und</strong> für Positionen<br />
in der Wirtschaft, so dass hier mit Konkurrenz<br />
zu rechnen ist. Das stellt uns vor die<br />
Aufgabe, wie wir die Zweitbesten auch für<br />
den Lehrberuf qualifizieren können – oder<br />
vor die Frage, auf welche Teilqualifikationen<br />
des Allro<strong>und</strong>spezialisten Lehrer man getrost<br />
verzichten kann, wenn man die heutige Informationstechnik<br />
auch für das <strong>Lernen</strong> einsetzt.<br />
Vorab sollten wir vielleicht nicht mehr<br />
von Lehrern sondern von Lernbetreuern reden,<br />
denn die meisten anderen, derzeitig von<br />
Lehrern erwarteten Tätigkeiten lassen sich<br />
leicht unter Steigerung der durchschnittlichen<br />
Qualität wegrationalisieren. Dabei soll nicht<br />
verschwiegen werden, dass damit eine Ver-<br />
Sites<br />
Vom 19. ins 21. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>—</strong> Ändert das <strong>Internet</strong> die Chancen?<br />
änderung des Berufsbilds verb<strong>und</strong>en ist, wie<br />
sie vergleichbar der Übergang vom Schuhmacher<br />
zum Arbeiter in der Schuhfabrik<br />
zeigt.<br />
Ist die Umstellung des <strong>Lernen</strong>s wirklich so<br />
einfach? Spiele <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> haben eine große<br />
Klientel. Schon einige Zufallsproben zeigen,<br />
wie hart um vordere Plätze auf der jeweiligen<br />
Scoreliste gekämpft wird. Warum machen wir<br />
nicht einen Teil dieser Motivation für das <strong>Lernen</strong><br />
fruchtbar? Auf einer Verbraucherausstellung<br />
vor einigen Jahren konnten die Besucher,<br />
gesponsert von der Commerzbank, an<br />
einem Wettbewerb "2 Minuten Wirtschaftswissen"<br />
teilnehmen. Der erste Preis: Ein Tagesausflug<br />
in die Zentrale der Commerzbank<br />
in Frankfurt. Die drei Computer waren umlagert<br />
von Wartenden. Die Zahl der Teilnehmer<br />
am Mathe-Känguru n<strong>im</strong>mt jedes Jahr zu, <strong>—</strong><br />
<strong>und</strong> die Teilnehmer bezahlen dafür, dass sie<br />
20 Matheaufgaben lösen dürfen.<br />
Wenn wir warten, bis KMK <strong>und</strong> IQB am grünen<br />
Tisch überprüfbare Bildungsstandards<br />
per ordre de Mufti entwickeln, verschenken<br />
wir wertvolle Zeit <strong>und</strong> die Freiheit, selbst auf<br />
die Entwicklung Einfluss zu nehmen. Ein<br />
Dutzend Leute, die gemeinsam an diesem<br />
Thema arbeiten, können den Stein ins Rollen<br />
bringen. Vorbild für eine unserer Zeit angemessenen<br />
Art <strong>und</strong> Weise, konkrete Bildungsstandards<br />
zu entwickeln, ist die open-source-<br />
Bewegung. Sie kanalisiert die Intelligenz von<br />
Tausenden <strong>und</strong> lässt überzeugende Lösungen<br />
entstehen. LINUX <strong>und</strong> OpenOfficeorg<br />
sind Beispiele. Warum sollte es bei Bildungsstandards<br />
nicht gelingen?<br />
Wer hilft mit, dass aus dem Traum Wirklichkeit<br />
wird? Kontakt: nestle1@t-online.de<br />
[1] http://www.bildungsstandards.de (online seit 21.10.2002; Kernbeitrag<br />
http://www.bildungsstandards.de/manifest.htm)<br />
[2] http://www.dipf.de/aktuelles/expertise_bildungsstandards.pdf (online seit 18.2.2003; eine Ausarbeitung<br />
<strong>im</strong> Auftrag des BMBF)<br />
[3] http://www.kmk.org/aktuell/Bildungsstandards/<strong>Mathematik</strong>04072003.pdf (online seit 3.12.2003; inzwischen<br />
durch Bildungs-"Standards" für weitere Altersstufen ergänzt; der Ort der Seiten hat sich mehrfach<br />
geändert; Link deshalb vermutlich falsch)<br />
[4] http://www.bildungsstandards-bw.de (online seit 19.5.2003; Beispiel für regional-föderalistische Umsetzung)<br />
149
� Das CAS-basierte DGS Feli-X zur Vernetzung von<br />
Algebra <strong>und</strong> Geometrie<br />
1 Einleitung<br />
<strong>Mathematik</strong> ist eine Schlüsseldisziplin der<br />
modernen technisierten Welt, ihr Wirken<br />
bleibt aber meist <strong>im</strong> Verborgenen. In der<br />
Form von dynamischen Geometrieprogrammen<br />
(DGS) folgen selbst Lernprogramme<br />
diesem Trend. Ihr ursprünglicher Ansatz entsprang<br />
dem Geist der synthetischen Geometrie.<br />
Für die Realisierung <strong>im</strong> Computer<br />
musste diese freilich algebraisch gefasst<br />
werden. Diese Mathematisierung bleibt aber<br />
weitgehend verborgen (auch wenn ihre Folgen,<br />
z.B. bei der Auswahl von Lösungen,<br />
<strong>im</strong>mer mal wieder an der Oberfläche kratzen).<br />
Innerhalb der <strong>Mathematik</strong> wiederum ist<br />
die Algebra die Disziplin, die dem Computer<br />
mathematische Inhalte erschließt, ihre Bedeutung<br />
wächst daher ständig, obwohl ihre<br />
Sichtbarkeit geringer wird. Folgerichtig reduzieren<br />
beispielsweise die neuen niedersächsischen<br />
Rahmenrichtlinien den Anteil der Algebra<br />
am Curriculum. Es ist meine Überzeugung,<br />
dass die Erneuerung der Schulalgebra<br />
eine der wichtigsten didaktischen Herausforderungen<br />
darstellt. Ein wesentlicher Bestandteil<br />
sollte das Aufzeigen der vielfältigen Vernetzung<br />
der Algebra mit anderen Gebieten<br />
sein.<br />
In der Geschichte der <strong>Mathematik</strong> sind Geometrie<br />
<strong>und</strong> Algebra eine erfolgreiche Wechselbeziehung<br />
eingegangen. Diese ist heute<br />
zwar schlecht beleum<strong>und</strong>et (so wird etwa<br />
von einem "nur rechnerischen Beweis" einer<br />
geometrischen Aussage <strong>im</strong> Gegensatz zu einem<br />
"richtigen Beweis" gesprochen; <strong>—</strong> m.E.<br />
sind beide Aspekte wichtig, die Reduktion auf<br />
einen der beiden Aspekte bringt die Schüler<br />
um Vernetzungsmöglichkeiten), aber aus der<br />
Sicht der Anwendungsorientierung ist sie<br />
f<strong>und</strong>amental. Leider bewirkt die Verwendung<br />
aktueller Lernsoftware für den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
eine deutliche Divergenz beider Bereiche.<br />
Die Behandlung von Parabeln mit<br />
DGS <strong>und</strong> mit CAS ist so unterschiedlich,<br />
150<br />
Reinhard Oldenburg, Göttingen<br />
Viele Probleme lassen sich sowohl mit Computeralgebrasystemen als auch mit dynamischen<br />
Geometrieprogrammen behandeln. Die enge Wechselwirkung von Geometrie <strong>und</strong><br />
Algebra wird aber am deutlichsten, wenn das verwendete Werkzeug algebraische <strong>und</strong><br />
geometrische Zugänge integriert, wie dies bei Feli-X der Fall ist.<br />
dass es Schülern schwer fällt, das Gemeinsame<br />
in den Blick zu kriegen.<br />
In dieser Situation soll der Prototyp Feli-X eines<br />
CAS-basierten DGS aufzeigen, dass es<br />
technische Optionen gibt, die den Brückenschlag<br />
schaffen <strong>und</strong> so ein integrierendes<br />
Arbeiten ermöglichen.<br />
2 Der Ansatz von Feli-X<br />
Die Gr<strong>und</strong>idee von Feli-X wurde bereits <strong>im</strong><br />
Tagungsband 2002 dargestellt (Oldenburg<br />
2002), so dass hier nur eine Kurzcharakterisierung<br />
vorgenommen werden soll.<br />
Die Arbeit mit Feli-X geschieht in zwei Fenstern,<br />
zum einen einem Mathematica-Notebook<br />
für algebraische Rechnungen (kurz Algebrafenster)<br />
<strong>und</strong> einem Geometriefenster,<br />
das ähnliche Möglichkeiten bietet wie andere<br />
DGS auch. Beide Fenster werden bidirektional<br />
synchron gehalten. Die Änderung von<br />
Koordinaten <strong>im</strong> Zugmodus oder die Erstellung<br />
neuer Objekte <strong>im</strong> Geometriefenster wirkt<br />
sich unmittelbar <strong>im</strong> Algebrafenster aus. Dort<br />
stehen u.a. folgende Variablen zur Verfügung:<br />
Objects: Die aktuell vorhandenen geometrischen<br />
Objekte<br />
Vars: Die Variablen der Objekte<br />
Co: Die aktuellen Koordinaten der Objekte<br />
DGAncestors: Der gerichtete Graph der Konstruktion<br />
Equations: Die Gleichungen, die zwischen<br />
den Variablen gelten.<br />
An diesen Variablen darf der Benutzer rumfummeln.<br />
Wenn er den Graphen in DGAncestors<br />
ändert, werden einige der wählbaren<br />
Zug-Strategien ihr Verhalten ändern. Wenn<br />
die Koordinaten geändert werden, bewegt<br />
sich das Bild <strong>im</strong> Geometriefenster. Wenn eine<br />
weitere Gleichung hinzu gefügt wird, ist
die Bewegungsfreiheit der Konstruktion<br />
eingeschränkt. Gerade dieses<br />
Feature ist auch für jüngere Schüler<br />
interessant, da es erlaubt, die Bedeutung<br />
einer Gleichung mit der Maus erfahren<br />
zu können. Im Gegensatz zum<br />
(auch sehr wichtigen) <strong>im</strong>pliziten Plotten<br />
ermöglicht das einen operativen<br />
Zugang zur Exploration von Gleichungen.<br />
3 Ein Beispiel<br />
Ein etwas ausführlicheres Beispiel<br />
(siehe Abb. 1 für das zugehörige Geometriefenster<br />
<strong>und</strong> Abb. 2 für das Algebrafenster)<br />
soll die Arbeit mit Feli-X<br />
erläutern. Man frage sich nach dem<br />
Radius des Krümmungskreises, der<br />
sich an eine Parabel (jede andere<br />
Kurve könnte genau so behandelt<br />
werden) anschmiegt. Es ist schnell<br />
klar, dass der Kreismittelpunkt auf der<br />
Normalen durch den Berührpunkt<br />
liegt, <strong>—</strong> aber wo da? Die Analogie zur<br />
Sekantensteigung kann einen auf die<br />
Idee bringen, gleich zwei Normalen<br />
auf die Kurve zu setzen. Und in der<br />
Tat, wenn man den einen Punkt längs<br />
der Kurve durch den anderen bewegt,<br />
gewinnt man den Eindruck, dass der<br />
Schnittpunkt der beiden Normalen ein<br />
vernünftiges Grenzwertverhalten<br />
zeigt. Also konstruiert man den<br />
Schnittpunkt der Normalen. Aus den<br />
Equations kann man den Abstand<br />
dieses Schnittpunktes zu einem der<br />
Punkte auf der Kurve mit Mathematicas<br />
Solve-Befehl ausrechnen lassen.<br />
Der Grenzprozess muss noch durchgeführt<br />
werden: Man lässt mit L<strong>im</strong>it<br />
die Koordinaten der beiden Kurvengleiter<br />
gegeneinander laufen <strong>und</strong> erhält<br />
einen Term für den Krümmungsradius.<br />
4 Lösungsmengen<br />
Neben das Konzept der Ortslinie, das es in<br />
herkömmlichen DGS gibt, tritt in Feli-X zusätzlich<br />
das Konzept der Lösungsmenge. Eine<br />
Konstruktion in der Form der erzeugten<br />
oder vom Nutzer explizit eingegebenen Gleichungen,<br />
kann die Bewegungsfreiheit eines<br />
Punktes einengen. Immer wenn man feststellt,<br />
dass sich ein Punkt nur noch auf einer<br />
Das CAS-basierte DGS Feli-X zur Vernetzung von Algebra <strong>und</strong> Geometrie<br />
Abb. 1<br />
Abb. 2<br />
Kurve verschieben lässt, ist das passiert <strong>—</strong><br />
<strong>und</strong> dann kann man sich den möglichen Orbit<br />
komplett als "Lösungsmenge" anzeigen lassen<br />
(siehe Bild).<br />
Die herkömmlichen Ortslinien sind ein funktionales<br />
Konzept: Man fragt sich nach der<br />
Wertemenge eines abhängigen Punktes unter<br />
der durch die Konstruktion gegebenen<br />
Abbildung, wenn ein Ausgangspunkt auf einer<br />
best<strong>im</strong>mten Menge (z.B. Gerade oder<br />
Kreis) variiert. Bei Feli-X braucht es einen<br />
151
Reinhard Oldenburg<br />
solchen "Steuerpunkt" nicht unbedingt zu geben:<br />
Es ist nur ein Punkt involviert, der irgendwie<br />
eingeschränkt ist. Die Lösungsmenge<br />
ist ein relationales Konzept, die zeigt die<br />
Menge der Koordinatenpaare, die der Relation<br />
genügen.<br />
Operativ wird der Unterschied besonders<br />
deutlich: Bei Ortslinien zieht man am Argumentpunkt<br />
(der bis auf eine Bindung frei ist);<br />
bei der Lösungsmenge zieht man<br />
(gedanklich) an dem einen Punkt.<br />
152<br />
Abb. 3<br />
Abb. 4<br />
Es ist keineswegs meine Absicht, eine<br />
Überlegenheit des Konzepts der<br />
Lösungsmengen gegenüber dem der<br />
herkömmlichen Ortslinien zu behaupten;<br />
<strong>—</strong> ganz <strong>im</strong> Gegenteil. Im<br />
Sinne einer genetischen Begriffsbildung<br />
ist es sinnvoll, mit den Ortslinien<br />
anzufangen. Für einen voll entwickelten<br />
Begriff des geometrischen<br />
Ortes sind aber auch die relationalen<br />
Aspekte wichtig.<br />
Ein leistungsfähiges CAS <strong>im</strong> Hintergr<strong>und</strong><br />
ermöglicht, eine Gleichung der<br />
Kurve in symbolischer Form (inklusive<br />
Abhängigkeit von eventuellen Parametern)<br />
ausgegeben zu bekommen.<br />
In Abbildung 3 wurde eine<br />
Strecke der Länge 5 konstruiert, deren<br />
Endpunkte auf den Koordinatenachsen<br />
liegen. Der Lotfußpunkt vom<br />
Koordinatenursprung aus lässt sich<br />
dann nur noch eingeschränkt mit der<br />
Maus bewegen (in herkömmlichen<br />
DGS ließe er sich allerdings gar nicht<br />
direkt bewegen). Es wurde dann die<br />
Lösungsmenge für diesen Punkt gezeichnet,<br />
<strong>und</strong> in Abbildung 4 sieht<br />
man auch die von Feli-X best<strong>im</strong>mte<br />
Gleichung.<br />
5 Schlussbetrachtung<br />
Feli-X ist ein innovativer Zugang zum<br />
explorativen Arbeiten mit <strong>Mathematik</strong>.<br />
Die Stärke des Systems, seine<br />
Flexibilität <strong>und</strong> Offenheit, kann, so<br />
wird <strong>im</strong>mer wieder gefürchtet, auch<br />
seine Schwäche sein: Bleibt das<br />
System vernünftig bedienbar, wenn<br />
ein unerfahrener Nutzer damit arbeitet?<br />
Dies wird sich zeigen, wenn die<br />
Weiterentwicklung soweit gediehen<br />
ist, dass erstmals Schüler mit dem<br />
System arbeiten können. Neben einer<br />
Reifung der Software müssen<br />
dazu auch tragfähige didaktische<br />
Konzepte erarbeitet werden.<br />
Literatur<br />
Oldenburg, Reinhard (2002): Feli-X: Ein Prototyp<br />
zur Integration von CAS <strong>und</strong> DGS. In: Peter<br />
Bender et al. (Hrsg.) (2002): Lehr- <strong>und</strong> Lernprogramme<br />
für den <strong>Mathematik</strong>unterricht. Hildeshe<strong>im</strong>:<br />
Franzbecker, 123–132
� <strong>Mathematik</strong> lernen <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> <strong>—</strong><br />
eine philosophische Betrachtung vom Standpunkt<br />
moderner Erkenntnistheorie<br />
Reinhard Oldenburg, Göttingen<br />
Das <strong>Internet</strong> als Lernumgebung kann mit philosophischen Theorien analysiert werden,<br />
die zwar ursprünglich zur Beschreibung von Erkenntnisleistungen in herkömmlichen Umgebungen<br />
entwickelt wurden, aber in ihren f<strong>und</strong>amentalen Aussagen universell sind. Besonders<br />
die evolutionäre Erkenntnistheorien <strong>und</strong> die naturalisierte Erkenntnistheorie nach<br />
W.v.O. Quine sind geeignet Kriterien zu entwickeln, mit denen <strong>Internet</strong>-Lernumgebungen<br />
kritisch bewertet werden können.<br />
1 Einleitung<br />
Im Sinne intellektueller Redlichkeit sollte ein<br />
Autor die Motive seiner Arbeit offen legen. Im<br />
vorliegenden Falle liegt das Motiv in der Beobachtung<br />
des mittlerweile intensiven Einsatzes<br />
des <strong>Internet</strong> quer durch das Fächerspektrum<br />
des Schulunterrichts. Nach meiner<br />
subjektiven Einschätzung bleibt der dauerhafte<br />
Lernertrag dabei aber oft hinter den<br />
Hoffnungen zurück. Dies deckt sich mit meiner<br />
Selbstbeobachtung bei Lernprozessen.<br />
Ich nutze das <strong>Internet</strong> intensiv für Literaturrecherchen,<br />
als Nachschlagequelle <strong>und</strong> zum<br />
Download von Dokumenten, Programmen<br />
etc. Trotz mehrerer Versuche ist es mir aber<br />
bisher noch nicht gelungen, mir substantielle<br />
mathematische Inhalte aus dem <strong>Internet</strong> online<br />
neu anzueignen. Da ich aber auch ein intensiver<br />
Computernutzer bin <strong>und</strong> vieles mit<br />
neuen Medien (vor allem CAS) gelernt habe,<br />
untern<strong>im</strong>mt dieser Aufsatz den gewagten<br />
Versuch, von philosophischen Betrachtungen<br />
zu einer Erklärung dieses Sachverhaltes zu<br />
kommen. Gleichzeitig sollen Kriterien best<strong>im</strong>mt<br />
werden, durch die sich die Möglichkeit<br />
sinnvollen <strong>Lernen</strong>s abstecken lässt.<br />
Die hier vorgestellten Theorien führen vor allem<br />
zu Vorbehalten gegen das <strong>Internet</strong> als<br />
Unterrichtsmedium <strong>im</strong> Schulunterricht. Nicht<br />
oder wenig von der Kritik betroffen sind:<br />
• <strong>Internet</strong> als Plattform der Veröffentlichung<br />
von Schülerprodukten,<br />
• <strong>Internet</strong> als <strong>—</strong> kritisch zu sehende <strong>—</strong> Faktenquelle,<br />
• <strong>Internet</strong> als Quelle von Anregungen (z.B.<br />
Applets),<br />
• Universitärer Einsatz.<br />
2 Evolution<br />
Evolutionäres Denken ist m.E. für Didaktiker<br />
essentiell, da es klar macht, dass alles Wissen<br />
hypothetischer Natur ist. Dies führt zu<br />
einer pragmatischen Sicht, die sowohl einer<br />
praxis-orientierten Wissenschaft als auch der<br />
praktischen Lehre ein tolerantes Gesicht verleiht.<br />
Es gibt in der Literatur verschiedene Auffassungen<br />
über die Mechanismen der Evolution,<br />
insbesondere <strong>im</strong> Hinblick auf die kognitive<br />
Entwicklung. Diese lassen sich schlagwortartig<br />
verkürzen zu:<br />
A) Die evolutionäre Anpassung ermöglicht<br />
dem kognitiven Apparat, die Außenwelt <strong>im</strong><br />
Individuum wider zu spiegeln.<br />
B) Die Wahrnehmung liefert Information, aus<br />
der eine individuelle Repräsentation der<br />
realen Außenwelt konstruiert wird, die einen<br />
Überlebensvorteil liefert.<br />
C) Das Individuum gewinnt keine Information<br />
über seine Umwelt, es überlebt nicht der<br />
Angepasstere, sondern der Überlebende.<br />
Im Vortrag habe ich die Zuhörer gebeten, die<br />
Position zu benennen, die ihrer Vorstellung<br />
von Evolution entspricht. Die Zahlen waren<br />
A: 6, B: 9, C: 2, bei einigen Enthaltungen. Die<br />
kodierten Positionen sind die von Konrad Lorenz<br />
(A), der modernen evolutionären Erkenntnistheorie<br />
(B) <strong>und</strong> des radikalen Konstruktivismus<br />
(von Glasersfeld) (C). Es erstaunt,<br />
dass die Gemeinde der <strong>Mathematik</strong>didaktiker<br />
ihre eigene Mainstream-Ansicht so<br />
wenig schätzt.<br />
153
Reinhard Oldenburg<br />
3 Evolutionäre Erkenntnistheorie<br />
Immanuel Kant ist ein Klassiker der Erkenntnistheorie.<br />
Ein wesentlicher Beitrag ist die<br />
klar ausgedrückte Erkenntnis, dass nicht alles<br />
Wissen in einem s<strong>im</strong>pel-empiristischen<br />
Bild einfach aus der Welt aufgenommen werden<br />
kann, da jede Wahrnehmung Voraussetzungen<br />
hat (die Apriori der Erkenntnis), z.B.<br />
die Anschauungsformen Raum <strong>und</strong> Zeit, die<br />
eben nicht aus der Beobachtung entnommen<br />
sein können.<br />
Konard Lorenz hat vorgeschlagen, dass die<br />
Kantschen Apriori als Aposteriori der Evolution<br />
aufgefasst werden können. Dieses Programm<br />
einer evolutionären Erkenntnistheorie<br />
wurde von Riedl, Vollmer, Wuketits u.a. in<br />
unterschiedlichen Variationen ausgearbeitet.<br />
Aus dem Spektrum dieser, teilweise auch untereinander<br />
nicht kompatibler Ausprägungen,<br />
wähle ich <strong>im</strong> folgenden eklektisch nach persönlicher<br />
Vorliebe aus. Die Aussagen werden<br />
der Kürze wegen auch nicht belegt (siehe<br />
(Oldenburg 2003) für ein ambitionierteres<br />
Herangehen). Kernthesen der so verstandenen<br />
evolutionären Erkenntnistheorie sind:<br />
Hypothetischer Realismus: Obwohl Wahrnehmungen<br />
keinen Zugang zur Welt an sich<br />
ermöglichen, kann man aufgr<strong>und</strong> des Anpassungsprozesses<br />
hypothetisch davon ausgehen,<br />
dass es eine Realität hinter den Erscheinungen<br />
gibt. Die Welt besitzt Strukturen,<br />
die unserer Sinnesorgane affizieren<br />
(wenn diese sie auch nicht treu abbilden).<br />
Intelligenz ist eine Anpassungsleistung an<br />
die Umwelt. Sie ermöglicht eine aktivere Rolle<br />
des Individuums.<br />
Der Vorgang der Wahrnehmung ist konstruktiv<br />
interpretierend.<br />
<strong>Lernen</strong> ist ein individueller Vorgang, ermöglicht<br />
durch evolutionär ausgebildete Strukturen<br />
des Gehirns.<br />
In der Ausarbeitung dieses Programms wurde<br />
eine Reihe von Prinzipien formuliert, die<br />
dem Erkenntnisprozess eigen sind. Zwei davon<br />
(aus Riedls Werk) sollen jetzt mit Blick<br />
auf das <strong>Internet</strong> angewendet werden:<br />
Hypothese vom Vergleichbaren: Dies bezeichnet<br />
die Tendenz des Erkenntnisapparates,<br />
ähnlichen Wahrnehmungen auch ähnliche<br />
Ursachen <strong>und</strong> ähnlichen Handlungen<br />
auch ähnliche Folgen zu unterstellen. Diese<br />
Strategie kommt <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> offensichtlich an<br />
ihre Grenzen, da das Medium einem extrem<br />
schnellen Wandel der Inhalte unterliegt. Auch<br />
gibt es kaum eine Korrelation von Form <strong>und</strong><br />
154<br />
Inhalt, so dass die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten<br />
kaum ein Hinweis auf z.B. ähnlich<br />
verlässliche Inhalte sind.<br />
Konstanzleistungen: Dies bezeichnet die<br />
Tendenz des Erkenntnisapparates, Invarianten<br />
teilweise sogar bei variierenden Reizlagen<br />
zu konstruieren. Verwandt damit ist die<br />
Erwartung, sich wiederholende Strukturen zu<br />
finden. Hier stellt die extreme Inhomogenität<br />
des <strong>Internet</strong>s ein Problem dar.<br />
4 Quines naturalisierte Erkenntnistheorie<br />
Willard van Orman Quine gilt allgemein als<br />
der einflussreichste amerikanische Philosoph<br />
des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts. Sein umfangreiches<br />
Werk soll hier auf einige Aspekte reduziert<br />
werden, die in Hinblick auf das <strong>Lernen</strong> <strong>im</strong> <strong>Internet</strong><br />
relevant sind.<br />
Web of belief: Quine hält alles Wissen für<br />
hypothetisch, auch die <strong>Mathematik</strong>. Die kognitiven<br />
Inhalte sind in einem Netz verknüpft,<br />
das an den Rändern von Erfahrungen best<strong>im</strong>mt<br />
wird, ansonsten aber durch innere<br />
Gesetzmäßigkeiten best<strong>im</strong>mt ist.<br />
Semantischer Holismus: Diese Position wird<br />
gelegentlich zu "alles hängt mit allem zusammen"<br />
verkürzt. Um eine bessere Vorstellung<br />
zu bekommen, versetze man sich z.B. in<br />
die Lage eines Physikers. Nach naiver Auffassung<br />
kann er mit seinen Exper<strong>im</strong>enten<br />
Theorien verifizieren oder falsifizieren. Popper<br />
hat dagegen schon eingewendet, dass<br />
eine Verifikation unmöglich ist. Quine geht<br />
weiter <strong>und</strong> bezweifelt auch die eindeutige<br />
Falsifikation. Falls nämlich Beobachtungen<br />
zu einem Widerspruch führen, ist zwar klar,<br />
dass etwas falsch sein muss, aber es ist<br />
nicht klar, wo <strong>im</strong> Theoriegefüge Änderungen<br />
vorgenommen werden müssen. Zwar hat<br />
man es meist mit einer fraglichen Theorie gegenüber<br />
einem akzeptierten Theorief<strong>und</strong>us<br />
zu tun, aber diese Einteilung ist nur pragmatisch.<br />
Wie lernen wir Sprache? Im Gr<strong>und</strong>e<br />
unterscheidet sich die Position des Kleinkindes<br />
bei seinen Sprechversuchen nicht von<br />
der des Physikers. Eine Konsequenz ist die<br />
"Unbest<strong>im</strong>mtheit der Übersetzung": Es ist unmöglich,<br />
überindividuelle Bedeutungsgleichheit<br />
exakt zu best<strong>im</strong>men, dies geht nur in einem<br />
Approx<strong>im</strong>ationsprozess. Eine weitere<br />
Konsequenz der Unbest<strong>im</strong>mtheit: Einzelne<br />
Wörter bzw. Sätze sind in der Regel zu klein<br />
als bedeutungstragende Einheiten.<br />
Ontologische Relativität: Ontologische Aussagen<br />
sind nach Quine sehr wichtig, da sie
die Bedeutung vieler sprachlicher Konstrukte<br />
best<strong>im</strong>men, sie sind aber nur relativ zu einem<br />
Bezugsrahmen sinnvoll. Eine absolute Ontologie<br />
ist uns nicht zugänglich. Er weist z.B.<br />
darauf hin, dass Atome nicht weniger als<br />
Homers Götter menschliche Setzungen sind.<br />
Innerhalb eines Bezugsrahmens allerdings<br />
kann mit Wörtern referenziert werden.<br />
In einigen Aspekten ist Quines Werk wenig<br />
attraktiv, z.B. in seiner Neigung zu einer behavioristischen<br />
Sicht des Spracherwerbs. Interpretiert<br />
vor dem Hintergr<strong>und</strong> seines Gesamtwerks<br />
erscheint diese aber in einem<br />
gänzlich anderen Licht als der schlichte Ansatz<br />
von Skinner.<br />
5 Folgerungen =<br />
Forderungen<br />
Nun soll die eben ausgebreitete Theorie auf<br />
das <strong>Lernen</strong> <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> angewendet werden.<br />
Die Bedeutung von Theorien (<strong>im</strong> weitesten<br />
Sinne) wird durch ihre Vernetzung <strong>im</strong> web-ofbelief<br />
gegeben. Um Bedeutung zu fixieren,<br />
braucht man darin viele Fäden. Die Verlinkung<br />
<strong>im</strong> <strong>Internet</strong> ist etwas anderes als die<br />
hier angesprochene Vernetzung. Um Bedeutungen<br />
fest zu ziehen, braucht man, was<br />
man eine Big-Footprint-Vernetzung nennen<br />
könnte, es müssen möglichst viele Fäden ein<br />
Selektionsfeld herstellen, in dem sich die Selektion<br />
<strong>im</strong> Reich der individuellen Hypothesen<br />
effektiv abspielen kann. Hypothesen<br />
können nicht eindeutig falsifiziert werden. Sie<br />
können deshalb Auferstehung feiern, <strong>und</strong><br />
dann ist es wichtig, <strong>im</strong> eigenen Lernweg zurückgehen<br />
zu können. Das ist dann besonders<br />
gut möglich, wenn die ursprüngliche Selektionsumgebung<br />
z.B. in Form bedruckten<br />
Papiers noch vorliegt. Die Flüchtigkeit des <strong>Internet</strong>s<br />
<strong>und</strong> die schnelle Veränderung seiner<br />
Inhalte ist deshalb ein kritischer Punkt, der es<br />
signifikant von anderen, z.B. CD-ROM-gestützten<br />
Lernumgebungen unterscheidet.<br />
Be<strong>im</strong> Projekt MaDiN wurde die Beobachtung<br />
gemacht (s. Wittmann 2003), dass Studenten,<br />
die mit einer virtuellen Lernplattform arbeiten,<br />
dazu neigen, die Seiten komplett auszudrucken.<br />
Dies ist nach unserer bisherigen<br />
Diskussion eine äußerst vernünftige Strategie.<br />
Die Studenten stellen Dauerhaftigkeit<br />
her, sie können auf dem Material ihren Lernweg<br />
dokumentieren <strong>und</strong> so aus den fremden<br />
Produkten eigene machen, sie sich einverleiben.<br />
Nehmen wir noch einmal die Problematik der<br />
Bezugsrahmen auf: Deren Leistung, als onto-<br />
<strong>Mathematik</strong> lernen <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> eine philosophische Betrachtung<br />
logischer Rahmen bedeutungsstiftend wirken<br />
zu können, hängt an ihrer Vernetzung, an der<br />
Verwirkung der involvierten Hypothesen. Um<br />
einen Begriffsabgleich z.B. zwischen einem<br />
Nutzer <strong>und</strong> einem Computerprogramm herzustellen,<br />
muss es ausreichend Interaktionsmöglichkeit<br />
geben, das ist das Prinzip der<br />
Bereitstellung von Operationsmöglichkeiten.<br />
Diese Operationen selbst sollten möglichst<br />
klar sein, so dass sie nicht zu einem aufwändigen<br />
Forschungsgegenstand werden müssen.<br />
Dies ist das Prinzip der Transparenz. Es<br />
begrenzt zum einen den Einsatz von Black-<br />
Boxes, <strong>und</strong> zum anderen erlaubt es, konkrete<br />
Forderungen an das Softwaredesign von<br />
Lernprogrammen zu stellen. Als relativ<br />
unspektukaläres Beispiel sei die Zugstrategie<br />
von dynamischen Geometrieprogrammen<br />
diskutiert. Es wurde erhebliche Energie investiert<br />
in den Versuch, eine gute Entscheidungsstrategie<br />
für mehrdeutige Situationen<br />
zu finden. Es gibt auch viele mathematische<br />
Gründe, diese Diskussion zu führen. Aus didaktischer<br />
Sicht dagegen bedeuten Entscheidungssituationen,<br />
dass unterschiedliche<br />
Erwartungen <strong>im</strong> Bewusstsein des Nutzers<br />
konkurrieren können, <strong>und</strong> die Synchronisation<br />
wird erschwert, wenn das System nach internen<br />
Gesetzmäßigkeiten seine Wahl trifft,<br />
ohne diesen Vorgang transparent zu machen.<br />
Es wäre viel besser, wenn das Programm<br />
den Nutzer informieren würde, dass<br />
es eine Entscheidung für ihn getroffen hat,<br />
<strong>und</strong> ihm die Option anbieten würde, sich<br />
auch die anderen Möglichkeiten anzusehen.<br />
In dem prototypischen DGS Feli-X gibt es in<br />
einigen Zugmodi einen (noch recht rud<strong>im</strong>entären)<br />
"next"-Button, mit dem man zur nächsten<br />
möglichen Konfiguration wechseln kann.<br />
Das Prinzip der Transparenz fordert ferner,<br />
die Fäden des web-of-belief aufzeigen. Der<br />
Holismus ist nämlich nicht total: Die Vernetzung<br />
hat ihre eigenen Strukturen, <strong>und</strong> es ist<br />
eine Aufgabe der Wissenschaft, diese so<br />
weit wie möglich zu klären (auch wenn es<br />
dabei prinzipielle Hürden gibt). Die <strong>Mathematik</strong><br />
besitzt ein Standardverfahren zur Netz-<br />
Forschung: Die systematische Beschränkung.<br />
Sie zeigt sich in den Bemühungen,<br />
Sätze mit möglichst wenig Voraussetzungen<br />
<strong>—</strong> oder bereits bewiesene Sätze mit gänzlich<br />
anderen Mitteln erneut zu beweisen. Dieser<br />
Wesenszug wird m.E. in den üblichen Katalogen<br />
f<strong>und</strong>amentaler Ideen der <strong>Mathematik</strong><br />
nicht ausreichend deutlich, ich nenne ihn<br />
deshalb eine vergessene f<strong>und</strong>amentale Idee<br />
(Peter Bender hat mich allerdings dankenswerter<br />
Weise darauf hingewiesen, dass es<br />
eine Nähe zur f<strong>und</strong>amentalen Idee der Reduktion<br />
gibt).<br />
155
Reinhard Oldenburg<br />
Mittlerweile, so könnte es scheinen, haben<br />
wir uns <strong>im</strong> Hinblick auf das Software-Design<br />
in eine ausweglose Konkurrenzsituation hineinargumentiert.<br />
Auf der einen Seite steht die<br />
Forderung nach einer Big-Footprint-Vernetzung,<br />
auf der anderen Seite die nach der<br />
systematischen Beschränkung. Die bisherigen<br />
Ausführungen enthalten aber auch bereits<br />
die Lösung des Dilemmas: Ersteres ist<br />
unverzichtbar zur Etablierung ontologischer<br />
Referenzrahmen (also zur Verankerung neuer<br />
bedeutungstragender Teile), das Zweite ist<br />
sinnvoll, nachdem dieser etabliert wurde. Ein<br />
gutes Beispiel dafür, wie dese Kriterien erfüllt<br />
sein können, bietet Cinderella mit seinen<br />
Möglichkeiten, die Schüler Probleme mit einer<br />
Auswahl von Werkzeugen bearbeiten zu<br />
lassen. Dieser reduktionistische Weg ist sinnvoll,<br />
weil es sich um Werkzeuge handelt, die<br />
vorher semantisch transparent gemacht werden<br />
konnten.<br />
156<br />
Abb. 1<br />
Umgekehrt gibt es natürlich auch viele Beispiele<br />
von Lernumgebungen, die mit einem<br />
zu kleinen Fußabdruck den Lerner <strong>im</strong> Stich<br />
lassen. Vor allem die Formular-Interaktivität<br />
von s<strong>im</strong>plen Java-Applets oder webMathematica-Seiten<br />
engt den Benutzer zu sehr ein.<br />
Auf der MaDiN-Seite (MadiN 2003) in Abb. 1<br />
kann der Benutzer zwei Funktionen in zwei<br />
Variablen eingeben, deren Funktionsgraphen<br />
dann in ein gemeinsames Koordinatensystem<br />
gezeichnet werden. Es ist unbestritten,<br />
dass Nutzer damit etwas Sinnvolles machen<br />
können (weniger klar ist, warum sie dazu das<br />
teure webMathematica online statt eines<br />
Freeware-Computeralgebrasystems offline<br />
nutzen sollen). Der vorgegebene, vorgedachte<br />
Rahmen ist mit Bedacht gewählt, <strong>und</strong><br />
trotzdem ist er zu eng: Kann man die Schnittkurve<br />
hervorheben? Ist meine Überlegung,<br />
wie ich sie ausrechnen kann, richtig? Kann<br />
man beide Graphen durch eine Ebene tren-
nen? Wie ist die Darstellung (Projektion) zu<br />
verstehen; <strong>—</strong> vielleicht sollte ich eine senkrechte<br />
Hilfsebene mitzeichnen lassen? Bei all<br />
diesen Fragen lässt das Formular den Nutzer<br />
<strong>im</strong> Stich, es taugt nicht als evolutionäres Feld<br />
der Hypothesenselektion.<br />
Die Verwendung von Formularen wie in der<br />
beschriebenen Seite wird zum einen durch<br />
die technischen Möglichkeiten nahegelegt, ist<br />
zum anderen aber auch Ausdruck einer erstaunlichen<br />
didaktischen Gr<strong>und</strong>haltung.<br />
Während der Mainstream der <strong>Mathematik</strong>didaktik<br />
für Schüler ein stärker selbstgesteuertes<br />
<strong>Lernen</strong> in offenen Lernumgebungen fordert,<br />
wird in der universitären Lehrerausbildung<br />
die Notwendigkeit einer durch das<br />
Formular geleisteten Engführung betont. Eine<br />
evolutionäre Sichtweise führt dagegen zur<br />
Forderung, universelle Werkzeuge zu erlernen<br />
<strong>und</strong> zu nutzen (mit denen eigene Hypothesen<br />
effektiv untersucht <strong>und</strong> selektiert werden<br />
können) <strong>und</strong> die Hypothesenbildung<br />
durch (elektronische) Arbeitsblätter <strong>und</strong><br />
durch ausgearbeitete Beispiele anzuregen;<br />
<strong>—</strong> die notwendige Lenkung erfolgt dann also<br />
nicht durch das Werkzeug, sondern durch<br />
zusätzliche Lernmaterialien. Die Wichtigkeit<br />
solcher ausgearbeiteter Beispiele erkennt<br />
man, indem man die evolutionäre Sichtweise<br />
als Leitlinie für den eigenen Erkenntnisgewinn<br />
anwendet: Im Informatikbereich gibt es<br />
viele Schüler, die sich komplexe Inhalte autodidaktisch<br />
aneignen (man denke z.B. an die<br />
von vielen Schüler beherrschte Programmierung<br />
von OpenGL, die u.a. das Verständnis<br />
homogener Koordinaten voraussetzt). Solche<br />
Schüler suchen sich ihre Lernumgebungen<br />
selbst, <strong>und</strong> der didaktisch interessierte Lehrer<br />
kann aus der Beobachtung dieses Prozesses<br />
lernen. Suchen Schüler etwa nach<br />
möglichst klaren Erklärungstexten, sind die<br />
Anhänger der Erklärungsideologie? Suchen<br />
Sie nach Seiten mit möglichst offenen Anregungen?<br />
Weder noch. Die mit Abstand beliebteste<br />
Lernform ist das <strong>Lernen</strong> am Beispiel,<br />
das Nachmachen <strong>und</strong> langsam Verändern<br />
hin zu den eigenen Vorstellungen.<br />
Ich habe oben eine MaDiN-Seite kritisiert.<br />
Diese Wahl ist durchaus mit Bedacht getroffen:<br />
MaDiN ist insgesamt von ausgezeichneter<br />
Qualität. Wenn aber ein mit so viel Überlegung<br />
gemachtes Angebot subopt<strong>im</strong>al ist,<br />
dann zeigt das m.E. ein Gr<strong>und</strong>problem des<br />
"Lernort <strong>Internet</strong>" auf. Ebenfalls am Beispiel<br />
MaDiN lässt sich zeigen, dass die unübersichtliche<br />
Struktur eines Hypertextes dazu<br />
führen kann, dass trotz etablierter Qualitätskontrolle<br />
fachlicher Unsinn ins Netz gelangen<br />
kann. Vermutlich sind die von mir gef<strong>und</strong>enen<br />
Dinge längst korrigiert. Es bleibt der<br />
<strong>Mathematik</strong> lernen <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> <strong>—</strong> eine philosophische Betrachtung<br />
Nachteil, dass der Lerner keine Dokumentation<br />
der Änderung hat. Wenn er nach ein<br />
paar Monaten zurückkommt <strong>und</strong> das Gefühl<br />
hat, das Gegenteil dessen zu lesen, was vor<br />
ein paar Monaten da stand, bleibt er damit alleine.<br />
Bei einem Buch könnte er, wenn ihn<br />
die Frage denn ernsthaft bedrückt, die Geschichte<br />
der verschiedenen Auflagen studieren.<br />
In seiner Schnelllebigkeit ist das <strong>Internet</strong> geschichtslos<br />
<strong>und</strong>, was bisher noch gar nicht<br />
angesprochen wurde, es ist extrem unpersönlich.<br />
Dies führt zu Konflikten mit der Erwartung<br />
vom Vergleichbaren. Wenn man ein<br />
Buch oder einen Aufsatz liest, erwartet man<br />
eine gewisse Gleichartigkeit der Argumentationen<br />
<strong>und</strong> versucht diese herzustellen (Konstanzerwartung).<br />
Dies ist auch vernünftig,<br />
denn wenn all diese Gedanken von einem<br />
Menschen stammen, sollten sie sich halbwegs<br />
passend ordnen lassen. Diese Sichtweise<br />
wird problematisch, wenn man analoge<br />
Vergleichbarkeit an anderer Stelle erwartet<br />
(wenn etwa von "der Meinung des Spiegel"<br />
gesprochen wird). Diese Erwartung wird<br />
aber selbst von seriösen <strong>Internet</strong>angeboten<br />
tiefgreifend enttäuscht. Mit der generellen<br />
Seriosität eines Angebots steigt die Zahl der<br />
involvierten Autoren. Der Leser hat also nicht<br />
mehr die Spur einer Chance, Bedeutungsnuancen<br />
zwischen verschiedenen Autoren zu<br />
detektieren.<br />
Physikalisch interessierte Leser können sich<br />
durch eine einfache Metapher die bisher ausgearbeitete<br />
Kritik verdichten in der Form,<br />
dass die Korrelationslänge des <strong>Internet</strong>s zu<br />
klein ist.<br />
6 Konstruktivismus?<br />
Der Leser mag sich fragen, warum bisher<br />
nicht die konstruktivistische Erkenntnistheorie<br />
thematisiert wurde. Die vollständige Antwort<br />
wird in einer Analyse des Konstruktivismus<br />
enthalten sein, die gegenwärtig in Vorbereitung<br />
ist (Oldenburg 2003). Hier nur einige<br />
Bemerkungen dazu: Die Didaktik profitiert<br />
enorm vom Konstruktivismus, z.B. be<strong>im</strong> Verständnis<br />
von Fehlvorstellungen. Zentral für<br />
die Leistungen des Konstruktivismus ist dabei<br />
das Verständnis des Wissenserwerbs als<br />
individuelle Konstruktion. Diese Position ist<br />
aber Gemeingut unter vielen moderneren<br />
Ansätzen, z.B. den hier vorgestellten. Die<br />
weitergehenden Positionen des Konstruktivismus<br />
sind für die Didaktik unzureichend<br />
oder irrelevant. Für die hier geführte Diskussion<br />
leidet der Konstruktivismus an einer we-<br />
157
Reinhard Oldenburg<br />
niger detaillierten Vorstellung zur Wechselwirkung<br />
Medium <strong>und</strong> Individuum. Außerdem<br />
führt der Konstruktivismus zu einer systematischen<br />
Unterschätzung der Bedeutung der<br />
Eigenaktivität des Lerners (die ausführliche<br />
Begründung dieser möglicherweise als erstaunlich<br />
empf<strong>und</strong>en Aussage erfolgt in der<br />
oben zitierten Arbeit).<br />
7 Das <strong>Internet</strong> als Anregung<br />
Hier sollen exemplarisch einige Nutzungsmöglichkeiten<br />
des <strong>Internet</strong>s <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
aufgezeigt werden, die in keiner<br />
Weise von der zuvor geäußerten Kritik getroffen<br />
sind. Als Bestandteile der Lebenswelt<br />
der Schüler <strong>und</strong> Schülerinnen eignet sich das<br />
<strong>Internet</strong> als Quelle von Anregungen <strong>und</strong> als<br />
Thema des <strong>Mathematik</strong>unterrichts, gerade<br />
auch in Hinblick auf fächerübergreifende Projekte.<br />
Terme kommunizieren<br />
In den Anfangszeiten des <strong>Internet</strong> wurden<br />
Formeln oft als gif-Bilder in Seiten eingeb<strong>und</strong>en.<br />
Man kann mit den Schülern Vor- <strong>und</strong><br />
Nachteile eines solchen Vorgehens diskutieren<br />
<strong>und</strong> sich die Repräsentation von Termen<br />
in verschiedenen Systemen anschauen:<br />
• "Standard"-Formeleingabe <strong>im</strong> PC: a*x^2/3<br />
• Lisp (Max<strong>im</strong>a). (* a (^ x (/ 2 3) ) )<br />
• TeX: $a*x^{3/2}$<br />
• Mathematica:<br />
T<strong>im</strong>es[a,Power[x,Rational[2,3]]]<br />
Man kann hier Anforderungen diskutieren,<br />
neue Repräsentationsformen erfinden <strong>und</strong><br />
z.B. mit den ausufernd langen Kodierungen<br />
in MathML vergleichen.<br />
Spam-Filter<br />
Die gegenwärtige Entwicklung zur Stärkung<br />
der Bayes-Statistik in der Schule (z.B. neue<br />
niedersächsische Rahmenrichtlinien) erfordert<br />
sinnvolle Projekte, die dies unterstützen.<br />
158<br />
Was ist Spam? Die Antwort darauf erfordert<br />
eine Individualisierung. Menschen unterscheiden<br />
sich nun einmal in der Art der Mail,<br />
die sie lesen wollen. Lernfähige Spamfilter<br />
kann man z.B. folgendermaßen bauen: Der<br />
Nutzer klassifiziert in einer Trainingsphase<br />
eingehende Mail als Spam oder Ham (das ist<br />
die erwünschte Mail). Auf diese Art findet<br />
man die bedingten Wahrscheinlichkeiten einer<br />
Klasse von Wörtern in Spam <strong>und</strong> in Ham.<br />
Auf der Gr<strong>und</strong>lage dieses Wissens kann die<br />
Bayes-Formel angewendet werden:<br />
P(Spam|"Viagra") =<br />
P("<br />
Viagra"<br />
Spam)<br />
P("<br />
Viagra"<br />
Spam)<br />
+<br />
P("<br />
Viagra"<br />
Ham)<br />
Verallgemeinert auf viele Bewertungswörter<br />
kann man so eine gute Erkennungsrate erreichen.<br />
Eine reale Anwendung findet man<br />
z.B. <strong>im</strong> Mozilla-Junk-Mail-Filter.<br />
8 Zum Schluss<br />
Dieser Aufsatz spannt einen weiten Bogen,<br />
der Leser entscheide, ob es gar ein zu weiter<br />
Bogen ist. Unbestreitbar dürfte sein, dass<br />
sich die Strukturen des Gehirns <strong>und</strong> damit<br />
die Prinzipien seiner kognitiven Leistungen in<br />
einer Umgebung evolutionär herausgebildet<br />
haben, die von den heutigen gesellschaftlichen<br />
Realitäten <strong>und</strong> erst recht von der virtuellen<br />
Realität des <strong>Internet</strong>s weit entfernt ist.<br />
Literatur<br />
MaDiN <strong>—</strong> <strong>Mathematik</strong>didaktik <strong>im</strong> Netz (2003),<br />
www.madin.net, gelesen 24.9.2003. Die Seiten<br />
sind mittlerweile deutlich geändert.<br />
Oldenburg, Reinhard (2003): Realistischer Konstruktivismus.<br />
Göttingen: Preprint<br />
Quine, Willard van Orman (1975): Ontologische<br />
Relativität <strong>und</strong> andere Schriften. Stuttgart:<br />
Reclam<br />
Riedl, Rupert (1988): Biologie der Erkenntnis.<br />
München: dtv<br />
Wittmann, Gerald (2003): Wie lernen Studierende<br />
in internetgestützten Lehrveranstaltungen? In<br />
diesem Band<br />
Weitere Literatur zu den philosophischen Themen<br />
findet sich in Oldenburg (2003)
� Integration des <strong>Internet</strong>s <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
unter Berücksichtigung von Aspekten der Handlungsorientierung<br />
am Beispiel der Behandlung von Korrelation<br />
<strong>und</strong> Regression in der Jahrgangsstufe 11<br />
Andreas Pallack, Soest<br />
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einer Lernumgebung zur schulischen Beschreibenden<br />
Statistik unter Berücksichtigung der neuen Medien. Gr<strong>und</strong>lage ist eine Unterrichtsreihe in<br />
der Jahrgangsstufe 11. Der Kurs wurde unter Nutzung des Mediums <strong>Internet</strong> <strong>und</strong> eines<br />
CAS-Werkzeugs unterrichtet. Der Unterricht wurde methodisch so angelegt, dass selbstregulierende<br />
Prozesse zur Konstruktion tragfähiger Begriffe durch eine den Schülern<br />
vorgegebene Organisationsstruktur angeregt <strong>und</strong> z.T. auch durchlaufen wurden.<br />
1 Einleitung<br />
"Bei gesellschaftlichen, politischen <strong>und</strong><br />
wirtschaftlichen Fragen wird heute zunehmend<br />
mit statistischen Daten argumentiert.<br />
Zeitungen, Zeitschriften<br />
<strong>und</strong> Fernsehen verwenden Tabellen,<br />
graphische Darstellungen, Mittelwerte<br />
<strong>und</strong> Anteilsangaben, um Informationen<br />
zu übermitteln. Auch <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
<strong>und</strong> in anderen Unterrichtsfächern<br />
treten <strong>im</strong>mer wieder statistische<br />
Daten in Form von Tabellen <strong>und</strong><br />
Graphiken auf, die der Schüler richtig<br />
lesen <strong>und</strong> interpretieren soll. Dazu sind<br />
Sachkenntnisse erforderlich." (Kütting<br />
1994, 9)<br />
Die zunehmende Informationsflut <strong>und</strong> das<br />
Wachstum des verfügbaren Wissens zwingt<br />
uns Methoden zu entwickeln, die es erlauben,<br />
schnell Überblick über große Datenmengen<br />
zu gewinnen. Schülern einige dieser<br />
Methoden an die Hand zu geben, ist ein<br />
zentrales Ziel der schulischen Beschreibenden<br />
Statistik. Im Schuljahr 1999/2000 wurde<br />
diese <strong>im</strong> Lehrplan der gymnasialen Oberstufe<br />
Nordrhein–Westfalens fest verankert. Offensichtlich<br />
gibt es <strong>im</strong> Bereich dieses Themenkomplexes<br />
viele Möglichkeiten, handlungsorientierte<br />
Ansätze umzusetzen.<br />
"Die Beschreibende Statistik eignet sich in<br />
besonderer Weise für die Durchführung kleinerer<br />
Projekte aus dem Umfeld Schule. Im<br />
Exper<strong>im</strong>ent können Antworten auf wirklichkeitsnahe<br />
Fragen gegeben werden." (NRW<br />
MSWWF 1999, 15)<br />
Schüler können für sie relevante oder interessante<br />
Problemstellungen nicht nur bearbeiten,<br />
sondern sogar von Gr<strong>und</strong> auf erarbeiten.<br />
Sie können aktiv Daten erheben <strong>und</strong> sie<br />
quantitativ <strong>und</strong> qualitativ auswerten. Die mathematisch<br />
notwendigen Begriffe können sich<br />
dabei aus dem Wunsch ergeben, den Daten<br />
spezielle Informationen zu entnehmen.<br />
Ziel dieses Beitrags ist es, eine Lernumgebung1<br />
zu Begriffen der Beschreibenden Statistik,<br />
speziell Korrelation <strong>und</strong> Regression,<br />
vorzustellen <strong>und</strong> über deren Umsetzung kurz<br />
zu berichten (ausführlicher in Pallack 2003).<br />
Die Entscheidungen, welche schließlich zur<br />
konkreten Planung <strong>und</strong> Durchführung der<br />
Unterrichtsreihe führten, sollen <strong>im</strong> Folgenden<br />
systematisch dargelegt werden. Ausgehend<br />
von schulischen Rahmenbedingungen, werden<br />
in einem ersten Schritt das Konzept der<br />
Handlungsorientierung vorgestellt <strong>und</strong> Vorschläge<br />
zur Realisierung handlungsorientierten<br />
<strong>Mathematik</strong>unterrichts angeführt.<br />
Im zweiten Schritt wird die Problematik der<br />
Beziehung von Schule <strong>und</strong> Computer in aller<br />
Kürze umrissen. In der betreffenden Unterrichtsreihe<br />
erfüllten Rechner zwei zentrale<br />
Aufgaben:<br />
• Sie dienten <strong>im</strong> Unterricht als Werkzeug<br />
(CAS-System) für die Schüler.<br />
• Sie dienten der Präsentation der Ergebnisse<br />
<strong>und</strong> Meinungen von Schülern.<br />
Da die erste Funktion mittlerweile in vielen<br />
Lehrplänen berücksichtigt <strong>und</strong> der Einsatz<br />
von Rechnern bzw. grafischen Taschenrechnern<br />
mit CAS in vielen Ländern erlaubt oder<br />
gar vorgeschrieben wird (Weigand & Weth<br />
2002, XI), verzichte ich auf die Darstellung<br />
1 Zur Begriffsklärung: Eine Lernumgebung umfasst das Gesamtarrangement,<br />
das zur Unterstützung von Lernprozessen planvoll gestaltet<br />
werden kann; zu den Komponenten einer Lernumgebung<br />
zählen neben adäquaten Räumlichkeiten die <strong>Lehren</strong>den, Lehr- <strong>und</strong><br />
Lernmaterialien <strong>und</strong> natürlich auch Medien in unterschiedlichen<br />
Funktionen (entnommen aus Möller, 1999, 142)<br />
159
Andreas Pallack<br />
der Möglichkeiten von CAS. Einen Überblick<br />
hierzu bieten sie in ihrem Buch zu Computern<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht (ebd., Kap. IV).<br />
Die Nutzung des <strong>Internet</strong>s als Publikationsorgan<br />
ist <strong>im</strong> schulischen Rahmen weitaus<br />
weniger etabliert als der Einsatz von CAS.<br />
Da sie jedoch eine wesentliche Komponente<br />
des vorgestellten Konzeptes ist, habe ich ihr<br />
das 5. Kapitel des vorliegenden Beitrags gewidmet.<br />
Einen Überblick zu Konzepten der Einführung<br />
von Korrelation <strong>und</strong> Regression <strong>im</strong> Unterricht<br />
erspare ich dem Leser ebenso wie<br />
Details zur Lerngruppe <strong>und</strong> St<strong>und</strong>enverläufe.<br />
Ich beschränke mich auf einen kleinen Überblick<br />
<strong>und</strong> einige wenige exemplarische Szenen<br />
des unterrichtlichen Geschehens.<br />
2 Handlungsorientierung<br />
als Konzept für den (all-)<br />
täglichen <strong>Mathematik</strong>unterricht?<br />
Der Unterricht der Oberstufe ist an Rahmenbedingungen<br />
geb<strong>und</strong>en. Hierzu gehören u.a.<br />
der 45-Minuten-Takt, die Notwendigkeit der<br />
Notengebung, die beschränkte Möglichkeit,<br />
Schüler außerschulisch mit Arbeiten zu beauftragen,<br />
z.T. große Kurs- <strong>und</strong> Klassenfrequenzen<br />
oder auch die Lehrpläne, welche<br />
Rahmen für jedes Schulfach festlegen. Veränderungen,<br />
wie sie mittlerweile gefordert<br />
werden, sind jedoch eine Sache von Menschen<br />
<strong>und</strong> nicht von Papier, wie auch Weigand<br />
(1997, 325) in einer Arbeit zum computergestützten<br />
<strong>Lernen</strong> herausstellt. Wenig<br />
aussichtsreich scheint es, nicht zuletzt aus<br />
diesem Gr<strong>und</strong>, Konzepte unter Missachtung<br />
oder Beschönigung der genannten Rahmenbedingungen<br />
zu entwickeln. Vielmehr muss<br />
es Ziel sein, auf der Basis des Ist-Zustands<br />
schüleraktive Unterrichtseinheiten zu planen<br />
<strong>und</strong> so sukzessive Veränderungen "von innen"<br />
herbeizuführen.<br />
Schüleraktivität wird häufig mit Handeln, also<br />
dem sinnvollen Tun des <strong>Lernen</strong>den, assoziiert.<br />
Im nächsten Kapitel stelle ich deswegen<br />
Beiträge der allgemeinen Didaktik zur Handlungsorientierung<br />
vor <strong>und</strong> verdichte die Informationen<br />
zur begrifflichen Klärung. Diese<br />
Ausführungen eher allgemeiner Natur werden<br />
dann auf den <strong>Mathematik</strong>unterricht angewendet<br />
<strong>und</strong> konkretisiert. Auf der so geschaffenen<br />
Basis werden schließlich einige<br />
Kriterien zur Planung eines handlungsorientierten<br />
Statistikunterrichts entwickelt.<br />
160<br />
2.1 Handlungsorientierung <strong>und</strong><br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
Kann Handlungsorientierung überhaupt ein<br />
akzeptables Konzept für den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
sein? Die Vorstellung von dem, was<br />
Handeln ist, steht doch in einem eher ambivalenten<br />
Verhältnis zum pr<strong>im</strong>är kognitiv ausgerichteten<br />
<strong>Lernen</strong> von <strong>Mathematik</strong>. Obwohl<br />
die folgenden Zahlen bereits recht abgegriffen<br />
sind <strong>und</strong> die zugr<strong>und</strong>e gelegte Studie<br />
wohl noch niemand der zahlreichen Zitierenden<br />
gelesen hat (auch Kl<strong>im</strong>sa, 2002, 9, konnte<br />
die Quelle trotz umfangreicher Nachforschungen<br />
nicht ausfindig machen), wage ich<br />
es trotzdem <strong>und</strong> führe (Gudjons 1997, 55)<br />
an. Die von ihm zitierte empirische Untersuchung<br />
ergab:<br />
Wir behalten<br />
20% von dem, was wir hören,<br />
30% von dem, was wir sehen,<br />
80% von dem, was wir selber formulieren<br />
können,<br />
90% von dem, was wir selber tun.<br />
Ziel müsste es demnach sein, Schüler zum<br />
stetigen sinnvollem Tun zu bewegen. Dies ist<br />
ein Ziel handlungsorientierten Unterrichts.<br />
Handlungen sind direkt gekoppelt mit dem<br />
Aufbau günstiger kognitiver Strukturen. Nähere<br />
Ausführungen hierzu finden sich u.a. bei<br />
(Gudjons 1997). Gegenüber der derzeitigen<br />
Schulrealität, in welcher Schüler häufig dem<br />
Lehrer folgen <strong>und</strong> jeder Schritt durch eine<br />
starke Abhängigkeit von ihm geprägt ist, soll<br />
handlungsorientierter Unterricht die gesellschaftlich<br />
notwendige Selbstverantwortung<br />
der Schüler fördern <strong>und</strong> fordern (Gudjons<br />
1998, 108). Der Unterricht wandelt sich vom<br />
linearen zum iterativen Prozess. Umwege<br />
<strong>und</strong> auch Irrtümer können in ihm als Lernchancen<br />
begriffen werden.<br />
(Handlungsorientierter) Unterricht muss den<br />
Schüler zum Handeln provozieren. Selbsttätigkeit<br />
<strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Handlung<br />
führt Schüler zur erwünschten Selbstständigkeit.<br />
Aufgabe des Lehrers ist es, für seine<br />
Ziele geeignete Provokationen zu entwickeln<br />
(<strong>im</strong> Sinne von Gudjons 1997, 8, kann auch<br />
von Dissonanzen gesprochen werden) <strong>und</strong><br />
diese in geeignete Lernumgebungen einzubinden.<br />
Die unterrichtliche Umsetzung von<br />
Lernumgebungen ist unter anderem durch<br />
Sozialformen des Unterrichts geprägt. Passend<br />
erscheint Gruppen- oder Partnerarbeit<br />
(Jank & Meyer 1994, 356, Hole 1998, 11).<br />
Auch Sozialformen eines möglichen Projektunterrichts<br />
sind denkbar (s. hierzu vor allem<br />
Frey 1998).
Handlungsorientierung erhebt nicht den Anspruch,<br />
eine neue Didaktik zu repräsentieren.<br />
Handlungsorientierter Unterricht soll Schülern<br />
den handelnden <strong>und</strong> aktiven Umgang<br />
mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit erlauben<br />
(Gudjons 1998, 103, Beckmann 1999,<br />
79). Verschiedene Autoren setzen dabei unterschiedliche<br />
Akzente bei ihrer Um- <strong>und</strong> Beschreibung<br />
von Handlungsorientierung (z.B.<br />
Beckmann 1999, 79f). Nicht zuletzt dies<br />
zeigt, dass es sich bei Handlungsorientierung<br />
nicht um ein vollständig ausformuliertes (starres)<br />
didaktisches Konzept handelt (Gudjons<br />
1998, Gudjons 1997, Jank & Meyer 1994,<br />
Meyer 1987). Auch ist das Konzept nicht vollends<br />
revolutionär. Es gibt durchaus Berührpunkte<br />
mit dem exemplarischen, genetischen<br />
<strong>Lernen</strong> (v.a. Wagenschein 1968) <strong>und</strong> dem<br />
entdeckenden <strong>Lernen</strong> (Bruner 1974).<br />
Eine weit verbreitete Merkmalsliste zur Charakterisierung<br />
handlungsorientierten Unterrichts<br />
stammt von Jank & Meyer (1994). Sie<br />
führen sieben Merkmale handlungsorientierten<br />
Unterrichts an, die <strong>im</strong> Folgenden umrissen<br />
werden.<br />
Hervorgehoben wird, dass Handlungsorientierter<br />
Unterricht ganzheitlich <strong>und</strong> schüleraktiv<br />
ist. Hierzu gehört sowohl, dass Schüler<br />
Gelegenheit haben, mit allen Sinnen zu lernen,<br />
als auch, dass nicht die Fachsystematik<br />
den Unterricht dominiert (Horstmann, Meyer-<br />
Lerch et al. 1987, 8). Das schließt, was gerade<br />
für den <strong>Mathematik</strong>unterricht von <strong>im</strong>menser<br />
Bedeutung ist, nicht aus, dass der Unterricht<br />
systematische Abschnitte enthält. Im<br />
Wesentlichen sollte sich jedoch aus nur wenigen<br />
vom Lehrer entwickelten Vorgaben ein<br />
selbstständiger <strong>und</strong> von Selbsttätigkeit geprägter<br />
Lernprozess entfalten. Die Notwendigkeit<br />
der Aktivität der Schüler beschreibt<br />
auch Freudenthal (1970, 107ff). Akzentuiert<br />
wird hier der Wandel vom Tun des Lehrers<br />
auf das des Schülers.<br />
Ein weiteres Merkmal ist, dass <strong>im</strong> Mittelpunkt<br />
des handlungsorientierten Unterrichts die<br />
Entwicklung von Handlungsprodukten steht,<br />
mit denen weitergearbeitet, gespielt <strong>und</strong> gelernt<br />
werden kann. Handlungsprodukte können<br />
dabei veröffentlichungsfähige materielle<br />
<strong>und</strong> geistige Ergebnisse der Unterrichtsarbeit<br />
sein. Zu Beginn des handlungsorientierten<br />
Unterrichts steht ein relevantes, unter Berücksichtigung<br />
der Schülerinteressen ausgewähltes<br />
Problem eher kognitiver Natur. Zum<br />
Ende entsteht ein Handlungsprodukt, mit<br />
dem sich Schüler identifizieren können. Gerade<br />
solche Handlungsprodukte sind zur Zeit<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht eher selten vorzufinden.<br />
Dabei gibt es auch in diesem Fach<br />
Integration des <strong>Internet</strong>s <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
Teilgebiete, die hierzu prädestiniert wären.<br />
Als Beispiel sei die Stochastik angeführt. Da<br />
es nicht Ziel eines adäquaten handlungsorientierten<br />
Unterrichts sein kann, pr<strong>im</strong>är Handlungsprodukte<br />
zu schaffen, deren Erstellung<br />
nicht mit den Zielen des jeweiligen Faches in<br />
Einklang zu bringen ist, muss das Spektrum<br />
möglicher Produkte hinreichend eingeschränkt<br />
werden. Handlungsprodukte müssen<br />
in den Rahmen des Unterrichts <strong>und</strong> der<br />
häuslichen Nacharbeit, also in den derzeitigen<br />
organisatorischen Rahmen, einbettbar<br />
sein, um als Alternative zu üblichen Vorgehensweisen<br />
akzeptiert werden zu können<br />
(Breuer, Hermann-Wyrwa et al. 2000, 30).<br />
Für den <strong>Mathematik</strong>unterricht bieten sich<br />
Wandzeitungen, Schülerbücher, Flugschriften,<br />
ein Exper<strong>im</strong>ent oder auch das Veröffentlichen<br />
<strong>im</strong> <strong>Internet</strong> an. Eine spezielle Form<br />
von letzterem ist das in einem der nächsten<br />
Abschnitte vorgestellte WWP, das gerade<br />
unter Berücksichtigung des gegebenen schulischen<br />
Rahmens entwickelt wurde.<br />
Handlungsorientierter Unterricht bemüht sich,<br />
die subjektiven Schülerinteressen zum Ausgang<br />
der Unterrichtsarbeit zu machen. Er<br />
bietet den Schülern aber auch Möglichkeiten,<br />
die eigenen Interessen weiter zu entwickeln.<br />
Die umspannenden Kontexte werden durch<br />
den Lehrer unter Berücksichtigung der Schülerinteressen<br />
gewählt. Handlungsorientierter<br />
Unterricht schmiegt sich an dies an <strong>und</strong> berücksichtigt<br />
die Umwelt der Schüler. Damit ist<br />
nicht gemeint, dass die Lehrkraft keine oder<br />
nur wenige Möglichkeiten bezüglich der Themenauswahl<br />
hat. Dies würde auch der angestrebten<br />
Adaptivität widersprechen <strong>und</strong> mögliche<br />
Konflikte zu Richtlinien aufwerfen. Ziel<br />
sollte es vielmehr sein, aus den Rahmenbedingungen<br />
heraus Lernsituationen zu planen,<br />
die nicht die Schüler bloß berücksichtigen,<br />
sondern sie zum Ausgangspunkt der<br />
Überlegungen macht. Hierzu muss der Lehrer<br />
seine Schüler kennen <strong>und</strong> deren Umfeld<br />
<strong>und</strong> soziale Lage stetig analysieren (Meyer<br />
1987, 413). Soziale Verknüpfungen <strong>und</strong> die<br />
persönlichen Beziehung von Schülern <strong>und</strong><br />
Lehrer stellen nicht vernachlässigbare<br />
Aspekte der Planung <strong>und</strong> Durchführung von<br />
Unterricht dar. Subjektive Schülerinteressen<br />
sind dabei situationsspezifische, persönliche<br />
Bedürfnisse, Vorstellungen <strong>und</strong> Phantasien<br />
zum Unterricht (ebd.). Diese sind Schülern<br />
oft nur unbewusst bekannt, wirken jedoch<br />
trotzdem handlungsleitend.<br />
Des Weiteren sollten Schüler von Anfang an<br />
bei der Planung, Durchführung <strong>und</strong> Auswertung<br />
des Unterrichts beteiligt werden. Jeder<br />
Schritt ist Anregungen, Kritiken oder auch<br />
Handlungen von Schülern ausgesetzt. Unbe-<br />
161
Andreas Pallack<br />
gründete Schritte müssen plakativ als solche<br />
präsentiert <strong>und</strong> entweder begründet oder verworfen<br />
werden. Der Lehrer sucht in der eigenen<br />
persönlichen Vorplanung Elemente, welche<br />
Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Der<br />
Planungsprozess selbst erfolgt <strong>und</strong> vollzieht<br />
sich handlungsorientiert <strong>im</strong> Unterricht (Gudjons<br />
1997, 106).<br />
Durch die Produktbezogenheit sollte Handlungsorientierter<br />
Unterricht zu einer Öffnung<br />
von Schule führen. Zum einen wird Unterricht<br />
<strong>und</strong> die Beziehung von <strong>Lernen</strong>den <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong>den<br />
offener, zum anderen sollten Schüler<br />
Gelegenheit erhalten, ihre Erfahrungen oder<br />
Vermutungen nach außen zu tragen <strong>und</strong> hier<br />
zu überprüfen. Umgekehrt sollte auch das<br />
schulische Umfeld (z.B. Eltern oder Fre<strong>und</strong>e)<br />
Gelegenheit erhalten, auf die Handlungsprodukte<br />
zuzugreifen, <strong>und</strong> ggf. an ihnen Kritik zu<br />
äußern. Auch hierzu möchte ich auf das später<br />
vorgestellte WWP verweisen.<br />
Produktbezogenheit eröffnet auch die Chance,<br />
Kopf- <strong>und</strong> Handarbeit in ein ausgewogenes<br />
Verhältnis zu bringen. Kopfarbeit sind<br />
dabei <strong>im</strong>materielle, Handarbeit materielle<br />
Handlungen. Diese stehen in einer dynamischen<br />
Wechselwirkung zueinander. Das Verhältnis<br />
von Kopf- <strong>und</strong> Handarbeit sollte vor<br />
Durchführung einer Unterrichtseinheit weder<br />
festgelegt noch vorgeplant werden, da es<br />
stark schülerabhängig sein kann. Die Energie<br />
der Lehrer sollte pr<strong>im</strong>är in die Vorbereitung<br />
des Unterrichts eingehen. Unter Vorbereitung<br />
darf dabei nicht die exakte <strong>und</strong> haarkleine<br />
Planung verstanden werden. Vielmehr sollte<br />
der Lehrer vorab formulieren, in welcher Zeit<br />
welche kognitiven, affektiven <strong>und</strong> auch psychomotorischen<br />
Ziele <strong>und</strong> Fertigkeiten erreicht<br />
werden sollen. Hierauf können dann<br />
geeignete Provokationen aufbauen.<br />
Propagiert wird hier eine Form der Handlungsorientierung,<br />
die nahezu unmittelbar<br />
umsetzbar ist, also ein hinreichend adaptives<br />
Konzept. Die gegebenen Rahmenbedingungen<br />
werden ebenso berücksichtigt <strong>und</strong> akzeptiert<br />
wie das Umfeld <strong>und</strong> die am Unterrichtsprozess<br />
beteiligten Personen. Dies<br />
spiegelt sich auch in den folgenden Vorschlägen<br />
für einen handlungsorientierten <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
wieder, die zu den vorhergehenden<br />
Ausführungen kohärent sind.<br />
2.2 Vorschläge für einen handlungsorientierten<strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
<strong>Mathematik</strong> n<strong>im</strong>mt, wie es oft der Fall ist, eine<br />
Sonderrolle ein. So gibt es nur wenige Au-<br />
162<br />
toren, welche sich mit Handlungsorientierung<br />
auseinandersetzen <strong>und</strong> konkrete Beispiele<br />
zu deren Umsetzung <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
angeben. Auch Gudjons (1998, 120) betont,<br />
dass es naiv wäre anzunehmen, dass<br />
sich alle Fächer bruchlos handlungsorientiert<br />
lehren <strong>und</strong> lernen ließen. Als Beispiel führt er<br />
die Prozentrechnung an.<br />
Die folgenden Vorschläge dienen als Anregung<br />
<strong>und</strong> wurden unter Beachtung der <strong>im</strong> vorigen<br />
Abschnitt formulierten Merkmale handlungsorientierten<br />
Unterrichts entwickelt. Sie<br />
leiten auf konkrete Entscheidungen zur Planung<br />
des Unterrichts. Ich nehme dabei bewusst<br />
davon Abstand, mich vorab auf eine<br />
Jahrgangsstufe festzulegen. Ziel ist es vielmehr,<br />
Kriterien herauszuarbeiten, die bei der<br />
Planung von konkretem Statistikunterricht<br />
hilfreich sind <strong>und</strong> dann als Gr<strong>und</strong>lage für die<br />
noch folgende Darlegung der konkreten Entscheidungen<br />
dienen können.<br />
Realitätsbezug: Aufgaben <strong>und</strong> Probleme<br />
sollten <strong>im</strong> Statistikunterricht zum einen gesellschaftliche<br />
Relevanz, zum anderen hinreichenden<br />
Realitätsbezug bieten. Hierzu gehört,<br />
dass sich Schüler mit realen Daten auseinandersetzen.<br />
Der Umgang mit diesen ist<br />
meist unbequem <strong>und</strong> für Lehrer <strong>und</strong> Schüler<br />
mit Aufwand verb<strong>und</strong>en. Eine Möglichkeit,<br />
derartige Aufgaben <strong>und</strong> Probleme in den Unterricht<br />
zu integrieren, ist der früh einsetzende<br />
<strong>und</strong> stetig verfolgte Rechnereinsatz. Vor<br />
allem wünschenswert ist das Erlernen der<br />
Bedienung möglicher Werkzeuge. Das kann<br />
Derive, Maple, aber auch Excel oder ein anderes<br />
Programm sein. Schüler erlangen hiermit<br />
Fähig- <strong>und</strong> Fertigkeiten, welche sie erst in<br />
die Lage versetzen, in einem zeitlich angemessenen<br />
Rahmen Probleme mit Lebensbezug<br />
selbsttätig zu lösen. Betont sei an dieser<br />
Stelle, dass nicht gemeint ist, dass Statistikunterricht<br />
stets reale Probleme mit konkreten<br />
Messwerten zu Gr<strong>und</strong>e liegen müssen. Vielmehr<br />
sollte <strong>im</strong> Falle des Rückgriffs auf reale<br />
Messungen keine Beschönigungen oder<br />
nicht unbedingt notwendige Elementarisierungen<br />
durch die Lehrkraft vorgenommen<br />
werden. Es könnte sonst der Eindruck entstehen,<br />
dass statistische Daten für den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
erf<strong>und</strong>en wurden <strong>und</strong><br />
nichts mit realen Problemen gemein haben.<br />
Fazit: Unbequeme Zahlen <strong>und</strong> Rechnungen<br />
nicht umgehen, sondern provozieren. Unterrichtsergänzende<br />
Werkzeuge berücksichtigen<br />
<strong>und</strong> ggf. direkt zu Beginn in den Unterricht<br />
integrieren.<br />
Schülerorientierung: <strong>Mathematik</strong>bücher geben<br />
häufig enge Lernwege vor. Im Rahmen<br />
eines schülerorientierten Unterrichts kann
somit ein Lehrbuch nicht einzige Gr<strong>und</strong>lage<br />
des Unterrichts sein. Es kann sehr wohl als<br />
Nachschlagewerk <strong>und</strong> Aufgabensammlung<br />
dienen. Des Weiteren bieten Schulbücher<br />
nur sporadisch Gelegenheit <strong>und</strong> Anregung,<br />
Handlungsprodukte zu erstellen. Das Hauptnachschlagewerk<br />
<strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>lage für Wiederholungen<br />
sollten für Schüler pr<strong>im</strong>är die eigenen<br />
<strong>im</strong> Unterricht <strong>und</strong> <strong>im</strong> Rahmen der<br />
Hausaufgaben angefertigten Unterlagen sein<br />
(Barzel 2001, 6). Zu Beginn dieses Abschnitts<br />
habe ich angeführt, wie hoch die Behaltquoten<br />
bei verschiedenen Methoden der<br />
Wissensaufnahme ist. Können Schüler den<br />
mathematischen Inhalt in eigenen Worten<br />
wiedergeben, erreichen sie eine höhere Behaltquote<br />
als lediglich be<strong>im</strong> Lesen desselben<br />
(zumindest wenn man die gezeigten Zahlen<br />
ernst n<strong>im</strong>mt). Aus dieser Perspektive ist es<br />
sinnvoll, das eigene Formulieren <strong>und</strong> Verschriftlichen<br />
zu fördern. Schüler sollen häufig<br />
Ergebnisse eigenständig formulieren <strong>und</strong> mit<br />
anderen Schülern abgleichen. Der Unterricht<br />
schmiegt sich so an die Schüler, deren Defizite,<br />
Fertigkeiten etc. an.<br />
Fazit: Nicht an Schulbücher klammern.<br />
Schüler so oft wie möglich Zusammenhänge<br />
selbstständig schriftlich <strong>und</strong> mündlich formulieren<br />
lassen. Bei Wiederholungen pr<strong>im</strong>är auf<br />
die schülereigenen Aufzeichnungen zurückgreifen.<br />
Erfahrungsbezug: Wenn Schüler etwas beobachten,<br />
sehen, hören, lesen oder auch erfahren,<br />
setzen sie dies in Verbindung zu früheren<br />
Erlebnissen. Sie verarbeiten so das<br />
neu Aufgenommene, das dann wieder<br />
Gr<strong>und</strong>lage für neue sinnliche Erfahrungen<br />
<strong>und</strong> deren Verarbeitung wird (Jank & Meyer<br />
1994, 313). Im Prozess der Verarbeitung<br />
werden Erfahrungen zu Haltungen verdichtet.<br />
Diese steuern das reale körperliche Handeln<br />
von <strong>Lernen</strong>den. Unterricht kann das nutzen.<br />
Durch Provokation werden Schüler motiviert,<br />
ihre eigenen Erfahrungen zu veröffentlichen.<br />
Auch hier ist es wieder Aufgabe des Lehrers,<br />
geeignete Provokationen zu finden. Im <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
könnte auf recht einfache<br />
Erfahrungen wie z.B. die schnelle Kurvenfahrt<br />
oder auch den bekannten Papierstapel<br />
auf dem he<strong>im</strong>ischen Schreibtisch zurückgegriffen<br />
werden. Bei solchen Erlebnissen haben<br />
Schüler keine Erfahrungen aus zweiter<br />
Hand übernommen. Sie haben sie mit mehreren<br />
Sinnen gleichzeitig erlebt. Unterricht,<br />
der Erfahrungsbezug fördert, schafft eine gute<br />
Gr<strong>und</strong>lage zur Generierung von Handlungsprodukten.<br />
Schüler bringen verstärkt eigene<br />
Empfindungen ein, veröffentlichen diese<br />
<strong>im</strong> Handlungsprozess <strong>und</strong> erhalten so verstärkt<br />
Gelegenheit etwas zu schaffen, mit<br />
Integration des <strong>Internet</strong>s <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
dem sie sich identifizieren können. Kurz: Unterricht<br />
wird intensiver erlebt, <strong>und</strong> nur so<br />
können sich die Schüler als ganze Person<br />
einbringen, was letztendlich auch ein Indikator<br />
für handlungsorientierten Unterricht ist<br />
(Bönsch 2000, 46).<br />
Fazit: Erfahrungen der Schüler bei der Modellierung<br />
von Provokationen berücksichtigen.<br />
Schüler dabei fördern, ihre eigenen<br />
(subjektiven) Erfahrungen in den Unterricht<br />
einzubringen. Diese Vorschläge stellen<br />
Richtlinien der Unterrichtsplanung dar.<br />
3 Zur Entwicklung der Beziehung<br />
von Schule <strong>und</strong><br />
Rechner, Chancen des<br />
Rechnereinsatzes<br />
Der Computer mit seinen Möglichkeiten<br />
drängt unaufhaltsam in die Schule, das Berufs-<br />
<strong>und</strong> Familienleben, also in fast alle gesellschaftlichen<br />
Bereiche. Dabei finden sich<br />
zwischen diesen <strong>im</strong>mer mehr Überschneidungen,<br />
welche deren einst disjunkte Natur<br />
schwinden lässt. Der Computer hat viele Lebensbereiche<br />
<strong>im</strong> Sturm durchdrungen <strong>und</strong><br />
kann nur von wenigen Wirtschafts- <strong>und</strong> Wissenschaftszweigen<br />
unserer westlichen Gesellschaft<br />
ignoriert werden. Die Lebensrealität<br />
unserer Schüler ist an diese Entwicklung<br />
gekoppelt. Sie leben in einer Welt, in der die<br />
von den neuen Medien ausgehende Informationsflut<br />
nicht mehr überschaubar ist. Viele<br />
integrieren neue Vokabeln wie Virtual-Reality,<br />
Cyberspace oder MP-3 fest in ihren Wortschatz.<br />
Die rasante technische Entwicklung<br />
schuf auch neue Anforderungen. Viele Schüler<br />
werden von den Existenzstrategien ihrer<br />
Eltern Abstand nehmen müssen <strong>und</strong> gezwungen<br />
sein, vielschichtige Flexibilität zu<br />
erlangen, welche die Anpassung an das stetig<br />
wandelnde Umfeld erst ermöglicht (Hole<br />
1998, 7). Das Gelernte veraltet so schnell<br />
wie nie zuvor. Starre Strukturen, ohne hinreichende<br />
Dynamik scheinen nicht mehr geeignet,<br />
um <strong>im</strong> Berufsleben bestehen zu können.<br />
Vielmehr sind es flexible Fähigkeiten wie<br />
schnelles Umlernen oder schnelles Einarbeiten<br />
in Neuerungen, die mögliche Garanten<br />
für den Erfolg <strong>im</strong> Beruf repräsentieren (Heymann<br />
1996, 56f, Papert 1994, 21). Immer<br />
wichtiger werden dabei Qualifikationen wie<br />
selbstständiges Arbeiten, Organisationsfähigkeit,<br />
Kreativität be<strong>im</strong> Umgang mit Problemen,<br />
Team- <strong>und</strong> Kooperationsfähigkeit, aber auch<br />
das Ergreifen von Initiativen <strong>und</strong> das Übernehmen<br />
von Verantwortung (Gudjons 1998,<br />
163
Andreas Pallack<br />
108). Nicht zuletzt wird künftig erwartet, dass<br />
Schulabsolventen Informationsnetze <strong>und</strong><br />
vernetzte Computer kompetent nutzen <strong>und</strong><br />
Daten effektiv selektieren können (Schulmeister<br />
1997, 8).<br />
Das Aussparen eines möglichen Rechnereinsatzes<br />
ignoriert Teile des Lebensumfelds<br />
von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen. Schüler werden<br />
darin bestätigt, dass die schulische Ausbildung<br />
nichts oder nur wenig mit ihrer jetzigen<br />
<strong>und</strong> zukünftigen Lebenswelt gemein hat<br />
(Maier 1998, 165, aber auch Frey 1998, 71).<br />
Die neuen Technologien scheinen somit den<br />
schulischen Bereich von der Lebenswelt der<br />
Schüler zu trennen. Papert (1994, 59–78) hat<br />
diese Entwicklung beobachtet <strong>und</strong> beschrieben.<br />
Er spricht von einer Immunreaktion des<br />
Systems Schule. Nachdem die ersten Rechner<br />
Einzug in die Schule hielten, wurde versucht,<br />
alte Methoden <strong>und</strong> Inhalte mit Hilfe<br />
des Rechners umzusetzen. Er sollte in das<br />
traditionelle Bild eingebaut werden. Da dies<br />
langfristig nicht sinnvoll erschien, versuchte<br />
das System Schule, ihn abzusondern. Es<br />
wurde sogar ein eigenes Fach für ihn geschaffen.<br />
Nach <strong>und</strong> nach erfolgt nun eine<br />
sinnvolle Integration, die <strong>im</strong>mer noch von<br />
heftigen Abwehrreaktionen begleitet wird.<br />
Aus dieser Sicht kann die Beziehung von<br />
Schule <strong>und</strong> Rechner zur Zeit noch als pathologisch<br />
bezeichnet werden.<br />
Wie kann jedoch Schule <strong>und</strong> vor allem der<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht von diesem Wandel<br />
<strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Innovation profitieren?<br />
Kayser schrieb in Bezug auf den Einsatz<br />
von Derive <strong>im</strong> Rahmen des schulischen<br />
<strong>Mathematik</strong>unterrichts:<br />
"Arbeitsaufträge an die <strong>Lernen</strong>den <strong>—</strong> in Partner-<br />
oder Gruppenarbeit auszuführen <strong>—</strong> können<br />
nun offener formuliert werden, unsere<br />
Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler lernen, <strong>im</strong> Team<br />
zu arbeiten <strong>und</strong> Verantwortung für eine gemeinsame<br />
Aufgabe zu übernehmen, fachübergreifende<br />
Themen werden zugänglich,<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht wird effizienter, spannender,<br />
<strong>und</strong> zwar für <strong>Lernen</strong>de <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong>de."<br />
(Kayser 1995, 8)<br />
Aufgr<strong>und</strong> der breiten Praxiserfahrung des<br />
angeführten Autors unterstelle ich, dass die<br />
angerissenen positiven Assoziationen (offener,<br />
Team, Verantwortung, gemeinsame Aufgabe,<br />
fächerübergreifend, effizienter, spannender)<br />
nicht Spekulation, sondern authentische<br />
Erfahrungen sind. Der Rechner erweitert<br />
das Spektrum der unterrichtlichen Möglichkeiten<br />
<strong>im</strong>mens. Trotzdem ist es <strong>im</strong>mer<br />
noch von der Lehrkraft <strong>und</strong> deren Konzeption<br />
abhängig, ob der Rechner-Einsatz fruchtbar<br />
ist.<br />
164<br />
"Wer <strong>im</strong> Unterricht keinen Computer einsetzt<br />
ist noch lange kein pädagogischer Neandertaler!";<br />
"Wer einen Computer in sein Klassenz<strong>im</strong>mer<br />
stellt, ist deshalb noch lange kein<br />
moderner Pestalozzi." (Huber 1998, 37)<br />
Dieses Zitat unterstreicht, dass die durch den<br />
Rechner ermöglichte Innovation, nicht von<br />
den Geräten selbst ausgeht. Vielmehr müssen<br />
Schüler die Notwendigkeit entdecken,<br />
dass der Einsatz nicht nur gerechtfertigt,<br />
sondern notwendig, sinnvoll oder zumindest<br />
<strong>im</strong>mens arbeitserleichternd ist (Hole 1998,<br />
43). Des Weiteren muss die Lehrkraft geeignete<br />
Provokationen entwickeln, welche den<br />
Unterricht f<strong>und</strong>ieren <strong>und</strong> dessen Inhalte motivieren.<br />
Die Integration des Rechners in traditionelle<br />
Unterrichtsstrukturen, also meist<br />
Frontalunterricht (Meyer 1987, 61), scheint<br />
nicht oder nur bedingt sinnvoll. Hier kann der<br />
Rechner zwar geschickt substituieren, jedoch<br />
keine, bzw. nur beschränkt Neuerungen induzieren.<br />
In günstigen Fällen werden affektive<br />
Lernziele des Unterrichts st<strong>im</strong>uliert.<br />
4 Integration von Aspekten<br />
der Handlungsorientierung<br />
<strong>im</strong> Statistikunterricht<br />
"Die Fähigkeit, vorgelegte Statistiken<br />
zu verstehen, zu interpretieren, sich<br />
von ihnen nicht manipulieren zu lassen<br />
<strong>und</strong> auch Statistiken selber zu erzeugen,<br />
hat <strong>im</strong> Hinblick auf die Lebensvorbereitung,<br />
auf die Weltorientierung<br />
<strong>und</strong> auf den kritischen Vernunftgebrauch<br />
einen hohen allgemeinbildenden<br />
Wert." (Hole 1998, 138)<br />
Handlungsorientierter Unterricht erfordert eine<br />
Provokation. Nachdem mir die Interessenfelder<br />
der Schüler einigermaßen bekannt <strong>und</strong><br />
auch ihre Pausengewohnheiten kein Gehe<strong>im</strong>nis<br />
mehr waren, schien es lohnenswert,<br />
die ges<strong>und</strong>heitsschädigende Wirkung von<br />
Tabak auf die Tagesordnung zu bringen. In<br />
einer frühen Phase des Unterrichts wurden<br />
die Schüler mit folgenden fiktiven Daten konfrontiert:<br />
In zwei Städten wurden jeweils sechs Todesfälle<br />
mit der Ursache Lungenkrebs dahingehend<br />
analysiert, ob <strong>und</strong> wie viele Zigaretten<br />
die Personen <strong>im</strong> Zeitraum der letzten zehn<br />
Jahre pro Tag konsumierten, mit folgenden<br />
Ergebnissen:
Stadt 1:<br />
Zigaretten pro Tag 40 5 20 0 20 10<br />
Lungenkrebs <strong>im</strong> Alter von 40 71 63 60 68 69<br />
Stadt 2:<br />
Zigaretten pro Tag 20 3 22 4 40 15<br />
Lungenkrebs <strong>im</strong> Alter von 50 71 68 75 36 62<br />
Es wurde zur Diskussion gestellt, ob man<br />
aufgr<strong>und</strong> der gegebenen Daten von einem<br />
Zusammenhang zwischen Zigarettenkonsum<br />
der Lungenkrebssterblichkeit sprechen kann.<br />
Was ein Zusammenhang ist <strong>und</strong> wie man ihn<br />
quantifizieren kann, war zu diesem Zeitpunkt<br />
offen <strong>und</strong> Gegenstand der Diskussion. Die<br />
Schüler entwickelten Ideen, wie man mit den<br />
Daten verfahren könnte. Es zeigte sich dabei,<br />
dass pr<strong>im</strong>är univariate Strategien wie<br />
Auszählen <strong>im</strong> Vordergr<strong>und</strong> standen. Schnell<br />
wurde klar, dass die bisher bekannten Methoden<br />
keine befriedigende Antworten lieferten.<br />
Es entwickelte sich ein guter Nährboden<br />
zur Vorstellung des Korrelationskoeffizienten<br />
<strong>und</strong> der Methode der linearen Regression zur<br />
Beschreibung linearer Zusammenhänge von<br />
intervallskalierten Daten.<br />
Die Schüler bekamen die Aufgabe, selbst eine<br />
Untersuchung durchzuführen <strong>und</strong> auszuwerten.<br />
Festgelegt wurden lediglich die Rahmenbedingungen:<br />
"Mindestens 40 Probanden";<br />
"mindestens 6 Testitems, wobei mindestens<br />
zwei nominalskaliert zu wählen<br />
sind"; "es müssen begründet Zusammenhänge<br />
zwischen den Items vermutet werden".<br />
Inhaltlich waren die Schüler in ihrer<br />
Wahl völlig frei.<br />
Da sich der übliche Korrelationskoeffizient<br />
zum Vergleich nominalskalierter Daten nicht<br />
eignet, waren die Schüler gezwungen, die<br />
vorgestellte Methode hinreichend zu reflektieren<br />
<strong>und</strong> ihren Einsatz abzuwägen.<br />
Ein weiteres zentrales Ziel der geplanten<br />
Einheit war, dass die Schüler sich mit einer<br />
von ihnen gewählten Aufgabenstellung identifizieren<br />
können <strong>und</strong> so den direkten Bezug<br />
des <strong>Mathematik</strong>unterrichts zu sich <strong>und</strong> ihrer<br />
Umwelt herstellen konnten. In Kap. 2 wurden<br />
bereits Kriterien für einen Handlungsorientierten<br />
Unterricht erarbeitet. Für die Behandlung<br />
von Korrelation <strong>und</strong> Regression kann<br />
man die Kriterien wie folgt konkretisieren:<br />
Realitätsbezug: Um Realitätsbezug zu gewährleisten,<br />
sollen die Schüler authentische<br />
Daten messen <strong>und</strong> auswerten. Das Problem<br />
wurde selbst gewählt <strong>und</strong> Fragestellungen<br />
hierzu selbst entwickelt. Bei der Unterrichtsreihe<br />
wurde ein Rechner (TI92) direkt zu Beginn<br />
der Einheit in den Unterricht integriert,<br />
Integration des <strong>Internet</strong>s <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
um die Auswertung selbst gemessener Daten<br />
zu ermöglichen.<br />
Schülerorientierung: Die Schüler wurden<br />
durch einen Terminplan angehalten, ihre<br />
Ideen <strong>und</strong> Vorschläge in regelmäßigen Abständen<br />
zu formulieren <strong>und</strong> darzulegen.<br />
Ebenfalls eingeb<strong>und</strong>en waren Kurzvortragsphasen,<br />
in welchen die Schüler ihre Ideen<br />
anderen Schülern vorstellten. Ein Schulbuch<br />
(Cöster, Griesel et al. 1999) lag den Schülern<br />
als Nachschlagewerk vor <strong>und</strong> wurde nicht<br />
explizit eingeb<strong>und</strong>en. Weitere Literatur wurde<br />
für die Zeit des Projekts zur Verfügung gestellt.<br />
Erfahrungsbezug: Die <strong>im</strong> Unterricht vorgestellten<br />
Provokationen boten den Schülern<br />
lediglich Impulse für eigene Ideen. Sie waren<br />
nicht so angelegt, dass den Schülern ein<br />
konkretes Problem nahegelegt wurde. Diese<br />
wurden vielmehr dazu motiviert, ihre eigene<br />
Erfahrungswelt in Kleingruppen einzubringen<br />
<strong>und</strong> auf dieser Gr<strong>und</strong>lage Hypothesen zu<br />
entwickeln <strong>und</strong> zu formulieren.<br />
5 WWP <strong>—</strong> World Wide<br />
Publishing<br />
"Durch die Präsentation <strong>im</strong> <strong>Internet</strong><br />
wird der enge Klassenrahmen aufgehoben<br />
<strong>und</strong> eine starke Motivation geschaffen,<br />
da die ganze Welt zuschaut."<br />
(Gierhardt 2000)<br />
Handlungsorientierung <strong>und</strong> auch die Projektmethode<br />
sehen meist die Publikation der Ergebnisse<br />
vor. Neben den traditionellen Medien<br />
stehen nunmehr auch elektronische, wie<br />
z.B. das <strong>Internet</strong>, zur Verfügung. In der zu<br />
Gr<strong>und</strong>e gelegten Arbeit wurde das <strong>Internet</strong><br />
zur Publikation von Schülerergebnissen genutzt.<br />
Das WWP soll kein neues Schlagwort<br />
für das ''Ins-Netz-Stellen'' sein, sondern<br />
nachhaltig Eigenschaften des elektronischen<br />
Publizierens <strong>im</strong> Rahmen einer Lernumgebung<br />
unterstreichen.<br />
Den Beteiligten wird unmittelbar bewusst<br />
(gemacht), dass die Informationen <strong>und</strong> Ausarbeitungen,<br />
welche <strong>im</strong> Netz bereit gestellt<br />
werden, weltweit verfügbar sind. Ebenfalls<br />
wird betont, dass die Ergebnisse publiziert,<br />
d.h. der Öffentlichkeit zugänglich sind. Schule<br />
öffnet sich nach außen. Eltern, Bekannte,<br />
Fre<strong>und</strong>e oder andere Interessierte haben die<br />
Möglichkeit, r<strong>und</strong> um die Uhr auf unterrichtsbezogene<br />
Seiten zuzugreifen. Im Gegensatz<br />
zum einseitigen "Ins-Netz-Stellen'' soll der<br />
Begriff des WWP auch <strong>im</strong>plizieren, dass Re-<br />
165
Andreas Pallack<br />
sonanz auf die Publikation nicht nur erlaubt,<br />
sondern sogar gefordert wird.<br />
Be<strong>im</strong> WWP stellen Schüler eigenverantwortlich<br />
<strong>und</strong> selbstständig angefertigte Handlungsprodukte<br />
<strong>im</strong> <strong>WWW</strong> aus. Die Handlungsprodukte<br />
sind unmittelbar mit Namen verknüpft.<br />
Es ist somit für Außenstehende oder<br />
Interessierte unmittelbar einsehbar, wer welches<br />
Produkt mitgestaltet hat. Per E-Mail<br />
oder in etwaiger anderer Schriftform kann<br />
Lob oder Kritik an den Produkten geäußert<br />
werden.<br />
5.1 Inhalt <strong>und</strong> Struktur einer<br />
WWP<br />
In der Präsentation stellen Schüler ihre Ausarbeitungen<br />
vor. Diese sollen folgende Aspekte<br />
berücksichtigen:<br />
Die Ausgangssituation: Schüler sollen das<br />
Problem nochmals in eigenen Worten formulieren.<br />
Die Texte sollen so gestaltet werden,<br />
dass Unbeteiligte schnell einen Überblick<br />
über Ziel <strong>und</strong> Inhalt der Untersuchungen erhalten<br />
können.<br />
Die Lösungsansätze: Den Aufzeichnungen<br />
der Schüler werden meist Lösungs- bzw. Bearbeitungsansätze<br />
zu entnehmen sein. Diese<br />
müssen dem Problem angepasst sein <strong>und</strong><br />
die Anwendung adäquater Methoden <strong>im</strong>plizieren.<br />
Der Lösungsprozess: Wie wurde der Lösungsansatz<br />
umgesetzt, welche Hilfsmittel<br />
wurden benötigt, welche Experten befragt?<br />
Sowohl vorzeitig abgebrochene als auch gelungene<br />
Ansätze sollten hier Platz finden, um<br />
den Prozess hinreichend genau darstellen zu<br />
können.<br />
Die Ergebnisse: Schließlich sollten die gewonnenen<br />
Ergebnisse umfassend auf den<br />
Webseiten präsentiert werden. Sie sind das<br />
zentrale Element des WWP. Hier sollten die<br />
Schüler auch eine Abschätzung der Tragfähigkeit<br />
<strong>und</strong> der Reichweite ihrer Resultate<br />
vornehmen. Ergebnisse können dabei auch<br />
neue Erkenntnisse sein.<br />
Diese Elemente prägen die inhaltliche D<strong>im</strong>ension<br />
von WWP. Ihre strukturelle D<strong>im</strong>ension<br />
wird durch die Navigationsmöglichkeit<br />
<strong>im</strong> <strong>Internet</strong> charakterisiert. <strong>Internet</strong>seiten sind<br />
meist durch Hyperlinks miteinander verb<strong>und</strong>en<br />
(Papert 1998, 14). So verknüpfte Texte<br />
heißen Hypertexte. Werden auch graphische<br />
<strong>und</strong> mult<strong>im</strong>ediale Elemente eingeb<strong>und</strong>en,<br />
spricht man von Hypermedia (Mikelskis<br />
1999, 64, Schulmeister 1997, 247). WWP<br />
soll diese Möglichkeit nutzen. Schüler kön-<br />
166<br />
nen so auf Beziehungen zwischen einzelnen<br />
Elementen des WWP verweisen. Zwischen<br />
Problem, Lösungsansatz, Lösungsprozess<br />
<strong>und</strong> Ergebnis kann sich eine dynamische individuelle<br />
Struktur entwickeln, welche durch<br />
die Arbeit der Schüler geprägt wird. Diese<br />
haben so die Möglichkeit, den Weg vom<br />
Problem zu dessen Lösung relativ weit nachzuvollziehen.<br />
Um den Prozess authentisch<br />
darstellen zu können, müssten die einzelnen<br />
Elemente des WWP begleitend erstellt werden.<br />
5.2 Schüler be<strong>im</strong> WWP, Phasen<br />
der Erarbeitung<br />
Die Schüler sind vor <strong>und</strong> nach der Veröffentlichung<br />
der Seiten verantwortlich für ihr Produkt.<br />
Der Lernprozess ist aus diesem Gr<strong>und</strong><br />
mit der Veröffentlichung nicht abgeschlossen.<br />
Die Beteiligten haben stetig Zugriff auf<br />
alle Handlungsprodukte der eigenen oder<br />
auch fremder Gruppen <strong>und</strong> können diese<br />
durch unmittelbare Kontaktaufnahme mit<br />
dem jeweiligen Verfasser hinterfragen, kritisieren<br />
oder auch loben. Im Konzept des<br />
WWP ist es vorgesehen, dass mindestens<br />
die teilnehmenden Schüler nach der Publikation<br />
zu jedem Handlungsprodukt in Form eines<br />
Kurzgutachtens Stellung nehmen. Der<br />
Kurs soll so intern mögliche Schwachstellen<br />
in den Webseiten aufspüren <strong>und</strong> diese<br />
selbstregulierend beseitigen.<br />
Die Schüler sind bereits während des Unterrichtsprozesses<br />
gehalten, jeden ihrer Schritte<br />
zu dokumentieren. Auch während der Dokumentation<br />
werden die Ergebnisse erneut diskutiert<br />
<strong>und</strong> evtl. auch revidiert. Um ihre Präsentation<br />
vorab <strong>im</strong> kleinen Rahmen zu testen,<br />
kann einzelnen Gruppen Gelegenheit<br />
gegeben werden, ihre Seiten anderen Gruppen<br />
in Form eines Referats oder durch die<br />
Präsentation ihrer Seiten <strong>im</strong> Intranet der<br />
Schule vorzustellen. Anschließend besteht<br />
wiederum die Möglichkeit, die Präsentation<br />
zu verbessern oder ggf. zu erneuern.<br />
Schließlich folgen die Veröffentlichung <strong>im</strong><br />
Netz <strong>und</strong> die Kurzgutachten der anderen<br />
Gruppen. Nach der Korrektur aufgr<strong>und</strong> der<br />
Kurzgutachten wird eine vorläufig endgültigen<br />
Version veröffentlicht.<br />
Abbildung 1 fasst die verschiedenen Phasen<br />
der Gruppenarbeit zusammen <strong>und</strong> stellt eine<br />
mögliche Verknüpfung derselben dar. Natürlich<br />
kann auch jederzeit aus einer der späteren<br />
Phasen in eine frühere gewechselt werden.<br />
Die Darstellung aller möglichen Kombinationen<br />
unterbleibt jedoch aus Gründen der<br />
Übersichtlichkeit. Kanten, die vom WWP-
WWP<br />
Problem, Provokation<br />
Ideen, Lösungsansätze<br />
Testen der Ideen,<br />
Lösungsprozess<br />
Ergebnis, Fertigstellung<br />
Webseiten<br />
Referate, Intranet<br />
<strong>WWW</strong>-Publikation Stufe 1<br />
Kurzgutachten<br />
<strong>WWW</strong>-Publikation Stufe 2<br />
Abb. 1<br />
Abb. 2<br />
Integration des <strong>Internet</strong>s <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
ten wegzeigen, bedeuten, dass hier Informationen<br />
aus dem WWP entnommen werden.<br />
Weisen die Kanten auf den WWP-Knoten, so<br />
wird es mit Informationen gefüllt, bzw. bearbeitet.<br />
Das Diagramm repräsentiert die dynamische<br />
Struktur der hier modellierten Lernumgebung.<br />
Abbildung 2 zeigt die Einbettung<br />
des WWP in das Gesamtkonzept.<br />
Sowohl schulische als auch außerschulische<br />
Aktivitäten führen zu den Produkten des Unterrichts.<br />
Bindende Glieder zwischen den beiden<br />
Bereichen waren der TI92, die Aufzeichnungen<br />
der Schüler, aber auch das Schulbuch<br />
oder das den Schülern zur Verfügung<br />
gestellte Beispiel. Andere Elemente der Lernumgebung<br />
sind hingegen streng schulischen<br />
oder außerschulischen Bereichen zugeordnet.<br />
Die Dynamik wird durch das WWP-Konzept<br />
best<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> durch den festgesetzten<br />
Terminplan geleitet. Klar wird an dieser Stelle<br />
nochmals die Rolle des Lehrers. Auf viele<br />
Bereiche der Lernumgebung hat er keinen<br />
oder nur wenig Einfluss. Vielmehr steht er<br />
beratend <strong>im</strong> Unterricht oder als Experte per<br />
Mail zur Verfügung. Die Initiative hierzu muss<br />
jedoch von den Schülern ausgehen. Auch visualisiert<br />
wurde, dass die Schüler ausgehend<br />
von einem Problem kognitiver Natur zu einem<br />
Handlungsprodukt geleitet werden. Das<br />
Schema genügt, nicht zuletzt aus diesem<br />
Gr<strong>und</strong>, dem Planungsraster Handlungsorientierten<br />
Unterrichts (Meyer 1987, 405ff).<br />
167
Andreas Pallack<br />
6 Erfahrungen mit dem<br />
Konzept<br />
Insgesamt wurden vier Untersuchungen von<br />
den Schülern durchgeführt <strong>und</strong> ausgewertet.<br />
Ich beschränke mich an dieser Stelle auf die<br />
Schilderung einer einzigen Arbeit. Zur Zeit<br />
(28.10.2003) können die Präsentationen <strong>und</strong><br />
die Schülergutachten unter der URL<br />
http://www.uni-essen.de/mathematik-online/<br />
stat_schu.html eingesehen werden. Ich werde<br />
mich bemühen, die Seiten zu erhalten.<br />
Sollten die Seiten nicht mehr abrufbar sein,<br />
stelle ich Ihnen selbige gerne nach kurzer<br />
Mail an andreas@pallack.de zur Verfügung.<br />
6.1 Beispiel für eine Schülerpräsentation:<br />
Qualm&Co<br />
Die Webseite zeigt drei Versionen der Präsentation<br />
zu Fragen des Tabakkonsums.<br />
Speziell wurde den Fragen nachgegangen,<br />
ob das Rauchen einer Person <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
steht zu körperlichen Daten (z.B.<br />
Schuhgröße), dem Essverhalten, dem familiären<br />
Umfeld oder auch der Freizeitgestaltung<br />
(Aktivitäten <strong>im</strong> Sportverein). In einer frühen<br />
Version sind sowohl fachliche als auch methodische<br />
Mängel zu finden. Die Qualität der<br />
Arbeit verbesserte sich jedoch mit jeder Aktualisierung.<br />
Die Gruppe nutzte auch fremde<br />
Informationsquellen zur Stützung ihrer Hypothesen.<br />
Die Daten werden dem Leser zur<br />
Verfügung gestellt <strong>und</strong> so entsprechende<br />
Transparenz geschaffen. Die letzte Version<br />
der Arbeit wurde in HTML geschrieben. Das<br />
zeigt, dass sich einzelne Gruppenmitglieder<br />
Fähigkeiten aneigneten, die <strong>im</strong> Unterricht<br />
nicht systematisch behandelt wurden. Die<br />
Gruppe ging konstruktiv mit Skalierungsproblemen<br />
um <strong>und</strong> reagierte flexibel bei der<br />
Auswertung der Daten. Auf die Darstellung<br />
von Regressionsgeraden wurde begründet<br />
verzichtet. Dem Leser werden keine fertigen<br />
Ergebnisse vorgelegt, sondern schrittweise<br />
deren Entwicklung dargeboten. Auch der<br />
Rückgriff auf Kreuztabellen ist gelungen. Methodisch<br />
fehlten den Schülern natürlich die<br />
Möglichkeiten, diese systematisch auszuwerten<br />
(z.B. Test von Mc. Nemar). Die Darstellung<br />
des Hauptergebnisses (wenn Eltern<br />
Raucher sind, so auch die Kinder) wird stringent<br />
verfolgt <strong>und</strong> kann durchaus als gelungen<br />
bezeichnet werden.<br />
168<br />
6.2 Erfahrungen mit dem Publikationsorgan<br />
<strong>Internet</strong><br />
Das <strong>Internet</strong> als Publikationsfläche wurde<br />
akzeptiert. Auf der Seite konnten während<br />
der Unterrichtsreihe überdurchschnittlich viele<br />
Hits verzeichnet werden. Der Preis, der für<br />
die Attraktivität der Seite gezahlt werden<br />
musste, war jedoch relativ hoch. Weder der<br />
sichere Umgang aller Schüler mit Textverarbeitungssystemen,<br />
noch die unterstellte Fertigkeit,<br />
mit Leichtigkeit HTML-Dateien zu erstellen,<br />
war gegeben. Teilweise arbeiteten<br />
die Schüler aus diesem Gr<strong>und</strong> handschriftlich<br />
oder benutzten den Rechner als eine Art<br />
Schreibmaschine. Ständig mussten Texte<br />
eingescannt, eingelesen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Netz bereitstellt<br />
werden. Dies bedeutete, vor allem bei<br />
den Gutachten, einen <strong>im</strong>mensen Zeitaufwand.<br />
Im konkreten Fall der betrachteten Unterrichtsreihe<br />
war ein systematisches Training<br />
der Fertigkeiten aus verschiedenen organisatorischen<br />
Gründen nicht möglich.<br />
Trotzdem lernten einige Schüler bis zum Ende<br />
der Reihe den Umgang mit entsprechenden<br />
Werkzeugen. Die Struktur von WWP halte<br />
ich jedoch generell für geeignet, selbstregulierende<br />
Prozesse anzuregen. Rückblickend<br />
würde ich jedoch zusätzlich die Möglichkeit<br />
geben, Wandzeitungen o.ä. zu erstellen,<br />
um auch diejenigen Schüler intensiver<br />
anzusprechen, die noch keine derart enge<br />
Beziehung zu den neuen Medien haben.<br />
6.3 Schlussbemerkungen<br />
Die Durchführung der Unterrichtsreihe war<br />
geprägt von vielen organisatorischen Problemen<br />
(wie zum Beispiel der Tatsache, dass<br />
die Schüler in der Schule nicht am PC arbeiten<br />
konnten). Mittlerweile haben sich die<br />
Rahmenbedingungen erheblich verbessert<br />
(man darf nicht vergessen, dass die Unterrichtsreihe<br />
<strong>im</strong> Jahr 2000 durchgeführt wurde!).<br />
Dass ein mobiles Werkzeug wie der<br />
TI92 für die Dauer der Reihe zur Verfügung<br />
stand, war in vielerlei Hinsicht positiv: Die<br />
Schüler spielten mit den Daten <strong>und</strong> probierten<br />
auch ungewöhnliche Ideen aus. Zusätzlich<br />
nutzten viele <strong>im</strong> He<strong>im</strong>bereich das Tabellenkalkulationsprogramm<br />
EXCEL. Die eigentliche<br />
Verknüpfung von der Arbeit <strong>im</strong> He<strong>im</strong><strong>und</strong><br />
<strong>im</strong> Schulbereich leistete jedoch die Präsenz<br />
des Taschencomputers.<br />
Welche Wechselwirkungen Schule <strong>und</strong> WWP<br />
oder das <strong>Internet</strong> <strong>im</strong> Allgemeinen langfristig<br />
auszeichnen wird, ist sicher noch nicht absehbar.<br />
Die Einsatzgebiete sind vielfältig (s.<br />
Weigand & Weth 2002, 245–255, <strong>und</strong> natür-
lich die Beiträge in diesem Tagungsband)<br />
<strong>und</strong> auf den ersten Blick meist äußerst attraktiv<br />
<strong>und</strong> vielversprechend. Trotzdem kann<br />
nicht verhindert werden, dass sich viele Konzepte<br />
in der Praxis langfristig nicht bewähren<br />
oder recht schnell dem Zeitgeist zum Opfer<br />
fallen. Inwiefern das auch für unterrichtsbezogene<br />
Online-Publikationen von Schülern<br />
gilt, bleibt abzuwarten.<br />
Literatur<br />
Barzel, Bärbel (2001): Anders unterrichten <strong>—</strong> aber<br />
wie? In: mathematik lehren 104, 4–6<br />
Beckmann, Astrid (1999): Formen der Handlungsorientierung<br />
als Ansatz für eine unterrichtliche<br />
Umsetzung, Beispiel: Einführung ganzrationaler<br />
Funktionen. In: mathematica didacta 22,<br />
78–96<br />
Bönsch, M. (2000): Unterrichtsmethoden konstruieren<br />
Lernwege. In: Norbert Seibert (2000):<br />
Unterrichtsmethoden kontrovers ... Bad Heilbrunn:<br />
Klinkhardt, 23–69<br />
Breuer, B., B. Hermann-Wyrwa et al. (2000): Leistungsbeurteilung<br />
in offenen Unterrichtsphasen,<br />
Essen: Neue Deutsche Verlagsgesellschaft<br />
Bruner, Jerome (1974): Entwurf einer Unterrichtstheorie.<br />
Berlin: Berlin Verlag<br />
Cöster, G., Heinz Griesel et al. (1999): Elemente<br />
der <strong>Mathematik</strong> 11. Hannover: Schroedel<br />
Freudenthal, Hans (1970): <strong>Mathematik</strong> als pädagogische<br />
Aufgabe. Band 1. Stuttgart: Klett<br />
Frey, K. (1998): Die Projektmethode. Weinhe<strong>im</strong>:<br />
Beltz<br />
Gierhardt, H. (2000): <strong>Lernen</strong> mit Mult<strong>im</strong>edia.<br />
www.gierhardt.de <strong>und</strong> Methodenhandbuch<br />
DFU. Bonn: Varus<br />
Gudjons, H. (1997): Handlungsorientiert lehren<br />
<strong>und</strong> lernen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt<br />
Gudjons, H. (1998): Didaktik zum Anfassen. Bad<br />
Heilbrunn: Klinkhardt<br />
Heymann, Hans-Werner (1996): Allgemeinbildung<br />
<strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong>. Weinhe<strong>im</strong>: Beltz<br />
Hole, Volker (1998): Erfolgreicher <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
mit dem Computer. Donauwörth: Auer<br />
Horstmann, K., J. Meyer-Lerch et al. (1987):<br />
Handlungsorientierung <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />
In: mathematik lehren 25, 6–9<br />
Huber, P. (1998): Handreichung zum Einsatz des<br />
Computers in der Gr<strong>und</strong>schule. München:<br />
Staatsinstitut für Schulpädagogik <strong>und</strong> Bildungsforschung<br />
Integration des <strong>Internet</strong>s <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
Jank, W. & H. Meyer (1994): Didaktische Modelle.<br />
Berlin: Cornelsen Scriptor<br />
Kayser, H.-J. (1995): Neue Medien <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
<strong>—</strong> Derive mehr als nur ein Assistent.<br />
Soest: Landesinstitut für Schule <strong>und</strong> Weiterbildung<br />
Kl<strong>im</strong>sa, Paul (2002): Mult<strong>im</strong>edianutzung aus psychologischer<br />
<strong>und</strong> didaktischer Sicht. Information<br />
<strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> mit Mult<strong>im</strong>edia <strong>und</strong> <strong>Internet</strong>.<br />
In: Ludwig J. Issing & Paul Kl<strong>im</strong>sa (Hrsg.)<br />
(2002): Information <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> mit Mult<strong>im</strong>edia<br />
<strong>und</strong> <strong>Internet</strong>. Weinhe<strong>im</strong>: Beltz PVU, 3. Auflage,<br />
5–17<br />
Kütting, Herbert (1994): Beschreibende Statistik<br />
<strong>im</strong> Schulunterricht. Mannhe<strong>im</strong> u.a.: BI Wissenschaftsverlag<br />
Maier, W. (1998): Gr<strong>und</strong>kurs Medienpädagogik,<br />
Mediendidaktik. Weinhe<strong>im</strong>: Beltz<br />
Meyer, H. (1987): Unterrichtsmethoden II. Berlin:<br />
Cornelsen Scriptor<br />
Mikelskis, H. (1999): Physik lernen mit interaktiver<br />
Hypermedia: Eine empirische Pilotstudie. Zeitschrift<br />
für Didaktik der Naturwissenschaften 1,<br />
63–74<br />
Möller, R. (1999). Lernumgebungen <strong>und</strong> selbstgesteuertes<br />
<strong>Lernen</strong>. Mult<strong>im</strong>edia, Chancen für die<br />
Schule. In: Dorothee Meister & U. Sander<br />
(1999): Mult<strong>im</strong>edia, Chancen für die Schule.<br />
Kriftel: Luchterhand, 140–154<br />
NRW MSWWF (1999): Sek<strong>und</strong>arstufe II Gymnasium/Gesamtschule<br />
Richtlinien <strong>und</strong> Lehrpläne<br />
<strong>Mathematik</strong>. Frechen: Ritterbach<br />
Pallack, Andreas (2003): Erprobung einer rechnergestützten<br />
Lernumgebung unter Berücksichtigung<br />
von Aspekten der Handlungsorientierung<br />
am Beispiel der Behandlung von Korrelation<br />
<strong>und</strong> Regression in der Jahrgangsstufe<br />
11. Münster: Zentrale Koordination Lehrerausbildung<br />
Papert, Seymour. (1994): Revolution des <strong>Lernen</strong>s.<br />
Hannover: Heise<br />
Papert, Seymour. (1998): Die vernetzte Familie.<br />
Stuttgart: Kreuz<br />
Schulmeister, Rolf (1997): Gr<strong>und</strong>lagen hypermedialer<br />
Lernsysteme. München: Oldenbourg<br />
Wagenschein, Martin (1968): Verstehen lehren.<br />
Weinhe<strong>im</strong>: Beltz<br />
Weigand, Hans-Georg (1997): Was können wir<br />
aus der Vergangenheit für den zukünftigen<br />
computerunterstützten Unterricht lernen? In:<br />
<strong>Mathematik</strong> in der Schule 35, 322–334<br />
Weigand, Hans-Georg & Thomas Weth (2002):<br />
Computer <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht. Heidelberg<br />
u.a.: Spektrum<br />
169
� "Da schauen Sie mal ins <strong>Internet</strong>!" <strong>—</strong> Impressionen<br />
des <strong>Lehren</strong>s <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>s<br />
1 Eigene Suche<br />
1.1 Orientierung<br />
Bei vielen Inhalten, mit denen ich mich beschäftigen<br />
will, schaue ich oft erst einmal<br />
nach. So vor zwei Jahren, als ich einen <strong>Mathematik</strong>wettbewerb<br />
für Kollegiaten an der<br />
Universität durchführen wollte. An vielen<br />
Hochschulen gab es interessante Angebote,<br />
die mir erst einmal die Möglichkeiten aufzeigten.<br />
Dann in einer zweiten Phase habe ich<br />
Beteiligte angeschrieben. Oder bei der "Aufgabe<br />
der Woche" war das auch eine Anleihe<br />
aus einem Angebot eines anderen Lehrstuhls.<br />
1.2 Quellenforschung<br />
Neben der nützlichem CD-ROM aus Karlsruhe<br />
(MathDI) werden Quellen oft über das <strong>Internet</strong><br />
erk<strong>und</strong>et. Als es um eine Aufstockung<br />
der fachdidaktischen Bibliothek ging, habe<br />
ich zunächst in Literaturlisten anderer Institute<br />
nachgesehen, welche Bücher da in der<br />
Regel empfohlen werden, <strong>und</strong> dann auch bei<br />
typischen didaktischen Veranstaltungen<br />
nachgeschaut, welche Bücher da vorgeschlagen<br />
werden. Natürlich kenne ich selbst<br />
viele Bücher, aber ...<br />
1.3 Vergleichen<br />
Bei der Vorbereitung einer Vorlesung, eines<br />
Proseminars oder eines Vortrags gehe ich<br />
gern ins <strong>Internet</strong> <strong>und</strong> suche nach vergleichbaren<br />
Inhalten. Selbst hat man schon eine<br />
Vorstellung, wie das aufgebaut werden soll,<br />
aber ein Vergleich hier <strong>und</strong> da kann ja nicht<br />
schaden. Im Herbst werde ich eine Vorlesung<br />
halten über "Gr<strong>und</strong>begriffe der Schul-<br />
170<br />
Karel Tschacher, Erlangen-Nürnberg<br />
Die Arbeit eines Dozenten für die Fachdidaktik <strong>Mathematik</strong> lebt auch von der Vielfalt der<br />
Ergebnisse, die am einfachsten <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> gef<strong>und</strong>en werden können. Mit diesem Vortrag<br />
sollen die verschiedenen Perspektiven eines sehr persönlichen Eindrucks über den Nutzen<br />
des <strong>Internet</strong>s beschrieben werden. Dabei werden eigene Erfahrungen <strong>und</strong> das individuelle<br />
Interesse an Themen <strong>und</strong> Inhalten <strong>im</strong> Vordergr<strong>und</strong> stehen. Darüber hinaus soll<br />
beleuchtet werden, wie man mit vertretbarem Aufwand die Kommunikation zwischen Dozent<br />
<strong>und</strong> Studenten sowie Studenten untereinander verbessern kann.<br />
mathematik". Das wird an vielen Hochschulen<br />
so oder unter anderem Titel gelesen.<br />
Dann sehe ich mir den Umfang <strong>und</strong> die verschiedenen<br />
Inhalte an, die Gliederung <strong>und</strong><br />
die Schwerpunkte. Und dabei kommen oft<br />
gute <strong>und</strong> neue Ideen dazu.<br />
1.4 Material suchen<br />
Gelegentlich sucht man nach einem aussagefähigen<br />
Bild, einer Aufgabe oder einer<br />
Anekdote zu einem Inhalt. Bei einem Vortrag<br />
vor Preisträgern des Fümo-Wettbewerbs in<br />
Fürth über das Zahlensystem <strong>—</strong> ich hatte<br />
mich für das Siebenersystem entschieden <strong>—</strong><br />
suchte ich die sieben Weltw<strong>und</strong>er mit passenden<br />
Abbildungen. Und <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> konnte<br />
ich eine Fülle von Material finden <strong>und</strong> dann<br />
das Passende auswählen.<br />
2 Arbeit mit Studierenden<br />
2.1 Dokumentation der Veranstaltungen<br />
Eine Lehrveranstaltung lebt auch davon,<br />
dass zusätzliches Material <strong>und</strong> weitere Quellen<br />
angegeben werden. Diese Möglichkeit<br />
bietet sich, wenn man für jede Veranstaltung<br />
eine Seite erstellt <strong>und</strong> diese fortlaufend weiterentwickelt.<br />
Etwa ein Schema mit Terminen<br />
<strong>und</strong> Links auf die Informationen für die jeweilige<br />
Veranstaltung. Das hat auch den Vorteil,<br />
dass man als Student diese Seiten nachlesen<br />
kann, wenn man einmal verhindert ist.<br />
Darüber hinaus macht eine kurze Darstellung<br />
des Ablaufs für Interessierte Sinn. Denn<br />
dann weiß man in etwa, was in der Veranstaltung<br />
geboten wird. Und schließlich kann<br />
diese Gliederung für die Klausurvorbereitung
hilfreich sein. Die vorgeschlagenen Quellen<br />
können leicht erreicht werden, wenn es verlinkte<br />
<strong>Internet</strong>adressen sind. Und bei vorausschauender<br />
Gestaltung es auch denkbar,<br />
dass man sich auf eine Vorlesung vorbereitet,<br />
indem man die Materialien zuvor anschaut.<br />
2.2 Präsentation der Ergebnisse<br />
der Studierenden<br />
In Vorlesungen, Proseminaren <strong>und</strong> Seminaren<br />
ergeben sich oft Ergebnisse, die man<br />
gern allen zur Verfügung stellen möchte. Bislang<br />
waren das bedruckte Seiten Papier. Nun<br />
kann man diese Ergebnisse auf der Seite der<br />
Veranstaltung ablegen, <strong>und</strong> jeder Interessierte<br />
holt sich das, was er benötigt. Zum einen<br />
ist der Studierende damit gezwungen, selbsttätig<br />
dort hin zu gehen <strong>und</strong> die entsprechenden<br />
Daten zu suchen, andererseits verlangt<br />
man von den Erstellern dieser Ergebnisse<br />
brauchbare <strong>und</strong> gute Produkte. Zunehmend<br />
werden auch kleine Programme, PowerPoint-<br />
Präsentationen, Java-Applets, Fotoschnappschüsse<br />
oder DGS-An<strong>im</strong>ationen vorgestellt,<br />
die dann zu Hause noch einmal in Ruhe bearbeitet<br />
werden können.<br />
2.3 Aufgabe der Woche<br />
In der Didaktik der <strong>Mathematik</strong> kommen eigentlich<br />
mathematische Aufgaben, Knobelaufgaben<br />
oder Tüftelaufgaben zu kurz, eben<br />
weil man für derartige Aufgaben mehr Zeit<br />
benötigt. Allerdings ist der Wert dieser Aufgaben<br />
hoch: Welche Strategie hat man versucht,<br />
welche heuristischen Ansätze führten<br />
nicht zum Ziel, usw.? Gerade diese Form des<br />
<strong>Mathematik</strong>erlebens sollen ja unsere Schülerinnen<br />
<strong>und</strong> Schüler verstärkt erfahren. also<br />
sollten die Studierenden das auch in ihren<br />
Veranstaltungen erproben können. Eine<br />
Möglichkeit, solche Aufgaben einzustreuen,<br />
sind die "Aufgaben der Woche". Und diese<br />
werden auf der <strong>Internet</strong>seite der Veranstaltung<br />
veröffentlicht; man kann dann in der folgenden<br />
Woche eine gelungene Lösung eines<br />
Kommilitonen als einen Lösungsvorschlag<br />
veröffentlichen.<br />
2.4 Kommunikation mit den Studierenden<br />
Gelegentlich passiert es, dass man am Ende<br />
einer Veranstaltung noch eine gute Idee hat.<br />
Oder man erinnert sich an einen guten Zeit-<br />
"Da schauen Sie mal ins <strong>Internet</strong>!" <strong>—</strong> Impressionen des <strong>Lehren</strong>s <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>s<br />
schriftenartikel zum Thema. Dann wird das<br />
als Nachtrag in die Seite eingearbeitet, die<br />
guten Ideen sind nicht verloren; sondern<br />
konnten den Studierenden zugänglich gemacht<br />
werden. Und Interessierte finden<br />
selbst zusätzliche Informationen, die dem<br />
Dozenten mitgeteilt <strong>und</strong> übersandt werden,<br />
so dass dieses Material allen Teilnehmern<br />
zugänglich gemacht werden kann.<br />
2.5 Zulassungsarbeiten<br />
Bei der Betreuung von Zulassungsarbeiten<br />
(den schriftlichen Hausarbeiten für das<br />
Staatsexamen) ist die Einbindung des <strong>Internet</strong>s<br />
eine große Hilfe. Einer meiner Kandidaten<br />
hat eine geschützte Homepage eingerichtet,<br />
auf der ich bei Bedarf den aktuellen<br />
Stand seiner Arbeit einsehen kann. Natürlich<br />
wird es <strong>im</strong>mer einen Bedarf an persönlichen<br />
Gesprächen geben, aber eine Reihe von inhaltlichen<br />
<strong>und</strong> technischen Fragen kann so<br />
abgearbeitet werden.<br />
3 Zusammenarbeit von<br />
Schule <strong>und</strong> Universität<br />
3.1 Informationsbörse<br />
Viele Lehrstühle <strong>und</strong> Lehreinheiten für Didaktik<br />
der <strong>Mathematik</strong> unterhalten vielfältige<br />
Kontakte zu Schulen <strong>und</strong> Lehrern. Bislang<br />
erlebe ich, dass es <strong>im</strong>mer noch nötig ist,<br />
Briefe mit Einladungen <strong>und</strong> Informationen an<br />
die Fachbetreuer der Schulen zu senden.<br />
Und dann weiß man <strong>im</strong>mer noch nicht, ob die<br />
Informationen an die Betroffenen gegangen<br />
sind. Daher hat man in Mittelfranken ein<br />
Netzwerk gestartet, dass für Lehrkräfte alle<br />
Informationen über <strong>Mathematik</strong> <strong>im</strong> weitesten<br />
Sinne bietet. Dabei werden sowohl Lehrerfortbildungen<br />
als auch Schülerangebote einbezogen.<br />
Langfristig ist sicher auch an<br />
Newsletters in regelmäßigen Abständen gedacht,<br />
aber die Arbeit steht erst am Anfang.<br />
3.2 Email<br />
Schnellen <strong>und</strong> angenehmen Kontakt zu<br />
Schulen <strong>und</strong> Lehrern kann man bei gegenseitigem<br />
Interesse mit der Email entwickeln.<br />
Sehr viele sind inzwischen mit dem <strong>Internet</strong>anschluss<br />
ausgestattet <strong>und</strong> werden diese<br />
Kontaktaufnahme schätzen, weil sie nicht so<br />
nervig <strong>und</strong> teuer ist wie das Telefon <strong>und</strong> man<br />
171
Karel Tschacher<br />
damit zugleich Nachrichten dauerhaft speichern<br />
<strong>und</strong> weiterbearbeiten kann.<br />
3.3 Datenaustausch<br />
Oft erhalte ich eine Anfrage einer Lehrerin<br />
oder eines Lehrers zu einer Aufgabenart<br />
oder zu einer didaktischen Überlegung. Dann<br />
kann man nun leicht eine Antwort mit den<br />
notwendigen Unterlagen schnell <strong>und</strong> bequem<br />
weitergeben, <strong>und</strong> der Kollege kann das sogleich<br />
in seine Unterrichtsvorbereitung einbauen.<br />
Oder nach einem Besuch von Schülern<br />
<strong>im</strong> Institut werden Rückfragen nach Material<br />
gestellt. Oder die digitalen Fotos der<br />
Veranstaltung werden an die Schulen gesandt,<br />
damit sie <strong>im</strong> Jahresbericht erscheinen<br />
können.<br />
4 <strong>Lehren</strong> <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong><br />
Viele Inhalte werden interaktiv aufbereitet.<br />
<strong>Lernen</strong> wird da zur Freude. Gern erprobt<br />
man eine Aufgabe, mit Vergnügen verfolgt<br />
man einen Gedankengang, der mit medialem<br />
Aufwand illustriert wird. Viele Begriffsbildungen<br />
werden so besser zugänglich. Viele Aufgaben<br />
werden sogleich korrigiert ausgegeben<br />
<strong>und</strong> bieten eine direkte Rückkopplung<br />
des Lernerfolgs. Die komplexen Navigationsmöglichkeiten<br />
machen es Anfängern<br />
<strong>und</strong> Fortgeschrittenen in gleicher Weise<br />
möglich, sinnvoll zu lernen.<br />
4.1 Interaktive Seiten<br />
Als letzten Punkt möchte ich auf eine weitere<br />
zentrale Rolle des <strong>Internet</strong>s kommen, nämlich<br />
der Möglichkeit, mathematische <strong>und</strong> didaktische<br />
Fragen auf den Seiten von Schülern,<br />
Studenten, Lehrern <strong>und</strong> Instituten zu<br />
genießen. Ich sage "genießen", weil es so<br />
schöne <strong>und</strong> so reizende Inhalte gibt, die so<br />
richtig Freude bereiten. Sicher findet man<br />
auch viele Fehler <strong>und</strong> so manches Überflüssige,<br />
dennoch für mich überwiegt der Reiz.<br />
172<br />
4.2 Referate <strong>und</strong> Hausarbeiten<br />
In Proseminaren, Seminaren <strong>und</strong> bei der Zulassungsarbeit<br />
werden Themen bearbeitet,<br />
die sicher schon oft zuvor von anderen behandelt<br />
wurden. Das <strong>Internet</strong> kann eine Fülle<br />
von Referaten <strong>und</strong> Ausarbeitungen bieten,<br />
die zur Orientierung <strong>und</strong> zur Quellensammlung<br />
dienen. Es ist überraschend, wie viele<br />
Arbeiten schon vorliegen. Auch viele Studienseminare<br />
legen seit einiger Zeit Arbeiten<br />
offen. So kann man viele Lehrproben in allen<br />
Details ansehen <strong>und</strong> als Beispiele für gelungene<br />
Unterrichtsplanung verwenden. Die Literaturangaben<br />
bei Arbeiten verlagern sich<br />
zusehends auf Links <strong>im</strong> <strong>Internet</strong>, die Bücher<br />
treten oft zurück. Dabei ist selbstredend die<br />
Gefahr des Plagiats verführerischer als zuvor.<br />
Denn eine Passage zu markieren, zu<br />
kopieren <strong>und</strong> dann in seine Arbeit einzufügen,<br />
ist blitzschnell geschehen. Aber ich<br />
denke, man sollte nicht zu misstrauisch mit<br />
dem neuen Medium <strong>Internet</strong> umgehen.<br />
4.3 Arbeitsblätter<br />
Als letzte sinnvolle Verwendung des <strong>Internet</strong>s<br />
stelle ich kurz die Arbeitsblätter vor. Eine<br />
kritische Bemerkung sei vorangestellt:<br />
"copio, ergo sum" "Ich kopiere, also bin ich"<br />
Viele Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer werden zu<br />
wahren Kopierweltmeistern, in dem sie die<br />
Schülerin mit Arbeitsblätter überhäufen. 20<br />
Arbeitsblätter pro Woche sind keine Seltenheit.<br />
Die gut gemeinte Idee, die Schüler sollten<br />
nicht alles von der Tafel abschreiben,<br />
führt dann aber oft zu solchen Arbeitsblättern,<br />
auf denen nur noch Kreuze oder Lückentexte<br />
ergänzt werden müssen.<br />
Sinnvoll eingesetzte Arbeitsblätter haben ihren<br />
Platz <strong>im</strong> Unterricht, <strong>und</strong> die Beschaffung<br />
guter Arbeitsblätter <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> ist kein Problem.<br />
Denn die Vorgaben des Kollegen können<br />
auf die eigenen Bedürfnisse angepasst<br />
werden. Aber die Arbeitserleichterung ist<br />
enorm, wenn man schon eine Gr<strong>und</strong>idee eines<br />
Kollegen nutzen kann.
� Computereinsatz <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht unter<br />
Geschlechterperspektive <strong>—</strong> oder<br />
Mädchen, Jungen, <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Computer<br />
Rose Vogel, Ludwigsburg<br />
Die Diskussion um den Mehrwert neuer Medien für die Gestaltung von Lehr- <strong>und</strong> Lernprozessen<br />
wird derzeit vielerorts geführt. Dies nahm der Arbeitskreis "Frauen <strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong>"<br />
in der GDM zum Anlass, die Herbsttagung 2003 dem Thema "Computereinsatz<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht unter Geschlechterperspektive" zu widmen. Vor allem die unterschiedlichen<br />
Einsatzmöglichkeiten computerbasierter Medien <strong>und</strong> deren Potenziale für<br />
die Gestaltung von Lehr- <strong>und</strong> Lernprozessen <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht standen <strong>im</strong> Zentrum<br />
der gemeinsamen Arbeit. Die Arbeitsergebnisse bieten Ansatzpunkte, das traditionelle<br />
Bild von <strong>Mathematik</strong> in der Schule aufzubrechen <strong>und</strong> damit das <strong>Mathematik</strong>lernen<br />
von Mädchen <strong>und</strong> Jungen gleichermaßen anzuregen <strong>und</strong> weiterzuentwickeln.<br />
(zugleich Bericht von der Herbsttagung 2003<br />
des Arbeitskreises "Frauen <strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong>"<br />
in der GDM)<br />
1 Einführung<br />
Thema <strong>und</strong> Ziel der Herbsttagung 2003 des<br />
Arbeitskreises "Frauen <strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong>" war<br />
es, den Einsatz der neuen Medien <strong>und</strong> deren<br />
Potenziale für die Gestaltung von Lehr- <strong>und</strong><br />
Lernprozessen aus der Geschlechterperspektive<br />
genauer auszuleuchten. Diese thematische<br />
Ausrichtung war dann auch der Anlass<br />
dafür, die Herbsttagungen der beiden<br />
Arbeitskreise "<strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>und</strong> Informatik"<br />
sowie "Frauen <strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong>"<br />
zeit- <strong>und</strong> ortsgleich stattfinden zu lassen.<br />
Damit bestand die Möglichkeit, sich vor Ort<br />
auszutauschen <strong>und</strong> in einen gemeinsamen<br />
Dialog zu treten. Ein bewusst inszenierter<br />
Schnittbereich stellte der Hauptvortrag von<br />
Cornelia Niederdrenk-Felgner (2005) dar.<br />
Ausgangspunkt für die gemeinsame Arbeit<br />
war die Präsentation von ausgewählten Beispielen,<br />
die unterschiedliche Möglichkeiten<br />
aufzeigen, wie computerbasierte Medien für<br />
den <strong>Mathematik</strong>unterricht genutzt werden<br />
können. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> der geschilderten<br />
Lehr-Lern-Arrangements ging es dann<br />
darum, die Potenziale des Computereinsatzes<br />
für den <strong>Mathematik</strong>unterricht auszuloten.<br />
Dieser gemeinsame Auseinandersetzungsprozess<br />
mündete in die Frage, wie der<br />
Mehrwert der neuen Medien genutzt werden<br />
kann, das Bild von <strong>Mathematik</strong> zu verändern<br />
<strong>und</strong> damit das <strong>Mathematik</strong>lernen von Mädchen<br />
<strong>und</strong> Jungen gleichermaßen zu unterstützen<br />
<strong>und</strong> zu fördern.<br />
2 Mögliche Einsatzbereiche<br />
computerbasierter<br />
Medien <strong>im</strong><br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
Die von Barbara Abel <strong>und</strong> Rose Vogel ausgewählten<br />
Beispiele zeigen Produkte oder<br />
Szenarien aus Lehr-Lern-Arrangements, in<br />
denen sowohl mathematiknahe, als auch mathematikferne<br />
Programme genutzt werden,<br />
um das <strong>Lehren</strong> <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> von <strong>Mathematik</strong><br />
zu unterstützen, anzuregen <strong>und</strong> zu begleiten.<br />
Auf die Präsentation konkreter einzelner Beispiele<br />
wird an dieser Stelle verzichtet. Es<br />
wird stattdessen der Versuch unternommen,<br />
die Lehr-Lern-Aktivitäten zu charakterisieren,<br />
die in den Konkretisierungen <strong>im</strong> Vordergr<strong>und</strong><br />
stehen (vgl. Tab. 1). Die <strong>Internet</strong>-Adressen<br />
[1] <strong>und</strong> [2] geben ebenfalls nur einen Eindruck<br />
von der Vielfalt <strong>und</strong> ließen sich durch<br />
entsprechende Angaben aus anderen B<strong>und</strong>esländern<br />
weiter ausbauen.<br />
Die in Tab. 1 eingenommene Perspektive<br />
rückt nicht die mathematischen Inhalte in den<br />
Vordergr<strong>und</strong>, sondern die Art <strong>und</strong> Weise, wie<br />
mathematische Fragestellungen bearbeitet<br />
werden. Analysieren, Exper<strong>im</strong>entieren, Veranschaulichen,<br />
Strukturieren <strong>und</strong> Präsentieren<br />
sind typische Tätigkeiten in der <strong>Mathematik</strong>,<br />
die lange Zeit von den Schülerinnen<br />
<strong>und</strong> Schülern <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht nicht<br />
erlebbar waren. Sie wurden von der Lehrperson<br />
vorweggenommen, <strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong><br />
wurde dadurch als "poliertes Fertigprodukt"<br />
(vgl. Müller, Steinbring & Wittmann 2004, 12)<br />
präsentiert. Im Vordergr<strong>und</strong> stand das Automatisieren<br />
mathematischer Verfahrenswei-<br />
173
Rose Vogel<br />
Lehr-Lern-Aktivitäten Software<br />
Präsentieren von mathematischen Inhalten auf der<br />
Gr<strong>und</strong>lage eines ausgewählten Textes (Schülerarbeiten),<br />
Präsentieren von Bearbeitungswegen ausgewählter Aufgaben<br />
sen <strong>und</strong> nicht die aktive, individuelle Auseinandersetzung<br />
mit <strong>Mathematik</strong>.<br />
Das Einbeziehen der Aktivitäten Kooperieren<br />
<strong>und</strong> Kommunizieren erweitert zusätzlich den<br />
Blick auf den Umgang mit <strong>Mathematik</strong>. Ein<br />
weit verbreitetes Bild beschreibt <strong>Mathematik</strong><br />
als eine Wissenschaft, in der die <strong>Mathematik</strong>erin,<br />
doch meist der <strong>Mathematik</strong>er <strong>im</strong> stillen<br />
Kämmerchen einsam über Formeln brütet<br />
<strong>und</strong> zu neuen Erkenntnissen gelangt. Dies<br />
hat zur Konsequenz, dass <strong>Mathematik</strong> als<br />
eine Wissenschaftsdisziplin wahrgenommen<br />
wird, in der Tätigkeiten wie Kooperieren <strong>und</strong><br />
Kommunizieren nicht <strong>im</strong> Vordergr<strong>und</strong> stehen.<br />
Dies steht <strong>im</strong> Gegensatz zu Beschreibungen<br />
von mathematischen Erkenntnisprozessen.<br />
Diese sind einerseits geprägt durch den Dialog<br />
mit anderen <strong>und</strong> andererseits durch den<br />
Zeitgeist, der u.a. dadurch best<strong>im</strong>mt wird,<br />
dass sich Menschen <strong>und</strong> ihre Ideen in der<br />
Öffentlichkeit darstellen, sich mit ihrer Meinung<br />
exponieren, Anhänger <strong>und</strong> Widersacher<br />
finden <strong>und</strong> damit ein Auseinandersetzungsprozess<br />
mit oder ohne Wirkung entsteht.<br />
Diese Vorgänge prägen <strong>und</strong> verändern<br />
in beschreibbaren Wellenbewegungen das<br />
Zeiterleben <strong>und</strong> bilden den Nährboden für<br />
Theorieentwicklungen.<br />
In der gemeinsamen Arbeit wurde außerdem<br />
deutlich, dass die Auseinandersetzung mit<br />
174<br />
Präsentationsprogramme, z.B.<br />
Power Point<br />
Strukturieren von mathematischen Inhaltstexten Mind-Map-Programme<br />
Gemeinsames Erstellen eines mathematischen Glossars<br />
zur Nutzung <strong>im</strong> Unterricht<br />
Exper<strong>im</strong>entelles Arbeiten: eigenständig durch die <strong>Lernen</strong>den<br />
oder in einer Demonstration durch die Lehrperson<br />
WebQuest <strong>—</strong> Arbeiten an einem Projekt unter Ausnutzung<br />
von <strong>Internet</strong>quellen<br />
Kooperatives Arbeiten mit Unterstützung einer internetbasierten<br />
Groupware<br />
Veranschaulichen mathematischer Konstrukte, entwickeln<br />
von Vorstellungen<br />
Daten analysieren <strong>und</strong> modellieren <strong>—</strong> Zusammenhänge<br />
zwischen der <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> der uns umgebenden Welt<br />
herstellen <strong>und</strong> die <strong>Mathematik</strong> für die Welterschließung<br />
aktiv nutzen<br />
Kommunizieren über eine mathematische Fragestellung<br />
<strong>im</strong> "Mathe-Chat"<br />
HTML<br />
Textverarbeitungsprogramme<br />
z.B. DGS, CAS, Tabellenkalkulationssysteme,<br />
Java-Applets<br />
<strong>WWW</strong><br />
z.B. BSCW oder andere Lernplattformen<br />
Algebra Graph, CAS, Java-<br />
Applets<br />
Tabellenkalkulationssysteme<br />
Statistik-Programme<br />
Chat-Programme<br />
Automatisieren mathematischen Wissens Mathe-Lernprogramme<br />
Tab. 1: Übersicht über Lehr-Lern-Aktivitäten, die durch die Nutzung computerbasierten Medien in besonderer Weise<br />
unterstützt werden.<br />
computerbasierten Medien <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
<strong>im</strong>mer wieder neu die Chance bietet,<br />
über die Gestaltung von Lehr- <strong>und</strong> Lernprozessen<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht nachzudenken<br />
(vgl. Bescherer & Vogel 2002). Die in<br />
Tab. 1 zusammengefassten Lehr-Lern-Aktivitäten<br />
finden sich in den (in den Bildungsstandards<br />
beschriebenen; KMK 2003, 11f)<br />
allgemeinen mathematischen Kompetenzen<br />
wieder <strong>und</strong> bilden einen integrativen Bestandteil<br />
der dort geforderten mathematischen<br />
Gr<strong>und</strong>bildung.<br />
3 Potenziale des Computereinsatzes<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
Auf der Gr<strong>und</strong>lage der in Tab. 1 vorgenommenen<br />
Analyse der Beispiele <strong>und</strong> vor dem<br />
Hintergr<strong>und</strong> des Vortrags von Cornelia Niederdrenk-Felgner<br />
wurden Potenziale computerbasierter<br />
Medien für den Bereich des <strong>Mathematik</strong>lernens<br />
zusammengestellt <strong>und</strong> diskutiert.<br />
Folgende Potenziale erschienen uns<br />
unter Geschlechterperspektive von besonderer<br />
Bedeutung:
Anlass für neue Lehr-Lernformen<br />
Viele der in den Beispielen verwendeten<br />
Computerprogramme geben die Möglichkeit,<br />
Ergebnisse, die am Ende der Beschäftigung<br />
mit mathematischen Fragestellung stehen,<br />
aber auch den Bearbeitungsprozess selbst<br />
zu dokumentieren (z.B. die Ortslinienfunktion<br />
in den Dynamischen Geometriesystemen).<br />
Diese Dokumentationen können dann als Anlass<br />
genutzt werden, über mathematische<br />
Erkenntnisse ins Gespräch zu kommen. Natürlich<br />
steckt dieses Potenzial auch in den<br />
Bleistiftnotizen, die während des Bearbeitungsprozesses<br />
entstehen. Mögliche Zwischenschritte<br />
<strong>und</strong> auch gef<strong>und</strong>ene Endergebnisse<br />
unterliegen hier in einem viel höheren<br />
Maße der Flüchtigkeit. Sie werden überschrieben,<br />
ausradiert <strong>und</strong> bleiben als bald<br />
nicht mehr auffindbare Zettel zurück. Natürlich<br />
wird die Art der möglichen Dokumentationsformen<br />
von Seiten der Programmentwicklung<br />
vorgedacht <strong>und</strong> best<strong>im</strong>mt. Insgesamt<br />
machen die Beispiele deutlich, dass über die<br />
Integration von Dokumenten in den <strong>Mathematik</strong>unterricht,<br />
die während der individuellen<br />
oder kooperativen Auseinandersetzung mit<br />
mathematischen Fragestellungen entstehen,<br />
nachgedacht werden sollte.<br />
In besonderer Weise werden durch die Nutzung<br />
computerbasierter Medien kooperative<br />
Unterrichtsformen unterstützt. Neben der organisatorischen<br />
Unterstützung des kooperativen<br />
Arbeitens, z.B. indem Arbeits- <strong>und</strong> Zeitpläne<br />
wie auch Zwischenprodukte mit Hilfe<br />
geeigneter Programme verwaltet werden, liefern<br />
computerbasierte Medien die Möglichkeit,<br />
zeit- <strong>und</strong> ortsunabhängig gemeinsam an<br />
einem Projekt zu arbeiten.<br />
Außerdem erlauben <strong>Mathematik</strong>programme<br />
wie z.B. DGS <strong>und</strong> speziell erstellte Java-<br />
Applets, auf vielfältige Weise exper<strong>im</strong>entelle<br />
Lehr-Lern-Kontexte zu inszenieren, die den<br />
Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern Raum geben,<br />
Ideen zu mathematischen Fragestellungen<br />
zu entwickeln, umzusetzen <strong>und</strong> zu überprüfen.<br />
Betonung des Sprachaspekts von <strong>Mathematik</strong><br />
bei Präsentation <strong>und</strong> Dokumentation<br />
Die Integration mathematikferner Programme,<br />
z.B. von Präsentationsprogrammen, in<br />
den <strong>Mathematik</strong>unterricht gestatten es, neben<br />
den bereits erwähnten Dokumentationsformen,<br />
methodische Elemente in das <strong>Lernen</strong><br />
von <strong>Mathematik</strong> einzubauen, die die<br />
Sprache für die <strong>Mathematik</strong> wichtig werden<br />
lassen. Es entstehen Lernanlässe, die das<br />
Computereinsatz <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht unter Geschlechterperspektive<br />
Reden über <strong>Mathematik</strong> in der Sprache der<br />
<strong>Mathematik</strong> ermöglichen.<br />
Prozess des Modellierens<br />
Der Prozess des Modellierens kann durch<br />
den Einsatz geeigneter Computerprogramme<br />
in dem Sinne weiter entwickelt werden, dass<br />
einerseits realistische Daten <strong>und</strong> damit die<br />
Bearbeitung realistischer Fragestellungen in<br />
den <strong>Mathematik</strong>unterricht Eingang finden<br />
können. Andererseits erlaubt der Einsatz<br />
neuer Technologien, mathematische Probleme,<br />
die Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler aufgr<strong>und</strong><br />
ihrer mathematischen Fähigkeiten in<br />
der Sek<strong>und</strong>arstufe I noch nicht lösen könnten,<br />
auf sehr anschauliche Weise <strong>im</strong> Sinne<br />
eines dynamischen Visualisierens zu bearbeiten<br />
(vgl. Weigand & Weth 2002, 133ff).<br />
Aufbau von Reflexionskompetenz<br />
Dokumentationen sind in besonderer Weise<br />
geeignet, den Aufbau metakognitiver Kompetenzen<br />
anzuregen <strong>und</strong> zu unterstützen; <strong>—</strong><br />
metakognitive Kompetenzen <strong>im</strong> Sinne eines<br />
Wissens über die eigenen Fähigkeiten <strong>und</strong><br />
über die Qualität von Aufgaben sowie <strong>im</strong><br />
Sinne eines Wissens über Prozesse der Kontrolle<br />
kognitiver Vorgänge wie Planung, Überwachung<br />
<strong>und</strong> Regulation (vgl. Brown 1984).<br />
Das flüchtige Bearbeiten <strong>und</strong> Durchdenken<br />
von mathematischen Fragestellungen wird<br />
durch die unterschiedlichen Dokumentationsformen<br />
konkret <strong>und</strong> kann <strong>im</strong> Rückblick genutzt<br />
<strong>und</strong> <strong>im</strong> Sinne eines "Metawissens" kategorisiert<br />
werden.<br />
Neue Möglichkeiten inhaltlicher Zugänge<br />
Die bisher herausgearbeiteten Potenziale beschäftigen<br />
sich in erster Linie mit der Art <strong>und</strong><br />
Weise, wie das <strong>Lehren</strong> <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> von <strong>Mathematik</strong><br />
gestaltet werden kann. So bleibt abschließend<br />
zu fragen, ob die Veränderungen<br />
der Lehr-Lern-Arrangements ein Nachdenken<br />
über inhaltliche Zugänge nicht sogar erzwingen.<br />
Hat die zunehmende Fokussierung<br />
auf die aktive Auseinandersetzung der <strong>Lernen</strong>den<br />
mit mathematischen Fragestellungen<br />
nicht u.a. zur Folge, dass die Orientierung<br />
der Schulmathematik an der Fachsystematik<br />
verlassen <strong>und</strong> verstärkt Inhalte ins Zentrum<br />
des Unterrichts gerückt werden, die das Interesse<br />
der <strong>Lernen</strong>den aufgreifen?<br />
Natürlich ist die Frage nach den Potenzialen<br />
computerbasierter Medien sowohl eng an die<br />
Freiheitsgrade bzw. an die Gestaltungsspielräume<br />
gekoppelt, die eine Software zulässt,<br />
175
Rose Vogel<br />
als auch an die Medien- <strong>und</strong> Methodenkompetenzen<br />
der Lehrperson.<br />
Damit einher geht auch die Frage: Wem<br />
nutzt welches Angebot <strong>im</strong> <strong>WWW</strong> bzw. <strong>im</strong> Bereich<br />
der Computersoftware?<br />
4 Chancen für das <strong>Mathematik</strong>lernen<br />
von Mädchen<br />
<strong>und</strong> Jungen durch den<br />
Einsatz des Computers<br />
Welche Folgerungen lassen sich aus der Zusammenstellung<br />
der Potenziale des Computereinsatzes<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht für das<br />
<strong>Mathematik</strong>lernen von Mädchen <strong>und</strong> Jungen<br />
ziehen? Deutlich wird, dass der Einsatz computerbasierter<br />
Medien wieder ein Schritt weiter<br />
führt in dem Bestreben, die Lebenswelt<br />
der Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler in den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
stärker aufzunehmen. So eröffnet<br />
die Erweiterung möglicher Veranschaulichungen<br />
die Chance, dass <strong>im</strong>mer weniger<br />
die mathematischen Rechenfertigkeiten<br />
die Auswahl der Kontexte best<strong>im</strong>men, sondern<br />
das Interesse <strong>und</strong> die Bedürfnisse der<br />
Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler. Die beschriebenen<br />
Ansätze, Sprache <strong>und</strong> damit Kommunikation<br />
mehr <strong>und</strong> mehr in den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
hereinzuholen, lassen das traditionelle<br />
Bild von <strong>Mathematik</strong>, das sehr technisch<br />
<strong>und</strong> unnahbar auf viele Schülerinnen <strong>und</strong><br />
Schüler wirkte, allmählich bröckeln. Es werden<br />
Identifikationsmöglichkeiten geschaffen,<br />
die bisher <strong>im</strong> Fach <strong>Mathematik</strong> nicht möglich<br />
waren.<br />
176<br />
Literatur<br />
Bescherer, Christine & Rose Vogel (2002): Innovation<br />
durch computerbasierte Medien. In: Wilfried<br />
Herget, Rolf Sommer, Hans-Georg Weigand<br />
& Thomas Weth (Hrsg.) (2002): Medien<br />
verbreiten <strong>Mathematik</strong>. Bericht über die 19. Arbeitstagung<br />
des Arbeitskreises "<strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
<strong>und</strong> Informatik" 2001 in Dillingen.<br />
Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker, 9–17<br />
Brown, Ann L. (1984): Metakognition, Handlungskontrolle,<br />
Selbststeuerung <strong>und</strong> andere, noch<br />
gehe<strong>im</strong>nisvollere Mechanismen. In: Franz E.<br />
Weinert & Rainer H. Kluwe (Hrsg.) (1984): Metakognition,<br />
Motivation <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>. Stuttgart:<br />
Kohlhammer, 60–109<br />
Kultusministerkonferenz (KMK) (2003): Bildungsstandards<br />
<strong>im</strong> Fach <strong>Mathematik</strong> für den Mittleren<br />
Schulabschluss.<br />
http://www.kmk.org/schul/Bildungsstandards/<br />
<strong>Mathematik</strong>_MSA_BS_04-12-2003.pdf<br />
Müller, Gerhard N., Heinz Steinbring & Erich C.<br />
Wittmann (Hrsg.) (2004): Arithmetik als Prozess.<br />
Seelze: Kallmeyer<br />
Niederdrenk-Felgner, Cornelia (2005): Jungen,<br />
Mädchen, <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Computer. In diesem<br />
Band<br />
Weigand, Hans-Georg & Thomas Weth (2002):<br />
Computer <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht. Heidelberg:<br />
Spektrum<br />
<strong>Internet</strong>-Adressen<br />
[1] http://lehrerfortbildung-bw.de/faecher/<br />
mathematik<br />
[2] http://webquest.ph-bw.de/
� Gestaltungsprinzipien <strong>und</strong> Erfahrungen zum virtuellen<br />
Selbstlernkurs: <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Computer<br />
Wolfgang Weigel, Würzburg<br />
Im Rahmen des Bereichs Lehrerbildung der Virtuellen Hochschule Bayern (VHB) wird an<br />
den Universitäten Erlangen-Nürnberg <strong>und</strong> Würzburg der virtuelle Selbstlernkurs <strong>Mathematik</strong><br />
<strong>und</strong> Computer entwickelt. Im Text wird aufgezeigt, welcher Weg zur internetgerechten<br />
inhaltlichen Umsetzung gewählt wurde, <strong>und</strong> es werden Ergebnisse einer ersten<br />
Akzeptanzstudie präsentiert.<br />
1 Einleitung<br />
Das <strong>Internet</strong> n<strong>im</strong>mt mittlerweile eine zentrale<br />
Rolle in unserem täglichen Leben ein. Eine<br />
stetig wachsende Anzahl von Personen aus<br />
allen Bildungsschichten hat Zugang zum<br />
<strong>WWW</strong> <strong>und</strong> nutzt es auf vielfältige Weise<br />
(Ridder 2002). Mit dem Medium <strong>Internet</strong> verb<strong>und</strong>en<br />
sind neue Möglichkeiten der Wissensaufbereitung<br />
(z.B. durch Videos) <strong>und</strong> der<br />
Lernmethodik (Bruns & Gajewski 2002). Aus<br />
diesen Gründen fördert das B<strong>und</strong>esministerium<br />
für Bildung <strong>und</strong> Forschung (BMBF) eine<br />
Vielzahl von Projekten <strong>im</strong> Bereich der Lehrerbildung<br />
mit Schwerpunkt <strong>Mathematik</strong>, die<br />
das <strong>Internet</strong> als Medium zur Wissensvermittlung<br />
nutzen (hierzu [1]). Auch die Länder<br />
nehmen an dieser Entwicklung teil <strong>und</strong> eröffnen<br />
virtuelle Hochschulen (z.B. [2] oder [3]).<br />
In diesem Kontext wird von der Universität<br />
Nürnberg-Erlangen <strong>und</strong> der Universität Würzburg<br />
gemeinsam der Kurs mit dem Titel <strong>Mathematik</strong><br />
<strong>und</strong> Computer für den Bereich Lehreraus-<br />
<strong>und</strong> -weiterbildung <strong>im</strong> Rahmen der<br />
Virtuellen Hochschule Bayern (VHB) entwickelt.<br />
Inhaltlich werden Themen der Geometrie<br />
(Erlangen-Nürnberg) <strong>und</strong> der Algebra<br />
(Würzburg) bearbeitet. Hierbei handelt es<br />
sich um einen rein virtuellen, internet-gestützten<br />
Kurs. Ziele des Lehrgangs sind u.a.,<br />
Studenten an neue Technologien (wie Computer<br />
Algebra Systeme (CAS) oder Dynamische<br />
Geometrie Software (DGS)) heranzuführen<br />
<strong>und</strong> angehende Lehrer zu einem kritisch<br />
reflektierten Einsatz dieser Medien <strong>im</strong><br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht anzuregen. Dabei ist es<br />
ein wesentliches Anliegen, keine reinen "Gebrauchsanweisungen"<br />
zum Umgang der vorgestellten<br />
Software zu geben, sondern vielmehr<br />
deren themengeb<strong>und</strong>enen Einsatz <strong>und</strong><br />
Grenzen aufzuzeigen.<br />
Im vorliegenden Aufsatz wird eine Möglichkeit<br />
beschrieben, Inhalte aus dem Themenbereich<br />
Funktionen so aufzubereiten <strong>und</strong><br />
darzustellen, dass das Potential des <strong>Internet</strong>s<br />
genutzt wird <strong>und</strong> es wird über erste Erfahrungen<br />
(ermittelt <strong>im</strong> Rahmen einer Akzeptanzstudie)<br />
zum Kurs berichtet.<br />
2 Medieneinsatz<br />
Sobald man sich mit dem <strong>WWW</strong> <strong>und</strong> dem <strong>Internet</strong><br />
als Lehr-/Lernmedium beschäftigt, bieten<br />
sich dem Autor <strong>und</strong> dem Nutzer eine<br />
Vielzahl von alternativen Arten der Inhaltsdarbietung<br />
an. Hierbei treten sofort die zentralen<br />
Begriffe Mult<strong>im</strong>edia (MM) <strong>und</strong> Interaktivität<br />
in den Mittelpunkt des Interesses.<br />
Setzt man in <strong>WWW</strong>-Inhalten mehrere Mittler<br />
(also Medien) parallel nebeneinander ein, so<br />
spricht man von MM. Kann der Nutzer aktiv<br />
Manipulationen an Mult<strong>im</strong>ediaelementen vornehmen,<br />
entsteht also ein Handeln zwischen<br />
Akteur <strong>und</strong> MM-Komponente, so spricht man<br />
von Interaktion. Hierbei ist besonders darauf<br />
zu achten, dass keine Interaktion mit Navigationselementen<br />
gemeint ist, sondern Interaktion<br />
am Lernobjekt (Schulmeister 2002).<br />
Als Beispiel für ein interaktives Handeln am<br />
Lernobjekt wird in Abb. 1 eine Benutzeroberfläche<br />
gezeigt, mit deren Hilfe Graphen von<br />
Scharfunktionen in dreid<strong>im</strong>ensionaler Darstellung<br />
erzeugt werden.<br />
Der <strong>Lernen</strong>de kann sowohl den Funktionsterm<br />
<strong>und</strong> den dazugehörigen Darstellungsbereich<br />
als auch die resultierende 3D-Darstellung<br />
(durch Drehen oder Zoomen) best<strong>im</strong>men<br />
<strong>und</strong> verändern. Das Arbeiten mit diesem<br />
Hilfsmittel ermöglicht es, Eigenschaften der<br />
dargestellten Funktion <strong>und</strong> deren räumliche<br />
Gestalt zu untersuchen.<br />
177
Wolfgang Weigel<br />
2.1 Kategorisierungen von Mult<strong>im</strong>ediaelementen<br />
Wie von Weidenmann (2002) festgestellt, ist<br />
der Begriff "Mult<strong>im</strong>edia" weit verbreitet, allerdings<br />
zu <strong>und</strong>ifferenziert <strong>und</strong> daher für die<br />
wissenschaftliche Diskussion wenig geeignet.<br />
Ähnliches gilt für den Fachausdruck der<br />
Interaktivität. Mult<strong>im</strong>edia <strong>und</strong> Interaktivität<br />
müssen genauer beschrieben <strong>und</strong> differenziert<br />
betrachtet werden (Haack 2002), damit<br />
man wissenschaftlich damit arbeiten kann.<br />
Um über den Erfolg des zielorientierten Einsatzes<br />
von Mult<strong>im</strong>edia <strong>und</strong> Interaktivität diskutieren<br />
zu können, ist eine genauere Eingrenzung<br />
der Begriffe notwendig. Im Folgenden<br />
werden zwei mögliche Kategorisierungen<br />
vorgestellt.<br />
2.1.1 Passive <strong>und</strong> interaktive Mult<strong>im</strong>ediaelemente<br />
178<br />
Abb. 2: Interaktiv bedienbarer Abakus<br />
Eine einfache Art der Unterteilung von MM-<br />
Elementen ist die Unterscheidung in passive<br />
<strong>und</strong> interaktive Bestandteile (Weigel 2003a).<br />
Abb. 1: Manipulation am Lernobjekt<br />
Zu den passiven Elementen zählen beispielsweise<br />
Text, Bild <strong>und</strong> Video. Interaktive<br />
Komponenten sind Java-Applets oder Web-<br />
Mathematica-Anwendungen. Beispiel für ein<br />
interaktives Java-Applet ist ein online benutzbarer<br />
Abakus, der in eine Lernsequenz eingeb<strong>und</strong>en<br />
werden kann (vgl. Abb. 2).<br />
Die <strong>Lernen</strong>den können mit dem virtuellen Rechengerät<br />
die gleichen Rechnungen, Gedankengänge<br />
<strong>und</strong> Lernprozesse konstruieren<br />
wie mit einem realen Abakus. Das Applet ist<br />
aber <strong>im</strong> Gegensatz zu einem realen Abakus<br />
stets für den Lerner verfügbar.<br />
Die beiden unterschiedlichen Beispiele lassen<br />
bereits erkennen, dass verschieden starke<br />
Ausprägungen von Interaktivität auftreten<br />
können, was eine weitere Differenzierung<br />
von MM-Elementen sinnvoll macht.<br />
Mit WebMathematica (vgl. hierzu [4]) hat<br />
man die Chance, typische CAS-Anwendungen<br />
(wie Berechnungen, Ableitungen oder<br />
Visualisierungen durchzuführen) dem Lerner<br />
zur sofortigen Verwendung innerhalb einer<br />
Online-Lehr-/Lernumgebung bereit zu stellen.<br />
Abbildung 1 zeigt, wie mithilfe von WebMathematica<br />
eine sofortige Darstellung <strong>und</strong><br />
Veränderung von Funktionen zweier Veränderlicher<br />
aussehen kann. Weitere Beispiele<br />
<strong>und</strong> Hintergr<strong>und</strong>information zu diesem Thema<br />
findet man in Weigel (2003b).<br />
2.1.2 Taxonomie nach Schulmeister<br />
Rolf Schulmeister (2002) hat folgende sechsstufige<br />
Kategorisierung von MM-Elementen<br />
vorgeschlagen:<br />
1. Objekte betrachten <strong>und</strong> rezipieren.<br />
2. Multiple Darstellungen betrachten <strong>und</strong> rezipieren.<br />
3. Die Repräsentationsform variieren.<br />
4. Den Inhalt der Komponente modifizieren.
Gestaltungsprinzipien <strong>und</strong> Erfahrungen zum virtuellen Selbstlernkurs: <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Computer<br />
5. Das Objekt bzw. den Inhalt der Re-präsentation<br />
konstruieren.<br />
6. Den Gegenstand bzw. den Inhalt der Repräsentation<br />
konstruieren <strong>und</strong> durch manipulierende<br />
Handlungen intelligente<br />
Rückmeldung vom System erhalten.<br />
Stufe 1 beinhaltet das Lesen von Texten<br />
oder das Betrachten von Bildern. Der Lerner<br />
kann nicht selbst Inhalte gestalten. Es handelt<br />
sich hierbei um keine echte Interaktivität.<br />
Zur zweiten Stufe zählt man an<strong>im</strong>ierte Bildfolgen<br />
(sogenannte An<strong>im</strong>ated-Gif) oder auch<br />
bei Bedarf verfügbare Zusatzinformationen in<br />
auditiver oder visueller Form zu beliebigen<br />
Elementen. Beispielsweise ein typisches Musikstück,<br />
das bei Klick auf das Bild eines<br />
Komponisten von selbst startet. In Stufe 3<br />
kann der Student selbst best<strong>im</strong>men, welche<br />
Veränderung der Repräsentationsform vorgenommen<br />
wird. Abbildung 3 zeigt als Beispiel<br />
hierfür die interaktive Drehung eines in<br />
der x-z-Ebene halbierten Paraboloids.<br />
Abb. 3: Variation der Repräsentationsform<br />
Best<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> modifiziert der Nutzer neben<br />
der Darstellung auch die zu betrachtende<br />
Komponente, dann handelt es sich um Interaktivität<br />
auf Stufe 4. Ein Beispiel hierfür ist in<br />
Abb. 1 dargestellt. Neben der aktiven Manipulation<br />
des 3D-Objektes kann der betrachtete<br />
Funktionsterm selbst eingegeben <strong>und</strong><br />
verändert werden. Konstruiert man als Lerner<br />
selbstständig (z.B. ein Lot zu einer vorgegebenen<br />
Geraden in einem best<strong>im</strong>mten Punkt),<br />
dann handelt es sich um ein Beispiel für Stufe<br />
5. Stufe 6 baut auf den vorherigen Stufen<br />
auf <strong>und</strong> wird um kontextabhängige Rückmeldungen<br />
für den Anwender erweitert, in denen<br />
er Informationen <strong>und</strong> Tipps passend zur momentan<br />
bearbeiteten Aufgabe oder Tätigkeit<br />
erhält.<br />
Lerninhalte in virtuellen Seminaren kann man<br />
mit verschiedenartigen Visualisierungen anschaulicher<br />
Gestalten. Mit interaktiven Elementen<br />
ermöglicht man dem Lerner, seinen<br />
persönlichen Lernweg zu gestalten. Die vorgestellte<br />
Kategorisierung von MM-Elementen<br />
kann helfen, wissenschaftlich zu überprüfen<br />
<strong>und</strong> zu reflektieren, ob die eingesetzten Komponenten<br />
in einer Online-Umgebung den mit<br />
ihnen in Verbindung gebrachten Nutzen erfüllen<br />
<strong>und</strong> ob dieser Nutzen damit auch erreicht<br />
wird.<br />
Der Kurs <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Computer beschäftigt<br />
sich inhaltlich mit Einsatzmöglichkeiten<br />
von CAS. Ein Ansatz, wie man CAS <strong>und</strong> interaktive<br />
Elemente unterschiedlicher Art sinnvoll<br />
<strong>und</strong> zielorientiert in einer <strong>Internet</strong>-Umgebung<br />
verwenden kann, wird <strong>im</strong> folgenden Abschnitt<br />
anhand des Teilmoduls Funktionen<br />
vorgestellt.<br />
2.2 Verwendete Mult<strong>im</strong>ediaelemente<br />
Gr<strong>und</strong>lage eines jeden virtuellen Online-Kurses<br />
sind <strong>Internet</strong>seiten, die in Hypertextmarkierungssprache<br />
(HTML) realisiert sind <strong>und</strong><br />
somit von beliebigen Browsern (z.B. Netscape<br />
oder Opera) dargestellt werden können.<br />
In Verbindung mit HTML kommen <strong>im</strong><br />
Algebra-Bereich noch 8 weitere MM-Komponenten<br />
zum Einsatz (s. Abb. 4), die <strong>im</strong> Folgenden<br />
näher beschrieben werden.<br />
Abb. 4: Eingesetzte MM-Elemente <strong>im</strong> Kurs <strong>Mathematik</strong><br />
<strong>und</strong> Computer<br />
Um den Studierenden bereits zu Beginn einer<br />
Lerneinheit einen Überblick über anstehende<br />
Inhalte zu ermöglichen <strong>und</strong> dem Effekt<br />
"lost in hyperspace" (beschrieben z.B. in<br />
Haack 2002) entgegenzuwirken, werden<br />
Übersichten angeboten. Sie sind als mehrstufige<br />
Flash-Applikation umgesetzt. Zunächst<br />
erhält der Student Information über<br />
Themenschwerpunkt (z.B. Funktionen) <strong>und</strong><br />
darin enthaltene Unterabschnitte (z.B.<br />
Gr<strong>und</strong>lagen oder Graph-Tabelle-Gleichung-<br />
Darstellungen (GTG)). Zusätzlich zum schriftlich<br />
gestalteten Überblick wird jeweils ein für<br />
den Abschnitt typisches <strong>und</strong> <strong>im</strong> eigentlichen<br />
Kapitel wiederkehrendes Bild angeboten (vgl.<br />
in Abb. 5 Unterpunkt Gr<strong>und</strong>lagen). Werden<br />
von den <strong>Lernen</strong>den weitere Informationen<br />
gewünscht, erscheinen zu jedem Teilaspekt<br />
bei "Mouse-Over" stichpunktartige Inhaltsangaben<br />
(in Abb. 5 Unterpunkt Erk<strong>und</strong>en). In<br />
einer dritten Stufe (bei "Mouse-Klick") werden<br />
zwei charakteristische, inhaltsbeschreibende<br />
Bilder angeboten (vgl. Abb. 5 Unterpunkt<br />
GTG). Alle drei Informationsstufen sind<br />
für jeden Unterpunkt verfügbar.<br />
179
Wolfgang Weigel<br />
180<br />
Abb. 5: Mehrstufige Übersicht realisiert in Flash<br />
Die zunächst knapp bemessene Schautafel<br />
<strong>und</strong> die weitergehende, dreistufige Informationsvermittlung,<br />
kombiniert mit zusätzlich eingebauten<br />
Filmsequenzen, kann als eine alternative<br />
Form der Überblicksgewinnung angesehen<br />
werden.<br />
Ziel des Kurses <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Computer<br />
ist es, <strong>Lernen</strong>den Kenntnisse über neue<br />
Technologien wie CAS zu vermitteln <strong>und</strong> sie<br />
zu einem didaktisch sinnvollen Einsatz dieser<br />
Hilfsmittel <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht anzuregen.<br />
Hierzu ist es zunächst notwendig, dass<br />
Studierende mit diesen Technologien umgehen<br />
lernen. Für den Gebrauch in der Schule<br />
bietet sich aufgr<strong>und</strong> der einfachen <strong>und</strong> menügesteuerten<br />
Führung z.B. das CAS Derive<br />
an. Da Derive preiswert zu erwerben ist,<br />
werden Teile der Inhalte <strong>und</strong> Aufgaben so<br />
gestellt, dass man zuhause offline eigene Erfahrungen<br />
damit sammeln kann.<br />
Abb. 6: Beispiel für eine Website<br />
Alle CAS-Erfahrungen können natürlich auch<br />
online erworben werden. Zu diesem Zweck<br />
sind viele Inhalte so gestaltet, dass z.B. Exper<strong>im</strong>entieren<br />
oder Visualisieren mit dem<br />
Computer auch innerhalb des virtuellen Kurses<br />
stattfinden kann. Mithilfe von Web-<br />
Mathematica-Seiten (WebM) gelingt es, typische<br />
CAS-Aufgaben <strong>im</strong> <strong>WWW</strong> zugänglich<br />
<strong>und</strong> bearbeitbar zu gestalten.<br />
Thematische Schwerpunkte, theoretisches<br />
Hintergr<strong>und</strong>wissen <strong>und</strong> Aufgaben werden<br />
durch erklärenden Text präsentiert. Wenn<br />
möglich werden diese Elemente zusätzlich<br />
durch ein Bild erläutert (vgl. Abb. 6). Die Inhalte<br />
liegen nun doppelt codiert vor, wodurch<br />
positive Veränderungen in der Lernleistung<br />
nachgewiesen werden können (vgl. Mayer<br />
2001).<br />
Komplexe <strong>und</strong> dynamische Vorgehensweisen,<br />
wie die Bedienung eines CAS, machen<br />
die schriftliche Erläuterung schwierig <strong>und</strong><br />
umfangreich. Für diese Zwecke ist eine authentische<br />
Erklärung via Video sinnvoll. Dies<br />
geht auch aus bereits genauer untersuchten<br />
Online-Kursen hervor. Studierende äußerten<br />
explizit den Wunsch nach Videos (Mandl<br />
2001). Wichtig ist, dass die Lerner die Möglichkeit<br />
haben, innerhalb des Videos zu<br />
springen, es zu stoppen <strong>und</strong> auch wiederholt<br />
anzusehen (Chambel 2001, Schnotz 2001).<br />
Wie in Abb. 6 gezeigt, werden aus jedem Video<br />
bis zu drei markante Szenen herausge-
Gestaltungsprinzipien <strong>und</strong> Erfahrungen zum virtuellen Selbstlernkurs: <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Computer<br />
nommen <strong>und</strong> als Bild parallel zum erklärenden<br />
Text angeboten. Diese Bilderfolgen dienen<br />
dazu, dem Lerner schnell einen Überblick<br />
zu verschaffen, was <strong>im</strong> Video beschrieben<br />
wurde bzw. wird. Er erhält so bereits vor<br />
dem Start des eigentlichen Films die Chance<br />
zu entscheiden, ob die Inhalte für ihn wichtig<br />
sind. Hat er das Video bereits gesehen, kann<br />
er sich be<strong>im</strong> Lesen des dazugehörigen Textes<br />
anhand der Bilderfolgen erinnern. Alle<br />
Bilder der Bilderfolge werden zur besseren<br />
Erkennbarkeit von Details auch als Großbild<br />
angeboten. Die Kombination aus Video <strong>und</strong><br />
Bilderfolgen ist als ein Teilaspekt der aktuellen<br />
Forschung <strong>im</strong> Bereich "Neue Medien" unter<br />
dem Schlagwort Hypervideo zu finden<br />
(Chambel 2001).<br />
Neben der Abwechslung <strong>im</strong> Lernszenario<br />
durch einen breiten Einsatz von Medien auf<br />
verschiedenen Stufen sind weitere Schritte<br />
zur Unterbindung psychischer Ermüdung gefragt.<br />
Aus diesem Gr<strong>und</strong> wird innerhalb des<br />
Lernkurses aufgefordert, Texte in einem Didaktik-Lehrbuch<br />
zu lesen, darüber zu reflektieren<br />
bzw. <strong>im</strong> Forum dazu Stellung zu nehmen.<br />
Der <strong>Lernen</strong>de führt hier eine Tätigkeit<br />
abseits des Rechners durch. Den gleichen<br />
Effekt bewirken auch vereinzelt eingestreute<br />
"Paper & Pencil"-Aufgaben.<br />
3 <strong>WWW</strong>-Gestaltungsprinzipien<br />
Die einzelnen MM-Elemente erzielen nur<br />
dann den gewünschten Lernerfolg, wenn der<br />
Gestaltung der zugehörigen HTML-Seiten<br />
angemessene Prinzipien zugr<strong>und</strong>e gelegt<br />
werden. Es wurde beispielsweise auf allen<br />
Seiten des Kurses ein weitgehend einheitliches<br />
optisches Layout <strong>und</strong> eine konsequente<br />
inhaltliche Darstellung durchgeführt. Dabei<br />
wird auf Ergebnisse der aktuellen Forschung<br />
zurückgegriffen, die z.B. von Blömeke (2003)<br />
umfassend beschrieben wurden.<br />
3.1 Optische Ebene<br />
Der Lernprozess in Online-Umgebungen wird<br />
bei den Studierenden als aktive <strong>und</strong> konstruktive<br />
Handlung vermutet. Daher ist es<br />
notwendig, dass der Lerner "Prozesse der<br />
Auswahl, der Organisation <strong>und</strong> der Verarbeitung<br />
von Information" (Schnotz 2001, 293)<br />
durchführt. Um ihn dabei zu unterstützen,<br />
wurden die Webseiten nach zwei wesentlichen<br />
Merkmalen gestaltet (vgl. Abb. 6):<br />
• 3-Spalten-Layout (Weigand et al. 2002),<br />
• Verwendung von Buttons.<br />
Mithilfe funktionsgeb<strong>und</strong>enener Buttons erkennt<br />
der Benutzer, ob <strong>im</strong> nebenstehenden<br />
Text eine Inhaltsübersicht gegeben wird, der<br />
Lehrstoff theoretisch dargestellt wird oder eine<br />
Aufgabe vorliegt. Die Buttons sind am linken<br />
Rand angeordnet. In der mittleren Spalte<br />
findet man passend zum jeweiligen Inhalt erklärende<br />
<strong>und</strong> beschreibende Texte. In der<br />
rechten Spalte sind ergänzend zum Text Bilder<br />
aufgeführt. Ebenso findet man hier Buttons,<br />
die auf Videos, WebMathematica-Aktivitäten<br />
oder Lösungstipps zu schwierigen<br />
Aufgaben hinweisen. Zusätzlich zu Text <strong>und</strong><br />
Video gibt es in dieser Spalte auch Bilderfolgen<br />
(wie oben beschrieben).<br />
Mayer (2001) hat in einer empirischen Studie<br />
festgestellt, dass durch Doppelcodierung<br />
bessere Lernergebnisse zu erwarten sind. Er<br />
bezeichnet dieses Ergebnis als Mult<strong>im</strong>ediaprinzip.<br />
Dementsprechend werden soweit<br />
möglich zu den Texten auch illustrierende<br />
Bilder präsentiert. Alle Bilder sind in räumlicher<br />
Nähe zum zugehörigen Text angeordnet.<br />
Es gibt Hinweise, dass die Anwendung<br />
dieses so genannten Kontiguitätsprinzips den<br />
Lernprozess erleichtert (Mayer 2001).<br />
Neben diesen optischen Prinzipien der Gestaltung<br />
wurden auch die Inhalte nach best<strong>im</strong>mten<br />
Regeln angeordnet.<br />
3.2 Inhaltliche Ebene<br />
Die Inhalte des Kurses werden gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
in drei Schritten an die Studierenden herangetragen(Exper<strong>im</strong>entieren-Vormachen-Anwenden<br />
<strong>—</strong> EVA):<br />
1. Exper<strong>im</strong>entieren: Zu Beginn jedes Unterabschnittes<br />
(z.B. Funktionen erk<strong>und</strong>en; s.<br />
Abb. 5) wird versucht, mit Exper<strong>im</strong>entieraufgaben<br />
(s. hierzu [5]) an den mathematischen<br />
Sachverhalt <strong>und</strong> die themenbezogene<br />
Arbeitsweise mit einem CAS heranzuführen.<br />
Dabei ist "Explorierendes Arbeiten<br />
mit dem Computer" eine zentrale <strong>und</strong><br />
wichtige Tätigkeit auch <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
(vom Hofe 2001) <strong>und</strong> sollte daher<br />
von den Studierenden am eigenen Leib<br />
erlebt werden.<br />
2. Vormachen: Nach der Phase des Entdeckens<br />
wird mithilfe von Text <strong>und</strong> Videos<br />
erklärt bzw. vorgemacht, wie man in Derive<br />
eine Problemlösung erreichen würde.<br />
3. Anwenden: Abschließend müssen die<br />
<strong>Lernen</strong>den die Lerninhalte anhand von<br />
Aufgaben selbst einüben.<br />
181
Wolfgang Weigel<br />
Neben dem Erwerb technischer Kompetenzen<br />
wird ein weiterer Schwerpunkt auf die<br />
kritische Reflektion des Mediums gesetzt.<br />
Wann, wie <strong>und</strong> in welchem Umfang nutzt<br />
man diese Medien? Oder auch: Welche Probleme<br />
können be<strong>im</strong> Einsatz auftreten?<br />
4 Akzeptanzstudie<br />
Es stellt sich die Frage, wie das gestalterische<br />
<strong>und</strong> mult<strong>im</strong>ediale Konzept des Kurses<br />
von den Studierenden angenommen wird.<br />
Zur Akzeptanz <strong>und</strong> zum Lernerfolg von Online-Kursen<br />
<strong>im</strong> Bereich der <strong>Mathematik</strong> gibt es<br />
bislang wenige Erkenntnisse. Der folgende<br />
Abschnitt liefert erste Einblicke in die Ergebnisse<br />
einer Akzeptanzstudie zum Kurs <strong>Mathematik</strong><br />
<strong>und</strong> Computer. Es wird <strong>im</strong> Detail auf<br />
Ziele <strong>und</strong> den inhaltlichen Untersuchungsgegenstand<br />
eingegangen. Auch auf die dabei<br />
eingesetzten Methoden wird ein besonderes<br />
Augenmerk gelegt. Abschließend werden die<br />
gewonnenen Erfahrungen diskutiert.<br />
4.1 Ziele<br />
Im Rahmen der Akzeptanzstudie ging es<br />
darum, Erkenntnisse zur Qualität, zu Gestaltung<br />
<strong>und</strong> Nutzbarkeit der Inhalte bzw. der<br />
Lehr-/Lernumgebung zu sammeln. Deshalb<br />
wurden die didaktische Angemessenheit des<br />
Kurses, die Nutzbarkeit der Plattform bzw.<br />
der Webseiten sowie der Lernerfolg der Teilnehmer<br />
des <strong>WWW</strong>-Kurses genauer untersucht<br />
(nach Schaumburg & Rittmann 2001).<br />
4.1.1 Didaktische Angemessenheit<br />
Es galt herauszufinden, ob der Kurs an das<br />
Vorwissen der Teilnehmer anknüpfte, ob es<br />
Lücken gab oder ob die Studierenden unterfordert<br />
waren. Eine weitere wichtige Frage<br />
dieses Bereichs lautete: Waren die Lernziele<br />
für die Beteiligten deutlich erkennbar?<br />
4.1.2 Usability<br />
Mit der Nutzbarkeit oder Usability (vgl. hierzu<br />
[6]) verbindet man Fragen nach der Erlernbarkeit<br />
<strong>im</strong> Umgang mit der Plattform oder<br />
auch danach, wie die Nutzer mit der Anordnung<br />
der Inhalte zurechtgekommen sind.<br />
4.1.3 Lernerfolg<br />
Die sicherlich schwierigste Frage, die es zu<br />
beantworten galt, zielte auf den erhofften<br />
Wissenszuwachs der Studierenden ab. Da<br />
182<br />
die Inhalte mult<strong>im</strong>edial aufbereitet waren <strong>und</strong><br />
die Lerner aktiv mit Lernobjekten umgehen<br />
konnten, stellte sich zunächst die bekannte<br />
Frage: "Was ist unter Lernerfolg zu verstehen?"<br />
(vgl. Baumgartner 1999)<br />
Diese Frage wurde für die Akzeptanzstudie<br />
in zwei Teile unterteilt:<br />
• Fragen zur CAS-Nutzung,<br />
• Fragen zum Ziel des Kurses.<br />
Im Zentrum des Interesses standen dabei:<br />
• Welche Medienangebote wurden von den<br />
Teilnehmern als nützlich eingestuft <strong>und</strong><br />
warum?<br />
• Wurden neue Möglichkeiten zum Computereinsatz<br />
<strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht wahrgenommen?<br />
• Ist dieser Selbstlernkurs als Vorbereitung<br />
auf den Lehrberuf geeignet?<br />
4.2 Mathematische Inhalte<br />
Die Ziele der Akzeptanzstudie wurden am<br />
achtteiligen Abschnitt Funktionen aus dem<br />
Bereich der Algebra überprüft. Zu Beginn<br />
wurden die Probanden anhand einer mehrstufigen<br />
Übersicht über die anstehenden Inhalte<br />
informiert. Im ersten Teilabschnitt wurden<br />
Gr<strong>und</strong>lagen zur Funktionsdarstellung<br />
mithilfe eines CAS vorgestellt. Exper<strong>im</strong>entelles<br />
Arbeiten mit Rechnerunterstützung, Gleichung-Tabelle-Graph-Darstellungen<br />
<strong>und</strong> Visualisierungen<br />
von Kurven waren weitere<br />
Themen. Der Umgang mit zusammengesetzten<br />
Funktionen <strong>und</strong> der Übergang zu Funktionen<br />
zweier Veränderlicher (z.B. anhand<br />
von Funktionsscharen) wurde ebenfalls thematisiert.<br />
Die Inhalte orientieren sich an den<br />
didaktischen Ideen von Vollrath (1999) sowie<br />
Weigand & Weth (2002). Abger<strong>und</strong>et wurde<br />
das Themenpaket mit Aufgaben zu allen vorher<br />
behandelten Bereichen.<br />
4.3 Methoden<br />
Durch den Einsatz von MM-Elementen erhofft<br />
man sich, dass die Lerner konstruktiv ihr<br />
Wissen erweitern <strong>und</strong> der Lernprozess gefördert<br />
wird. Will man eine Untersuchung dahingehend<br />
führen, stellt sich die Frage nach<br />
passenden Werkzeugen zur Evaluation.<br />
Baumgartner (1999) schlägt vor, dass aufgr<strong>und</strong><br />
der Interaktivität andere Arten der Evaluation<br />
gewählt werden müssen. Dementsprechend<br />
wurden zur Überprüfung der oben<br />
vorgestellten Ziele drei Instrumente eingesetzt<br />
<strong>und</strong> kombiniert:
Gestaltungsprinzipien <strong>und</strong> Erfahrungen zum virtuellen Selbstlernkurs: <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Computer<br />
1. Online-Fragebögen,<br />
2. Videoaufzeichnungen,<br />
3. Interviews.<br />
Zu 1: Vor Beginn der Testphase wurden von<br />
allen Beteiligten in einer zweiteiligen Befragung<br />
allgemeine Daten (Geschlecht, Semesterzahl,<br />
…), Medienkompetenz <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>wissen<br />
über Funktionen in Erfahrung gebracht.<br />
Am Ende des Tests wurde noch einmal<br />
dieses Gr<strong>und</strong>wissen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Kurs vermitteltes<br />
Fachwissen abgefragt. Zusätzlich wurden<br />
Daten zur Lernform (Selbstlernen),<br />
Übersichtlichkeit, Verständlichkeit, zu persönlichen<br />
Erfahrungen <strong>und</strong> zur Nützlichkeit<br />
der MM-Komponenten erhoben.<br />
Anhand dieser Daten war ein Vergleich "Vorher-Nachher"<br />
möglich. Eventuell aufgetretene<br />
Probleme <strong>im</strong> Umgang mit Computern oder<br />
den CAS-Anwendungen konnten in Bezug<br />
zur vorher analysierten Medienkompetenz<br />
der Gruppe gestellt werden. Weiterhin<br />
war ein Einblick in Bereiche der Usability <strong>und</strong><br />
des persönlichen Lernerfolgs möglich.<br />
Zu 2: Das Gesichtsfeld ausgewählter Personen<br />
wurde zusammen mit deren Tätigkeit am<br />
Rechner als Video aufgezeichnet (s. Abb. 7).<br />
lichkeit, MM-Elemente, Computereinsatz <strong>und</strong><br />
Selbsteinschätzung des Lernerfolgs eingegangen.<br />
In einem zweiten Teil wurden die<br />
Personen mit vorher ausgewählten (aus der<br />
Sicht des Interviewers interessanten) Szenen<br />
aus dem Video konfrontiert <strong>und</strong> dazu befragt.<br />
Mithilfe der Interviews war es möglich, Ergebnisse<br />
der Fragebögen zu hinterfragen<br />
<strong>und</strong> dadurch ein genaueres Bild der Sachlage<br />
zu erhalten (z.B. "Warum haben Sie das<br />
Medium Film als hilfreich empf<strong>und</strong>en?"). Aus<br />
den Videoprotokollen war ersichtlich, wie die<br />
Studierenden mit dem System umgehen <strong>und</strong><br />
an welchen Stellen bzw. Inhalten Probleme<br />
aufgetreten sind. Im Interview konnte direkt<br />
Bezug darauf genommen werden, <strong>und</strong> dadurch<br />
eröffnete sich die Chance, mehr <strong>und</strong><br />
genaue Informationen zu erhalten, warum<br />
<strong>und</strong> wieso diese Probleme auftraten.<br />
4.4 Ergebnisse<br />
Alle 32 Probanden arbeiteten in mehreren<br />
Gruppen in einem Computer-Pool für mindestens<br />
zwe<strong>im</strong>al 90 Minuten <strong>im</strong> Online-Kurs.<br />
Dabei handelte es sich um 17 Studierende<br />
mit durchschnittlich sechs Semestern Universitätserfahrung<br />
<strong>und</strong> um 15 Schüler der<br />
Abb. 7: Rechts erkennt man die M<strong>im</strong>ik des Probanden <strong>und</strong> links seine momentane Aktivität <strong>im</strong> Online-Kurs<br />
Hierdurch konnte die Arbeitsweise am Rech- Oberstufe mit Leistungskurs <strong>Mathematik</strong>.<br />
ner mit WebMathematica, Derive <strong>und</strong> der Den beteiligten Personen konnte ein durch-<br />
Lernplattform genauer untersucht werden. Es schnittlich gutes Wissen <strong>im</strong> Umgang mit dem<br />
gelang so, anhand der vielfältigen M<strong>im</strong>ik (Le- Computer zugeschrieben werden. Dies zeigt<br />
onard 1968) der Probanden tendenzielle sich daran, dass 31 von 32 Befragten einen<br />
Aussagen über die Wirkung der bearbeiteten Privatrechner besitzen <strong>und</strong> deutlich über<br />
Aufgaben, Texte <strong>und</strong> MM-Elemente zu ma- 80% den Computer für Office-Anwendungen<br />
chen.<br />
bzw. Email nutzen. Dabei war von besonde-<br />
Zu 3: Alle gefilmten Probanden wurden auch<br />
zu einem problembezogenen <strong>und</strong> konfrontierenden<br />
Interview eingeladen. Hierbei wurde<br />
auf Lernplattform, Lernmethode, Verständrem<br />
Interesse, dass fast 80% bereits Erfahrungen<br />
mit CAS hatten. Mit Video aufgezeichnet<br />
<strong>und</strong> interviewt wurden drei Studierende<br />
<strong>und</strong> ein Schüler.<br />
183
Wolfgang Weigel<br />
Ausgehend von den Zielen der Akzeptanzstudie,<br />
werden nun erste Erfahrungen <strong>und</strong><br />
Tendenzen berichtet.<br />
4.4.1 Didaktische Angemessenheit<br />
Angehende <strong>Mathematik</strong>studenten wird man<br />
vor allem unter der Gruppe der mathematikinteressierten<br />
Abiturienten finden. Diese Personengruppe<br />
wird sich <strong>im</strong> Studium mit den<br />
zu untersuchenden Materialien beschäftigen.<br />
Für Studierende <strong>und</strong> Schüler bietet der Kurs<br />
inhaltlich, auf der "technischen" Werkzeugebene,<br />
als auch auf Darstellungs- <strong>und</strong> Objektebene,<br />
neue Aspekte.<br />
Die Schüler bemängelten das sehr breite<br />
Schwierigkeitsspektrum des Kurses. Einige<br />
Inhalte (wie Funktionen zweier Veränderlicher<br />
oder Kurven) waren Ihnen nahezu unbekannt.<br />
Im Gegensatz dazu wurden Theorie<br />
<strong>und</strong> Aufgaben von den Studierenden als angemessen<br />
empf<strong>und</strong>en, woraus man folgern<br />
kann, dass die inhaltlichen Anforderungen<br />
des Kurses für das Zielklientel (Studenten)<br />
geeignet sind.<br />
Die Studierenden vermuteten als Ziel des<br />
Kurses, vor allem den Umgang mit CAS (z.B.<br />
Derive) zu erlernen. Dieses zunächst enttäuschende<br />
Ergebnis relativierte sich bei genauerer<br />
Nachfrage. Großteile der ersten Sitzung<br />
wurden damit verbraucht, den Umgang<br />
mit dem Lernsystem kennen zu lernen. Anfängliche<br />
Schwierigkeiten mit der korrekten<br />
Syntax in Derive bzw. WebMathematica lenkten<br />
die Aufmerksamkeit von didaktischen<br />
Fragestellungen ab. Als weiteres Problem<br />
wurde die "geringe" Zeit genannt. Die Befragten<br />
würden als reale Online-Studierende zuhause<br />
vermutlich mehr Zeit (als in einer Laborsituation)<br />
investieren.<br />
Um die Transparenz der Lernziele des Kurses<br />
zu überprüfen, hat sich der zeitliche Rahmen<br />
der Studie als zu eng erwiesen.<br />
4.4.2 Usability<br />
Wie bereits <strong>im</strong> vorherigen Punkt angedeutet,<br />
wurde die Nutzbarkeit der Lernplattform zu<br />
Beginn als gewöhnungsbedürftig eingestuft.<br />
Diese Schwierigkeit bestand allerdings in der<br />
zweiten Sitzung kaum mehr.<br />
Die gestalterische Aufbereitung der Inhalte<br />
entsprach den Vorstellungen der Probanden.<br />
Ein Teilnehmer bemerkte: "Die Inhalte sind<br />
sehr gut geordnet <strong>und</strong> ergeben auch einzeln<br />
Sinn."<br />
Zusammenfassend kann man feststellen,<br />
dass die Teilnehmer des <strong>WWW</strong>-Kurses eine<br />
184<br />
Einarbeitungszeit benötigten, dann aber effizient<br />
mit dem System arbeiten konnten.<br />
4.4.3 Lernerfolg<br />
Die Studierenden wurden konkret gefragt, ob<br />
sie durch den Kurs neue Möglichkeiten zum<br />
Computereinsatz <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
kennengelernt hätten. Diese Aussage wurde<br />
als durchschnittlich zutreffend (mit geringer<br />
positiver Tendenz) empf<strong>und</strong>en (5-teilige Likert-Skala<br />
gemäß Bortz & Döring (1995): Mittelwert<br />
3, Ergebnis: 3.44 ± 1.46). Weiterhin<br />
wurde gefragt, ob das Selbstlernmodul als<br />
eine gute Vorbereitung auf den Lehrberuf<br />
angesehen werden kann. Die Probanden<br />
stuften diese Aussage ebenfalls als durchschnittlich<br />
zutreffend ein mit geringer negativer<br />
Tendenz: Mittelwert 3, Ergebnis:<br />
2.69 ± 1.04).<br />
Aus Videoprotokollen konnte in Erfahrung<br />
gebracht werden, dass wenig Reflektions<strong>und</strong><br />
Diskussionsaufgaben bearbeitet wurden.<br />
Als Gr<strong>und</strong> hierfür wurde <strong>im</strong> Interview erneut<br />
die geringe Zeit <strong>und</strong> der Schwerpunkt auf<br />
Problemen <strong>im</strong> Umgang mit dem CAS geäußert.<br />
Daher stand der Erwerb einer (notwendigen)<br />
Werkzeugkompetenz <strong>im</strong> Mittelpunkt<br />
der Probanden. Einigen waren aus früher<br />
besuchten Seminaren Möglichkeiten zum<br />
Computereinsatz <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
bereits bekannt.<br />
Über drei Viertel der beteiligten Personen<br />
waren dennoch der Überzeugung, etwas gelernt<br />
zu haben. Aufgr<strong>und</strong> der vorher beschriebenen<br />
Dominanz von CAS-Anwendungen<br />
(aus der Sicht der Teilnehmer) <strong>und</strong> den<br />
anfänglich damit verb<strong>und</strong>en Problemen,<br />
könnte man vermuten, dass der Kurs als<br />
CAS-Training verstanden wurde. Diese Aussage<br />
trifft erneut nur durchschnittlich zu (mit<br />
geringer Tendenz zur Ablehnung:<br />
2.88 ± 0.99).<br />
Die beteiligten Studenten waren der Meinung,<br />
dass die <strong>im</strong> Kurs eingesetzten MM-<br />
Elemente ihnen das <strong>Lernen</strong> erleichtert haben<br />
(4.38 ± 0.99). Besonders nützlich wurden<br />
hierbei die Videos eingestuft (4.82 ± 0.38).<br />
Der Einsatz von Derive wurde tendenziell<br />
nützlicher (4.19 ± 0.73) als der von Web-<br />
Mathematica empf<strong>und</strong>en (3.44 ± 1.27).<br />
4.5 Fazit der Befragung<br />
Die Ergebnisse lassen auf ein st<strong>im</strong>miges<br />
MM-Konzept schließen. Vor allem Videos<br />
wurden positiv bewertet, da man hier nach<br />
Aussage der Probanden bei Problemen
Gestaltungsprinzipien <strong>und</strong> Erfahrungen zum virtuellen Selbstlernkurs: <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Computer<br />
schneller <strong>und</strong> einfacher nachschauen konnte<br />
als <strong>im</strong> Text. Es hat sich auch gezeigt, dass<br />
Videos wirklich mehrmals aufgerufen wurden.<br />
WebMathematica-Seiten sind einfach zu<br />
bedienen <strong>und</strong> befassen sich mit einem konkreten<br />
Problem. Derive erwartet vom Nutzer<br />
mehr Kompetenz, dafür hat er aber die volle<br />
Freiheit in der Anwendung. Man erkennt<br />
deutlich zwei unterschiedliche Philosophien,<br />
die sich auch ansatzweise in der Befragung<br />
der Probanden zeigten. Einige bevorzugten<br />
Bedienungskomfort <strong>und</strong> nahmen wissentlich<br />
Einschränkungen kreativer Möglichkeiten in<br />
Kauf. Andere bevorzugten das offene System,<br />
um alle mathematischen Ideen sofort<br />
verfolgen zu können. Es hat sich auch angedeutet,<br />
dass von leistungsstärkeren Teilnehmern<br />
das offene Derive bevorzugt wird. Leistungsschwächere<br />
neigen eher zum einfachen<br />
<strong>und</strong> geleiteten System. Allerdings basieren<br />
diese Vermutungen auf persönlichen Erfahrungen<br />
mit den Probanden.<br />
5 Zusammenfassung <strong>und</strong><br />
Diskussion<br />
Dieser Aufsatz hat eine Möglichkeit zur Umsetzung<br />
eines Online-Kurses <strong>im</strong> Bereich der<br />
Algebra beschrieben. Schwerpunkte waren<br />
dabei Regeln zur sinnvollen Inhaltsaufbereitung<br />
<strong>und</strong> Ansätze zum reflektierbaren Einsatz<br />
von MM-Elementen.<br />
Die Untersuchungsergebnisse der Akzeptanzstudie<br />
zeigen in den Punkten Angemessenheit<br />
<strong>und</strong> Verwendbarkeit der Lernplattform<br />
bzw. Lerninhalte ein positives Feedback.<br />
Die Studierenden stuften die mathematischen<br />
Inhalte als angemessen ein. Es hat<br />
sich deutlich gezeigt, dass der Umgang mit<br />
der Lernplattform zunächst erlernt werden<br />
muss, bevor ein inhaltliches Arbeiten möglich<br />
ist.<br />
Auch das MM-Konzept scheint nach subjektiven<br />
Einschätzungen der Teilnehmer geeignet<br />
zu sein, um den Lernerfolg zu fördern.<br />
Besonders Videos wurden zur Lösung von<br />
aufgetretenen Problemen herangezogen. Alle<br />
bereitgestellten MM-Ressourcen (z.B.<br />
WebMathematica, Derive, Text) wurden als<br />
nützlich empf<strong>und</strong>en. Allerdings fehlen noch<br />
genauere Erkenntnisse, was diese MM-Elemente<br />
für die Teilnehmer so hilfreich macht.<br />
Ob sich best<strong>im</strong>mte Medien auch wirklich st<strong>im</strong>ulierend<br />
auf leistungsstarke bzw. leistungsschwächere<br />
<strong>Lernen</strong>de auswirken, kann aufgr<strong>und</strong><br />
der geringen Teilnehmerzahl nur vermutet<br />
werden, obwohl sich erste Tendenzen<br />
abzeichnen. Weitere Forschungen sind unumgänglich<br />
um diese offene Frage genauer<br />
zu untersuchen.<br />
Inwieweit alle gewonnenen Ergebnisse in einer<br />
realen Lernsituation (alleine <strong>und</strong> zuhause)<br />
reproduzierbar sind, gilt es ebenfalls zu<br />
überprüfen. In diesem Fall ist damit zu rechnen,<br />
dass der bemängelte knappe zeitliche<br />
Rahmen des Tests <strong>und</strong> die daraus resultierenden<br />
Folgen in den Hintergr<strong>und</strong> treten.<br />
Literatur<br />
Baumgartner, P. (1999): Evaluation mediengestützten<br />
<strong>Lernen</strong>s. In: Michael Kindt (Hrsg.)<br />
(1999): Projektevaluation in der Lehre. Mult<strong>im</strong>edia<br />
an Hochschulen zeigt Profil(e). Münster:<br />
Waxmann, 63–99<br />
Bortz, J. & Nicola Döring (1995): Forschungsmethoden<br />
<strong>und</strong> Evaluation für Sozialwissenschaftler.<br />
Berlin: Springer, 2. Auflage, Kapitel 4<br />
Blömeke, Sigrid (2003): <strong>Lehren</strong> <strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> mit<br />
Neuen Medien <strong>—</strong> Forschungsstand <strong>und</strong> Perspektiven.<br />
In: Unterrichtswissenschaft 31, 57–<br />
82<br />
Bruns, B. & P. Gajewski (2002): Mult<strong>im</strong>ediales<br />
<strong>Lernen</strong> <strong>im</strong> Netz. Berlin: Springer<br />
Chambel, T. & N. Gu<strong>im</strong>areaes (2000): Communicating<br />
and Learning Mathematics with Hypervideo.<br />
In: J. Borwein et al. (Hrsg.) (2000): Mult<strong>im</strong>edia<br />
Tools for communicating mathematics.<br />
Berlin: Springer, Kapitel 6<br />
Haack, Johannes (2002): Interaktivität als Kennzeichen<br />
von Mult<strong>im</strong>edia <strong>und</strong> Hypermedia. In:<br />
Issing & Kl<strong>im</strong>sa (2002), 151–166<br />
Hofe, Rudolf vom (2001): Funktionen erk<strong>und</strong>enmit<br />
dem Computer. In: mathematik lehren 105,<br />
54–58<br />
Issing, Ludwig J. & Paul Kl<strong>im</strong>sa (Hrsg.) (2002): Information<br />
<strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> mit Mult<strong>im</strong>edia <strong>und</strong> <strong>Internet</strong>.<br />
Weinhe<strong>im</strong>: Beltz, 3. Auflage<br />
Leonard, K. (1968): Der menschliche Ausdruck.<br />
Leipzig: Barth<br />
Mandl, Heinz & A. Weinberger (2001): Wandel<br />
des <strong>Lernen</strong>s durch Neue Medien <strong>—</strong> das virtuelle<br />
Seminar "Empirische Erhebungs- <strong>und</strong><br />
Auswertungsverfahren". In: F. Hesse & H.<br />
Friedrich (Hrsg.) (2001): Partizipation <strong>und</strong> Interaktion<br />
<strong>im</strong> virtuellen Seminar. Münster:<br />
Waxmann, 243–268<br />
Mayer, R. (2001): Mult<strong>im</strong>edia Learning. Cambridge:<br />
Cambridge University Press<br />
Ridder, C.-M. (2002): Onlinenutzung in Deutschland.<br />
In: Media Perspektiven 3, 121–131<br />
Schaumburg, H. & S. Rittmann (2001): Evaluation<br />
des Web-basierten <strong>Lernen</strong>s <strong>—</strong> Ein Überblick<br />
über Werkzeuge <strong>und</strong> Methoden. In: Unterrichtswissenschaft<br />
29, 342–356<br />
Schnotz, W. (2001): Wissenserwerb mit Mult<strong>im</strong>edia.<br />
In: Unterrichtswissenschaft 29, 293–318<br />
185
Wolfgang Weigel<br />
Schulmeister, Rolf (2002): Taxonomie der Interaktivität<br />
von Mult<strong>im</strong>edia <strong>—</strong> Ein Beitrag zu aktuellen<br />
Metadaten-Diskussion. In: it+ti 4, 193–199<br />
Vollrath, Hans-Joach<strong>im</strong> (1999): Algebra in der Sek<strong>und</strong>arstufe.<br />
Mannhe<strong>im</strong>: BI Wissenschaftsverlag<br />
Weidenmann, B. (2002): Multicodierung <strong>und</strong> Mult<strong>im</strong>odalität<br />
<strong>im</strong> Lernprozess. In: Issing & Kl<strong>im</strong>sa<br />
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Kommunikation in der Lehramtsausbildung. In:<br />
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Weigand, Hans-Georg & Thomas Weth (2002):<br />
Computer <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht. Heidelberg<br />
u.a.: Spektrum<br />
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186<br />
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Austria, CD, bk teachware Series "Support in<br />
Learning" no. SR-31<br />
Weigel, Wolfgang (2003a): Employment of Media<br />
in an <strong>Internet</strong> Supported Learning Platform<br />
with Madin Serving as an Example. In: P.<br />
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International Conference <strong>WWW</strong>/<strong>Internet</strong> 2003,<br />
IADIS Press, 1195–1198<br />
Weigel, Wolfgang (2003b): WebMathematica Online<br />
<strong>—</strong> Ein Beispiel aus der Sek<strong>und</strong>arstufe II.<br />
In: Der <strong>Mathematik</strong>unterricht 49, Heft 4, 44–51<br />
[1] http://www.medien-bildung.net/projekte/projekte_uebersicht_db.php/alle/projekte/0/4/<br />
[2] http://www.virtuelle-hochschule.de<br />
[3] http://www.vhb.org<br />
[4] http://www.wolfram.com/products/webmathematica/examples/<br />
[5] http://www.sembs.rv.bw.schule.de/forum/_disc/00000029.htm<br />
[6] http://www.usability.at/
� Der ClassPad 300 von Casio *<br />
Jens Weitendorf, Norderstedt<br />
Im Folgenden werden an Hand von einigen Beispielen einige Möglichkeiten beschrieben,<br />
die man be<strong>im</strong> Unterrichtseinsatz dieses Rechners hat. Hierzu hat es in Dillingen sowohl<br />
einen Vortrag als auch eine Arbeitsgruppe gegeben. In diesem Artikel werden sowohl der<br />
Vortrag als auch die Ergebnisse der Arbeitsgruppe wiedergegeben.<br />
Beispiele aus dem Unterricht<br />
Im Rahmen dieses Artikels ist es nicht möglich,<br />
die Fähigkeiten des Rechners auch nur<br />
ansatzweise darzustellen. Um trotzdem einen<br />
Eindruck zu bekommen, werden <strong>im</strong> Folgenden<br />
drei Beispiele für den Einsatz exemplarisch<br />
beschrieben.<br />
Das Einkommenssteuergesetz<br />
Das aktuelle Gesetz findet man <strong>im</strong> <strong>Internet</strong><br />
unter der folgenden Adresse: http://b<strong>und</strong>esre<br />
cht.juris.de/b<strong>und</strong>esrecht/estg/index.html<br />
(Stand September 2003). Ich denke, dass es<br />
für unterrichtliche Zwecke günstiger ist, vom<br />
direkten Text auszugehen, als Tabellen zu<br />
benutzen, die leichter zu finden sind. Zum<br />
Zwecke der besseren Lesbarkeit wurde das<br />
"x" aus dem Originaltext durch "*" ersetzt.<br />
Beide Zeichen sind als Multiplikation zu interpretieren.<br />
Das Gesetz für das Jahr 2002 lautet folgendermaßen:<br />
Der Einkommensteuertarif:<br />
"(1) 1 Die tarifliche Einkommensteuer bemisst<br />
sich nach dem zu versteuernden Einkommen.<br />
2 Sie beträgt vorbehaltlich der §§ 32b,<br />
34, 34b <strong>und</strong> 34c jeweils in Euro für zu versteuernde<br />
Einkommen<br />
1. bis 7.235 Euro (Gr<strong>und</strong>freibetrag):<br />
0;<br />
2. von 7.236 Euro bis 9.251 Euro:<br />
(768,85 * y + 1.990) * y;<br />
3. von 9.252 Euro bis 55.007 Euro:<br />
(278,65 * z + 2.300) * z + 432;<br />
4. von 55.008 Euro an:<br />
0,485 * x - 9.872.<br />
3<br />
"y" ist ein Zehntausendstel des 7.200 Euro<br />
übersteigenden Teils des nach Absatz 2 ermittelten<br />
zu versteuernden Einkommens. 4 "z"<br />
ist ein Zehntausendstel des 9.216 Euro über-<br />
steigenden Teils des nach Absatz 2 ermittelten<br />
zu versteuernden Einkommens. 5 "x" ist<br />
das nach Absatz 2 ermittelte zu versteuernde<br />
Einkommen.<br />
(2) Das zu versteuernde Einkommen ist auf<br />
den nächsten durch 36 ohne Rest teilbaren<br />
vollen Euro-Betrag abzur<strong>und</strong>en, wenn es<br />
nicht bereits durch 36 ohne Rest teilbar ist,<br />
<strong>und</strong> um 18 Euro zu erhöhen.<br />
(3) 1 Die zur Berechnung der tariflichen Einkommensteuer<br />
erforderlichen Rechenschritte<br />
sind in der Reihenfolge auszuführen, die sich<br />
nach dem Horner-Schema ergibt. 2 Dabei sind<br />
die sich aus den Multiplikationen ergebenden<br />
Zwischenergebnisse für jeden weiteren Rechenschritt<br />
mit drei Dez<strong>im</strong>alstellen anzusetzen;<br />
die nachfolgenden Dez<strong>im</strong>alstellen sind<br />
fortzulassen. 3 Der sich ergebende Steuerbetrag<br />
ist auf den nächsten vollen Euro-Betrag<br />
abzur<strong>und</strong>en.<br />
(4) (weggefallen)<br />
(5) Bei Ehegatten, die nach den §§ 26, 26b<br />
zusammen zur Einkommensteuer veranlagt<br />
werden, beträgt die tarifliche Einkommensteuer<br />
vorbehaltlich der §§ 32b, 34, 34b <strong>und</strong><br />
34c das Zweifache des Steuerbetrags, der<br />
sich für die Hälfte ihres gemeinsam zu versteuernden<br />
Einkommens nach den Absätzen<br />
1 bis 3 ergibt (Splitting-Verfahren)."<br />
Für den Unterricht wird es zunächst eine lohnende<br />
Aufgabe sein, eine Tabelle zu erstellen.<br />
Dieses lässt sich am einfachsten mit einer<br />
Tabellenkalkulation bewerkstelligen. Hier<br />
bestehen zunächst keine Unterschiede zwischen<br />
Excel <strong>und</strong> dem Spreadsheet von Casio,<br />
wenn man einmal von der Größe des<br />
Bildschirmes absieht, was natürlich für alle<br />
Anwendungen in Bezug auf Taschenrechner<br />
gilt. In der bisherigen Version des Spreadsheets<br />
lässt sich der "WENN"-Befehl von Excel<br />
nicht übertragen. Da die Teilfunktionen<br />
für die Steuer recht kompliziert sind, ergibt<br />
sich die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist,<br />
* Teilnehmende der AG "Der ClassPad 300 von Casio" unter der Leitung von Jens Weitendorf: Norbert Christmann, Olaf Fergen, Reinhold Thode,<br />
Karel Tschacher<br />
187
Jens Weitendorf<br />
einen Ausdruck der folgenden Art einzugeben:<br />
=WENN(A2
F(x) := x 2<br />
F( a + h)<br />
− f(<br />
a)<br />
M(a, h) :=<br />
h<br />
VECTOR([a, M(a, 0.000001)], a, 0, 4, 0.1)<br />
Zunächst muss eine Funktion definiert werden.<br />
Danach wird ein "h" best<strong>im</strong>mt, so dass<br />
sich Sekanten- <strong>und</strong> Tangentensteigung nur<br />
noch geringfügig unterscheiden. Die letzte<br />
Zeile erzeugt eine Punktfolge von "Ableitungswerten",<br />
die sich grafisch darstellen <strong>und</strong><br />
interpretieren lässt.<br />
Abb. 4: Der Graph der Funktion f(x) = x 2 <strong>und</strong> der "Ableitung"<br />
Entsprechendes lässt sich auch mit dem<br />
ClassPad machen. In DERIVE werden die<br />
Ableitungswerte durch den Differenzenquotienten<br />
erzeugt. Bei der Bearbeitung mit dem<br />
Casio-Rechner geschieht dies grafisch so,<br />
wie die folgende Schilderung des Ablaufes<br />
zeigt.<br />
Neben dem oben schon erwähnten Spreadsheet<br />
hat der Rechner noch die folgenden<br />
Anwendungsbereiche.<br />
Abb. 5: Lehrgebiete des Rechners (Verborgen sind die<br />
Bereiche: Programm, Kommunikation, System <strong>und</strong><br />
Spreadsheet)<br />
Was den Rechner gegenüber anderen auszeichnet<br />
ist der eActivity-Bereich, der hier benutzt<br />
wird, um Ableitungen grafisch zu best<strong>im</strong>men<br />
<strong>und</strong> zu visualisieren. In diesem Bereich<br />
ist es möglich, die Gebiete des Class-<br />
Pad miteinander zu verknüpfen. Auch dies<br />
Der ClassPad 300 von Casio<br />
wird am Beispiel deutlich. Man geht in den<br />
eActivity-Bereich hinein <strong>und</strong> öffnet ein Geometrie-Fenster.<br />
Hier lassen sich auch Graphen<br />
von Funktionen mit Koordinatensystemen<br />
zeichnen. Ist der Graph zum Beispiel für<br />
f(x) = x 3 erzeugt, lässt sich an einem beliebigen<br />
Punkt die Tangente einzeichnen. Mit Hilfe<br />
einer An<strong>im</strong>ation kann man den Punkt, an<br />
dem die Tangente konstruiert wurde, auf<br />
dem Graphen wandern lassen. Neben diesem<br />
grafischen Wandern werden gleichzeitig<br />
numerisch Werte für die Tangentensteigungen<br />
erzeugt. Diese lassen sich dann wiederum<br />
so darstellen, wie die folgende Abbildung<br />
zeigt.<br />
Abb. 6: Der Graph der Funktion f(x) = x 3 <strong>und</strong> der Graph<br />
der "Ableitung"<br />
Es fällt auf, dass der Graph der "Ableitungsfunktion"<br />
an der Stelle x=0 nicht dem von x 2<br />
entspricht. Dies zeigt, dass die "Ableitung"<br />
numerisch erzeugt worden ist. Durch Interpolation<br />
ergibt sich die "Gerade" um 0. Der<br />
Graph lässt sich "verbessern", wenn man bei<br />
der An<strong>im</strong>ation mehr Schritte durchführt. Auf<br />
der anderen Seite erfährt man ganz <strong>im</strong> Sinne<br />
von Hischer (2002) auf diese Weise etwas<br />
über die Arbeitsweise des Gerätes. Genau<br />
wie bei DERIVE muss auch jetzt noch von<br />
den Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern eine Funktionsgleichung<br />
für den Graphen gef<strong>und</strong>en<br />
werden. Der ClassPad bietet noch die Möglichkeit,<br />
die Ableitungswerte in den Bereich<br />
Statistik zu übertragen. Mit Hilfe einer quadratischen<br />
Regression lässt sich dann die<br />
Gleichung ermitteln. Für den Lernerfolg der<br />
Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler ist es aber günstiger,<br />
wenn sie die Gleichungen von Funktionen,<br />
deren Graph gegeben ist, ohne Regression<br />
ermitteln.<br />
189
Jens Weitendorf<br />
Ich habe <strong>im</strong> Unterricht sowohl das Verfahren<br />
mit DERIVE als auch mit dem Casio-Rechner<br />
durchgeführt. Nach meiner Erfahrung war jedes<br />
Mal bei den Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern<br />
die eigentliche Definition der Ableitung als<br />
Grenzwert von Differenzenquotienten nach<br />
einiger Zeit nicht mehr präsent. Das gleiche<br />
Phänomen ist aber auch zu beobachten,<br />
wenn die Ableitungsregeln auf herkömmliche<br />
Art hergeleitet werden. Dass dies so ist, hat<br />
wahrscheinlich tiefere Gründe, die damit zu<br />
tun haben, dass unser Unterricht <strong>im</strong>mer noch<br />
zu sehr ergebnisorientiert ist <strong>und</strong> die Idee<br />
des Herleitungsprozesses in den Hintergr<strong>und</strong><br />
tritt. Wenn es gelingt, die Bedeutung von<br />
Prozessen bei den Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern<br />
zu verankern, werden unter Umständen<br />
die beiden oben beschriebenen rechnergestützten<br />
Verfahren zu anderen Ergebnissen<br />
führen. Zumindest wird die Eigenständigkeit<br />
gefördert, da bei der formalen Herleitung der<br />
Ableitung, die <strong>im</strong> Allgemeinen <strong>im</strong> Frontalunterricht<br />
geschieht, Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler,<br />
wenn überhaupt, nur passiv beteiligt sind.<br />
Dass sowohl DERIVE, als auch der Class-<br />
Pad in der Lage sind, Ableitungen direkt zu<br />
best<strong>im</strong>men, macht es natürlich noch schwieriger,<br />
den oben beschriebenen Prozess zur<br />
Hinführung zur Ableitungsfunktion bei den<br />
Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern zu verankern.<br />
Verlegung eines Telefonkabels<br />
Bei dem folgenden Beispiel, das von Herrn<br />
Tschacher zur Verfügung gestellt wurde,<br />
handelt es sich um ein Opt<strong>im</strong>ierungsproblem.<br />
Die Darstellung <strong>im</strong> Rahmen dieses Artikels<br />
ist schwierig, da sich die Interaktionen nur<br />
beschreibend darstellen lassen. Das Beispiel<br />
soll verdeutlichen, wie sich Schüleraktivitäten<br />
be<strong>im</strong> Lösen von Problemen unterstützen lassen.<br />
Die Aufgabe wird <strong>im</strong> eActivity-Bereich<br />
gestellt <strong>und</strong> bearbeitet. Zunächst wird das<br />
Problem <strong>im</strong> Textbereich beschrieben:<br />
"Telefonkabel<br />
Die Differentialrechnung ermöglicht es, Antworten<br />
auf Fragen zu geben, die anders nur<br />
mit viel Mühe zu finden sind.<br />
Ein Problem der Wirtschaft ist es, eine besonders<br />
billige Lösung zu suchen, um max<strong>im</strong>alen<br />
Gewinn zu erzielen."<br />
Dann erscheint ein Fenster, das mit Voraussetzungen<br />
betitelt ist.<br />
Durch Anklicken der Zeile <strong>im</strong> eActivity-<br />
Bereich halbiert sich das große Fenster, <strong>und</strong><br />
es öffnet sich das untere Fenster mit dem<br />
entsprechenden Inhalt. Auf die gleiche Art ist<br />
es möglich, den Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern<br />
190<br />
Hilfe anzubieten. Sie können dann für sich<br />
selbst entscheiden, ob sie diese Hilfe wollen<br />
oder nicht.<br />
Abb. 7: eActivity-Fenster mit "verborgenem" Inhalt<br />
Als nächstes wird das Problem gemäß folgender<br />
Abbildung beschrieben.<br />
Abb. 8: Allgemeine Beschreibung des Problems<br />
Die zur Lösung notwendigen Hintergr<strong>und</strong>informationen<br />
findet man, wenn man das Fenster<br />
öffnet. Angegeben ist Folgendes:<br />
Stationen: E <strong>und</strong> C, Uferlinie AB, Übergang<br />
Land/Wasser D, E liegt <strong>im</strong> Wasser<br />
Kosten: <strong>im</strong> Wasser 255000 Euro/km; an<br />
Land 120000 Euro/km<br />
Entfernungen: C zum Ufer 10 km, E zum<br />
Ufer 8 km, AB 16 km<br />
Der folgende Bildschirm zeigt die Fragestellungen
Abb. 9: Fragestellungen<br />
In den Lösungshinweisen werden Tipps gegeben<br />
wie, dass der Schnittpunkt von CE mit<br />
dem Ufer ermittelt werden muss <strong>und</strong> dass<br />
Strahlensätze <strong>und</strong> der Satz des Pythagoras<br />
bei der Lösung helfen könnten. Mit Hilfe einer<br />
An<strong>im</strong>ation lassen sich verschiedene "Lösungen"<br />
darstellen.<br />
Abb. 10: Darstellung des Problems<br />
Der Punkt D wandert bei der An<strong>im</strong>ation auf<br />
der Strecke AB, <strong>und</strong> die entsprechenden<br />
Strecken werden sichtbar. Es ist aber leider<br />
nicht möglich, wie man es von der dynamischen<br />
Geometrie her kennt, die benötigten<br />
Strecken zu messen, wodurch eine exper<strong>im</strong>entelle<br />
grafische Lösung möglich wäre.<br />
Auch zur Aufgabe 2 gibt es noch weitere Lösungshinweise,<br />
die sich darauf beziehen,<br />
dass man zunächst die Kosten für einen Weg<br />
über D allgemein findet <strong>und</strong> dann das Min<strong>im</strong>um<br />
der Funktion sucht. In einem weiteren<br />
Der ClassPad 300 von Casio<br />
Aufgabenteil wird die Problemstellung durch<br />
die Einführung eines Sperrgebietes in der<br />
Mitte der Strecke AB variiert.<br />
Ergebnisse der Arbeitsgemeinschaft<br />
Auf einiges, was uns verbesserungswürdig<br />
erscheint, wurde schon oben <strong>im</strong> Rahmen der<br />
Beschreibung der Beispiele hingewiesen. Als<br />
besondere Vorteile erscheinen uns die folgenden:<br />
1) Wie es vor allem exemplarisch <strong>im</strong> dritten<br />
Beispiel beschrieben worden ist, bietet<br />
der Rechner durch den eActivity-Bereich<br />
die Möglichkeit des eigenverantwortlichen<br />
Arbeitens. Zu diskutieren wäre aber auch<br />
hier die Frage der Anleitungen. Durch<br />
sehr viele solcher Anleitungen wird sicher<br />
keine große Eigenständigkeit erreicht. Ein<br />
Vorteil ist, dass diese, wie oben beschrieben,<br />
verdeckt gegeben werden können.<br />
Die Eigenständigkeit der Schülerinnen<br />
<strong>und</strong> Schüler besteht dann auch darin zu<br />
entscheiden, ob man eine Hilfestellung<br />
haben möchte oder nicht. Eine Überprüfung,<br />
ob Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler die Hilfestellung<br />
nutzen, ist direkt nicht möglich.<br />
2) Die obigen Beispiele haben gezeigt, dass<br />
sich mit dem ClassPad 300 funktionale<br />
Arbeitsblätter herstellen lassen.<br />
3) Der ClassPad kann relativ einfach mit einem<br />
Computer verb<strong>und</strong>en werden. Dadurch<br />
kann eine Bibliothek von Arbeitsblättern<br />
ins Netz gestellt werden (die <strong>Internet</strong>adressen<br />
sind unten angegeben).<br />
Solche Programme <strong>und</strong> Blätter können<br />
dank entsprechender Software auch direkt<br />
auf dem Computer verarbeitet <strong>und</strong> für<br />
die eigene Lerngruppe modifiziert werden.<br />
Inwieweit dieser Rechner den Unterricht <strong>im</strong><br />
Vergleich zu anderen Rechnern oder Computern<br />
mit ähnlicher Software anders beeinflusst,<br />
muss noch genauer untersucht <strong>und</strong><br />
diskutiert werden.<br />
Literatur<br />
Hischer, Horst (2002): <strong>Mathematik</strong> <strong>und</strong> Neue Medien.<br />
Hildeshe<strong>im</strong> & Berlin: Franzbecker<br />
www.classpad.de -> Emulator<br />
classpad.net (ohne www!) -> eActivity / Beispiele<br />
191
� Wie lernen Studierende in internetgestützten Lehrveranstaltungen?<br />
1 MaDiN <strong>—</strong> Eine internetgestützte<br />
Lernumgebung<br />
Das Verb<strong>und</strong>projekt "Entwicklung einer dezentralen<br />
internetbasierten Lehr-Lern-Umgebung<br />
für das Lehramtsstudium <strong>Mathematik</strong>"<br />
wird an den Universitäten Würzburg, Münster<br />
<strong>und</strong> Erlangen-Nürnberg sowie der TU Braunschweig<br />
durchgeführt (vgl. Weth 2003). Es<br />
wird vom B<strong>und</strong>esministerium für Bildung <strong>und</strong><br />
Forschung (BMBF) <strong>im</strong> Rahmen des Programms<br />
"Neue Medien in der Bildung" gefördert<br />
(Laufzeit Januar 2001 bis Dezember<br />
2003).<br />
Das zentrale Ziel des Projekts ist die Anreicherung<br />
von Präsenzlehre durch virtuelle<br />
Komponenten; <strong>—</strong> es handelt sich um eine<br />
hybride Form des <strong>Lernen</strong>s mit dem <strong>Internet</strong><br />
(Döring 2002, 254ff). Die hierfür zu erstellende<br />
internetbasierte Lehr-Lern-Umgebung umfasst<br />
mittlerweile<br />
• eine interaktive, <strong>im</strong> <strong>WWW</strong> verfügbare<br />
Wissensbasis für das Lehramtsstudium<br />
<strong>Mathematik</strong>,<br />
• ein Diskussionsforum,<br />
• weitere Komponenten zur Verwaltung <strong>und</strong><br />
Autorentools.<br />
Die interaktive Wissensbasis mit der Bezeichnung<br />
"<strong>Mathematik</strong>-Didaktik <strong>im</strong> Netz"<br />
(kurz: MaDiN) ist <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> frei zugänglich<br />
(www.madin.net). Sie soll bei Projektende<br />
wichtige Standardthemen der <strong>Mathematik</strong><br />
<strong>und</strong> ihrer Didaktik für das Lehramtsstudium<br />
abdecken. Es handelt sich dabei um ein typisches<br />
Hypertext-System, das mit jedem üblichen<br />
Browser gelesen werden kann (Schulmeister<br />
2002, 19ff, Tergan 2002)<br />
Die Wissensbasis MaDiN ist in verschiedene<br />
Module gegliedert, die sich<br />
192<br />
Gerald Wittmann, Würzburg<br />
An der Universität Würzburg <strong>und</strong> der PH Weingarten wurde <strong>im</strong> WS 02/03 jeweils eine<br />
Lehrveranstaltung zur Didaktik der Geometrie mit der internetgestützten Wissensbasis<br />
MaDiN durchgeführt. So konnten die Studierenden neben üblichen Präsenzphasen auch<br />
eigenständig Lerninhalte online bearbeiten <strong>und</strong> Beiträge für ein Diskussionsforum schreiben.<br />
Die Lehrveranstaltungen wurden formativ evaluiert: Den Kern der Evaluation bildeten<br />
offene Interviews, in denen die Studierenden ihre Erfahrungen aus der jeweiligen<br />
Lehrveranstaltung schilderten. Daraus ergeben sich wichtige Folgerungen für die Gestaltung<br />
vorlesungsbegleitender Lernangebote.<br />
• einerseits mit jahrgangsstufen- <strong>und</strong> inhaltsübergreifenden<br />
Leitlinien oder Aspekten<br />
des Geometrieunterrichts befassen<br />
(z.B. Beweisen <strong>und</strong> Argumentieren, Konstruieren),<br />
• andererseits jahrgangsstufen- <strong>und</strong> inhaltsspezifisch<br />
einzelne Teilgebiete des Geometrieunterrichts<br />
behandeln (z.B. ebene<br />
Geometrie in Klasse 5/6, Ähnlichkeitsgeometrie<br />
in Klasse 9).<br />
Die einzelnen Module können wiederum aus<br />
mehreren Teilmodulen bestehen. Jedes Modul<br />
bzw. Teilmodul ist einheitlich strukturiert<br />
<strong>und</strong> enthält folgende Elemente: Eine kurze<br />
Übersicht, Theorie (zur Didaktik der Geometrie),<br />
Beispiele (mit Unterrichtsbezügen),<br />
Übungen <strong>und</strong> Aktivitäten für die Studierenden<br />
sowie Materialien zum Download, Literaturhinweise<br />
<strong>und</strong> Links. Einen besonderen<br />
Schwerpunkt bilden die Übungen <strong>und</strong> weitere<br />
Aktivitäten, die ein breites Spektrum umfassen:<br />
Es gibt Arbeitsaufträge,<br />
• die interaktiv direkt am Computer bearbeitet<br />
werden können (z.B. elektronische Arbeitsblätter<br />
auf der Basis von Cinderella);<br />
• die nicht unmittelbar am Computer stattfindende<br />
Aktivitäten fordern (z.B. Anfertigen<br />
<strong>und</strong> Ausprobieren von Lernmitteln,<br />
Analysieren von Schülertexten);<br />
• die Impulse für Diskussionsbeiträge von<br />
Studierenden entweder <strong>im</strong> Rahmen traditioneller<br />
Seminare oder in Diskussionsforen<br />
liefern.<br />
Bei der Ausgestaltung von MaDiN steht eine<br />
motivierende <strong>und</strong> problemadäquate Darstellung<br />
<strong>im</strong> Vordergr<strong>und</strong>; <strong>—</strong> ein Themenbereich<br />
muss <strong>und</strong> kann dort nicht erschöpfend abgehandelt<br />
werden; Fachzeitschriften <strong>und</strong> Lehrbücher<br />
sollen auch langfristig keineswegs er-
setzt, sondern vielmehr ergänzt werden (Ludwig<br />
& Wittmann 2001).<br />
Ein unabdingbarer Bestandteil des Projekts<br />
ist die Erprobung der neuen Lehr-Lern-Umgebung<br />
<strong>im</strong> Regelbetrieb, der entsprechend<br />
dokumentiert <strong>und</strong> evaluiert werden soll.<br />
2 Lehrveranstaltungen zur<br />
Didaktik der Geometrie<br />
Im WS 02/03 wurden die Wissensbasis Ma-<br />
DiN <strong>und</strong> das zugehörige Diskussionsforum in<br />
zwei Lehrveranstaltungen zur Didaktik der<br />
Geometrie für Studierende des Lehramts an<br />
Haupt- <strong>und</strong> Realschulen eingesetzt:<br />
• an der Universität Würzburg in einer 2stündigen<br />
Vorlesung (Prof. Dr. H.-G. Weigand)<br />
mit zusätzlicher 2-stündiger Übung<br />
(StR J. Roth),<br />
• an der PH Weingarten in einer 2-stündigen<br />
Vorlesung (Prof. Dr. M. Ludwig) ohne<br />
eigenständige Übung.<br />
Die Rahmenbedingungen beider Lehrveranstaltungen<br />
waren ansonsten ähnlich:<br />
• Die Teilnehmerzahl betrug knapp 30.<br />
• Die Voraussetzungen der Studierenden<br />
waren sehr inhomogen (unterschiedliche<br />
Semesterzahlen; das Studium für das<br />
Lehramt an Realschulen umfasst eigene<br />
fachwissenschaftliche Lehrveranstaltungen,<br />
das Studium für das Lehramt an<br />
Hauptschulen <strong>im</strong> Allgemeinen nicht).<br />
• Die Studierenden konnten durch die Abgabe<br />
von Übungsaufgaben <strong>und</strong> die Teilnahme<br />
an einer Klausur gegen Semesterende<br />
einen Leistungsnachweis ("Schein")<br />
erwerben.<br />
Die Lehrveranstaltung ist Bestandteil des<br />
"Pflichtprogramms", das an der Universität<br />
Würzburg zudem durch bayernweit zentral<br />
gestellte Staatsexamensprüfungen auch inhaltlich<br />
festgelegt ist.<br />
Die üblichen Präsenzphasen blieben <strong>im</strong> Wesentlichen<br />
erhalten <strong>und</strong> verliefen weitgehend<br />
konventionell, auch unter Verwendung von<br />
"Kreide <strong>und</strong> Tafel"; MaDiN wurde in der Vorlesung<br />
eingesetzt, um z.B. Bilder, Filme <strong>und</strong><br />
An<strong>im</strong>ationen zu projizieren. Zusätzliche virtuelle<br />
Phasen beinhalteten in erster Linie die<br />
individuelle Vor- <strong>und</strong> Nachbereitung von<br />
Lehrveranstaltungen sowie das selbstständige<br />
Erarbeiten einzelner Lerninhalte bei Abwesenheit<br />
des Dozenten. Die Übungsaufgaben,<br />
die Voraussetzung für einen Scheinerwerb<br />
waren, umfassten<br />
Wie lernen Studierende in internetgestützten Lehrveranstaltungen?<br />
• sowohl herkömmliche, in Papierform abzugebende<br />
Aufgaben,<br />
• als auch das regelmäßige Schreiben eines<br />
Beitrags <strong>im</strong> Diskussionsforum zu Fragen<br />
der Geometriedidaktik (z.B. Reflexion<br />
eigener Erfahrungen, Stellungnahme zu<br />
best<strong>im</strong>mten Zielen des Geometrieunterrichts).<br />
Diese Lernangebote spiegeln die Ziele der<br />
Lehrveranstaltungen zur Didaktik der Geometrie<br />
wider: Die fachbezogenen Ziele lassen<br />
sich <strong>im</strong> Wesentlichen in zwei Kategorien<br />
einteilen:<br />
• Die Studierenden sollen Kenntnisse über<br />
Ziele, Inhalte <strong>und</strong> Methoden des Geometrieunterrichts<br />
sowie Lernprozesse <strong>im</strong> Geometrieunterricht<br />
erwerben.<br />
• Die Studierenden sollen darüber hinaus<br />
Ziele, Inhalte <strong>und</strong> Methoden des Geometrieunterrichts<br />
sowie Lernprozesse <strong>im</strong> Geometrieunterricht<br />
reflektieren <strong>und</strong> letztlich<br />
ein adäquates Bild von Geometrie <strong>und</strong><br />
Geometrieunterricht erwerben.<br />
Speziell hinter der zweiten Kategorie steht<br />
der Gedanke, dass das Lehramtsstudium<br />
nicht nur "statisches" Wissen anhäufen, sondern<br />
die Basis für ein lebenslanges <strong>Lernen</strong><br />
der zukünftigen Lehrer(innen) legen soll<br />
(DMV & GDM 2001, Krauthausen 1998). Hinzu<br />
kommen allgemeine Ziele eines Lehramtsstudiums<br />
(z.B. Medienkompetenz, Diskussionsfähigkeit).<br />
3 Evaluation: Methoden<br />
<strong>und</strong> Durchführung<br />
Die <strong>im</strong> Folgenden beschriebenen Evaluationsmaßnahmen<br />
fanden bereits kurz nach<br />
der Hälfte der Laufzeit des Projekts statt, also<br />
zu einem sehr frühen Zeitpunkt; ferner<br />
wurde eine Version der Lehr-Lern-Umgebung<br />
eingesetzt, deren Entwicklung noch nicht<br />
vollständig abgeschlossen ist. Die Evaluation<br />
wurde als Selbstevaluation von denselben<br />
Projektmitarbeitern durchgeführt, die auch an<br />
der Entwicklung beteiligt waren. Es handelt<br />
sich um eine formative Evaluation, die mit<br />
dem Ziel der Qualitätssicherung <strong>und</strong> der Entwicklung<br />
entsprechender Lehrveranstaltungskonzepte<br />
parallel zur Weiterentwicklung<br />
von MaDiN stattfindet (für eine weiter gehende<br />
Einordnung s. Wittmann 2003).<br />
Die Evaluation der Lehrveranstaltung, in der<br />
mit MaDiN gearbeitet wird, muss bei den Zielen<br />
der Veranstaltung ansetzen. Die Problematik<br />
liegt nun gerade darin, dass diese nur<br />
193
Gerald Wittmann<br />
teilweise einfach abzuprüfende "Wissensziele"<br />
sind. Insbesondere diejenigen Ziele, die in<br />
besonderer Weise mit dem Einsatz der mult<strong>im</strong>edialen<br />
Wissensbasis <strong>und</strong> des Diskussionsforums<br />
verknüpft sind, beziehen sich auf<br />
überwiegend langfristige Prozesse; <strong>—</strong> hier<br />
kann <strong>im</strong> Rahmen der Evaluation lediglich erfasst<br />
werden, ob diese Prozesse angestoßen<br />
werden. Für die Evaluation waren deshalb<br />
folgende Leitfragen maßgeblich:<br />
• Welche Lernangebote von MaDiN nehmen<br />
die Studierenden an, <strong>und</strong> wie nutzen<br />
sie diese?<br />
• Wie beschreiben Studierende ihr Lern<strong>und</strong><br />
Arbeitsverhalten <strong>im</strong> Rahmen einer internetgestützten<br />
Lehrveranstaltung?<br />
• Welche Veränderungen sehen sie <strong>im</strong> Unterschied<br />
zu einer traditionellen Lehrveranstaltung?<br />
Wesentliches Evaluationsinstrument waren<br />
zwei Staffeln offener Einzelinterviews,<br />
• zunächst mit sechs Studierenden der Universität<br />
Würzburg <strong>im</strong> Dezember 2002 <strong>und</strong><br />
• später mit neun Studierenden der PH<br />
Weingarten <strong>im</strong> Februar 2003.<br />
Aufgr<strong>und</strong> des zeitlichen Abstands beider<br />
Staffeln konnten die Ergebnisse der ersten<br />
sechs Interviews in die Planung der neun folgenden<br />
Interviews einfließen. Alle Interviews<br />
wurden als Fremdinterviews <strong>—</strong> der Interviewer<br />
war den Studierenden bis dato nicht bekannt<br />
<strong>—</strong> durchgeführt <strong>und</strong> waren als Leitfadeninterviews<br />
konzipiert (Bortz & Döring<br />
2002, 308ff, Lamnek 1995, 35ff): Die anzusprechenden<br />
Themen waren durch den Leitfaden<br />
vorgegeben, die Reihenfolge <strong>und</strong> die<br />
exakte Formulierung der Fragen verblieb jedoch<br />
be<strong>im</strong> Interviewer. Da für die Beantwortung<br />
keine Antwortkategorien vorgegeben<br />
wurden, konnten die Studierenden auch Aspekte<br />
ansprechen, die der Interviewer nicht<br />
antizipiert hatte. Bei Bedarf hatte der Interviewer<br />
die Möglichkeit, gezielt nachzufragen,<br />
um einzelne Aspekte zu vertiefen oder eine<br />
dialogische Validierung herbeizuführen, d.h.<br />
mehrdeutige Äußerungen bereits <strong>im</strong> Interview<br />
zu klären. Der Interviewer hielt zusätzliche<br />
Eindrücke schriftlich fest. Die Interviews<br />
wurden per Mikrofon <strong>und</strong> So<strong>und</strong>karte eines<br />
Notebooks digital aufgezeichnet, sie dauerten<br />
zwischen 11 <strong>und</strong> 27 Minuten. Ihre Transkription<br />
erfolgte in zwei Durchgängen gemäß<br />
den üblichen Regeln. Das Transkript<br />
besitzt die Struktur eines Dialogs, versehen<br />
mit Zeitangaben <strong>und</strong> zusätzlichen Anmerkungen<br />
(beispielweise über nonverbale Kommunikation).<br />
194<br />
Die Auswertung der Interviews geschah auf<br />
dem Wege einer qualitativen Inhaltsanalyse<br />
(Bortz & Döring 2002, 329ff; Lamnek 1995,<br />
172ff; Mayring 2002, 82ff). Mit diesem Arbeitsgang<br />
wurden zwei Ziele verfolgt:<br />
• Strukturierung: Die Äußerungen der Studierenden<br />
wurden nach Kategorien sortiert:<br />
Technik <strong>und</strong> Nutzung, Usability <strong>und</strong><br />
Navigation, Inhalte von MaDiN, Vorlesung,<br />
Übung, Diskussionsforum, Klausur.<br />
• Paraphrasierung: Die Äußerungen der<br />
Studierenden wurden "bereinigt", sprachlich<br />
"geglättet", verkürzt <strong>und</strong> verdichtet sowie<br />
zusammenfassend paraphrasiert; es<br />
verblieben nur noch wenige Zitate, sofern<br />
diese prägnanter waren als mögliche Paraphrasierungen.<br />
Als Resultat der qualitativen Inhaltsanalyse<br />
erhielt man für alle Studierenden die strukturierten<br />
<strong>und</strong> paraphrasierten Selbstauskünfte<br />
<strong>im</strong> Interview. Diese Texte sind deutlich kürzer<br />
als die Transkripte, ihr Umfang reduzierte<br />
sich auf 10 bis 20 %. Sie sind nach wie vor in<br />
der "Ich-Form" gehalten, um deutlich zu machen,<br />
dass es sich dabei um Selbstauskünfte<br />
der Studierenden handelt. Sie sind rein personenbezogen<br />
<strong>und</strong> enthalten noch keine darüber<br />
hinaus gehenden Wertungen oder Hypothesen.<br />
Die Ergebnisse der qualitativen<br />
Analysen wurden abschließend nochmals mit<br />
dem Transkript verglichen <strong>und</strong> eventuell korrigiert.<br />
Dieser "Basistext" lässt sich in zweifacher<br />
Hinsicht auswerten:<br />
• Personenzentrierte Analyse: Die Erstellung<br />
einer kleinen Fallstudie für jeden der<br />
Studierenden liefert ein "Profil" seiner individuellen<br />
Lern- <strong>und</strong> Arbeitsweisen.<br />
• Personenvergleichende Analyse: Ein Inbeziehungsetzen<br />
gleicher Kategorien über<br />
verschiedene Studierende hinweg zeigt<br />
das Spektrum auftretender Lern- <strong>und</strong> Arbeitsweisen<br />
sowie mögliche Zusammenhänge<br />
<strong>und</strong> Wirkungsmechanismen zwischen<br />
verschiedenen Ausprägungen derselben<br />
Kategorien auf.<br />
Weitere qualitative Daten lieferten die Beiträge<br />
der Studierenden <strong>im</strong> Diskussionsforum<br />
sowie ihre Klausuren: Sie wurden <strong>im</strong> Hinblick<br />
auf die Argumentationsstruktur (eind<strong>im</strong>ensional<br />
versus komplex) <strong>und</strong> den Reflexionsgrad<br />
der Beiträge (naiv versus reflektiert) ausgewertet.<br />
Diese Informationen können die Ergebnisse<br />
der Interviews ergänzen <strong>und</strong> validieren.
4 Evaluation: Ergebnisse<br />
Da sich die Studierenden freiwillig für die Interviews<br />
zur Verfügung gestellt hatten, gaben<br />
sie bereitwillig Auskunft. Einige bereiteten<br />
sich sogar auf das Interview vor <strong>—</strong> sie hatten<br />
einen Zettel mit Notizen dabei <strong>—</strong>, um über<br />
"Bugs" in MaDiN zu berichten. Nicht zuletzt<br />
hierin bestätigte sich das Konzept des<br />
Fremdinterviewers: Die Studierenden fassten<br />
die Interviews so auf, dass sie mit externen<br />
Evaluatoren zusammenarbeiten sollten, um<br />
MaDiN zu verbessern.<br />
Gemäß den Forschungsfragen beinhalten die<br />
Transkripte drei verschiedene Ebenen:<br />
• eine sachbezogene Beschreibung des<br />
Lern- <strong>und</strong> Arbeitsverhaltens der Studierenden<br />
<strong>im</strong> Rahmen der betreffenden<br />
Lehrveranstaltung,<br />
• eine Schilderung von Gefühlen der Studierenden<br />
während <strong>und</strong> <strong>im</strong> Umfeld der<br />
Lehrveranstaltung,<br />
• die rückblickende Reflexion dieser Erfahrungen.<br />
Es handelt sich hierbei stets um Selbstauskünfte<br />
der Studierenden, also um deren Einschätzungen,<br />
nicht um objektive Angaben.<br />
Im Folgenden werden diese Selbstauskünfte<br />
nach den Kategorien der qualitativen Inhaltanalyse<br />
gegliedert vorgestellt <strong>und</strong> anschließend<br />
jeweils diskutiert.<br />
4.1 Technik <strong>und</strong> Nutzung<br />
Alle befragten Studierenden geben an, mit<br />
MaDin gearbeitet zu haben. Ob sie MaDiN zu<br />
Hause oder in den Computerräumen der<br />
Hochschule nutzten, hängt von mehreren<br />
Faktoren ab:<br />
• den Lebensumständen (Kinder, Entfernung<br />
der Wohnung zur Hochschule, …),<br />
• den bei der <strong>Internet</strong>nutzung anfallenden<br />
Kosten,<br />
• der technischen Ausstattung des eigenen<br />
Arbeitsplatzes.<br />
Mit einer Ausnahme verfügen alle Studierenden<br />
über einen eigenen Computer. Differenzen<br />
ergeben sich allerdings bei den Peripheriegeräten<br />
(manchmal fehlt ein Drucker oder<br />
ein <strong>Internet</strong>zugang). Weit verbreitet ist ein <strong>Internet</strong>zugang<br />
per Modem, aber auch ISDN,<br />
DSL <strong>und</strong> eine Datenleitung <strong>im</strong> Studentenwohnhe<strong>im</strong><br />
sind zu finden. Die Ladezeiten<br />
werden generell als sehr lang empf<strong>und</strong>en,<br />
bei der Nutzung eines Modems fast <strong>im</strong>mer,<br />
vereinzelt auch bei einem DSL-Anschluss.<br />
Wie lernen Studierende in internetgestützten Lehrveranstaltungen?<br />
Beklagt wird außerdem, dass Videos oder<br />
An<strong>im</strong>ationen <strong>und</strong> Videos auf dem privaten<br />
Computer nicht laufen oder dieser dabei "abstürzt".<br />
In den Computerräumen scheint es<br />
diesbezüglich weniger Probleme zu geben.<br />
Die Computer-Ausstattung der Studierenden<br />
entspricht den Erwartungen: Auch wenn die<br />
Anzahl von fünfzehn befragten Studierenden<br />
für statistische Auswertungen zu gering ist,<br />
werden hier die Ergebnisse anderweitiger<br />
Erhebungen bestätigt (Klatt u.a. 2001, 99ff,<br />
Middendorf 2002, 12ff).<br />
Die geschilderten technischen Probleme sind<br />
auf verschiedene Ursachen zurückzuführen:<br />
Einerseits ist die Ausstattung der privaten<br />
Computer höchst unterschiedlich <strong>und</strong> streut<br />
über mehrere Generationen von Betriebssystemen<br />
<strong>und</strong> Browsern; <strong>—</strong> dieses Handicap ist<br />
wohl kaum zu überwinden. Andererseits gibt<br />
es zahlreiche Indikatoren für unzureichende<br />
Kenntnisse <strong>und</strong> Arbeitstechniken der Studierenden:<br />
• Viele der Studierenden können ihr System<br />
nicht genauer spezifizieren, weder in Bezug<br />
auf die Hard- noch auf die Software.<br />
Falsche Einstellungen könnten deshalb<br />
eine Ursache mancher Probleme sein (für<br />
die elektronischen Arbeitsblätter beispielsweise<br />
muss <strong>im</strong> Browser Java aktiviert<br />
werden).<br />
• Studierende, die beklagen, dass sie sich<br />
jedes Mal mühsam über die Seiten der<br />
Hochschule bis zur MaDiN-Startseite<br />
"durchklicken" mussten, verfügen offenbar<br />
nicht über wichtige Fertigkeiten <strong>im</strong> Umgang<br />
mit dem <strong>Internet</strong> wie das Setzen von<br />
Bookmarks oder das offline-verfügbar-<br />
Machen von Seiten.<br />
Für manche Studierenden scheint aufgr<strong>und</strong><br />
der genannten Ursachen der Aufwand, sich<br />
sowohl die Arbeitsaufträge, als auch zugehörige<br />
Informationen per <strong>Internet</strong> zu beschaffen,<br />
sehr hoch zu sein. Für diese Gruppe<br />
kehrt sich das Versprechen einer "unbegrenzten<br />
Verfügbarkeit" von Inhalten <strong>im</strong> <strong>Internet</strong><br />
ins Gegenteil um.<br />
4.2 Navigation <strong>und</strong> Usability<br />
Die Navigation in MaDiN bereitete den Studierenden<br />
<strong>—</strong> abgesehen von einer anfänglichen<br />
Eingewöhnungsphase <strong>und</strong> einigen<br />
rasch behobenen "Bugs" in MaDiN <strong>—</strong> keine<br />
ernsthaften Probleme. Der gefürchtete Effekt<br />
"lost in hyperspace" (Tergan 2002) wurde<br />
nicht berichtet. Von der reinen Navigation zu<br />
unterscheiden ist allerdings die inhaltliche<br />
Orientierung, die manchen Studierenden <strong>—</strong><br />
195
Gerald Wittmann<br />
z.B. bei der Klausurvorbereitung <strong>—</strong> wohl weniger<br />
leicht fiel (vgl. 4.7).<br />
Nur wenige Studierende lasen längere Texte<br />
am Bildschirm; die meisten Studierenden<br />
druckten weite Teile von MaDiN aus. An der<br />
PH Weingarten druckten Mitglieder der Fachschaft<br />
sogar sämtliche Seiten zur Didaktik<br />
der Geometrie von MaDiN aus <strong>und</strong> verkauften<br />
sie als kopiertes <strong>und</strong> geb<strong>und</strong>enes Skript<br />
an die Studierenden. HTML-Dokumente eignen<br />
sich jedoch prinzipiell nicht für einen<br />
qualitativ anspruchsvollen Ausdruck; <strong>—</strong> <strong>im</strong><br />
Wesentlichen bestehen drei Problemfelder:<br />
• Der Formelsatz in HTML ist unbefriedigend<br />
<strong>und</strong> nur mit technischen Aufsätzen<br />
wie MathML zu verbessern.<br />
• Die bildschirm-gerechte Auflösung von<br />
Abbildungen (72 dpi) ist für den Ausdruck<br />
zu grob, während höher aufgelöste Abbildungen<br />
(zu) lange Ladezeiten erfordern.<br />
• Es gibt kein fest definiertes Seitenlayout,<br />
da der endgültige Umbruch von HTML-<br />
Dokumenten erst <strong>im</strong> Browser stattfindet<br />
<strong>und</strong> damit in hohem Maße vom System<br />
des Benutzers abhängt. Be<strong>im</strong> Ausdruck<br />
werden daher nicht selten Seiten "rechts<br />
abgeschnitten".<br />
4.3 Inhalte<br />
Die Inhalte in MaDiN werden insgesamt sehr<br />
positiv beurteilt <strong>und</strong> finden eine breite Resonanz.<br />
Dies betrifft zunächst die Texte (Verständlichkeit<br />
<strong>und</strong> Informationsgehalt), darüber<br />
hinaus aber auch alle anderen mult<strong>im</strong>edialen<br />
Elemente (Bilder, Videos, An<strong>im</strong>ationen,<br />
…, Materialien zum Download). Sie<br />
übernehmen <strong>im</strong> Einzelfall verschiedene<br />
Funktionen <strong>im</strong> Lernprozess: Sie<br />
• spielen die Rolle eines "Aufhängers" <strong>—</strong><br />
also einer Merkhilfe <strong>—</strong> für Fachwissen,<br />
• können die Motivation zum Weiterarbeiten<br />
fördern <strong>und</strong> das Interesse an der <strong>Mathematik</strong>(didaktik)<br />
wecken; <strong>—</strong> hier bleibt jedoch<br />
abzuwarten, ob dies auch über den<br />
Neuigkeitseffekt hinaus gilt ("Hawthorne-<br />
Effekt"; Schulmeister 2002, 397ff),<br />
• liefern Veranschaulichungen <strong>und</strong> können<br />
wichtige Hilfestellungen sein,<br />
• schaffen häufig einen Praxisbezug.<br />
Besonders das letzte Argument verdient eine<br />
genauere Betrachtung: Bilder <strong>und</strong> Videos<br />
von Lehr- <strong>und</strong> Lernmitteln, Anleitungen <strong>und</strong><br />
Kopiervorlagen für den Unterricht (etwa zu<br />
Lernspielen), Texte <strong>und</strong> Zeichnungen von<br />
Schülerinnen <strong>und</strong> Schülern entstammen un-<br />
196<br />
mittelbar der Schulpraxis. In den Interviews<br />
erzählen Studierende mehrfach, wo <strong>und</strong> wie<br />
sie diese Elemente ausprobiert haben (mit<br />
den eigenen Kindern, <strong>im</strong> Schulpraktikum, …).<br />
Es scheint, als ob über derartige Elemente<br />
für zahlreiche Studierende ein Einstieg in die<br />
<strong>Mathematik</strong>didaktik geschaffen werden kann.<br />
Noch deutlicher wird dies angesichts zweier<br />
weiterer Detailnennungen:<br />
• Wiederholt positiv erwähnt wird ein Artikel<br />
über "Einstiege <strong>im</strong> Geometrieunterricht"<br />
(Vollrath 1980), zu dem die Studierenden<br />
<strong>im</strong> Diskussionsforum Stellung nehmen<br />
mussten. Dieser Text greift ein zentrales<br />
Problem der Unterrichtsplanung auf, ist<br />
leicht zu lesen <strong>und</strong> setzt keinerlei Fachwissen<br />
voraus.<br />
• Umgekehrt werden die MaDiN-Seiten zur<br />
Thematik "Argumentieren <strong>und</strong> Beweisen"<br />
mehrfach als sehr "fachwissenschaftlich"<br />
eingestuft: Diese Studierenden verstehen<br />
nicht, warum sie zunächst selbst Beweise<br />
führen sollen, wo ihr Interesse doch dem<br />
Beweisen <strong>im</strong> <strong>Mathematik</strong>unterricht gilt.<br />
Insbesondere das letzte Beispiel weist darauf<br />
hin, dass ein Teil der Zielgruppe der evaluierten<br />
Lehrveranstaltungen <strong>—</strong> Studierende des<br />
Lehramts an Haupt- <strong>und</strong> Realschulen <strong>—</strong> offenbar<br />
eine sehr enge Vorstellung von "Praxisbezug"<br />
hat.<br />
4.4 Vorlesung<br />
Die Vorlesung wird sowohl an der Uni Würzburg<br />
als auch an der PH Weingarten als "gut"<br />
eingeschätzt. Der Einsatz von MaDiN scheint<br />
allerdings kein prägendes Element der Vorlesung<br />
gewesen zu sein, viel stärker werden<br />
offenbar die Inhalte, das Engagement <strong>und</strong><br />
die Person der beiden Dozenten gewichtet.<br />
Eine Reihe von Studierenden beider Hochschulen<br />
besitzt auch einschlägige Vorerfahrungen:<br />
• mit dem Erstellen von <strong>Internet</strong>seiten <strong>im</strong><br />
Rahmen von Lehrveranstaltungen,<br />
• mit dem Schreiben von Beiträgen für ein<br />
Diskussionsforum,<br />
• mit dem "Holen" von Übungsaufgaben per<br />
<strong>Internet</strong>,<br />
• mit dem Einsatz von BSCW.<br />
Insgesamt ist der Einsatz neuer Medien in<br />
Lehrveranstaltungen für die Studierenden<br />
mittlerweile Alltag; er ist jedenfalls kein Thema<br />
(mehr), das polarisiert.
Auffallend ist, dass fast alle Studierenden in<br />
der Vorlesung wie gewohnt mitschreiben. Als<br />
Gründe hierfür nennen sie zwei Argumente:<br />
• Was man selbst mitgeschrieben hat,<br />
bleibt besser <strong>im</strong> Gedächtnis.<br />
• Wenn man selbst mitschreibt, "hat man<br />
etwas in der Hand".<br />
Als Gegenargument wird angeführt, dass ein<br />
Mitschreiben angesichts von MaDiN überflüssig<br />
ist, so dass man sich besser auf die Inhalte<br />
der Vorlesung konzentrieren kann. Die<br />
Begründungen der Studierenden <strong>—</strong> egal wie<br />
sie lauten <strong>—</strong> wirken allerdings meist oberflächlich<br />
<strong>und</strong> basieren wohl eher auf Gefühlen<br />
als auf einer Reflexion des eigenen Arbeitsverhaltens.<br />
Ein Problem besteht jedoch wirklich: Die<br />
Studierenden erkannten in beiden Vorlesungen<br />
nicht <strong>im</strong>mer einen Zusammenhang zwischen<br />
dem Medium, mit dem ein Lerninhalt<br />
präsentiert wird, <strong>und</strong> der Bedeutung, die diesem<br />
Inhalt für das eigene <strong>Lernen</strong> zukommt.<br />
4.5 Übungen<br />
Während regelmäßig abzugebende Übungen<br />
den Studierenden der Uni Würzburg vertraut<br />
sind, scheint dies für Studierende der PH<br />
Weingarten weit gehend neu zu sein: Mehrere<br />
Studierenden dort geben an, dass sie aufgr<strong>und</strong><br />
der Übungen mehr für die Lehrveranstaltung<br />
getan <strong>und</strong> kontinuierlicher mitgearbeitet<br />
<strong>und</strong> -gelernt hätten als sonst. Sie stufen<br />
die evaluierte Lehrveranstaltung als aufwändiger,<br />
aber auch deutlich effektiver als<br />
andere ein. Die wöchentlichen Arbeitsaufträge<br />
<strong>und</strong> die "soziale Kontrolle" des Diskussionsforums<br />
scheinen sich diesbezüglich positiv<br />
auszuwirken.<br />
Wenn die Studierenden die Übungsaufgaben<br />
lösen, so stützen sie sich <strong>—</strong> je nach Verfügbarkeit<br />
<strong>und</strong> Arbeitsauftrag in unterschiedlicher<br />
Reihenfolge <strong>und</strong> Gewichtung <strong>—</strong> <strong>im</strong> Wesentlichen<br />
auf drei Quellen:<br />
• die eigene Mitschrift aus der Vorlesung,<br />
• die entsprechenden Seiten in MaDiN <strong>und</strong><br />
• die Suche <strong>im</strong> <strong>WWW</strong> per Suchmaschine<br />
(meist wird Google genannt).<br />
Hinzu kommen noch vereinzelt Schulbücher<br />
oder andere Materialien. Kein einziger der<br />
Studierenden nutzte die Literaturangaben in<br />
MaDiN <strong>und</strong> besuchte aus Anlass der Lehrveranstaltung<br />
die Hochschulbibliothek.<br />
Bei der Informationsbeschaffung <strong>im</strong> <strong>WWW</strong><br />
offenbaren die Interviews zwei Problemfelder:<br />
Wie lernen Studierende in internetgestützten Lehrveranstaltungen?<br />
• Das übliche Verfahren ist das Eintippen<br />
von Schlagworten in eine Suchmaschine.<br />
Die Studierenden verfügen auch hier nicht<br />
über adäquate Arbeitstechniken (vgl. 4.1):<br />
Sie nutzen weder eine gezielte Verknüpfung<br />
von Suchbegriffen, noch andere Recherchemöglichkeiten<br />
wie spezielle <strong>Internet</strong>portale.<br />
• Das Problem der Qualitätskontrolle haben<br />
einige der Studierenden bislang noch<br />
nicht reflektiert, andere glauben, es durch<br />
ein Vergleichen mehrerer gef<strong>und</strong>ener Dokumente<br />
bewältigen zu können.<br />
4.6 Diskussionsforum<br />
In den evaluierten Lehrveranstaltungen wurde<br />
noch mit einem Prototypen des Diskussionsforums<br />
gearbeitet: Es besaß nur eine lineare<br />
Struktur, alle Beiträge erschienen in<br />
chronologisch Reihenfolge, was dazu führte,<br />
dass es eine einzige, lange Seite war. Dadurch<br />
war es auch nicht möglich, gezielt auf<br />
einzelne Beiträge zu antworten. Das Diskussionsforum<br />
hatte also eher die Funktion einer<br />
Pinnwand, an die jeder ein Statement heften<br />
kann.<br />
Kaum ein anderes Element der Lehrveranstaltung<br />
spaltet die Gemüter so sehr wie das<br />
Diskussionsforum:<br />
• Ein Teil der Studierenden wertet das<br />
Schreiben von Beiträgen positiv: Die Antwort<br />
auf eine <strong>im</strong> ersten Augenblick einfach<br />
erscheinende Frage schriftlich ausformulieren<br />
zu müssen, wird als eine<br />
wertvolle Erfahrung beschrieben.<br />
• Für andere Studierende scheint das Verfassen<br />
von Beiträgen nur eine Pflichtübung<br />
zu sein. Dies äußert sich in verschiedenen<br />
typischen Verhaltensweisen:<br />
Der eigene Beitrag wird auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />
der schon <strong>im</strong> Diskussionsforum stehenden<br />
Beiträge verfasst, er wird diesen<br />
<strong>im</strong> Umfang, in der Zahl der Argumente<br />
<strong>und</strong> <strong>im</strong> Inhalt angeglichen. Das "Abschreiben"<br />
von Beiträgen führt letztlich dazu,<br />
dass sich zahlreiche Beiträge ähneln oder<br />
gar gleichen. Es wird ferner darauf geachtet,<br />
dass der Beitrag die <strong>—</strong> vermutete <strong>—</strong><br />
Meinung des Dozenten wiedergibt <strong>und</strong><br />
nicht die eigene.<br />
Die Analyse der Beiträge zeigt dementsprechend<br />
ein breites Spektrum von Beiträgen,<br />
das von kurzen, naiv wirkenden <strong>und</strong> emotional<br />
geprägten Äußerungen bis hin zu umfangreicheren<br />
Beiträgen mit einer ausdifferenzierten<br />
<strong>und</strong> abwägenden Argumentationsstruktur<br />
reicht.<br />
197
Gerald Wittmann<br />
Ähnlich vielfältig wie die Meinungen zum<br />
Schreiben von Beiträgen sind auch diejenigen<br />
zum Lesen von Beiträgen anderer Studierender:<br />
• Ein Teil der Studierenden stuft es als interessant<br />
<strong>und</strong> bereichernd ein.<br />
• Andere Studierende geben an, dass sie<br />
fremde Beiträge kaum gelesen haben.<br />
Von nahezu allen Studierenden wird jedoch<br />
negativ angemerkt, dass wiederholt Beiträge<br />
inhaltsgleich sind: Der Zwang, einen Beitrag<br />
verfassen zu müssen, wirkt sich <strong>—</strong> in Verbindung<br />
mit der oben geschilderten Arbeitsweise<br />
mancher Studierender <strong>—</strong> wohl dahingehend<br />
aus. Nicht zuletzt deshalb ist der<br />
"Schreibzwang" auch unter den Studierenden<br />
umstritten.<br />
Gleichzeitig kommt hier auch ein wesentlicher<br />
Aspekt des Studierverhaltens mancher<br />
Studierender zum Ausdruck: Die Impulse für<br />
die Beiträge <strong>im</strong> Diskussionsforum sind <strong>—</strong> in<br />
mehrfacher Hinsicht <strong>—</strong> offene Arbeitsaufträge;<br />
die Studierenden entscheiden selbst, wie<br />
sie diese inhaltlich <strong>und</strong> in Bezug auf den Umfang<br />
bearbeiten. Manche Studierende kommen<br />
hiermit offenbar nicht zurecht, sie erwarteten<br />
diesbezüglich eindeutige Vorgaben.<br />
Ähnlich verhält es sich mit dem Wunsch von<br />
Studierenden nach einer klaren Rückmeldung<br />
zu ihren Beiträgen: Er ist einerseits verständlich<br />
<strong>und</strong> sinnvoll, stößt aber auch an<br />
Grenzen; <strong>—</strong> nicht jede Meinungsäußerung<br />
lässt sich als "richtig" oder "falsch" einordnen.<br />
Ob tatsächlich ein Bedarf nach einer Öffnung<br />
des Diskussionsforums besteht, so dass darin<br />
Fragen zur Vorlesung bzw. Übung gestellt<br />
<strong>und</strong> beantwortet werden können, wie von<br />
manchen Studierenden gefordert, bleibt unklar:<br />
Denn alle Studierenden geben an, dass<br />
sie sich regelmäßig <strong>im</strong> Umfeld der Lehrveranstaltungen<br />
treffen <strong>und</strong> kaum Kontakte per<br />
<strong>Internet</strong> hergestellt oder gepflegt wurden; <strong>—</strong><br />
dies war nur vereinzelt der Fall (so bei einer<br />
Studentin, die Kinder hat).<br />
4.7 Klausur<br />
Den Studierenden beider Hochschulen stand<br />
in der abschließenden Klausur nicht nur Ma-<br />
DiN, sondern darüber hinaus das gesamte<br />
<strong>Internet</strong> zur Verfügung. Aufgr<strong>und</strong> der Interviewtermine<br />
bezieht sich das Folgende ausschließlich<br />
auf die Studierenden der PH<br />
Weingarten. Es steht die Frage <strong>im</strong> Mittelpunkt,<br />
was durch die Verfügbarkeit von Ma-<br />
DiN anders als gewohnt war.<br />
198<br />
Die Vorbereitung der Klausur änderte sich für<br />
die meisten Studierenden dahin, dass sie<br />
weniger in einem Auswendiglernen bestand,<br />
sondern vielmehr in einem "Sichten" von Inhalten<br />
in MaDiN <strong>und</strong> <strong>im</strong> <strong>WWW</strong>, um sicherzustellen,<br />
wo best<strong>im</strong>mte Inhalte zu finden ist.<br />
In diesem Kontext wurden mehrfach Vergleiche<br />
zwischen einer internetgestützten Wissensbasis<br />
wie MaDiN <strong>und</strong> einem herkömmlichen,<br />
gedruckten Skript gezogen: Letzteres<br />
• gibt <strong>—</strong> anders als MaDiN <strong>—</strong> bereits eine<br />
sinnvolle Reihenfolge <strong>und</strong> Gliederung für<br />
das <strong>Lernen</strong> vor,<br />
• garantiert, dass bei einem vollständigen<br />
Durcharbeiten auch alle klausurrelevanten<br />
Inhalte erfasst werden,<br />
• erlaubt es den Studierenden, eigene Anmerkungen<br />
<strong>und</strong> Ergänzungen handschriftlich<br />
anzubringen,<br />
• ist auch ohne Computer stets verfügbar,<br />
insbesondere in "Freist<strong>und</strong>en" an der<br />
Hochschule.<br />
Mehrere Studierende der PH Weingarten gaben<br />
an, dass ihre Klausurvorbereitung zumindest<br />
teilweise auch in Gruppen ablief <strong>und</strong><br />
sie dabei die zahlreichen Arbeitsaufträge in<br />
MaDiN nutzten: Sie arbeiteten die Lösungen<br />
dazu aus <strong>und</strong> diskutierten diese; <strong>—</strong> ein Indikator<br />
dafür, dass Studierende bei entsprechender<br />
Motivation die reichhaltigen Angebote<br />
in MaDiN auch wahrnehmen <strong>und</strong> selbstständig<br />
damit arbeiten.<br />
Fast alle Studierende berichten, dass die<br />
Möglichkeit, während der Klausur MaDiN <strong>und</strong><br />
darüber hinaus das gesamte <strong>Internet</strong> zu nutzen,<br />
auch Gefahren in sich birgt: Sie suchten<br />
zu lange in diesen Quellen <strong>und</strong> verließen<br />
sich zu wenig auf ihr eigenes Wissen. Hieraus<br />
resultierte dann ein Zeitproblem gegen<br />
Ende der Klausur. Auffallend ist wiederum,<br />
dass auch hier Studierende <strong>—</strong> analog zur<br />
Schilderung ihres Verhaltens be<strong>im</strong> Bearbeiten<br />
der Übungsaufgaben (vgl. 4.5) <strong>—</strong> angeben,<br />
eher <strong>im</strong> <strong>WWW</strong> zu suchen als in MaDiN.<br />
5 Rück- <strong>und</strong> Ausblick<br />
Die Evaluation liefert nicht nur Rückmeldungen<br />
über das Lern- <strong>und</strong> Arbeitsverhalten von<br />
Studierenden <strong>im</strong> Rahmen internetgestützter<br />
Lehrveranstaltungen, sie erlaubt darüber hinaus<br />
wertvolle Erkenntnisse über die Einstellung<br />
von Studierenden des Lehramts an<br />
Haupt- <strong>und</strong> Realschulen zu ihrem Studium<br />
<strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen Erwartungen an<br />
das Studium. Während ein Teil der Studie-
enden <strong>—</strong> speziell der PH Weingarten <strong>—</strong><br />
motiviert ist, besitzt ein anderer Teil eine vergleichsweise<br />
geringe fachspezifische Motivation,<br />
verb<strong>und</strong>en mit einer sehr engen Vorstellung<br />
von <strong>Mathematik</strong>didaktik, die beinahe alles<br />
als praxisfern ablehnt, was nicht eine<br />
unmittelbare Anleitung zum Unterrichten darstellt.<br />
Insgesamt offenbart die Evaluation eine<br />
deutliche Differenz zwischen den in der<br />
Literatur geforderten Zielen der <strong>Mathematik</strong>lehrerausbildung<br />
(vgl. 2) <strong>und</strong> den Erwartungen,<br />
die ein Teil der Studierenden an das<br />
Lehramtsstudium richtet.<br />
5.1 Chancen<br />
Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> bestätigt die Evaluation,<br />
dass zahlreiche Studierende die vielfältigen<br />
Möglichkeiten von MaDiN wirklich nutzen.<br />
Es ist wichtig, dass insbesondere auch<br />
den motivierten Studierenden, die aktiv werden<br />
wollen, entsprechende Angebote <strong>—</strong> beispielsweise<br />
Aufträge zum selbstständigen<br />
Weiterarbeiten <strong>—</strong> zur Verfügung stehen.<br />
Umgekehrt kann MaDiN auch weniger motivierten<br />
Studierenden den Einstieg in die Didaktik<br />
der Geometrie erleichtern. Weite Bereiche<br />
der didaktischen Literatur, auch der<br />
Lehrbücher, werden von vielen Studierenden<br />
des Lehramts an Haupt- <strong>und</strong> Realschulen als<br />
zu schwer <strong>und</strong> zu abstrakt empf<strong>und</strong>en oder<br />
entsprechen nicht ihren Vorstellungen von<br />
Didaktik. Hier liegt eine große Bedeutung von<br />
Hypertext-Systemen mit ihren mult<strong>im</strong>edialen<br />
Möglichkeiten: Angebote, die schon auf den<br />
ersten Blick einen Bezug zur Schulpraxis erkennen<br />
lassen (z.B. Kopiervorlagen für Arbeitsblätter,<br />
Abbildungen von Lernmitteln <strong>und</strong><br />
Anleitungen zu deren Herstellung <strong>und</strong> Einsatz,<br />
Schülerzeichnungen <strong>und</strong> -texte) werden<br />
von Studierenden mit einer engen Vorstellung<br />
von <strong>Mathematik</strong>didaktik hingegen eher<br />
akzeptiert <strong>und</strong> können sie an die <strong>Mathematik</strong>didaktik<br />
<strong>und</strong> entsprechende tiefer gehende<br />
Überlegungen heranführen. Die Verfügbarkeit<br />
einzelner Artikel per Download, die auch<br />
ohne Vorkenntnisse gut verständlich sind<br />
<strong>und</strong> deren Erschließung durch Arbeitsaufträge<br />
mit gestuften Fragen angeleitet wird, können<br />
ein zusätzlicher Schritt in diese Richtung<br />
sein.<br />
Generell können internetbasierte Lehr-Lern-<br />
Umgebungen wie MaDiN übliche Präsenzlehrveranstaltungen<br />
ergänzen <strong>und</strong> anreichern<br />
<strong>und</strong> damit effektiver gestalten. Insbesondere<br />
für Veranstaltungen zur Didaktik der<br />
<strong>Mathematik</strong>, die häufig nur 2-stündig sind, ist<br />
dies von großer Bedeutung. MaDiN bietet<br />
hier nicht nur die Möglichkeit, einzelne Lern-<br />
Wie lernen Studierende in internetgestützten Lehrveranstaltungen?<br />
inhalte in das Selbststudium "auszulagern",<br />
was Freiräume in den Lehrveranstaltungen<br />
schafft, sondern eröffnet zusätzliche neue<br />
Übungsformen. Die Aussagen der Studierenden<br />
bestätigen, dass Übungen ein wichtiges<br />
Element für einen sinnvoll verlaufenden Lernprozess<br />
sind <strong>und</strong> wesentlich zum Lernerfolg<br />
in einer Lehrveranstaltung beitragen. Eine<br />
solche Übungsform ist das Schreiben von<br />
Beiträgen für das Diskussionsforum: Das<br />
schriftliche Ausformulieren qualifizierter (nicht<br />
spontan-emotionaler) Äußerungen über <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
ist eine wertvolle <strong>und</strong> viel<br />
zu selten praktizierte Tätigkeit.<br />
Der Vorteil der Virtualität liegt für die Studierenden<br />
darin, dass sie die Übungen dann erledigen<br />
können, wenn sie Zeit haben <strong>—</strong> das<br />
Studium kann dichter gestaltet werden, ohne<br />
den St<strong>und</strong>enplan der Studierenden weiter<br />
aufzublähen. Dies gilt<br />
• sowohl für die Ergänzung von Präsenzveranstaltungen<br />
durch zusätzliche virtuelle<br />
Phasen (wie <strong>im</strong> vorliegenden Projekt),<br />
• als auch für die Ergänzung des Standardprogramms<br />
<strong>im</strong> Lehramtsstudium durch<br />
zusätzliche freiwillige Veranstaltungen<br />
(Bruder 2003).<br />
5.2 Zukünftige Aufgaben<br />
Wie von einer formativen Evaluation zu erwarten<br />
ist, ergibt sich eine Reihe zukünftiger<br />
Aufgaben für die Weiterentwicklung der internetgestützten<br />
Lehr-Lern-Umgebung. Diese<br />
sind zunächst technischer Art:<br />
• Das Problem, dass die private Computerausstattung<br />
der Studierenden höchst unterschiedlich<br />
ist <strong>und</strong> insbesondere über<br />
mehrere Generationen von Betriebssystemen<br />
<strong>und</strong> Browsern streut, ist wohl nicht<br />
in den Griff zu bekommen. Abhilfe könnten<br />
zumindest teilweise klare technische<br />
Standards sowohl für die Entwickler als<br />
auch für die Studierenden schaffen.<br />
• Die Qualität des Ausdrucks könnte durch<br />
datenbankbasierte Systeme entsprechend<br />
den XML-Standards verbessert werden;<br />
diese schränken aber möglicherweise<br />
auch den Freiraum der Entwickler bei der<br />
Gestaltung einzelner Seiten ein.<br />
• MaDiN könnte auch offline verfügbar sein:<br />
Die Studierenden erhalten ein sehr knappes<br />
Skript mit zugehöriger CD-ROM oder<br />
DVD-ROM. Diese enthält die Bilder, Videos<br />
<strong>und</strong> An<strong>im</strong>ationen sowie weiter führende<br />
Links sowohl zu einzelnen Elementen<br />
von MaDiN (wie Graphen mit WebMathe-<br />
199
Gerald Wittmann<br />
matica), als auch ins <strong>WWW</strong>. Dem Vorteil<br />
der offline-Verfügbarkeit stehen die bekannten<br />
Argumente für ein ausschließlich<br />
auf einem Server liegendes System gegenüber<br />
(etwa die permanente Aktualisierbarkeit).<br />
Auch in Bezug auf die Entwicklung entsprechender<br />
Lehrveranstaltungskonzepte liefert<br />
die Evaluation wichtige Anstöße:<br />
• Zu klären bleibt noch das genaue Zusammenspiel<br />
der verschiedenen Medien<br />
innerhalb der Lehrveranstaltungen; <strong>—</strong> zu<br />
beantworten sind Fragen wie: Welche Inhalte<br />
schreibt der Dozent an die Tafel?<br />
Finden sich diese auch in MaDiN? Langfristig<br />
könnte das Vorhandensein einer<br />
Wissensbasis wie MaDiN Wege eröffnen,<br />
um die Lehrveranstaltungen zumindest<br />
teilweise von der Wissensvermittlung zu<br />
entlasten <strong>und</strong> Freiräume für exper<strong>im</strong>entelle,<br />
kommunikative <strong>und</strong> reflektierende Aktivitäten<br />
zu schaffen.<br />
• Die Arbeitsaufträge in MaDiN sind weiter<br />
auszudifferenzieren, abhängig davon, wie<br />
sie bearbeitet werden sollen: kurze Fragen<br />
zur Selbstkontrolle, exakte Anweisungen<br />
für schriftlich abzugebende Übungen,<br />
offene Impulse für Beiträge für das Diskussionsforum,<br />
Anregungen für über die<br />
eigentliche Lehrveranstaltung hinaus führende<br />
Projekte.<br />
• Das Problem einer Vielzahl inhaltsgleicher<br />
Beiträge <strong>im</strong> Diskussionsforum ist zu lösen,<br />
damit die neue Baumstruktur des<br />
Diskussionsforums auch wirklich mit Leben<br />
gefüllt wird. Möglich wäre beispielsweise<br />
eine Moderation des Diskussionsforums<br />
durch den Dozenten, die den Studierenden<br />
Rückmeldungen zu ihren Antworten<br />
gibt <strong>und</strong> damit Impulse zum Weiterdenken<br />
<strong>—</strong> ähnlich wie dies bei der<br />
"Korrektur" eines Lerntagebuchs durch<br />
die Lehrkraft geschieht. Derartige Vorgehensweisen<br />
sind allerdings sehr personalintensiv<br />
(Weigand 2001).<br />
• Es müssen Lösungen gesucht werden,<br />
um die nicht adäquaten Arbeitstechniken<br />
der Studierenden <strong>im</strong> Umgang mit dem <strong>Internet</strong><br />
zu verbessern. Da alle Studierende<br />
zumindest über gr<strong>und</strong>legende Arbeitstechniken<br />
verfügen, könnte eine derartige<br />
Weiterqualifizierung auch sukzessive erfolgen.<br />
200<br />
Literatur<br />
Bortz, Jürgen & Nicola Döring (2002): Forschungsmethoden<br />
<strong>und</strong> Evaluation für Human-<br />
<strong>und</strong> Sozialwissenschaftler. Berlin, Heidelberg<br />
& New York: Springer, 3. Auflage<br />
Bruder, Regina (2003): <strong>Internet</strong>gestützte Lernumgebungen<br />
für die Lehramtsausbildung. In: Beiträge<br />
zum <strong>Mathematik</strong>unterricht 2003, 157–<br />
160<br />
DMV & GDM (2001): Vorschläge zur Ausbildung<br />
von <strong>Mathematik</strong>lehrerinnen <strong>und</strong> -lehrern für<br />
das Lehramt an Gymnasien in Deutschland.<br />
DMV/GDM-Denkschrift zur Lehrerausbildung.<br />
In: Mitteilungen der GDM 72, 34–42<br />
Döring, Nicola (2002): Online-<strong>Lernen</strong>. In: Issing &<br />
Kl<strong>im</strong>sa (2002), 247–264<br />
Issing, Ludwig J. & Paul Kl<strong>im</strong>sa (Hrsg.) (2002): Information<br />
<strong>und</strong> <strong>Lernen</strong> mit Mult<strong>im</strong>edia <strong>und</strong> <strong>Internet</strong>.<br />
Weinhe<strong>im</strong>: Beltz PVU, 3. Auflage<br />
Klatt, Rüdiger u.a. (Hrsg.) (2001): Elektronische<br />
Information in der Hochschulausbildung. Innovative<br />
Mediennutzung <strong>im</strong> Lernalltag der Hochschulen.<br />
Opladen: Leske + Budrich<br />
Krauthausen, Günter (1998): <strong>Lernen</strong> – <strong>Lehren</strong> –<br />
<strong>Lehren</strong> lernen. Stuttgart: Klett<br />
Lamnek, Siegfried (1995): Qualitative Sozialforschung.<br />
Band 2. Methoden <strong>und</strong> Techniken.<br />
Weinhe<strong>im</strong>: Beltz PVU, 3. Auflage<br />
Ludwig, Matthias & Gerald Wittmann (2001): Eine<br />
internetgestützte Wissensbasis zur Didaktik<br />
der Geometrie. Entwicklung <strong>und</strong> Pilotstudie. In:<br />
mathematica didactica 24, Heft 1, 82–92<br />
Mayring, Philipp (2002): Qualitative Inhaltsanalyse.<br />
Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> Techniken. Weinhe<strong>im</strong> &<br />
Basel: Beltz, 8. Auflage<br />
Middendorf, Elke (2002): Computernutzung <strong>und</strong><br />
Neue Medien <strong>im</strong> Studium. Ergebnisse der 16.<br />
Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerkes.<br />
Bonn: B<strong>und</strong>esministerium für Bildung<br />
<strong>und</strong> Forschung<br />
Schulmeister, Rolf (2002): Gr<strong>und</strong>lagen hypermedialer<br />
Lernsysteme. Theorie – Didaktik – Design.<br />
München: Oldenbourg,3. Auflage<br />
Tergan, Sigmar-Olaf (2002): Hypertext <strong>und</strong> Hypermedia:<br />
Konzeption, Lernmöglichkeiten,<br />
Lernprobleme <strong>und</strong> Perspektiven. In: Issing &<br />
Kl<strong>im</strong>sa (2002), 99–112<br />
Vollrath, Hans-Joach<strong>im</strong> (1980): Einstiege <strong>im</strong> Geometrieunterricht.<br />
In: mathematica didactica 3,<br />
Heft 1, 59–67<br />
Weth, Thomas (2003): MaDiN – <strong>Mathematik</strong>didaktik<br />
<strong>im</strong> Netz. In diesem Band<br />
Weigand, Hans-Georg (2001): <strong>Internet</strong>-gestützte<br />
Kommunikation in der Lehramtsausbildung. In:<br />
Journal für <strong>Mathematik</strong>-Didaktik 22, 99–122<br />
Wittmann, Gerald (2003): Gr<strong>und</strong>fragen der Evaluation<br />
mult<strong>im</strong>edialen <strong>Lernen</strong>s. In: Peter Bender<br />
u.a. (Hrsg.) (2003): Lehr- <strong>und</strong> Lernprogramme<br />
für den <strong>Mathematik</strong>unterricht. Bericht über die<br />
20. Arbeitstagung des AK "<strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
<strong>und</strong> Informatik" 2002. Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker,<br />
155–161
� Über die didaktische Gestaltung mult<strong>im</strong>edialer<br />
Lehrmaterialien<br />
Bert Xylander, Halle a.d. Saale<br />
Der Artikel beschreibt mit der Blickrichtung auf die Gruppentheorie ein Konzept, bestehend<br />
aus didaktischen Prinzipien <strong>und</strong> Ideen, nach dem mult<strong>im</strong>ediale Lehrmaterialien bereits<br />
gestaltet wurden. Von großer Bedeutung ist dabei eine durchdachte didaktische<br />
Gestaltung der Lehrmaterialien. Mult<strong>im</strong>ediale Lehrmaterialien lassen sich oftmals nur<br />
eingeschränkt mit herkömmlichen vergleichen. Begründet liegt dies darin, dass sie inhaltlich,<br />
medial <strong>und</strong> didaktisch hauptsächlich auf das <strong>Lernen</strong> mit dem Medium Computer<br />
ausgerichtet <strong>und</strong> dafür konzipiert werden.<br />
1 Einleitung<br />
<strong>Lernen</strong> mit neuen Medien <strong>—</strong> da schwingt die<br />
Erwartung mit, dass das <strong>Lernen</strong> mit Hilfe der<br />
modernen Technik eigentlich ein ganz besonderes<br />
<strong>Lernen</strong> ist. Nach einigen Jahren<br />
des euphorischen Probierens <strong>und</strong> Entwickelns<br />
von Lehrmaterialien für die neuen<br />
Medien Computer <strong>und</strong> <strong>Internet</strong> lässt sich mit<br />
einigem Recht auch behaupten, dass das<br />
<strong>Lernen</strong> mit dem Medium Computer durchaus<br />
besonders <strong>und</strong> hochwertig sein kann. Es ist<br />
aber zugleich unbestritten, dass das Medium<br />
Computer in vielen Lernsituationen wenig<br />
hilfreich <strong>und</strong> gelegentlich sogar sehr hinderlich<br />
wirkt <strong>und</strong> viele Lerninhalte besser auf<br />
"herkömmliche Weise" mit Hilfe "herkömmlicher<br />
Medien" gelernt werden sollten. Damit<br />
stellen sich zwei Fragen: In welchem Lehr<strong>und</strong><br />
Lernkontext entfaltet das Medium Computer<br />
seine spezifischen Möglichkeiten, sowohl<br />
Lehre als auch <strong>Lernen</strong> zu unterstützen,<br />
zu bereichern <strong>und</strong> zu neuer Qualität <strong>und</strong> Intensität<br />
zu führen? Wie können die Lehrinhalte<br />
als Lehrmaterial gestaltet werden, damit<br />
sich das Lehrmedium Computer als besonders<br />
geeignet erweist?<br />
Gerade dieser zweiten Fragestellung wird<br />
sich der Artikel zuwenden. Exemplarisch <strong>und</strong><br />
zugleich phänotypisch mit dem inhaltlichen<br />
Schwerpunkt Gruppentheorie wird hier die<br />
Diskussion über die didaktische Gestaltung<br />
mult<strong>im</strong>edialer Lehrmaterialien geführt. Dies<br />
beginnt mit der Analyse bereits existierender<br />
Computer- <strong>und</strong> <strong>Internet</strong>-Lehrmaterialien zur<br />
Gruppentheorie; anschließend wird die besondere<br />
Wirkungsweise des Lehrmediums<br />
Computer untersucht. Die Diskussion<br />
schließt mit der Beschreibung eines didaktischen<br />
Konzepts <strong>und</strong> eines Konzepts zur<br />
Lernkontrolle für ein mult<strong>im</strong>ediales gruppentheoretisches<br />
Lehrmaterial. Dieses Lehrma-<br />
terial wurde vom Autor <strong>im</strong> Rahmen des<br />
BMBF-Leitprojektes "Vernetztes Studium –<br />
Chemie" (www.vs-c.de) in einem Zeitraum<br />
von 3 Jahren entwickelt <strong>und</strong> bereits mit Studierenden<br />
getestet (vgl. auch Z<strong>im</strong>mer et al.<br />
2002 <strong>und</strong> 2003).<br />
2 Gruppentheorie mit dem<br />
<strong>Internet</strong>: Eine Bestandsaufnahme<br />
<strong>Internet</strong>-Lehrmaterialien lassen sich nach<br />
dem Umfang ihrer inhaltlichen, medialen <strong>und</strong><br />
didaktischen Neukonzeption beurteilen. Folgt<br />
man diesem Klassifizierungsansatz, so werden<br />
aus der Analyse der derzeit (September<br />
2003) <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> verfügbaren Lehrmaterialien<br />
zu gruppentheoretischen Inhalten drei<br />
wesentliche Realisierungsstufen deutlich.<br />
Der ersten Realisierungsstufe lassen sich all<br />
jene Lehrmaterialien zuordnen, die sich lediglich<br />
durch die technische Verbreitung von<br />
herkömmlichen Lehrmaterialien unterscheiden:<br />
Der Computerbildschirm ersetzt das<br />
Papier, es findet keine inhaltliche, mediale<br />
<strong>und</strong> didaktische Neukonzeption statt. Solche<br />
Lehrmaterialien sind z.B. die gebräuchlichen<br />
Vorlesungsskripte <strong>und</strong> Übungsserien in PDF-<br />
Form. Die Lehrmaterialien dieser Realisierungsstufe<br />
verlieren durch ein Ausdrucken<br />
nicht an Information <strong>und</strong> Funktionalität.<br />
Es handelt sich also um eigentlich herkömmliche<br />
Lehrmaterialien, die durch das <strong>Internet</strong><br />
eine kostengünstige Verbreitung erfahren. Im<br />
Vergleich zu den Materialien der beiden anderen<br />
Stufen ist ihre Erstellung mit einem geringeren<br />
technischen Aufwand <strong>und</strong> somit<br />
auch mit einem geringeren Aufwand für die<br />
<strong>Lehren</strong>den verb<strong>und</strong>en. Im Allgemeinen werden<br />
die <strong>Lernen</strong>den diese Lehrmaterialien<br />
201
Bert Xylander<br />
ausdrucken <strong>und</strong> in der herkömmlichen Form<br />
<strong>im</strong> Lernprozess einsetzen.<br />
Der zweiten Realisierungsstufe werden die<br />
Lehrmaterialien in Hypertext-Form zugeordnet.<br />
Diese Lehrmaterialien entstehen zumeist<br />
dadurch, dass herkömmliche Lehrmaterialien<br />
in weniger umfängliche <strong>und</strong> geringere Ladezeit<br />
beanspruchende HTML-Formate umgesetzt<br />
<strong>und</strong> mit einer Hypertext-Funktionalität<br />
versehen werden. Die Lehrmaterialien erfahren<br />
dabei, <strong>im</strong> Vergleich zu herkömmlichen<br />
Lehrmaterialien, eine inhaltliche <strong>und</strong> auch didaktische<br />
Neukonzeption; die mediale Funktionalitätserweiterung<br />
beschränkt sich zumeist<br />
auf die Vernetzung der Inhalte durch<br />
Hypertext. Das Ausdrucken dieser Lehrmaterialien<br />
führt zu dem Verlust der Verlinkungsfunktionalität,<br />
nicht jedoch zu einem Informationsverlust.<br />
Dass sich der mit der Entwicklung solcher<br />
Hypertext-Materialien verb<strong>und</strong>ene hohe Aufwand<br />
sehr wohl lohnen kann, lässt sich am<br />
einfachsten mit einem Beispiel belegen. Genannt<br />
sei stellvertretend die Freiberger Web-<br />
Vorlesung über Klassische Algebra (Hebisch<br />
2002). Hier werden algebraische Inhalte zusammenfassend<br />
geordnet <strong>und</strong> mit Hilfe von<br />
Hyperlinks miteinander vernetzt. Es entsteht<br />
ein Gefüge übersichtlicher Wissenseinheiten,<br />
die sich <strong>im</strong> Vergleich zu herkömmlichen<br />
Lehrmaterialien als besonders geeignet zeigen<br />
für ein wiederholendes <strong>und</strong> systematisierendes,<br />
aber auch ergänzendes <strong>und</strong> vertiefendes<br />
<strong>Lernen</strong>.<br />
Erfahrungen zeigen, dass der Wert der Lehrmaterialien<br />
dieser zweiten Realisierungsstufe<br />
hauptsächlich in der neuartigen <strong>und</strong> zumeist<br />
systematisierenden Darstellung von Lehrinhalten<br />
liegt. Diese Erfahrungen spiegeln sich<br />
zum einen in der facettenreichen Diskussion<br />
über die Eignung des Computerbildschirms<br />
zum Textlernen (Schulmeister 2002, 279ff),<br />
aber auch in den vom Autor durchgeführten<br />
Studien über <strong>Internet</strong>lehrmaterialien (Z<strong>im</strong>mer<br />
et al. 2002).<br />
In der dritten Realisierungsstufe lassen sich<br />
all jene Lehrmaterialien ansiedeln, die auf<br />
das <strong>Lernen</strong> mit dem Computer ausgerichtet<br />
sind <strong>und</strong> die in ihrer medialen Funktionalität<br />
über Hypertexte hinausgehen. Die Lehrmaterialien<br />
werden in ihrer inhaltlichen Struktur für<br />
das <strong>Lernen</strong> am Computer neu konzipiert, die<br />
didaktische <strong>und</strong> mediale Neuorganisation der<br />
Lehrmaterialien basiert auf dem vollen Funktionalitätsumfang<br />
des Lehrmediums. So werden<br />
zumeist Medienformen entwickelt, die<br />
die medialen Möglichkeiten des Computers<br />
nutzen (z.B. S<strong>im</strong>ulationen <strong>und</strong> An<strong>im</strong>ationen)<br />
<strong>und</strong> die sich durch eine bidirektionale Interak-<br />
202<br />
tion zwischen den <strong>Lernen</strong>den <strong>und</strong> den Lehrmaterialien<br />
auszeichnen (z.B. Trainingsaufgaben<br />
mit kontextabhängigem Feedback).<br />
Die inhaltliche, mediale <strong>und</strong> didaktische Orientierung<br />
der Materialien auf das Lehrmedium<br />
Computer führt dazu, dass mit dem Ausdrucken<br />
der Lehrmaterialien zumeist Informationsverluste,<br />
insbesondere aber Funktionalitätseinschränkungen<br />
verb<strong>und</strong>en sind.<br />
Ein Beispiel für ein gruppentheoretisches<br />
Lehrmaterial der dritten Realisierungsstufe ist<br />
das Lehrmaterial "Symmetrie molekularer<br />
Strukturen", das vom Autor entwickelt <strong>und</strong><br />
auf das in der Einleitung bereits hingewiesen<br />
wurde.<br />
Die Lehrmaterialien der dritten Realisierungsstufe<br />
ermöglichen den <strong>Lernen</strong>den mit<br />
ihren gegenüber herkömmlichen Lehrmedien<br />
neuartigen Darstellungsformen eine andere<br />
Sichtweise auf die Inhalte, wodurch der<br />
Lernprozess sehr bereichert werden kann.<br />
Des Weiteren kann auf der Gr<strong>und</strong>lage der<br />
bidirektionalen Interaktion zwischen den <strong>Lernen</strong>den<br />
<strong>und</strong> dem Lehrmaterial eine gegenüber<br />
herkömmlichen Lehrmedien stärkere<br />
Einbindung <strong>und</strong> Aktivierung der <strong>Lernen</strong>den<br />
erfolgen. Kritisch ist mit Blick auf die bereits<br />
erwähnte Diskussion über die Eignung des<br />
Computers als Lehrmedium festzuhalten,<br />
dass <strong>im</strong> Unterschied zu den beiden anderen<br />
Realisierungsstufen der <strong>Lernen</strong>de mit seinem<br />
Lernprozess zwangsläufig an das Medium<br />
Computer geb<strong>und</strong>en ist. Als ein weiterer Hinderungsgr<strong>und</strong><br />
für die Schaffung derartiger<br />
Lehrmaterialien kann der <strong>im</strong> Vergleich zu<br />
Hypertexten noch einmal höhere Entwicklungsaufwand<br />
angesehen werden.<br />
Mit dem Blick auf die didaktische Gestaltung<br />
von mult<strong>im</strong>edialen Lehrmaterialien, also gerade<br />
von Lehrmaterialien der dritten Realisierungsstufe,<br />
stellt sich gleich zu Beginn die<br />
Frage: Worin liegt eigentlich die Besonderheit<br />
des Lehrmediums Computer <strong>im</strong> Vergleich<br />
zu herkömmlichen Lehrmedien begründet?<br />
Der folgende Abschnitt wird sich mit dieser<br />
Frage auseinandersetzen.<br />
3 Die besondere Wirkungsweise<br />
des Computers <strong>im</strong><br />
Lernprozess<br />
Das Medium Computer zeichnet sich gegenüber<br />
herkömmlichen Medien (z.B. Büchern<br />
<strong>und</strong> Realmodellen) hauptsächlich durch eine<br />
Erweiterung der technischen Funktionalität
aus. Der Computer wirkt als ein Moderator<br />
herkömmlicher Darstellungsformen <strong>—</strong> Schulmeister<br />
(2002, 22) spricht vom "mediieren<br />
durch den Computer" <strong>—</strong> <strong>und</strong> kann somit das<br />
<strong>Lernen</strong> auf eine Art <strong>und</strong> Weise bereichern,<br />
die den herkömmlichen Medien fremd ist.<br />
Andererseits lassen sich mit dem Computer<br />
nicht alle wesentliche Bestandteile des Lehr<strong>und</strong><br />
Lernprozesses abdecken; <strong>—</strong> so ist das<br />
haptische Begreifen von mathematischen<br />
Zusammenhängen durch die Arbeit mit realen<br />
Modellen zumindest derzeit mit dem Medium<br />
Computer nicht realisierbar.<br />
Begründet nun aber der Computer eine qualitativ<br />
neue Darstellungsform? Natürlich nicht!<br />
Das Medium Computer ist hauptsächlich<br />
durch eine vernetzende Organisation herkömmlicher<br />
Darstellungsformen gekennzeichnet,<br />
wobei die Vernetzung nicht nur auf<br />
die Präsentation beschränkt bleibt, sondern<br />
auch die <strong>Lernen</strong>den (in Bezug auf die Lernmedien)<br />
integriert. Diese vernetzende Organisation<br />
herkömmlicher Medien unter Einbeziehung<br />
des menschlichen Individuums führt<br />
zu der erweiterten Wirkungsweise des Lehrmediums<br />
Computer (eine Wirkungsweise, die<br />
häufig als Multicodalität, Mult<strong>im</strong>odalität <strong>und</strong><br />
Interaktivität beschrieben wird). Die nachfolgende<br />
Abbildung 1 charakterisiert diese erweiterte<br />
Wirkungsweise.<br />
Der Lernprozess mit herkömmlichen Medien<br />
besitzt überwiegend monodirektionalen Charakter:<br />
Die <strong>Lernen</strong>den integrieren die vorgegebene<br />
mediale Darstellung in ihren Lernprozess,<br />
können jedoch nur wenig auf das<br />
Medium selbst zurückwirken (ein Modell<br />
Herkömmliche Medien<br />
Darstellungsangebot<br />
(vom <strong>Lehren</strong>den vorgegeben)<br />
Subjektiver<br />
Aneignungsprozess<br />
Lernprozess<br />
Eingeschränkte Rückwirkung<br />
Über die didaktische Gestaltung mult<strong>im</strong>edialer Lehrmaterialien<br />
kann von verschiedenen Seiten betrachtet,<br />
ein Bild kann ausgemalt, ein Text kann laut<br />
<strong>und</strong> leise, einmal oder mehrmals gelesen<br />
werden). Ähnliches tritt auch bei der Kombination<br />
mehrerer Darstellungsformen mit herkömmlichen<br />
Medien <strong>—</strong> Schulmeister (2002,<br />
21) spricht diesbezüglich von der "Sequenzialität<br />
der verschiedenen Medien" <strong>—</strong> zu Tage:<br />
Die <strong>Lernen</strong>den können zwar verschiedene<br />
Darstellungsangebote in ihren Lernprozess<br />
integrieren (entweder ein Bild <strong>im</strong> Buch betrachten<br />
oder den beschreibenden Text verinnerlichen<br />
oder beides nacheinander), dennoch<br />
überwiegt die monodirektionale Wirkung<br />
der herkömmlichen Medienkombination<br />
auf den Lernprozess (Abb. 1, links).<br />
Der Computer ermöglicht dagegen einen (idealerweise)<br />
wirklich bidirektionalen Charakter:<br />
Die <strong>Lernen</strong>den integrieren das Darstellungsangebot<br />
in ihren Lernprozess; zugleich<br />
aber können die <strong>Lernen</strong>den auf die Darstellung<br />
einwirken <strong>und</strong> sie ihren individuellen<br />
Vorstellungen entsprechend anpassen. Zudem<br />
ermöglicht die technische Funktionalität<br />
des Computers, mehrere verschiedene Darstellungsangebote<br />
den <strong>Lernen</strong>den zur Auswahl<br />
zu stellen. Demzufolge erstreckt sich<br />
die Rückwirkungsmöglichkeit ebenfalls auf<br />
die Auswahl eines für die <strong>Lernen</strong>den individuell<br />
geeigneten Darstellungsangebots. Zusätzlich<br />
ermöglichen die neuen Medien eine<br />
individuelle Neuorganisation des der Darstellung<br />
zugr<strong>und</strong>e liegenden Mediennetzes in<br />
Abhängigkeit von der jeweiligen Lernsituation<br />
(Abb. 1, rechts).<br />
Computer<br />
Darstellungsangebote<br />
Darstellungsangebot<br />
(individuell ausgewählt)<br />
Subjektiver<br />
Aneignungsprozess<br />
Lernprozess<br />
Individuelle Auswahl<br />
eines Angebots<br />
Individuelle Anpassung<br />
des Angebotes<br />
Individuelle Neuorganisation<br />
des Mediennetzes<br />
Abb. 1: Die Wirkungsweise der herkömmlichen Lehrmaterialien <strong>und</strong> des Computers <strong>im</strong> Vergleich. Mit herkömmlichen<br />
Medien findet hauptsächlich ein monodirektionaler Lernprozess statt (Abb. links), wohingegen mit dem Lehrmedium<br />
Computer der Lernprozess interaktiv (bidirektional) gestaltet werden kann (Abb. rechts).<br />
203
Bert Xylander<br />
Bedeutsam für einen Erfolg dieser erweiterten<br />
Wirkungsweise des Lehrmediums Computer<br />
<strong>im</strong> Lernprozess ist in jedem Fall die aktive<br />
Teilnahme der <strong>Lernen</strong>den <strong>und</strong> das Nutzen<br />
der erweiterten Angebote: Wird durch die<br />
<strong>Lernen</strong>den nicht aktiv-kreativ von der Wirkungsweise<br />
des Computers Gebrauch gemacht,<br />
reduziert sich der Darstellungseffekt<br />
des Computers auf das Niveau der herkömmlichen<br />
Medien.<br />
Natürlich ist es notwendig, überhaupt erst<br />
einmal solche, die erweiterte Wirkungsweise<br />
des Computers realisierende Lehrmaterialien<br />
zu entwickeln <strong>und</strong> anschließend den <strong>Lernen</strong>den<br />
anzubieten. Derartige Lehrmaterialien<br />
zeichnen sich durch mult<strong>im</strong>ediale Darstellungsformen<br />
aus, vor allem aber auch dadurch,<br />
dass ihre inhaltliche Struktur <strong>und</strong> ihre<br />
didaktische Organisation dem Medium Computer<br />
angepasst werden.<br />
Im folgenden Abschnitt wird nun <strong>—</strong> fortsetzend<br />
mit der inhaltlichen Fokussierung auf<br />
die Gruppentheorie <strong>—</strong> diskutiert, wie eine<br />
solche didaktische Konzeption mult<strong>im</strong>edialer<br />
Lehrmaterialien gestaltet werden kann. Aus<br />
der Betrachtung des Beispiellehrmaterials<br />
"Symmetrie molekularer Strukturen" werden<br />
didaktische Leitlinien <strong>und</strong> Ideen speziell für<br />
das Lehrmedium Computer entwickelt <strong>und</strong><br />
formuliert. Die Leitlinien <strong>und</strong> Ideen basieren<br />
dabei auf gr<strong>und</strong>legenden Konzepten, die für<br />
die neue Situation des <strong>Lernen</strong>s mit mult<strong>im</strong>edialen<br />
Lehrmaterialien präzisiert <strong>und</strong> weiter<br />
entwickelt werden. Es wird sich insbesondere<br />
zeigen, dass die didaktischen Gestaltungsprinzipien<br />
das verbindende Gr<strong>und</strong>gerüst darstellen,<br />
mit dem die inhaltliche <strong>und</strong> mediale<br />
Struktur eines mult<strong>im</strong>edialen Lehrmaterials<br />
zu einem funktionierenden Ganzen erfolgreich<br />
zusammengeführt werden kann.<br />
4 Mult<strong>im</strong>ediale Gruppentheorie:<br />
Ein didaktisches<br />
Konzept<br />
Die didaktische Konzeption eines mult<strong>im</strong>edialen<br />
Lehrmaterials in Ausrichtung auf das<br />
Lehrmedium Computer muss eine andere<br />
sein als die didaktische Konzeption in Ausrichtung<br />
auf herkömmliche Lehrmedien: Allein<br />
schon der Anspruch, die Wirkungsweise<br />
des Computers in die inhaltliche <strong>und</strong> mediale<br />
Gestaltung zu integrieren, erfordert ein Überdenken<br />
<strong>und</strong> Anpassen herkömmlicher Darstellungsstrategien,<br />
womit nahezu zwangsläufig<br />
ein Aufbrechen herkömmlicher Lehrkonzepte<br />
verb<strong>und</strong>en sein wird.<br />
204<br />
Im Folgenden werden die didaktischen Prinzipien<br />
erörtert, die sich für die Gestaltung des<br />
mult<strong>im</strong>edialen gruppentheoretischen Lehrmaterials<br />
"Symmetrie molekularer Strukturen"<br />
als gr<strong>und</strong>legend <strong>und</strong> wirkungsvoll herausgestellt<br />
haben. Die Diskussion wird dabei zeigen,<br />
dass auch inhaltliche <strong>und</strong> mediale Betrachtungen<br />
mit herangezogen werden müssen.<br />
Es sei dazu auf die ausführliche Beschreibung<br />
der Inhaltsstruktur des Lehrmaterials<br />
sowie auf die Beschreibung der <strong>im</strong><br />
Lehrmaterial verwendeten medialen Darstellungsformen<br />
in (Z<strong>im</strong>mer et al. 2003) verwiesen.<br />
Ein didaktisches Konzept realisiert verschiedene<br />
Formen didaktischer Ideen <strong>und</strong> Prinzipien,<br />
die nach dem Allgemeinheitsgrad ihrer<br />
Wirkung <strong>und</strong> nach dem Grad ihres inhaltlichen<br />
<strong>und</strong> ihres medialen Bezuges charakterisiert<br />
werden können. Es zeigt sich jedoch<br />
auch, dass die didaktischen Prinzipien einander<br />
durchdringen <strong>und</strong> aufeinander einwirken.<br />
4.1 Inhaltsstrukturierung <strong>und</strong> systematisierende<br />
Darstellung<br />
Eine das gesamte Lehrmaterial umfassende<br />
Leitidee offenbart sich in einer strukturierten<br />
Organisation der Lehrinhalte. Im Lehrmaterial<br />
"Symmetrie molekularer Strukturen" spiegelt<br />
sich dies z.B. in einer kapitelübergreifenden,<br />
gleichartigen Inhaltsstruktur. Alle Kapitel sind<br />
jeweils inhaltlich gegliedert in Voraussetzungen<br />
<strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>begriffe, in einen Hauptteil<br />
(der eigentliche Inhaltsgegenstand), in eine<br />
Zusammenfassung <strong>und</strong> in eine Aufgaben<strong>und</strong><br />
Antwortsammlung. Diese strukturierte Inhaltsorganisation<br />
wird unterstützt durch die<br />
physisch-technische Gliederungshierarchie<br />
der Lehrinhalte in Kapitel, Abschnitte <strong>und</strong><br />
Lehreinheiten.<br />
Das Konzept der Inhaltsstrukturierung beschreibt<br />
die inhaltliche Grobstruktur <strong>und</strong> ihre<br />
konkrete physisch-technische Realisierung.<br />
Wird die Betrachtung noch weiter herunter<br />
gebrochen auf die inhaltliche Strukturbetrachtung<br />
der Lehreinheiten, so wird eine<br />
systematisierende Inhaltsdarstellung deutlich.<br />
In der Entwicklung des Lehrmaterials<br />
stellt sich nämlich für verschiedene Lehrinhalte<br />
eine systematisierende Darstellungsweise<br />
als überaus geeignet heraus, diese Inhalte<br />
zu vermitteln. Die Systematisierung erfolgt<br />
dabei sowohl übergreifend über mehrere<br />
Lehreinheiten als auch innerhalb einzelner<br />
Lehreinheiten. Die <strong>Lernen</strong>den können somit<br />
die Inhalte vergleichend studieren, Gemeinsamkeiten<br />
<strong>und</strong> Unterschiede erkennen <strong>und</strong>
auf diese Weise aktiv ihr eigenes, systematisierendes<br />
Wissensnetz konstruieren. Diese<br />
didaktisch motivierte Form der selbst vollzogenen<br />
Inhaltsstrukturierung wird als das<br />
Prinzip der systematisierenden Darstellung<br />
bezeichnet.<br />
4.2 Didaktische Differenzierung<br />
<strong>und</strong> inhaltliche Ergänzungen<br />
Eine andere didaktisch begründete Form der<br />
Inhaltsstrukturierung beschreibt das vertraute<br />
Prinzip der didaktischen Differenzierung.<br />
Dieses Prinzip findet <strong>im</strong> Lehrmaterial seinen<br />
Niederschlag dadurch, dass Inhalte als vertiefende<br />
Inhalte zusätzlich zu den <strong>im</strong> Regelfall<br />
nicht-vertiefenden Inhalten organisiert<br />
werden, um somit den Studierenden verschiedene<br />
Schwierigkeitsgrade <strong>und</strong> Anforderungsniveaus<br />
zu bieten.<br />
Die didaktische Differenzierung erfolgt dabei<br />
auf zwei unterschiedlichen Wegen. Zum einen<br />
werden vertiefende Lehreinheiten in das<br />
Lehrmaterial integriert, die prinzipiell ein höheres<br />
inhaltliches Niveau realisieren. Diese<br />
Vertiefungen stellen eigenständige inhaltliche<br />
Komplexe dar, in denen umfangreiche Inhaltsbezüge<br />
behandelt werden.<br />
Eine zweite Form der didaktischen Differenzierung<br />
drückt sich mit dem Konzept der inhaltlichen<br />
Ergänzungen aus. Das Konzept<br />
realisiert innerhalb der Lehreinheiten (sowohl<br />
innerhalb der nicht-vertiefenden, als auch innerhalb<br />
der vertiefenden Lehreinheiten) zusätzliche<br />
Wissensangebote in Form von<br />
Fußnoten, Vertiefungen oder Aufgaben. Die<br />
Studierenden können diese kontextabhängigen<br />
Angebote nutzen, sind dazu jedoch nicht<br />
verpflichtet. Die zusätzlichen Angebote ergänzen<br />
das Lehrmaterial in der Form von<br />
Popup-Fenstern.<br />
4.3 Inhaltliche Konsistenz <strong>und</strong><br />
inhaltliche Vorwegnahme<br />
Mit dem Prinzip der inhaltlichen Konsistenz<br />
wird ein spezielles, ebenfalls inhaltsorientiertes<br />
didaktisches Prinzip vorgestellt. Die Wirkung<br />
dieses Prinzips geht mit der Realisierung<br />
von inhaltlichen Leitlinien <strong>im</strong> Lehrmaterial<br />
einher. Solche Leitlinien bestehen darin,<br />
dass z. B. verschiedene Inhalte <strong>im</strong>mer wieder<br />
am gleichen Beispiel exemplarisch erklärt<br />
<strong>und</strong> veranschaulicht werden oder dass die<br />
Lehrinhalte pyramidal aufeinander aufbauen.<br />
Ausdruck des Prinzips der inhaltlichen Konsistenz<br />
ist neben den inhaltlichen Leitlinien<br />
Über die didaktische Gestaltung mult<strong>im</strong>edialer Lehrmaterialien<br />
aber auch der Aspekt der inhaltlichen Vorwegnahme.<br />
Diese erfasst Begriffsinhalte <strong>und</strong><br />
inhaltliche Zusammenhänge anschaulich <strong>und</strong><br />
intuitiv; erst zu einem viel späteren Zeitpunkt<br />
<strong>—</strong> nach entsprechend ausgebildeter theoretischer<br />
Gr<strong>und</strong>legung <strong>—</strong> werden die Begriffe<br />
<strong>und</strong> Zusammenhänge in einer mathematischen<br />
Terminologie exakt erfasst.<br />
4.4 Abgeschlossene Lehreinheiten<br />
Ein weiteres didaktisches Prinzip, das hauptsächlich<br />
inhaltsorientiert wirksam wird, findet<br />
sich in dem Prinzip der abgeschlossenen<br />
Lehreinheiten. Nach diesem Prinzip werden<br />
inhaltliche Zusammenhänge derart organisiert,<br />
dass sie innerhalb einer Lehreinheit zusammenhängend<br />
darstellbar sind. Erforderlich<br />
ist also die Konzentration auf das Wesentliche,<br />
auf kurze <strong>und</strong> überschaubare elementare<br />
Lehreinheiten. In herkömmlichen<br />
Lehrmedien können sich zusammenhängende<br />
Inhalte über mehrere physische Einheiten<br />
verteilen. Im Gegensatz dazu kapselt das<br />
Prinzip der abgeschlossenen Lehreinheiten<br />
zusammenhängende Lehrinhalte innerhalb<br />
einer physischen Einheit (der Lehreinheit).<br />
Die bisher beschriebenen didaktischen Prinzipien<br />
sind durch ihre inhaltliche Orientierung<br />
geprägt. Mit dem Konzept der darstellungsorientierten<br />
Veranschaulichung durch mult<strong>im</strong>ediale<br />
Elemente wird nun ein allgemeines<br />
mediales Konzept betrachtet.<br />
4.5 Veranschaulichung <strong>und</strong><br />
Anschaulichkeit<br />
Das Konzept der darstellungsorientierten<br />
Veranschaulichung wird <strong>im</strong> Lehrmaterial<br />
"Symmetrie molekularer Strukturen" wesentlich<br />
durch virtuell-dreid<strong>im</strong>ensionale Modelle<br />
<strong>und</strong> durch dynamische Medien-Korrelationen<br />
geprägt (zu den Bezeichnungen vgl. Z<strong>im</strong>mer<br />
2003). Mit ihrer hervorragenden Eignung,<br />
abstrakt-mathematische Begriffe <strong>und</strong> Zusammenhänge<br />
dynamisch veranschaulichen<br />
zu können (s. Abb. 2), besitzen diese beiden<br />
Darstellungsformen mult<strong>im</strong>edialer Elemente<br />
einen besonderen Stellenwert für das Gesamtkonzept<br />
des Lehrmaterials.<br />
Auf der Gr<strong>und</strong>lage des Konzepts der darstellungsorientierten<br />
Veranschaulichung lassen<br />
sich spezielle didaktische Prinzipien formulieren,<br />
die sowohl inhaltsorientiert als auch medial<br />
orientiert wirken: Das Prinzip der Anschaulichkeit<br />
ergänzt das Prinzip der abgeschlossenen<br />
Lehreinheiten insofern, als zusätzlich<br />
zur zusammenhängenden Inhalts-<br />
205
Bert Xylander<br />
darstellung eine anschauliche Inhaltsorganisation<br />
eingefordert wird. Realisiert wird dieses<br />
Prinzip hauptsächlich durch die Kombination<br />
inhaltlicher Textdarstellung mit darstellungsorientierten<br />
Veranschaulichungen (z.B.<br />
in Form virtuell-dreid<strong>im</strong>ensionaler Modelle<br />
oder dynamischer Medien-Korrelationen).<br />
4.6 Aktivitätsförderung<br />
Ebenfalls als inhaltsorientiertes, aber auch<br />
medial orientiertes Prinzip wirkt das Prinzip<br />
der Aktivitätsförderung. Dieses Prinzip beschreibt<br />
die Gestaltung der Lehreinheiten als<br />
eine ausgewogene Mischung textueller Inhaltsdarstellung<br />
mit interaktiven mult<strong>im</strong>edialen<br />
Elementen, die sich wechselseitig sinnunterstützend<br />
durchdringen. Didaktischer Hintergr<strong>und</strong><br />
ist die Mischung instruktiver Texte<br />
mit aktivitätsfördernden Elementen, um verschiedene<br />
Lerntypen anzusprechen. Als<br />
zweiter Aspekt des Prinzips der Aktivitätsförderung<br />
soll das Handeln der Studierenden<br />
betont werden. Nur durch ein selbst best<strong>im</strong>mtes,<br />
aktives Erarbeiten sind die Studierenden<br />
in der Lage, sich die <strong>—</strong> vielfach abstrakten<br />
<strong>—</strong> Inhalte eigenständig anzueignen.<br />
Bedeutung kommt hierbei auch dem motivationalen<br />
Aspekt der Auseinandersetzung mit<br />
den Lehrinhalten bei: Aktivitätsfördernde<br />
(mult<strong>im</strong>ediale) Komponenten sind in der Lage,<br />
eine <strong>—</strong> für einen Lernerfolg notwendige<br />
<strong>—</strong> intrinsische Motivationslage extrinsisch<br />
aufzuwerten.<br />
4.7 Aktive Lernkontrolle<br />
Ein wesentlicher Bestandteil jedes mult<strong>im</strong>edialen<br />
Lehrmaterials sind die Formen der<br />
Lernkontrolle. Die Gestaltung der Lernkontrolle<br />
wird durch fünf verschiedene didaktische<br />
Aspekte geprägt: durch die inhaltliche<br />
206<br />
Drehung um 90°<br />
Drehachse<br />
Drehung um 45°<br />
Transparenz<br />
Drehung um 90°<br />
Drehachse<br />
Drehung um 45°<br />
Transparenz<br />
Abb. 2: Drehoperationen an einem virtuell-dreid<strong>im</strong>ensionalen Würfelmodell: Mit Hilfe des miniaturisierten Vergleichmodells<br />
in Ausgangslage (in der linken oberen Ecke) ist leicht nachzuvollziehen, dass eine Drehung um einen Winkel von 90° um<br />
die dargestellte Drehachse eine Symmetrieoperation <strong>—</strong> bzw. Deckabbildung <strong>—</strong> ist (linke Seite; nach der Drehung); die<br />
Drehung um einen Winkel von 45° dagegen nicht (rechte Seite; nach der Drehung).<br />
<strong>und</strong> durch die mediale Organisation der<br />
Lernkontrolle, durch den Aspekt der Aktivitätsförderung,<br />
durch die individuell determinierten<br />
Aspekte der Eigenverantwortlichkeit<br />
<strong>und</strong> der Lernbereitschaft der Studierenden.<br />
Das damit charakterisierte Spannungsfeld<br />
begründet das didaktische Prinzip der aktiven<br />
Lernkontrolle.<br />
Im Lehrmaterial "Symmetrie molekularer<br />
Strukturen" werden fünf Aufgabentypen zur<br />
Lernkontrolle eingesetzt: Wissensaufgaben,<br />
Lernaufgaben, Anwendungsaufgaben, Formalaufgaben<br />
<strong>und</strong> Handlungsaufgaben:<br />
Wissensaufgaben: Nennen Sie 3 Unterschiede<br />
zwischen Drehspiegelachsen Sn mit<br />
geradem n <strong>und</strong> ungeradem n.<br />
Lernaufgaben: Warum ist die S2-Symmetrie<br />
äquivalent zur Inversionssymmetrie?<br />
Anwendungsaufgaben: Kann es eine Symmetrieachse<br />
geben, bei der die Symmetrieoperation<br />
mit dem kleinsten Drehwinkel eine<br />
Drehung um 35° ist?<br />
Formalaufgaben: Beurteilen Sie die folgenden<br />
Aussagen nach ihrer Richtigkeit:<br />
• Die Menge {1, -1} bildet eine Gruppe.<br />
• Die Menge {1, -1} bildet mit der Addition<br />
eine Gruppe.<br />
• Die Menge {1, -1} bildet mit der Multiplikation<br />
eine Gruppe.<br />
Handlungsaufgaben: Ermitteln Sie aus den<br />
Drehsymmetrieoperationen der drei senkrecht<br />
aufeinander stehenden C2-Achsen des<br />
Tetraeders die zugehörige Gruppentafel (s.a.<br />
Abb. 3).<br />
Tab. 1: Beispiele für die fünf Formen der Lernkontrolle<br />
<strong>im</strong> Lehrmaterial "Symmetrie molekularer Strukturen"<br />
Unterscheidungskriterien sind neben dem<br />
Grad der Aktivitätsförderung die didaktische<br />
Intention, die inhaltliche Organisation <strong>und</strong> die<br />
mediale Präsentation der Lernkontrolle.
Die Einteilung der Aufgabenformen reicht<br />
dabei über die oft verwendete, nahezu klassische<br />
Eingruppierung in Reproduktionsaufgaben,<br />
Anwendungsaufgaben <strong>und</strong> Transferaufgaben<br />
hinaus. Diese Erweiterung ist sowohl<br />
inhaltlich (Aufgaben zur Gruppentheorie)<br />
als auch medial (besonders handlungsfördernde<br />
Aufgaben) begründet.<br />
Über die mediale Organisation der Aufgaben<br />
<strong>im</strong> Lehrmaterial als eine Form der inhaltlichen<br />
Ergänzung wurde bereits in (Z<strong>im</strong>mer et<br />
al. 2003) berichtet. Die Analyse der medialen<br />
Gestaltung der Lernkontrolle selbst führt zu<br />
einer Unterscheidung der Aufgabenformen<br />
nach dem Grad der Aktivitätsförderung. Anzutreffen<br />
sind Aufgabentypen in einer eher<br />
konventionellen Ausprägung bis hin zur Aufgabentypen,<br />
die sich durch eine hohe Handlungsorientierung<br />
auszeichnen.<br />
Unter Wissensaufgaben werden solche Aufgaben<br />
verstanden, deren Beantwortung<br />
durch das alleinige Studium zusammenhängender<br />
Lerneinheiten erfolgen kann.<br />
Bevorzugte mediale Gestaltungsmittel sind<br />
dabei Textelemente <strong>und</strong> einfache virtuelldreid<strong>im</strong>ensionale<br />
Modelle.<br />
Bei Lernaufgaben erfahren die Studierenden<br />
<strong>im</strong> Sinne der inhaltlichen Ergänzung neue inhaltliche<br />
Zusammenhänge, die in Beantwortung<br />
der Aufgabe selbstständig aus bereits<br />
vorhandenem Wissen konstruiert werden<br />
können <strong>und</strong> sollen. Diese Aufgabenform ist<br />
zum überwiegenden Teil durch Textdarstellungen<br />
best<strong>im</strong>mt.<br />
Anwendungsaufgaben treten sehr häufig <strong>im</strong><br />
Über die didaktische Gestaltung mult<strong>im</strong>edialer Lehrmaterialien<br />
Abb. 3: Die Entwicklung der Gruppentafel der Kleinschen Vierergruppe als eine Handlungsaufgabe:<br />
In dem virtuell-dreid<strong>im</strong>ensionalen Handlungsmodell können in der Eingangszeile<br />
<strong>und</strong> in der Eingangsspalte der Gruppentafel die Symmetrieoperationen der<br />
zweizähligen Achsen des rechten Tetraedermodells ausgewählt <strong>und</strong> als (an<strong>im</strong>ierte) Drehung<br />
an der entsprechenden Achse dargestellt werden. Im Anschluss daran muss die<br />
aus den beiden gewählten Symmetrieoperationen resultierende Operation <strong>—</strong> durch die<br />
farbig markierten Eckpunkte unterstützt <strong>—</strong> best<strong>im</strong>mt werden. Diese wird <strong>im</strong> linken Tetraedermodell<br />
(an<strong>im</strong>iert) dargestellt. Bei richtiger Best<strong>im</strong>mung wird das Symbol in der Verknüpfungstafel<br />
eingetragen, oder es erfolgt ein erneuter Lösungsversuch.<br />
Lehrmaterial auf. Als Anwendungsaufgaben<br />
werden alle die Aufgaben verstanden, die<br />
durch das Anwenden oder auch Kombinieren<br />
der bereits erworbenen Kenntnisse beantwortet<br />
werden können. Im Unterschied zu<br />
den Lernaufgaben handelt es sich zumeist<br />
um die konkrete (beispielhafte) Anwendung<br />
allgemeinen Wissens. Die mediale Gestaltung<br />
kann sehr vielseitig sein, überwiegend<br />
treten Textdarstellungen in Kombination mit<br />
einfachen mult<strong>im</strong>edialen Elementen auf.<br />
Formalaufgaben sind Aufgaben zu formalmathematischen<br />
Inhalten. Hier geht es um<br />
gr<strong>und</strong>legende Formalien der Bezeichnungen<br />
<strong>und</strong> der Nomenklatur <strong>und</strong> um gr<strong>und</strong>legende<br />
Prinzipien gruppentheoretischer Methoden<br />
<strong>und</strong> Verfahren. Die mediale Darstellung ist<br />
überwiegend symbol- <strong>und</strong> textorientiert.<br />
Handlungsaufgaben als fünfte Form der<br />
Lernkontrolle sind gr<strong>und</strong>sätzlich handlungsorientiert<br />
ausgerichtet. Sie sind hauptsächlich<br />
anhand virtuell-dreid<strong>im</strong>ensionaler Handlungsmodelle<br />
zu erarbeiten. Dabei ist der aktivitätsfördernde<br />
Aspekt <strong>im</strong> Vergleich zu den<br />
anderen Aufgabentypen in besonderem Maße<br />
entwickelt (vgl. Abb. 3).<br />
4.8 Das didaktische Gr<strong>und</strong>gerüst<br />
mult<strong>im</strong>edialer Lehrmaterialien<br />
In Zusammenfassung der vorangehenden<br />
Abschnitte entsteht die Gesamtheit der didaktischen<br />
Leitlinien <strong>und</strong> Prinzipien als ein<br />
didaktisches Gr<strong>und</strong>gerüst für das Lehrkonzept<br />
eines mult<strong>im</strong>edialen Lehrmaterials (s.<br />
Abb. 4). Formuliert<br />
wurden inhaltlich<br />
<strong>und</strong> medial orientierte<br />
Konzepte, Leitideen<br />
<strong>und</strong> didaktische<br />
Prinzipien. Einige<br />
der didaktischen<br />
Prinzipien<br />
sind in ihrer Umsetzung<br />
von den herkömmlichen<br />
Medien<br />
her bereits bekannt,<br />
so das Prinzip der<br />
didaktischen Differenzierung<br />
oder das<br />
Prinzip der inhaltli-<br />
chen Konsistenz. Einige<br />
Prinzipien richten<br />
ihre Wirkungsweise<br />
aber auch<br />
speziell auf das<br />
Lehrmedium Computer<br />
aus. Zu nennen<br />
sind hier das<br />
207
Bert Xylander<br />
Prinzip der abgeschlossenen Lehreinheiten,<br />
die mediale Funktionalität des Konzepts der<br />
inhaltlichen Ergänzungen, das Konzept der<br />
darstellungsorientierten Veranschaulichung<br />
mit mult<strong>im</strong>edialen Elementen, das<br />
Prinzip der Aktivitätsförderung <strong>und</strong> das Prinzip<br />
der aktiven Lernkontrolle.<br />
5 Zum Abschluss<br />
Bei aller Begeisterung für das <strong>Lernen</strong> mit<br />
neuen Medien kann dem Computer keine<br />
herausragende Stellung <strong>im</strong> Hinblick auf den<br />
Einsatz als Lehrmedium zugeschrieben werden:<br />
Der Computer sollte vielmehr als eine<br />
wichtige Ergänzung in dem breiten Spektrum<br />
der bereits existierenden Lehrmedien angesehen<br />
<strong>und</strong> eingesetzt werden.<br />
Dennoch erscheint es <strong>—</strong> gerade mit Sicht auf<br />
die Darstellungs- <strong>und</strong> Vermittlungsmöglichkeiten<br />
des Lehrmediums Computer <strong>—</strong> lohnenswert,<br />
die Entwicklung von speziellenmult<strong>im</strong>edialen<br />
Lehrmaterialien voranzutreiben<br />
208<br />
Inhaltsstrukturierung<br />
Systematisierende Darstellung<br />
Didaktische Differenzierung<br />
Inhaltliche Ergänzungen<br />
Inhaltliche Konsistenz<br />
Inhaltliche Vorwegnahme<br />
Anschaulichkeit<br />
Darstellungsorientierte Veranschaulichung<br />
Aktivitätsförderung<br />
Abgeschlossene Lehreinheiten<br />
Aktive Lernkontrolle<br />
Abb. 4: Ein didaktisches Gr<strong>und</strong>gerüst für das Lehrkonzept eines mult<strong>im</strong>edialen<br />
Lehrmaterials.<br />
Literatur<br />
<strong>und</strong> zu vertiefen. Mit den<br />
medialen Darstellungsformen<br />
des Computers eröffnen sich<br />
vielversprechende Ansätze<br />
zur Darstellung mathematischer<br />
Inhalte, die sich in dieser<br />
Form nicht mit herkömmlichen<br />
Lehrmaterialien realisieren<br />
lassen. Zudem können<br />
<strong>—</strong> basierend auf der<br />
Wirkungsweise des Computers<br />
<strong>—</strong> die <strong>Lernen</strong>den die<br />
mult<strong>im</strong>edialen Lehrmaterialien<br />
sehr intensiv in ihren<br />
selbstständigen Lernprozess<br />
integrieren: Sie können auf<br />
verschiedene Weise auf das<br />
Medium einwirken <strong>und</strong> damit<br />
das Lehrmaterial ihren Bedürfnissen<br />
<strong>und</strong> Vorstellungen<br />
individuell anpassen.<br />
Hebisch, Udo (2002): Freiberger Web-Vorlesung<br />
über Klassische Algebra. www.mathe.tufreiberg.de/~hebisch/cafe/algebra/<br />
Schulmeister, Rolf (2002): Gr<strong>und</strong>lagen hypermedialer<br />
Lernsysteme: Theorie – Didaktik – Design.<br />
München, Wien: Oldenbourg, 2002<br />
Z<strong>im</strong>mer, Bert; Clemens Bruhn & Dirk Steinborn<br />
(2002): <strong>Lernen</strong> mit dem <strong>Internet</strong> <strong>im</strong> Selbststudium:<br />
Symmetrie molekularer Strukturen <strong>—</strong> eine<br />
Lerneinheit <strong>und</strong> Erfahrungen. In: Wilfried<br />
Herget et al. (Hrsg.) (2002): Medien verbreiten<br />
<strong>Mathematik</strong>. Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker, 62–71<br />
Z<strong>im</strong>mer, Bert (2003): Veranschaulichung in der<br />
Gruppentheorie. In: Beiträge zum <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
2003. Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker,<br />
673–676<br />
Z<strong>im</strong>mer, Bert; Karin Richter & Wilfried Herget<br />
(2003): Gruppentheorie <strong>—</strong> anschaulich mit<br />
dem Computer. In: Peter Bender et al. (Hrsg.)<br />
(2003): Lehr- <strong>und</strong> Lernprogramme für den <strong>Mathematik</strong>unterricht.<br />
Hildeshe<strong>im</strong>: Franzbecker,<br />
162–173
� Die Apfelsinenkiste <strong>im</strong> Hyde-Park <strong>—</strong><br />
Lernplattformen für den ersten Auftritt<br />
Siegfried Zseby, Berlin<br />
H<strong>und</strong>erte von Lernplattformen wurden bereits von Evaluationen erfasst. "Stabilität der<br />
Kiste" ist nicht nur <strong>im</strong> Hyde-Park ein wichtiges Entscheidungskriterium. Sie beeinflusst<br />
bei Webservern die Entscheidung zwischen Windows <strong>und</strong> Linux wie bei Autos zwischen<br />
A-Klasse <strong>und</strong> Ferrari.<br />
Doch Vorsicht: Michael Schumacher braucht mehr PS als Lehrer Lämpel, <strong>und</strong> ob die<br />
<strong>Lernen</strong>den als Zuschauer oder als Akteure geworben werden sollen, macht einen Unterschied,<br />
nicht zuletzt wegen der Kosten.<br />
In diesem Beitrag geht es um das Zusammenspiel von Lernplattform, Content <strong>und</strong> E-<br />
Moderating. Dabei wird E-Moderating als "E-Motivating" eine Schlüsselfunktion erhalten<br />
<strong>und</strong> die Anforderungen an die "Lernplattform für den ersten Auftritt" etwas relativieren.<br />
1 Einleitung<br />
Seit Dezember vorigen Jahres gibt es an der<br />
Fachhochschule für Wirtschaft (FHW) Berlin<br />
die InitiativGruppe E-Learning, kurz IGEL<br />
genannt. Anfangs war es eine Gruppe von<br />
fünf Aktivisten, die mit dem bisherigen bloßen<br />
Zuschauen be<strong>im</strong> E-Learning nicht zufrieden<br />
waren: Wäre es nicht möglich, eine<br />
Lernplattform für den ersten Auftritt zu finden,<br />
die unserer Initiative einen angemessenen<br />
Rahmen geben könnte?<br />
Die Anzahl der angebotenen Lernplattformen<br />
ist inzwischen so groß, dass man nicht einmal<br />
die Literatur darüber <strong>—</strong> Neuentwicklungen,<br />
Erfahrungsberichte, vergleichende Evaluationen<br />
<strong>—</strong> zu überblicken vermag. Unser<br />
Beauftragter für Mult<strong>im</strong>edia, Professor für<br />
Marketing, <strong>und</strong> ich hatten einige Veranstaltungen<br />
besucht, in denen namhafte Lernplattformen<br />
wie WebCT <strong>und</strong> Blackboard vorgestellt<br />
wurden. Ich hatte eine zweitägige<br />
Schulung mit Clix Campus besucht. Kurzum:<br />
wir waren hinreichend verwirrt.<br />
2 Lernplattformen<br />
Als Lernplattform oder Learning Management<br />
System (LMS) werden nach Schulmeister<br />
(2003) <strong>—</strong> <strong>im</strong> Unterschied zu bloßen Kollektionen<br />
von Lehrskripten oder Hypertext-<br />
Sammlungen auf Web-Servern <strong>—</strong> Software-<br />
Systeme bezeichnet, die über folgende Funktionen<br />
verfügen:<br />
- Benutzerverwaltung (Anmeldung mit Verschlüsselung)<br />
- Kursverwaltung (Kurse, Verwaltung der<br />
Inhalte, Dateiverwaltung)<br />
- Rollen- <strong>und</strong> Rechtevergabe mit differenzierten<br />
Rechten<br />
- Kommunikationsmethoden (Chat, Foren)<br />
<strong>und</strong> Werkzeuge für das <strong>Lernen</strong> (Whiteboard,<br />
Notizbuch, Annotationen, Kalender<br />
etc.)<br />
- Darstellung der Kursinhalte, Lernobjekte<br />
<strong>und</strong> Medien in einem netzwerkfähigen<br />
Browser<br />
Häufig verwendet man hierfür auch den Begriff<br />
"Virtual Learning Environment" (VLE).<br />
Für den ersten Auftritt eignen sich insbesondere<br />
Lernplattformen, bei denen sich das Investitionsrisiko<br />
in Grenzen hält. Hierbei sind<br />
einerseits die direkten Kosten der Plattform<br />
zu bedenken, andererseits aber auch Kosten<br />
für Einarbeitung, Schulung, Erstellung von<br />
Inhalten <strong>und</strong> die Abhängigkeit einer Institution<br />
von einem Produkt.<br />
Zum Ausprobieren kann man durchaus daran<br />
denken, den freien Service eines großen Anbieters<br />
zu nutzen, z. B. "MSN Groups" oder<br />
"Yahoo! Groups". Als "Groupware" lässt sich<br />
auch "BSCW" (Basic Support for Cooperative<br />
Work) verwenden.<br />
Bei der Auswahl kam mir zugute, was ich<br />
selbst vor fünf Jahren von einem sehr engagierten<br />
Studenten gelernt hatte: Er hatte<br />
mich motiviert, mit dem Betriebssystem Linux<br />
zu arbeiten. Damals noch etwas für Leute,<br />
die etwas "daneben" waren (jedenfalls neben<br />
dem "mainstream"), hat es heute bereits die<br />
Server <strong>im</strong> B<strong>und</strong>estag erobert <strong>und</strong> ist wegen<br />
seiner Stabilität als Basis für Webserver erste<br />
Wahl. "Open Source" bedeutet, dass die<br />
209
Siegfried Zseby<br />
Programmierquellen offengelegt, von zahlreichen<br />
Experten weiterentwickelt <strong>und</strong> kostenlos<br />
zur Verfügung gestellt werden.<br />
Da ich also bereits seit 1998 Erfahrungen mit<br />
dem LAMP-System (Linux, Apache-Webserver,<br />
MySQL-Datenbank, PHP-Skriptsprache)<br />
hatte, war ich insbesondere an einer Open-<br />
Source-Lernplattform interessiert.<br />
Die Lernplattform "ILIAS Open Source" mit<br />
eben diesen Charakteristika hat in mehreren<br />
Vergleichsstudien recht gut abgeschnitten.<br />
Deshalb schien sie mir eine realistische Alternative<br />
zu international etablierten kommerziellen<br />
Plattformen wie WebCT <strong>und</strong> Blackboard<br />
zu sein.<br />
ILIAS wurde an der Universität zu Köln entwickelt<br />
<strong>und</strong> steht für "Integriertes Lern-, Informations-<br />
<strong>und</strong> ArbeitskooperationsSystem".<br />
Für die Installation auf einem Testserver benötigte<br />
ein erfahrener IT-Mitarbeiter, der sich<br />
auch mit der LAMP-Architektur gut auskennt,<br />
etwa eine Woche <strong>—</strong> neben seiner laufenden<br />
Arbeit. Bereits zu diesem Zeitpunkt begegneten<br />
wir dieser Plattform mit einiger Sympathie,<br />
da der offen liegende Quellcode einen<br />
recht übersichtlichen Eindruck machte <strong>und</strong><br />
auch der Support durch bereitwillige Unterstützung<br />
der Entwickler <strong>und</strong> zahlreicher User<br />
in Diskussionsforen gewährleistet schien.<br />
Im Januar organisierte ich eine einwöchige<br />
Inhouse-Schulung durch zwei erfahrene E-<br />
Trainer, die aus dem Umfeld der Kölner Entwickler<br />
kamen. Die Schulung richtete sich an<br />
Hochschullehrer <strong>und</strong> Kollegen aus dem Bereich<br />
"Information <strong>und</strong> Kommunikation" mit<br />
dem Ziel, Lehrveranstaltungen durch interaktive<br />
Online-Angebote attraktiver <strong>und</strong> zeitgemäßer<br />
aufzubereiten. Dieses Angebot wurde<br />
sehr gut aufgenommen. Insgesamt nahmen<br />
21 Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen an der Schulung<br />
teil.<br />
Zu Beginn des Sommersemesters (April<br />
2003) haben wir neben dem Testserver einen<br />
wesentlich leistungsfähigeren Server in<br />
Betrieb genommen <strong>und</strong> darauf eine neuere<br />
ILIAS-Version installiert, die insbesondere<br />
auch die Möglichkeit des HTML-Imports bietet.<br />
Das System lief von Beginn an sehr stabil.<br />
Wir haben bisher keinerlei Probleme auf<br />
der Linux-Ebene zu beklagen.<br />
Abgesehen von der Schulung machte ich<br />
mich etwa zwei Monate lang mit den verschiedenen<br />
Rollen (Lerner, Autor, Administrator)<br />
innerhalb von ILIAS vertraut <strong>und</strong> sah<br />
mich danach in der Lage, mit Unterstützung<br />
durch einen studentischen Mitarbeiter E-<br />
Learning als Ergänzung zu meinen Präsenz-<br />
210<br />
veranstaltungen in einem bis dahin noch unklarem<br />
Umfang anzubieten.<br />
Wie man weiß, hat ILIAS auch etwas mit<br />
"Odyssee" zu tun. Mein Igel "Odysseus", der<br />
Listenreiche, war <strong>im</strong>mer mit <strong>im</strong> Boot. Einige<br />
Schwierigkeiten haben wir inzwischen kennen<br />
gelernt, <strong>und</strong> Widrigkeiten wird es sicher<br />
auch weiterhin geben. Bereits bei der Einführung<br />
der Schulung hatte ich darauf hingewiesen,<br />
dass es be<strong>im</strong> E-Learning um ein Jonglieren<br />
mit drei Bällen geht: Neben den Lerninhalten<br />
sind die didaktische Aufbereitung<br />
<strong>und</strong> die durch Medien unterstützte Präsentation<br />
<strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Auge zu behalten. ILIAS dient<br />
als Medium <strong>und</strong> als Container. Wie man den<br />
Content hineinbringt, haben wir in der Schulung<br />
ein wenig geübt. Die Frage, welchen<br />
Content man anbietet <strong>und</strong> wie man ihn nutzt,<br />
wird uns sehr intensiv zu beschäftigen haben,<br />
wenn wir die Lernplattform ernsthaft nutzen<br />
wollen.<br />
3 Lerninhalte (Content)<br />
Da mit der Installation einer Lernplattform sofort<br />
der "horror vacui" (Schrecken der Leere)<br />
offensichtlich wird, ist es naheliegend,<br />
schnellstens Inhalte zu produzieren oder einzukaufen.<br />
Für <strong>Lehren</strong>de besteht eine gewisse Versuchung<br />
darin, selbst produzierte Schriften als<br />
"Skripte" an die Studierenden zu verteilen,<br />
auch wenn sie ursprünglich nicht unmittelbar<br />
als Unterlagen für eine Lehrveranstaltung<br />
vorgesehen waren. Hat man einen eigenen<br />
Webserver oder zumindest Webspace zur<br />
Verfügung, so besteht die nächste Stufe darin,<br />
seine Skripten "ins Netz zu stellen". Mit<br />
einer Lernplattform wird man schließlich diese<br />
Produkte auf die Plattform bringen <strong>und</strong> sie<br />
als "Content" bezeichnen.<br />
In allen drei Phasen sind es die technischen<br />
Möglichkeiten, die sich gegenüber den didaktischen<br />
Gesichtspunkten behaupten: der Kopierer,<br />
der Webserver, die Lernplattform. Das<br />
Ergebnis sind zunächst abgeheftete Skripten,<br />
heruntergeladene Dateien <strong>und</strong> eine Sammlung<br />
von Lesezeichen (Bookmarks).<br />
Quantität <strong>und</strong> Qualität stehen nicht selten in<br />
einem unausgewogenen Verhältnis. "Bleiwüsten"<br />
textlastiger Inhalte, unzumutbare<br />
Formatierungen, gut gemeinte Illustrationen<br />
erzielen bei den <strong>Lernen</strong>den nicht den erhofften<br />
Erfolg. Frustration auf beiden Seiten setzt<br />
eine Abwärtsspirale in Gang, die sich möglicherweise<br />
auf einem unteren Niveau stabilisiert.
Welcher Art sollten die Inhalte einer Lernplattform<br />
sein?<br />
Als wesentliches Kriterium gilt die Interaktivität,<br />
also die Forderung, dass das Material<br />
be<strong>im</strong> <strong>Lernen</strong>den eine Aktivität auslöst. Als<br />
Mindestforderung für einen Text wird man<br />
voraussetzen, dass er gelesen wird. Schulmeister<br />
(2002) beschreibt eine Taxonomie<br />
der Interaktivität, bei der deutlich wird, dass<br />
das Anklicken von Links noch nicht der Gipfel<br />
ist.<br />
Ich verwende gern die Unterscheidung zwischen<br />
Anschauungsmaterial <strong>und</strong> Rohmaterial.<br />
Wenn die Studierenden die Leistungen<br />
des Professors bew<strong>und</strong>ern <strong>und</strong> von den erstellten<br />
Materialien begeistert sind, so heißt<br />
dies noch längst nicht, dass sie daraus etwas<br />
lernen. Provozierende Aufgabenstellungen,<br />
unvollkommene Entwürfe können durchaus<br />
für den Lernprozess wertvoller sein als vollendete<br />
Formulierungen <strong>und</strong> mult<strong>im</strong>ediale<br />
Kabinettstücke.<br />
Beispiel 1:<br />
Ziel ist es, alle 25 Lichter einzuschalten.<br />
Klickt man auf ein Quadrat, wird das Licht<br />
des Feldes <strong>und</strong> aller horizontal <strong>und</strong> vertikal<br />
daneben liegenden Felder umgeschaltet<br />
(aus-ein bzw. ein-aus).<br />
Abb. 1: Alle Lichter einschalten<br />
Beispiel 2:<br />
Gesucht ist die schnellste Verbindung von A<br />
nach B, wobei die Geschwindigkeit über den<br />
A<br />
C<br />
D = ?<br />
Abb. 2: Schnellste Verbindung<br />
Die Apfelsinenkiste <strong>im</strong> Hydepark <strong>—</strong> Lernplattformen für den ersten Auftritt<br />
B<br />
Acker (AD) geringer ist als die auf der Straße<br />
(DB). Im Zahlenbeispiel sind die Strecken AC<br />
= 100 m <strong>und</strong> CB = 200 m <strong>und</strong> die Geschwindigkeiten<br />
6 km/h bzw. 12 km/h gewählt.<br />
Auch von Studierenden selbst erzeugte <strong>und</strong><br />
präsentierte Materialien mit "intelligenten"<br />
Fehlern, über die Produzenten <strong>und</strong> Konsumenten<br />
diskutieren, sollten als Inhalte einer<br />
Lernplattform nicht tabu sein.<br />
Lerninhalte <strong>und</strong> Anzahl der Nutzer sind bisher<br />
noch recht gut überschaubar. Wie in Präsenzveranstaltungen<br />
hat dies den Vorteil,<br />
dass eine intensive Betreuung möglich ist<br />
<strong>und</strong> Erfahrungen unter Laborbedingungen<br />
gemacht werden können. Die ersten Monate<br />
haben meine Erwartungen an die Studierenden<br />
übertroffen: Die Akzeptanz war überaus<br />
positiv, die Diskussion von Fachproblemen<br />
der Finanzmathematik <strong>und</strong> der Analysis <strong>im</strong><br />
Forum war sehr lebhaft, dagegen wurde das<br />
Forum für technische Probleme ignoriert. Unter<br />
den Hochschullehrern ist die Resonanz<br />
inzwischen <strong>im</strong>merhin so groß, dass wir ILIAS<br />
als "die Lernplattform der FHW" bezeichnen<br />
können.<br />
Welchen Mehrwert können nun die <strong>Lehren</strong>den<br />
<strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>den erwarten?<br />
<strong>Lehren</strong>de können mit einer Lernplattform<br />
- ihre Materialien an einem zentralen Ort<br />
zur Verfügung stellen,<br />
- Medien verschiedenster Art einsetzen,<br />
- per Mail <strong>und</strong> Diskussionsforum kommunizieren,<br />
- Einzel- <strong>und</strong> Gruppenarbeiten auf der<br />
Lernplattform erstellen lassen,<br />
- den Lernprozess mit geringem Aufwand<br />
protokollieren,<br />
- eine neue Form der Betreuung kennen<br />
lernen (E-Moderating).<br />
Ein noch größerer Impuls ist von Seiten der<br />
Studierenden zu erwarten. Sie können<br />
- unabhängig von Zeit <strong>und</strong> Raum (<strong>Internet</strong>-<br />
Anschluss vorausgesetzt) Materialien zur<br />
Verfügung haben,<br />
- Medien verschiedenster Art nutzen,<br />
- untereinander <strong>und</strong> mit dem Lehrer per<br />
Mail <strong>und</strong> <strong>im</strong> Diskussionsforum kommunizieren,<br />
- über die Plattform eine Gemeinschaft bilden,<br />
- die Ergebnisse ihres Lernprozesses auf<br />
der Lernplattform präsentieren.<br />
211
Siegfried Zseby<br />
4 Betreuung (E-Moderation)<br />
Inhalt (Content) ist eine notwendige Voraussetzung<br />
für die Arbeit mit einer Lernplattform.<br />
Dass die wichtigste Komponente noch fehlt,<br />
ahnt man, wenn man erfährt, dass das MIT,<br />
also eine der renommiertesten Forschungs<strong>und</strong><br />
Lehrstätten der Welt, sich bereits vor einigen<br />
Jahren entschlossen hat, seine Inhalte<br />
frei zur Verfügung zu stellen. Das Besondere<br />
an der dortigen Ausbildung ist offenbar nicht<br />
das Material selbst, sondern die Art, wie <strong>Lehren</strong>de<br />
<strong>und</strong> <strong>Lernen</strong>de damit einen Lernprozess<br />
gestalten.<br />
Ich habe selbst an zwei umfangreichen Online-Seminaren<br />
teilgenommen, die jeweils<br />
länger als drei Monate dauerten <strong>und</strong> intensive<br />
regelmäßige Mitarbeit erforderten.<br />
Das erste Beispiel wendete sich an Sprachdozenten<br />
Berliner Volkshochschulen, die zu<br />
Betreuern von Online-Unterricht ausgebildet<br />
wurden. Die zehn DozentInnen hatten reichhaltige<br />
Erfahrung <strong>im</strong> Sprachunterricht verschiedener<br />
Fremdsprachen: Englisch, Französisch,<br />
Spanisch <strong>und</strong> Italienisch. Ich nahm<br />
mit meinen bescheidenen Fremdsprachenkenntnissen<br />
als Gast teil. In der frei zugänglichen<br />
Lernplattform MSN Groups arbeiteten<br />
wir in der Gruppe "Polyglott" zunächst in der<br />
Rolle der Teilnehmer, später konnten wir<br />
auch jeweils eigene Gruppen gründen, in der<br />
jeder die Rolle des Managers mit entsprechend<br />
umfangreicheren Kompetenzen übernehmen<br />
konnte. Die technische <strong>und</strong> didaktische<br />
Betreuung der Teilnehmer erfolgte arbeitsteilig<br />
durch zwei Personen, <strong>und</strong> es gab<br />
etwa alle zwei Wochen ein halbtägiges persönliches<br />
Treffen.<br />
Das zweite Beispiel war ein von der Universität<br />
Saarbrücken organisiertes internationales<br />
Online-Seminar namens "IKARUS", bei<br />
dem kein persönlicher Kontakt (face to face)<br />
vorgesehen war. Dabei wurden ebenfalls die<br />
Möglichkeiten des E-Learning behandelt. Die<br />
Arbeit wurde in wechselnden Gruppen durchgeführt,<br />
individueller Beitrag war eine Abschlussarbeit<br />
mit einem selbst gewählten<br />
Thema aus dem Bereich E-Learning, außerdem<br />
mussten jede Woche nicht ganz einfache<br />
Quiz-Aufgaben bearbeitet werden, die<br />
Recherchen <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> erforderten <strong>und</strong> als<br />
Multiple-Choice-Aufgabe formuliert waren.<br />
Die Gruppenaufgaben wurden in Foren diskutiert,<br />
<strong>und</strong> die Ergebnisse wurden den Tutoren<br />
zugeschickt. Termine waren klar vorgegeben.<br />
In beiden Fällen hatte ich das Glück, von hervorragenden<br />
Betreuern angeleitet zu werden.<br />
212<br />
Dies hat mich ermutigt <strong>—</strong> <strong>und</strong> hoffentlich befähigt<br />
<strong>—</strong> mit unserer Lernplattform ILIAS <strong>und</strong><br />
den selbst erstellten Lerneinheiten die ersten<br />
Lehrveranstaltungen, die selbstverständlich<br />
<strong>im</strong> Präsenzstudium durchgeführt werden,<br />
durch E-Learning zu ergänzen. Neben den<br />
erwähnten praktischen Erfahrungen als Teilnehmer<br />
an Online-Seminaren möchte ich als<br />
theoretische Gr<strong>und</strong>lage der neuen Betreuungsform<br />
exemplarisch das Buch von Gilly<br />
Salmon (2000) über "E-Moderating" nennen.<br />
In diesem Buch nennt Gilly Salmon fünf Stufen,<br />
die ein E-Moderator durchlaufen sollte:<br />
1. Zugang <strong>und</strong> Motivation<br />
2. Online-Sozialisation<br />
3. Informationsaustausch<br />
4. Wissenserwerb<br />
5. Entwicklung<br />
Die fünf Stufen sind die Gr<strong>und</strong>lage ihrer Moderatoren-Schulung.<br />
Jede Stufe enthält einerseits<br />
die für die Teilnehmer beschriebenen<br />
Lernziele, andererseits die erwarteten<br />
Aktivitäten des Moderators.<br />
Stufe 1 erfordert in technischer Hinsicht von<br />
den Teilnehmern die Vorbereitung des eigenen<br />
PC-Systems für den Zugang, auf der<br />
anderen Seite eine Begrüßung <strong>und</strong> Ermutigung<br />
durch den Moderator.<br />
Stufe 2 sollte etwa auf der technischen Seite<br />
das Senden <strong>und</strong> Empfangen von Mitteilungen,<br />
auf der persönlichen Seite das Überbrücken<br />
kultureller <strong>und</strong> sozialer Unterschiede<br />
beinhalten.<br />
Stufe 3 könnte sich mit der Suche nach <strong>und</strong><br />
der Bereitstellung von Lernmaterial beschäftigen,<br />
Stufe 4 mit dem Zusammenfassen <strong>und</strong> Aufbereiten<br />
der bearbeiteten Informationen <strong>und</strong><br />
Stufe 5 mit der Emanzipation von der Betreuung<br />
zur selbständigen Arbeit.<br />
Meine eigenen Erfahrungen begannen mit<br />
der Betreuung einer Lehrveranstaltung zur<br />
<strong>Mathematik</strong> (Analysis), in der die ersten vier<br />
Wochen für Finanzmathematik reserviert<br />
sind. Da ich hierfür bereits umfangreiches<br />
Material online hatte, schien mir dies ein vertretbarer<br />
Einstieg zu sein. Dadurch konnte<br />
ich mich stärker auf die Betreuung innerhalb<br />
der Lernplattform konzentrieren. Etwa 50<br />
Studierende waren registriert, ca. 35 normalerweise<br />
in der vierstündigen Lehrveranstaltung<br />
anwesend.<br />
Als äußerst zweckmäßig erwies sich die Aufteilung<br />
in 6 Gruppen, die ich einfach auf<br />
Gr<strong>und</strong> der Matrikelnummern vornahm. In je-
der Gruppe wurden ein Gruppenmanager<br />
<strong>und</strong> einen Stellvertreter best<strong>im</strong>mt. Die erste<br />
Aufgabe bestand darin, drei Typen von<br />
Übungsaufgaben (einmalige, regelmäßige<br />
<strong>und</strong> gemischte Zahlungen) zu bearbeiten <strong>und</strong><br />
in jeder Gruppe selbst eine Aufgabe von jedem<br />
Typ mit Musterlösung zu produzieren.<br />
Meine Idee dabei war "<strong>Lernen</strong> durch eigenes<br />
<strong>Lehren</strong>" oder wenigstens durch Präsentieren,<br />
Formulieren eigener Aufgaben. Die Studierenden<br />
mussten also selbst Lernelemente<br />
formulieren <strong>und</strong> dabei an die Adressaten<br />
denken. Diese Idee ist nicht neu: "It is well<br />
known in the teaching profession that the<br />
best way to learn something is to teach it.<br />
Just as the Web turns everyone into a publisher,<br />
so online courses give everyone the<br />
opportunity to be the teacher." (Robin Mason<br />
1998)<br />
Die Zeitvorgaben waren sehr kurz für den<br />
ersten, einfachen Aufgabentyp (4 Tage), da<br />
ich unbedingt sofort eine erste Aktivität auf<br />
der Lernplattform sehen wollte, <strong>und</strong> etwas toleranter<br />
(11 Tage) für die weiteren Aufgabentypen.<br />
Die Studierenden mussten die<br />
Entwürfe in ihrem Forum diskutieren, <strong>und</strong> die<br />
Gruppenmanager mussten mir die Ergebnisse<br />
als Mail innerhalb der Lernplattform zusenden.<br />
Nach zögerlichem Beginn wurde das<br />
Forum sehr diszipliniert genutzt, <strong>und</strong> meine<br />
Erwartungen erfüllten sich weitgehend.<br />
Einige Aufgabenvorschläge habe ich in meine<br />
Lerneinheit als "Beiträge von Studierenden"<br />
integriert, nicht <strong>im</strong>mer die besten,<br />
sondern <strong>—</strong> wie bereits <strong>im</strong> vorigen Kapitel angedeutet<br />
<strong>—</strong> auch solche mit "intelligenten"<br />
Fehlern, die dann in der Präsenzveranstaltung<br />
diskutiert wurden.<br />
Ich habe auch nach den vier Wochen "Finanzmathematik"<br />
<strong>im</strong> weiteren Verlauf der<br />
<strong>Mathematik</strong>-Veranstaltung die Lernplattform<br />
genutzt. Da wir inzwischen eine neuere Version<br />
von ILIAS installiert hatten, die HTML-<br />
Import gestattet, konnte ich die weiteren Inhalte<br />
etwas komfortabler produzieren. Hierzu<br />
gehört auch die oben erwähnte Opt<strong>im</strong>ierungsaufgabe<br />
der schnellsten Verbindung.<br />
Sie wurde auf unterschiedlichem Niveau diskutiert.<br />
Das Fehlen eines Koordinatensystems<br />
hat für ein breiteres Spektrum von Lösungsansätzen<br />
gesorgt.<br />
In einer weiteren Lehrveranstaltung "Informationssysteme"<br />
habe ich den Studierenden<br />
(<strong>im</strong> Hauptstudium) sogar Autorenrechte eingeräumt,<br />
so dass sie ihre Präsentationen<br />
selbst auch als Teile der Lerneinheit auf der<br />
Lernplattform publizieren können. Dabei ist<br />
zu bedenken, ob man Studierenden die Rolle<br />
Die Apfelsinenkiste <strong>im</strong> Hydepark <strong>—</strong> Lernplattformen für den ersten Auftritt<br />
des Autors mit einem System zumuten soll,<br />
das sie voraussichtlich danach kaum noch<br />
einmal benutzen werden.<br />
Meine wichtigste Erkenntnis bei der Betreuung<br />
besteht darin, dass E-Moderating in erster<br />
Linie E-Motivating bedeutet. Das kann<br />
auch in der Vermeidung von Demotivation<br />
bestehen, wofür ich ein kleines Beispiel anführen<br />
möchte:<br />
Ein Forumsbeitrag bezieht sich auf die Untersuchung<br />
der Funktion<br />
y = ln(3+x) – 5x + 10<br />
Student A schrieb:<br />
Mit dem Sekantenverfahren komme ich auf<br />
die Nullstelle (2,33407|0).<br />
Student B fragt dazu:<br />
"Hi, kannst Du vielleicht den Rechenweg<br />
nochmal ausführlich hinschreiben.<br />
Wie hast du denn die Klammer mit ln(3+x)<br />
aufgelöst?"<br />
Nachdem keine Reaktion <strong>im</strong> Forum erfolgte,<br />
habe ich selbst geantwortet:<br />
"Die Klammer ln(3+x) kann man nicht auflösen,<br />
ebenso wie wurzel(3+x).<br />
Aber man kann sie für jedes x ( > -3) berechnen<br />
bzw. vom Taschenrechner ablesen."<br />
In der Präsenzveranstaltung hätte Student B<br />
gesehen, wie ich mir die Haare gerauft <strong>und</strong><br />
die Augen verdreht hätte. An meinem PC sitzend,<br />
konnte ich diese Frage ganz nüchtern<br />
beantworten <strong>und</strong> wurde prompt dadurch belohnt,<br />
dass am nächsten Tag von Student B<br />
ein korrekter Beitrag zur folgenden Aufgabe<br />
<strong>im</strong> Forum stand. Ich kann mich an Situationen<br />
erinnern, in denen etwas "einfältige" Fragen<br />
hart kommentiert wurden <strong>und</strong> daraufhin<br />
zum passiven Widerstand geführt haben.<br />
5 Fazit<br />
E-Learning, die Arbeit mit einer Lernplattform,<br />
erfordert die Aufmerksamkeit auf drei<br />
Komponenten:<br />
1. die Lernplattform<br />
2. die Inhalte<br />
3. die Betreuung<br />
Erst das Zusammenspiel entscheidet über<br />
den Erfolg des Gesamtkonzeptes. Bei jeder<br />
einzelnen Komponente können Unzulänglichkeiten<br />
den Lernerfolg behindern:<br />
Die Auswahl der Lernplattform gilt inzwischen<br />
als größeres Projekt. H<strong>und</strong>erte von<br />
213
Siegfried Zseby<br />
Lernplattformen wurden bereits von Evaluationen<br />
erfasst. Klagen hört man einerseits<br />
über die Kostenentwicklung <strong>und</strong> über die<br />
Überd<strong>im</strong>ensionierung einiger kommerzieller<br />
Plattformen, andererseits über Unzulänglichkeiten<br />
bei weniger aufwändigen Investitionen.<br />
Die Begeisterung der Beteiligten für einen<br />
zweiten Versuch ist verständlicherweise<br />
gering. Unsere Entscheidung für ILIAS Open<br />
Source hat sich bisher in den wenigen Monaten<br />
der Nutzung bestens bewährt. Wir hoffen,<br />
dass die Kölner Entwickler weiterhin gefördert<br />
werden <strong>und</strong> dass wir noch viele Kollegen<br />
<strong>und</strong> Studierende vom Nutzen der Plattform<br />
überzeugen können.<br />
Als Inhalt wünscht man sich mehr als nur illustrierte<br />
Textdateien zum Herunterladen. Interaktivität<br />
wird gewöhnlich als wünschenswert<br />
angesehen. Jedoch sollte man sich dabei<br />
nicht von effektvollen Demos blenden<br />
lassen. Auch unvollkommene Arbeitsmaterialien,<br />
herausfordernde Aufgabenstellungen<br />
<strong>und</strong> von den <strong>Lernen</strong>den selbst erarbeitete<br />
Inhalte können den Lernprozess fördern. Autorenwerkzeuge<br />
oder der Weg über HTML<br />
erfordern be<strong>im</strong> <strong>Lehren</strong>den eine Investition,<br />
die viele angesichts konservativer Alternativen<br />
(Word) scheuen.<br />
Die Betreuung der <strong>Lernen</strong>den bei der Arbeit<br />
mit einer Lernplattform ist wohl diejenige<br />
Komponente, die bisher am stärksten unterschätzt<br />
wurde. Ist schon die Content-Erstellung<br />
sehr personal-intensiv, so gilt dies in erheblich<br />
stärkerem Maß für die Betreuung.<br />
Kann man bei der Erstellung von Inhalten<br />
noch hoffen, sie mehrmals zu verwenden, so<br />
ist die Betreuung ein Prozess, der Live-Charakter<br />
hat, egal ob es sich dabei um synchrone<br />
(Chat) oder asynchrone Medien (Mail,<br />
Foren) handelt. Die Synergie von Präsenzveranstaltungen<br />
<strong>und</strong> Online-Phasen wird sich<br />
nur einstellen, wenn die personellen Voraussetzungen<br />
ernst genommen werden.<br />
Alle drei Komponenten müssen sich dem<br />
Pr<strong>im</strong>at der Didaktik unterordnen. Der Erfolg<br />
des Lernprozesses ist das Gesamtziel. Ob<br />
214<br />
eine Lernplattform, ein inhaltlicher Beitrag<br />
oder die Betreuung angemessen ist, muss<br />
sich an diesem Gesamtziel orientieren. Wir<br />
haben uns an unserer Hochschule bewusst<br />
für eine Open-Source-Lösung entschieden,<br />
kaufen bisher keinerlei Content ein, haben<br />
aber als erstes an die Schulung der <strong>Lehren</strong>den<br />
gedacht. Jetzt hoffen wir auf Impulse<br />
auch von den <strong>Lernen</strong>den, ebenso wie vor<br />
fast zehn Jahren unsere <strong>Internet</strong>-Nutzung<br />
mindestens ebenso von der Begeisterung<br />
unserer Studierenden wie von den Hochschullehrer-Kollegen<br />
gefördert wurde.<br />
Die Technik wird die Gestaltung des Lernprozesses<br />
nicht automatisieren. Didaktische<br />
Konzepte müssen die Richtung angeben.<br />
Literatur<br />
ILIAS an der FHW Berlin:<br />
http://www.fhw-berlin.de/ilias/ (26.08.2003, mit<br />
Link zum öffentlichen Bereich)<br />
Mason, Robin (1998): Models of Online Courses.<br />
Asynchronous Learning Networks (ALN) Magazine<br />
2, Heft 2.<br />
Online (26.08. 2003): http://www.aln.org/<br />
publications/magazine/v2n2/mason.asp<br />
Salmon, Gilly (2000): E-Moderating, The Key to<br />
Teaching and Learning Online. London: Taylor<br />
& Francis; Kogan Page<br />
Schulmeister, Rolf (2003): Lernplattformen für das<br />
virtuelle <strong>Lernen</strong>. Evaluation <strong>und</strong> Didaktik. München,<br />
Wien: Oldenbourg<br />
Wer nur mal schnuppern möchte, kann dies an<br />
der FHW oder unter folgenden Adressen:<br />
ILIAS, Uni Köln:<br />
http://www.ilias.uni-koeln.de/<br />
dortige Demo:<br />
http://www.ilias.uni-koeln.de/ios/demo.html<br />
ILIAS, Uni der B<strong>und</strong>eswehr Hamburg:<br />
http://ilias.unibw-hamburg.de/<br />
öffentlicher Bereich:<br />
http://ilias.unibw-hamburg.de/<br />
ilias/le_uebersicht.php
� <strong>Internet</strong>-Übungsaufgaben erstellen mit dem<br />
Formel-Applet *<br />
Rudolf Großmann, Stein<br />
Den Mitgliedern der Arbeitsgruppe wurde an einem Beispiel demonstriert, wie einfach es<br />
ist, mit dem Editor-Applet Algebra-Übungsaufgaben für das <strong>Internet</strong> oder eine lokal installierte<br />
Lernumgebung zu erstellen, falls vorher angemessene technische Voraussetzungen<br />
geschaffen wurden. Die AG-Mitglieder konnten danach mühelos eigene Aufgabenbeispiele<br />
entwickeln. Zum Abschluss entwickelte sich eine Diskussion über die Stärken<br />
<strong>und</strong> Schwächen des Formel-Applets, in deren Verlauf die AG-Mitglieder auch eigene<br />
Wünsche zur Fortentwicklung des Formel-Applets äußern konnten.<br />
1 Technische Voraussetzungen<br />
Der bereitgestellte Computerraum bot als<br />
Software-Gr<strong>und</strong>ausstattung <strong>im</strong> Wesentlichen<br />
die Standard-Office-Software von Microsoft.<br />
Wenn man von Hand Änderungen <strong>im</strong> HTML-<br />
Quellcode vornehmen muss, ist Frontpage<br />
als HTML-Editor nicht zu empfehlen. Der Autor<br />
stellte "Ulli Meybohm's HTML-Editor Phase<br />
5" (Freeware, [1]) als leicht zu bedienendes<br />
Werkzeug zur Verfügung. In diesem Editor<br />
ist ein freies Active-X-Control von Microsoft<br />
integriert, das es erlaubt, auf Knopfdruck<br />
Abb. 1a, b: Vorder- <strong>und</strong> Rückseite der Arbeitskarte<br />
von HTML-Quelltext auf Browser-Ansicht <strong>und</strong><br />
zurück zu wechseln.<br />
Meybohms Editor bietet die Möglichkeit, eine<br />
externe HTML-Dokumentation einzubinden.<br />
Dafür wurde die Dokumentation "Selfhtml"<br />
von Stefan Münz [2] gewählt. Sie liegt inzwischen<br />
auch in Buchform vor.<br />
Als Demonstrationsobjekt dienten die Aufgaben<br />
in Abb. 1a zur Algebra der 7. Jgst. Sie<br />
stammen aus dem Freiarbeits-Material auf<br />
der Begleit-CD zum Akademiebericht 330 der<br />
ALP Dillingen (Lippert et al. 1999).<br />
Die Arbeitskarten des Freiarbeits-Materials<br />
zeigen auf der Rückseite die Lösung an<br />
(Abb. 1b), teilweise auch<br />
mit Zwischenschritten (s.<br />
Aufgabe A405d)). Der<br />
Schüler kann so seine Aufgabenbearbeitung,<br />
die er<br />
mit Zwischenschritten in ein<br />
Übungsheft notiert hat, sofort<br />
überprüfen. Die gleiche<br />
Funktionalität bietet das<br />
Eingabe-Applet <strong>im</strong> gegenwärtigenEntwicklungszustand.<br />
Be<strong>im</strong> Testen der Arbeitsumgebung<br />
am Vortag<br />
mussten wir leider feststellen,<br />
dass das Editor-<br />
Formelapplet nicht funktionierte.<br />
Nach einer langwierigen<br />
Fehlersuche (Dank<br />
an den Systembetreuer<br />
<strong>und</strong> an Frau Claudia Hagan)<br />
wurde als "Schuldiger"<br />
die Java-VM von Microsoft<br />
identifiziert, die <strong>im</strong> <strong>Internet</strong>-<br />
Explorer integriert ist. Java<br />
* Teilnehmende der Arbeitsgruppe "<strong>Internet</strong>-Übungsaufgaben erstellen mit dem Formel-Applet" unter der Leitung von Rudolf Großmann: Christine<br />
Bescherer, Eike A. Detering, Andreas Filler, Andreas Meier<br />
215
Rudolf Großmann<br />
war zwar vorhanden, aber in einer für das<br />
Editor-Applet zu alten Version. Damit bewahrheitete<br />
sich der Punkt "Schwächen von<br />
Java" aus dem Vortrag des Autors am Vortag:<br />
Versions-Wirrwarr <strong>und</strong> fehlende Java-<br />
Unterstützung von Seiten Microsofts aus firmenpolitischen<br />
Gründen.<br />
Der Fehler verschwand sofort, als das aktuelle<br />
Java-Plugin von SUN [3] über das <strong>Internet</strong><br />
nachinstalliert wurde.<br />
2 Zeitlicher Ablauf der AG<br />
2.1 Installation des Java-Plugins<br />
der Firma SUN<br />
Das Java-Plugin von SUN<br />
wurde am Vortag mit Absicht<br />
nicht an allen Clients installiert,<br />
damit als erstes den Mitgliedern<br />
der Arbeitsgruppe das<br />
Procedere dieses Vorgangs<br />
demonstriert werden konnte,<br />
der ja eventuell auch in einer<br />
anderen Arbeitsumgebung notwendig<br />
ist. Bei einer schnellen<br />
<strong>Internet</strong>-Anbindung, wie <strong>im</strong><br />
Computerraum der ALP Dillingen,<br />
war die Installation des<br />
Java-Plugins innerhalb von<br />
wenigen Minuten erledigt.<br />
2.2 Überblick über<br />
jetzige <strong>und</strong><br />
zukünftige Einsatzfähigkeiten<br />
des Formel-Applets<br />
Da zufällig alle Mitglieder der Arbeitsgruppe<br />
keine Gelegenheit gehabt hatten, den Vortrag<br />
des Autors zum Formelapplet an Vortag<br />
zu hören, gab der Autor einen kurzen Abriss<br />
des jetzigen Entwicklungsstands <strong>und</strong> der geplanten<br />
Fortentwicklungen. Dabei erhielten<br />
die Mitglieder der AG die Gelegenheit, die<br />
präsentierten Beispiele selbst am eigenen<br />
Rechner nachzuvollziehen.<br />
2.3 Realisierung eines vorgegebenen<br />
Aufgabenbeispiels<br />
Schließlich demonstrierte der Autor, wie man<br />
die Formel, die man in das Editor-Applet eingibt,<br />
über die Zwischenablage als hexadez<strong>im</strong>al<br />
codierte Zeichenfolge (String) an die<br />
richtige Stelle in eine vorbereitete Vorlage<br />
(vorlage.html) einfügt.<br />
216<br />
Die <strong>im</strong> HTML-Editor von Meybohm eingebaute<br />
Java-VM erwies sich allerdings auch als<br />
zu alt für das Editor-Formelapplet. Man muss<br />
zur Benutzung ein zweites Fenster mit dem<br />
<strong>Internet</strong>-Explorer öffnen, in dem vorher, wie<br />
oben dargelegt, ein Java-Plugin der Version<br />
1.4.0 oder jünger installiert wurde. Man kann<br />
natürlich auch einen anderen Browser mit<br />
Java-Unterstützung, z.B. Mozilla oder Opera,<br />
verwenden.<br />
2.4 Realisierung eines selbst gewählten<br />
Aufgabenbeispiels<br />
Nachdem alle AG-Mitglieder keine nennenswerten<br />
Schwierigkeiten hatten, das vorgege-<br />
Abb. 2: Aufgabe A405e), realisiert mit dem Formel-Applet<br />
bene Beispiel nachzuvollziehen, begannen<br />
sie bald, mit selbst erf<strong>und</strong>enen Aufgaben die<br />
Möglichkeiten des Formel-Applets auszuprobieren.<br />
Besondere Aufmerksamkeit widmeten<br />
sie dem Test, ob das Eingabe-Applet<br />
auch die vorher gegebenen Versprechungen<br />
erfüllt <strong>und</strong>, wie beabsichtigt, äquivalente Lösungsterme<br />
als "richtig" akzeptiert (s.a.<br />
Abb. 2, rechte Seite der Gleichung). Bald<br />
darauf entwickelte sich eine Diskussion über<br />
mögliche Einsatzgebiete, Verbesserungsvorschläge<br />
etc. Die wesentlichen Gesichtspunkte<br />
der Diskussion sind <strong>im</strong> folgenden Abschnitt<br />
zusammengefasst.<br />
3 Stärken <strong>und</strong> Schwächen<br />
des Formel-Applets<br />
3.1 Die Stärken<br />
• Das Formeleingabe-Applet ermöglicht eine<br />
Darstellungsweise der Terme wie an
der Tafel. Einstiegshürden, wie z.B. bei<br />
manchen Computer-Algebra-Systemen,<br />
die eine Eingabe nur in einer Textzeile erlauben,<br />
noch dazu mit einer speziellen<br />
Syntax, fallen weg.<br />
• Wie oben erwähnt, werden auch zum Lösungsterm<br />
äquivalente Terme als "richtig"<br />
erkannt.<br />
• Die Applets sind, da auf der Java-Technologie<br />
basierend, betriebssystemunabhängig<br />
einsetzbar.<br />
• Die Einbindung in HTML ermöglicht die<br />
Schaffung einer nicht-linearen Arbeitsumgebung<br />
in Form eines Hypertextes mit<br />
Baum- oder Netz-Struktur.<br />
• Die Funktionalität aller drei Formel-Applets<br />
ist mit JavaScript erweiterbar. Z.B.<br />
sind die Hilfsknöpfe in Abb. 3 mit Java<br />
Script realisiert. Sie ermöglichen die Eingabe<br />
von Brüchen, Wurzeln <strong>und</strong> Exponenten<br />
ohne die Benutzung von (intuitiv<br />
nicht erschließbaren) Sonder-Tasten.<br />
Abb. 3: Hilfsknöpfe mit JavaScript<br />
3.2 Die Schwächen<br />
• Fehler bei der Eingabe sind bisher nur<br />
bedingt korrigierbar. Manchmal ist es am<br />
einfachsten, mit der Entf-Taste den ganzen<br />
Term zu löschen <strong>und</strong> von Neuem mit<br />
der Eingabe zu beginnen. Hier wird das<br />
Eingabe-Applet in naher Zukunft verbessert<br />
werden.<br />
• Eine differenzierte Reaktion auf die Eingabe<br />
wäre wünschenswert. Nur "richtig"<br />
oder "falsch" ist zu wenig. Geplant sind<br />
<strong>Internet</strong><br />
AG "<strong>Internet</strong>-Übungsaufgaben erstellen mit dem Formel-Applet"<br />
Reaktionen wie z.B. "richtig, aber noch zu<br />
vereinfachen".<br />
4 Weitere Wünsche<br />
An weiteren Wünschen wurden in der Arbeitsgruppe,<br />
nach dem Sektionsvortrag oder<br />
in Einzelgesprächen genannt:<br />
• Generierung "zufälliger" Aufgaben eines<br />
best<strong>im</strong>mten Typs.<br />
• Protokollierung der Schüler-Aktivitäten,<br />
nicht zur Überwachung oder Zensur, sondern,<br />
um typische Fehler erkennen <strong>und</strong><br />
besprechen zu können.<br />
• Möglichkeit, nicht nur Terme, sondern<br />
auch Gleichungen <strong>und</strong> Ungleichungen<br />
eingeben zu können.<br />
• Ausgabe des eingegebenen Terms in<br />
Baumform.<br />
Am einfachsten wird der letzte Wunsch zu erfüllen<br />
sein, da der Term <strong>im</strong> Speicher bereits<br />
durch eine Baumstruktur repräsentiert wird.<br />
Der Autor wird <strong>im</strong> <strong>Internet</strong> [4] über die weitere<br />
Entwicklung des Formel-Applets informieren.<br />
Bereits jetzt steht ein Archiv mit allen<br />
Beispielen des Sektionsvortrags <strong>und</strong> den drei<br />
Applets zur Verfügung. Ausgabe- <strong>und</strong> Eingabe-Applet<br />
sind mit "jedem" Java (getestet mit<br />
der alten Version 1.1.8) lauffähig, das Editor-<br />
Applet benötigt ein "neues" Java (ab Version<br />
1.4.0). Das Editor-Applet besitzt allerdings<br />
eingeschränkte Funktionalität, da eine kommerzielle<br />
Nutzung in einem späteren Entwicklungsstadium<br />
nicht ausgeschlossen ist.<br />
rudolf.grossmann@odn.de<br />
Literatur<br />
Lippert, Gerhard & Wolfram Thom (Hrsg.) (1999):<br />
Freies Arbeiten am Gymnasium, Band 2, Akademiebericht<br />
Nr. 330. Dillingen: Akademie für<br />
Lehrerfortbildung <strong>und</strong> Personalführung<br />
[1] Meybohm's HTML-Editor Phase 5 2 (FreeWare)<br />
www.meybohm.de<br />
[2] Anleitung zur eigenen Gestaltung von HTML-Seiten: "SELFHTML" von Stefan Münz<br />
selfhtml.teamone.de<br />
[3] Java-Plugin von SUN:<br />
java.sun.com<br />
[4] Testversion des Formel-Applets, alle Beispiele des Sektionsvortrags, Info über Fortentwicklung:<br />
www.fuemo.de/formelapplet<br />
217
� <strong>Mathematik</strong> in Notebook-Klassen der<br />
7. <strong>und</strong> 8. Jahrgangsstufe<br />
Notebook-Klassen am<br />
Gymnasium Veitshöchhe<strong>im</strong><br />
(Bayern)<br />
Organisatorisches; Administrations-<br />
<strong>und</strong> Wartungskonzept<br />
Im Schuljahr 2001/2002 begann am Gymnasium<br />
Veitshöchhe<strong>im</strong> eine 7. Jahrgangsstufe<br />
als Notebook-Klasse. Die Entscheidung, ob<br />
ein Schüler in diese Klasse geht, wird zum<br />
Halbjahr von Klasse 6 von den Eltern (in Absprache<br />
mit ihren Kindern) getroffen. Da sich<br />
der Einstieg in Klasse 7 bewährte, behalten<br />
wir diesen Modus in den folgenden Jahren<br />
bei. Wenn sich mehr als 30 Schüler für die<br />
Notebook-Klasse melden, wird eine Warteliste<br />
gebildet <strong>und</strong> gegebenenfalls gelost (dies<br />
war für die dritte Notebook-Klasse, die <strong>im</strong><br />
Herbst 2003 begann, erstmals nötig). In der<br />
Entscheidungsfindung finden jedoch viele offizielle<br />
<strong>und</strong> inoffizielle Einzelgespräche mit<br />
Eltern <strong>und</strong> Schülern statt; so kann man beispielsweise<br />
sehr chaotischen oder schwachen<br />
Schülern abraten, die Notebook-Klasse<br />
zu wählen, da der Mehrwert zwar ohne Zweifel<br />
da ist, jedoch <strong>im</strong> ersten Halbjahr der 7.<br />
218<br />
Claudia Hagan, Veitshöchhe<strong>im</strong><br />
Zuerst stellte ich zusammen mit der Schülerin Theresa Herbert <strong>und</strong> dem Schüler Peter<br />
Keß (beide <strong>im</strong> Schuljahr 2003/04 in Klasse 8c) an Hand einer Powerpoint-Präsentation<br />
das Notebook-Projekt am Gymnasium Veitshöchhe<strong>im</strong> vor. Es werden die Erfahrungen<br />
geschildert, die in der Organisation, Administration sowie <strong>im</strong> Fachunterricht <strong>Mathematik</strong><br />
in den letzten Schuljahren in drei Notebook-Klassen gewonnen wurden. Auch wenn die<br />
technischen <strong>und</strong> organisatorischen Herausforderungen an das Projekt <strong>im</strong> Workshop<br />
2002 in Soest von manchen Didaktikern als unwichtige "Nebenschauplätze" belächelt<br />
wurden, so zeigten aber bereits die diversen persönlichen Mailwechsel, Telefonate <strong>und</strong><br />
Treffen mit Lehrern, Schulleitern, pädagogischen Systembetreuern <strong>und</strong> auch Sachaufwandsträgern,<br />
dass genau diese oft viel stärker begrenzend wirken, als die methodischdidaktischen<br />
Herausforderungen, an die man sich auch schrittweise <strong>und</strong> auf mehrere<br />
Schultern verteilt heran machen kann.<br />
Es sollte deshalb ein Workshop für die Leute "an der Front" werden. Als besondere Bereicherung<br />
sahen wir es an, dass wir auch die Schülersicht bieten konnten. Spaß, Begeisterung<br />
<strong>und</strong> Herausforderung sowie realistische Absteckung der Rahmenbedingungen<br />
als "Message" herüber zu bringen, war uns wichtig.<br />
In der Arbeitsgruppe sollte der Diskussion offener Fragen sowie die Lösung Probleme<br />
fachlicher, methodischer <strong>und</strong> didaktischer Art genug Raum geboten werden.<br />
Um unnötige Wiederholungen zu vermeiden, wird auf den Bericht (Soest 2002) einleitend<br />
verwiesen. Wo sinnvoll (z.B. be<strong>im</strong> Administrationskonzept), werden auch Erfahrungen<br />
dem Leser mitgegeben, die sich erst nach dem Workshop ergaben.<br />
Jahrgangsstufe erst einmal eine Mehrbelastung<br />
eintritt. Manchmal zögern Mütter von<br />
Mädchen, ob Arbeiten mit dem Computer<br />
nicht eher etwas für Jungs sei; hier gilt es<br />
diese zu ermuntern, den Mädchen eine<br />
Chance zu geben. Unsere Erfahrungen in<br />
den ersten drei Notebook-Generationen zeigen,<br />
dass die Jungen oft ihre Kenntnisse<br />
überschätzen, zwar mehr Erfahrungen mit<br />
dem Computer als Spielzeug haben, aber <strong>im</strong><br />
Allgemeinen <strong>im</strong> Laufe der 7. Jahrgangsstufe<br />
von den Mädchen überholt werden.<br />
In den ersten beiden Notebook-Jahren bestand<br />
noch viel Diskussionsbedarf bezüglich<br />
Finanzierung, Max<strong>im</strong>alkosten für das Gerät,<br />
Einsparen von 50€ durch eine externe statt<br />
einer integrierten Netzkarte (was noch <strong>im</strong>mer<br />
<strong>im</strong>mens hohe Wartungsst<strong>und</strong>en nach sich<br />
zieht, die extern nicht bezahlbar sind <strong>und</strong><br />
somit schulintern geschultert werden müssen);<br />
Kosten für Ersteinrichtung sowie Wartungs-<br />
<strong>und</strong> Administrationskonzept waren ein<br />
Tabu-Thema. Es war die Phase, die <strong>—</strong> trotz<br />
des KMS vom März 2000 zur Aufwertung der<br />
schulischen pädagogischen Systembetreuung<br />
zur Abgrenzung der Aufgaben von der<br />
technischen externen Administration <strong>—</strong> an<br />
fast allen Schulen Bayerns noch <strong>im</strong>mer vor-
handen ist, nämlich: der pädagogische Systembetreuer<br />
administriert das Netz bei zwei<br />
bis vier Entlastungsst<strong>und</strong>en nebenher in der<br />
Freizeit, in den Ferien … Hieraus resultiert<br />
die oft angetroffene Skepsis von Schulen,<br />
sich auf das Konzept der Notebook-Klassen<br />
einzulassen. In dieser Phase gab es oft verzagte<br />
Anfragen auf der bayerischen Systembetreuerliste<br />
an mich (scherzhaft, "die ungekrönte<br />
Notebook-Klon-Königin" genannt) die<br />
ich dann so beantwortete, dass ich meine<br />
Telefonnummer durchgab; alles andere war<br />
zu heikel, das technische Außenherum galt<br />
als Tabu. Solche Aspekte zu thematisieren,<br />
hätte das Projekt nicht nur für uns, sondern<br />
auch für andere sterben lassen.<br />
In nahezu allen Vorträgen, Fortbildungen, Interviews<br />
r<strong>und</strong> um Notebook-Klassen <strong>im</strong> Zeitraum<br />
Herbst 2001 bis Herbst 2003 wurde ich<br />
gefragt: "Würden Sie sich nochmals auf das<br />
Notebook-Projekt einlassen, wenn Sie schon<br />
wüssten, was auf Sie zukommt?" Meine Antwort<br />
war <strong>im</strong>mer: "Fragen Sie mich als <strong>Mathematik</strong>lehrerin<br />
oder als schulische Systembetreuerin?"<br />
Je nach Publikum war die Intention<br />
der Frage eine andere; da <strong>im</strong> Workshop<br />
beide Fragen interessierten, gehe ich hier auf<br />
beide ein.<br />
Als <strong>Mathematik</strong>lehrerin bin ich fasziniert von<br />
den Möglichkeiten, die mir das Unterrichten<br />
am Notebook bietet. Ich kann es mir nicht<br />
mehr vorstellen, ganz ohne Notebook in den<br />
Klassen 7 bis 9 zu unterrichten. Hier kann ich<br />
ergänzend anbringen <strong>—</strong> das späte Einreichen<br />
dieses Berichtes hat also auch positive<br />
Aspekte <strong>—</strong> dass ich <strong>im</strong> Schuljahr 2004/05<br />
erstmals seit drei Jahren in <strong>Mathematik</strong> auch<br />
in einer einer Nicht-Notebook-Klasse (Stufe<br />
11) eingesetzt wurde. In Klasse 11 wiederholt<br />
man in Bayern zwei Monate lang den<br />
Stoff aus der gesamten Mittelstufe (angereichert<br />
um einige weitere Aspekte). Es waren<br />
keine zwei Unterrichtsst<strong>und</strong>en vorbei, als ich<br />
schon merkte: mir fehlt etwas. Schnell 'mal<br />
eine alte Datei herholen, geschwind eine Visualisierung<br />
durchführen <strong>—</strong> dies alles war<br />
nicht möglich. Ein in drei Jahren als essentiell<br />
wahrgenommenes Werkzeug fehlte. Von<br />
einem mir sehr lieb gewonnenen Kollegen<br />
<strong>und</strong> langjährigen Fre<strong>und</strong> wurde ich belächelt:<br />
"Hast du in drei Jahren verlernt, ohne Notebook<br />
Mathe zu unterrichten?". Es lässt sich<br />
schwer in Worte fassen. Verlernt ist sicher<br />
das falsche Wort, es ist wie be<strong>im</strong> Abfassen<br />
dieses Berichts gerade <strong>im</strong> Urlaub auf dem<br />
Campingplatz, wo der Fortschritt durch das<br />
Laden des Notebooks <strong>im</strong> Waschmaschinenz<strong>im</strong>mer<br />
best<strong>im</strong>mt wird, wenn diese Steckdose<br />
gerade frei ist, oder das Salz für das Abkochen<br />
der Nudeln fehlt; <strong>—</strong> vertraute Werk-<br />
AG "<strong>Mathematik</strong> in Notebook-Klassen der 7. <strong>und</strong> 8. Jahrgangsstufe"<br />
zeuge sind plötzlich weg, <strong>und</strong> man muss einen<br />
Mehraufwand betreiben, um s<strong>im</strong>pelste<br />
Aufgaben zu erledigen, oder man muss einfache<br />
Dinge vorneweg planen, die sonst nebenher<br />
<strong>und</strong> spontan erfolgen können. Hier<br />
lässt sich ergänzend sagen, dass wir <strong>—</strong> gesponsert<br />
durch Casio <strong>—</strong> mit dem Classpad<br />
300 eine gewisse Spontaneität in Klasse 11<br />
zurück gewinnen konnten.<br />
Nun zur zweiten Antwort, als Systembetreuung:<br />
Ich habe erwartet, dass es unter den<br />
Rahmenbedingungen schwierig wird, Notebook-Klassen<br />
zu <strong>im</strong>plementieren, <strong>und</strong> habe<br />
mich in der Anfangsphase massiv gegen das<br />
Projekt gewehrt; nun sind wir erfolgreich genug,<br />
dass wir halbwegs adäquate Rahmenbedingungen<br />
sowohl be<strong>im</strong> Sachaufwandsträger<br />
als auch bei den Eltern als Auflage<br />
machen können. Ich empfehle allen schulischen<br />
Systembetreuern, deren Schulen sich<br />
auf ein derartiges Projekt einlassen, selbstbewusster<br />
aufzutreten sowohl bei den Eltern,<br />
als auch bei der Schulleitung, so dass von<br />
Anfang an gemeinsam an opt<strong>im</strong>ierten Rahmenbedingungen<br />
gearbeitet wird.<br />
In Kurzfassung unsere Notebook-Beschaffung<br />
sowie das Administrations- <strong>und</strong> Wartungskonzept<br />
(ergänzt um einige Punkte, die<br />
bis zum Verfassen des Artikels 2005 hinzukamen):<br />
Der Sachaufwandsträger finanziert bei nun<br />
zwei Computerräumen, vielen verstreuten<br />
Rechnern <strong>im</strong> Haus <strong>und</strong> vier (in der Planung<br />
ist gerade die fünfte) Notebook-Klassen 25<br />
St<strong>und</strong>en <strong>im</strong> Monat externe Netzadministration.<br />
Die Eltern bezahlen für die Ersteinrichtung<br />
der Geräte 80€ <strong>und</strong> monatlich 10€ für<br />
die Wartung. Bei uns ist inzwischen die positive<br />
Situation eingetreten, dass beide Verträge<br />
in einer Hand sind. Wichtig bei Notebook-<br />
Klassen ist die schnelle Reaktion; wenn der<br />
Drucker oder der Beamer <strong>im</strong> Notebook-Z<strong>im</strong>mer<br />
nicht funktioniert, muss innerhalb von ein<br />
paar Tagen reagiert werden; Dasselbe gilt<br />
bei "zerschossenen" Notebooks oder Hardware-Defekten.<br />
Bei der Auswahl der Notebooks sollten Markengeräte<br />
aus der Business-Class gewählt<br />
werden. Es ist eine ganz andere Situation, ob<br />
ein Notebook vormittags 6 St<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />
nachmittags noch einmal mindestens 2 St<strong>und</strong>en<br />
läuft, oder ob es ein Gerät ist, mit dem<br />
gelegentlich, wenn man unterwegs ist, gearbeitet<br />
wird. Wir lassen uns zwei bis drei<br />
Testgeräte vorab kommen <strong>und</strong> prüfen auf<br />
Stabilität, Klonbarkeit … Inzwischen können<br />
wir den Eltern optional ein teures <strong>und</strong> ein<br />
günstigeres Modell anbieten. Dies bedeutet<br />
aber administrativ keinen Mehraufwand, da<br />
219
Claudia Hagan<br />
nur ein Master-Notebook aufzusetzen ist.<br />
Dies wirkt sich durchwegs positiv auf das gesamte<br />
Kl<strong>im</strong>a aus. Nun, wo Arbeitszeit etwas<br />
zählt, da ja die Kosten für die Ersteinrichtung<br />
<strong>und</strong> die Wartung auf die Eltern umgelegt<br />
werden, entfallen viele Diskussionen.<br />
Bei wachsender Zahl von Notebook-Klassen<br />
fällt für die pädagogische Systembetreuung<br />
wesentlich mehr Betreuungsaufwand an für<br />
die Schüler (<strong>und</strong> deren Notebooks), für Elterngespräche<br />
<strong>und</strong> für die Kollegen, die aktiv<br />
in den Notebook-Klassen arbeiten. Die Forderungen<br />
in einem jungen Kollegium an die<br />
Verfügbarkeit der Rechner <strong>und</strong> des Netzes<br />
wächst rapide an. Klassenarbeiten am Notebook<br />
bedeuten, dass das Netz stabil laufen<br />
muss, dass Protokollierungstools aktiv sind,<br />
die notfalls ausgewertet werden können.<br />
Wichtig ist es, dass die Schüler schnell einen<br />
Ansprechpartner haben, wenn ein Hardwareoder<br />
Software-Defekt auftritt; oft können sie<br />
das Problem auch nicht eingrenzen. Eine<br />
wesentliche Säule des Wartungskonzeptes<br />
ist, dass ich feste Admin-Sprechzeiten <strong>im</strong> Admin-Z<strong>im</strong>mer<br />
habe, jeden Tag in einer Pause<br />
oder in einer Mittagspause. Hier werden Fehlerbeschreibungen<br />
entgegen genommen,<br />
entschieden, ob ein Pickup eingeleitet wird,<br />
die E-Mail gemeinsam verfasst, Seriennummer,<br />
Kontaktdaten überprüft <strong>und</strong> übermittelt<br />
(hier wäre eine aktuelle Datenbank <strong>—</strong> online<br />
verwaltet <strong>—</strong> sicher effektiver, soweit sind wir<br />
aber bis heute noch nicht). Wenn ich einen<br />
Software-Fehler vermute oder unsicher bin,<br />
wird nach Eintrag der Fehlerbeschreibung in<br />
die Datenbank entschieden, welche Priorität<br />
der Vorfall hat (z.B. steht eine Prüfung am<br />
Notebook an), sowie der Terminkalender für<br />
den externen Admin geführt <strong>und</strong> entschieden,<br />
wann das Notebook da bleibt. Auch die<br />
Anfragen für die zweckgeb<strong>und</strong>enen Administrationsrechte<br />
(<strong>im</strong> Allgemeinen haben die<br />
Schüler in unserem Netz nur Benutzerrechte<br />
<strong>—</strong> auch hier so kommunziert, dass sonst der<br />
Wartungsetat nicht ausreichen würde) um<br />
beispielsweise dahe<strong>im</strong> einen Drucker oder<br />
Scanner zu installieren, laufen <strong>im</strong> Rahmen<br />
dieser Sprechzeiten.<br />
Jetzt <strong>im</strong> Jahr 2005 <strong>—</strong> rückblickend auf 5 Jahre<br />
Systembetreuung <strong>—</strong> kann ich ergänzend<br />
sagen, dass mein Aufgabenspektrum als pädagogische<br />
Systembetreuung sich massiv<br />
gewandelt hat. Bei mehr Notebook-Klassen<br />
fällt <strong>im</strong>mer mehr organisatorische <strong>und</strong> koordinierende<br />
Arbeit an. Infolge der Unterstützung<br />
seitens des Sachaufwandsträgers <strong>im</strong><br />
technischen Bereich fordert dieser bessere<br />
Dokumentation <strong>im</strong> Hardware- <strong>und</strong> <strong>im</strong> Softwarebereich.<br />
Hier ist viel aus der "Wald-<strong>und</strong>-<br />
220<br />
Wiesen-Admin-Ära" nachzureichen <strong>und</strong> in<br />
professionelle Strukturen zu bringen. Meistens<br />
ist es <strong>—</strong> um mit den vorhandenen Ressourcen<br />
für den externen Admin auszukommen<br />
<strong>—</strong> nötig, dass ich während der Admin-<br />
Termine kleinere Arbeiten übernehme oder,<br />
wenn ein schulischer Paralleltermin vorliegt,<br />
ich diese Termine zumindest gut vorbereite,<br />
z.B. durch genauere Fehlerbeschreibung, als<br />
die Schüler oder Kollegen diese liefern …<br />
Das Notebook wird <strong>im</strong> Alltagsunterricht, nicht<br />
nur für spezielle Projektst<strong>und</strong>en verwendet;<br />
<strong>—</strong> hier liegt wohl ein wesentlicher Unterschied<br />
zum sonst üblichen Computereinsatz<br />
in Schulen. Es darf (Pilotstatus) das Notebook<br />
in Klassenarbeiten genutzt werden,<br />
wodurch weitaus mehr Anforderungen an<br />
das Schulnetz <strong>und</strong> an die Verfügbarkeit der<br />
Geräte gestellt werden.<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht am Notebook<br />
Die Begeisterung von Theresa <strong>und</strong> Peter<br />
be<strong>im</strong> Vortrag über den <strong>Mathematik</strong>unterricht<br />
in ihrem zweiten Notebook-Jahr steckte auch<br />
die Teilnehmer an. Der Mehrwert des "Projektes"<br />
erklärte sich allein schon durch die<br />
Lebhaftigkeit der Schüler in ihrer Präsentation.<br />
Theresa ist eine engagierte Schülerin, die mit<br />
Spaß in Mathe dabei ist, der aber das Fach<br />
keineswegs leicht fällt; sie braucht viel<br />
Übung, manchmal verzweifelte sie fast, wenn<br />
sie nicht auf das angegebene Ergebnis bei<br />
Aufgaben kam.<br />
Mit Begeisterung erzählte sie, wie positiv sie<br />
in Algebra in der 7. Jahrgangstufe die Sequenz<br />
am Ende des Schuljahres fand. Wir<br />
wiederholten Ausmultiplizieren von Summen,<br />
Binome, Faktorisieren von Termen. Parallel<br />
übten wir den Umgang mit Derive, kontrollierten<br />
unsere Ergebnisse, lernten Methoden<br />
kennen, wie wir bei langen Aufgaben schrittweise<br />
mittels Derive unsere Rechenfehler lokalisieren<br />
können. Anschließend folgten<br />
Übungsphasen in Freiarbeit. Theresa war<br />
davon begeistert, dass sie in ihrem Tempo<br />
arbeiten konnte, dass sie, wenn sie ihren<br />
Rechenfehler nicht auf dem Papier finden<br />
konnte, mit Hilfe von Derive diesen lokalisierte<br />
<strong>und</strong> zwar sofort, <strong>im</strong> Unterricht oder bei den<br />
Hausaufgaben. Emotional gab ihr dies plötzlich<br />
Sicherheit, sie stand nicht mehr da "ich<br />
habe die ganze Aufgabe nicht gekonnt", sondern<br />
sagte "ich habe einen einzigen Vorzeichenfehler<br />
gehabt; als ich den schließlich gef<strong>und</strong>en<br />
habe, konnte ich die Aufgabe ganz<br />
pr<strong>im</strong>a lösen. Schrittweise konnte ich aus<br />
meinen Fehlern lernen."
Begeistert waren sowohl Peter, als auch<br />
Theresa, als sie über die Unterrichtseinheit<br />
"Lösen von Gleichungen <strong>und</strong> Ungleichungen"<br />
mittels Derive berichteten. Hier haben wir<br />
zum einen Derive als Ergebniskontrolle <strong>im</strong><br />
Rahmen von EVA (eigenverantwortlichem<br />
Arbeiten) genutzt, zum anderen haben wir<br />
die Äquivalenzumformungen, die auf dem<br />
Papier gemacht wurden, in Derive nachgebildet.<br />
Wir zeigten typische Fehler von Schülern,<br />
die beispielsweise auf dem Papier rechneten:<br />
5x=49, nun ziehe ich 5 auf beiden Seiten<br />
ab <strong>und</strong> erhalte x=44.<br />
In Derive sah das dann so aus:<br />
#1: 5x=49<br />
#2: #1-5 (eingegeben) liefert (5x=49)-5<br />
#3: 5x-5=44 (nach Vereinfachung)<br />
Theresa musste be<strong>im</strong> Testlauf des Vortrags<br />
(be<strong>im</strong> Vortrag war sie leider etwas stiller) lachen,<br />
als sie sich an die Gesichter der Mitschüler<br />
bei der Verkomplizierung der Gleichung<br />
erinnerte. Sie fragte sich, wie Schüler<br />
ohne diese direkte Rückmeldung durch das<br />
Notebook überhaupt ordentlich begreifen<br />
können, was Äquivalenzumformungen sind.<br />
Aus Lehrersicht kann ich bestätigen, dass<br />
diese Klasse auch in der Klassenarbeit, <strong>—</strong> in<br />
der dieser Teil völlig klassisch geprüft wurde,<br />
durch die intensive Auseinandersetzung mit<br />
dem Thema besser abschnitt als frühere<br />
Klassen. Es wurden zwar Rechenfehler gemacht,<br />
aber die typischen Fehler: statt zu dividieren<br />
zu subtrahieren, etc.; traten überhaupt<br />
nicht auf. Hier muss ich allerdings ergänzend<br />
erwähnen, dass in der Folgeklasse<br />
eine ganz andere Haltung herrschte: die<br />
Schüler nutzten die Möglichkeit des Rechners<br />
fast ausschließlich, um sich die gesamten<br />
Hausaufgaben zu sparen <strong>und</strong> trotzdem<br />
bei der Hausaufgabenkontrolle das richtige<br />
Ergebnis vorlesen zu können. In dem Zusammenhang<br />
sollte auch gleich erwähnt<br />
werden, dass in Lerngruppen mit geringer intrinsischen<br />
Motivation das Notebook die Gefahr<br />
erhöht, dass die Schüler noch weniger<br />
arbeiten: Man muss ja die Hausaufgaben<br />
noch nicht einmal bloß abschreiben; man<br />
kann sie sich gleich über den Austausch-<br />
Ordner kopieren.<br />
Begeistert hat die Schüler auch, dass in der<br />
Stegreifaufgabe über das Lösen von Textaufgaben<br />
mittels Gleichungen/Ungleichungen<br />
(vom Typ: Vergrößert man die Breite eines<br />
Rechtecks um 3 cm <strong>und</strong> verringert die<br />
Länge um 7 cm, so verringert sich der Flächeninhalt<br />
um 40 cm 2 ) am Ende von Klasse<br />
7 das Notebook fakultativ verwendet werden<br />
durfte. Im ersten Lernjahr mit dem Notebook<br />
AG "<strong>Mathematik</strong> in Notebook-Klassen der 7. <strong>und</strong> 8. Jahrgangsstufe"<br />
war <strong>im</strong>mer genau vorgeschrieben gewesen,<br />
welches Programm bei welcher Aufgabe<br />
verwendet werden durfte; jetzt bestand erstmals<br />
die Situation, dass die Schüler frei entscheiden<br />
konnten, ob <strong>und</strong> welches Werkzeugs<br />
sie nutzen. Einige Schüler versuchten,<br />
das Problem empirisch mittels Excel zu lösen,<br />
andere kontrollierten ihren Ansatz mittels<br />
Derive <strong>und</strong> stellten fest, dass ihre Lösung<br />
nie <strong>und</strong> n<strong>im</strong>mer st<strong>im</strong>men kann, weil<br />
sich eine negative Seitenlänge ergeben hatte.<br />
Einige berichteten hinterher, dass sie dadurch<br />
noch schnell einen Fehler entdeckt<br />
haben <strong>und</strong> auf Knopfdruck das Ergebnis erhielten.<br />
Eine Lösung bestand sogar in einer<br />
dynamischen Konstruktion in DynaGeo, bei<br />
der auch noch mit Termobjekten gearbeitet<br />
wurde. Da der Lösungsweg nicht vorgeschrieben<br />
war, wurden natürlich alle Lösungen,<br />
wenn sie richtig waren, gewertet. Es<br />
bleibt zu bemerken, dass die leistungsstärkeren<br />
Schüler bei dieser Aufgabe sich gar nicht<br />
die Mühe machten, ihr Notebook zu nutzen,<br />
denn die Aufgabe lässt sich ja auf dem Papier<br />
zügig lösen. Später habe ich derartige<br />
Aufgaben modifiziert in die Richtung "um wie<br />
viel, kann sich der Flächeninhalt max<strong>im</strong>al<br />
ändern, so dass noch eine sinnvolle Lösung<br />
möglich ist".<br />
In Geometrie ist <strong>im</strong> derzeitig gültigen Lehrplan<br />
neben dem Entdecken vieler Gesetzmäßigkeit<br />
ein wesentliches Lernziel das<br />
Konstruieren, d.h. das handwerkliche Umgehen<br />
mit Zirkel <strong>und</strong> Lineal. Hier geht es sowohl<br />
um den Konstruktionsbegriff <strong>im</strong> Sinne<br />
der alten Geometer als auch um die handwerkliche<br />
Praxis. Hier wurde mein Unterricht<br />
natürlich stark davon beeinflusst, was ich <strong>im</strong><br />
Workshop in Soest 2002 an Kritik aufnahm,<br />
<strong>im</strong> Laufe des Abends verarbeitete <strong>und</strong> verinnerlichen<br />
konnte (auf den damaligen Projektbericht<br />
wird verwiesen).<br />
Wir thematisierten <strong>im</strong> Unterricht den Konstruktionsbegriff<br />
<strong>und</strong> erweiterten diesen auf<br />
den dynamischen Konstruktionsbegriff. Es<br />
gab hierzu Aufgaben vom Typ "Ist dies eine<br />
Konstruktion <strong>im</strong> Sinne der alten Geometer?"<br />
D.h. ist auf dem Papier alles mit Zirkel <strong>und</strong><br />
Lineal konstruiert? Bzw.: Handelt es sich in<br />
DynaGeo um eine Konstruktion ohne Verwendung<br />
von Makros? "Ist dies eine dynamische<br />
Konstruktion?" Dies bedeutet, dass an<br />
Hand von Dateien untersucht werden muss,<br />
ob die Konstruktion zugfest ist (dies kann in<br />
DynaGeo sowohl durch Lesen des Konstruktionstextes,<br />
als auch durch Ziehen an freien<br />
Punkten geschehen). Hierzu sind <strong>im</strong> Anhang<br />
eine Stegreifaufgabe zum Thema Erweiterter<br />
Konstruktionsbegriff sowie zwei Dateien, die<br />
221
Claudia Hagan<br />
eine richtige Schülerlösung darstellen, zu finden.<br />
Sobald das Thema Konstruktionsbegriff <strong>—</strong><br />
mit dem wir uns meiner Meinung nach intensiver<br />
als eine konventionelle Klasse auseinandersetzten<br />
<strong>—</strong> "durch war", orientierten wir<br />
uns dann an dem Leitspruch "es wäre den<br />
Preis für ein Notebook nicht wert, würden wir<br />
die mächtigen Methoden, die uns dieses<br />
Werkzeug bietet, nicht nutzen <strong>und</strong> stattdessen<br />
in einsamen, langweiligen Konstruktionen<br />
versumpfen." (Zitat von Peter Keß in Abwandlung<br />
anderer Zitate). Natürlich übten wir<br />
hin <strong>und</strong> wieder elementare Konstruktionen<br />
auf dem Papier.<br />
Theresa, die inzwischen durch die Wahl des<br />
nicht-mathematischen Zweiges in <strong>Mathematik</strong><br />
in einer Nicht-Notebook-Umgebung gelandet<br />
ist, kann jetzt (Frühling 2005) rückblickend<br />
die Frage "Was passiert mit einem<br />
Schüler, der später in eine traditionelle Klasse<br />
wechselt?", die wir uns <strong>im</strong> Workshop stellten,<br />
beantworten. Sie meint, dass sie bei<br />
Konstruktionen auf dem Papier keinerlei Probleme<br />
hat; sie n<strong>im</strong>mt es mit jedem "Papieri"<br />
auf, <strong>—</strong> zumal ab der 9. Klasse sowieso weniger<br />
konstruiert wird <strong>und</strong> zum anderen <strong>im</strong>mer<br />
das Geodreieck als "Makro" benutzt<br />
werden kann. Ferner glaubt sie, dass die Betrachtungsweise<br />
von <strong>Mathematik</strong> auf verschiedenen<br />
Ebenen ihr auch jetzt noch <strong>—</strong><br />
auch wenn ohne Notebook gearbeitet wird <strong>—</strong><br />
zum Vorteil gereicht. Die Techniken kennt<br />
sie, <strong>und</strong> sie nutzt bei Übungen auch jetzt<br />
noch DynaGeo, Derive <strong>und</strong> vertieft so ihre<br />
Kenntnisse.<br />
Einer unserer weiteren Leitsprüche ist "wir<br />
sind halt dynamisch", manches können wir<br />
besser als die "Papieris". Der gesamte Geometrieunterricht<br />
der 7. Klasse fand bis auf die<br />
Anfangsphase am Notebook statt. Besonders<br />
hilfreich für uns waren die Materialen von<br />
Jürgen Roth von der Uni Würzburg, der seine<br />
Dissertation über bewegliches Denken<br />
schreibt. Wir durften als Pioniere seine Materialien<br />
erproben. Auf Lehrerebene gab es für<br />
die Testgruppe mehrere Treffen mit einer<br />
vertieften Erklärung seiner Materialien. Die<br />
besten dieser Materialien sind jetzt auf der<br />
Didaktikseite der Uni Würzburg erhältlich.<br />
Bis heute herrscht bei uns in der Schule die<br />
Meinung, dass das Abprüfen dynamischer<br />
Aufgaben am Notebook wesentlich einfacher<br />
ist als das Abprüfen derartiger Aufgaben ohne<br />
Notebook, wo die Dynamik vor dem "geistigen<br />
Auge" ablaufen muss. Hieraus resultiert<br />
meine hin <strong>und</strong> wieder gemachte Aussage<br />
"man kann nicht klassisch prüfen, wenn man<br />
mit modernen Medien unterrichtet". Nun <strong>im</strong><br />
222<br />
Jahr 2005 möchte ich diese Aussage relativieren;<br />
<strong>—</strong> der Mehrwert durch die dynamische<br />
Betrachtung ist trotzdem da; nur die Art<br />
der Prüfung muss dann auf einem anderen<br />
Level als in einer Notebook-Klasse erfolgen.<br />
Peter berichtete <strong>im</strong> Workshop wie wir uns in<br />
die schiefe Achsenspiegelung "verliebten",<br />
zu der wir einiges an Materialien von Herrn<br />
Roth zur Verfügung hatten. Über Wochen<br />
waren wir vierstündig dabei, hier neue Erkenntnisse<br />
zu gewinnen. Dazu löcherten wir<br />
Herrn Roth einige Male mit Fragen. Besonders<br />
faszinierte uns, dass die Dreiecke nach<br />
der schiefen Achsenspiegelung am Notebook<br />
deckungsgleich waren, sie wurden so konstruiert,<br />
dass sie zur Deckung kamen. Auf<br />
dem Papier hingegen würden sie nie zur Deckung<br />
kommen. Hierauf mussten wir <strong>im</strong> Laufe<br />
des Schuljahres mehrmals zurückkommen,<br />
<strong>im</strong>mer wieder den Begriff Kongruenzabbildung<br />
hinterfragen, der doch <strong>im</strong> Buch<br />
von deckungsgleichen Dreiecken ausging.<br />
Die "normalen" Kongruenzabbildungen wie<br />
Achsenspiegelung, Punktspiegelung, Drehung<br />
<strong>und</strong> Verschiebung nahmen wir dann als<br />
besonderen Spezialfall wahr. Bei der Darstellung<br />
dieses Themas schwappte die Begeisterung<br />
auf die Teilnehmer des Workshops<br />
über, <strong>und</strong> alle waren an Notebook-Klassen<br />
interessiert.<br />
Natürlich arbeiten wir in Notebook-Klassen<br />
auch mit den dynamischen Arbeitsblättern<br />
von Elschenbroich oder aus dem <strong>Internet</strong>; da<br />
dies jedoch eine Arbeitsform ist, die auch in<br />
Nicht-Notebook-Klassen genutzt wird, sind<br />
wir <strong>im</strong> Vortrag hierauf nicht weiter eingegangen.<br />
Dass der Austeil- <strong>und</strong> Einsammelvorgang;<br />
das Verteilen einzelner Musterlösungen<br />
in Notebook-Klassen einfacher als in<br />
konventionellen Klassen ist, liegt auf der<br />
Hand.<br />
Ein weiterer angesprochener Aspekt aus<br />
fachlicher Sicht sind Klassenarbeiten am Notebook.<br />
Netzspezifische Aspekte sind wie<br />
oben erwähnt: Protokollierungssoftware, um<br />
eventuellem Unterschleif nachzugehen, sowie<br />
stabiles Netz <strong>und</strong> Ersatzgeräte (letzteres<br />
inzwischen auch weitgehend ein Selbstläufer;<br />
die Schüler organisieren sich hier mit der<br />
darüber oder darunter liegenden Klasse ein<br />
Gerät, falls mehr als die drei verfügbaren Ersatzgeräte<br />
schon <strong>im</strong> Einsatz sind).<br />
Ein weiterer Punkt ist die rechtliche Situation.<br />
In Bayern sind CAS <strong>und</strong> DGS bis in die<br />
Oberstufe am Gymnasium tabu; unsere<br />
Schule ist eine Ausnahme, wir dürfen in der<br />
Mittelstufe (da gibt es reine Notebook-Klassen)<br />
am Notebook prüfen, sofern eine<br />
Gleichbehandlung mit Nicht-Notebook-Klas-
sen sicher gestellt ist. Wir versuchen dies<br />
durch die Aufgabenkultur sicherzustellen; wir<br />
wissen nicht, ob es schwerer oder leichter<br />
mit Notebook ist; <strong>—</strong> es ist einfach anders.<br />
Auch <strong>im</strong> Bereich der rechtlichen Begrenzung<br />
anzusiedeln ist der zeitliche Rahmen für<br />
Klassenarbeiten, in Bayern Schulaufgaben<br />
genannt. Laut GSO in Bayern sind für diese<br />
max<strong>im</strong>al 60 Minuten vorgesehen. Stellt man<br />
aber eine gemischte Arbeit (Papier, Notebook),<br />
so entsteht doppelter Einsammelvorgang<br />
<strong>und</strong> mitunter doppelter Austeilvorgang.<br />
Mit einer Schulst<strong>und</strong>e <strong>und</strong> der vorangehenden<br />
<strong>und</strong> anschließenden Pause ist es also<br />
nicht getan, es muss eine Doppelst<strong>und</strong>e organisiert<br />
werden. Die Erfahrung zeigt, dass<br />
man für die Aufgaben am Notebook genug<br />
Zeit einplanen muss, da sie meist umfassender<br />
sind. Will man zudem noch den Reproduktionsteil<br />
(stures Abarbeiten von Rechnungen)<br />
adäquat auf dem Papier mit dabei<br />
haben, so kann man keine Klassenarbeit zu<br />
30 Minuten basteln, dann wäre statt des<br />
"zeitlichen Ausreizens der GSO" die nicht<br />
gleichmäßige Verteilung auf die Lernzielebenen<br />
angreifbar. Als praktisch sinnvoll hat sich<br />
bewährt, nicht in einer Arbeit einen Austeil<strong>und</strong><br />
Einsammelvorgang digital belegbar zu<br />
haben; dies zu interpretieren ist Sache des<br />
Lesers.<br />
Für Lehrer muss erwähnt werden, dass das<br />
Korrigieren am Notebook zum einen einfacher<br />
ist (Konstruktionstext in DynaGeo; ordentliche<br />
Zeichnung), zum anderen aber sich<br />
auch schwieriger gestaltet. Manchmal hält<br />
die Konzentration nicht durch, oder man verteilt<br />
die Korrektur einer Aufgabe auf zwei Tage,<br />
<strong>und</strong> dann steht man vor der Situation<br />
"dieser Fehler ist mir doch schon einmal gegegnet;<br />
habe ich damals zwei oder drei<br />
Punkte gegeben?"; auf dem Papier blättere<br />
ich durch <strong>und</strong> sehe es auf einen Blick. Be<strong>im</strong><br />
Korrigieren am Rechner kostet es Zeit, in die<br />
einzelnen Ordner zu schauen <strong>und</strong> die jeweilige<br />
Datei zu öffnen. Als Lehrer sage ich, Korrigieren<br />
am Notebook ist interessanter, aber<br />
es ist zeitaufwändiger.<br />
Ein weiterer Aspekt ist <strong>—</strong> ich habe viel mit<br />
DynaGeo gearbeitet <strong>—</strong>, dass hin <strong>und</strong> wieder<br />
plötzlich eine Zeichnung, eine Konstruktion,<br />
ein Graph abhanden kommt. Manchmal liegt<br />
es am Benutzer (Zirkelbezüge, 15 Minuten<br />
lang nicht abgespeichert …), manchmal liegt<br />
es auch an irgendeiner Stelle <strong>im</strong> Programm.<br />
Hier habe ich Jürgen Elschenbroich schon<br />
öfters zu Rate gezogen <strong>und</strong> natürlich auch<br />
Rückmeldungen, wenn es DynaGeo betraf,<br />
an Roland Mechling gegeben <strong>und</strong> seinen Rat<br />
gesucht. Fast <strong>im</strong>mer konnte es durch eine<br />
Begründung meinerseits (Logfiles), dass die<br />
AG "<strong>Mathematik</strong> in Notebook-Klassen der 7. <strong>und</strong> 8. Jahrgangsstufe"<br />
Aufgabe nie gespeichert wurde oder durch<br />
kulantes Verhalten (eine Aufgabe ähnlicher<br />
Art nachschreiben) gelöst werden. In dubio<br />
pro reo, der Schüler bekommt eine Chance.<br />
Abschließend bleibt zu bemerken, dass wir,<br />
wenngleich es ein harter Weg war, für uns<br />
persönlich durch das Projekt viel erreicht haben<br />
(nicht nur in <strong>Mathematik</strong> sondern in allen<br />
Fächern). Wir hoffen auf die aktive Resonanz<br />
seitens KM <strong>und</strong> ISB in Bayern, so dass sich<br />
die gesamte Aufgaben- <strong>und</strong> Prüfungskultur in<br />
eine Richtung verändert, <strong>und</strong> wir <strong>im</strong> passenden<br />
Augenblick unsere in Insellösungen erworbenen<br />
Erfahrungen einfließen lassen<br />
können.<br />
Anhang:<br />
Stegreifaufgabe aus der<br />
<strong>Mathematik</strong> am 28. März 2003<br />
Klasse 7c<br />
Vorarbeiten<br />
1. Erstelle auf dem Desktop einen Ordner Nachname,<br />
wobei Nachname durch deinen eigenen<br />
Nachnamen zu ersetzen ist.<br />
2. Kopiere dir aus dem Ordner nb2_Prüfung den<br />
Ordner ex-m7-3-org <strong>und</strong> speichere diesen in<br />
Nachname.<br />
3. Erstelle in Nachname einen Ordner ex-m7-3lös.<br />
In diesen wirst du deine Lösungen speichern.<br />
4. Speichere während der Arbeit regelmäßig. Für<br />
verloren gegangene Dateien bist du selbst verantwortlich.<br />
Aufgabe 1:<br />
a) Lade dir Datei aufgabe-1a.geo aus Nachname\ex-m7-3-org<br />
<strong>und</strong> speichere diese unter demselben<br />
Namen in Nachname\ex-m7-3-lös.<br />
Untersuche, ob die durchgeführte „Konstruktion“<br />
dem Konstruktionsbegriff der alten Geometer<br />
standhalten würde! Begründe in einer Textbox<br />
oder auf dem Papier!<br />
b) Lade dir Datei aufgabe-1b.geo aus Nachname\ex-m7-3-org<br />
<strong>und</strong> speichere diese unter demselben<br />
Namen in Nachname\ex-m7-3-lös.<br />
Untersuche, ob die durchgeführte „Konstruktion“<br />
dynamisch ist! Begründe in einer Textbox oder<br />
auf dem Papier!<br />
223
Claudia Hagan<br />
Aufgabe 2:<br />
Zeichne eine Strecke [AB] <strong>und</strong> konstruiere zu<br />
dieser die Mittelsenkrechte (in DynaGeo dynamisch<br />
konstruiert). Speichere unter aufgabe-<br />
2.geo.<br />
Schülerlösung zu Aufg. 1a:<br />
Schülerlösung zu Aufg. 1b:<br />
224<br />
Aufgabe 3:<br />
Zeige an Hand einer Konstruktion (dabei sind<br />
Makros, Ortslinien etc erlaubt), dass bei einer<br />
„Klappung“ das Bild eines Kreises <strong>im</strong> allgemeinen<br />
keinen Kreis ergibt. Hinweis: Wähle den<br />
Kreisradius der Originalfigur fest, z.B. 3 cm.<br />
Speichere unter aufgabe-3.geo.
� DGS <strong>und</strong> Kommunikation *<br />
1 Einleitung<br />
Ausgangspunkt der Diskussionen waren die<br />
folgenden Leitfragen:<br />
• Wie können Schülerinnen DGS-Resultate<br />
kommunizieren?<br />
• Wie kann DGS mit externen Programmen<br />
kommunizieren?<br />
• Wie kann man Konstruktionen <strong>im</strong> <strong>Internet</strong><br />
publizieren <strong>und</strong> finden?<br />
• Wie kann man anhand von DGS-Resultaten<br />
kommunizieren?<br />
2 Import <strong>—</strong> Export<br />
Als Teil einer Computerumgebung, die neben<br />
einem DGS noch weitere Werkzeuge bereit<br />
hält <strong>und</strong> sich bis in die Weiten des <strong>Internet</strong><br />
erstreckt, müssen Geometrieprogramme mit<br />
anderen Programmen kommunizieren können.<br />
Welche Arten der Kommunikation gibt<br />
es, welche sind wünschenswert <strong>und</strong> was<br />
versprechen wir uns von ihnen?<br />
Es bietet sich an, die Kommunikation nach<br />
ihrer Richtung zu klassifizieren:<br />
Export<br />
Reinhard Oldenburg, Göttingen<br />
Dynamische Geometrieprogramme sollten in vielfältiger Weise Kommunikation unterstützen:<br />
Kommunikation zwischen Mensch <strong>und</strong> Mensch <strong>und</strong> Mensch, Mensch <strong>und</strong> Programm<br />
<strong>und</strong> Programm <strong>und</strong> Programm. Die Arbeitsgruppe hat einige der sich daraus ergebenden<br />
Fragen diskutiert.<br />
Export nach Computeralgebrasystemen kann<br />
bedeuten, dass die Koordinaten als Listen,<br />
<strong>und</strong> die Objektrelationen in symbolischer<br />
Form übergeben werden. Dabei können die<br />
Gleichungen, die die Konstruktion best<strong>im</strong>men,<br />
explizit mit übergeben werden, oder<br />
man kann sie <strong>im</strong> CAS aus der symbolischen<br />
Beschreibung der Konstruktion rekonstruieren.<br />
In der Computeralgebra-Umgebung können<br />
dann die Hilfsmittel der algebraischen<br />
Geometrie für die weitere Untersuchung ver-<br />
wendet werden. Unter Umständen bieten<br />
sich auch Mittel der Analysis an (Kurven).<br />
Ein Export der Konstruktion in symbolischer<br />
Form erlaubt z.B., mit Hilfe von Geometria<br />
die erstellte Konstruktion in <strong>Internet</strong>seiten<br />
oder Lernumgebungen einzubinden.<br />
Interessant wäre auch ein Export nach Tabellenkalkulationsprogrammen,<br />
um numerische<br />
Analysen der Koordinaten z.B. von<br />
Ortslinien durchzuführen.<br />
Die klassische Exportform als Konstruktionstext<br />
wird allgemein als sehr wichtig beurteilt.<br />
Es wurde kontrovers diskutiert, ob eine alternative<br />
Darstellung als Abhängigkeits-Baum<br />
sinnvoll ist.<br />
Be<strong>im</strong> Export ins <strong>WWW</strong> ist zu unterscheiden<br />
zwischen dem Export fertiger Konstruktionen<br />
(die aber nach Möglichkeit beweglich bleiben<br />
sollen) <strong>und</strong> dem Export von Beschreibungen<br />
eines Konstruktionsvorgangs, wie ihn die<br />
Weiterentwicklung Cinerella von Cinderella<br />
vorausichtlich bieten wird. Der Ansatz von Cinerella<br />
wurde als sehr interessant bewertet,<br />
da er eine DGS-Konstruktion als Prozess<br />
<strong>und</strong> nicht nur als Produkt erschließt.<br />
Import<br />
Ein DGS sollte eine Konstruktion nicht nur<br />
nach Maus-Befehlen, sondern auch nach einer<br />
sprachlichen Beschreibungsform ausführen<br />
können. Bei der Beschreibungssprache<br />
kann es sich um deutsche (Fach-)Sprache<br />
oder eine mehr computer-orientierte Mini-<br />
Programmiersprache handeln, wie dies bei<br />
Geolog der Fall ist.<br />
Der Import von Bildern ermöglicht, in diesen<br />
zu messen. Es kann die <strong>im</strong> Bild enthaltene<br />
Geometrie rekonstruiert werden. Beispiele<br />
sind die Untersuchung von Kirchenfenster<br />
oder Parabelbrücken.<br />
* Teilnehmende der AG "DGS <strong>und</strong> Kommunikation" unter der Leitung von Reinhard Oldenburg: Astrid Beckmann, Hans-Jürgen Elschenbroich,<br />
Thomas Gawlick, Gaby Heintz, Ingmar Lehmann, Roland Mechling, Heinz Schumann<br />
225
Reinhard Oldenburg<br />
Eine Form des Imports stelle es auch dar,<br />
wenn ein DGS externe Algorithmen aufrufen<br />
kann. Dies ermöglich eine flexible Erweiterung<br />
durch den Benutzer. Anwendungsgebiete<br />
gibt es z.B. in der S<strong>im</strong>ulation <strong>und</strong> der Visualisierung.<br />
Die praktische Arbeit mit DGS wird durch Import-Funktionen<br />
für Konstruktionen anderer<br />
DGS erleichtert. Der schnelle Wechsel von<br />
einem DGS zum nächsten ist wünschenswert,<br />
um die verschiedenen Zugstrategien<br />
<strong>und</strong> Methoden der Ortslinienberechnung vergleichen<br />
zu können.<br />
3 Unterstützung menschlicher<br />
Kommunikation<br />
Einen gänzlich anderen Aspekt stellt die Unterstützung<br />
der Mensch-Mensch-Kommunikation<br />
durch das DGS dar. Wenn Schüler mit<br />
einem DGS arbeiten, sollen sie miteinander<br />
kommunizieren, sie sollen ihre Ergebnisse<br />
<strong>und</strong> Probleme den Mitschülern <strong>und</strong> dem Lehrer<br />
oder der Lehrerin darstellen.<br />
In der Diskussion wurde diese Arbeitssituation<br />
<strong>im</strong> Klassenraum intensiv diskutiert. Die<br />
Bedeutung von Vorwissen (z.B. um die möglichen<br />
Konfigurationen von Geraden in der<br />
Ebene) für den Lernprozess wurde besonders<br />
hervorgehoben. Schüler müssen lernen,<br />
Besonderheiten zu erkennen, um die Übersetzungsarbeit<br />
von der Beobachtung der Dynamik<br />
zur Invarianz, also zum mathematischen<br />
Satz, leisten zu können.<br />
Um dies zu fördern, sollten schon die Arbeitsaufträge<br />
Kommunikation anregen. Über<br />
226<br />
die genaue Form, wie dies geschehen kann,<br />
wurde keine Einigkeit erzielt. Es wurde aber<br />
als günstig beurteilt, Schülern als Startpunkt<br />
elektronische Arbeitsblätter zu geben. Aus<br />
solchen, teilweise geschlossenen Aufgabenstellungen<br />
können nach aller Erfahrung auch<br />
offene Situationen entstehen. Dabei spielt die<br />
Kompetenz des Lehrers eine entscheidende<br />
Rolle ("farbenblinde Lehrer können nicht entscheiden,<br />
ob die Schülerinnen blaue oder<br />
graue Blumen gef<strong>und</strong>en haben"). Für diesen<br />
(oder diese) stellt sich aber das Problem,<br />
möglichst schnell zu erkennen, was die<br />
SchülerInnen gemacht haben. Dazu brauchen<br />
diese gute Dokumentationswerkzeuge.<br />
Die vom System generierte Konstruktionsbeschreibung<br />
<strong>und</strong> insbesondere die Funktion<br />
der Rückblende stellen eine wichtige Hilfe<br />
dar.<br />
Zur Dokumentation wurde vorgeschlagen,<br />
den Konstruktionstext mit eigenen Bemerkungen<br />
erläutern zu können. Hilfreich ist<br />
auch eine Anzeige der Eltern von Objekten.<br />
Es gibt eine Parallelität zu Tabellenkalkulationsprogrammen,<br />
wo der Anblick des Tabellenblattes<br />
ebenso viele Informationen <strong>im</strong> Verborgenen<br />
lässt wie ein DGS. Bei Tabellenkalkulationen<br />
gibt es aber in der Regel die<br />
Option, die Verlinkung der Zellen graphisch<br />
anzuzeigen. Ähnliches sollte es auch bei<br />
DGS geben.<br />
Die Aufzeichnung von Konstruktionen, wie<br />
sie Cinerella bietet, ist nur für die Dokumentation<br />
des Arbeitsergebnisses interessant.<br />
Dort allerdings öffnet sie neue Möglichkeiten.<br />
Interessant ist sie aber ohne Zweifel ebenso<br />
wie die Protokollfunktion mit Zeitfenstern<br />
(Cabri II+) für die didaktische Forschung.
� Didaktische Konzepte von e-Learning-Plattformen *<br />
Christina Völkl, Würzburg<br />
Die Arbeitsgruppe ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es nicht eine opt<strong>im</strong>ale e-Learning-Plattform<br />
für ein opt<strong>im</strong>ales didaktisches Konzept gibt. Vielmehr muss die e-Learning-Plattform<br />
in der Lage sein, unterschiedliche didaktische Konzepte, abhängig von unterschiedlichen<br />
Zielgruppen <strong>und</strong> Lernsituationen, technisch abzubilden.<br />
1 Ausgangssituation<br />
Zunächst stellt sich die Frage, welche didaktischen<br />
Konzepte hinter e-Learning-Plattformen<br />
überhaupt stehen. Infolge der unterschiedlichen<br />
Erfahrungen der Teilnehmer in<br />
der Arbeitsgruppe hinsichtlich der Einsatzformen<br />
von e-Learning <strong>im</strong> Alltag wurden die unterschiedlichen<br />
Vorstellungen deutlich. Eine<br />
Klärung der Begriffe schien demnach äußerst<br />
gr<strong>und</strong>legend: Was versteht man unter e-<br />
Learning, online oder offline <strong>Lernen</strong>, Plattformen,<br />
etc.? <strong>—</strong> Durch die Diskussion der<br />
genannten Begriffe konnte eine gemeinsame<br />
Basis geschaffen werden, die für denweiteren<br />
Verlauf erforderlich war.<br />
Anhand der Darstellung von vier Praxis-Beispielen<br />
wurden die unterschiedlichen Ausgangssituationen<br />
der Teilnehmer deutlich.<br />
2 Vorstellen von Beispielen<br />
<strong>und</strong> Zusammentragen<br />
didaktischer Aspekte<br />
Die große Bandbreite von e-Learning wurde<br />
zunächst durch die Darstellung der vier unterschiedlichen<br />
Betrachtungen von e-Learning-Plattformen<br />
<strong>und</strong> den dahinterstehenden<br />
didaktischen Konzepten deutlich:<br />
2.1 MaDiN<br />
MaDiN (<strong>Mathematik</strong>didaktik <strong>im</strong> Netz) ist eine<br />
Informationsumgebung der Universität Münster<br />
<strong>und</strong> dreier weiterer Universitäten für Dozenten,<br />
die Inhalte der Plattform zur Darstellung<br />
während der Vorlesung nutzen wollen.<br />
Die Navigation von MaDin besteht aus einer<br />
so genannten Baumstruktur auf der linken<br />
Seite der Benutzeroberfläche, welche die Inhalte<br />
in die verschiedenen Kapitel gliedert.<br />
Wählt man hier ein Kapitel aus, erscheint in<br />
der Mitte der Benutzeroberfläche ein weiteres<br />
Navigationstool, das grafisch einer<br />
Schreibtisch-Oberfläche gleicht <strong>und</strong> die Benutzer<br />
durch den Inhalt eines Kapitels führt<br />
(z.B. Theorie, Übungen, Beispiele, etc.).<br />
Beispielsweise können Skizzen, Lehrbuchseiten,<br />
Pop-up-Ikonogramme, interaktive Cinderella-An<strong>im</strong>ationen<br />
<strong>und</strong> ähnliches in der<br />
Vorlesung eingesetzt werden.<br />
Die Kerninhalte finden sich bei MaDiN in der<br />
"Theorie-Schublade": Diese werden vor allem<br />
als Kurztexte mit Bildern; Applets,<br />
Flashs, etc. angeboten, die auch zum Druck<br />
für die Anwender aufbereitet werden können<br />
(vgl. auch die Beiträge von Wittmann <strong>und</strong><br />
Weth in diesem Tagungsband).<br />
MaDiN verfügt außerdem über eine "History",<br />
zu Deutsch "Lernpfad-Verfolgung", einen<br />
Navigations-Baum, einen "Recorder" zum<br />
Aufzeichnen best<strong>im</strong>mter Wege durch das<br />
System, <strong>und</strong> weitere Features, die hier nicht<br />
<strong>im</strong> Detail aufgezählt werden sollen.<br />
Für einige Anwendungen die in MaDiN integriert<br />
sind, gibt es bereits perfekte Systeme.<br />
Zum Beispiel ist das "Nachvollziehen von<br />
Vorgängen" <strong>im</strong> Recorder bereits in entsprechenden<br />
Systemen als Lernvorschlag fest integriert.<br />
(http://www.visum.ewf.uni-erlangen.de/)<br />
2.2 Vernetztes Studium <strong>—</strong><br />
Chemie (VSC)<br />
Nach der Vorstellung von MaDiN durch M.<br />
Hartmann lieferte B. Xylander mit einem<br />
Selbstlernmodul aus den Materialien des<br />
BMBF-Projektes Vernetztes Studium <strong>—</strong> Chemie<br />
(VSC) ein Beispiel für ein Web-Based-<br />
Training (WBT, online) bzw. Computer-<br />
Based-Training (CBT, offline). Be<strong>im</strong> VSC<br />
handelt es sich um Vorlesungen <strong>und</strong> Seminare<br />
begleitende, mult<strong>im</strong>ediale Lehrmateria-<br />
* Teilnehmende der AG "Didaktische Konzepte von e-Learning-Plattformen" unter der Leitung von Mutfried Hartmann: Heiko Baumann, Christine<br />
Bescherer, Wolfgang Fricke, Gerald Hoja, Karl-Heinz Keunecke, Thomas Schödel, Christina Völkl, Wolfgang Weigel, Bert Xylander, Siegfried<br />
Zseby<br />
227
Christina Völkl<br />
lien für Studierende der Fachrichtung Chemie<br />
mit Aufgaben <strong>und</strong> Lösungen.<br />
Zentraler Gedanke bei der Erstellung der<br />
Lehrmaterialien ist die inhaltliche, mediale<br />
<strong>und</strong> didaktische Neustrukturierung bei der<br />
Umsetzung der Lehrinhalte von herkömmlichen<br />
Medien (Tafel, Lehrbücher) auf das<br />
neue Medium Computer <strong>und</strong> <strong>Internet</strong>. Angestrebt<br />
wird eine ausgewogene Mischung aus<br />
instruktiven <strong>und</strong> aktiven Elementen. Die<br />
Lehrmaterialien werden in einer e-Learning-<br />
Plattform präsentiert, die in ihrer Funktionalität<br />
eine gewohnte Arbeitsumgebung be<strong>im</strong><br />
<strong>Lernen</strong> nachvollziehen soll. Dazu gehören<br />
Notizblock, Textmarker, Periodensystem,<br />
Suchfunktionen etc. (http://www.vs-c.de)<br />
2.3 Interwise<br />
Ein Beispiel für synchrones e-Learning mit<br />
Hilfe der Software "Interwise” führte K.-H.<br />
Keunecke anhand des bereits aktiv eingesetzten<br />
Workshops "<strong>Mathematik</strong> mit DERI-<br />
VE 5" vor.<br />
Der Workshop ist eine Echtzeit-Online-Fortbildung,<br />
an dem sich bis zu 15 Teilnehmer<br />
anmelden können. Dabei besteht eine Audioverbindung<br />
zwischen den Teilnehmern,<br />
<strong>und</strong> außerdem können Bildschirminhalte z.B.<br />
des Tutors allen sichtbar gemacht werden.<br />
Ziel ist es, Lehrkräften vorzuführen, wie neue<br />
Technologie (CAS, DGS, Handheld-Geräte<br />
mit CAS) in den <strong>Mathematik</strong>unterricht integriert<br />
werden können. Die Teilnehmer <strong>und</strong><br />
Teilnehmerinnen erhalten Arbeitsunterlagen,<br />
die sie direkt in ihrem Unterricht einsetzen<br />
können. Die Idee zu dieser Fortbildung ist<br />
entstanden, weil einerseits der Bedarf an<br />
Fortbildungen so groß wie nie zuvor ist <strong>und</strong><br />
andererseits die Teilnahme an Präsenzveranstaltungen<br />
während der Schulzeit <strong>im</strong>mer<br />
weniger zugelassen wird. Die bisherigen 40<br />
Veranstaltungen in den letzten zwei Jahren<br />
sind in den Abendst<strong>und</strong>en ab 19 Uhr durchgeführt<br />
worden. Da die Teilnahme freiwillig<br />
ist, loggen sich die Lehrkräfte nur ein, wenn<br />
sie sich davon einen Nutzen versprechen.<br />
Steigende Teilnehmerzahlen zeigen, dass<br />
hier ein Weg gef<strong>und</strong>en wurde, um Lehrkräfte<br />
bei der Einführung neuer Technologie in der<br />
Schule zu unterstützen. Es zeigte sich auch,<br />
dass die Lehrkräfte dieses Forum intensiv<br />
nutzten, um sich mit anderen auszutauschen,<br />
die sich in ähnlichen Unterrichtssituationen<br />
befanden. Problematisch schien den Teilnehmern<br />
der Arbeitsgruppe in diesem Zusammenhang,<br />
dass unter den Teilnehmern<br />
des Kurses weitgehend dasselbe Arbeits-<br />
228<br />
tempo vorausgesetzt werden muss, da sonst<br />
Leerlauf während der Lernphasen entsteht.<br />
Mit dem Argument, dass be<strong>im</strong> e-Learning der<br />
User selbst wählt, wann, wo <strong>und</strong> wie er lernt,<br />
begründeten einige Teilnehmer, dass der Begriff<br />
e-Learning bei dieser Art von Workshop<br />
nicht treffend ist. Auf der anderen Seite stand<br />
der Aspekt, dass synchrones e-Learning ein<br />
Teilaspekt von e-Learning ist. Wieder wurden<br />
die unterschiedlichen Auffassungen deutlich.<br />
2.4 weLearn<br />
Die inhaltsoffene Plattform "weLearn" der<br />
Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt, vorgestellt<br />
von C. Völkl, ist ein erweitertes Content-Management-System,<br />
in das die verschiedenen<br />
Inhalte der Professoren <strong>und</strong> Dozenten<br />
eingepflegt werden können.<br />
Die Errichtung dieser e-Learning-, Kommunikations-<br />
<strong>und</strong> Informations-Plattform für die<br />
Studiengänge Informatik, Wirtschaftsinformatik<br />
<strong>und</strong> des Master-Studiengangs "Organizational<br />
Development with IT" der Fachhochschule<br />
Würzburg-Schweinfurt ist ein Projekt<br />
des gemeinsamen Programms von B<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />
Ländern zur Förderung der Weiterentwicklung<br />
von Hochschulen <strong>und</strong> Wissenschaft.<br />
Zielgruppe sind die Studierenden der genannten<br />
Studiengänge. Die vorlesungsbegleitende<br />
Lernumgebung bietet die Möglichkeit,<br />
bereits strukturierte Lehrmaterialien in<br />
Standardformaten (doc, ppt, html, xsl, xml,<br />
etc.) <strong>und</strong> interaktive Videosequenzen einzubinden.<br />
Überprüfungsmöglichkeiten, Tests<br />
(z.B. interaktive Fragebögen, Lernkontroll-<br />
Steps) sind integrierbar. Weiterhin stehen<br />
den Nutzern synchrone <strong>und</strong> asynchrone<br />
Kommunikationsmöglichkeiten wie Foren <strong>und</strong><br />
Chats zur Verfügung. Innerhalb eines kollaborativen<br />
Moduls können Arbeitsgruppen abgebildet<br />
werden, die eigene Foren <strong>und</strong> Dateiarchive<br />
verwalten. Mit Hilfe von Terminverwaltung<br />
<strong>und</strong> e-Mail-Push-Diensten wird die<br />
Unterstützung (nicht der Ersatz!) von größeren,<br />
regelmäßigen Veranstaltungen (z.B. <strong>im</strong><br />
Gr<strong>und</strong>studium) gewährleistet.<br />
(http://www.welearn.de)<br />
3 Eingrenzung<br />
Nach der Präsentation der Praxisbeispiele<br />
<strong>und</strong> der jeweiligen Diskussion zu den unterschiedlichen<br />
e-Learning-Möglichkeiten konnten<br />
wir festhalten, dass die Arbeitsgruppe<br />
nicht eine Plattform mit einem idealen didaktischen<br />
Konzept diskutieren kann, sondern<br />
zielgruppen- <strong>und</strong> lernsituationsabhängig vor-
gehen muss. Aus diesem Gr<strong>und</strong> entschieden<br />
wir uns, einen speziellen Fall zu formulieren.<br />
Unsere konkrete Situation stellte als Zielgruppe<br />
einen Studenten der Didaktik der <strong>Mathematik</strong><br />
<strong>im</strong> Hauptseminar dar.<br />
Hauptsächlich anhand dieses Szenarios<br />
sammelten wir mittels Brainstorming so viele<br />
Beiträge wie möglich.<br />
Die Begriffssammlung umfasste die unterschiedlichsten<br />
Punkte:<br />
- Unterstützung von Seminarbetrieb <strong>und</strong><br />
Gruppenbildung<br />
- Individuell versus kooperativ<br />
- Unterstützung aller Dateitypen<br />
- Dateisammlung (Up-/Download)<br />
- Neue Unterrichtskultur führt zu neuer Aufgabenkultur<br />
(neue Aufgabentypen)<br />
- Betriebssystem-unabhängig<br />
- Individuelle Anpassbarkeit der Oberfläche<br />
- Leichte Einstellung der Daten<br />
- Moderation<br />
- Motivationsdarstellung<br />
- (Virtuelle) Kommunikationsforen/Chat<br />
- Gleichzeitiger Zugriff von Allen auf Alles<br />
- Bewertung<br />
- FAQ<br />
- Volle didaktische Interaktivität<br />
- Offene Problemstellung<br />
- Lernzielkontrollen<br />
- User Tracking (Benutzerverfolgung) -><br />
Datenschutz??<br />
- Hilfe-Stop-Touren / gestufte Hilfe / Hilfeapparat<br />
/ Zeigefunktion<br />
- Reduzierte Präsenz<br />
- "History" / Lernpfad<br />
Abb. 1<br />
AG "Didaktische Konzepte von e-Learning-Plattformen"<br />
- Multilingualität<br />
- Tiefenstruktur: vorhandene Thementiefe<br />
muss darstellbar sein<br />
- Beteiligung der Studenten in der Aufgabenstellung<br />
- Anpassbare Rechte- <strong>und</strong> Rollenstruktur<br />
(Gruppenleiter etc.)<br />
- Nutzerfre<strong>und</strong>lichkeit<br />
Um eine bessere Basis <strong>und</strong> einen Leitfaden<br />
für eine konstruktive Diskussion zu schaffen<br />
entschieden wir uns für die Erstellung einer<br />
Mindmap, die die wesentlichen Punkte <strong>und</strong><br />
aufkommenden Fragen unserer Schluss-Diskussion<br />
widerspiegelt:<br />
Was braucht man <strong>im</strong> ersten Schritt? Ist das<br />
didaktische Konzept oder die technische<br />
Gr<strong>und</strong>lage in Form einer e-Learning-Plattform<br />
<strong>im</strong> ersten Schritt wichtig?<br />
Was liefert uns be<strong>im</strong> e-Learning den wirklichen<br />
Mehrwert?<br />
Wie soll der Content sinnigerweise aufgebaut<br />
sein?<br />
4 Ergebnis<br />
Die Mindmap (Abb. 1) ist das Ergebnis unserer<br />
Arbeitsgruppe: Daran werden die wesentlichen<br />
Aspekte wie etwa Berücksichtigung<br />
technischer Gegebenheiten, zugr<strong>und</strong>egelegtes<br />
didaktisches Konzept, Motivationselemente<br />
usw. deutlich, die bei der Konzeptionierung<br />
von Lernplattformen von Bedeutung<br />
sind. Zugleich zeigt die Mindmap die Vielfalt<br />
von Parametern, die in der Planung einer<br />
Lernplattform Einfluss nehmen <strong>und</strong> in ihre<br />
Konstruktion eingehen.<br />
229
Freitag, 26.09.2003<br />
bis<br />
13.30<br />
230<br />
Tagungsprogramm<br />
Anreise <strong>—</strong> Mittagessen ist nur <strong>im</strong> Ort möglich!<br />
14.00 Wilfried Herget & Thomas Weth Eröffnung, Einführung in das Tagungsthema<br />
14.15 –<br />
15.15<br />
15.15 –<br />
15.45<br />
15.45 –<br />
16.30<br />
16.35 –<br />
17.20<br />
17.25 –<br />
18.10<br />
Hauptvortrag<br />
Leuders, T<strong>im</strong>o<br />
Soest<br />
<strong>Mathematik</strong> <strong>Lernen</strong> <strong>und</strong> <strong>Lehren</strong> mit dem <strong>Internet</strong> –<br />
zwischen instruktivistischem <strong>und</strong> konstruktivistischem Paradigma<br />
Kaffee- bzw. Teepause<br />
Sektionsvorträge (30 Minuten Vortrag + 15 Minuten Diskussion)<br />
Raum ... Raum ... Raum ...<br />
Nestle, Fritz<br />
Vom 19. ins 21. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
<strong>—</strong> Ändert das <strong>Internet</strong><br />
Chancen für den Zugang<br />
zur <strong>Mathematik</strong>?<br />
Kortenkamp, Ulrich<br />
Exper<strong>im</strong>entieren <strong>und</strong> Publizieren<br />
Ernst, Astrid &<br />
Niehaus, Engelbert<br />
Konstruktiv arbeiten mit<br />
dem <strong>Internet</strong> in Schule <strong>und</strong><br />
Lehrerausbildung<br />
Elschenbroich, Hans-<br />
Jürgen<br />
Der Kosinussatz <strong>—</strong> wiederentdeckt<br />
als Flächensatz<br />
Filler, Andreas (Teil 1)<br />
Einbeziehung der 3D-Computergrafik<br />
in das Stoffgebiet<br />
Analytische Geometrie<br />
Gawlick, Thomas<br />
Über Konstruktion <strong>und</strong> Figur<br />
in der Dynamischen<br />
Geometrie<br />
18.15 Abendessen<br />
19.15 –<br />
20.00<br />
20.00 –<br />
...<br />
Sektionsvorträge (30 Minuten Vortrag + 15 Minuten Diskussion)<br />
Wittmann, Gerald<br />
Wie lernen Studierende in<br />
internetgestützten Lehrveranstaltungen?<br />
Filler, Andreas (Teil 2)<br />
Einbeziehung der 3D-Computergrafik<br />
in das Stoffgebiet<br />
Analytische Geometrie<br />
Lehmann, Ingmar<br />
Dynamische Visualisierung<br />
einer Aufgabe in Variationen<br />
Fergen, Olaf &<br />
Weitendorf, Jens<br />
Der neue Rechner von Casio<br />
– classpad 300<br />
Großmann, Rudolf<br />
Ein Java-Applet zur Eingabe<br />
<strong>und</strong> Überprüfung mathematischer<br />
Terme<br />
Orientieren, Kennenlernen, Gemütlicher Ausklang <strong>im</strong> Hotel Convikt in Dillingen
Samstag, 27.09.2005<br />
07.45 Frühstück<br />
08.30 –<br />
09.30<br />
09.45 –<br />
10.30<br />
10.30 –<br />
11.00<br />
11.00 –<br />
11.45<br />
11.50 –<br />
12.35<br />
Hauptvortrag<br />
Niederdrenk-Felgner, Cornelia<br />
Nürtingen<br />
Jungen, Mädchen, Mathe <strong>und</strong> Computer<br />
Sektionsvorträge (30 Minuten Vortrag + 15 Minuten Diskussion)<br />
Raum … Raum … Raum …<br />
Ludwig, Matthias &<br />
Schmidt-Thieme, Barbara<br />
Ein virtuelles Seminar <strong>—</strong><br />
Konzeption, Durchführung<br />
<strong>und</strong> Auswertung<br />
Weigel, Wolfgang<br />
Gestaltungsprinzipien <strong>und</strong><br />
Erfahrungen zum virtuellen<br />
Selbstlernkurs: Computer<br />
<strong>und</strong> <strong>Mathematik</strong><br />
Löthe, Herbert &<br />
Bescherer, Christine<br />
<strong>Mathematik</strong>lernen <strong>und</strong> Organisieren<br />
<strong>—</strong> Voraussetzung<br />
für die Nutzung der<br />
neuen Medien <strong>und</strong> des <strong>Internet</strong>s<br />
Zseby, Siegfried<br />
Die Apfelsinenkiste <strong>im</strong> Hyde-Park<br />
<strong>—</strong> Lernplattform<br />
für den ersten Auftritt<br />
Kaffee- bzw. Teepause<br />
Oldenburg, Reinhard<br />
<strong>Mathematik</strong> lernen <strong>im</strong> <strong>Internet</strong><br />
<strong>—</strong> vom Standpunkt<br />
moderner Erkenntnistheorie<br />
Lambert, Anselm<br />
Was wissen wir vom <strong>Internet</strong>?<br />
12.40 Mittagessen<br />
15.00<br />
Arbeitsgruppen (mit einer geeigneten Einführung)<br />
Thema Leitung<br />
Münchenbach, Carsten<br />
Von Pr<strong>im</strong>zahlen zur Verschlüsselung<br />
mit RSA <strong>—</strong><br />
Eine Unterrichtseinheit für<br />
eine 11. Klasse <strong>im</strong> <strong>WWW</strong><br />
Xylander, Bert<br />
Über das <strong>Lehren</strong> von Gruppentheorie<br />
mit dem <strong>Internet</strong><br />
<strong>—</strong> Bestandsaufnahmen<br />
<strong>und</strong> Ausblicke<br />
Pallack, Andreas<br />
Integration des <strong>Internet</strong>s<br />
am Beispiel der Behandlung<br />
von Korrelation <strong>und</strong><br />
Regression in Jahrgangsstufe<br />
11<br />
1 Der neue Rechner von Casio – classpad 300 Fergen, Olaf & Weitendorf,<br />
Jens<br />
2 <strong>Mathematik</strong>unterricht in Notebook-Klassen 7 <strong>und</strong> 8 Hagan, Claudia<br />
3 <strong>Internet</strong>-Übungsaufgaben erstellen mit dem Formel-Applet Großmann, Rudolf<br />
4 DGS <strong>und</strong> Kommunikation Oldenburg, Reinhard<br />
5 Didaktische Konzepte von e-Learning-Plattformen Völkl, Christina<br />
18.00 Abendessen<br />
19.00 –<br />
19.45<br />
20.00 –<br />
...<br />
Fortsetzung der Arbeitsgruppen<br />
Gemeinsames Abendprogramm <strong>im</strong> Hotel Convikt;<br />
danach Ausklang <strong>im</strong> Landesinstitut<br />
231
Sonntag, 28.09.2005<br />
07.45 Frühstück, Z<strong>im</strong>mer räumen<br />
08.30 –<br />
09.30<br />
09.45 –<br />
10.30<br />
10.30 –<br />
11.00<br />
11.00 –<br />
12.00<br />
232<br />
Hauptvortrag<br />
Weth, Thomas<br />
Nürnberg<br />
<strong>Mathematik</strong>unterricht <strong>und</strong> Neue Medien<br />
Sektionsvorträge (30 Minuten Vortrag + 15 Minuten Diskussion)<br />
Raum ... Raum ... Raum ...<br />
Oldenburg, Reinhard<br />
Das CAS-basierte DGS<br />
Feli-X zur Vernetzung von<br />
Algebra <strong>und</strong> Geometrie<br />
Tschacher, Karel<br />
"Da schauen Sie mal ins <strong>Internet</strong>"<br />
Kaffee- bzw. Teepause<br />
Keunecke, Karl-Heinz<br />
Echtzeit-Online-Fortbildungen<br />
für Lehrkräfte: <strong>Mathematik</strong><br />
mit GTR <strong>und</strong> CAS<br />
Ergebnisse der Arbeitsgruppen, Tagungsbilanz, Abschlussdiskussion<br />
12.15 Mittagessen, Kaffee bzw. Tee<br />
13.30 Tagungsende<br />
Teilnehmerinnen- <strong>und</strong> Teilnehmer-Liste<br />
(z.T. auf den Stand von Mai 2005 gebracht; ob es sich um den Privat- oder den Dienstort handelt, ergibt<br />
sich meistens aus der Mail-Adresse)<br />
Abel, Barbara, 72072 Tübingen abel@lehrerfortbildung-bw.de<br />
Ahrends, Gerd, 66111 Saarbrücken g.ahrends@web.de<br />
Baumann, Heiko, 97286 Sommerhausen baumann_heiko@web.de<br />
Beckmann, Astrid, 73525 Schwäbisch Gmünd astrid.beckmann@ph-gmuend.de<br />
Bender, Peter, 33098 Paderborn bender@upb.de<br />
Bescherer, Christine, 24943 Flensburg christine.bescherer@uni-flensburg.de<br />
Christmann, Norbert, 67653 Kaiserslautern christmann@mathematik.uni-kl.de<br />
Daubert, Kurt, 79117 Freiburg daubert@ph-freiburg.de<br />
Detering, Eike A., 14513 Teltow eadetering@aol.com<br />
Eckelt, Irmgard, 58332 Schwelm irmaeck@aol.com<br />
Elschenbroich, Hans-Jürgen, 41352 Korschenbroich elschenbroich@t-online.de<br />
Elschenbroich, Inge, 41352 Korschenbroich i.elschenbroich@t-online.de<br />
Ernst, Astrid, 48149 Münster ernsta@math.uni-muenster.de<br />
Fergen, Olaf, 22848 Norderstedt fergen@casio.de<br />
Fichtner, Richard, 89407 Dillingen r.fichtner@alp.dillingen.de<br />
Filler, Andreas, 10099 Berlin filler@mathematik.hu-berlin.de<br />
Friebe, Kristine, 55126 Mainz kfriebe@rheinzeitung.de<br />
Friebe, Wolfgang, 55126 Mainz friebe@ibi.tu-berlin.de<br />
Gawlick, Thomas, 76829 Landau gawlick@uni-landau.de<br />
Großmann, Rudolf, 90547 Stein rudolf.grossmann@odn.de<br />
Haftendorn, Dörte, 21335 Lüneburg haftendorn@uni-lueneburg.de<br />
Hagan, Claudia, 97209 Veitshöchhe<strong>im</strong> claudia.hagan@gmx.de<br />
Hartmann, Mutfried, 90478 Nürnberg mdhartma@ewf.uni-erlangen.de<br />
Harzbecker, Ulrich, 21332 Lüneburg ulrich.harzbecker@br-lg.niedersachsen.de
Heintz, Gaby, 41363 Jüchen gaby.heintz@t-online.de<br />
Helle, Eva-Maria, 91452 Wilhermsdorf evamaria.helle@gmx.de<br />
Hennecke, Martin, 31141 Hildeshe<strong>im</strong> hennecke@cs.uni-hildeshe<strong>im</strong>.de<br />
Herget, Wilfried, 06099 Halle herget@mathematik.uni-halle.de<br />
Hofer, Matthias, A-1150 Wien matthias.hofer@a1.net<br />
Hoja, Gerold, 90478 Nürnberg ghoja@web.de<br />
Keunecke, Karl-Heinz, 24159 Kiel kh.keunecke@t-online.de<br />
Kirsche, Peter, 86135 Augsburg peter.kirsche@math.uni-augsburg.de<br />
König, Gerhard, 76139 Karlsruhe gk@fiz-karlsruhe.de<br />
Kortenkamp, Ulrich, 10623 Berlin kortenkamp@math.tu-berlin.de<br />
Kronfellner, Manfred, A-1040 Wien m.kronfellner@tuwien.ac.at<br />
Kunze, Antje, 12203 Berlin antjekunze@compuserve.de<br />
Lambert, Anselm, 66041 Saarbrücken alambert@math.uni-sb.de<br />
Lehmann, Eberhard, 12209 Berlin mirza@snafu.de<br />
Lehmann, Ingmar, 10099 Berlin ilehmann@mathematik.hu-berlin.de<br />
Leuders, T<strong>im</strong>o, 79117 Freiburg t<strong>im</strong>o@leuders.net<br />
Löffler, Rainer, 97082 Würzburg admin@gymnasium-marktbreit.de<br />
Ludwig, Matthias, 88250 Weingarten ludwig@ph-weingarten.de<br />
Maaß, Katja, 79117 Freiburg katjamaass@aol.com<br />
Mann, Markus, 97074 Würzburg mmann@web.de<br />
Manthey, Hasso B., 14163 Berlin hasso.b.manthey@t-online.de<br />
Martignon, Laura, 71634 Ludwigsburg martignon_laura@ph-ludwigsburg.de<br />
Mechling, Roland, 77654 Offenburg roland@mechling.de<br />
Meier, Andreas, 92637 Weiden a.meier.wen@t-online.de<br />
Motzer, Renate, 86159 Augsburg renate.motzer@gmx.de<br />
Müller, Michael, 97074 Würzburg muellerm@cip.physik.uni-wuerzburg.de<br />
Münchenbach, Carsten, 79312 Emmendingen carsten@muenchenbach.de<br />
Nestle, Fritz, 89073 Ulm nestle1@t-online.de<br />
Neveling, Rolf, 42281 Wuppertal neveling.rg@wtal.de<br />
Niederdrenk-Felgner, Cornelia, 72622 Nürtingen niederdrenk@fh-nuertingen.de<br />
Oldenburg, Reinhard, 37085 Göttingen roldenburg@gmx.de<br />
Pallack, Andreas, 59494 Soest andreas.pallack@mail.lfs.nrw.de<br />
Pieper-Seier, Irene, 26111 Oldenburg irene.pieper.seier@uni-oldenburg.de<br />
Richter, Karin, 06120 Halle richter@mathematik.uni-halle.de<br />
Schmid, Fortunat, CH-8006 Zürich fschmid@hlm.unizh.ch<br />
Schmidt, Reinhard, 02828 Görlitz r.schmidt@sz-online.de<br />
Schmidt-Thieme, Barbara, 71634 Ludwigsburg schmidtthieme@ph-ludwigsburg.de<br />
Schödel, Thomas, 06667 Weißenfels tschoedel@t-online.de<br />
Schulz, Wolfgang, 10099 Berlin wschulz@mathematik.hu-berlin.de<br />
Schumann, Heinz, 88250 Weingarten schumann@ph-weingarten.de<br />
Steinweg, Anna Susanne, 96047 Bamberg anna.steinweg@ppp.uni-bamberg.de<br />
Thies, Silke, 65520 Bad Camberg thies.silke@t-online.de<br />
Thode, Reinhold, 24768 Rendsburg reinhold.thode@t-online.de<br />
Tschacher, Karel, 91054 Erlangen tschacher@mi.uni-erlangen.de<br />
Völkl, Christina, 97070 Würzburg mail@christinavoelkl.de<br />
Vogel, Rose, 71634 Ludwigsburg vogel_rose@ph-ludwigsburg.de<br />
Weigand, Hans-Georg, 97074 Würzburg weigand@mathematik.uni-wuerzburg.de<br />
Weigel, Wolfgang, 97074 Würzburg wgweigel@cip.physik.uni-wuerzburg.de<br />
Weissbach, Roland noten@roland-weissbach.de<br />
Weitendorf, Jens, 22850 Norderstedt jens.weitendorf@hansenet.de<br />
Weth, Thomas, 90478 Nürnberg tsweth@ewf.uni-erlangen.de<br />
Winter, Kathrin, 31141 Hildeshe<strong>im</strong> winter@cs.uni-hildeshe<strong>im</strong>.de<br />
Wittmann, Gerald, 73525 Schwäbisch Gmünd gerald.wittmann@ph-gmuend.de<br />
Wolff, Klaus-Peter, 76744 Wörth klaus.p.wolff@t-online.de<br />
Xylander, Bert, 06120 Halle bert.xylander@chemie.uni-halle.de<br />
Zseby, Siegfried, 10825 Berlin zseby@fhw-berlin.de<br />
233