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Mama… Anarchia - deviantART

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Was hält uns wach,<br />

Wenn der Himmel brennt?<br />

- Wunder: Was hält uns wach<br />

Ich ziele nicht mit der Hand, wer mit der Hand zielt, hat das Angesicht seines Vaters<br />

vergessen.<br />

Ich ziele mit dem Auge.<br />

Ich schieße nicht mit der Hand, wer mit der Hand schießt, hat das Angesicht seines Vaters<br />

vergessen.<br />

Ich schieße mit dem Verstand.<br />

Ich töte nicht mit meiner Waffe, wer mit seiner Waffe tötet, hat das Angesicht seines Vaters<br />

vergessen.<br />

Ich töte mit dem Herzen.<br />

- Stephen King: tot.<br />

Sterbt, Sterbt, STERBT!<br />

- Warhammer 40k: Dawn of War<br />

I’ll show you mine,<br />

If you show me yours first,<br />

Let’s compare scars,<br />

I’ll tell you whose,<br />

Is worst<br />

- Rise Against: Swing Life Away<br />

Es ist nicht deine Schuld,<br />

dass die Welt ist wie sie ist,<br />

Es wär nur deine Schuld,<br />

wenn sie so bleibt.<br />

- Die Ärzte: Deine Schuld<br />

Den Schatten hab ich, der mir angeboren,<br />

Ich habe meinen Schatten nie verloren.<br />

- Adelbert von Chamisso: An meinen alten Freund Peter Schlemihl<br />

Do not fuck with us.<br />

- Fight Club<br />

- 1 -


fallen<br />

...der Mann mit der Maschinenpistole fiel aus dem Fenster und<br />

landete mit dem Begleitgeräusch brechender Knochen am Asphalt.<br />

Nach einem Schritt in Richtung des Angreifers mit dem dunklen<br />

Pullover und der weiten Kapuze wurde der Kerl mit dem Messer am<br />

Hals getroffen. Seine Halsschlagader platzte auf und ein gigantischer<br />

Schwall Blut schoss aus der Schusswunde, während er nach Luft<br />

schnappend auf die Knie ging. Ein Fuß in billigen abgetretenen<br />

Schuhen schlug gegen seine Stirn, doch diesen Schmerz spürte der<br />

Mann gar nicht mehr. Die letzten zehn Jahre seines Lebens schossen<br />

wie auf einem auf schnellem Vorlauf gestellten Video vor seinen<br />

Augen dahin wie bei Beweisaufnahmen bei Gericht, dann wurde es<br />

schwarz…<br />

- 2 -<br />

fallen


Angst vor der Nacht<br />

Mama … <strong>Anarchia</strong><br />

Papa … <strong>Anarchia</strong><br />

- 3 -


Helm. Eine fiktive Großstadt mit rund einer Million Einwohnern in einem fiktiven<br />

Deutschland, am Beginn des 21. Jahrhunderts. Keine der in dieser Geschichte vorkommenden<br />

Personen gibt es, keiner der Vorfälle die in dieser Geschichte beschrieben sind, sind je so<br />

passiert. Der Erzähler vertritt keine ethische oder politische Meinung die in der Geschichte<br />

enthalten ist.<br />

Anyway, enjoy the ride…<br />

- 4 -


Für diverse Rettungsanker.<br />

- 5 -


EINS: Der Weg der Gerechtigkeit ist gepflastert mit Leichen.<br />

Der erste Pflasterstein war er. Es war noch nicht elf Uhr und er fuhr endlich von der Arbeit<br />

nach Hause. Die Nacht war nicht mondlos, und es schien auch kein Vollmond. Ein Mittelding<br />

zwischen kaum Mond und noch ein bisschen Mond glänzte am dunklen Himmel. Dank der<br />

üppigen Straßenbeleuchtung sah man kaum Sterne.<br />

Er war gerade in einer spärlich bebauten Straße unterwegs, als er den jungen Mann auf dem<br />

Gehsteig stehen sah. Noch ein wenig mehr Fetzen an ihm und er hätte ihn für einen<br />

Obdachlosen gehalten. Der Junge hatte eine grüne Hosen mit Rissen, die teilweise von<br />

Sicherheitsnadeln verschlossen wurden, trug eine billige schwarze Lederjacke von der diverse<br />

Ketten hingen und er hatte ungekämmte dunkelblonde Haare die ihm ins Gesicht fielen.<br />

Er wurde wütend. Seit fast zehn Stunden mühte er sich für seine undankbare Frau und seine<br />

hässlichen Kinder ab, um wenigstens ein bisschen Geld in seine dumme Familie zu bringen,<br />

seit fast zehn Stunden schimpfte ihn sein blöder Chef zusammen, von wegen er solle doch<br />

endlich seine Arbeit besser machen, seit fast zehn Stunden versuchte er irgendetwas gutes an<br />

seinem Leben zu finden und fand in seinen Gedanken nur die Nutte die er regelmäßig<br />

besuchte, seit fast zehn Stunden hatte er einen scheiß Tag.<br />

Seit fast vierzig Jahren hatte er ein scheiß Leben.<br />

Er kurbelte das Fenster seines schrottreifen Golfs hinunter und schrie dem Jungen entgegen,<br />

er solle von der verdammten Straße gehen sonst würde es ihm Leid tun.<br />

Der Junge wich nicht von der Stelle.<br />

Er bremste mit einem Quietschen und stieg aus. „Na warte, du kleiner Penner, jetzt bekommst<br />

du aufs Maul!“<br />

Noch immer keine Reaktion, der Junge starrte auf den Boden als wäre dieser das<br />

interessanteste auf der ganzen Welt.<br />

Er ging noch einen Schritt bevor der „kleine Penner“ einen Revolver zog und dreimal schoss.<br />

Eine Kugel traf ihn in den Brustkorb, eine in den Hals und die dritte streifte nahe genug an<br />

seinem Ohr vorbei, dass er den Luftzug spüren konnte. Dann spürte er nur noch Schmerzen.<br />

Als der Revolver ein viertes Mal knallte spürte er nichts mehr.<br />

Sie waren ja so cool. Sie hielten sich für das Endstadium der Coolness und des Styles. Sie<br />

hielten fest an Drogen, Sex und schlechter Musik. Wer ihnen nicht in den Weg passte, der<br />

wurde aus ihm gedroschen, wer ein Problem mit ihnen hatte, hatte bald ein paar Zähne<br />

weniger. Sie hielten sich für die Herrscher der Fußgängerzone. Der Älteste von ihnen war<br />

siebzehn, der jüngste fünfzehn.<br />

Es war ein ganz normaler Samstagabend für die fünf extrem coolen Jungs. Sie hatten sich<br />

zuerst in ihrer Stammkneipe Mut angetrunken, und waren nun auf dem Weg zum Stadtplatz.<br />

Auf dem Weg gab es immer jemanden der etwas Falsches sagte. Oder es gab Bräute.<br />

Ein Mädchen, höchstens vierzehn kam mit ihrer Freundin auf die Jungs zugetrippelt. Obwohl<br />

sie so jung waren, sahen sie schon aus wie Prostituierte. Sie waren keine, Kinderstrich in<br />

Helm war noch nicht sehr verbreitet, doch trotzdem schienen sie gefallen daran zu haben so<br />

herum zu laufen.<br />

Die Jungs wollten gerade anfangen die Torten abzuschleppen, als jemand den Mädchen<br />

hinterher pfiff.<br />

„Alter“, meinte der Älteste von ihnen ohne sich umzudrehen, „Das sin unsre Bräute also<br />

verpiss dich!“<br />

„Darf man nicht mal mehr jemandem nach pfeifen ohne von irgendwelchen Idioten angemotzt<br />

zu werden?“<br />

- 6 -


Das brachte sie alle zum umdrehen. Hinter ihnen stand ein Junge in ihrem Alter, er hatte eine<br />

dunkelgrüne Armee-Jacke mit mehreren Aufnähern und dunkle Jeans an. Aus seinem<br />

Mundwinkel hing eine selbst gedrehte Zigarette.<br />

Der jüngste der coolen Jungs ging auf ihn zu und rempelte ihn an. „Hast du ein Problem,<br />

Mann? Ha? Hastu?“ Ohne weitere Vorwarnung trat er nach dem anderen Jungen und traf ihn<br />

am Schienbein. Dann holte er mit der Faust aus und schlug ihm in den Magen. Als sich sein<br />

Opfer krümmte brachte er sein Knie nach oben und rammte es ihm ins Gesicht.<br />

Nun hatten sich die fünf im Kreis aufgestellt und schubsten ihre neue Abendbeschäftigung<br />

durch die Gegend. Blut rann zu Boden und zeigte in makabrer Weise den Weg des Jungen.<br />

Dann geschahen viele Dinge in rascher Abfolge. Ein schwarzer Schemen fiel vom<br />

Fensterbrett des Hauses unter dem sie standen, landete auf einem der Schläger und stieß ihn<br />

zu Boden. Ein Messer blitzte und plötzlich steckte es in der Handfläche des Ältesten und in<br />

einer Mauer. Beide Mädchen schrieen auf als der junge Mann gegen die Hauswand prallte<br />

und entsetzt seinen Arm entlang sah.<br />

Der neue Angreifer war ganz in dunklen Farben gekleidet und trug eine schwarze Sturmhaube<br />

durch die man nur die Augen erkennen konnte. In dem Licht der Straßenlaternen schienen sie<br />

dunkelrot zu glühen. Er zog eine weitere Waffe, doch diesmal war es nicht nur ein kleines<br />

Taschenmesser. Die dunkle Gestalt hielt eine ellbogenlange Machete in der Hand.<br />

Ehe irgendjemandem Zeit blieb nach Hilfe zu rufen stieß die Klinge nach vor und schien in<br />

den Bauch des Jüngsten zu gleiten. Mit einem Schwall Blut kam sie wieder zum Vorschein<br />

und stieß auf den nächsten nicht mehr ganz so coolen Junge zu. Er trug natürlich auch ein<br />

Messer, Messer schindeten Eindruck, doch er hatte es noch nie benutzt. Mit den drei neuen<br />

knochentiefen Schnitten in seinem rechten Oberarm wäre dies auch relativ schwer gewesen.<br />

Blieben nur mehr zwei unverletzte Schläger über.<br />

Der Angreifer, von seiner Größe her konnte er auch nicht viel älter sein als sie selbst, schob<br />

die Machete wieder in die Scheide und drehte sich beiläufig zu den noch immer starrenden<br />

Mädchen um. „Seht gut her.“, sagte er ruhig, „Und berichtet der Nachwelt.“<br />

Dann sprang er herum und rammte seine Stirn gegen die des nächsten Schlägers der taumelte<br />

zurück und hielt sich den Kopf als eine Faust in einem Lederhandschuh in seine Magengrube<br />

traf. Er hatte sich noch nicht von dem Schlag erholt als ihn ein Haken gegen die Nase rammte<br />

und ihm das Nasenbein lebensbedrohlich verschob.<br />

Der letzte Schläger bewies erstaunliche Intelligenz in dem er sich umdrehte und loslief.<br />

Gelassen zog die schwarze Gestalt einen Revolver. Es befanden sich noch zwei Kugeln darin.<br />

Die erste schoss an ihrem Ziel vorbei, doch die zweite traf einen Rücken und hatte genug<br />

Geschwindigkeit um durch den ganzen Körper zu schießen. Sekunden nach dem Projektil fiel<br />

ein Körper zu Boden.<br />

Dann war es vorbei.<br />

Doch für einen langen Weg benötigt man noch viel mehr Pflastersteine.<br />

Am nächsten Morgen konnte Kriminalbeamter Sascha Pattrick seinen Augen nicht trauen.<br />

Blut überall, zwei Tote, vier schwer verletzte, zwei davon schwebten noch in Lebensgefahr.<br />

Man hatte den Teil der Fußgängerzone abgesperrt, und es waren noch keine Reinigungsteams<br />

vor Ort gewesen. An einer Wand klebte Blut. Am Boden schien es überall zu sein. Zwei<br />

Umrissen von jungen Menschen waren mit Kreide auf dem Beton gemalt. Unter einem der<br />

Umrisse war eine enorme Menge Blut, unter dem anderen hatte man eine Kugel gefunden.<br />

Ein weiterer Polizist trat auf Pattrick zu. „Der hier wurde erstochen, vermutlich von einem<br />

ziemlich langen Messer.“<br />

„Was ist mit den beiden Mädchen? Wissen die es nicht genau?“, fragte Pattrick und kniete<br />

sich hin um das Blut genauer anzusehen. Es war wirklich sehr viel.<br />

„Sie meine es ging alles so schnell. Sie sprechen hauptsächlich vom Blut und dass sie nichts<br />

mit der Sache zu tun haben wollen.“<br />

- 7 -


„Schon klar. Haben wir schon Ergebnisse bezüglich der Kugeln?“<br />

„Das war der eigentliche Grund warum ich gekommen bin. Sie scheinen aus derselben Art<br />

von Revolver zu kommen, aus denen auch die Kugeln stammen, die wir bei dem Handwerker<br />

gefunden haben.“<br />

Pattrick stand auf und schloss die Augen. Das Blut wollte nicht verschwinden drum öffnete er<br />

sie wieder. Er begann laut nachzudenken und schoss gelegentlich eine Frage an seinen<br />

Kollegen. „Vielleicht sogar genau der selbe Revolver. Ein Mann mittleren Alters wird<br />

erschossen, ohne jegliche Provokation.“<br />

„Wir wissen nicht ob es eine Provokation gegeben hat.<br />

„Stimmt, stimmt. Was sagten noch mal die Anrainer der Siedlung bei der der Zwischenfall<br />

geschah?“<br />

„Ein altes Paar meinte, sie hätten eine Gruppe heruntergekommener Jugendliche am späten<br />

Nachmittag beobachtet, die sich auf einem Spielplatz herumgetrieben haben.“<br />

„Aber wir dürfen nicht einfach Jugendliche vorschieben und sie als verdächtig oder gleich<br />

schuldig abstempeln. Nein, ich denke nicht, dass die etwas damit zu tun hatten.<br />

„Egal, Fall Nummer Zwei dieser Nacht. Eine Gruppe Schläger wird überfallen und übel<br />

zugerichtet, als sie einen anderen Jungen übel zurichteten. Zwei von ihnen sterben. Waren die<br />

Morde beabsichtigt?“<br />

Der Polizist zuckte mit den Schultern. „Der mit dem Messer getötete könnte ein Unfall<br />

gewesen sein. Ein anderer hat nur schwere Schnitte, vielleicht ging ein Schnitt daneben und<br />

landete im Magen. Was den Erschossenen betrifft, das war bestimmt Absicht.“<br />

„Es könnte doch ein Warnschuss gewesen sein.“<br />

Ein Kopfschütteln. „Soweit wir es bisher analysiert haben, scheinen beide Täter von gestern<br />

Nacht, falls es nicht so und so ein einziger war, ein System in Fehlschüssen und Treffern zu<br />

haben.“<br />

Pattrick runzelte nur die Stirn und verstärkte seinen fragenden Blick. „Erklären Sie mir das.“<br />

„Nun, nehmen wir den Handwerker her. Ein Schuss im Brustkorb, einer im Hals. Beide nicht<br />

unbedingt tödlich, dort wo sie gelandet sind, aber extrem schmerzhaft. Eine Kugel steckte im<br />

Dach seines Kleinlasters. Sie muss in Kopfhöhe an ihm vorbei sein, aber hätte sie getroffen,<br />

wäre er tot gewesen, ganz bestimmt. Die letzte Kugel trifft genau zwischen die Augen.<br />

Tödlich.“<br />

„Man wollte ihn schnell töten, aber es ihm nicht zu leicht machen.“<br />

„Genau.“<br />

„Wie… ungewöhnlich.“ Pattrick schauderte und ging langsam auf die Stelle zu, an der der<br />

Junge erschossen wurde. „Der hier ist davongelaufen.“ Es war keine Frage.<br />

„Ja, doch weit kam er nicht. Ein Schuss geht daneben, vermutlich gab er ihm Hoffnung er<br />

könne noch davonkommen. Der nächste in den Rücken. Der Schuss tötet ihn. Die Kugel<br />

schießt an seinem Herzen vorbei, verursacht eine große Anzahl an inneren Blutungen und tritt<br />

vorne wieder heraus.“<br />

Pattrick zuckte bei dem Gedanken zusammen. „Autsch.“ Erst jetzt nahm er sich Zeit seinen<br />

Gegenüber genauer zu betrachten. Der Polizist war jung, schien jedoch von dem ganzen<br />

Schlammassel nicht sonderlich beeindruckt. Er schien ruhig und ausgeglichen. „Wie heißen<br />

Sie, Junge?“<br />

„Hunt. Kevin Hunt.“<br />

„So wie Bond, James Bond?“ Pattrick musste über den Ernst des jungen Mannes lachen.<br />

„Nun, Hunt, Sie haben da ein paar interessante Interpretationen auf Lager. Bleiben Sie dran.“<br />

Pattrick ließ einen leicht verwirrten Kevin Hunt und die Überreste des Massakers hinter sich.<br />

Irgendetwas höchst Seltsames war in der vorherigen Nacht geschehen. Er hoffte es würde<br />

nicht weiter gehen.<br />

- 8 -


Es war das perfekte Beispiel für Glück im Unglück. Christophs Kopf war noch in Bandagen,<br />

die gebrochene Rippe schmerzte bei fast jeder Bewegung, doch Sira saß an seinem Bett und<br />

hielt seine Hand und irgendwie schien sich alles zum Guten zu wenden. Der Zwischenfall war<br />

natürlich schrecklich und man hatte Christoph oft genug darauf hingewiesen, dass er Glück<br />

gehabt hatte. Der Unbekannte der ihn „gerettet“ hatte, habe früher in derselben Nacht einen<br />

anderen Menschen getötet. Ein gefährlicher Mörder sei er. Jedes mal wenn ein weiterer<br />

Polizist oder Arzt oder sonst irgendwer ihm dies mitteilte hatte Christoph nicht geantwortet,<br />

oder unverbindlich mit den Schultern gezuckt.<br />

Als man sie einmal allein ließ deutete Sira sein Verhalten, wie schon oft zuvor, beim ersten<br />

Versuch richtig. „Du denkst er hat das richtige getan, nicht wahr?“<br />

Christoph schloss die Augen und öffnete sie wieder. Um sich Zeit für eine Antwort zu<br />

schaffen musterte er seine Freundin genau. Ihre dunkle Haut, ihre schlanke Figur, die<br />

vielleicht für manche Menschen zu schlank wirkte, ihr silbernes Lippen-Piercing das beim<br />

Küssen sanft gegen seine Unterlippe drückte, und natürlich ihre Augen. Eines war von einem<br />

dunklen Braun, das andere dunkel und schwarz. Die Tatsache, dass sie auf einem Auge fast<br />

blind war hatte am Anfang ihrer Beziehung zu Christoph ein paar blöde Witze aufkommen<br />

lassen, doch die beiden hatten sich davon nicht beunruhigen lassen.<br />

Schließlich kam sich Christoph blöd vor wie er sie so anstarrte und antwortete. „Was er, wer<br />

auch immer er war, getan hat, war Mord, es war nicht richtig.“ Christoph seufzte laut und<br />

versuchte mit der Luft auch seine gemischten Gefühle auszustoßen. „Aber diese Kerle wollten<br />

auch mir keine Rosen verkaufen. Das hätte übel ausgehen können wenn niemand dazwischen<br />

gekommen wäre. Ich wär fast gestorben wegen diesem Tritt in den Magen.“<br />

Er machte eine Pause und drückte ihre Hand. Sie drückte zurück, sanft aber bestimmt. Ihr<br />

Gesicht war ausdruckslos, keine Freude, kein Entsetzen, und doch konnte sich Christoph<br />

denken wie sie sich fühlte.<br />

Seine nächsten Worte wählte er mit Bedacht. „Es ist egal, und zwar völlig egal, das drei der<br />

Typen nicht in Deutschland geboren wurden, es wär mir komplett egal wenn sie aus<br />

Australien kämen. Es gibt mindestens so viele Leute wie die, die aus Deutschland sind.<br />

„Es gibt böse Menschen, Sira, und sie kommen damit durch, haben sogar ein schönes Leben<br />

dabei.“<br />

„Niemand kann dagegen was tun, Chris. Nicht durch Gewalt, nicht durch Mord.“<br />

„Vielleicht verstehen sie nur diese Sprache.“<br />

Sie schüttelte den Kopf und ein paar schwarze Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht. Doch sie<br />

lächelte. „Du machst dir viel zu viele Gedanken. Schlaf mal eine Runde, ich muss jetzt heim.“<br />

„Abendessen kochen?“<br />

Das brachte sie zum lachen. „Aber nicht für dich du Vielfraß.“<br />

„Ich esse vielleicht viel, aber ich bin nicht dick!“<br />

„Du isst für drei und bist dünn für vier. Aber meine Geschwister essen auch für drei denn sie<br />

sind so viele. Ich hab sie schon viel zu lange bei meiner Oma gelassen.“<br />

„Ist okay. Ich kann schon ohne dich einschlafen.“<br />

Nachdem sie gegangen war versuchte Christoph wirklich einzuschlafen, er brauchte Ruhe,<br />

und er konnte nur hoffen er würde einen traumlosen Schlaf haben. In den letzten Nächten<br />

hatte er zuviel von Blut und Messern und schreienden Menschen geträumt als ihm lieb war.<br />

Doch kurz bevor er vom Wachzustand in den Halbschlaf sickerte hörte er Stimmen vor der<br />

Tür. Die eine Stimme war die der Krankenschwester die um die Zeit Gangaufsicht hatte, die<br />

andere Stimme… Die andere Stimme ließ Christoph wünschen er würde schon träumen.<br />

„Tut mir Leid, junger Herr, aber die Besuchszeiten sind genau am Eingang abzulesen, sie<br />

hätten vor einer Stunde kommen können, so wie alle anderen auch.“<br />

„Vielleicht möchte ich nicht mit allen anderen erscheinen, Fräulein.“<br />

- 9 -


Die jüngste Krankenschwester im Krankenhaus war vielleicht vierzig. Eine von ihnen als<br />

„Fräulein“ zu bezeichnen war ganz schön dreist. Oder Schmeichelei.<br />

„Nun, Regeln sind Regeln, unsere Patienten brauchen auch ihre Ruhe.“<br />

„Ich verspreche mich auch ganz ruhig zu verhalten, ehrlich.“<br />

Etwas raschelte. Papier? Geld?<br />

„Nun, dann gehen sie rein, aber nicht lange!“<br />

„Sie sind zu gut.“<br />

Und die Tür wurde geöffnet. Sofort schloss Christoph die Augen und tat so als würde er<br />

schlafen. Er unterdrückte den Drang künstlich zu schnarchen. Sein Herz raste noch mehr als<br />

vor drei Tagen, in dieser einen schrecklichen Spätsommernacht.<br />

Jemand hob den Sessel auf dem Sira gesessen hatte und stellte ihn ans Ende des Bettes.<br />

„Ich weiß du bist wach.“<br />

„Wodurch?“<br />

„Dadurch. Öffne deine Augen. Verschließ dich nicht vor der Wahrheit.“<br />

Ruckartig setzte sich Christoph auf und verschloss sich nicht mehr vor der Wahrheit. Da saß<br />

er, gegenüber von ihm. Er erkannte ihn natürlich an der Stimme. Es war kurz vor dem Punkt<br />

gewesen, an dem Christoph in Ohnmacht gefallen war. Kurz davor hatte der Angreifer etwas<br />

zu den beiden Mädchen gesagt.<br />

Und er erkannte ihn an den Augen. Diese Augen, die durch das seltsame Licht der<br />

Straßenlampen ausgesehen hätten, als würden sie glühen. Nun musste Christoph erkennen,<br />

dass sie wirklich zu glühen schienen. Es war kein überirdisches helles Glühen wie in billigen<br />

Fantasy-Geschichten, nein, dieses Glühen kam von innen. Der Junge vor Christoph war<br />

höchstens so alt wie er, vielleicht ein Jahr älter, doch aus ihm strahlte eine Lebenskraft, und<br />

eine Reife heraus die sich in seinen Augen bündeln schien.<br />

Er trug ähnliches Gewand wie Christoph es bevorzugte. Die Armeejacke, die jeder zweite<br />

Jugendliche in Helm zu besitzen schien war nur mit drei schlichten Buttons geschmückt. Auf<br />

einem stand in weißen Buchstaben „Freiheit“ auf schwarzem Hintergrund, auf dem zweiten in<br />

Rot auf Grün „Every day is Hell“ und der dritte war ganz blau, ohne irgendeine Aufschrift.<br />

Er trug auch noch eine grüne Hose ohne Gürtel.<br />

Die dunkelblonden Haare waren ein wenig gekämmt und in einem Pferdeschwanz gebändigt.<br />

„Bist du gekommen um deine Arbeit fertig zu machen?“, fragte Christoph nach einiger Zeit.<br />

Der Unbekannte lachte, lehnte sich im Sessel zurück und legte seine zerfetzten Schuhe auf die<br />

Bettkante. „Jein. Ich bin gekommen um meine Arbeit weiter zu machen. Sie ist noch lange<br />

nicht fertig.“ Er setzte sich wieder gerade hin und rückte näher an Christoph heran. „Es gibt<br />

keine Gerechtigkeit mehr auf diesem Planeten. Vielleicht auf dem Planeten, vielleicht gibt es<br />

irgendwo einen Ort wo sie noch existiert. Aber nicht hier, nicht in Deutschland, nicht in<br />

Europa, und bestimmt nicht in diesem kleinen Fleckchen Dreck der sich Helm nennt. Hier<br />

gibt es keine ‚Guten’ und ‚Bösen’, hier bekommt jeder was er will wenn er es bezahlen kann.<br />

Oder wenn andere Leute es für ihn bezahlen.“ Er schüttelte den Kopf. „Es gibt sie einfach<br />

nicht mehr.“<br />

„Denkst du ernsthaft durch ein paar Morde an Menschen die Schlechtes tun könnte daran<br />

etwas ändern?“ Christophs Angst war verschwunden. Der Unbekannte schien ihm etwas<br />

sagen zu wollen. Er wollte keinen schlecht gemachten Job korrigieren. „Damit landest du<br />

höchstens im Gefängnis.“<br />

„Ja wer bin ich schon? Ich bin nicht einzigartig. Ich bin ein Mensch wie alle anderen auch. Ich<br />

kleide mich so wie andere, ich gehe zur Schule, wenn auch in eine miese. Ich wohne in einer<br />

Wohnung, in einem Wohnhaus mit rund fünfzig anderen Menschen. Statistisch gesehen kann<br />

mich niemand finden.“ Er seufzte und starrte an die Wand hinter Christoph. „Aber da liegt<br />

auch das Problem. Ich bin nur einer. Ich falle nicht auf. Ich bin egal. In Helm gibt es<br />

hundertfünfzigtausend Menschen im Alter von vierzehn bis neunzehn. Können<br />

hundertfünfzigtausend auffallen?“<br />

- 10 -


Es war eine rein rhetorische Frage. Selbstverständlich. „Selbstverständlich.“<br />

„Und genau da liegst du falsch. Fallen sie jetzt gerade auf? Fallen dir jetzt in diesem Moment<br />

diese Hundertfünfzigtausend auf wie sie für Gerechtigkeit eintreten?“<br />

„Das tun sie nicht.“<br />

„Nein, das tun sie nicht.“ Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern. „Das sollten sie aber.“<br />

Mit einer fließenden Bewegung schmiss er Christoph eine Zeitung in den Schoß. „Seite Eins.<br />

Brutaler Bandenkrieg nimmt kein Ende, zwei Todesopfer. Hauptverdächtig: Eine<br />

rivalisierende Gang von Jugendlichen. Seite Zwei. Mechaniker mitten auf der Straße<br />

erschossen. Hauptverdächtig: Vor der Tat soll sich eine Gruppe Jugendlicher im Viertel<br />

aufgehalten haben.“<br />

„Aber es war ein Jugendlicher der diese Taten verübte. Das ist die Zeitung von Montag. Das<br />

warst alles du!“<br />

„Woher will das die Zeitung wissen? Es könnte auch ein Erwachsener gewesen sein.<br />

Beschreibung des Täters auf Seite Eins. Dunkles Gewand, gerüstet mit Messern und einem<br />

Revolver. Jeder erwachsene Idiot mit einem Waffenschein kann sich einen Revolver kaufen.<br />

Wie schwer ist das für einen Siebzehnjährigen? Aber Jugendliche lassen sich anscheinend<br />

trotzdem besser anschwärzen als Erwachsene. Erwachsene tun das Richtige. Sie führen<br />

Kriege, töten für Geld, missbrauchen ihre Kinder, aber sie tun das Richtige.“<br />

Christoph wusste nicht wie er antworten sollte. Der Unbekannte schien seine Gedanken in<br />

neue Phrasen zu verpacken und auszustoßen.<br />

„Beschreibung des Opfers, Seite Zwei: liebender, umsichtiger Familienvater, der nichts<br />

anderes verbrochen hatte als für seine Familie Geld heimzubringen.“<br />

der Unbekannte knurrte verächtlich. „Der Mann stand kurz vor dem Amoklauf, das sage ich<br />

dir. Vielleicht war er schon geisteskrank, vielleicht noch nicht aber kurz davor. Er brachte<br />

kaum Geld heim. Er arbeitete bis sieben, fuhr dann von einem Wettbüro zu seinem<br />

Lieblingspuff und dann erst nach Hause. Dort prügelte er zum Einschlafen seine Kinder oder<br />

seine Frau. Er redete sich ein er würde nur einmal in der Woche seine Hure besuchen. Er<br />

glaubte daran, dass er in der Spätschicht arbeitete. Er stritt sogar mit seinem Chef wegen dem<br />

Gehalt das er dafür bekommen müsste.“<br />

„Du scheinst nur eine Rechfertigung zu suchen. Er war vielleicht ein grauenhafter Kerl, aber<br />

das ist noch lange kein Grund ihn umzubringen.“<br />

„Er war das perfekte Beispiel für die Art von Mensch die aus uns allen einmal werden könnte.<br />

Unzufrieden, ungebildet, leicht zu beeinflussen. Diese Art Mensch ist nicht richtig. Ich<br />

möchte nie so werden, du etwa?“<br />

Christoph sagte nichts.<br />

Der Unbekannte packte die Zeitung wieder ein und hielt Christoph einen kleinen Umschlag<br />

hin. Er hatte eine Ausbuchtung und war relativ schwer.<br />

„Ich gebe dir das als Geschenk von einem Jugendlichen zum anderen. Wenn wir nicht für das<br />

eintreten an das wir glauben, dann werden wir’s vergessen.“ Er stand auf, rückte seine Jacke<br />

zurecht und sah Christoph an. Feuer brannte in seinen Pupillen. „Man sieht sich.“<br />

Wie nach jedem Besuch sah die Krankenschwester kurz herein und fragte Christoph ob alles<br />

in Ordnung sei. Er ließ sich von ihr ein Glas Wasser bringen. Sein Hals war komplett<br />

ausgetrocknet und sein Herz schlug wie wild. Dieser Junge hatte vor drei Tagen drei<br />

Menschen getötet. Drei Menschenleben ausgelöscht.<br />

Als die Schwester weg war nahm Christoph allen Mut zusammen und öffnete den Umschlag.<br />

Heraus fiel eine kleine weiße Karte mit einer Adresse.<br />

Und ein Schlagring.<br />

Die Sonne ging unter. An den Ausläufern Helms, hinter dem stark verschmutzten<br />

Industrieviertel, von dem den ganzen Tag Rauch in den Himmel stieg, hinter dem großen<br />

- 11 -


Müllverwertungskomplex, an den Enden der eigentlichen Menschheit, war ein<br />

Wohnwagenpark, dort lebten rund zweihundert Menschen in Armut und Elend.<br />

Doch nicht einmal hier kannte die menschliche Boshaftigkeit ihre Grenzen. Anstatt im Leid<br />

vereint zu sein, brachte Frustration die dunklen Seiten der Psyche an die Oberfläche.<br />

Sie standen vor ihrem braunen Wohnwagen und schrieen sich an, ein Mann und seine Frau.<br />

Einst waren sie verliebt gewesen, mit großen Träumen von einer besseren Welt. Sie wollten<br />

gemeinsam die Armut hinter sich lassen und etwas aus ihrem Leben machen. Eine andere<br />

Stadt, bessere Arbeit, ein Leben in Glück und wenigstens ein wenig Wohlstand. Doch sie<br />

lebten im Wohnwagen seines Vaters. Er arbeitete im Stahlwerk, sie verkaufte in der Stadt<br />

Drogen. Sie hatten nicht einmal genug Geld um ihre Kinder zu ernähren. Eine Weile hatte sie<br />

die Liebe weitergebracht. Jetzt standen sie kurz vor dem Ende.<br />

„DU BLÖDE SCHLAMPE!! ICH HAB DIR TAUSENDMAL GESAGT – “<br />

„LASS MICH IN RUH MIT DEINEN KOMPLEXEN, DU SCHWEIN!“<br />

„WIE KANNST DU ES WAGEN?“<br />

„ICH HAB GENUG VON DIR!“<br />

Er schlug sie ins Gesicht. Ein weiterer blauer Fleck, geschenkt von den Abgründen einer Ehe<br />

die nie einen Sinn hatte.<br />

Als sie am Boden lag und wimmerte schlug er sie noch einmal mit den Fuß und sie krümmte<br />

sich am Boden zusammen.<br />

Dann sah er auf. Vor ihm stand ein Junge mit einer grünen Jacke und dunkler Hose. Sein<br />

blondes Haar fiel ihm über die Schultern. In der linken Hand hielt er eine Flasche aus der ein<br />

feuchtes Tuch hing. In der rechten Hand ein Feuerzeug.<br />

Der Mann drehte sich zum Wohnwagen um. Trotz der zwei Flaschen Wodka sagte ihm sein<br />

Gehirn dass die Kinder nicht daheim waren, sondern weg. Irgendwo.<br />

Als er sich umdrehte hatte der Junge schon die Flasche geworfen. Das Benzin darin<br />

entzündete sich beim Aufprall und setzte einen Teil des Anhängers in Flammen. Ruhig, fast<br />

beiläufig hob der Junge eine zweite Flasche vom Boden auf, zündete das Tuch an und warf.<br />

Sie war noch nicht aufgetroffen als der Mann losstürmte und einen lauten, unartikulierten<br />

Schrei ausstieß.<br />

Er sah den Revolver nicht einmal mehr, so blind vor Wut und Alkohol war er. Dass das Leben<br />

seiner Familie gerade abbrannte war ihm egal, so wie ihm seine Familie egal war, doch man<br />

hatte sein Eigentum zerstört. Es hatte ihm gehört, ihm ganz allein.<br />

Als ihn die Kugel ins Bein traf versuchte er noch kurz weiterzulaufen, doch die Schwerkraft<br />

zog ihn zu Boden. Als sich der Junge vor ihn stellte schrie er noch einmal und versuchte<br />

aufzustehen. Doch sein alkoholisierter Körper wollte nicht gehorchen. Er sank schwer atmend<br />

zu Boden. Irgendwo hinter ihm winselte seine Frau. Die Schlampe. Sie sollte still sein, alles<br />

sollte still sein. Das Feuer breitete sich aus und es wurde heiß.<br />

Als der Mann aufsah, blickte er in den Lauf eines Revolvers. „Gnade.“, stammelte er. „Gnade,<br />

Bitte.“<br />

„Warum?“ Das Wort hallte im Bewusstsein des Mannes wider bis er starb.<br />

„Ein Kopfschuss.“<br />

„Sagen sie mir nicht von einem Revolver.“<br />

„Doch, Herr Pattrick, eindeutig ein Revolverschuss. Ein zweiter am Bein.“<br />

Pattrick seufzte. „Irgendwelche Zeugen? Hier muss doch jemand etwas gesehen haben.“<br />

Wieder war es Kevin Hunt der mit Pattrick am Ort des Geschehens eingetroffen war. Er hatte<br />

den Jungen irgendwie gern, er erinnerte Pattrick an ihn selbst vor gar nicht allzu langer Zeit,<br />

als er jung und ehrgeizig in den Polizeidienst eingetreten war. „Einige Nachbarn haben das<br />

Feuer gesehen, haben aber nichts getan. Nächstenliebe scheint hier ein Fremdwort zu sein.“<br />

Pattrick schüttelte den Kopf. „Die Frau?“<br />

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„Sie kann sich an nichts erinnern. Angeblich hat ihr Mann sie geschlagen bevor er ermordet<br />

wurde.“ Hunt sah unglücklich zu Boden. Ein unerwarteter Ausdruck von Gefühl der sehr<br />

schnell wieder verschwand. „Sie möchte immer nur wissen wie viel Geld die Versicherung<br />

zahlen wird.“<br />

„Alles ist abgebrannt? Nichts mehr ganz?“<br />

„Nichts mehr übrig von dem Wohnwagen. Das muss ein sehr gründlich gelegtes Feuer<br />

dahinter gewesen sein.“<br />

„Und es wurde bestimmt gelegt oder von außen ausgelöst?“<br />

Hunt bedeutete Pattrick ihm zu folgen, trat an der weißen Linie vorbei durch die die<br />

Silhouette des Erschossenen gekennzeichnet war und bückte sich neben den verbrannten<br />

Ruinen des Wohnwagens. Als er sich wieder aufrichtete hielt er seinem Kollegen eine<br />

verbrannte Glasscherbe hin. „Von einer grünen Flasche. Diese Scherbe und ein paar andere<br />

sind verbrannt.“ Er deutete auf weitere grüne Scherben. „Diese nicht.“<br />

„Eine Flasche ist zersprungen. Und teilweise verbrannt.“<br />

„Haben sie schon einmal von Molotow Cocktails gehört Herr Pattrick?“<br />

„Alkohol als Sprengstoff. Taucht bei besonders gewaltsamen Demonstrationen manchmal<br />

auf.“<br />

Hunt hob die Scherbe höher. „Das muss einer gewesen sein. Oder mehrere.“<br />

„Einer hätte nicht gereicht?“ Pattrick kam sich langsam so vor wie vor zehn Jahren, als er als<br />

Junior-Kommissar mit seinen Vorgesetzten Tatorte untersucht hatte. Damals hatten auch sie<br />

erklärt und er hatte nur Fragen gestellt.<br />

Ein Nicken kam als Antwort. „Es müssen mindestens vier gewesen sein, oder mehr. Es wäre<br />

am Besten wenn jemand alle Scherben einsammeln könnte. Dann wüssten wir es genauer.“<br />

„Ich werde das weiterleiten.“ Irgendwie fühlte er sich entlassen darum drehte er sich weg und<br />

ging.<br />

Er freute sich, einen derart talentierten Ermittler in seinem Team zu haben, doch irgendwie<br />

war ihm Kevin Hunt unheimlich.<br />

Zwei Tage und zwei Nächte vergingen ohne Zwischenfälle bis Christoph aus dem<br />

Krankenhaus entlassen wurde. Der erste Tag zurück in der Schule hatte ihn erschöpft und als<br />

ihn Sira zu einem abendlichen Spaziergang abholte sagte er nicht nein. Die Beiden wohnten<br />

am Rand der Innenstadt Helms in einem der besseren Viertel der Stadt. Je näher man dem<br />

Zentrum oder den Ausläufern kam desto heruntergekommener wirkten Gebäude und<br />

Menschen. Helm lebte von seiner Industrie und nicht von einladenden Geschäften oder<br />

Lokalen. Die Innenstadt war am Tag voll mit herumstreunenden Jugendlichen und Pennern<br />

und wurde des Nachts ein teilweise sehr gefährlicher Ort. Es gab drei große Straßengangs<br />

und, obwohl nur wenige Menschen Beweise dafür hatten, diverse Mafia-Organisationen.<br />

Arbeiter- und Studentendemonstrationen hatten sich in der letzten Zeit gehäuft und fast jede<br />

Woche fand nun schon eine statt. Die lange Fußgängerzone war perfekt geeignet für<br />

Straßensperren, was einigen dieser Aktionen sehr geholfen hatte.<br />

Im Großen und Ganzen war Helm eine hässliche Stadt, dekoriert mit bunten Lichtern und<br />

abgeschiedenen Reichenvierteln.<br />

Als es geklingelt hatte lief Christoph noch schnell in sein Zimmer um einen Pullover zu<br />

holen. Auf seinem Nachtkästchen lag noch immer das Kuvert das er im Krankenhaus von dem<br />

Unbekannten erhalten hatte.<br />

Er dachte kurz darüber nach, den Schlagring zu mitzunehmen.<br />

Erstaunlich wie viel Überlegung in „kurz“ stecken kann.<br />

Die Sonne war schon untergegangen und die Straßenbeleuchtungen brannten mit Knistern an,<br />

als Christoph sich wieder auf den Heimweg machte. Er hatte Sira an ihrer Türschwelle allein<br />

gelassen und schlenderte nun gemächlich nach Hause. Sie hatte ihn vier Mal gefragt ob er<br />

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wirklich allein heim wollte, und vier Mal hatte er ihr gesagt er würde sie nicht allein zurück<br />

gehen lassen.<br />

Der kürzeste Weg zu ihm führte Christoph durch den kleinsten von drei Parks, die man in<br />

Helm errichtet hatte. Hohe Metallzäune umgaben die Grünanlagen und später in der Nacht<br />

würde jemand zusperren, doch jetzt standen die Eingangstore noch offen.<br />

Die Beleuchtung im Park war spärlicher als an der Straße, doch Christoph benötigte kein<br />

Licht, um das hässliche Grün des Grases oder die verwelkten Blätter der Bäume sehen zu<br />

können.<br />

Kurz bevor Christoph den Ausgang erreichte, hallte ein Schrei durch den Park, so schrill, dass<br />

er nur von einer Frau kommen konnte.<br />

Ohne zweimal darüber nachzudenken lief der Junge los. Er brauchte nicht weit laufen um sie<br />

zu sehen: Ein Mann und eine Frau standen am Rande des Brunnens, in dem sich<br />

verschmutztes Wasser fröhlich breit machte.<br />

Er breitete sich über sie und grinste feindselig. Sie konnte schreien soviel sie wollte. Zu dieser<br />

Stunde war keiner mehr im Park, und er würde bekommen was er wollte.<br />

So oder so.<br />

Er riss an ihrem Rock und zerfetzte ihn. „Zeig doch was du hast, Püppchen.“ Sie schrie<br />

wieder, und er spürte wie er eine Erektion bekam. Sollte sie nur schreien, umso besser, umso<br />

besser.<br />

Er sah den Jungen nicht einmal kommen. Plötzlich drehte ihn jemand an der Schulter um, und<br />

schlug ihm ins Gesicht. Ein hässlicher Ton machte sich in seinem Kopf breit als Metall durch<br />

Haut auf Knochen traf. Der nächste Schlag seines Angreifers traf ihn in seinen Unterleib und<br />

ihm blieb die Luft weg.<br />

So fühlte es sich an wenn die aufgestaute Aggression von mehreren Tagen der Unsicherheit<br />

und Angst ein Ventil fand. Das Ventil war der Schlagring auf Menschenfleisch. Der Dampf<br />

den es freiließ war Blut.<br />

Christoph lief weg und ließ den Mann neben dem schmutzigen Brunnen in dem schmutzigen<br />

Park liegen. Er wusste nicht ob er ihn getötet hatte oder nicht, aber auf jeden Fall war der<br />

Mann schwer verletzt und brauchte einen Arzt. Einen Psychiater am besten.<br />

Doch manche Menschen verdienten keine ärztliche Hilfe. Manche Menschen verdienten es,<br />

zusammengeschlagen und blutend in einem Park zu übernachten.<br />

Erst kurz vor seinem Haus blieb Christoph stehen. Mittlerweile war es fast zehn Uhr Nacht<br />

und seine Eltern waren schon schlafen gegangen.<br />

Irgendetwas war gerade aus ihm heraus gebrochen.<br />

Er wusste nicht ob es ihm gefallen sollte oder nicht.<br />

Sie bewegten sich langsam, rissen auf ihrem Weg Briefkästen um und traten Steine auf dem<br />

Gehsteig. Sie grölten laut, und machten unmissverständliche Gesten mit der rechten Hand.<br />

Gerade als sie anfingen, ein altes deutsches Lied anzugrölen, blieb einer von ihnen stehen und<br />

hob seine linke Hand an seinen haarlosen Kopf. Sein Blick war auf die Verzierung eines<br />

Gartentores gerichtet. Sein nur mit minimaler Kapazität arbeitendes Gehirn konnte in den<br />

Schriftzeichen nichts Indisches erkennen, doch er wusste es war fremd. Fremd bedeutete<br />

ausländisch. Für ihn war das gut. Für die Bewohner des Hauses war es schlecht.<br />

„AUFMACHEN IHR SCHEISSTÜRKEN!!“<br />

„ODER WIR HAUEN EUCH DIE SCHEISSTÜRKENTÜR KAPUTT!!“<br />

Sie waren betrunken, sie lachten und brüllten, und tranken noch mehr. Sie waren zu siebt und<br />

in der Gruppe waren sie stark. Die Gruppe war mächtig.<br />

Hochmut, sagt man, kommt vor dem Fall.<br />

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„Was wollen Sie?“, drang es schließlich durch die Tür nach draußen. Nun, die Stimme klang<br />

nicht türkisch, aber sie klang auch nicht deutsch.<br />

„DEINE SCHEISS SIPPE WOLLEN WIR, ARSCHLOCH!!“, schrie einer der Glatzköpfe,<br />

„UND ZWAR DORT WO IHR HINGEHÖRT!!“<br />

„INS SCHEISS GEFÄNGIS!“ Sie lachten wieder alle, schwebten in einem Glücksgefühl der<br />

Überlegenheit.<br />

Einige Nachbarn hatten sie schon aufgeweckt, und diese starrten nun gebannt aus dem<br />

Fenster. Der Inder von nebenan hatte anscheinend einen Streit angezettelt. Der war Schuld an<br />

der nächtlichen Störung, der hätte niemals hierher ziehen sollen.<br />

Als keine Antwort von hinter der Tür kam, verließ den größten und dümmsten (und damit<br />

auch den Anführer) der Glatzköpfe die Geduld.<br />

Er trat die Tür mit einem lauten Krachen ein. Die anderen zögerten kurz. Soweit waren sie<br />

noch nie zuvor gegangen.<br />

Doch andererseits freuten sie sich auf die Schlägerei.<br />

Irgendwo im Inneren des Hauses schrie eine junge Frau, vielleicht war sie erst ein Mädchen.<br />

Einige Meter hinter Tür, in einem grauen Pyjama, stand ein dunkelhäutiger Mann. Er stand<br />

am Fuße einer Treppe und drehte sich schnell um als die Tür einbrach.<br />

Wenige Sekunden später lag er keuchend am Boden, Blut sickerte ihm aus dem Mund und er<br />

schnaufte.<br />

„PAPA! Was ist mit dir?“ Wieder die Stimme der jungen Frau. Sie war noch keine achtzehn<br />

und war in einen roten Bademantel gehüllt. Als sie die Treppe hinunter rannte ging ihr einer<br />

der Glatzköpfe entgegen und gab ihr einen Stoß.<br />

Die Zeit stand fast still. Das Mädchen ruderte mit den Armen als ihre Füße den Halt verloren.<br />

Sie schlug gegen das Treppengeländer, doch das alte Holz gab nach und sie stürzte zwei<br />

Meter in den Gang dahinter. Etwas an ihrem Kopf knackste als sie auftraf.<br />

„Scheiße, Boss.“, flüsterte einer der Glatzköpfe, der noch ohne Taschenrechner wusste, dass<br />

drei und zwei fünf ergab, „Ich glaub die ist tot.“<br />

Sieben große, glatzköpfige und vor allen Dingen dumme Männer drehten sich gleichzeitig um<br />

und wollten davonlaufen.<br />

Doch jemand stand in der Türschwelle. Eine leichte Windbö ließ langes, blondes Haar kurz<br />

aufwallen und es umspielte ein vor Wut verzerrtes Gesicht, dessen untere Hälfte von einem<br />

schwarzen Tuch verdeckt war.<br />

In einer behandschuhten Hand hielt die Gestalt einen Eishockey-Schläger, in der anderen<br />

einen Revolver. Der Bogen der Schusswaffe wurde lautlos zurückgezogen, als die Gestalt<br />

flüsterte.<br />

„Wie könnt ihr es wagen, wie könnt ihr nur, wie KÖNNT IHR NUR??“ Die letzten drei<br />

Wörter wurden förmlich ausgespieen, dann knallte der Revolver.<br />

Dieses Mal ging kein Schuss daneben. Die ersten zwei Kugeln bohrten sich in die Stirn des<br />

Mannes, der am weitesten die Treppe hinauf stand, der Mann der sich vor wenigen Sekunden<br />

noch Gedanken darüber gemacht hatte, wie er ein Leben als Mörder leben sollte.<br />

Von diesen Gedanken war er nun befreit.<br />

Der Glatzkopf der am nahesten bei der Tür stand bekam das breite Ende des Hockey-<br />

Schlägers in den Mund. Das feste Stück Holz brach einige Zähne weg, durchstieß eine Wange<br />

von Innen und riss sie ganz auf als es wieder zurückgezogen wurde. Der Mann taumelte und<br />

eine Kugel in die Brust brachte ihn zu Fall. Der zweite Schlag des Schlägers war weniger auf<br />

Schmerz denn auf pure Vernichtung ausgelegt. Das Dünnere Ende, der Griff stieß ruckartig in<br />

die Magengegend und durchbohrte Haut und Fleisch. Mehrere Holzsplitter blieben in<br />

Organen stecken und schnitten sich in sie hinein, als die Verdauung versuchte weiter zu<br />

arbeiten.<br />

Zwei weitere Male knallte der Revolver und streckte zwei Männer nieder, die versuchten die<br />

Treppe hinauf zu fliehen.<br />

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Blieb noch eine Kugel.<br />

Für zwei Glatzköpfe. Der Angreifer ließ sich ein paar Sekunden Zeit zum Zielen und schoss.<br />

Er wünschte er könnte der Kugel folgen, als sie sich durch die Luft bohrte, so genau erfüllte<br />

sie ihren Zweck.<br />

Sie streifte mit einem Schnalzen das Ohr des vorderen Mannes und riss sein Trommelfell, flog<br />

weiter und tauchte wie ein Turmspringer ins Schwimmbecken genau zwischen die Augen des<br />

zweiten Mannes dahinter. Blut schoss aus dem malträtierten Kopf gegen den Rücken des<br />

halbtauben Glatzkopfes.<br />

Sie hatten viel angestellt, Kleinigkeiten, hier und da eine harmlose Vergewaltigung oder ein<br />

paar ordentliche Prügel für einen stinkenden Ausländer, doch er fand nicht, dass sie es<br />

verdient hatten, so zu Enden. Abgeschlachtet wie Tiere.<br />

Der Mann hatte noch nie gesehen wie jemand mit dem geschärften Ende eines Eishockey-<br />

Schlägers enthauptet wurde, und es ging auch so schnell, dass er nicht die Gelegenheit dazu<br />

bekam.<br />

Als Sascha Pattrick das Haus betrat wurde ihm schlecht. Es war kein Vorzimmer mehr, in das<br />

er spazierte, es war ein Schlachtfeld. Blut klebte am Boden, an den Wänden, an den Leichen.<br />

Das Schluchzen einiger kleiner Mädchen drang von weiter hinten, und das Flüstern einer<br />

Männerstimme, die versuchte gleichzeitig sich selbst und die Mädchen zu trösten.<br />

Jemand trug an Pattrick einen Plastiksack mit einem abgetrennten Kopf vorbei und er stürzte<br />

vor die Tür um sich seines kleinen Frühstücks zu entledigen. Sein Magen überraschte ihn mit<br />

den halbverdauten Überresten des vorhergehenden Abendessens. Als er aufblickte reichte ihm<br />

jemand einen Becher mit Wasser und ein Taschentuch.<br />

„Es ist grauenvoll da drinnen.“, sagte Kevin Hunt als Pattrick das Wasser entgegen nahm, den<br />

Becher in einem Zug austrank und sich den Mund mit dem Tuch abwusch, „Aber ich möchte<br />

ihnen etwas zeigen.“<br />

Pattrick nickte kurz und bedeutete dem jüngeren Mann vorzugehen. „Nach ihnen, Herr Hunt.“<br />

Als sie drinnen waren beugte sich Hunt über die Leiche eines großen, ein wenig hässlichen<br />

Mannes. Vielleicht fand ihn Pattrick auch nur wegen des riesigen Loches im Magen hässlich.<br />

„Das sieht aber nicht sehr professionell aus.“, meinte Pattrick und kam sich dabei ein wenig<br />

blöd vor.<br />

„Stimmt.“<br />

„Also ist es nicht der Mann mit dem Revolver?“<br />

„Oh doch, er war es, ganz bestimmt.“, sagte Hunt und nahm Pattrick das letzte bisschen<br />

Glücksgefühl des heutigen Tages. Nun war es sicher. Sie hatten es mit einem Serienkiller zu<br />

tun. „Letzte Nacht muss ihn nur etwas sehr, sehr verärgert haben. Er war ein wenig<br />

unkontrollierter als früher, aber es ist derselbe Revolver gewesen. Dieses Ding hinterlässt<br />

einen Geruch den ich schon fast von den anderer Schusswaffen unterscheiden kann.“<br />

„Ich weiß was sie meinen.“, bestätigte Pattrick ihm. Die Schauplätze, die der Revolver hinter<br />

sich ließ, ähnelten sich doch sehr. „Wer hat das Mädchen getötet?“, fragte er Hunt dann.<br />

„Laut Angaben des Vaters einer der Skins.“<br />

Pattrick verbiss sich eine Bemerkung über das Einhalten der Amtssprache. Skinhead, Neo-<br />

Nazi, Rechtsradikaler, es blieb immer dasselbe. Für einen dieser Männer konnte man nun<br />

auch Mörder hinzufügen.<br />

Und für sie alle schien das Wort „Leiche“ ebenfalls sehr passend.<br />

Christoph hatte lange ausgeschlafen, und Samstagmittag begrüßte ihn mit Sonnenstrahlen.<br />

Die letzte Nacht erschien ihm nun wie ein Traum, ein schlechter, ein grausamer, und er hoffte<br />

er würde sie genau so schnell wieder vergessen wie Träume einem aus dem Sinn kamen<br />

sobald man die Augen öffnete.<br />

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Als er die Treppe hinunter in die Küche schlenderte, hörte er seine Mutter schluchzen. Er<br />

beschleunigte seine Schritte.<br />

Bevor er ein Wort sagen konnte hatte sie ihn umarmt und Tränen fielen ihm auf die Schultern.<br />

„Christoph, ich wollte dich nicht wecken, aber es ist…“ Sie brach ab als ein besonders starkes<br />

Schluchzen drohte, sie mitsamt ihrem Sohn umzuwerfen.<br />

„Was ist los, Mama? Mama?“<br />

Sie sah ihrem Sohn in die Augen. „Es geht um Sira. Sie ist tot.“<br />

Nachdem er hinter sich die Tür zugeknallt hatte, sperrte er ab. Er stieß Luft zwischen den<br />

Zähnen aus und ließ sich aufs Bett fallen. Sein ganzer Körper schien taub.<br />

Nach einer Zeit, die er selbst nicht einschätzen konnte, richtete er sich auf.<br />

Vier Stunden waren vergangen.<br />

Jede Stunde voll mit Erinnerungen an die letzten drei Jahre in denen er Sira gekannt hatte, die<br />

meisten von den letzten sieben Monaten, der Zeit in der sie zusammen gewesen waren.<br />

Christoph musste feststellen, dass Erinnerungen nicht nur aus Bildern oder Filmen aus der<br />

Vergangenheit bestanden, es waren auch Geräusche, ihr Lachen, wie sie manchmal kurz vor<br />

dem Einschlafen leise geschnarcht hatte, das wohltuende Schnurren, dass sie manchmal von<br />

sich gegeben hatte wenn sie sich geküsst hatten, es waren auch Berührungen, das warme<br />

Metall des Piercings an ihren Lippen das seine berührte, ihr fester Griff um seine Hand, die<br />

Art und Weise mit der sie den Arm um seinen Hals gelegt hatte, wenn sie tanzten.<br />

Gemessen an der Fülle der Erinnerungen, waren vier Stunden nicht viel Zeit.<br />

Doch irgendwie hatte der Rückblick etwas in Christoph bewirkt. Etwas sagte ihm nun, dass er<br />

es überleben würde.<br />

Er würde ihren Tod verkraften, und irgendwann neu anfangen können, die Erinnerungen<br />

würden ein Platz sein, an den er zurückkehren konnte, wann immer wollte, ein Platz, wo er<br />

allein sein konnte. Doch noch saß die Trauer mitten in ihm, und drohte ihn zu töten.<br />

Das würde sie nicht.<br />

Doch was er vorhatte, würde es vielleicht.<br />

Kurze Zeit später klopfte seine Mutter, doch als er nach mehrmaligem Rufen nicht antwortete,<br />

ging sie wieder. Fünf Minuten darauf hörte Christoph die Autotür zuknallen und das Auto<br />

wegfahren.<br />

Nun war die Zeit gekommen. Er packte den Wanderrucksack, fuzelte in dem Umschlag nach<br />

der kleinen weißen Karte, mit der Adresse darauf, und marschierte aus dem Haus.<br />

Er blickte nicht zurück, als er das tat. Er konnte dort nicht bleiben, zu viele Erinnerungen<br />

klebten daran. Er konnte zu keinem seiner Freunde, denn sie würden ihm nur Trost spenden<br />

wollen, und er konnte keinen Trost gebrauchen.<br />

Er musste zu jemandem gehen, der ihn verstehen würde, zu jemandem, der, soweit er den<br />

Bericht seiner Mutter verstanden hatte, dabei gewesen war, als Sira getötet wurde.<br />

Je länger die S-Bahn fuhr, desto schäbiger wirkte die Umgebung. Der Zug brachte Christoph<br />

aus der Innenstadt in eine Satellitensiedlung, die sich wie eine Mauer um Helm zog.<br />

„Außenring“ hieß der Stadtteil, und genau das war er auch. Mehrstöckige Wohnhäuser,<br />

schäbige Supermärkte und die eine oder andere Autowerkstatt dominierten das Bild.<br />

Die Adresse auf der Karte führte Christoph zu einem besonders schäbigen Wohnhaus, das<br />

mindestens zehn Stockwerke hatte. Dann war die Wegbeschreibung aus. Kein bestimmtes<br />

Stockwerk, keine Zimmernummer.<br />

Der Junge sah sich um. Auf einem Spielplatzgerüst ein paar Meter weiter saßen drei stämmige<br />

Kerle mit Jogginganzügen, billigen Silberketten und Zigaretten in den bewusst schief<br />

gehaltenen Mündern. Sie waren nicht die Art freundlicher, hilfsbereiter Menschen, die man<br />

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nach dem Weg fragen sollte. Und selbst wenn, was hätte Christoph fragen sollen? „Ihr kennt<br />

nicht zufällig einen Typen hier, der massenweise Leute umbringen würde?“ Vermutlich<br />

würde einer von ihnen „Ja, klar.“ antworten und ein Messer ziehen.<br />

Christoph ging stattdessen langsam auf das Wohnhaus zu und versuchte unauffällig zu sein.<br />

Es schien zu funktionieren, denn keiner der Drei sah auf.<br />

Die Türklingeln waren in einem ähnlichen Zustand wie die Gegend selbst. Christoph suchte<br />

verzweifelt nach einem Anhaltspunkt, doch er fand nichts. Er hatte die schräge Hoffnung<br />

gehabt, etwas wie „Der Unbekannte, 3. Stock“ oder „Massenmörder, 10.“ zu finden, doch<br />

weder das eine, noch das andere war angeschrieben.<br />

Dann entdeckte er den ganz blauen Knopf, erinnerte sich an den seltsamen Button des<br />

Unbekannten und drückte die Klingel ohne weiteres Zögern.<br />

Zwei Sekunden später kam ihm eine verzerrte Stimme aus dem Lautsprecher entgegen.<br />

„Achter Stock, beeil dich, sie haben dich gesehen.“<br />

Christoph drehte sich schnell um, als die Tür aufgesperrt wurde. Die Drei waren aufgestanden<br />

und kamen ihm entgegen. Keiner von ihnen sah besonders glücklich aus. Als Christoph<br />

rücklings durch die Haustür stolperte, liefen sie los, doch er knallte ihnen die Tür vor der<br />

Nase zu. Halb laufend, halb fliegend stürmte Christoph zum Fahrstuhl, der glücklicherweise<br />

im Erdgeschoß stand. In dem Moment, in dem sich die Eingangstür des Hauses öffnete,<br />

schlossen sich die Lifttüren und der Fahrstuhl tuckerte mit Ächzen und Krächzen aufwärts.<br />

Im achten Stock angekommen, riskierte Christoph zuerst nur einen kurzen Blick aus der<br />

Kabine. Der Gang war düster, aber leer. Drei Türen, zwei davon eingetreten. Und vom<br />

Treppenhaus kam kein Geschrei und Keuchen. Die Drei hatten die Verfolgung aufgegeben.<br />

Christoph ging langsam auf die unversehrte Tür zu und klopfte.<br />

„Ja?“<br />

„Äh, ich bin’s.“ Jetzt konnte er noch umdrehen, jetzt konnte er noch davonlaufen, nach Hause<br />

gehen und solange schlafen bis die dumme, dumme Idee seinen Kopf verließ.<br />

Dann ging die Tür auf und ein müdes Gesicht, umrahmt von blonden Haaren starrte Christoph<br />

entgegen. „Komm herein. Ich dachte mir schon, dass du kommst.“<br />

Der Unbekannte führte den Jungen durch einen unbeleuchteten Vorraum, auf dessen<br />

schmutzigen Boden mehrere Paar abgenutzte Schuhe lagen, durch eine schäbige Küche mit<br />

einem fast antiken E-Herd in eine Art Schlafzimmer. Eine Matratze lag diagonal im Raum,<br />

und überall lagen Decken, Polster, voll gekrittelte Zettel, Stadtkarten und Kleidungsstücke.<br />

Auf einem Schreibtisch vor dem Fenster standen eine kleine Lampe, die kaum Licht gab und<br />

ein Aschenbecher mit ein paar Zigarettenstummeln.<br />

Und daneben lag ein in mehrere Teile zerlegtes Gewehr mit einem langen Lauf und einem<br />

Zielfernrohr.<br />

Der Unbekannte bemerkte Christophs Blick. „Eine Dragunov. Russisches<br />

Scharfschützengwehr. Nicht das Beste, dass man auf dem Schwarzmarkt bekommen kann,<br />

aber es erfüllt seinen Zweck und ist innerhalb meines Kreditrahmens. Ich bin übrigens<br />

Thomas.“<br />

Christoph nahm unsicher die Hand, die ihm geboten wurde. „Christoph.“<br />

Thomas nickte. „Ich weiß.“<br />

„Die haben meine Freundin getötet.“<br />

Wieder ein Nicken. „Ich war dabei. Aber ich konnte nichts tun. Ich hab zu lange abgewartet,<br />

und als ich das Krachen hörte stürmte ich sofort das Haus, aber…“<br />

Christoph wartete nicht auf eine Aufforderung und setzte sich auf ein Ende der Matratze.<br />

Thomas holte den Aschenbecher, setzte sich neben ihn und kramte hinter ihnen im Bettzeug.<br />

Schließlich holte er eine Packung Lucky Strike heraus und zündete eine an. „Wenn’s dich<br />

stört, brauchst du es nur sagen.“<br />

„Schon okay. Ich…“<br />

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„Ich habe wirklich alles getan, was ich konnte. Aber für sie kam alle Hilfe zu spät. Ich weiß<br />

wie es ist, jemanden zu verlieren.“ Seine Stimme war immer leiser geworden, doch nun brach<br />

sie komplett ab. Für ein paar Sekunden saßen sie nur da, ohne ein Wort.<br />

Dann drehte sich Thomas zu Christoph und sah ihn an. Da war wieder dieses Leuchten in<br />

seinen Augen, ein Leuchten, dass Christoph langsam gespenstisch erschien. „Hast du mein<br />

Geschenk benutzt?“<br />

Daran hatte Christoph gar nicht mehr gedacht. Der Schlagring. Der Mann, der Vergewaltiger,<br />

ob er noch lebte? Darauf antwortete eine kleine Stimme in seinem Hinterkopf, eine Stimme<br />

die noch nie so laut und deutlich ihre Meinung gesagt hatte: Na hoffentlich nicht. „Ja, das hab<br />

ich.“<br />

„Gut. Und?“<br />

„Was ‚Und’?“<br />

„Was hast du dir dabei gedacht?“<br />

Dies war weder ein Verhör, noch ein mündlicher Test in der Schule, trotzdem schien sich<br />

Christoph verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. „Ich hab kaum mehr gedacht. Nur mehr<br />

zugeschlagen.“ Plötzlich stieg in ihm ein Bedürfnis auf, sich verteidigen zu wollen. „Der Kerl<br />

wollte eine Frau missbrauchen, das Arschloch hatte schon einen Ständer verdammt!“<br />

Christoph stützte sein Gesicht in seine Hände und unterdrückte das Bedürfnis zu weinen.<br />

Immer mehr Last drückte auf seine Schultern, immer dünner wurde seine Wand der Kälte und<br />

Gefühllosigkeit. Sira war tot. Er würde nie wieder nach Hause kommen. Er war gestorben,<br />

innerlich, doch er wusste nicht wie, und warum der Rest von ihm darauf bestand<br />

weiterzuleben. „Wer hat sie getötet?“<br />

„Ich hab dir von ihnen erzählt, wenn auch nur indirekt. Ausgestoßene, wegen Dummheit oder<br />

Charakterschwächen aus der Gesellschaft geworfen, sammeln sie sich irgendwo, denn<br />

zusammen fühlen sie sich stark. Sozialfälle, Analphabeten, gemeinsam gehen sie auf die<br />

Straße und zeigen ihre Angst durch Gewalt und Hass. Weil sie zu dumm oder unwillig sind,<br />

ihre Gefühle zu zeigen, werden sie zu dem, was ich als böse definiere. Sie verlieren die<br />

Kontrolle. Sie mutieren. Die Evolution hat nicht mit dem Menschen aufgehört. Ab und zu<br />

versucht sie durch spontane Mutation etwas Neues zu schaffen. Doch diese Mutanten haben<br />

kein Recht zu leben, selbst wenn sie die Kraft hätten, sich über den Rest ihrer Rasse zu<br />

erheben.“<br />

Fast musste Christoph lachen. „Kannst du eine Antwort geben ohne wie eine Werbung für die<br />

Bundeswehr zu klingen?“<br />

Thomas blieb erstaunlich ernst. „Vorerst nicht. Hoffentlich bald.“<br />

Die Nacht brach herein, als Thomas und Christoph die Wohnung verließen und sich auf eine<br />

Bank neben dem Spielplatz der Siedlung niederließen. Thomas zündete sich sofort wieder<br />

eine Zigarette an, und als er Christoph eine anbot, nahm er sie ohne zu überlegen.<br />

Sie saßen schon eine Weile da, als Thomas das Wort ergriff. „Weißt du was ich denke?“<br />

„Hm?“<br />

„Ich denke, dass du dir denkst, vielleicht habe ich nur extra lange gezögert damit die Kerle<br />

Zeit haben Sira zu töten.“<br />

„Wozu solltest du das tun?“ ,fragte Christoph unsicher. Er wusste es natürlich. Thomas hatte<br />

Recht.<br />

„Um dich dazu zu bewegen, dich mir anzuschließen. Damit du keinen Grund mehr hast, dein<br />

normales Leben weiterzuführen.“<br />

„Ich sag es nur ungern, aber der Gedanke ist mir schon durch den Kopf gegangen.“ Er sah<br />

dem anderen Jungen in die Augen. Das Leuchten war nicht da, nicht direkt, aber es war<br />

präsent, irgendwo in der Schwärze seiner Pupillen schlummerte es. „Ist es denn so, Thomas?“<br />

- 19 -


Er zuckte nur mit den Schultern. „Vielleicht. Nicht absichtlich, aber vielleicht intuitiv.<br />

Vielleicht habe ich gewartet, bis ich ihren erstickten Schrei hörte, vielleicht bin ich extra<br />

langsam gelaufen um nicht rechtzeitig einzutreffen. Ich bin mir einfach nicht sicher.“<br />

Christoph antwortete nichts darauf, bis die Glut seiner Zigarette den Filter erreicht hatte. Er<br />

warf die Kippe weg und rutschte von der Bank.<br />

Als er sich umdrehte waren die drei Typen vom Nachmittag da. Jeder von ihnen hielt ein<br />

Messer in der Hand.<br />

Die Drei waren angefressen. Der dämliche Kerl von vorhin war wieder da, und wieder trieb er<br />

sich in ihrem Revier herum. Und jetzt hatte er noch einen Freund dabei. Den Typen kannten<br />

sie. Der wohnte in ihrer Gegend, ein verdammter Dorn im Auge, hätten sie gedacht, würden<br />

ihre Gehirne über solch ein breites Spektrum an Wörtern verfügen.<br />

Nun hatten sie die Chance gleich zwei ihrer Probleme auf einmal zu lösen.<br />

Wäre da nicht die Reaktion des blonden Typen. Dämliche Assel hin oder her, der Kerl war<br />

schnell aufgestanden. Sehr schnell.<br />

„Hey Jungs!“ ,begrüßte er sie. Das ließ sie zögern, normalerweise würde ein Opfer jetzt<br />

laufen.<br />

Dieses kurze Zögern war alles was das Opfer brauchte. Der glühende Zigarettenstummel<br />

wurde in das linke Auge des ersten Typen gedrückt, was diesen aufschreien ließ. Ein Tritt in<br />

die Weichteile schickte ihn auf die Knie, ein linker Haken schmetterte ihn zu Boden.<br />

Währenddessen war der zweite Kerl von der Bank herbeigeeilt und schlug einem anderen der<br />

Typen ins Gesicht. Der Schlag wäre nicht besonders schmerzhaft gewesen, doch was Muskeln<br />

und Ziel nicht bewerkstelligen konnte, glich der Schlagring mit Metall aus. Der Schlag riss<br />

die Lippe des jungen Mannes auf und ließ ihn das Gleichgewicht verlieren. Als er zu Boden<br />

fiel, schlug ein Schuh gegen seine Stirn und ließ seinen Kopf zurückschnappen.<br />

Dann erklang ein Schuss.<br />

Christoph hatte das Geräusch bereits einmal gehört, in einem schmalen Teil der<br />

Fußgängerzone, in der er am Boden gelegen hatte, halb bei Bewusstsein, halb tot. Er schloss<br />

reflexartig die Augen und hörte noch zwei Schüsse.<br />

Thomas packte ihn am Arm und zerrte ihn weg. „Den letzten musste ich erschießen, er hätte<br />

dich abgestochen. Und ich möchte keine Zeugenaussagen.“<br />

Im Laufen nickte Christoph langsam. Er verstand es vollauf, aber das war kein Grund es zu<br />

mögen. Adrenalin pumpte noch immer durch seinen Körper und vernebelte seine Gedanken,<br />

als der Lift sie wieder in den achten Stock trug.<br />

„Spätestens morgen sind die Bullen da. Sie werden Fragen stellen.“<br />

„Sie dürfen mich nicht sehen.“ ,flüsterte Christoph. Er fühlte sich müde, so unendlich müde.<br />

„Meine Mutter wird schon nach mir suchen lassen.“<br />

„Du darfst ab jetzt nie mehr die Tür aufmachen wenn jemand anklopft oder anläutet,<br />

klar?“ ,sagte Thomas als er die Wohnungstür aufschloss. „Egal wer - “<br />

Thomas stutzte. Die Tür war gar nicht verschlossen. Wie ein Blitz schoss der Revolver hervor<br />

und die Augen des Jungen blitzten auf, als ob der schiere Anblick der Waffe die versteckte<br />

Energie in ihnen rufen würde.<br />

Die Beiden betraten so leise wie möglich die Wohnung. Christoph stolperte über ein Buch am<br />

Boden und riss auf der Suche nach Halt eine Jacke mit. Es schepperte laut und etwas rührte<br />

sich bei der Tür, die zur kleinen Küche der Wohnung führte.<br />

„Judith!“ ,erklang Thomas Stimme in einer Mischung aus Erschrecken, Verärgerung und,<br />

seltsamerweise, Freude, „Ich hätte dich fast erschossen verdammt!“<br />

„Dein Fehler wenn du mir den Schlüssel zu deiner Wohnung gibst, Hase.“ ,erklang eine helle<br />

Mädchenstimme, „Wer liegt denn da am Boden?“<br />

„Das ist Christoph.“ ,erklärte Thomas als er ihm aufhalf.<br />

- 20 -


Wieder auf den Beinen sah sich Christoph einem jungen Mädchen gegenüber, er schätzte sie<br />

auf sechzehn, plus minus ein Jahr. Sie sah gut aus, war schlank, und hatte schulterlanges,<br />

dunkles Haar. Ihre braunen Augen saßen ein wenig weiter auseinander als normal, sodass man<br />

irgendwie den Eindruck hatte, sie würde an einem vorbeisehen.<br />

„Na wo bist du denn heraus gekrochen, Christoph?“<br />

„Zeig ein wenig Respekt, Judith.“ ,schnauzte Thomas und zog Schuhe und Jacke aus.<br />

Judith täuschte einen Knicks vor und hielt einen Rock auseinander den sie nicht trug.<br />

Stattdessen hatte sie eine Jean und einen grünen Pulli an, beide Kleidungsstücke passten nicht<br />

zu dem Nietenarmband und dem schwarzen Lippenstift. „Ich bin Judith.“ Nach einem<br />

Seitenblick zu Thomas fügte sie noch hinzu: „Seine Freundin.“<br />

Christoph zog verwundert eine Braue hoch und starrte Thomas an. Plötzlich sahen die Beiden<br />

nicht mehr aus wie zwei Erwachsene, die gerade um ihr Leben gekämpft hatten. Viel eher<br />

glotzte Christoph Thomas an wie ein Freund einen anderen anglotzte, wenn er ihn dezent auf<br />

die seltsame Wahl der Freundin hinweisen wollte.<br />

Christoph wusch sich die Hände und erst da bemerkte er das Blut an ihnen. Es war nicht viel,<br />

keine blutüberströmten Finger, aber einzelne Tropfen, eingetrocknet und dunkelrot übersäten<br />

seine Hand und die unteren Teile der Pulloverärmel. Er warf das Kleidungsstück auf einen<br />

Haufen davon, der neben der Abwasch lag, und ignorierte es. Nachdem das von seiner Haut<br />

gewaschen war, putzte er sich die Zähne, und legte sich auf die Matratze, die Thomas für ihn<br />

in der Küche aufgebreitet hatte.<br />

Er hörte leise die Stimmen von Thomas und Judith im Nebenzimmer, dann verstummten sie<br />

und wurden von gleichmäßigen Rutschgeräuschen einer Matratze ersetzt.<br />

Kurz fragte sich Christoph wie die Beiden nur in einem Zimmer miteinander schlafen<br />

konnten, in dem Waffen auf Boden und Tisch lagen.<br />

Irgendwie findet Liebe immer einen Weg, sagte er sich, das weißt du genau. Jedenfalls bis vor<br />

kurzem. Als die Liebe noch einen Weg zu ihm gefunden hatte. Doch das war jetzt vorbei. Er<br />

merkte wie ein Gefühl in ihm wuchs das alle anderen Gefühle bald verdrängt haben würde. In<br />

ihm wurde es kalt, nicht körperlich, seine Seele gefror zu einem kleinen schwarzen Klumpen<br />

Gefühl, der nichts anderes ausdrückte als Zerstörungswut.<br />

Er mochte das fast schmerzhafte Kribbeln in seinem Kopf und in seinem Bauch, wenn er zum<br />

Schlag ausholte. In einem Kampf dachte man kaum mehr über die Folgen von Handlungen<br />

nach. Einmal im Blutrausch, immer im Blutrausch, bis zum letzten Schlag. Noch einmal<br />

zuschlagen, und noch einmal, Blut spritzt, Blut von jemand anderem, feindliches Blut. In<br />

einem Kampf verliert man seine Menschlichkeit. Christoph hatte das Gefühl, er verliere sie<br />

auch jetzt noch. Wie Tröpfchen für Tröpfchen Wasser aus einem nicht ganz zugedrehten<br />

Hahn tropft, so entwanden sich auch alle Gefühle aus ihm heraus.<br />

Aus dem Nebenzimmer drang nun leises Stöhnen und etwas schlug leicht gegen die Wand. Er<br />

hörte ein heiseres Lachen von Judith, dann wieder das gleichmäßige Rutschen der Matratze<br />

am Holzboden.<br />

Es war nicht von Bedeutung. Nichts war mehr von Bedeutung. Und genau an diesem Punkt,<br />

an diesem Punkt der inneren Leere, füllten zwei Wörter die Thomas gesagt hatte seinen Kopf.<br />

Die Wörter schienen völlig aus dem Zusammenhang, und doch ergaben sie für Christoph<br />

einen Sinn.<br />

Hoffentlich bald.<br />

Christoph bezog dies auf seinen Tod. Doch zuvor blieb noch etwas. Thomas und er, und<br />

vermutlich bald viele mehr, befanden sich auf einem Kreuzzug. Ein Kreuzzug gegen Hass,<br />

Gewalt und Ungerechtigkeit.<br />

Was Christoph jedoch verwirrte, und was in der Geschichte bestimmt schon andere<br />

Kreuzritter verwirrt hatte war, dass sie den Krieg nur durch eben dies gewinnen konnten. Hass<br />

- 21 -


und Gewalt, die Mittel zum Sieg. Doch lag in einem Sieg mithilfe dessen, gegen das man<br />

eigentlich kämpfte, keine Niederlage?<br />

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ZWEI: Eine Generation die im Dreck aufwächst, wird den Dreck nie verlassen.<br />

Und genau das taten sie, im Dreck aufwachsen. Thomas, Christoph und Judith gingen, von<br />

der Wohnung bis zu dem alten Lagerhaus, keine 20 Minuten.<br />

Das Lagerhaus, welches eher einer Halle glich, war nur eines von vielen, die am Hafen von<br />

Helm verlassen dastanden. Die meisten großen Firmen die am Hafen tätig waren nutzten die<br />

lächerlich billigen Grundstückspreise dort zu ihrem Vorteil. Anstatt eine alte Lagerstätte oder<br />

Fabrik umzubauen, oder gar abzureißen und neu zu errichten, ließen sie sie stehen und bauten<br />

eine Neue, irgendwo anders.<br />

Es war bereits später Abend, und Nebel schlängelte sich über die verschmutzte Meersuppe.<br />

Die Meerluft in der Hafengegend war getrübt von Abgasen und Ölgeruch, sie war feucht und<br />

wenn man durch den Mund einatmete, konnte man sie fast schmecken. Abgestanden, Ekel<br />

erregend, verschmutzt.<br />

Thomas führte sie zielstrebig durch enge, billig gepflasterte Gassen, und machte schließlich<br />

vor einer angerosteten Eisentür halt. Neben der Tür hing ein Schild auf dem gerade noch<br />

‚Halle D’ zu entziffern war, der Rest war überdeckt von einem Graffiti, das ein stilisiertes<br />

blaues Auge darstellte. Es erinnerte Christoph sofort an Thomas’ blauen Button, und die blaue<br />

Türklingel.<br />

Mit der Hand an der Türklinke drehte sich Thomas noch einmal zu Christoph um. „Das da<br />

drinnen, ist hauptsächlich dafür da, das die drinnen, nicht auf der Straße sitzen. Es gibt Essen,<br />

Trinken, Alkohol, Zigaretten, Sofas und Matratzen. Ein paar dieser Kinder haben noch Eltern<br />

die für sie sorgen würden, aber sie möchten nicht bei ihnen sein, wofür ich vollstes<br />

Verständnis habe. Manche da drinnen sind mir scheißegal, andere liegen mir am Herzen.<br />

Sprich mit ihnen, frag sie aus und lerne. Erst wenn du begreifst warum ich tue was ich tue<br />

kannst du mir helfen.“<br />

Christoph runzelte die Stirn. „Meine erste Lektion, Meister Yoda?“<br />

Wie der Junge erwartet hatte blieb Thomas’ Miene Ernst. „Nicht die erste, aber trotzdem<br />

eine.“<br />

Sie traten ein. In der Halle war es nicht viel wärmer als draußen, aber am anderen Ende<br />

brannten Feuer in mehreren Metalltonnen. Daneben stand eine Auswahl zerrissener Liegen<br />

und Sofas und Sessel. Dort verteilt hingen ungefähr Dreißig Jugendliche herum, die Jüngsten<br />

unter ihnen waren höchstens dreizehn, die Ältesten noch keine zwanzig.<br />

Judith gesellte sich gleich zu zwei anderen Mädchen in abgewetzten Armeejacken, während<br />

Thomas einen grünhaarigen Jungen mit einer schwarzen Kappe brüderlich umarmte und zu<br />

Christoph führte.<br />

„Du bist also Christoph.“ ,sagte er ohne große Umschweife und hielt ihm die Hand hin.<br />

Christoph schüttelte sie. „Stimmt, und wer bist du?“<br />

„Thorsten, stets zu Diensten wenn Thomas mal wieder Scheiße bauen sollte.“<br />

Christoph hob eine Augenbraue. „Das macht er manchmal?“<br />

„Manchmal? Andauernd.“<br />

„Nur damit du nicht arbeitslos bist.“ ,meinte Thomas und zündete sich eine Zigarette an.<br />

Thorsten lachte bitter. „Da müssten schon zwei von deiner Sorte kommen um mir einen<br />

Arbeitsplatz zu verschaffen.“<br />

„Ich hab meinen Vater töten wollen als ich elf war. Er hat täglich meine Mutter und meine<br />

große Schwester vergewaltigt und als Letztere schwanger wurde, hat er sie erschlagen.“<br />

Thorsten und Christoph saßen auf einem niedrigen Holztisch ein wenig abseits von den<br />

anderen Jugendlichen in der Halle. Es waren im Laufe des Abends immer mehr geworden und<br />

jetzt hatten sie Musik eingeschaltet und manche tanzten ein wenig. Als Christoph Thorsten<br />

gefragt hatte, wieso keiner hier Gras rauchte oder was anderes nahm, hatte dieser nur<br />

„Thomas“ gesagt. Im Gespräch waren die beiden darauf gekommen, wie sie an Thomas<br />

- 23 -


geraten waren, und nun erzählte Thorsten seine Geschichte. „Daraufhin bin ich in die Küche<br />

gegangen und hab mich auf einen Hocker vor das Messerset meiner Mutter gesetzt. Ich weiß<br />

nicht mehr was ich da gedacht habe. Aber nach fünf Minuten stand ich auf, nahm das größte<br />

der Messer und ging zu meinem Vater.“<br />

Christoph riss die Augen auf. „Hast du ihn getötet?“<br />

Thorsten schüttelte den Kopf, doch er sah keineswegs erleichtert aus. Sein ganzes Gesicht<br />

zeigte Hass, Wut und Verzweiflung. Und Trauer. Aber nicht Trauer um seine Vergangenheit.<br />

Trauer um eine verpatzte Gelegenheit. „Ich wollte ich hätte es getan. Ich glaube ich habe es<br />

sogar ganz richtig versucht. Ich wollte ihm in die Hauptschlagader schneiden und ihm beim<br />

Verbluten zusehen. Ich wollte ihm den Namen meiner Schwester ins Ohr flüstern bis er<br />

starb.“ Er sah auf und schien kurz erschrocken. „Hast du vielleicht eine Zigarette?“<br />

Christoph gab sie ihm und zündete sich selbst auch eine an.<br />

Bevor er fragen konnte, begann Thorsten wieder zu sprechen. „Ich hab ihm drei Finger<br />

abgeschnitten und ihn dann halb impotent getreten. Meine Mutter hat die Polizei gerufen. Er<br />

kam wegen Mord und Vergewaltigung für fünfundzwanzig Jahre ins Gefängnis, mich<br />

steckten sie wegen schwerer Körperverletzung in die Jugendbesserungsanstalt.“ Der Junge<br />

spuckte aggressiv auf den Boden, als könnte er seine Geringschätzung für die Rechtsprechung<br />

nicht in Worte fassen. „Verstehst du das? Fünfundzwanzig Jahre für einen verdammten,<br />

Kinder fickenden Scheißmörder und die gesamte Zeit des Aufwachsens für drei Finger!<br />

„Ich bin nicht lang dort geblieben. Als ich davonlief hatte ich nichts, denn meine Mutter war<br />

mit irgendeinem reichen Engländer abgehauen. Ich kann es ihr nicht verdenken. In Helm hielt<br />

sie nichts mehr.“<br />

Als Christoph zuvor seine Geschichte erzählt hatte, hatte ihn das aufgewühlt. Siras Tod, kein<br />

Zuhause mehr, doch Thorstens Weg hatte nur die Wut angefacht, die seit langem in ihm<br />

brodelte und deren Nützlichkeit ihm Thomas erst vor kurzem gezeigt hatte. „Wie hast du dann<br />

Thomas kennen gelernt?“<br />

„Ich schloss mich zwei anderen Kindern an die auf der Straße lebten. Nummer Eins war<br />

Judith, Nummer Zwei ihr Bruder Felix. Wir fanden Thomas auf dem Friedhof.“ Thorsten<br />

schloss die Augen und atmete langsam die abgestandene Luft der Lagerhalle ein. „Es ist lange<br />

her. Thomas wird dir diese Geschichte irgendwann mal erzählen.“<br />

„Ich weiß nicht. Er spricht glaub ich nicht gern über seine Vergangenheit.“<br />

„Bei den Horrorgeschichten die manche von uns zu erzählen haben ist das nicht<br />

verwunderlich. Und bei der Aufgabe die sich Thomas gestellt hat muss er auch manche Dinge<br />

vergessen können. Das macht ihn vielleicht kalt und herzlos, aber…“ Thorsten unterbrach<br />

sich. „Was es sonst aus ihm macht weiß ich nicht, aber ich weiß, dass Thomas nie jemanden<br />

betrügen würde. Sein Sinn für Gerechtigkeit mag manchmal seltsam sein, doch er gilt in jeder<br />

Situation. Er wird immer die, die Gutes tun über die setzen, die Schlechtes tun, egal ob<br />

Freund, Feind oder Familie.“<br />

Christoph nickte langsam, dann stand er von dem Tischchen auf und zog noch eine Zigarette<br />

aus der halbvollen Packung. „Ich werde ihn nicht enttäuschen. Niemals.“<br />

„Kann ich dich was fragen?“<br />

Christoph und Judith standen auf dem Dach der Lagerhalle, welches man über mehrere<br />

Treppen und Leitern erreichen konnte. Der kühle Nachtwind schwang sich in ihr Haar und<br />

ließ es leicht flattern. Als Christoph die Frage an sie richtete, drehte sie sich zu ihn um und<br />

blinzelte als ihr dunkle Haarsträhnen ins Gesicht wehten.<br />

„Was denn?“<br />

„Warum liebst du ihn? Er ist ein Mörder.“<br />

„Liebe ich ihn etwa? Woher willst du das wissen? Könnte ja eine reine Fickbeziehung sein.“<br />

Christoph hatte bereits bemerkt, wie gern Judith das Thema wechselte um sich weitere<br />

Diskussion zu ersparen, doch diesmal wollte er es wissen. „Ich weiß dass du ihn liebst. So<br />

- 24 -


etwas merkt man einfach. Aber was kann man an einem Menschen wie Thomas lieben? Man<br />

kann an ihn glauben, man kann befürworten was er tut. Aber lieben? Ich möchte das einfach<br />

wissen.“<br />

Judith drehte sich wieder weg und ging näher an den Rand des Daches. „Irgendwann,<br />

Christoph, wird er dir erzählen wie er zu dem geworden ist was er ist, und warum er das tut<br />

was er tut. Dann wirst du es verstehen.“<br />

Sie sagte nicht mehr zu dem Thema.<br />

Der Frühstückstisch war bis auf die Schüssel und eine alte Zeitung leer. Judith und Thomas<br />

schliefen noch, oder lagen noch im Bett, und Christoph saß allein in der winzigen Küche der<br />

Wohnung. Die Cornflakes waren alt und staubig, und statt Milch war Wasser in der Schüssel,<br />

aber der Junge aß mit einer destruktiven Begeisterung an alternativen Mahlzeiten. Die Zeitung<br />

war vom vorherigen Tag und in den Vermissten-Anzeigen tauchte weder sein Gesicht noch<br />

sein Name auf. Er überflog den Rest der Seite und sein Blick blieb an einer Todesanzeige<br />

hängen.<br />

Mit einem kümmerlichen Scheppern flog sein Löffel auf den Boden. Er schob die Schüssel<br />

von sich und hob die Zeitung hoch, um die Anzeige genauer zu begutachten. Dann warf er die<br />

Zeitung weg und sah auf die bunte Blumenuhr über der Tür zum Vorraum.<br />

Ein wenig Zeit blieb noch.<br />

Auf dem Weg zum Kleiderschrank kam ihm Thomas in einer weiten Unterhose und sehr<br />

schlaftrunken entgegen. „Wo willst du hin?“<br />

„Weg. Friedhof.“<br />

„Ich komme mit dir.“<br />

„Ich warte nicht auf dich. Es geht sich schon so kaum aus.“ Christoph warf sich einen weiten,<br />

grauen Pullover über und zog sich dessen Kapuze tief ins Gesicht. „Das schaff ich schon<br />

Thomas.“<br />

Thomas nickte darauf und blickte zu Boden. Sein Gesicht schien versteinert. „Dann geh und<br />

ehre deine Toten.“<br />

Christoph stand keine hundert Meter von dem Begräbnis entfernt. Es waren einige Menschen<br />

versammelt. Seine Eltern, Vater ernst, seine Mutter weinte. Siras Familie war versammelt.<br />

Ihre kleinste Schwester hatte sich vor Müdigkeit in den Beinen auf den Boden gesetzt. Ihr<br />

Kleidchen hatte sich schon mit Wasser und Schlamm angesaugt, denn während es in der Früh<br />

noch genieselt hatte, schüttete es jetzt in Strömen. Dann waren da noch ein paar Freunde aus<br />

der Schule. Es schockte Christoph, dass er den Namen der meisten von ihnen gar nicht mehr<br />

wusste. Nur eine kleine Gruppe, doch wer hätte sonst noch kommen sollen? Ein Zitat aus<br />

einem Actionfilm kam ihm in den Kopf, aus dem Kontext des Films gerissen war es hier nun<br />

wieder von Bedeutung: „Nur ein Mensch.“.<br />

Der Junge hatte sich die Kapuze seines Pullovers übergeworfen. Eher wegen dem Regen, als<br />

wegen der Tatsache, dass ihn niemand erkennen durfte. Die Menschen bei dem Grab hatten<br />

sich versammelt um Abschied von einer geliebten Person zu nehmen, nicht um jemand anders<br />

zu finden.<br />

Diese Überlegung stellte Christoph vor die nächste Frage. Warum war er selbst zum<br />

Begräbnis gekommen? Thomas hatte ihn weggeschickt um seine Toten zu ehren. Doch hatte<br />

nicht Christoph selbst beschlossen, dass es in ihm nichts mehr an Gefühlen gab? Er hatte mit<br />

der Welt an sich abgeschlossen und doch bedeutete es ihm etwas, wenn seine Geliebte zu<br />

Grabe getragen wurde. Er wollte hier sein. Er hatte alles stehen und liegen gelassen um hier<br />

zu sein. Er setzte sogar aufs Spiel, sein neues, gegenwärtiges Leben zu verlieren, sollte ihn<br />

jemand aus seinem alten Leben erkennen. Er spürte den Rand einer Identitätskrise, an den er<br />

langsam stieß und wieder abtrieb, wie ein am Steg festgebundenes Boot. Das harte<br />

Kreuzritterimage, in welches er sich hineinversetzt hatte, bröckelte. Vielleicht konnte er doch<br />

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wieder alles hinter sich lassen. Konnte zurückkehren in sein Haus, neu anfangen. Er war ein<br />

paar Tage nicht zu Haus gewesen, und er würde schon eine Ausrede finden. Oder die<br />

Wahrheit sagen. Zur Polizei gehen, sie warnen. Vor einem Mörder der den Tod von vielen<br />

Menschen plante. Und dann?<br />

Dann würde Thomas ihn töten. Der seltsame Junge mit den brennenden Augen würde zu ihm<br />

kommen und ihm das Leben nehmen. Wenn es etwas gab, bei was Thomas keine Gnade<br />

kennen würde, dann Verrat. Bei dem Gedanken empfand Christoph keineswegs Angst, viel<br />

eher Erleichterung. Thomas würde ihn nicht etwas Falsches tun lassen.<br />

Der Regen ließ nach und eine leichte Brise setzte an, die Wortfetzen der Grabrede von Siras<br />

Vater an Christophs Ohr trug. Als er den Namen des Mädchens heraushörte, begannen Tränen<br />

unkontrolliert über die Wangen des Jungen zu laufen und sein Blick wurde trüb. Er schloss sie<br />

und sofort sah er Bilder von Sira vor seinem geistigen Auge aufblitzen. Das Gefühl des<br />

Verlusts war nicht so stark wie an dem Tag, an dem Christoph von daheim fortlief, doch noch<br />

immer stark genug um seine Knie weich zu machen. Er stütze sich auf den Grabstein neben<br />

dem er stand um nicht umzufallen.<br />

Die Gäste des Begräbnisses hatten nun begonnen, einer nach dem anderen mit einer kleinen<br />

Schaufel schlammige Erde auf den Sarg zu werfen. Christoph sah ihnen dabei zu, sah zu wie<br />

einer nach dem anderen davonging, und das Grab hinter sich zu lassen. Siras Schwester, die<br />

jetzt laut weinte, und deren Gewänder nun fast gänzlich durchweicht waren sah den großen<br />

Menschen an, der an ein Grab gestützt, mit einer Kapuze tief im Gesicht auf das Grab ihrer<br />

Schwester starrte. Christoph sah zurück und musste lächeln. Das Mädchen hörte auf zu<br />

schluchzen und lächelte zurück. Das Lächeln brannte sich wie ein heißes Eisen in Christophs<br />

Kopf. Er zuckte kurz zusammen und dann war ihm klar, was ihn gerade so getroffen hatte. Er<br />

hatte nicht mehr nur Zerstörung und Tod als Ziel. Er wollte von innen heraus, dass dieses<br />

kleine Mädchen in einer Welt aufwuchs, in der Sterbefälle wie der ihrer Schwester gar nicht<br />

mehr möglich waren. Der Gedanke gab Christoph neue Kraft.<br />

Er wartete noch fast eine Stunde. Mittlerweile waren drei Männer gekommen um das Grab<br />

ganz zuzuschaufeln und hatten begonnen, Pflastersteine vor dem Grabstein aufzulegen. Als<br />

Christoph näher trat sah nur einer von ihnen kurz von seiner Arbeit auf um sich dann wieder<br />

darauf zu konzentrieren.<br />

Als er den Grabstein genauer betrachtete, entdeckte Christoph einen kleinen grauen Umschlag<br />

zwischen den Blumensträußen. Sein Name stand darauf, geschrieben in der feinen<br />

Handschrift seines Vaters. In dem Umschlag war ein Brief:<br />

Sohn,<br />

Wenn du meine Worte liest, dann hast du die Anzeige in der Zeitung<br />

bemerkt und bist doch noch an das Grab deiner Freundin<br />

gekommen. Du warst anscheinend nicht beim Begräbnis selbst<br />

dabei, sonst hätte ich diesen Brief nicht hinterlassen. Wir haben<br />

keine Ahnung wo du bist, und was du machst. Deine Mutter hatte<br />

gestern einen Nervenzusammenbruch und hat seit dem kaum ein<br />

Wort gesprochen. Wir haben Angst davor, dass du tot sein könntest,<br />

sei es Selbstmord oder durch die Hand von jemand anderem.<br />

Irgendetwas geht zurzeit in Helm vor, und es sind schon Menschen<br />

dabei gestorben. Halte dich von Schwierigkeiten fern. Und komm<br />

zurück. Der Tod von Sira schmerzt uns genau so wie dich, denn sie<br />

ist auch uns ans Herz gewachsen. Du kannst nicht vor dem Schmerz<br />

davonlaufen.<br />

- 26 -<br />

Papa


Ganz der Psychiater, wie immer. Christoph nahm den Brief und steckte ihn in eine<br />

Hosentasche. Irgendetwas geht zurzeit in Helm vor. Wie Recht der Mann doch hatte. Ich kann<br />

mich nicht von Schwierigkeiten fern halten, Paps, dachte er, ich bin Schwierigkeiten.<br />

Christoph durchsuchte seine restlichen Taschen nach etwas, was er an das Grab legen konnte.<br />

In einer Innentasche des Pullovers fand er zusätzliche Patronen für Thomas’ Revolver. Er<br />

nahm drei davon und stellte sie an die Stelle, an der vorher der Brief gelegen hatte. Zwischen<br />

den Blumen sahen die drei spitzen Metallgegenstände kalt und feindselig aus.<br />

Sie standen dort bereits drei Tage als Christophs Mutter das Grab besuchte und weinend<br />

davor auf die Knie fiel.<br />

Gewalt. Alles in Christoph schrie nach Blut. Das Gefühl war plötzlich in ihn gefahren als er in<br />

die Straßenbahn eingestiegen war. Etwas nagte an seinen Gefühlen und baute sie zu einem<br />

stumpfen Kern ab. Und die Nebenprodukte dieses Abbauprozesses schienen seinen inneren<br />

Drang nach Zerstörung nur noch mehr anzufachen. In ihm brannte ein Feuer. Er traute sich<br />

nicht in sein Spiegelbild am Fenster der Straßenbahn zu sehen. Er wusste nicht ob seine<br />

Augen schon genau so aussahen wie die von Thomas, aber der Ansatz war da. Ein schwaches<br />

Glimmern um die Pupillen oder in den Winkeln der Augenhöhlen.<br />

Die Bahn bog um eine Ecke und Christoph sah gedankenverloren aus dem Fenster, hatte den<br />

Kopf dagegen gepresst, nur um sein eigenes Gesicht nicht wahrnehmen zu müssen. Der<br />

Stadtteil durch den die Bahn fuhr ähnelte dem, in dem er nun wohnte. Nur die abrissfertigen<br />

Häuser waren niedriger, die engen Seitengassen dunkler. Die Fensterscheiben waren oft<br />

zersplittert und mit Klebeband oder Brettern repariert. Der Junge fragte sich wer dies zulassen<br />

konnte, so ein Elendsviertel, so eine Elendsstadt. Er hatte die Macht dies zu verändern. Ein<br />

besseres Helm. Eine bessere Welt.<br />

Hinter den Abrissmaschinen in seiner Seele, in einem kleinen Fleck Leben der dem Jungen<br />

für immer bleiben würde, flüsterte ihm eine Stimme zu. Du kannst nichts verändern. Du<br />

kannst nur töten. Und das wird dich töten. Hör auf deinen Vater. Geh zurück. Lass Thomas<br />

und seinen Krieg hinter dir. Es ist nicht dein Krieg.<br />

„Nein.“ ,sagte er laut zu sich selbst und in dem Moment entdeckte er sie in einer Seitenstraße.<br />

Es war eine junge Frau, die am Boden kauerte und einen großen Hund auf dem Schoß hatte.<br />

Um sie herum standen vier junge Männer und grinsten. Obwohl die Geschwindigkeit der<br />

Straßenbahn die kleine Straße nur kurz ins Blickfeld rückte sahen Christophs Augen (Sie<br />

leuchteten, ganz bestimmt. Wenn nicht vorher dann jetzt.) alle Einzelheiten. Messer. Knüppel.<br />

Keine weiteren Waffen. Nur Fäuste. Große Fäuste. Eine blutende Wunde am Hals des<br />

Hundes. Eine zerschmetterte Brille mit dunklen Brillengläsern zu Füßen der jungen Frau.<br />

Keine Frau, ein Mädchen. Vielleicht in seinem Alter, plus minus ein Jahr.<br />

Die nächste Haltestelle war nur wenige Straßen später, sonst hätte Christoph die Notbremse<br />

ziehen müssen. Die Bahn war noch nicht ganz zum Stehen gekommen, da stieß der Junge die<br />

Tür schon auf, die entnervend langsam zur Seite glitt. Drei Blocks trennten ihn von der<br />

Seitenstraße.<br />

Im Laufen zog er den Revolver, dessen er sich gar nicht bewusst gewesen war aus seiner<br />

Hosentasche. Das war Thomas, heute früh. Verdammt, ist er schnell. Er hat mir die Waffe in<br />

die Tasche gesteckt und ich habe nicht einmal seine Hand dabei gesehen.<br />

Nichtsdestotrotz fühlte sich das warme Holz des Griffes in seiner Hand an, als wäre es schon<br />

immer da gewesen, als gehörte die Waffe zu seinem Arm wie seine Finger.<br />

Er musste nicht nachsehen ob Patronen in der Trommel waren. Thomas ließ die Waffe<br />

bestimmt nie ungeladen. Sechs Patronen. Fünf Männer. Insgeheim betete Christoph, dass sein<br />

Ziel genauso natürlich kommen würde, wie sich der Revolver anfühlte. Dann fragte er sich, zu<br />

wem oder was er eigentlich betete und hörte auf.<br />

- 27 -


Sie hatten die kleine Fotze mit der hässlichen Töle um die Ecke biegen sehen und sie sofort in<br />

die Gasse gezerrt. Sie wussten, dass sie irgendwo in der Gegend wohnte, doch das Vieh hatte<br />

sie noch nie gehabt. Bisher war sie immer mit anderen Leuten unterwegs gewesen.<br />

Uninteressant, könnte man sagen. Doch mit dem Hundvieh an der Leine hatte sie so hilflos<br />

ausgesehen, da mussten sie einfach zugreifen.<br />

Sie lachten laut, doch machten sich keine Gedanken, dass jemand Hilfe holen würde. In<br />

diesem Stadtteil regierten sie.<br />

Und außerdem hatten sie noch einen sechsten Mann an einem Fenster, das hinunter in die<br />

Gasse sah. Und der hatte seine Maschinenpistole.<br />

Sie sahen wie einfache Schläger aus, doch für ihre Aktivitäten reichte normales Schlägersein<br />

nicht aus. Wer Menschenhandel betrieb musste mehr können.<br />

„Was wollen Sie?“ ,schrie das Mädchen wieder, worauf sie alle lachten.<br />

Der kleinste und hässlichste von ihnen, der Anführer also, schwang seine Keule bedrohlich,<br />

erst dann fiel ihm ein, dass die Kleine blind war. „Wirst einen guten Preis hergeben auf dem<br />

Markt. Minderjährige Freiwillige sind immer weniger geworden in den letzten Jahren.“<br />

„Hoffen wir nur, dass sie besser ficken als sehen kann.“ ,grunzte ein anderer und dann<br />

explodierte sein Kopf. Blut schoss ihm aus den Ohren, der Nase und dem Mund und er wurde<br />

nach vorn geschleudert. Der Knall hallte in der Gasse wieder, und war noch nicht verklungen<br />

als der nächste donnerte. Der Anführer mit dem Knüppel sackte nach dem Loch in seiner<br />

Brust greifend zu Boden.<br />

Christoph sah das Blitzen in einem der Fenster aus den Augenwinkeln und schwenkte die<br />

Mündung seiner Waffe instinktiv nach oben. Ein beißend hellroter Schleier war vor seinen<br />

Augen und lenkte seine Hand.<br />

Der Mann mit der Maschinenpistole fiel aus dem Fenster und landete mit dem<br />

Begleitgeräusch brechender Knochen am Asphalt. Nach einem Schritt in Richtung des<br />

Angreifers mit dem dunklen Pullover und der weiten Kapuze wurde der Kerl mit dem Messer<br />

am Hals getroffen. Seine Halsschlagader platzte auf und ein gigantischer Schwall Blut schoss<br />

aus der Schusswunde, während er nach Luft schnappend auf die Knie ging. Ein Fuß in<br />

billigen abgetretenen Schuhen schlug gegen seine Stirn, doch diesen Schmerz spürte der<br />

Mann gar nicht mehr. Die letzten zehn Jahre seines Lebens schossen wie auf einem auf<br />

schnellem Vorlauf gestellten Video vor seinen Augen dahin wie bei Beweisaufnahmen bei<br />

Gericht, dann wurde es schwarz.<br />

Drei standen noch, beschlossen davonzulaufen, kamen aber nur wenige Meter. Zwei fielen<br />

mit einem Loch zwischen den Schulterblättern nieder, den letzten Verbrecher streifte die<br />

Kugel tief genug am Kopf um eine Furche in sein dadurch freigelegtes Gehirn zu reißen.<br />

Unter wilden Krämpfen sank er zu Boden und zuckte noch ein paar Sekunden bevor er starb.<br />

Christoph ging neben dem Mädchen in die Knie. Sie hatte den Hund fest umschlungen und<br />

schluchzte leise. „Sie sind tot. Du brauchst keine Angst mehr zu haben.“<br />

„GEH WEG!“ ,schrie sie und Christoph wurde sich bewusst, dass er förmlich auf offener<br />

Straße stand. Ich habe sechs Mal mit einem Revolver geschossen und niemand kam. Ihr<br />

Schreien wird niemand hören. „WER IMMER NOCH ÜBRIG IST, LASS MICH ALLEIN!“<br />

Christoph überlegte krampfhaft wie er dem Mädchen beweisen konnte, dass er einer von<br />

Guten war. Er sah auf eine Leichen, die die gerade noch gezuckt hatte und überlegte kurz ob<br />

das wirklich wahr war.<br />

Dann entschied er sich für den direkten Weg. „Kann ich dir irgendwie klar machen, dass ich<br />

dich gerettet habe?“ ,fragte er mit krampfhaft ruhiger Stimme. Irgendjemand würde kommen,<br />

und zwar bald. Und falls dies Verstärkung für den fröhlichen Haufen Menschenhändler war,<br />

konnte das schlecht ausgehen. Er hatte nur noch drei der sechs Reservepatronen für seine<br />

- 28 -


Waffe. Dann fiel sein Blick auf die unbeschädigte automatische Maschinenpistole die wenige<br />

Meter entfernt lag. Oder auch nicht. Ebenfalls krampfhaft und ein wenig von sich selbst<br />

angewidert unterdrückte er den Drang zu lächeln.<br />

Noch immer schluchzend zog das Mädchen die Leiche ihres Hundes näher an ihre vom Regen<br />

durchnässte Jacke. „Ich habe keine Wahl oder? Irgendjemand muss mich nach Hause<br />

bringen.“ Dann lachte sie und brach förmlich in sich zusammen als eine neue Welle von<br />

Tränen sie schüttelte.<br />

Christoph nahm instinktiv ihre Hände und hielt sie an sein nasses Gesicht. „Ich kann dich an<br />

einen sicheren Ort bringen wenn du möchtest. Dieses Viertel ist keine Gegend für ein<br />

Mädchen wie dich.“ Zögernd fügte er hinzu: „Ich kann dich auch wieder zu deine Eltern<br />

bringen.“<br />

„Ich habe keine Eltern.“ Irgendwie hatte er es im Vorhinein gewusst. „Rette mich.“ Sie hatte<br />

aufgehört zu weinen, zog Christoph direkt neben ihr Gesicht und flüsterte noch einmal „Rette<br />

mich.“<br />

save me<br />

save me<br />

before i<br />

drown,<br />

drown<br />

…<br />

- 29 -


„Was soll das Christoph? Wer ist das?“<br />

Christoph hatte nicht geglaubt, dass er sich vor Thomas rechtfertigen müssen würde, doch<br />

dieser schien anscheinend ein Problem damit zu haben, wenn man hilflose Mädchen rettete.<br />

„Ich habe sie vor ein paar Kerlen gerettet. Nicht weit von hier.“<br />

„Gerettet? Zeig mir den Revolver!“ Der blonde Junge schien nervös, und das beunruhigte<br />

Christoph noch mehr, als dass Thomas wütend auf ihn war.<br />

Christoph zog die Waffe aus der Tasche des Pullovers und klappte die Trommel auf. Die<br />

Patronenhülsen fielen mit einem leisen Klirren zu Boden.<br />

„Gerettet?“ ,blaffte Thomas. „Gerettet? Wie viele waren es, dass du alle Patronen verbraucht<br />

hast?“<br />

„Sechs“ ,sagte das Mädchen. Sie hatte kein Wort gesprochen seit Christoph sie von ihrem<br />

toten Hund weggenommen hatte. Ihr kleiner Rosa Rucksack hing an einer Schlaufe über<br />

seiner Schulter und ihre hineingestopfte Jacke verbarg behelfsmäßig die Maschinenpistole mit<br />

mehreren Magazinen. „Einer fiel aus dem Fenster. Ich konnte seine Knochen brechen hören.“<br />

Sie imitierte das Geräusch eines brechenden Knochens so gut, dass Stille im Vorraum der<br />

Wohnung einkehrte.<br />

Kurz sah Thomas sie an. Sie hatte sich auf den Boden gesetzt und starrte in Richtung<br />

Christoph. Dann sagte er: „Hat sie den Weg hierher gesehen? Kann sie unsere Position<br />

verraten?“<br />

Ohne Vorwarnung, ohne Nachdenken, holte Christoph aus und versetzte Thomas eine<br />

Ohrfeige. Der andere, schnellere und durchtrainierte Junge wich nicht aus, obwohl sie beide<br />

wussten, dass er es hätte tun können. „SIE IST BLIND, VERDAMMT THOMAS!“<br />

Thomas berührte den roten Handabdruck an seiner Wange und sah dann das blinde Mädchen<br />

an. „Judith lässt immer Gewand von ihr hier. Such ihr was zum Anziehen und gib ihr Essen.“<br />

Dann drehte er sich um und schlug die Tür seines Zimmers zu.<br />

Wortlos ließ Christoph den Rucksack auf den Boden fallen, zog den durchnässten Pullover<br />

aus und hing ihn auf einen Kleiderbügel.<br />

„Es tut mir leid.“ ,sagte sie leise.<br />

Sie saß noch immer am Boden, und er setzte sich neben sie. „Es ist nicht deine Schuld.<br />

Thomas ist sonst eher ruhig aber heute ist er wohl schlecht gelaunt. Es tut mir leid.“ Er stand<br />

wieder auf, griff ihr unter die Arme und hob sie hoch. Fast hätte er sie vom Boden gehoben,<br />

so leicht war sie. „Du musst was essen. Komm mit.“<br />

Sie aß langsam und bedacht die Mikrowellen Lasagne die Christoph ihr gemacht hatte. Die<br />

Schätzung des Jungen, dass sie in seinem Alter war, hatte sich als etwas falsch erwiesen. Sie<br />

war erst fünfzehn. Ihre Haare waren schwarz und hatten die Tendenz, aus ihrem<br />

Pferdeschwanz in ihr Gesicht zu fallen. Selbiges war irgendwo zwischen oval und rund und<br />

schien standardmäßig ein wenig traurig auszusehen. Wenn sie aufsah, und dabei immer direkt<br />

in sein Gesicht sah, glaubte Christoph ihre Gedanken hinter den blassen grünen Augen zu<br />

sehen. Innerhalb von Minuten schien sie sich die Küche vor ihrem geistigen Auge eingeprägt<br />

zu haben, und im Stillen fragte er sich ob sie von seinem Gesicht ebenso klare Vorstellungen<br />

hatte wie von der Kücheneinrichtung.<br />

Er glaubte, er könnte den ganzen Tag damit zubringen, ihren Bewegungen zuzusehen. Sie<br />

führte langsam die Gabel in den billigen Pappbehälter, hob und senkte die Gabel ein wenig<br />

um zu fühlen, ob sie etwas von dem Essen erwischt hatte. Dann langsam die Gabel zum<br />

Mund, langsam kauen, genau schlucken. Wenn sie eine Haarsträhne in ihrem Gesicht kitzelte<br />

griff sie langsam mit der Hand danach und strich sie langsam hinters Ohr. Langsam, langsam,<br />

langsam.<br />

- 30 -


„Ich kann deinen Blick spüren.“<br />

„Wirklich?“<br />

„Ich denke schon. Außerdem hast du wahrscheinlich noch nie Behinderten beim Essen zu<br />

gesehen schätze ich.“<br />

„Ich, nein, …“ Er verstummte. Sie lächelte und ihr sonst so trauriges Gesicht schien zu<br />

leuchten. „Du bist nicht behindert. Du bist blind.“<br />

Sie nickte. Langsam. „Du hast mich noch immer nicht nach meinem Namen gefragt.“<br />

Christoph fiel dies erst auf als sie es sagte. „Ich schätze keiner ist so gut wie jeder andere.“ Er<br />

zögerte kurz. „Verrätst du ihn mir trotzdem?“<br />

„Julia 1 .“<br />

„Am helllichten Tag!“ Ungläubig hockte sich Sascha Pattrick hin und besah sich die Leiche<br />

des Mannes, der aus dem Fenster gefallen war. Der Oberkörper hatte eine seltsame Biegung<br />

die nicht besonders gesund wirkte. Genau so wie das Loch in seinem Hals, um das herum sein<br />

getrocknetes Blut klebte. Der Mann war an seinem eigenen Blut erstickt. Pattrick wandte sich<br />

an Kevin Hunt der neben ihm stand und eine Revolverpatrone in einem Plastiksack<br />

begutachtete. „Fingerabdrücke?“<br />

Der jüngere Mann schüttelte knapp den Kopf und steckte sich das Säckchen in die<br />

Uniformtasche. „Auf den Männern sind so viele Fingerabdrücke, die müssen in den letzten<br />

beiden Stunden von so vielen anderen Leuten geplündert worden sein. Keine Papiere, keine<br />

Geldtaschen, kein Schmuck. Dem da-“ Hunt deutete auf die Leiche in deren starrer Hand ein<br />

Knüppel steckte „Dem sind sogar zwei Zähne rausgerissen worden.“<br />

„Goldzähne oder wie?“ Wieder musste Pattrick den Kopf schütteln. „Und es ist wieder der<br />

selbe Revolver?“<br />

„Ja. Der selbe. Aber ein anderer Täter.“<br />

„Was? Wie kommen Sie denn jetzt auf das?“<br />

Hunt begann ruhig zu erklären und benutzte seine Hände um seine Erläuterungen zu<br />

untermalen. „Unser Freund mit dem Revolver hat bei den bisherigen Angriffen auf mehrere<br />

Opfer immer zwei Waffen gehabt.“ Er hielt Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand<br />

hoch. „Er nutzte bei dem Überfall in der Fußgängerzone ein langes Messer und bei dem<br />

Kampf in dem Haus hatte er einen an einem Ende geschärften Stock oder etwas in der Art. Er<br />

nutzte diese Art des Kämpfens um mit Patronen zu sparen oder um sie anderweitig zu<br />

nutzen.“<br />

„Ja, ja, ich kenne ihre Theorie mit den gewollten Fehlschüssen.“ Langsam begann Pattrick die<br />

Überlegenheit des jüngeren Beamten zu hassen. Anfangs hatte er es nur interessant gefunden,<br />

beobachtenswert, doch jetzt wo ihm der Junge Dinge erklärte, die er selber wissen müsste,<br />

fühlte sich der ältere Mann merkwürdig fehl am Platze und nicht gebraucht. Was anfangs für<br />

ihn wie großes Selbstvertrauen gewirkt hatte, schien ihm jetzt wie Überheblichkeit. Er denkt<br />

er ist etwas Besseres als ich.<br />

„Gut, dann brauch ich das nicht zu erklären. Dieser Täter hier, der benutzte nur den<br />

Revolver.“ Jetzt hob er nur den Zeigefinger hoch. „Obwohl er vermutlich wusste, dass es hier<br />

mehr als eines oder zwei potentielle Opfer gab.“<br />

„Das ist ziemlich weit hergeholt, Hunt.“<br />

Der junge Mann schwieg. Dies verunsicherte Pattrick nur noch mehr.<br />

„Was ist mit dem Hund? Hunt?“ Es gab ihm eine gewisse Befriedigung den Jüngeren wegen<br />

seines Nachnamens aufzuziehen.<br />

Doch er blieb ruhig. „Wenigstens das wissen wir besser. Hier in der Gegend lebte ein blindes<br />

Mädchen. Bisher wurde sie von einem Sozialarbeiter betreut. Das da war ihr neuer<br />

Blindenhund.“<br />

1 wenn spike spiegel seine julia haben kann, kann ich das auch, verdammt (anm. d. autors)<br />

- 31 -


„Unser Sozialsystem muss wirklich verzweifelt sein wenn man einen Sozialarbeiter durch<br />

einen Hund ersetzt.“ Wieder bemühte sich Pattrick den Tiernamen so auszusprechen, dass er<br />

wie der Nachname des Mannes klang.<br />

„Das Mädchen ist jedenfalls weg.“<br />

„Der Mörder muss sie nachdem er sie getötet hat weggeschleppt haben.“<br />

„Unwahrscheinlich. Bisher scherte sich unser Revolvermann nicht darum, was mit seinen<br />

Opfern nach dem Mord geschah. Er ließ sie einfach liegen. Es würde keinen Sinn machen…“<br />

„…wenn er plötzlich das Mädchen mitnehmen würde. Aber sie sagten auch, dass es diesmal<br />

ein anderer ist.“<br />

Hunt nickte und drehte sich weg. Er hob beide Arme als ob er den Ort des Verbrechens<br />

einfangen wollte. „Das hier scheint das Werk von jemand gewesen zu sein, der vom ersten<br />

Mörder gelernt hat. Oder ein Freund von ihm ist.“<br />

„Das ist ziemlich weit hergeholt, junger Mann.“<br />

Er drehte sich um und sah Pattrick in die Augen. „Aber es ist der einzige Anhaltspunkt den<br />

wir haben.“<br />

„Ich brauche deine Hilfe, Christoph. Jetzt.“<br />

Es war nach Mitternacht und Christoph saß am Küchentisch in der Dunkelheit und<br />

beobachtete Julia beim Schlafen. Sie hatte nach dem Essen so müde ausgesehen, dass<br />

Christoph sie hingelegt hatte. Sie schlief schon seit Stunden und in der Zeit hatte er nichts<br />

anderes getan als sie zu beobachten und nachzudenken.<br />

Noch keine zweiundsiebzig Stunden zuvor hatte er noch geglaubt, der Verlust seiner Seele<br />

würde nichts bedeuten. Er hatte für sich festgestellt, dass er nichts mehr bräuchte außer der<br />

Rache, der Zerstörung. Und nun hatte er ein Mädchen gerettet, hatte zum ersten Mal in<br />

seinem Leben Blut vergossen nur um sie zu retten, eine Fremde.<br />

Er sah auf und blickte in Thomas’ Gesicht, in seine Augen die wieder brannten. „Ich habe sie<br />

einfach so erschossen. Ich musste nicht mal lange zielen. Ich hab einfach abgedrückt und<br />

getroffen.“<br />

Thomas nickte langsam und setzte sich Christoph gegenüber an den Tisch. „Diese Kreaturen<br />

waren und werden uns immer unterlegen sein, denn im Kampf, denken sie in erster Linie<br />

immer an sich, und was es ihnen bringen wird, wenn sie uns töten. Wir, wir denken nicht. Wir<br />

wissen, dass wir das Rchtige tun.“<br />

„Wirklich?“<br />

Es hatte Christoph einiges an Überwindung gekostet, dies zu sagen, doch die Antwort kam<br />

weder forsch noch boshaft. „Wirklich. Und jetzt komm, wir haben zu tun.“<br />

„Na dann lass uns mal deinen Ausweis sehen.“ Er grinste seinen Kollegen an. Hier hatten sie<br />

mal wieder die Standardtruppe. Betrunken, minderjährig, mit einer Zigarette im Mundwinkel.<br />

Und voll purer Angst vor der Staatsgewalt. Wie es sich gehörte.<br />

Er warf nur einen kurzen Blick auf das mit dickem Filzstift überschriebene Geburtsdatum.<br />

Dann lachte er. Er wusste, dass das die Kinder verrückt machte. Und das tat es auch. Den<br />

kleinen Scheißern schien das Herz in die Hose gerutscht zu sein. Zusammen mit ein wenig<br />

Pisse.<br />

„Ich sag euch was, Jungs.“ Die Truppe vor ihm, drei Mädchen und zwei Burschen, sahen ein<br />

wenig erleichtert zu ihm auf. Er machte sich keine Gedanken mehr darüber, dass das was er<br />

tat nicht richtig war. Für ihn war es immerhin nur ein Ausgleich. Und ein bisschen<br />

Zusatzkapital. „Ich bekomme jetzt von jedem von euch die Geldtasche. Ihr haltet alle den<br />

Mund, und wenn wir uns das nächste Mal sehen werde ich nett zu euch sein. Deal?“ Wieder<br />

lachte er schallend, dann unterbrach er sich mit einem Schlucken. Ein Messer, hatte sich um<br />

seinen feisten Hals gelegt und ein wenig Haut angekratzt.<br />

- 32 -


„Neuer Deal, Arschloch. Ich schneide dir den Hals auf, du stirbst.“ Er wollte zu seiner Pistole<br />

greifen als er den Schuss hörte. Und dann noch einen. Seine beiden Kollegen fielen um. Beide<br />

hatten Löcher im Kopf. Dann stieß die Klinge zu.<br />

Er starb mit seinem Blut an den Händen. Er hatte bereits Blut an den Händen gehabt. Doch<br />

dieses Mal konnte er es nicht wieder abwischen.<br />

Es war das erste Mal, dass Thomas das Wort Revolution in den Mund nahm.<br />

„Wir haben Polizisten getötet.“<br />

„Nur weil er eine Uniform an hat, macht sie den bösen Menschen nicht besser.“ Thomas<br />

kniete neben dem fetten, sehr toten Polizisten nieder und hob dessen schlaffe Hand. An drei<br />

Fingern glitzerten Ringe. „Sieht das wie ein normal verdienender Bulle aus, Christoph?“<br />

Vor Christophs Augen tauchte ein Bild aus seinem (Tage?) Ewigkeiten zurückliegenden<br />

Geschichtsunterricht auf. Irgendein französischer König, mit goldenen Ringen und Maschen<br />

und Rüschen und einer Perücke geschmückt in seinen Gemächern posierend während auf der<br />

Straße hunderte an Armut starben.<br />

Er schluckte. „Aber das sind trotzdem Polizisten. Staatsbeamte.“<br />

Der Ausbruch kam unerwartet, laut und kurz. „SCHEISS AUF DEN STAAT! Wir werden<br />

den Staat mit Füßen treten bis er ausgeblutet ist! Und dann, dann…“ Thomas fing sich<br />

wieder. Er schloss die Augen, welche mehrere Sekunden lang nicht geglüht, sondern gebrannt<br />

hatten, und öffnete sie langsam wieder. Seine Wut war verschwunden und schien von einer<br />

Mischung aus Verlegenheit und Angst vertrieben worden sein. Christoph, der Thomas nur<br />

voller Energie, Tatendrang und mehr als aktivem Destruktionstrieb kannte, verängstigte diese<br />

neue Facette seines eigentümlichen Mentors mehr als alles andere.<br />

Thomas ging auf Christoph zu und nahm ihm den Revolver aus der Hand. „Ich weiß nicht ob<br />

das, was ich mache, richtig ist. Ich vertrete eine Einstellung die ich mit vielen schlechten<br />

Menschen teile. Der Zweck rechtfertigt die Mittel. Statt durch friedliche Demonstration will<br />

ich alles mit Gewalt verändern.“<br />

„Was macht dir mehr Angst? Das wir damit durchkommen, oder das es funktionieren<br />

könnte?“ Christophs Verängstigung verwandelte sich schlagartig in Wut. Thomas zog jetzt<br />

den Kopf ein? Jetzt? Er hatte nicht schwach zu sein wenn er, Christoph, ihn brauchte. „Es<br />

kann nämlich funktionieren. Was sollen sie machen? Polizeistreifen erhöhen,<br />

Ausnahmezustand ausrufen? Überleg dir mal die politischen Konsequenzen! Das können sie<br />

nicht. Und jetzt reiß dich zusammen, verdammt! Immerhin ist das dein Traum!“<br />

„Kennst du diese Rede von Malcolm X? Über Revolution?“<br />

„Ja. Bloodshed.“<br />

„Sie wollen was tun?“ Sascha Pattrick sah seinen Vorgesetzten in dem gepolsterten<br />

schwarzen Drehsessel ungläubig an. „Das würde doch nichts bringen. Es kann gar kein<br />

Jugendlicher gewesen sein, wir…“<br />

Der ältere, und eindeutig festere und weniger durchtrainierte Mann vor ihm hob eine Hand um<br />

den Redefluss zu unterbinden. „Alle Zeugenaussagen sprechen dafür. Besonders die letzten<br />

paar. Es ist eine Notlösung, doch ich sehe keine Alternativen.“<br />

Schnell ging Pattrick in seinem Kopf seine eigenen Möglichkeiten durch. Die Aktion die sein<br />

Vorgesetzter plante war wie ein Dolchstoß in das bereits schwächliche Polizeiorgan Helms.<br />

Polizist zu sein würde kein Privileg mehr sein sondern etwas, für das man sich schämen sollte.<br />

Es machte einfach keinen Sinn. „Wo liegt der Zweck dieser Aktion? Wollen Sie das unter<br />

‚Öffentlichkeitsarbeit’ dazwischen schieben?“<br />

„Kommen Sie der Beleidigung ihrer Vorgesetzten nicht näher als Sie es seit längerer Zeit<br />

sind. Wir verfolgen Ihre Unfähigkeit, in diesem Fall Resultate hervorzubringen seit den ersten<br />

Morden. Immer nur ungestützte Theorien Ihres offensichtlich ein wenig geistig verwirrten<br />

- 33 -


Attachés. Wir zweifeln langsam an Ihren Möglichkeiten, uns in absehbarer Zeit wenigstens<br />

Verdächtige zu geben.“<br />

Das war es also. Sie wollten Verdächtige, und sie würden sich welche holen. So oder so.<br />

„Einen Sündenbock also. Nun, ich weiß nicht warum Sie das eigentlich mit mir besprechen<br />

wollen. Diese Aktion scheint bereits geplant und beschlossen zu sein.“ Pattrick sah kurz und<br />

leicht theatralisch auf seine Armbanduhr. Es war bereits kurz vor Mitternacht. „Ich habe<br />

immerhin noch zu tun.“<br />

„Falls diese, Aktion, wie Sie dazu sagen, irgendwelche positiven Resultate hervorbringt, dann<br />

wird Ihre Arbeit an dem Fall unterbrochen. Die Bestrafung der Verdächtigen wird, falls wir<br />

nicht die Richtigen haben, diese abschrecken und schließlich ans Licht bringen.“<br />

Pattrick hatte so etwas erwartet. Aber nicht in dem Ausmaß. Konnte der Mann wirklich so<br />

blind sein? Nein, er nicht, Pattrick kannte ihn schon eine Weile, arbeitete schon lange mit ihm<br />

zusammen bei der Polizei. Aber diese Taktik kam anscheinend von höher oben. Als ob<br />

jemand mehr wusste.<br />

Pattrick wusste nicht mehr. Aber er musste es wissen. „Wir sind so nah dran ein System in<br />

den Vorfällen zu finden. Der Dreifachmord an den Polizisten ist wie ein letztes Puzzleteil, das<br />

wir nur noch richtig herum einfügen müssen! Wer hat so einen Scheiß eigentlich<br />

angeordnet?“<br />

„Jetzt reißen Sie sich zusammen, Mann!“ Erst jetzt erkannte Pattrick den unterdrückten<br />

Schmerz in den Augen des anderen. „Mir gefällt diese Sache auch nicht. Doch ich muss hier<br />

hart nach den Regeln gehen. Mir ist genau so bewusst wie Ihnen, dass die bisher Ermordeten<br />

auch nichts Besseres als einige Jahrzehnte hinter Gittern verdient haben.“ Er war<br />

aufgestanden und ging energisch hinter seinem Schreibtisch auf und ab. „Vergewaltiger,<br />

Menschenhändler, Schläger, der letzte kriminelle Bodensatz, der mit einem falschen Grinsen<br />

hinter uns den Boden kehrt. Dieser Fall bringt nicht nur Ihnen Kopfzerbrechen.“ Die ganze<br />

Härte der vorhergehenden Minuten schien verschwunden zu sein und Pattrick fühlte sich ein<br />

wenig erleichtert. Er konnte zwar noch immer nichts an der Sache ändern, aber er hatte<br />

jemanden mit dem er sich gemeinsam darüber aufregen konnte. Jemand anderen als den Hunt.<br />

„Sehen Sie, Pattrick, ich muss diese Aktion durchführen. Ich könnte meinen Job verlieren,<br />

und Sie Ihren und in ein paar Wochen sitzt unser gesamtes Revier auf der Straße und ist durch<br />

ein wenig mehr kooperative Organe ersetzt, verstehen Sie?“<br />

„Ja. Aber wenn Sie nur noch ein wenig warten könnten. Ich bin wirklich…“<br />

„Zu spät. Es hat vor einer halben Stunde begonnen. Morgen haben wir unsere Verdächtigen.<br />

Es tut mir Leid.“<br />

„Ja, Rainer.“, sagte Pattrick als ihn eine finstere Vorahnung wie ein Fußtritt gegen den Kopf<br />

traf. „Mir auch.“<br />

Leises Plätschern erfüllte die Kabine, als sie sich erleichtert niederließ. Das Klo des<br />

Jugendheims war heruntergekommen und stank nach Exkrementen und billigen Zigaretten.<br />

Doch es gehörte zu ihrem Zuhause so wie ihr hässliches Feldbett und der brüchige Schrank<br />

daneben, welche im Schlafsaal standen. Seit ihre Eltern gestorben waren, hatte sie in dem<br />

Jugendheim gelebt. Doch bald, bald würde sie achtzehn sein und dann würde es vorbei sein.<br />

Dann konnte sie nur noch auf die Straße und hoffen. Doch sie war alt genug um zu wissen,<br />

dass die Hoffnung in Helm als erstes starb. Und ohne Hoffnung war der Rest nur mehr leere<br />

Hülle.<br />

Sie ging zum Waschbecken und blickte in ihr schlaftrunkenes, von verwischtem Make-up<br />

beschmiertes Gesicht als sie sich die Hände wusch. Unter ihren Augen waren tiefe Ringe. Sie<br />

würde wohl das Nachtleben ein wenig zurückschrauben müssen. Vielleicht etwas sparen.<br />

Aber wahrscheinlich würde sie das nicht. Niemals. Bis sie starb. Dass dieser Tod nicht in ein<br />

paar Jahren, sondern in wenigen Minuten eintreten würde, konnte sie nicht wissen.<br />

- 34 -


Mit einem Quietschen drehte sie das Wasser zu und hielt inne. Draußen auf dem Flur hatte sie<br />

Schritte gehört. Mehrere. Sie langte schnell nach dem Lichtschalter und schaltete die<br />

schwächliche Klobeleuchtung aus und presste sich gegen die Tür. Und was sie hörte ließ sie<br />

die Augen weiten. Mehr Schritte. Türen wurde aufgerissen, der Lärm von dutzenden,<br />

plötzlich abgedämpften Schreien, Schrankfächer wurden auf den Boden gerissen. Was war da<br />

los? Mehr gedämpfte Schreie. Männerstimmen. Sie konnte sie nicht genau hören, da sie sich<br />

von der Tür entfernt hatte und in der Dunkelheit des Klos nach irgendeiner Waffe suchte. Da<br />

draußen schienen Einbrecher zu sein, und zwar viele. Sie konnte zwar nicht alle aufhalten,<br />

aber vielleicht konnte sie einen niederschlagen und davonlaufen. Die Polizei rufen.<br />

Ihre Hände schlossen sich um einen dicken Holzgriff. Es war das Gerät, mit dem man<br />

Abflussverstopfungen beheben konnte. Irgendein Wort gab es bestimmt dafür, aber im<br />

Moment verließ sie ihr Vokabular um von Entschlossenheit ersetzt zu werden.<br />

Mit erhobener Waffe stieß sie die Tür energisch auf und sah zwei Männer mit gezogenen<br />

Pistolen vor der Schlafsaaltür stehen. Mützen. Uniform. Polizisten. Sie waren keine zwei<br />

Meter von ihr entfernt und ihr plötzliches Auftauchen ließ beide aufschrecken.<br />

Reflex überkam gesunden Menschenverstand und ein Schuss löste sich.<br />

Der Knall schrie förmlich durch das Jugendheim als sich die Kugel in ihren Kopf rammte und<br />

ihn nach hinten riss. Sie kam auf dem Boden auf, ihr hübsches, junges Gesicht vor Schreck<br />

verzerrt und durch die Schusswunde an ihrer Stirn entstellt.<br />

- 35 -


DREI: Bei zu vielen Tränen hat Wegwischen auch keinen Sinn mehr.<br />

Christoph versuchte es gar nicht erst, als die warme Flüssigkeit seiner Tränen aus seinen<br />

Augen quoll und seine Wangen bedeckte. Er hatte selber in letzter Zeit genug Kopfschüsse<br />

gesehen und auch verursacht, doch die Aufnahme des jungen Mädchens, mit der hässlichen<br />

Wunde auf ihrem Gesicht brannte sich in sein Gehirn. Er wunderte sich langsam wie viel von<br />

seinem Kopf noch nicht versengt war, soviel unvergessliche Bilder hatten sich dort bereits<br />

eingraviert. Es waren Spezialnachrichten, denn es war bereits rund vier Uhr früh und sonst<br />

liefen jetzt höchstens Werbesendungen und Stripshows. Er war vor dem winzigen Fernseher,<br />

den er im Keller des Wohnhauses gefunden und in der Küche am Boden zum Laufen gebracht<br />

hatte eingeschlafen. Julia hatte einen Polster über seine Schulter gelegt und schlief, ihr offenes<br />

Haar bedeckte den Polster und war angenehm nah an seinem Kopf gewesen. Doch alles<br />

andere war jetzt plötzlich Nebensache. Die Reporterin sprach weiter, während noch immer<br />

das lautlos schreiende Gesicht des jungen Mädchens im Bild prangte: „…über das ‚Warum?’<br />

dieses höchst brisanten und eigentümlichen Polizeieinsatzes. Polizeidirektor Rainer Frederick<br />

wollte eigentlich kein Kommentar abgeben, schließlich erklärte er verzweifelt, dass ‚das<br />

keinesfalls so geplant war. Nie, glauben sie mir.’ Ich schalte nun live weiter zu meinem<br />

Kollegen…“<br />

„Was ist passiert?“ Julia hatte ihren Kopf gehoben, aber ihre Augen nicht geöffnet. Es hätte<br />

immerhin auch wenig Sinn.<br />

Christophs Stimme klang kratziger als er selber erwartet hatte, und er musste mehrmals<br />

Schlucken ehe er sich zusammenreißen konnte. „Sie… sie haben Jugendheime durchsucht.<br />

Fast alle in ganz Helm.“<br />

Ihre zarte Hand berührte seine nassen Wangen und er zuckte zusammen. „Wein nicht. Warum<br />

denkst du, du seiest an irgendwas Schuld?“<br />

„Weil ich es bin!“ Er nahm ihre Hand und stieß sie leicht weg. Er wollte ihren Trost jetzt<br />

nicht. Er könnte vielleicht helfen, und er wollte jetzt keine Hilfe. Sein ganz persönlicher<br />

Destruktionstrieb kehrte sich gegen ihn selbst. Er wollte keinen Trost. Er wollte Leiden. Vor<br />

ihm, im winzigen Bildausschnitt des ramponierten Fernsehers konnte man das Resultat seines<br />

blutigen Kreuzzuges sehen. Ein junges Mädchen, noch keine achtzehn, ihr Leben eigentlich<br />

noch vor ihr, war tot und würde nie erfahren für wen sie da gestorben war. Nur für Christoph<br />

und seine unendliche Arroganz war sie gestorben. Wie hatte er sich anmaßen können, über<br />

Gut und Böse zu entscheiden, als wäre er selbst ein Gott?<br />

„Mach die Augen zu.“ Ihre Stimme. So sanft. So beruhigend. So verflucht beruhigend.<br />

Wieder strich ihre Hand über sein Gesicht und verwischte seine Tränen. Wieso begriff sie<br />

nicht, dass es keinen Sinn hatte? Er würde sie von sich stoßen aufstehen und sich erstechen. In<br />

einer der Küchenladen war ein geeignetes Messer. Er würde es auch im Dunkeln finden.<br />

Die Endgültigkeit seiner Gedanken überraschte ihn so sehr, dass sein ganzer Widerstand<br />

brach. Er ergriff ihre Hand, doch anstatt sie wegzustoßen, schlang er ihren Arm um sich und<br />

stützte seinen Kopf an ihre Schulter. „Es ist alles meine Schuld. Thomas und ich wollten<br />

etwas verändern, wollte eine bessere Welt machen. Mit Blut. So sein Scheißdreck.<br />

Unschuldiges Leben vergeudet, wegen uns. Wegen mir.“ In seinen Ohren klang es wie eine<br />

Beichte. Doch für seine Sünden gab es kein Vergeben. Nicht von Julia von niemandem.<br />

Thomas Stimme durchfuhr ihn wie einen Blitz. „Denkst du wirklich das“, er deutete auf den<br />

Bildschirm, „waren wir? Nein, das waren sie. In ihrer Verzweiflung gegenüber dem Weg den<br />

wir beschreiten habe sie einfach das am Nahesten liegende getan und sich einen Sündenbock<br />

gesucht. Und dabei sind sie selbst zum Sündenbock geworden. Dieses Mädchen ist wegen<br />

Inkompetenz gestorben, nicht wegen meiner Vision.“ Er verstummte, und Christoph, der noch<br />

immer unglücklich, aber wieder stabil Thomas’ Gesicht studierte konnte dort nichts lesen.<br />

„Und wenn einer ein schlechtes Gewissen haben sollte, dann ich. Ich habe dich in die ganze<br />

Sache hineingezogen, Christoph.“<br />

- 36 -


„Ich habe mich selber in die Sache hineingezogen. Und wir sollten langsam weitermachen.“<br />

Thomas nickte kurz, und Christoph bildete sich ein, eine Träne unter den geschlossenen<br />

Augen zu sehen. Dann drehte sich der andere Junge um und ging in sein Zimmer. „Ich muss<br />

schlafen.“<br />

Christoph warf mit einem Schuh nach dem Fernseher und traf den Knopf zum Ausschalten.<br />

Er ließ sich zurückfallen und sein Kopf landete auf der Matratze. Julia saß noch immer, und<br />

ihre Hand hielt noch immer seine. Sie sank neben ihm nieder und legte ihren Kopf direkt an<br />

seine Schulter. „Er muss nur einen Satz sagen und du denkst schon wieder anders. Und auf<br />

mich würdest du niemals hören.“<br />

Sie schluchzte. Christoph wusste nicht was er sagen sollte. Ja, was sie sagte stimmte. Doch<br />

Thomas wusste eben immer was er sagen musste. Vermutlich musste er es sogar wissen, denn<br />

nur so konnte er sich auch selbst beruhigen.<br />

Doch warum wollte Julia Christoph beruhigen. Er mochte sie sehr, und sie ihn bestimmt auch,<br />

doch sie freute sich nicht, dass es ihm so schnell wieder besser ging. Tut es das? Geht es dir<br />

besser? Na?<br />

„Sei still“, sagte er zu der Stimme in seinem Kopf.<br />

„Was?“, schluchzte sie und nun schien sie kurz davor Christoph eine zu verpassen. Doch er<br />

hatte schon verstanden was sie hatte. Aber sie hatte nichts zum Wiedergutmachen. Als er ihr<br />

das Leben gerettet hatte, war es eher Nebenwirkung als bewusste Aktion gewesen.<br />

„Nicht du. Du brauchst nie still zu sein. Und ich bin froh, dass du’s nicht bist.“ Er schluckte.<br />

Jetzt hatte er plötzlich die richtigen Worte gefunden. „Ich hatte nur nicht gewusst, dass<br />

Rettungsanker sprechen können.“<br />

Sie machte ein Geräusch zwischen Kichern und Schlucken, legte ihren Kopf nun auf seine<br />

Brust und öffnete die Augen. Ihre blinden Augen, normalerweise ausdruckslos, durchbohrten<br />

ihn in ihrer Intensität. „Ich bin also dein Rettungsanker, hm?“<br />

„Nur du. Nicht Thomas. Nur du.“<br />

Sie legte ihre Hände auf sein noch immer feuchtes Gesicht und schob sich langsam ein wenig<br />

näher zu ihm. Bevor sie ihn küsste, sagte sie noch: „Aber ich kann doch viel mehr.“<br />

Es war bereits wieder später Nachmittag als Christoph die Augen öffnete. Judith stand in der<br />

Küche und rührte in einem kleinen Topf um. Vom Badezimmer konnte er das laute Plätschern<br />

der beschädigten Dusche hören. Er setzte sich auf und zog eine Hose näher.<br />

„Wie kann man nur in einer Küche leben?“ Judiths dunkel umrahmte Augen fixierten ihn<br />

finster, doch kurz darauf verzog sie den Mund in ein Grinsen. „Wobei die Gesellschaft die<br />

man so bekommt ja nicht mal so schlecht ist.“<br />

Natürlich. Julia. Christoph musste auch lächeln als er sich aufrichtete und ein T-Shirt über den<br />

Kopf zog. Verkehrt, aber es störte ihn kaum. Dann kamen auch die weniger erfreulichen Teile<br />

der nächsten Nacht zu ihm zurück. „Wo ist Thomas?“<br />

Judith schluckte. „Er war vorhin nicht da als ich gekommen bin. Und ihr beiden habt so süß<br />

ausgesehen ich wollte euch nicht wecken. Sie ist aber dann aufgewacht. Gutes Gehör, die<br />

Kleine.“<br />

„Hast du eine Ahnung wo er sein könnte?“<br />

„Du könntest vorher noch die Suppe probieren.“<br />

„Judith..“<br />

„Ist ja gut. Ja, ich glaube ich weiß wo er sein könnte.“<br />

„Stehst du schon den ganzen Tag hier?“, fragte Christoph als er neben Thomas trat und die<br />

drei Namen auf dem Grabstein ansah. Und die kleinen Bilder daneben. Eine junge Frau, noch<br />

keine dreißig, mit kurzen blonden Haaren und einem charmant schiefen Lächeln, das<br />

Christoph nun schon öfters bei Thomas gesehen hatte. Ein passender Mann, seine Haare<br />

dunkel, eine modische Brille saß auf seiner der Nase die er seinem Sohn vererbt hatte. Und<br />

- 37 -


ein kleines Mädchen, mit den blonden Haaren die sie mit ihrem Bruder und ihrer Mutter<br />

geteilt hatte.<br />

Thomas’ Familie.<br />

Sie waren alle tot. Alle am selben Tag gestorben. Als Thomas zu sprechen begann, rührte sich<br />

etwas in Christophs Brust, wie ein Tier, das kurz davor war, hervorzubrechen. Trotzdem blieb<br />

er still und hörte leise und kaum atmend zu.<br />

„Hier habe ich Thorsten, Judith und ihren Bruder Felix gefunden. Oder eher sie mich. Sie<br />

waren damals oft hier am Friedhof. Die Polizei kontrolliert hier selten ob sich irgendwo<br />

Jugendliche besaufen und die Wächter sind alt und faul. Ich bin genau hier gestanden. Genau<br />

so wie jetzt. Kein Regen, keine Sonne. Nur ein gewöhnlicher, bewölkter Herbsttag vor vier<br />

Jahren.<br />

„Du kennst Thorstens Geschichte. Und du kannst dir denken, dass Judith eine ähnliche hat.<br />

Und dein Mädchen hatte es auch nicht besser. Doch meine Familie war gesund. Es war das<br />

perfekte Kleinstadtleben.“<br />

Er lachte verbittert. Und schloss krampfhaft die Augen. Mit einer Mischung aus Mitleid und<br />

Verwunderung verfolgte Christoph den enormen Aufwand an Kraft, den das Öffnen der<br />

Augen den anderen kostete. „Doch ich wusste nie was mein Vater für dieses Leben getan hat.<br />

Er war in allen möglichen Scheiß verwickelt gewesen. Drogen. Schlägereien. Und dann war<br />

er ausgestiegen. Er war Kronzeuge bei der Verhandlung gegen seine früheren Kollegen.“<br />

Als er sich zu Christoph umdrehte, konnte dieser einmal mehr das Feuer in seinem Gesicht<br />

sehen. Die Reflexion schien Thomas zu schmerzen, doch er sah in ihr einen wichtigen Teil<br />

seines nächsten Schrittes. Egal wie viel Zeit er sich nahm, Christoph würde zuhören. Und<br />

hoffentlich verstehen.<br />

Judiths Stimme drang leise durch eine bereits vergangene Abendbrise an sein Ohr<br />

„Irgendwann, Christoph, wird er dir erzählen wie er zu dem geworden ist was er ist, und<br />

warum er das tut was er tut. Dann wirst du es verstehen.“<br />

„Du musst dir das Bild mal vor Augen halten! Mein Bruder und ich waren bereits auf der<br />

Welt. Meine Mama hatte ebenfalls bis zum Halse drinnen gesteckt, doch mein Vater hat sie<br />

und sich selbst aus der Schlinge der Justiz gezogen in dem er alle verraten hat, die ihm<br />

vertraut hatten. Er hatte ordentlich Geld an der Sache verdient und seine alten Freunde waren<br />

ins Gefängnis gewandert. Doch von der einen Schlinge, hatte er seinen Kopf nur in die<br />

nächste gehängt.<br />

„Sie kamen am helllichten Tag, erschossen Mama vor den Augen von mir und meiner kleinen<br />

Schwester. Sie schlugen uns mit den Gewehrkolben bis wir zu schreien aufhörten. Bei mir<br />

hieß das nur Ohnmacht.“ Er schluckte wieder und zeigte ohne sich umzudrehen direkt auf das<br />

Bild des kleinen Mädchens auf dem schlichten Grabstein. Er zielt ohne hinzusehen. Er<br />

braucht sich nicht mal konzentrieren. „Und meine Schwester starb. Als mein Vater heimkam<br />

erschossen sie auch ihn. Ende.“<br />

Ende. Ja. Christophs Gesichtsausdruck wurde hart. Das Tier in seiner Brust brach los und sah<br />

sich um. Es fand nur Kälte. Keine Hitze keine Wut. Ein wenig enttäuscht grub das Tier seine<br />

Krallen in Christophs Geist und schrie. Nach einer Weile hörte es auf und kletterte in seinen<br />

Käfig zurück. Es war auch nur ein Beobachter. Doch es würde nicht für immer einer bleiben.<br />

Dann glaubte er zu verstehen. Thomas’ Sinn für Gerechtigkeit, nur dadurch ausgelöst, dass<br />

sein Vater selbst einer der Menschen gewesen war, die Thomas jetzt hasste und jagte.<br />

Aber etwas fehlte noch. „Was ist mit deinem Bruder?“<br />

Thomas lächelte verbittert und senkte den Kopf. „Du bist gut. Ich habe ihn nur einmal<br />

erwähnt. Ich spreche nicht gern über ihn.“<br />

„Ich hatte in letzter Zeit einen Lehrer der mir gezeigt hat wie wichtig Kleinigkeiten sind. Und<br />

Blickwinkel auf selbige.“<br />

„Er ging zu der Zeit bereits auf ein Internat. Er war nicht da als es passierte.“ Thomas Stimme<br />

veränderte sich. Christoph hatte sie so erst zweimal gehört, einmal durch einen dicken Nebel<br />

- 38 -


aus Schmerz auf einem schlecht beleuchteten Teil der Fußgängerzone, das zweite Mal erst vor<br />

Kurzem, in einem Park. Es war die Stimme die Thomas nutzte wenn er mit seinen Feinden,<br />

seiner Beute, sprach. „Ich hasse ihn. Er hat uns verraten, genau so wie Papa alle verraten hat,<br />

die ihm vertraut haben. Er war nicht da als es passierte, er kam erst zwei Tage später heim<br />

und hielt sich für besonders pädagogisch. Erzählte mir wie alles gut werden würde. Wir hätten<br />

ja genug Geld für sein Internat und ein Jugendheim. Ich sagte ihm schon damals er könne<br />

mich am Arsch lecken. Er verschwand zurück ins Internat und dann zur Ausbildung zum<br />

Polizisten. Die dumme Sau. Er hatte mir gesagt, er würde als Polizist verhindern können, dass<br />

das was uns passierte jemand anderem passierte.<br />

„Seitdem hab ich ihn nicht mehr gesehen.“<br />

Das war sie also. Die ganze Geschichte. Thomas hasste Verrat nur aus Angst. Weil es von<br />

seinem Blickwinkel aus eine Art Familieneigenschaft war.<br />

Zum zweiten Mal an dem Tag wusste Christoph seltsamerweise, was er sagen sollte. „Du<br />

wirst uns niemals verraten. Nie.“<br />

„Doch. Ich weiß nur nicht wann.“<br />

„Nein. Du bist nicht dein Vater. Und schon gar nicht dein Bruder. Du hast eine andere<br />

Vorstellung von Gerechtigkeit wie sie. Für sie war Verrat nichts Schlimmes. Für dich ist er<br />

das einzige was dir wirklich Angst machen kann. Und du hast vor nichts Angst.“<br />

„Bist du bereit den Weg weiter zu gehen?“ Da war es wieder. Das Leuchten. Die Erzählstunde<br />

war vorbei. Es ging zurück zum Wesentlichen.<br />

Christoph dachte an das Bild des toten Mädchens und die nächtlichen Nachrichten. „Sie<br />

haben einen Krieg angefangen. Wir werden den Krieg zurück zu ihnen tragen. Von ihren<br />

Straßen durch ihre Häuser und wieder zurück.“<br />

„Und ich weiß wie.“<br />

In Helm brannte es oft. Meistens in den schlechteren Stadtteilen. Dementsprechend hätte die<br />

Feuerwehr eigentlich aus erfahrenen, guten, pflichtbewussten Menschen bestehen sollen.<br />

Doch in Helm waren Straßenschläger nur durch ein paar Lehrjahre von berufstätigen<br />

Erwachsenen entfernt.<br />

Darum bewegte sich auch keiner der sechs Feuerwehrmänner die im Bereitschaftsraum der<br />

Feuerwehrdienststelle Helm Drei gemütlich fern sahen und ein Bier nach dem anderen<br />

tranken als die Alarmglocke losging. Das Geräusch der Glocke war auch keineswegs so laut<br />

und schrill wie es hätte sein sollen. Jemand hatte mehrere Papiertüten darüber gestülpt um sie<br />

zu dämpfen. Die Telefonfrau, welche die Brandmeldung erfasst und die Glocke eingeschaltet<br />

hatte sah nur kurz auf. Sie hatte keine Lust ihren fetten Hintern zu heben um die anderen<br />

Träger fetter Hintern zur Arbeit zu schicken. So ging es jetzt schon mehrere Jahre. Einige<br />

Wohnungen und Häuser waren abgebrannt bis sich eine andere Truppe um die Feuer<br />

gekümmert hatte, doch bis jetzt hatten sie immer Ausreden gewusst. Sie war sich bewusst,<br />

dass das, was sie taten nicht in Ordnung war. Aber es war leichtes Geld, und vor allem<br />

Nachtschichtgehalt für praktisch keine Arbeitsleistung. Der Traum jedes Arbeitsuchenden.<br />

Die Konsequenzen ihres Handelns wurden ihr erst ein paar Augenblicke später bewusst, als<br />

die brennende Flasche durch das Loch im Boden flog, durch das sich die Männer nur noch<br />

selten zu Boden ließen. Als die Flasche am Boden auftraf spritzte sie Feuer und Scherben in<br />

alle Richtungen. Ein Sofa fing Feuer und auch der Teppich entzündete sich. Als eine zweite<br />

Flasche durch das Loch in den Raum flog waren die Männer schon aufgesprungen. Die dritte<br />

und die vierte Flasche gaben dem Raum jedoch den Rest. Sie langten nach den Feuerlöschern,<br />

doch mehrere Jahre Benutzung als Party-Gag hatten die Geräte geleert oder unbrauchbar<br />

gemacht. Die Telefonfrau schrie als eine der großen Äxte mit den rot bemalten Köpfen durch<br />

die einzige Tür des Raumes krachte. Beim zweiten Mal gab die Tür nach. Im Bogen stand ein<br />

junger Mann, sein Kopf war in sichtbar nasse Tücher gewickelt, auch seine Kleidung schien<br />

feucht zu sein. In einer Hand hielt er die große Axt, in der anderen einen Revolver.<br />

- 39 -


Die Axt drang wie in ein Messer durch eine reife Frucht in den breiten Hals des ersten<br />

unverantwortungslosen Feuermannes, während der Revolver zwei Mal krachte. Einer der<br />

anderen Männer und die Telefonfrau gingen zu Boden bevor die Leiche des ersten Mannes<br />

von dem Axtblatt glitt und mit einem vom Getöse der Flammen überdeckten Geräusch<br />

auftraf.<br />

Die Gestalt des jungen Mannes dampfte zischend als er durch die Flammen auf den nächsten<br />

Feuerwehrmann zuschritt. Der langsam, ohne es selbst wirklich zu merken, faul und schwach<br />

geworden war, hievte zur Abwehr den Feuerlöscher hoch, doch ein Hieb der Axt spaltete das<br />

brüchige Gerät. Die beiden Hälften fielen ihm auf den Kopf und nur mehr benommen spürte<br />

er die Hitze um ihn herum und nur ganz kurz die Hitze in seiner Brust.<br />

Der Revolver krachte noch drei Mal. Einer der danach noch verbliebenen zwei Männer hatte<br />

sich schon lange nicht mehr bewegt und Feuer gefangen. Lähmende Angst hatte ihn<br />

schließlich zu Boden gerissen und er schrie als das Feuer in umfing.<br />

Der letzte Mann klopfte ununterbrochen an sich herum und begann zu laufen. Obwohl dort<br />

die Quelle des Feuers und der Flammen war, war das Notfallloch im Boden seine einzige<br />

Chance zu entkommen.<br />

Die Axt flog durch den Raum und der Mann wurde in dem Moment an der Metallstange<br />

aufgespießt als er sich noch wunderte woher der junge Mann die Kraft nahm so eine Axt<br />

überhaupt zu werfen.<br />

Thomas flog durch das Loch. Er brannte an mehreren Stellen und die Tücher um seinen Kopf<br />

schienen nicht mehr sehr nass. Drei weitere, ähnlich vermummte Gestalten fingen ihn auf und<br />

wälzten ihn auf dem Boden hin und her bis das Feuer ausging.<br />

„Alles erledigt?“, fragte Christoph.<br />

„Alle, ja.“ Thomas zog sich die Tücher vom Kopf. „Verabscheuungswürdige Kreaturen. Aber<br />

jetzt schnell. Felix?“<br />

Die größte der Gestalten zog das Tuch mit den zwei Augenlöchern von ihrem Kopf und<br />

entblößte das Gesicht eines Jungen um die zwanzig. Er wäre sogar gut aussehend gewesen,<br />

doch drei tiefe Narben zogen sich über sein Gesicht wie übertrieben dargestellte<br />

Peitschenstriemen und schienen es irgendwie leicht verschoben zu haben. „Ich hab es schon<br />

aufgebrochen und kurzgeschlossen. Startbereit.“<br />

Thomas nickte und ging auf das Löschfahrzeug zu. Es war keines der großen<br />

Einsatzfahrzeuge der größeren Feuerwehrhäuser. Doch es hatte einen kleinen Turm mit einer,<br />

wie eine überdimensionale Spritzpistole aussehender, Hochdruckdüse. Und einem großen<br />

Tank. „Habt ihr auch das Wasser rausgepumpt. Ohne die Pumpen hier würde das eine<br />

Ewigkeit dauern.“<br />

„Haben wir.“<br />

„Dann lasst uns von hier verschwinden. Nicht mehr lang und die Decke gibt durch das Feuer<br />

nach. Dieses Gebäude ist so schlecht gegen Brand gesichert, dass es fast zum Lachen wäre.“<br />

Als Felix das Fahrzeug durch das Tor krachen ließ, brach hinter ihnen tatsächlich die Decke<br />

ein. Das Gebäude brannte lichterloh und Christoph konnte noch lange den Rauch gegen den<br />

bewölkten Nachthimmel sehen als sie mit rund hundert Stundenkilometern in Richtung Hafen<br />

brausten.<br />

Drei Tage waren vergangen seit eine Spezialeinheit der Polizei in so gut wie sämtliche<br />

Jugendheime Helms eingedrungen war, um sie nach Waffen und Drogen zu untersuchen, um<br />

die, so lautete es offiziell, aufkommenden Straßenkämpfe rivalisierender Jugendgruppen auf<br />

den Straßen Helms zu unterbinden.<br />

Bei den überfallartigen Durchsuchungen war ein junges Mädchen gestorben und viele<br />

Jugendliche und vor allem Kinder in der Panik und Aufregung verletzt worden. Jedes<br />

Polizeirevier in Helm war, seit zwei kleine Buben vor zwei Tagen im Krankenhaus ihren<br />

Verletzungen erlagen, von Demonstranten belagert worden.<br />

- 40 -


Das eigentliche Vorhaben der Polizei und ihrer stummen Dirigenten im Hintergrund, nämlich<br />

Verdächtige für die Morde der letzten Wochen zu finden, war gescheitert.<br />

Christoph konnte nicht anders und schmunzelte. Der Schock, vom Tod der beiden Jungen zu<br />

hören, saß ihm noch tief in den Knochen, doch er begrüßte dieses Gefühl so wie jedes andere.<br />

Ganz am Anfang, als er die erste Nacht, allein und verlassen in Thomas’ Küche nachgedacht<br />

hatte, hatte er beschlossen, keinerlei Gefühle mehr zu haben. Doch die Gefühlskälte war einer<br />

tiefen Entschlossenheit gewichen. Er spürte alles, von Zorn bis Zuneigung, die gesamte<br />

Gefühlspalette das Alphabet rauf und runter. Und er würde nicht brechen bis sie etwas<br />

geändert hatten. Und es würde nicht mehr lange dauern.<br />

Das Fahrzeug bog um eine Ecke in eine Seitengasse und Thorsten klopfte Christoph auf die<br />

Schulter die beiden stiegen aus und hievten das schwere Eisentor der Lagerhausgarage hoch.<br />

Als Felix durchmanövrierte sprang Thomas ab. Ruß und Schweiß waren auf seinem Gesicht<br />

getrocknet.<br />

Thorsten kicherte. „Verdammt, Thomas du siehst vielleicht scheiße aus, Junge.“<br />

„Danke, gleichfalls.“ Sie kicherten beide das Kichern von scherzenden Jugendlichen wie<br />

überall auf der Welt es andere Jugendliche auch taten. Nur dass sie keineswegs wie andere<br />

Jugendliche waren. Überhaupt nicht.<br />

Irgendwie müssen wir das alles ja auch kompensieren, dachte Christoph und grub in seiner<br />

Hosentasche nach einer Zigarette.<br />

Sascha Pattrick schüttete fast die Hälfte des Inhalts seiner Kaffeetasse aus als seine zittrigen<br />

Hände sie zu seinem Mund führten. Die verstümmelten und verbrannten Leichen der<br />

Feuerwehrmänner und der Frau saßen ihm in den Knochen. Im Magen nicht mehr. Dort saß<br />

gerade gar nichts mehr. Er zuckte zusammen als ein weiterer Stein gegen sein Bürofenster<br />

knallte. Noch ungefähr ein Dutzend und die Scheibe würde nachgeben. Aber nur die<br />

wenigsten der Demonstranten vor dem Polizeihauptquartier trauten sich mit Steinen zu<br />

werfen. Die Mehrheit beschränkte sich auf Gemüse und Dreck.<br />

„Noch.“, sagte Kevin Hunt als ob er Pattricks Blick und Gedanken lesen könnte.<br />

Pattrick knurrte nur etwas Unverständliches, dann blickte er den jungen Mann an. „Was will<br />

er mit dem verdammten Löschfahrzeug? Und was haben diese Feuerwehrmänner verbrochen,<br />

dass sie das verdient haben?“<br />

„Sie meinen weil der Revolvermann bis jetzt immer nur böse Menschen getötet hat?“ Das<br />

kaum zurückgehaltene, hämische Grinsen des jüngeren entnervte Pattrick als es vor seinem<br />

inneren Auge hin und her hüpfte. Diese durch nichts aus der Ruhe zu bringende, junge Fresse<br />

und seine verfluchte Arroganz.<br />

„Ja, das meine ich. Was sonst?“<br />

Hunt drehte sich kurz weg und holte etwas aus Pattricks Postfach. „Dazu habe ich Ihnen diese<br />

Unterlagen geschickt. Aufzeichnungen der Feuerwehr der letzten Jahre. Im Einflussgebiet der<br />

Dienststelle Drei sind in den letzten viereinhalb Jahren sieben verheerende Hausbrände nicht<br />

rechtzeitig unter Kontrolle gebracht worden, weil eine andere Feuerwehrtruppe eingreifen<br />

musste. Von der Leitung der Drei sind immer Entschuldigungen gekommen. Sie wurden nie<br />

verständigt, sie waren zu der Zeit auf einem anderen Einsatz gewesen, und so weiter.<br />

Außerdem hat die Dienststelle in diesem Jahr erst so viele verzeichnete Einsätze gehabt wie<br />

eine andere Stelle in einem Monat.“<br />

„Sie waren also faule, verantwortungslose Säcke. Ein Grund für das ganze Barbecue?“<br />

Ungewollt musste Pattrick über den dummen und makabren Wortwitz seinerseits lachen.<br />

Der junge Mann vor ihm reagierte nicht darauf. Nicht einmal ein Schmunzeln. „Bei den<br />

unverhinderten Bränden sind insgesamt zwölf Menschen gestorben.“ Er schüttelte ungläubig<br />

den Kopf. „Diese Männer hatten wirklich kein Gewissen. Jemand der so unverantwortlich ist<br />

kann kein Gewissen haben“<br />

- 41 -


„Tja, die Welt will nicht anders funktionieren, Hunt.“ Gleich nachdem er es gesagt hatte,<br />

klang es dumm. Wie ein belehrender Vater zu seinem jungen Sohn, der es in Wirklichkeit<br />

eigentlich besser wusste und nur deshalb nichts sagte, weil er genau wusste, wie sein Vater<br />

funktionierte.<br />

Pattrick konzentrierte sich. Durch die ewigen Demonstrationen vor dem Revier war er die<br />

letzten Tage nicht nach Hause gekommen und hatte kaum geschlafen. Es zermürbte ihn, und<br />

das Fehlen einer richtigen Arbeit machte es nicht besser. Er wünschte sich fast, wieder bei<br />

einer regulären Streife mitmachen zu können. Dann würde er wenigstens raus aus dem Revier<br />

kommen. Die mehrstündige Exkursion zur Dienststelle Drei hatte ihn zwar abgelenkt, aber<br />

nichts an seiner Lage gebessert.<br />

Er griff nach dem Päckchen Zigaretten. Er hatte eigentlich vor einigen Jahren mit dem<br />

Rauchen aufgehört doch seit gestern hatte er wieder begonnen und die Beruhigung und das<br />

alte Gefühle der inneren Ruhe waren schneller gekommen als er erwartet hatte.<br />

Als er den ersten Zug wieder ausblies wandte er sich wieder an Hunt. „Aber warum stiehlt er<br />

das Löschfahrzeug? Was will er damit?“<br />

„Sie.“<br />

„Was?“<br />

Hunt begann wieder sowohl mit dem Mund als auch mit den Händen zu sprechen. „Sie. Es<br />

waren mindestens zwei.“<br />

„Sie meinen die beiden Schützen mit denen wir es bis jetzt zu tun hatten?“<br />

„Genau. Vielleicht hatten sie noch einen oder zwei Helfer. Denn nur so hätten sie gleichzeitig<br />

den Brand legen, die Feuerwehrmänner und die Frau umbringen, und das Fahrzeug knacken<br />

und anstarten können. Einer allein hätte das nie so schnell geschafft.“<br />

„Aber wohin führt das ganze. Und was ist mit diesen ganzen Überfällen auf Supermärkte bei<br />

denen immer nur stark-alkoholische Getränke gestohlen wurden?“<br />

Das brachte nur ein ungläubiges Kopfschütteln des jüngeren Mannes. „Wie kommen Sie<br />

darauf, dass das in Zusammenhang dazu stehen könnte?“<br />

Der ältere dachte kurz darüber nach. Ja warum eigentlich? „Ich weiß nicht. Ich bin einfach<br />

müde.“<br />

„Schon gut. Das bin ich auch.“<br />

Ach ja? Nun, ich kümmere mich allerdings einen Dreck um deine Gefühle, Kleiner. „Ich<br />

werde jetzt nach Hause fahren, ob die mein Auto nun mit Kühen bewerfen oder mit Bäumen<br />

oder was weiß ich. Wiedersehen, Hunt.“<br />

„Auf Wiedersehen, Herr Pattrick.“<br />

Es gab kein Wiedersehen.<br />

„Ich wäre nie blind gewesen. Ich hätte für immer sehen können. Aber manchmal läuft das<br />

Leben eben nicht so.“<br />

Was Christoph anging, war dies nicht ihr letzter gemeinsamer Abend. Er wusste, was sie am<br />

nächsten Morgen machen würden. Er wusste wie lange Thomas, Christoph selbst und die<br />

anderen an dem Tag gearbeitet hatten. Die Wohnung war in den letzten Tagen wie ein<br />

Bienennest gewesen, ständig waren Leute aus der Lagerhalle hinein und hinausgerauscht. Am<br />

Abend des Vorfalls in den Jugendheimen hatte Thomas alle in der Halle am Hafen<br />

versammelten Jugendlichen auf die Straße geschickt um die aufkeimenden Demonstrationen<br />

vor den Polizeirevieren zu unterstützen. Christoph hatte es fasziniert wie schnell alle weg<br />

waren, ohne viel Gerede oder Nachfrage. Sie waren Gleichgesinnte, und sie verstanden<br />

worum es ging. In jeder einzelnen Zelle seines Körpers hatte Christoph da dieses Brodeln<br />

gespürt, und wieder hatte er gewusst, dass alles was sie taten einen Sinn hatte, dass sie etwas<br />

bewegen würden.<br />

Dann, als alle gegangen waren, und nur noch Christoph und Thorsten übrig waren, hatte<br />

Thomas ihnen gedeutet mitzukommen.<br />

- 42 -


Er hatte sie durch die engen Straßen des Hafenviertels zielstrebig geführt, bis zu einer großen<br />

Mülltonne hinter einer relativ gut instand gehaltenen Lagerhalle. Und durch die leere<br />

Mülltonne und das Loch in ihr waren sie in das Waffenlager eingedrungen. Die Frage, die<br />

sich am Rand von Christophs Gedanken seit dem ersten Betreten von Thomas’ Wohnung<br />

eingenistet hatte, nämlich wo der andere Junge die Waffen her hatte, war damit gelöst. Sie<br />

hatten einiges aus dem Lager geräumt und Thomas war für rund fünf Minuten verschwunden<br />

und dann wieder aufgetaucht, mit einem breiten Grinsen. „Nach uns bedient sich hier<br />

niemand.“, hatte er gesagt.<br />

Und jetzt, jetzt war Christoph in der Lagerhalle. In einigen Kisten in einer Ecke waren die<br />

Waffen gelagert die sie gestohlen hatten. Die Heizstrahler die um das einzige verbliebene<br />

Sofa standen wärmten ihn, und noch viel mehr wärmte ihn Julia die ihren Kopf in seinen<br />

Schoß gelegt hatte und mit geschlossenen Augen an die Decke blickte. Thomas und Judith<br />

waren vor ein paar Minuten verschwunden und als Felix in einer unbeleuchteten Ecke des<br />

Gebäudes ausgeraucht hatte, war auch er gegangen. Irgendwie, obwohl sie alle davon<br />

überzeugt waren, dass der nächste Tag zwar nicht sie, aber sie den nächsten Tag überleben<br />

würden, schien jeder von ihrer kleinen Gruppe einen kleinen Abschied zu brauchen. Von was<br />

auch immer.<br />

„Du meinst den Unfall bei dem du das Augenlicht verloren hast?“ Christoph hatte sie schon<br />

einmal danach gefragt, doch sie hatte ihm nicht antworten wollen und hatte nur etwas von<br />

einem Unfall gemurmelt.<br />

„Ein Autounfall. Der Autounfall.“ Tränen tropften durch ihre zusammengepressten Lider,<br />

doch als Christoph sie wegwischen wollte, berührte sie seine Hand kurz bevor diese ihre Haut<br />

berührte und hielt sie fest. Sie richtete sich auf, drehte sich zu Christoph und öffnete ihre<br />

Augen. Er sah nicht weg und erwiderte ihren Blick. Obwohl sie sie nicht benutzen konnte,<br />

und sich bemühte, ihre Augen geschlossen zu halten, hatte sich Christoph in diesen Augen<br />

verloren. Das milchige Grün war nur mehr eine Reflektion des früheren, vermutlich fast<br />

Giftgrünem. Und irgendwie sah er in ihren Augen eine Unendlichkeit, die in der Natur nie<br />

vorkam. Er verlor sich einmal mehr in ihrem Blick als sie weiterredete. „Ich kann mich nicht<br />

mehr genau daran erinnern. Sie waren jung, musst du wissen. Meine Mama hatte mich mit 13<br />

oder 14 bekommen.“<br />

„Wurde sie…?“, unterbrach Christoph doch weit kam er nicht.<br />

„Nein. Nein, sie hatte sich jung verliebt und hatte nicht aufgepasst. Doch ich kannte meinen<br />

leiblichen Vater kaum.“ Sie kicherte, und in ihr blitzte für eine Sekunde das kleine Mädchen<br />

auf, das sie gewesen war, bevor sie das Licht und sämtliche Sicherheiten im Leben verloren<br />

hatte. „Den Papa den ich kannten, der war ein wirklich witziger Typ. Ich kann mich nur an<br />

seine Stimme erinnern, nicht an sein Gesicht. Er redete immer ziemlich vulgär daher, was<br />

Mama immer total genervt hat.“ Alle Tränen waren ihrem Gesicht gewichen als sie sich die<br />

Erinnerung an ihre Eltern ins Gedächtnis zurückrief. „Dann hat er immer nur einen Satz<br />

gesagt und sie war nicht mehr böse. Sie waren ein gutes Paar. Und dann hab ich sie verloren.<br />

Irgendein besoffener, alter Idiot in einem Lieferwagen hat uns frontal gerammt. Wie genau<br />

alles passierte weiß ich nicht mehr.“<br />

Christoph formulierte seine Frage nicht so, dass es aussah als würde er sich für nichts anderes<br />

interessieren, sondern eher als ob er sie ablenken wollte. Was auch stimmte. „Was hat dein<br />

Papa immer gesagt damit sich deine Mama nicht aufregte?“<br />

Das verlorene Grinsen kam zurück. „‚Lass mich in Ruh,’ hat er immer gesagt, ‚Lass mich in<br />

Ruh mit deiner Herzscheiße.’“ Dann wurde sie wieder ernst. Sie schloss die Augen und lehnte<br />

ihren Kopf gegen Christophs Brust. „Sie kamen nach Helm um ihrem vorherigen Leben zu<br />

entkommen und ein wenig mehr Glück zu finden wie woanders. Und sie fanden nur den Tod.<br />

Ich will nicht, dass so was irgendjemandem anderen passiert.“<br />

„Wird es nicht. Niemals. Es wird alles besser werden.“<br />

„Wenn erst einmal alles brennt?“<br />

- 43 -


„Wenn erst einmal alles brennt.“<br />

- 44 -


An dieser Stelle eine weitere Anmerkung des Autors. Ich halte mich sonst mit solchen<br />

Anmerkungen zurück, ihrer gibt es auch nur zwei im gesamten Text von Angst vor Nacht.<br />

Aber vor dem nächsten, und letzten Kapitel dieser Geschichte habe ich ein wenig Angst. In<br />

der Zeit in der ich an diesem Text arbeite sind mir die Charaktere sehr ans Herz gewachsen.<br />

Ich möchte eigentlich gar nicht, dass ihre Geschichte aus ist. Denn das ist sie nach dem<br />

kommenden Ende. Nicht für alle. Aber ich möchte eigentlich nicht vorgreifen.<br />

Schon gar nicht jetzt, wo ich jeden Leser vor die Wahl stellen möchte, ganz so wie Stephen<br />

King im letzten Teil seiner „Der Dunkle Turm“ – Serie. Die Entscheidungsmöglichkeiten sind<br />

schnell aufgezählt.<br />

Wir könnten nun Christoph und seine neue Liebe Julia auf dem Sofa sitzen lassen, bis ans<br />

Ende aller Zeiten wartend auf den nächsten Tag.<br />

Viele Fragen bleiben hier natürlich ungelöst. Was passiert mit Helm und all den aufgewühlten<br />

und teilweise doch ein wenig verhaltensgestörten Jugendlichen der Stadt? Was passiert mit<br />

Sascha Pattrick und was für einen Zweck hat eigentlich Kevin Hunt? Der junge Mann, der<br />

scheinbar jeden Tathergang und fast jeden Schritt von Thomas und Christoph rekonstruieren<br />

kann?<br />

Für die neugierigen Leser unter euch, für die Nachfrager und für die, deren Wissensdurst<br />

nicht so einfach stillbar ist, für die, zu denen ich mich selber auch zähle, ist diese erste<br />

Möglichkeit des schlagartigen Endes selbstverständlich nicht akzeptabel.<br />

Die Fantasievollen unter den Lesern (ich schreibe den Begriff hier überall hoffnungsvoll im<br />

Plural) könnten jetzt also auch wieder zumachen und sich ihr Ende ausdenken. Alle<br />

wissensdurstigen blättern weiter und weiter und schlagen Seite um Seite dieses Buch aus und<br />

tot.<br />

Für alle hin- und her gerissenen nur soviel vorweg: für ein bisschen Fantasie ist auch am Ende<br />

Platz.<br />

Für alle jetzt erleichterten Neugierbatzen: Auch ein paar Fragen werden offen bleiben.<br />

Also mir wird die Entscheidung abgenommen, wär ja auch wirklich Arsch von mir euch hier<br />

an dieser Stelle allein zu lassen wo ich doch so viel versprochen habe.<br />

Also blättern wir ein Mal mehr um. Und dann vielleicht noch ein paar Mal, bis ans<br />

unausweichliche Ende vor dem ich mich, aus welchen Gründen auch immer, ein wenig<br />

fürchte.<br />

Wir sehen uns dann im Nachwort wieder.<br />

- 45 -


VIER: Ein neuer Tag bricht an.<br />

Mit all seinen Normalitäten. Müllmänner stehen auf und radeln in die Arbeit. Busfahrer und<br />

Straßenbahnführer setzen sich hinter ihre Lenkräder. Radiomoderatoren gehen zu Bett oder<br />

beginnen mit ihrem, von Melodien der Welt unterstütztem Monolog. Beamte erheben sich<br />

langsam und blinzeln in die aufgehende Sonne hinein, bereit, einen weiteren Tag lang ein<br />

Bindeglied der unendlichen Kette des Systemdschungels zu werden. Arbeiter hieven bereits<br />

schwere Lasten auf halb beladene Lkws, während die Fahrer sich im nahe gelegenen Motel<br />

aufs Ohr hauen. Die Straßen füllen sich langsam mit dem Morgenverkehr. Erste zaghafte<br />

Hupennutzer fühlen sich durch aufkommende Staus bekräftigt und legen erst richtig los. Die<br />

Gehsteige werden durch Geschäftsleute, Schüler, Bettler und den einen oder anderen<br />

Taschendieb belebt, während irgendwo unter einer Brücke ein Sprayer den Mut und die<br />

Geduld verliert und plant, sein Kunstwerk in der nächsten Nacht zu beenden. Mütter küssen<br />

ihre Kinder und scheuchen sie zur Bushaltestelle oder ins Auto.<br />

Der Sommer geht langsam in die letzte Runde, und dass merkt man auch. Es ist längst nicht<br />

mehr warm genug für kurze Hosen in der Früh und die Sonne braucht auch schon länger um<br />

richtig aufzuziehen und aufzuwärmen. Eine leichte Brise zieht durch die Stadt und weht leise<br />

raschelnd und unbeachtet alte Zeitungen über die Straße. Bald werden die Blätter anfangen<br />

sich zu verfärben und langsam werden sie abfallen. Dann wird es schneien und über der<br />

Asche, die von Helm übrig geblieben ist, wird sich eine feine weiße Schicht aus Schnee legen.<br />

Die letzten Brände werden schon lange gestillt sein, und einige Hoffnungsvolle werden<br />

wieder versuchen etwas in den verkrüppelten, entstellten Ruinen der Stadt aufzubauen.<br />

An diesem spätsommerlichen Morgen kurz vor acht Uhr explodiert das geheime Waffen- und<br />

Munitionslager der Bundeswehr am Hafen von Helm und reißt dabei fünf der nahe liegenden<br />

Lagerhäuser mit. In zwei davon lagern Brennstoffe und die plötzliche Entzündung löst einen<br />

Flächenbrand aus der sich auf weitere Lagerhallen ausdehnt. Bei den weiteren Explosionen<br />

und Entzündungen wird auch ein Lagerhaus mitgerissen, in dem sich nichts außer einem Sofa<br />

und drei Heizstrahlern befindet. Die früheren Benutzer und Bewohner der Halle hatten das<br />

Gebäude schon am Abend zuvor für immer zurück gelassen.<br />

Während die Flammen immer größere Teile des Hafengebietes verschlangen und die ersten<br />

ratlosen Feuerwehrmänner vor dem Inferno eintrafen, stiegen zwei Polizisten in ihr<br />

Einsatzfahrzeug um sich schnellstens auf den Weg zum Hafen zu machen. Die letzten Tagen<br />

hatten sie schon vergessen, doch kaum öffnete sich das automatische Garagentor und der<br />

Wagen kam ans Tageslicht, begannen schon die ersten Demonstranten die Ausfahrt zu<br />

blockieren.<br />

„Verdammte Nichtsnutze!“, knurrte einer der Polizisten. Er fragte sich ob vielleicht unter den<br />

Jugendlichen und fehlgeleiteten, erwachsenen Aktivisten die Person war, die ihnen den<br />

ganzen Ärger erst eingebracht hatte.<br />

„Als ob wir nichts anderes zu tun hätten als hier wie ein Eisbrecher durch die Massen zu<br />

pflügen. Schalt mal das Blaulicht an!“<br />

Und als die Sirene ansprang und das Blaulicht sich zu drehen begann erklang ein<br />

ohrenbetäubendes Rattern und Knallen. Projektile pfiffen durch die Autoscheiben und töteten<br />

die beiden Männer. Steine flogen aus der Menge gegen das Polizeirevier. Dann, in dem rasant<br />

lauter werdenden Getümmel, hörte man, genau so wie man das fiktive Eichhörnchen im Wald<br />

furzen hört, das leise Kratzen eines Benzinfeuerzeugs. Ein in Alkohol getunkter Fetzen geht<br />

in Flammen auf und eine Flasche segelt aus der Menge, gemeinsam mit mehreren Steinen und<br />

den immer weniger werdenden Lebensmitteln. Weitere Flaschen fliegen, und Steine. Keine<br />

Eier oder Tomaten, keine Schilder mit Protestmitteilungen. Das Feuer innerhalb des Gebäudes<br />

breitete sich aus und aus dem zweiten Stock stürzte ein Beamter im Morgenmantel. Schreiend<br />

versuchten weitere Männer und Frauen der Polizei ihr Revier zu verlassen. Doch alle die<br />

- 46 -


durch den einzigen Ausgang stürmen wurden von weiterem lauten Knallen und Rattern<br />

empfangen.<br />

Fast teilnahmslos erschienen die Augen der beiden Schützen, die einzigen Teile ihrer<br />

Gesichter, die nicht von dunklen Tüchern, die meisten in Blautönen gehalten, bedeckt<br />

wurden. Doch in Wirklichkeit war dort nur Effizienz. Einer von ihnen senkte sein Gewehr um<br />

noch einen Molotow-Cocktail nach dem Gebäude vor ihnen zu werfen. Dann sah er auf die<br />

Uhr. Es wurde Zeit wieder zu verschwinden.<br />

Felix holte aus und die letzte Flasche raste im weiten Bogen davon. Er schrie Christoph etwas<br />

Unverständliches zu und grinste wie ein Verrückter. Sie standen vor einem der vier<br />

Polizeireviere. Jeweils sieben von ihnen waren zu jedem Revier gezogen. Mit allen Waffen<br />

und Alkoholflaschen die sie tragen konnten. Doch nun war es genug. Die, bis auf einige<br />

wenige mutige Gemüsewerfer, bisher friedlichen Proteste vor den Stützpunkten der Polizei<br />

waren in wahre Angriffe ausgeartet.<br />

Ohne Mitleid blickte Christoph auf den Leichenhaufen zurück, den er selbst vor dem Revier<br />

aufgehäuft hatte. Alle diese Polizisten, keine Menschenleben, Polizisten, hatte sich ihren Tod<br />

selbst zuzuschreiben. Jahrelang hatten sie ein System unterstützt, das Helm zu dem gemacht<br />

hatte, was es an diesem Tag war. Ein Dreckloch.<br />

Aber ein brennendes Dreckloch ist es jetzt, dachte Christoph. Wie gesagt, wir tragen den<br />

Krieg auf ihre Straßen.<br />

Das einzige Polizeirevier, das unberührt von den Revolten geblieben war, war das<br />

Hauptquartier. Die ersten Meldungen trafen bereits ein, von brennenden Revieren, vom<br />

brennenden Hafen, und von riesigen Mengen von Demonstranten auf den Straßen. Die<br />

jeweiligen Feuer breiteten sich rasant aus.<br />

Sascha Pattrick, der wie ein Irrer von seinem Haus am Stadtrand ins Revier geeilt war, hatte<br />

sich bereits gewundert, weshalb alle Ampeln aus waren. Nun sah er es. Das<br />

Verkehrsregelungsbüro, ein zweistöckiges Gebäude in der Nähe eines Polizeireviers, gab es<br />

nicht mehr. Die Bilder von einer Amateurkamera waren fast gleichzeitig mit Pattrick<br />

eingetroffen und ungläubig besah er die Bilder. Sie waren von einem Hochhaus auf der<br />

gegenüberliegenden Straße geschossen worden, doch man erkannte nur all zu viele<br />

Einzelheiten. Aus der Menge vor dem Polizeirevier kamen Schüsse und neben Steinen flogen<br />

auch Flaschen gegen und durch die Fenster. Man merkte den Bildern die Hast und die Angst<br />

des Menschen an, der sie gemacht hatte. Die meisten waren verschwommen. Das Feuer<br />

breitete sich aus.<br />

Und dann, auf einem Bild, auf dem man sah, wie eine Polizistin, deren Haar und Rücken in<br />

Flammen standen, von einem Schuss in den Hals niedergestreckt wurde, sah Pattrick ihn. Es<br />

war ein junger Mann, dessen lange, blonde Haare durch die blauen Tücher um seinen Kopf<br />

kaum sichtbar waren. Er war groß und schlank und gekleidet in die üblichen Fetzen seiner<br />

Generation.<br />

Doch was Pattrick das Blut in den Adern gefrieren ließ, war die Waffe die er trug.<br />

Der Revolver.<br />

Der Revolver der in den letzten Wochen Pattricks Träume heimgesucht hatte. Hier, an diesem<br />

seltsamen Tag. Um ihn herum wuselte das Revier. Alle Telefone im gesamten Gebäude<br />

schienen zu läuten. Männer und Frauen schrieen. Pattrick stand still wie das Auge des<br />

Wirbelsturms und ließ langsam die Blätter mit den Fotos sinken und auf den Boden fallen.<br />

Das Klingen der Telefone fügte sich zu einem einheitlichen Klingeln zusammen, dass gegen<br />

die Innenseite von Pattricks Verstand vibrierte. All diese Morde. All diese Morde nur für das<br />

hier?<br />

- 47 -


Die Wand aus Hartplastikschildern schritt langsam im Gleichschritt auf den tobenden Mob zu.<br />

Links und Rechts von ihr erhoben sich Hochhäuser und begrenzten die sechsspurige<br />

Hauptstraße im Zentrum von Helm. Die Straße war erfüllt von den Schreien und dem Surren<br />

durch die Luft fliegender Pflastersteine. Mit einem Klappern traf ein Fahrradständer einige<br />

Meter vor der ersten Reihe der Polizeiformation auf.<br />

Dann, völlig unerwartet, liefen die Polizisten los. Mit Schlagstöcken schlugen sie auf die<br />

Menge ein und prügelten eine Schneise in die tobende Demonstration. Auch in ihren<br />

Gesichtern fand sich die teilnahmslose Effizienz von Menschen, die etwas tun, an dass sie<br />

glauben und bereit sind, alles dafür zu tun. Innerhalb weniger Stunden war die Stadt und alle<br />

Normalität für die sie ihr ganzes Leben gelebt hatten in Flammen aufgegangen. Nur durch die<br />

Bekämpfung der so schnell angewachsenen Anarchie auf den Straßen konnten sie noch retten<br />

was übrig blieb.<br />

Dann bog um die nächste Ecke hinter den Demonstranten ein mittelgroßes Löschfahrzeug der<br />

Feuerwehr.<br />

„Die Feuerwehr kommt!“, schrie irgendwo einer der Polizisten in das Mikrophon seines<br />

Funkgeräts. „Die haben heute eh noch keinen Finger gerührt.“, jubelte ein anderer.<br />

Als sie die Falschheit ihrer Aussagen erkannten, war es bereits zu spät. Über die Köpfe des<br />

Mobs hinweg bespritzte das mit blauer Farbe verschmierte Fahrzeug die Polizisten. Einige<br />

warf es um, doch der Strahl war weit nicht so stark wie er sein sollte. Und die bräunliche<br />

Flüssigkeit war kein Wasser.<br />

Die Demonstranten in der Nähe der Polizisten schienen wie auf ein unsichtbares Zeichen hin<br />

zurückzuweichen.<br />

Sämtliche Geräusche verklangen als ein Glasfenster ganz weit oben in einem der Hochhäuser<br />

zersplitterte und eine brennende Flasche gen Straße fiel.<br />

Einige der Polizisten, unter ihnen die Intelligentesten, konnten noch eins und eins<br />

zusammenzählen bevor der sie alle bedeckende und verbindende, hochprozentige Alkohol<br />

Feuer fing und sie alle gleichzeitig in Flammen aufgingen.<br />

Die Jugendlichen, gegen die sie vorher noch gekämpft hatten, standen in einigen Metern<br />

Entfernung, in manchen Gesichtern Entsetzen oder Tränen, in den meisten jedoch pures, und<br />

bedrückendes Nichts. Sie blieben dort stehen bis die Schreie verklangen.<br />

Dann gingen sie.<br />

Die Fahrer des Löschfahrzeuges, das seinen Tank aus gestohlenem Hochprozentigem geleert<br />

hatte, waren schon lange verschwunden.<br />

So sah Helm aus, als die Sonne unterging und den Vorhang für die letzte Nacht hob.<br />

„Da sind sie, deine hundertfünfzigtausend Jugendlichen, Thomas.“ Christoph zündete sich<br />

eine Zigarette an und blies langsam den Rauch aus. Sie standen auf dem Dach des<br />

Polizeihauptquartiers. Unter ihnen begannen schon aus den ersten Fenstern Flammen zu<br />

lecken.<br />

„Es war fast niemand mehr hier. Nur mehr ein paar dumme Loyalisten und der halb<br />

Wahnsinnige im dritten Stock.“<br />

An diesem Mann, genauer an Thomas’ Reaktion auf ihn, hatte Christoph etwas verwundert.<br />

„Wieso hast du ihn nicht erschossen? So wie die anderen?“<br />

„Ich hatte einfach das Gefühl, ihn zu kennen.“<br />

Die diversen Feuer der Stadt tauchten in allen Richtungen den Himmel in düsteres Flackern.<br />

Christoph nahm noch einen tiefen Zug, dann warf er die Zigarette weg. Sie landete einige<br />

Meter entfernt auf dem Dach. Er sah ihr nach. Dort, ein paar Kilometer in der Richtung<br />

bereiteten Judith und Julia ihre Rückkehr vor. Sie würden sich in ein Auto schmeißen und<br />

davon fahren. Irgendwohin weit weg, und sehen was die Zeit bringen würde. Und ob jemand<br />

ihrem Beispiel folgen würde.<br />

- 48 -


Nach Thomas’ Zeitplan würde die Stadt nicht mehr lange halten und noch vor dem nächsten<br />

Morgengrauen würde alles brennen. Die Regierung würde nichts weiter tun können als zu<br />

evakuieren und zuzusehen.<br />

„Oder sie rufen das Kriegsrecht aus.“, sagte Thomas. Zuerst glaubte Christoph, der andere<br />

Junge hatte nur in denselben Bahnen wie er gedacht, dann hörte auch er das gleichmäßige<br />

Geräusch der Helikopterrotoren. „Das ändert alles. Los komm, wir müssen was erledigen!“<br />

Christoph stürmte hinter Thomas die Feuerleiter hinunter als über ihnen vier Helikopter mit<br />

eingeschalteten Scheinwerfern vorbeizogen.<br />

Das gewohnte, sanfte Vibrieren des Helikopters unter seinen Füßen beruhigte ihn und half<br />

ihm sich zu konzentrieren. Unzählige Übungen und Kampfeinsätze hätten ihn auf die vor ihm<br />

liegende Aufgabe vorbereiten sollen, doch dass taten sie nicht. Er hatte noch nie für etwas<br />

gekämpft, an das er nicht glaubte, doch nun zwang man ihn dazu.<br />

Diese Jugendlichen, diese Kinder, auf die er feuern sollte, taten nichts anderes als zu schreien.<br />

Kleine Kinder, er hatte selber gerade zwei, taten dies auch. Manchmal unterdrückten sie ihre<br />

Schmerzen, doch irgendwann schrieen sie alle. Und wenn dieser Schrei mit Toben verbunden<br />

war, nun dann beruhigte man sie. Im Extremfall drohte man ihnen.<br />

Aber man verprügelte sie nicht ohne Warnung. Und schon gar nicht schoss man auf sie.<br />

Als er aus dem Helikopter sprang und das Feuer auf die versammelte Menge aus Jugendlichen<br />

eröffnete kam es ihm vor als schoss er auf seine eigenen Kinder. Ihre lachenden Gesichter<br />

flammten wie zwei stille Kerzen in einer Kirche vor seinem Blickfeld auf, als mehrere<br />

Jugendliche vor ihm das Feuer erwiderten.<br />

Die beiden Kerzen erloschen plötzlich. Monate, Jahre der Konditionierung durch brüllende<br />

Offiziere, Dreck, Hitze und Kälte machten ein leises Klick in seinem Gehirn und er<br />

verwandelte sich in die schießende Kampfmaschine, die er eigentlich schon immer gewesen<br />

war.<br />

Dann traf ihn ein Querschläger in den Magen. Er brüllte einen unverständlichen Urschrei und<br />

stürzte. Er wand sich, biss die Zähne zusammen und versuchte wieder aufzustehen.<br />

Dann traf ihn ein Schuss ins Gesicht. Die Nacht wurde zum Tag, dann wurde es furchtbar hell<br />

und genau so schnell wieder dunkel. Er hörte noch immer das Flackern von sehr nahen,<br />

großen Flammen. Er hörte noch immer das Rattern von Gewehren und das Knallen von<br />

anderen Kanonen und Pistolen. Doch er sah nichts mehr. Er öffnete die Augen. Und sah noch<br />

immer nichts.<br />

Schließlich begann er zu schreien.<br />

Irgendwann schrieen sie alle.<br />

Das Auto war gerade an einem brennenden Gefängnis vorbeigezogen, auf dessen<br />

Außenmauer mit Blut „Für Papa, von Thorsten“ geschrieben worden war. Am Boden vor der<br />

Mauer lag der noch immer ein wenig brennende kopflose und verkohlte Leichnam eines<br />

Mannes.<br />

„Er hat mich gebeten es tun zu dürfen. Sein Bedürfnis nach Rache war so stark.“ Thomas<br />

schüttelte den Kopf und gab noch mehr Gas. Die Straßen aus Helm hinaus in die Randgebiete<br />

waren seit mehreren Stunden verstopft und die meisten der dort im Stau steckenden Menschen<br />

hatten ihre Autos zurückgelassen. Die Dummen waren zurück in Richtung Zentrum gegangen<br />

um alles in ihren Wohnungen auszusitzen. Die Vernunftbegabteren unter ihnen waren so<br />

schnell sie konnten in irgendeine andere Richtung davongelaufen. Nur einige wenige waren<br />

im Auto geblieben.<br />

Thomas und Christoph fuhren auf einem aufgelassenen Bahndamm in Richtung eines großen<br />

Gebäudes direkt am Stadtrand. Die Schienen klapperten unter den langsam aufreißenden<br />

Reifen des gestohlenen Fahrzeugs, doch Thomas ließ nicht locker.<br />

„Ist das, ist das das Kraftwerk?“<br />

- 49 -


Thomas nickte nur, passte das Auto dem Lauf des Bahndammes an und konzentrierte sich erst<br />

dann wieder aufs Sprechen. „Das größte von drei. Aber wenn wir es in die Luft jagen dann<br />

sollte das Stromnetz zusammenbrechen. Dann wird nichts das Feuer aufhalten können.“<br />

„Und das Militär schlachtet alle auf den Straßen ab? Alle unsere Freunde?“<br />

Thomas kniff das Gesicht zusammen. „Sie alle kannten das Risiko. Sie alle waren bereit zu<br />

sterben.“<br />

„Das heißt doch nicht, dass sie das auch müssen, verdammte Scheiße! Wir können ihnen…“<br />

Dann verstummte er. Nein, das konnten sie nicht. Es war zu spät.<br />

„Wir können es nur mehr zu Ende bringen. Wenn wir nicht das Ziel erreichen sondern<br />

zurückeilen um ihnen zu helfen, dann wird ihr und unser Tod sinnlos und nicht mehr wie ein<br />

überdimensionales Feuerwerk gewesen sein.“<br />

Das Kraftwerk rückte näher.<br />

Als sie davor zum Stehen kamen stand da schon ein anderes Auto.<br />

Ein Polizeiauto. Niemand war in der Nähe zu sehen.<br />

„Ich gehe rein.“, sagte Thomas als er ein eckiges Objekt aus der Jackentasche zog. „Halte du<br />

Ausschau wo dieser Bulle ist.“<br />

„Vielleicht ist es mehr als einer.“<br />

„Nein. Es ist nur einer. Ich bin mir sicher.“ Thomas zückte seinen Revolver und stieß die<br />

Fahrertür auf.<br />

Auch Christoph stieg aus. In einer flüssigen Bewegung zog er die Maschinenpistole, die er<br />

gefunden hatte, als er Julia gerettet hatte. Bald würde er diese Waffe wegwerfen können, und<br />

dann würde alles vorbei sein. Er dachte wieder an Julia. Zwischen ihnen lag jetzt eine<br />

brennende, schlagartig vom Straßenkampf überzogene Großstadt, doch Thomas und er<br />

würden sich schon wieder zu ihr und Judith zurückschlagen. Und schließlich würde es vorbei<br />

sein.<br />

Fünf Minuten später, fünf Minuten in den Christoph nicht viel mehr getan hatte, als Ausschau<br />

zu halten, platzte die Eingangstür zum Bürobereich des Kraftwerks auf und Thomas schritt<br />

energischen Schrittes heraus.<br />

Obwohl sie mehrere Meter voneinander entfernt waren, konnte Christoph das alles<br />

umfangende Leuchten in den Augen seines Freundes sehen.<br />

Dann dessen breites Grinsen.<br />

Dann dessen erhobenen Revolver.<br />

Ein kurzer Schmerz zuckte in seinem Becken, dann fiel er um. Sein Körper war gelähmt und<br />

ein undefinierbarer Schmerz durchzuckte seine Beine. In seinem Sichtfeld sah er Thomas, die<br />

Waffe noch immer auf dieselbe Stelle gerichtet. Als ein weiteres Paar Beine sichtbar wurde,<br />

erkannte Christoph viel zu spät wo der verdammte Bulle gesteckt hatte. Er musste sich noch<br />

im Auto befunden haben, irgendwo hinter der Rückbank versteckt. Lautlos hatte er sich an<br />

Christoph angeschlichen und ihn mit irgendeinem kranken Trick lahm gelegt. Er spürte wie<br />

die Schmerzen ganz langsam wieder verschwanden und ein Kribbeln seinen Körper füllte,<br />

doch sonst spürte er nichts und er war gespannt wann er sich wieder bewegen konnte. Thomas<br />

hätte mich warnen können. Wieso hat er mich nicht gewarnt? Bevor diese Gedanken sich<br />

ausprägen konnten, begann Thomas laut und schallend zu lachen.<br />

Es war jedoch nicht das ein wenig kratzige, volle Lachen, oder dass spätpubertäre Kichern,<br />

dass er von seinem Freund gewohnt war. Es klang wie das Lachen eines Verrückten.<br />

„Hallo, Kevin.“, begrüßte Thomas den Polizisten und wich einige Meter zurück, sein<br />

leuchtendes Gesicht zu einer gierigen Fratze verzerrt.<br />

Der Polizist trat jedoch zur Gänze in Christophs Blickfeld. Es war ein junger Mann, mit<br />

ähnlicher Statur wie Thomas. Er steckte in der Uniform eines Kriminalbeamten und hielt eine<br />

Pistole in der linken Hand. „Hallo, Thomas.“ Er zögerte kurz, dann: „Nicht gerade das<br />

Familientreffen, dass ich mir vorgestellt habe.“<br />

“Nein?”, fragte ihn Thomas und lachte wieder. „Hast du nicht einmal damit gerechnet?“<br />

- 50 -


Christoph konnte seinen Mund nicht öffnen, und er wusste auch nicht, was er sagen sollte.<br />

War dies Thomas’ verhasster Bruder? Und was zur Hölle labern sie eigentlich da?<br />

„Natürlich ist es“, sagte Kevin, „genau das Familientreffen, dass du dir vorgestellt hast, nicht<br />

wahr, kleiner Bruder?“<br />

„NENN MICH NICHT SO!“, brüllte Thomas und er drückte zwei Mal ab. Die Schüsse<br />

verfehlten seinen Bruder als dieser sich zu Boden warf, rollte und hinter dem Auto in<br />

Deckung ging.<br />

Er erwiderte das Feuer nicht sondern sprach nur mit etwas lauterer Stimme, damit ihn sowohl<br />

Thomas als auch Christoph hören konnten. „All diese Leben nur um mich zu töten, Thomas?<br />

Ist das wirklich dein Ernst?“<br />

Christoph riss die Augen gegen erhebliche Schmerzen auf. Was? Wie konnte der Kerl nur so<br />

größenwahnsinnig sein.<br />

Thomas lachte wieder, als er hinter einem nahen, einst vermutlich dekorativ gemeinten<br />

Betonobjekt Deckung suchte. „Das meiste ist nur Beiwerk, das gebe ich gerne zu. Aber im<br />

Großen und Ganzen funktioniert mein Plan perfekt. Das Militär stürmt Helm und tötet alle,<br />

die meinen Namen kennen. Sie dringen in meine Wohnung ein und töten den Rest.“<br />

Vor Christophs geistigem Auge flammte die Wohnung auf. Ein Soldat trat die Tür auf.<br />

Dahinter stand Judith, in ihrer zierlichen Hand wirkte die Pistole wie schwarzer Humor. Drei<br />

Schüsse durchlöcherten ihre Brust und sie schrie noch ein letztes Mal bevor der Blutverlust<br />

sie das Bewusstsein verlieren ließ und sie starb. Die Soldaten hörten den anderen Schrei aus<br />

der Küche. Sie bogen um die Ecke und sahen dort das blinde Mädchen sitzen. Wenn der<br />

Blutrausch vergangen sein würde, würde der Soldat auf die Knie fallen, ihren sterbenden<br />

Körper halten und ihre letzten Worte hören, in denen sie ihm Trost spendete und ihn bat, ihr<br />

Andenken zu ehren und mit dem endlosen Blutvergießen aufzuhören. Doch in dem Moment<br />

als er sie sah war der Blutrausch noch nicht vergangen. Er erschoss sie.<br />

Christoph wollte aufschreien, doch er konnte nicht. Thomas hatte sie alle verraten.<br />

„Alle.“, sprach Kevin Hunt weiter. „Du hast alle verraten die an dich geglaubt hatten. Hast<br />

hunderttausende in den Tod geschickt nur um deinen Rachdurst zu befriedigen.“<br />

„NA UND?!“, Thomas schoss wieder und im Kopf zählte Christoph jetzt mit. Nur noch eine<br />

Kugel. Seine Kampflust war geweckt. Sollten sich die beiden Brüder nur ein wenig streiten.<br />

Sobald er sich wieder bewegen konnte, würde er sich auf Thomas stürzen und ihn in tausende<br />

Stücke reißen. Er hatte ihn verraten. All sein ritterliches Getue war nur Illusion gewesen.<br />

„War das wirklich-“, begann Kevin wieder doch sein Satz wurde durch ein gurgelndes<br />

Geräusch und das dumpfe Geräusch eines Faustschlags unterbrochen.<br />

Christoph zuckte zusammen, als der junge Mann über die Motorhaube flog und direkt vor ihm<br />

am Boden landete. Seine Nase schien gebrochen und Blut rannte sein Gesicht hinab.<br />

Thomas hatte sich um das Auto herum angeschlichen und seinen Bruder überrascht. Christoph<br />

konnte sich vorstellen wie der Junge jetzt auf der Motorhaube des Wagens stand, seine Augen<br />

leuchteten und ein hässliches Grinsen prangte auf seinem Gesicht.<br />

„Wenn du mich töten wolltest, dann hättest du es schon längst getan.“, sagte Kevin<br />

zuversichtlich.<br />

„Ach ja?“, fragte ihn Thomas und sein Revolver knallte ein letztes Mal.<br />

Kevin Hunts Gesicht explodierte und Blut bespritzte Christoph. Als ob ihn die rote Flüssigkeit<br />

reinwaschen würde, fühlte er wie Leben in seine schmerzenden, gelähmten Glieder fuhr. Er<br />

sprang auf, hechtete nach der Maschinenpistole und drehte sich um, alles so schnell er konnte.<br />

Thomas stand noch immer auf der Motorhaube. Er warf den Revolver mit dem leeren<br />

Magazin neben die Leiche seines Bruders und sprang von dem Auto. Er blickte kurz auf das<br />

letzte Mitglied seiner schon seit langem toten Familie, dann sah er Christoph an.<br />

Und das Leuchten war verschwunden. Er war nur mehr ein gewöhnlicher Junge um die<br />

achtzehn, mit dreckigen, langen blonden Haaren und zerfetzten Kleidern.<br />

Kein Krieger.<br />

- 51 -


Kein Anführer.<br />

Kein Revolutionär.<br />

Nur Thomas Hunt, ein Jugendlicher unter vielen.<br />

„Es fühlt sich nur halb so gut an wie ich dachte.“, sagte er.<br />

Christoph hatte gerade noch geglaubt, er müsse platzen. Doch die erbärmliche Gestalt vor der<br />

Mündung seiner Maschinenpistole war seine Wut nicht wert. Und schon gar nicht sein<br />

Mitleid. „Warum hast du das alles getan? Nur um ihn zu töten?“<br />

Thomas antwortete nicht. Er sah niedergeschlagen aus, und von dem verrückten Lachen war<br />

keine Spur mehr.<br />

„JUDITH HAT DICH GELIEBT!!“, schrie Christoph. Thomas’ unangebrachte Passivität<br />

machte ihn auf einmal tobender als irgendeine andere Reaktion es getan hätte. „ICH HABE<br />

DICH GELIEBT! UND DU HAST UNS VERRATEN!! UNS ALLE!“ Er schluchzte und<br />

Tränen füllten sein Gesicht. Er wischte sie weg und stierte Thomas an.<br />

Ihm fehlten einmal mehr die Worte. Was wollte er eigentlich noch? Thomas würde keine<br />

Reue zeigen. Thomas würde ihm nicht helfen aus dem Schlamassel herauszukommen.<br />

Thomas war gar nicht mehr wirklich da. Der Junge hatte sein inneres Feuer mit seinem<br />

eigenen Fleisch und Blut erstickt, und für ihn war es nun vorbei. Dann wiederholte er<br />

flüsternd die Worte seines Bruders: „Wenn du mich töten wolltest, hättest du es schon längst<br />

getan.“<br />

Christoph kämpfte seine Tränen zurück und zielte mit der Waffe. So ging es also vorbei.<br />

Dann runzelte er die Stirn.<br />

Nein!<br />

Nein, so fängt es gar nicht erst an!<br />

Er ließ die Waffe im selben Moment fallen als hinter ihm das Kraftwerk explodierte.<br />

Erstaunlich wie viel Überlegung in „kurz“ stecken kann.<br />

Er ließ das Kuvert mit dem Schlagring im selben Moment fallen, als hinter ihm die Tür<br />

aufgerissen wurde.<br />

„Also wirklich, Chris“, sagte eine bekannte Stimme, „Ich bin ja sonst immer recht geduldig,<br />

aber wer mich fünfzehn Minuten vor der Tür stehen lässt schuldet mir eine Erklärung.“<br />

Christoph drehte sich zu Sira um, ging auf sie zu und küsste sie. Ihre Lippen fühlten sich real<br />

an. Ihr Duft war real. Er ließ sie lange nicht los.<br />

Als sie sich wieder voneinander lösten, lagen sie auf seinem Bett. Sie lächelte und in<br />

Christoph explodierte ein Gefühl des Glücks.<br />

„Lass uns heute Nacht bei mir bleiben.“<br />

„Geht in Ordnung.“<br />

Draußen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, im schwachen Licht der Dämmerung kaum<br />

zu sehen, saß eine Gestalt mit einem weiten Kapuzenpullover auf einem nahen Baum und sah<br />

direkt durch das Fenster in das Zimmer.<br />

Unter der Kapuze schnaubte sie verächtlich und ließ sich zu Boden fallen. Gerade als sie auf<br />

die Straße lief schlitterte ein Wagen um die nächste Kurve. Der Fahrer hupte noch die über<br />

die Straße laufende Gestalt an doch er konnte nicht mehr bremsen.<br />

Mit einem verhältnismäßig leisen Knacks überfuhr er die Gestalt. Unter der Kapuze leuchtete<br />

es noch kurz, dann erlosch das Licht.<br />

Der Schmetterling hob ab, und unter seinen Schwingen veränderte sich die Welt während die<br />

Sonne unterging und die Nacht sich erhob.<br />

Schwitzend schreckte Sascha Pattrick aus seinem Traum hoch und wunderte sich über den<br />

Geruch nach Pistolenrauch in der Luft bis er erkannte, dass es nur ein Teil seines Traums war.<br />

- 52 -


Mit einem stillen Seufzen machte ein spätnachts arbeitender Beamter ein Kreuz an einem<br />

anderen Kästchen und bewilligte einen Antrag auf drei weitere Jahre Betreuung durch einen<br />

Sozialarbeiter für ein blindes Mädchen. Kevin Hunt fühlte sich an den juckenden Hals und<br />

eine Träne kullerte über seine Wange. Christoph öffnete noch einmal kurz die Augen. Er<br />

wunderte sich noch immer wie viel seiner Vision der Wahrheit entsprochen hatte, und wie<br />

viel seiner Fantasie entsprungen war. Denn er wusste, dass letzteres nicht alles war. Er war<br />

noch nie besonders fantasievoll gewesen.<br />

Wenn er bedachte, was seine Fantasie so hervorzubringen schien, war es vermutlich auch<br />

besser wenn er nie versuchen würde, fantasievoller zu werden.<br />

Neben ihm schloss auch Sira die Augen. Ihr Gesicht war von einem Lächeln umrahmt.<br />

In der Hoffnung von ihr, und nicht von jemandem anderen zu träumen, schloss Christoph die<br />

Augen.<br />

Der Moment war perfekt.<br />

Und irgendwo, an einem Ort, den niemand kennt, und an den wohl nie ein Mensch vordringen<br />

wird, beginnt jemand, ein Lied zu spielen…<br />

Ein Ende<br />

- 53 -


NACHWORT UND DANK<br />

Da bin ich wieder, und das war es auch. Diese Grundversion von Angst vor der Nacht soll<br />

eines zeigen: Revolution, mit dem falschen Hintergedanken ist nichts weiter als ein sinnloses<br />

Toben.<br />

Niemand kann wirklich etwas verändern. Die Extreme, die die Figuren in dieser Geschichte<br />

durchzuziehen versuchen, kann nie erfolgreich sein.<br />

Selbst wenn wir alles anzünden würden, mit der Hoffnung, dass die die überbleiben, es besser<br />

machen werden, und mit der Bereitschaft, alles noch einmal anzuzünden bis es irgendjemand<br />

besser macht, können wir nicht gewinnen.<br />

Doch, wie der Gründer Pfadfinder, Baden-Powell, in seinem Abschiedsbrief an die Pfadfinder<br />

sagte: „Versucht die Welt ein bisschen besser zurückzulassen, als ihr sie vorgefunden habt.“<br />

Und nur dass kann funktionieren.<br />

Danken möchte ich allen die Angst vor der Nacht bisher Probe gelesen haben. Stefan Mayer,<br />

Florian Holzner, Alexandra und Herbert Mann und allen anderen.<br />

Außerdem allen die es noch lesen werden und vielleicht irgendwann mal dafür bezahlen<br />

müssen.<br />

- 54 -<br />

Peter Mann, 30.12.2005, 23:45<br />

und aus @ .. @

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