Gerlafingen bricht in die Zukunft auf - ContentX
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PORTRÄT GERLAFINGEN<br />
Die Geme<strong>in</strong>de <strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong> besteht nicht nur aus schmucken Häuschen – <strong>die</strong> Dorfentwicklung wurde durch das Stahlwerk geprägt.<br />
<strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong> <strong>bricht</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Zukunft</strong> <strong>auf</strong><br />
Fast 200 Jahre lang prägte <strong>die</strong> Stahl<strong>in</strong>dustrie <strong>die</strong> Menschen <strong>in</strong> <strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong>. Inzwischen<br />
wagt <strong>die</strong> Geme<strong>in</strong>de den Aufbruch <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Zukunft</strong>. Der Ort geht dabei behutsam, aber beharrlich vor.<br />
<strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong> hat ke<strong>in</strong> Stahlwerk, es ist e<strong>in</strong>es.<br />
Das Leben <strong>in</strong> der 4900-Seelen-Geme<strong>in</strong>de<br />
verläuft noch immer im Rhythmus se<strong>in</strong>er<br />
Schmiedepressen und Walzstrassen. Aber<br />
auch der tausend Sattelschlepper, <strong>die</strong> täglich<br />
mitten durchs Dorf rattern. Peter Jordi hebt<br />
se<strong>in</strong>e Augenbrauen: «Ja, das Stahlwerk und<br />
<strong>die</strong> Gerlaf<strong>in</strong>ger s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Lebensgeme<strong>in</strong>schaft.<br />
Wir haben uns über Generationen h<strong>in</strong>weg ane<strong>in</strong>ander<br />
gewöhnt und das Stahlwerk hat <strong>die</strong><br />
Dorfentwicklung geprägt.» Der Geme<strong>in</strong>depräsident<br />
zeigt aus se<strong>in</strong>em Fenster <strong>auf</strong> e<strong>in</strong> anonymes<br />
Wohnblockquartier: Bald 200 Jahre<br />
Schwer<strong>in</strong>dustrie haben auch <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>sicht<br />
Spuren h<strong>in</strong>terlassen. Die wechselvolle<br />
Geschichte des Stahlwerks strahlt noch <strong>in</strong> vie-<br />
6<br />
le W<strong>in</strong>kel des Dorfes aus. Die Quartiere heissen<br />
«Transvaal», «Negerdorf», «Büntelistäg»<br />
oder «Mandschurei». Welchen Ursprung <strong>die</strong>se<br />
Namen haben, lässt sich teilweise nur vermuten.<br />
Als «Neger» kommen russgeschwärzte<br />
Arbeiter oder schwarze Gastarbeiter aus<br />
Frankreich <strong>in</strong> Frage. «Das ist heute nicht mehr<br />
von Belang. Das Stahlwerk ist e<strong>in</strong>fach wesentlicher<br />
Teil der Dorfidentität», kappt Peter<br />
Jordi das Thema.<br />
Der Geme<strong>in</strong>depräsident ist <strong>in</strong> <strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong><br />
geboren, lebt – mit der Ausnahme e<strong>in</strong>es<br />
18-monatigen Tess<strong>in</strong><strong>auf</strong>enthalts – seitdem <strong>in</strong><br />
<strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong> und wird dere<strong>in</strong>st wohl auch <strong>in</strong><br />
<strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong> beerdigt werden. «Stimmt. Ich<br />
b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>geborener und spüre es je länger,<br />
je mehr», schmunzelt er. Und erst noch e<strong>in</strong>er<br />
aus dem «Kult-Jahrgang 1954», so wie Roberto<br />
Zanetti, se<strong>in</strong> Primarschulkollege, Vorgänger<br />
als Geme<strong>in</strong>depräsident und heute Volkswirtschaftsdirektor<br />
des Kantons Solothurn.<br />
Peter Jordi macht ke<strong>in</strong>en Hehl daraus, bis<br />
<strong>in</strong> <strong>die</strong> Haarspitzen Beamter zu se<strong>in</strong>. In e<strong>in</strong>em<br />
Anwaltsbüro hat er se<strong>in</strong>erzeit e<strong>in</strong>e k<strong>auf</strong>männische<br />
Lehre gemacht. Se<strong>in</strong> erster Job führte<br />
ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Amtsschreiberei. Berufsbegleitend<br />
bildete er sich weiter und erwarb das solothurnische<br />
Notariatspatent. Beim Blick zurück<br />
entfährt ihm e<strong>in</strong> leichtes Strahlen:<br />
«Betreibungsamt, Grundbuchamt, Handelsregisteramt<br />
oder Erbschaftsamt – das kl<strong>in</strong>gt
alles knochentrocken. Ist es aber nicht: Hier<br />
nimmt man <strong>die</strong> Freuden und Leiden der<br />
Menschen handfest und zeitverzugslos wahr.<br />
Da herrscht <strong>in</strong> allen Ausprägungen pralles Leben»,<br />
erzählt Jordi. Im Jahr 1989 wählten ihn<br />
<strong>die</strong> Bürger <strong>in</strong> den Geme<strong>in</strong>derat. Lange Jahre<br />
war er auch Präsident der Primarschulkommission,<br />
was se<strong>in</strong>e Aff<strong>in</strong>ität zum Bildungswesen<br />
erklärt. Schon se<strong>in</strong> Vater war Mitglied<br />
des Rates gewesen, als gelernter Elektrome-<br />
Fotos: Mart<strong>in</strong> Jeker<br />
E<strong>in</strong>k<strong>auf</strong>smöglichkeiten und geselliges Beisammense<strong>in</strong>: <strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong> lebt!<br />
chaniker bei von Roll s<strong>in</strong>nigerweise Sozialdemokrat.<br />
Seit dem 1. Mai 2000 ist Peter<br />
Jordi Geme<strong>in</strong>depräsident. «Ich wurde nicht<br />
wegen me<strong>in</strong>er ‹Visionen› gewählt. Natürlich<br />
muss man sich auch über <strong>die</strong> <strong>Zukunft</strong> Gedanken<br />
machen, aber mir als Pragmatiker liegt<br />
<strong>die</strong> Aktualität halt näher als <strong>die</strong> Wolkenschieberei.<br />
Me<strong>in</strong> Job hat viel mit Praxis und<br />
Alltag zu tun», erklärt Jordi.<br />
E<strong>in</strong> Alltag, der dem Gerlaf<strong>in</strong>ger Geme<strong>in</strong>depräsidenten<br />
viele Aufgaben beschert. Sorgenfalten<br />
treibt ihm <strong>die</strong> Verkehrssituation <strong>auf</strong><br />
<strong>die</strong> Stirn. Täglich brettern rund tausend Sattelschlepper<br />
mitten durchs Dorf. «Auf <strong>die</strong> aktive<br />
Zeit bezogen, rauscht alle 20 Sekunden<br />
e<strong>in</strong> Sattelschlepper durch <strong>die</strong> Küche», rechnet<br />
Jordi bärbeissig vor. Als Sofortmassnahme<br />
entstehen zunächst drei so genannte E<strong>in</strong>fahrtsbremsen,<br />
<strong>die</strong> wenigstens <strong>die</strong> Geschw<strong>in</strong>digkeit<br />
der Brummis senken. Weitgehende<br />
Entlastung versprechen sich <strong>die</strong> Gerlaf<strong>in</strong>ger<br />
von e<strong>in</strong>er Umfahrungsstrasse. Sie steht derzeit<br />
beim Kanton <strong>in</strong> Planung.<br />
Nicht weniger delikat ist das Vorhaben der<br />
Ortsplanungsrevision. Im Kern beabsichtigen<br />
Geme<strong>in</strong>depräsident Peter Jordi:<br />
«Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>geborener<br />
und spüre es je länger, je mehr.»<br />
<strong>die</strong> Geme<strong>in</strong>deväter, bei Neubauten <strong>die</strong><br />
Anzahl der Geschosse und <strong>die</strong> Ausnutzungsziffer<br />
zu senken. Damit will man künftig<br />
e<strong>in</strong>e soziale Regulierung erreichen. «Erfahrungen<br />
mit Blockquartieren haben wir mittlerweile<br />
genügend gemacht», präzisiert Peter<br />
Jordi. Beabsichtigt ist auch e<strong>in</strong>e markante<br />
Vergrösserung der Gewerbezone <strong>in</strong> der Nähe<br />
der Autobahn, um <strong>in</strong> absehbarer Zeit neue<br />
Gewerbebetriebe anzusiedeln.<br />
Nach <strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>e solide Geme<strong>in</strong>schaft, aber<br />
nach aussen eher zögerlich im Bekenntnis,<br />
Gerlaf<strong>in</strong>ger zu se<strong>in</strong>: «Unser Ansehen von aussen<br />
muss moderner werden», wünscht Peter<br />
Jordi. Die Voraussetzungen hierzu s<strong>in</strong>d<br />
gut, denn <strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong> besetzt <strong>die</strong> Kultur-,<br />
Gastro-, Bildungs- und Sportszene weit über<br />
<strong>die</strong> Geme<strong>in</strong>degrenzen h<strong>in</strong>aus positiv. In der<br />
Kle<strong>in</strong>kunstszene ist <strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong> längst e<strong>in</strong><br />
Geheimtipp, <strong>die</strong> Informatik erobert <strong>die</strong> Volksschule,<br />
und im Sportbereich geben sich etliche<br />
Schweizer Meister <strong>die</strong> Kl<strong>in</strong>ke <strong>in</strong> <strong>die</strong> Hand.<br />
Immerh<strong>in</strong> kann nur nach aussen strahlen,<br />
was nach <strong>in</strong>nen ordentlich funktioniert.<br />
7
PORTRÄT GERLAFINGEN<br />
Peter Jordi setzt <strong>auf</strong> Qualität bei der kommunalen<br />
Dienstleistung und den Dialog mit<br />
dem Bürger. «Das Ansehen der Geme<strong>in</strong>de<br />
entsteht aus dem direkten Kontakt mit dem<br />
E<strong>in</strong>wohner», weiss er. Für <strong>die</strong> Geme<strong>in</strong>deverwaltung<br />
stehen Fairness, Offenheit und<br />
Gleichbehandlung aller Bürger im Zentrum.<br />
E<strong>in</strong> vorsichtiger Blick <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Zukunft</strong> stimmt<br />
den Geme<strong>in</strong>depräsidenten optimistisch. Er<br />
hofft <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>e Belebung des gewerblichen Arbeitsmarktes<br />
durch Neuansiedlungen <strong>in</strong> der<br />
vergrösserten Gewerbezone. Und wünscht<br />
sich e<strong>in</strong>e Milderung des Ausländerproblems.<br />
Mit knapp 40 Prozent erreicht <strong>die</strong> multikulturelle<br />
Ausstattung <strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong>s zuweilen<br />
Grenzen. Die Stahl<strong>in</strong>dustrie hat <strong>in</strong> ihrer Blütezeit<br />
viele Gastarbeiter <strong>in</strong>s Dorf gebracht. Sie<br />
gehören <strong>in</strong>zwischen <strong>in</strong> zweiter und dritter<br />
Generation zum Dorfleben. «Die Menschen<br />
nehmen <strong>die</strong>sen Sachverhalt recht gelassen.<br />
Leider betrachtet man das von aussen her<br />
noch etwas anders», analysiert Jordi vorsichtig.<br />
«Aber wir s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> allen Bereichen daran,<br />
durch konkrete Massnahmen zu beweisen,<br />
dass wir e<strong>in</strong> <strong>in</strong>novatives und <strong>in</strong>teressantes<br />
Dorf s<strong>in</strong>d.» Sagt es, verabschiedet sich und<br />
schw<strong>in</strong>gt sich <strong>auf</strong> se<strong>in</strong> Fahrrad. Mittags ist er<br />
bei se<strong>in</strong>er Frau und den beiden K<strong>in</strong>dern zu<br />
Hause; auch das ist e<strong>in</strong>e Lebensqualität, <strong>die</strong><br />
er zu schätzen weiss. Arm<strong>in</strong> Menzi<br />
8<br />
<strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong> <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>en Blick<br />
Höhe über Meer 462 m<br />
E<strong>in</strong>wohner 4900<br />
Arbeitsplätze 1430<br />
Unter Strom<br />
Jährlicher Strombedarf 20 Mio. kWh*<br />
Länge der Freileitungen 1000 m<br />
Leitungen unter der Erde 6270 m<br />
Trafostationen 11<br />
Unterstationen 1<br />
Stromzähler 2550<br />
*exkl. Stahl <strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong> AG<br />
<strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong> wird von der AEK direkt mit<br />
Strom versorgt. Das Niederspannungsnetz ist im<br />
Besitz der E<strong>in</strong>wohnergeme<strong>in</strong>de.<br />
Gut 500 Mitarbeitende f<strong>in</strong>den heute ihr Auskommen bei Stahl <strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong>.<br />
Von Roll – <strong>die</strong> Stahlkocher am Jurasüdfuss<br />
Die Stahl<strong>in</strong>dustrie im Kanton Solothurn<br />
gründet <strong>in</strong> der Dynastie der Aristokratenfamilie<br />
von Roll. Franz Peter Ludwig Leo<br />
Freiherr von Roll von Emmenholz gründete<br />
1804 <strong>in</strong> Mazendorf und Aedermannsdorf zunächst<br />
e<strong>in</strong>e Ste<strong>in</strong>gut- und Fayencenfabrik.<br />
Schon e<strong>in</strong>ige Jahre zuvor war oberhalb von<br />
Balsthal so genanntes Bohnerz gefunden<br />
worden, das man zu Eisen schmelzen kann.<br />
Ludwig von Roll nahm zunächst den Abbau<br />
und den Export des erzhaltigen Geste<strong>in</strong>s <strong>in</strong>s<br />
Visier. Er war nämlich überzeugt, dass das Solothurner<br />
Erz wegen Holzmangels nicht an<br />
Ort und Stelle geschmolzen werden könnte.<br />
E<strong>in</strong> voreiliger Schluss: Die hoch im Kurs stehende<br />
Holzflösserei <strong>auf</strong> der Aare führte dazu,<br />
dass von Roll <strong>in</strong> Nennigkofen e<strong>in</strong>e Köhlerei<br />
errichtete. Bis zu acht riesige Meiler verarbeiteten<br />
fortan Holz zu Holzkohle. Sie wurde mit<br />
Vierspännern über Solothurn nach <strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong><br />
und zum Hochofen Klus transportiert.<br />
Auf der Rückfahrt von Klus brachten <strong>die</strong><br />
Fuhrleute Roheisenmasseln zur Stabstahl-verarbeitung<br />
nach <strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong>.<br />
Im Jahr 1858 weihte <strong>die</strong> damalige Zentralbahn<br />
den oberen Hauenste<strong>in</strong>tunnel e<strong>in</strong>; elf<br />
Jahre später rollten <strong>die</strong> ersten Ste<strong>in</strong>kohlelieferungen<br />
aus dem Elsass über <strong>die</strong> Schiene<br />
nach Olten und dann per «Pferdebahn» <strong>in</strong>s<br />
Eisenwerk <strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong>. Das bedeutete das<br />
Ende für <strong>die</strong> <strong>auf</strong>wändige Holzkohleverhüttung;<br />
<strong>die</strong> Nennigkofer Holzmeiler wurden<br />
nach 40 Jahren e<strong>in</strong>geebnet.<br />
Von Roll baute <strong>in</strong> <strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong> im Jahr 1916<br />
das erste Stahlwerk. Zwei Jahre später wurde<br />
der erste und 1922 der zweite elektrisch betriebene<br />
Schmelzofen gebaut. Ab <strong>die</strong>sem<br />
Zeitpunkt produzierten <strong>die</strong> Gerlaf<strong>in</strong>ger hochwertigen<br />
«Elektrostahl». Dies, e<strong>in</strong>e atemberaubende<br />
<strong>in</strong>dustrielle Entwicklung der<br />
Region sowie das Aufkommen nützlicher<br />
Haushaltgeräte liessen den Stromabsatz der<br />
damaligen «Gesellschaft des Aare- und<br />
Emmenkanals» und heutigen AEK förmlich<br />
explo<strong>die</strong>ren: Zwischen 1921 und 1930<br />
verdreifachte sich der Stromverk<strong>auf</strong> nahezu<br />
und stellte sich bei 92 Millionen Kilowattstunden<br />
e<strong>in</strong>.<br />
Das Stahlwerk von Roll <strong>in</strong> <strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong> erlebte<br />
während des bewegten 20. Jahrhunderts<br />
viele Höhen und Tiefen. In der Blütezeit beschäftigte<br />
man mehr als 3500 Arbeiter. Die<br />
zunehmende Automatisierung und Rationalisierung<br />
führte <strong>in</strong>zwischen allerd<strong>in</strong>gs zu e<strong>in</strong>em<br />
massiven Rückgang der Arbeitsplätze.<br />
Heute f<strong>in</strong>den etwas mehr als 500 Mitarbeitende<br />
ihr Auskommen bei Stahl <strong>Gerlaf<strong>in</strong>gen</strong>.