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Gesamtausgabe DJ 2010 - Deutschland Journal

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<strong>Deutschland</strong>-<strong>Journal</strong><br />

<strong>2010</strong><br />

Staats- und Wirtschaftspolitische Gesellschaft e. V.


2<br />

Kleine swg-Reihe, Heft 80<br />

Blibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation<br />

in der Deutschen Nationalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

© <strong>2010</strong> by Staats- und Wirtschaftspolitische Gesellschaft e. V.<br />

Buchtstraße 4, 22087 Hamburg<br />

Geschäftsstelle: Postfach 26 18 27, 20508 Hamburg<br />

Telefon: 0 40 / 41 40 08 28, Telefax: 0 40 / 41 40 08 48<br />

E-Mail: geschaeftsstelle@swg-hamburg.de, Internet: www.swg-hamburg.de<br />

Bankverbindung: Postbank Hamburg (BLZ 200 100 20) Nr. 3396 14 - 200<br />

Redaktion: Prof. Dr. Menno Aden<br />

Druck: Rautenberg Druck GmbH, 26789 Leer<br />

ISSN 0944-324X<br />

ISBN 3-88527-105-2


Zu dieser Ausgabe des <strong>Deutschland</strong>-<strong>Journal</strong>s............................................................................................................................... 5<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

1. Verbotene Siege 1940 – Compiègne und Dünkirchen<br />

von Menno Aden ......................................................................................................................................................................... 7<br />

2. Deutsche Nachkriegsmedien und die Umerziehung der Deutschen<br />

von Ekkehard Zimmermann ................................................................................................................................................. 21<br />

3. Geschichte im Korsett des politischen Strafrechts<br />

Meinungsfreiheit im „freien Westen“<br />

von Günter Bertram ................................................................................................................................................................ 31<br />

4. Uwe Barschel – Richtigstellung eines Augenzeugen<br />

von Rainer U. Harms ................................................................................................................................................................ 41<br />

2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

1. Deutsche Entdecker – Richard Kandt<br />

und die Quellen des Nils ........................................................................................................................................................ 49<br />

2. Bedingt abwehrbereit<br />

von Reinhard Uhle-Wettler ................................................................................................................................................... 51<br />

3. <strong>Deutschland</strong> – das Land der Deutschen und der Türken?<br />

von Stefan Hug ......................................................................................................................................................................... 59<br />

3. Teil Geschichte<br />

1. Ihr Deutschen wollt wohl in allem die Größten sein – also auch bei Verbrechen<br />

N.N. ................................................................................................................................................................................................ 67<br />

2. Das blonde Kind - Aus dem Tagebuch des Bischofs von Oran<br />

aus der Zeit des Algerienkrieges ........................................................................................................................................ 68<br />

3. Der Geist des Warschauer Ghettos<br />

von Karl-Heinz Kuhlmann ....................................................................................................................................................... 69<br />

4. Eine Hinrichtung – A Hanging ............................................................................................................................................... 73<br />

5. Lust am Leidem anderer ......................................................................................................................................................... 75<br />

4. Teil Grundwerte<br />

1. Die unaufhaltsame Islamisierung Europas<br />

von Menno Aden ........................................................................................................................................................................ 77<br />

2. Wiedervereinigung der christlichen Kirchen?<br />

von Hinrich Bues ..........................................................................................................................................................................83<br />

3. Gewissen und Verantwortung<br />

von Lothar Groppe..................................................................................................................................................................... 85<br />

5. Teil Bücher ................................................................................................................................................................................... 93<br />

Zum Schluß ...................................................................................................................................................................................... 99<br />

Inhalt<br />

3


Zu dieser Ausgabe<br />

des <strong>Deutschland</strong>-<strong>Journal</strong>s<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

Heimkehret fernher aus den fernen Landen,<br />

in seiner Seele tief bewegt der Wanderer;<br />

Er legt von sich den Stab und knieet nieder,<br />

Und feuchtet deinen Schooß mit stillen Tränen,<br />

O deutsche Heimat! – Woll ihm nicht versagen<br />

Für viele Liebe nur die eine Bitte:<br />

Wann müd am Abend seine Augen sinken,<br />

auf deinem Grunde lass den Stein ihn fi nden,<br />

darunter er zum Schlaf sein Haupt verberge.<br />

Adalbert v. Chamisso<br />

(1781–1838)<br />

Chamisso schrieb dieses Gedicht im Oktober 1818,<br />

als er nach einer mehrere Jahre währenden Welt- und<br />

Entdeckungsreise auf einem russischen Schiff in Swinemünde<br />

wieder deutschen Boden betrat. Dieses Gedicht<br />

und seine Umstände regen uns an, unsere nationale Befi<br />

ndlichkeit unter drei Gesichtspunkten zu überprüfen.<br />

Erstens: Heimkehret fernher aus den fernen Landen<br />

Chamisso war von einer russischen Forschungsreise<br />

zurückgekommen, keiner deutschen. Der deutsche<br />

Beitrag zur Entdeckung und Eroberung der Welt war<br />

gering. Das Deckblatt dieser Ausgabe zeigt, wie vor<br />

Beginn der Weltkriege die Macht auf der Erde verteilt<br />

war. Es wird kaum jemals untersucht, welche mentalen<br />

Folgen es für <strong>Deutschland</strong> hatte und bis heute hat,<br />

daß wir an den Reichtümern der weiten Welt nicht<br />

teilhatten, welche unseren Nachbarvölkern aus ihren<br />

Untertanengebieten zufl ossen. Der höchst profi table<br />

Sklavenhandel begründete den Reichtum und damit<br />

die politische Bedeutung Englands. Es konnte daher die<br />

Söldnerheere bezahlen, die es ihm seit etwa 1700 ermöglichten,<br />

in und außerhalb Europas praktisch ununterbrochen<br />

Kriege zu führen. Deutsche hatten mangels<br />

eigener überseeischer Interessen kein Verständnis für<br />

Welt-Macht bzw. Welt-Politik. Diese deutsche Welt-Ferne<br />

und unsere politische Selbsteinschätzung haben sich<br />

aber infolge der deutschen Siege über England und<br />

Frankreich zum Besseren geändert. Darüber verhält<br />

sich der Hauptaufsatz dieses Heftes Verbotene Siege<br />

1940 – Compiègne und Dünkirchen.<br />

Die Tatsache, daß wir auch 70 Jahre später diese<br />

deutschen Siege nicht unverkrampft bewerten können,<br />

ist auch eine Folge der von den USA an uns Deutschen<br />

vollzogenen Umerziehung (re- education), welche Zimmermann<br />

behandelt.<br />

Zweitens: O deutsche Heimat! – Woll ihm nicht versagen/Für<br />

viele Liebe…<br />

Liebe für unser deutsches Vaterland? Wer hat sie –<br />

der jetzige Bundespräsident etwa? Wer von unseren<br />

Eliten? Diese Liebe wird uns heute nicht leicht gemacht!<br />

Wer bekundet, <strong>Deutschland</strong> zu lieben, wird, wenn der<br />

Betreff ende Bundespräsident Köhler ist, belächelt. Hat<br />

er keine so hohe Stellung, wird er, wie der Unterzeichner,<br />

wegen Volksverhetzung angezeigt, sobald er das<br />

Wort Patriotismus in den Mund nimmt. So geschehen<br />

in Potsdam, wo der Unterzeichner einen Vortrag über<br />

Deutschen Patriotismus im heutigen Europa 1 hielt. Alles<br />

ist erlaubt, wenn <strong>Deutschland</strong> geschmäht wird. Wer<br />

aber an Deutschen begangene Schandtaten zur Sprache<br />

bringen will, fi ndet in <strong>Deutschland</strong> kein Forum und<br />

keinen Verlag.<br />

Bertrams Beitrag Geschichte im Korsett des politischen<br />

Strafrechts zeigt, wie etwa ab 1969 gegen alle verfassungsrechtlichen<br />

Bedenken über den Volksverhetzungsparagraphen<br />

§ 130 StGB und die dazu ergehende<br />

Rechtsprechung ein Klima geschaff en wurde, welches<br />

die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in gewissen<br />

Bereichen aufhebt. Folgewirkung ist die Verfemung<br />

von Menschen, die sich den Mund nicht verbieten lassen<br />

wollen. Menschen werden regelrecht zerstört, nur<br />

weil sie von ihrem Recht zur freien Meinungsäußerung<br />

Gebrauch machten. Ein süddeutscher Juraprofessor<br />

wurde mit einem Disziplinarverfahren überzogen, weil<br />

er ein, inhaltlich übrigens nicht beanstandetes, Buch in<br />

einem angeblich „rechten“ Verlag veröff entlichte. Der<br />

Fall Sarrazin im September/Oktober <strong>2010</strong> ging für den<br />

Tabubrecher letztlich glimpfl ich aus, weil der lauteste<br />

ihm gemachte Vorwurf (Juden-Gen) ausgerechnet aus<br />

Israel entkräftet wurde. Die Feigheit ist der unzertrennliche<br />

Bruder der Politischen Korrektheit. Beide fi nden<br />

ihre Opfer auch im demokratischen Rechtsstaat, wie<br />

Harms im Fall Barschel darstellt.<br />

1 Unverändertes Vortragsmanuskript kann eingesehen werden<br />

unter: www.dresaden.de A IV Nr. 69<br />

Zu dieser Ausgabe des <strong>Deutschland</strong>-<strong>Journal</strong>s<br />

5


Zu dieser Ausgabe des <strong>Deutschland</strong>-<strong>Journal</strong>s<br />

6<br />

Drittens: Swinemünde<br />

Der Dichter betritt deutschen Boden in Swinemünde.<br />

Stettin und Umland wurden Monate nach dem<br />

Kriegsende ethnisch gesäubert. Allein aus Swinemünde<br />

wurden etwa 30.000 Menschen vertrieben, vergewaltigt<br />

und ermordet. Niemals ist ein Pole wegen solcher<br />

Gewalttaten vor ein Gericht gestellt worden. Der neue<br />

polnische Staatspräsident hat sich anläßlich seiner<br />

Vereidigung im August <strong>2010</strong> zu westlichen Werten<br />

bekannt. Dazu gehören Wahrheit und die Bereitschaft<br />

zur Wiedergutmachung. Davon ist weiterhin nicht die<br />

Rede. Im Gegenteil. Der gehässige Grundton aus Polen<br />

und der Tschechei scheint in demselben Maße zuzunehmen,<br />

wie wir unsere Demutsgesten gen Osten steigern.<br />

Der Verzicht auf ihren Sitz im Stiftungsrat für das<br />

Vertreibungsdenkmal hat Frau Steinbach (MdB) nicht<br />

genützt. Bartoschewski durfte sie weiter Blonde Bestie<br />

nennen, und niemand nahm Anstoß, aber ein wütender<br />

Protest wurde laut, als Frau Steinbach den Charakter<br />

Bartoschewskis in Zweifel zog. Es erweist sich immer<br />

wieder die uralte Wahrheit: Erlittenes Unrecht kann<br />

das Opfer dem Täter vergeben. Zugefügtes Unrecht aber<br />

verzeiht der Täter dem Opfer nie! Die Vertreiberstaaten<br />

werden es uns nie verzeihen, daß sie auf Jahrhunderte<br />

mit der Lüge leben müssen, Swinemünde sei polnisch,<br />

das Stadtbild von Eger tschechisch, das von Marburg/<br />

Drau slowenisch usw. Das müssen wir Deutschen endlich<br />

einmal lernen!<br />

2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

Der deutsche Beitrag zur Entdeckung der Welt war<br />

gering, aber ein Deutscher, Richard Kandt, hat eines der<br />

seit der Antike berühmtesten geographischen Rätsel<br />

gelöst und die Nilquellen entdeckt. Ein Auszug aus<br />

seinem Buch Caput Nili erinnert daran.<br />

Die Bundeswehr ist wohl die staatliche Einrichtung,<br />

die am häufi gsten von sogenannten Reformen<br />

heimgesucht wird. Die weitgehende Aufgabe der<br />

deutschen Souveränität im Lissabonvertrag (2009) mit<br />

der weitgehenden Zur-Verfügung-Stellung deutscher<br />

Souveränität fi ndet in der militärischen Selbstaufgabe<br />

unseres Staates ihre Fortsetzung. General a. D. Reinhard<br />

Uhle-Wettler, Timmendorfer Strand, befi ndet, daß wir<br />

nur noch Bedingt abwehrbereit sind.<br />

3. Teil Geschichte<br />

Im <strong>Deutschland</strong>-<strong>Journal</strong> 2009 wurden italienische<br />

Kriegsverbrechen in Äthiopien behandelt. Es ist eine<br />

immer öfter gestellte Frage, warum wir Deutschen<br />

so erpicht darauf sind, die NS-Verbrechen als weltgeschichtliche<br />

Singularität zu bezeichnen. Waren sie<br />

das wirklich, oder liegen psychologische Mechanismen<br />

zugrunde? Hierzu eine interessante Stimme aus<br />

Frankreich. Zudem einige Beispiele, welche belegen,<br />

dass die Neigung zu Verbrechen und Grausamkeit eine<br />

menschliche Eigenschaft ist.<br />

4. Teil Grundwerte<br />

Mit seinem Buch <strong>Deutschland</strong> schafft sich ab hat Th.<br />

Sarrazin eine dringend nötige Diskussion angestoßen.<br />

Unabhängig von völkischen Überlegungen steht die<br />

wohl viel einschneidendere Gefahr der Islamisierung<br />

<strong>Deutschland</strong>s und Europas vor unseren Augen. Die ist<br />

wie in dem Aufsatz Die unaufhaltsame Islamisierung<br />

Europas gezeigt wird, offenbar nicht mehr aufzuhalten.<br />

Ein Lösungsansatz zur Stärkung des Christentums wird<br />

dennoch zur Diskussion gestellt. Ein Beitrag von Groppe<br />

Gewissen und Verantwortung führt uns auf dahin zurück.<br />

5. Teil Bücher<br />

Wir stellen vier Bücher vor. Zwei davon sind SWG-<br />

Erzeugnisse. Das erste von H. Seubert betriff t die Zukunft<br />

des Bürgertums. Das zweite wird von der SWG mit<br />

herausgegeben und betriff t Fragen der <strong>2010</strong> bekannt<br />

gewordenen Fälle von sexuellem Mißbrauch. Das Buch<br />

von Kirsten Heisig ist bekannt – aber noch nicht bekannt<br />

genug. Es wird hier besprochen. Der Fall Hohmann – Ein<br />

deutscher Dreyfus ist in der 3. Aufl age erschienen, die<br />

von Friedrich – Wilhelm Siebeke verantwortet wurde.<br />

Man liest solche Dokumentationen über den Verfall<br />

der Meinungsfreiheit in <strong>Deutschland</strong> nicht gerne, aber<br />

man sollte.


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

Verbotene Siege 1940 –<br />

Compiègne und Dünkirchen<br />

von<br />

M. Aden<br />

I. Ausgangspunkt<br />

Der Jahrestag der deutschen Kapitulation am 8./9.<br />

Mai 1945 jährte sich <strong>2010</strong> zum 65. Male und führte zu<br />

umfangreichen Siegesgedenkfeiern in den Staaten<br />

unserer ehemaligen Feinde. Darüber wurde der 70.<br />

Jahrestag der deutschen Siege über Frankreich und<br />

England vergessen.<br />

Das NS-Regime werden wir, zumal mit der Kenntnis<br />

von heute, verwerfen. Die damals errungenen Siege<br />

müssen nicht gefeiert werden; das werden sie auch<br />

nicht. Anscheinend wurde ihrer aber gar nicht gedacht.<br />

<strong>Deutschland</strong>s politische Entwicklung in den letzten<br />

Jahrhunderten hat, wie folgend näher ausgeführt<br />

werden soll, unseren politischen Blick derartig verengt,<br />

daß wir über <strong>Deutschland</strong>, bestenfalls Europa, kaum<br />

hinausschauen können. Die beiden Weltkriege erscheinen<br />

uns daher nicht als Welt-kriege, sondern als eine<br />

Art deutscher Sondervorstellung auf der Bühne der<br />

Geschichte, mit der wir „durchgefallen“ sind. Wir können<br />

Verlauf des Krieges und sein Ende nur mit deutschen<br />

Augen sehen. Schon den asiatischen Krieg und die japanische<br />

Niederlage sehen wir nur durch einen fernen<br />

Schleier. Unter dem ausschließlichen Gesichtspunkt der<br />

deutschen Niederlage 1945 sind alle damals errungenen<br />

deutschen militärischen Erfolge mit den Worten E. v.<br />

Mansteins nur verlorene Siege.<br />

Das waren sie aber nicht. Es waren diese deutschen<br />

Siege über Frankreich und England, welche die 1648<br />

im Westfälischen Frieden an Frankreich und ab etwa<br />

1700 zusätzlich an England verlorene politische Selbst-<br />

bestimmung <strong>Deutschland</strong>s wiederherstellten und<br />

letztlich dazu führten, daß <strong>Deutschland</strong> heute eine<br />

seiner Bedeutung in der Weltpolitik entsprechende<br />

Rolle spielen kann. Es waren diese Siege, welche die<br />

Entkolonialisierung auslösten und die heutige multipolare<br />

Weltordnung herauff ührten. Diese Siege haben<br />

die Sowjetisierung Westeuropas verhindert und so<br />

den Boden für den Umschwung von 1990 mit vorbereitet.<br />

Das uns fast irritierende hohe Ansehen, welches<br />

<strong>Deutschland</strong> in den ehemaligen Untertanenländern<br />

Englands und Frankreichs genießt, ist im wesentlichen<br />

eine Fernwirkung dieser deutschen Siege, besser dieser<br />

englischen und französischen Niederlagen.<br />

Diese Siege waren also nicht verloren. Man wird sie<br />

eher verbotene Siege nennen, denn sie passen nicht in<br />

das offi ziell gepfl egte Geschichtsbild. Dieses wird weiterhin<br />

vom Selbstlob, insbesondere der Englischsprachigen,<br />

geprägt, durch ihren Sieg über das Monstrum Hitler<br />

die Welt gerettet zu haben. Politisch Korrekte werden<br />

daher vor allem daran Anstoß nehmen, daß sich aus<br />

den folgenden Überlegungen ergibt, Hitler habe dann<br />

doch auch Gutes gezeitigt. Das ist bei dem heutigen<br />

Meinungsklima in <strong>Deutschland</strong> für den Verfasser eines<br />

solchen Aufsatzes in der Tat gefährlich, und es nützt<br />

ihm wenig, wenn er hier und sonst bekundet, wie sehr<br />

ihm das NS-Regime als eine geschichtliche Schande<br />

unseres Vaterlandes erscheint. 2 Darauf kann man nur<br />

vertrauensvoll mit Augustinus antworten, daß Gott oft<br />

2 In Wikipedia sieht man z. B. unter dem Stichwort Menno Aden,<br />

mit welcher Akribie in den Schriften des Verfassers nach Spuren<br />

einer verbotenen Gesinnung gesucht wird.<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

7


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

8<br />

das Böse zuläßt, um Gutes hervorzubringen – oder wie<br />

Lessing sagt: Das Leid wird seinen guten Grund in dem<br />

ewigen unendlichen Zusammenhange aller Dinge haben.<br />

In diesem ist Weisheit und Güte, was uns in den wenigen<br />

Gliedern, ... blindes Geschick und Grausamkeit scheinet. 3<br />

II. Geschichtliche Voraussetzungen<br />

1. <strong>Deutschland</strong>, der bequeme Nachbar<br />

<strong>Deutschland</strong> war nach großen Anfängen unter Karl<br />

dem Großen, über Höhen wie unter Otto d. Großen<br />

und Friedrich Barbarossa, Niedergängen und Neuaufbrüchen<br />

tausend Jahre später um 1800 zur politischen<br />

Nichtigkeit herabgesunken. Es war ein harmloser, verschlafener<br />

Bär, der keine politischen Ansprüche stellte<br />

und sich wortlos alles gefallen ließ. Pufendorf schreibt<br />

1667, also nach dem Dreißigjährigen Krieg, über den Zustand<br />

<strong>Deutschland</strong>s: Die Größe und Stärke des Deutschen<br />

Reiches könnte, wenn es eine monarchische Verfassung<br />

hätte, für ganz Europa bedrohlich sein, aber es ist durch<br />

innere Krankheiten und Umwälzungen so geschwächt,<br />

daß es sich kaum selbst verteidigen kann. 4 Deutsche Eliten<br />

begleiteten <strong>Deutschland</strong>s Weg in die Kümmerlichkeit<br />

unbetroff en. Die völlige Zerstörung <strong>Deutschland</strong>s im<br />

Frieden von Lunéville (1801), als das gesamte linke<br />

Rheinufer, von Mainz bis Bonn und Aachen, an Frankreich<br />

abgetreten wurde, scheint nicht einmal bemerkt<br />

worden zu sein. Auch nicht von Friedrich Schiller, der<br />

unter den zeitgenössischen Dichtern patriotischen Gefühlen<br />

noch am ehesten Raum gab. Unserem Dichterfürsten<br />

Goethe fi el zu diesem Epochenereignis nur das<br />

Gedicht Hermann und Dorothea ein, welches die Flucht<br />

der überrheinischen Deutschen vor den wilden Franken<br />

zum Thema hat und in der Ermahnung an Hermann<br />

gipfelt, nicht zu den Waff en zu eilen, sondern mit seiner<br />

Dorothea brav Haus und Garten zu pfl egen.<br />

<strong>Deutschland</strong>s Nachbarn im Westen hatten um 1800<br />

die Welt entdeckt und erobert, und sein Nachbar im Osten,<br />

Rußland, hatte nicht nur die deutschgeprägten ehemaligen<br />

Ordenslande in Besitz genommen, sondern vor<br />

allem Sibirien bis zum Pazifi k unter russische Herrschaft<br />

gebracht. Plus Ultra – Weiter hinaus! war der Wappenspruch<br />

des spanischen Königs Karl I. gewesen. Amerika<br />

und die pazifi schen Inseln, und die noch ferneren nach<br />

seinem Sohn benannten Philippinen waren unter sein<br />

Zepter geraten. Als deutscher Kaiser Karl V. aber wurde<br />

er von der Reformation und den immer deutlicheren<br />

Teilinteressen der deutschen Fürsten zermürbt. Spanien<br />

schaute über die Ozeane, Magellan umfuhr die<br />

Welt, der deutsche Horizont aber blieb unverrückt. Er<br />

wurde sogar enger. Nur noch selten ging er bis an die<br />

3 Hamburgische Dramaturgie, zitiert nach: Reemtsma, Jan Ph.,<br />

Lessing in Hamburg, C.H. Beck München 2007, S. 66<br />

4 Pufendorf, Samuel, Die Verfassung des Deutschen Reiches (1667),<br />

Reclam Nr. 966 (3) § 7.<br />

Grenzen des Deutschen Reiches bzw. deutschen Kulturgebietes.<br />

Noch zur Zeit des Deutschen Bundes blieb er<br />

meist an den Grenzen des Fürstentums oder der Freien<br />

Stadt hängen. Für seine Nachbarn war <strong>Deutschland</strong><br />

das Land, durch welches der romantische Rhein fl oß.<br />

In Thackereys Roman Jahrmarkt der Eitelkeiten (Vanity<br />

Fair, 1848) triff t die englische Reisegruppe am Rhein auf<br />

ein harmloses Völkchen, wo auf der einen Seite der Adel<br />

sitzt und weint und Strümpfe strickt, und auf der anderen<br />

Seite die bürgerliche Welt; und seine Durchlaucht, der<br />

Herzog und die durchlauchte Familie, alles sehr dick und<br />

wohlwollend … (61. Kapitel). Mit ähnlichen Eindrücken<br />

hatte auch Victor Hugo um 1850 den Rhein bereist und<br />

in seinem Bericht Le Rhin festgehalten. Reiseberichte<br />

über <strong>Deutschland</strong> von Skandinaviern 5 und Russen 6 aus<br />

dieser Zeit lauten ähnlich.<br />

Das Bild spießiger Enge im fi ktiven Reichsmarktfl ecken<br />

Kuhschnappel, welches Jean Paul in dem um 1750<br />

spielenden Roman Siebenkäs zeichnet, ist zwar literarisch<br />

kostbar, aber unter politischen Gesichtspunkten<br />

für uns peinlich und beschämend. In derselben Zeit<br />

hatte England Frankreich aus Nordamerika und Indien<br />

geworfen und dort seine Herrschaft etabliert. Das geschah<br />

wesentlich mit deutschen Söldnern, die unter<br />

Umständen angeworben wurden, die schon damals als<br />

schändlich angesehen wurden. 7 England dirigierte ab<br />

1700 die europäischen Kriege, auch etwa den Siebenjährigen<br />

Krieg, und der große Preußenkönig Friedrich<br />

erscheint bei näherem Hinsehen fast als Marionette<br />

im englischen Spiel um das Gleichgewicht Europas.<br />

England konnte das auf Grund seines Reichtums, den<br />

es insbesondere als Marktführer des transatlantischen<br />

Sklavenhandels erworben hatte. Dieser Reichtum wurde<br />

dann durch den englischen Sieg über Frankreich im<br />

Siebenjährigen Krieg, in Indien der 3. Karnatische Krieg<br />

genannt, noch um die Schätze Indiens ergänzt.<br />

Als bei uns nach vielen Mühen der Zollverein gegründet<br />

wurde (1834), sah die Außenwelt wie folgt aus:<br />

England vollendete die Eroberung Indiens mit der Einverleibung<br />

Sindhs, des heutigen Pakistans; Frankreich<br />

eroberte Algerien und begann, es zu besiedeln. In China<br />

führte England die Opiumkriege (1840). Als Bismarck<br />

sich im Frankfurter Parlament mit partikularistischen<br />

Eitelkeiten abmühen mußte (1857), versuchten England<br />

und Frankreich, China in ihre Botmäßigkeit zu bringen 8 ,<br />

5 Vgl. Baggesen, Jens, Das Labyrinth – oder Reise durch <strong>Deutschland</strong><br />

in die Schweiz 1789<br />

6 Die Beschreibung seiner Reise von 1789 bis 1790 durch Europa<br />

von Nikolaus Karamsin (1766–1826)<br />

7 Authentisch Goethes Promemoria v. 30. 11. 1784 wg. niederländischer<br />

Werbungen im Herzogtum Sachsen- Weimar: Nr. 1: werden<br />

für jeden Mann jährlich 50 thlr ... gezahlt. Usw. Die Empörung<br />

darüber fi ndet literarischen Niederschlag z. B. bei Schiller, Kabale<br />

und Liebe 2. Akt. 2. Szene: ... Juche nach Amerika! Oder in C.D.<br />

Schubarts Kaplied betreff end von den Niederlanden für Südafrika<br />

angeworbener Söldner.<br />

8 In Tientsin, vor den Toren Pekings, hat der Verfasser noch die<br />

damals von Franzosen gebaute Kirche besichtigen können. Notre


Rußland eroberte Mittelasien und gründete am Pazifi k<br />

als Marinevorposten das heutige Wladiwostok. Als der<br />

Deutsche Bund sich aufraff te, Holstein vor dem dänischen<br />

Zugriff zu retten (1864), provozierte die junge<br />

USA einen Krieg mit Mexiko und nahm alles Land von<br />

Texas bis Kalifornien, wodurch sie ihr Gebiet auf einen<br />

Schlag um fast das Doppelte vergrößerte. Von allen<br />

deutschen Staaten, einschließlich Österreichs, hatte<br />

nur das militaristische Preußen sein Gebiet vergrößert.<br />

Es hatte nämlich 1853 dem Großherzog von Oldenburg<br />

das Jadegebiet (heutiges Wilhelmshaven) abgekauft.<br />

Die bedeutenden wissenschaftlichen Beiträge von<br />

Deutschen, insbesondere ab 1750, sind hier nicht zu behandeln.<br />

Sie mögen, was aber hier nicht auszuführen ist,<br />

allerdings das Gegenstück der politischen Verdumpfung<br />

<strong>Deutschland</strong>s sein. Wem der Weg in die Ferne versperrt<br />

ist, sucht die Ferne eben in der Tiefe seines Innern.<br />

2. Verteilte Welt<br />

Auch 1860 waren wir immer noch nicht aufgewacht.<br />

Deutsche Seefahrten fanden während all der Jahre auf<br />

der Opernbühne statt. 1843 wurde Wagners Der fl iegende<br />

Holländer uraufgeführt. Die wirklichen Holländer<br />

aber waren, wie die Engländer, in ihren Kolonien reich<br />

geworden, so reich, daß wir Deutschen wie der Handwerksbursche<br />

in Kannitverstaan von J. P. Hebel nur mit<br />

off enem Munde fragten, wie das möglich sei. Deutsche<br />

Eroberungen in Übersee gab es nicht. Die 1720 nach nur<br />

etwa 30 Jahren wieder aufgegebene brandenburgische<br />

Kolonie Groß Friedrichsburg im heutigen Ghana war<br />

der einzige Versuch und lud nicht zur Wiederholung<br />

solcher Abenteuer ein. Spätere Vorstöße in diese Richtung<br />

verschwanden in den Akten. 9 Die Welt war unter<br />

England und Frankreich weithin aufgeteilt. In Asien<br />

gab es kaum noch einen Fußbreit, der nicht der Interessensphäre<br />

einer dieser beiden zugerechnet wurde.<br />

Davon merkten wir Deutschen gar nichts. Wir schauten<br />

unbetroff en zu, wie das letzte deutsche Großreich, die<br />

vom Vorarlberg bis Lemberg, von (heute) Dubrovnik bis<br />

Krakau reichende Donaumonarchie unter den Nörgeleien<br />

der Ungarn der Aufl ösung entgegentrieb. Deutsche<br />

Politiker konnten niemals in den Kategorien denken,<br />

in welchen sich die Gedanken der transkontinentalen<br />

Imperien bewegten.<br />

Auch Bismarck konnte off enbar nicht in großen Räumen<br />

denken. Er hätte voraussehen müssen, auf welche<br />

Widerstände das neue Deutsche Reich im Kampf um<br />

seine europäische Selbstbehauptung stoßen würde,<br />

wie isoliert es sein würde, sobald es (mit seinen Worten)<br />

Dame des Victoires steht noch auf einer verwitterten Plakette<br />

zu lesen.<br />

9 Der spätere Held von Küstrin, Joachim Nettelbeck, der sich eine<br />

Zeitlang in holländischen Diensten als Sklavenhändler in Westafrika<br />

betätigt hatte, machte seinem König, Friedrich d. Großen,<br />

1786 einen solchen Vorschlag, der aber unbeachtet blieb. Vgl.<br />

Lebensbeschreibung des Seefahrers, Patrioten und Sklavenhändlers<br />

Joachim Nettelbeck, verlegt bei Greno 1987<br />

anfangen würde zu reiten. Er wußte aus den zahlreichen<br />

diplomatischen Feilschereien, wie wichtig Tauschobjekte<br />

waren, um die Interessen der Mächte auszugleichen<br />

und abzuwiegeln. Er selbst war darin ein Meister. 10 Da<br />

wir in Europa nichts zu vergeben hatten, wäre es von<br />

Bismarck vorausschauend gewesen, sich in Übersee<br />

Tauschobjekte zu besorgen. Frankreich hatte etwas<br />

anzubieten, als es ein Bündnis gegen <strong>Deutschland</strong><br />

suchte. Für den Verzicht auf seine Option im Sudan<br />

(Faschodakrise) bekam es die Entente Cordiale, aus<br />

welchem der Ring um <strong>Deutschland</strong> geschmiedet wurde,<br />

der 1914 platzte. Die späteren bettelnden deutschen<br />

Bündnisangebote an England unter Kaiser Wilhelm II.<br />

mußten schon deswegen scheitern, weil wir England<br />

nichts anzubieten hatten, wie Niall Ferguson bemerkt.<br />

Nicht <strong>Deutschland</strong>, sondern England war eigentlich der<br />

geborene Feind Frankreichs. Die deutsch-französische<br />

Feindschaft nach 1871 war im Grunde substanzlos und<br />

beruhte wesentlich auf dem Streit um Elsaß-Lothringen.<br />

Diese Feindschaft hätte vielleicht gegen England umgedreht<br />

werden können, wenn Preußen/<strong>Deutschland</strong> im<br />

Austausch gegen Straßburg Frankreich eine deutsche<br />

Besitzung in Südamerika, Südafrika oder sonstwo hätte<br />

anbieten können, oder besser noch, wenn umgekehrt<br />

<strong>Deutschland</strong> 1871 im Frankfurter Frieden statt sich<br />

Elsaß-Lothringen abtreten zu lassen, auf den Vorschlag<br />

eingegangen wäre, Französisch-Indochina zu nehmen.<br />

Bismarck konnte aber mit solchen Gedanken weder<br />

politisch noch mental etwas anfangen.<br />

Wie anders wäre die deutsche und somit die Weltgeschichte<br />

verlaufen, wenn Bismarck, anstatt sich<br />

mit den Nickeligkeiten der deutschen Kleinstaaterei<br />

herumzuschlagen, um 1860 Hawaii 11 und Polynesien 12 ,<br />

Neuseeland 13 , Ägypten 14 oder den ebenfalls noch freien<br />

späteren belgischen Kongo für Preußen erobert hätte.<br />

<strong>Deutschland</strong> hätte im europäischen und Weltkonzert<br />

eine völlig andere Rolle gespielt. Die deutsche Einheit<br />

war fällig. Sie wäre auch so gekommen. Bismarcks<br />

Diplomatie und Moltkes strategisches Genie waren im<br />

Grunde „Schüsse übers Grab“, nur (wenn auch gekonnt<br />

plazierte) Fangschüsse auf das getroffene Wild der<br />

deutschen Fürstenherrlichkeiten. Es ist heute nicht<br />

darüber zu rechten, ob solche Ausgriff e für Preußen/<br />

<strong>Deutschland</strong> im Ergebnis für <strong>Deutschland</strong> segensreich<br />

gewesen wären. Unrealistisch wäre es nicht gewesen.<br />

Die Niederlande konnten, wenn auch erst nach langem<br />

Kriege, noch 1900 die Rieseninsel Sumatra ihrem<br />

10 Vgl. die Art, wie er Napoleon III. das immer noch österreichische<br />

Norditalien versprach, um ihn aus der deutschen Innenpolitik<br />

herauszuhalten.<br />

11 Am 7. Juli 1898 durch die Vereinigten Staaten annektiert.<br />

12 Der Archipel fi el im März 1888 an Frankreich.<br />

13 Bis 1860 war englische Herrschaft kaum präsent, es herrschten<br />

anarchische Zustände.<br />

14 Der Bau des Suezkanals (1870) machte das Land derart von<br />

ausländischen Anleihen abhängig, daß die von Großbritannien<br />

und Frankreich eingerichtete Staatsschuldenverwaltung zur<br />

eigentlichen Regierung des Landes wurde. Zur Sicherung des<br />

Verbindungsweges nach Indien erwarb Großbritannien die<br />

ägyptischen Kanalaktien, besetzte 1882 das Land und machte<br />

es 1914 formell zum Protektorat.<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

9


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

10<br />

indonesischen Kolonialreich einverleiben. Selbst das<br />

unbedeutende Belgien konnte sich noch 1885 das<br />

gewaltige Kongobecken aneignen. Wenn Bismarck,<br />

der Gastgeber der Kongokonferenz (1884/85), darauf<br />

gedrungen hätte, wäre wohl uns diese reiche Kolonie<br />

zugefallen. Aber wir Deutschen wollten nicht. Wir<br />

konnten seit Martin Behaim (1490) zwar die Weltkugel<br />

abbilden und seit Gerhard Mercator (1512–94) maßstabgerechte<br />

Weltkarten zeichnen, wir konnten aber<br />

nicht im Weltmaßstab denken.<br />

III. Kampf um die Hegemonie in Europa<br />

1. Fremde Mächte in <strong>Deutschland</strong><br />

Nicht nur in der Welt, auch in Europa war <strong>Deutschland</strong><br />

abgeschlagen. Der größte Block in Mitteleuropa<br />

war bis 1870 Gegenstand, nicht Teilnehmer im Kampf<br />

um die Hegemonie in Mitteleuropa. <strong>Deutschland</strong>s<br />

Stellung um 1850 gegenüber den Mächten (Frankreich,<br />

England, Rußland und mit Einschränkungen Österreich)<br />

ähnelte der, in welcher sich China um 1900 gegenüber<br />

den Großmächten befand: Halb-kolonial. Ein machtloses<br />

politisches Gebilde, in welchem fremde Mächte<br />

unkontrollierbare Sonderrechte hatten. England<br />

besaß Hannover 15 und das 1807 eroberte Helgoland.<br />

Dänemark hatte Holstein und Lauenburg. Schweden,<br />

das sich im Westfälischen Frieden bedeutende Stücke<br />

Norddeutschlands genommen hatte, besaß immer<br />

noch gewisse Ansprüche auf Wismar. 16 Luxemburg, Teil<br />

des Deutschen Bundes, schien Frankreich zuzufallen.<br />

England hatte seit etwa 1700 im protestantischen<br />

<strong>Deutschland</strong> prägenden Einfluß ausgeübt. Dieser<br />

gründete sich politisch auf die Personalunion der<br />

englischen Könige mit Hannover. Nach deren Beendigung<br />

durch die Thronbesteigung von Königin Victoria<br />

(1830) 17 wurde dieser Einfl uß neu begründet durch die<br />

vom englischen Prinzgemahl Albert v. Sachsen-Coburg<br />

arrangierte Heirat seiner, der englischen Königstochter<br />

Victoria, mit dem preußischen Kronprinzen Friedrich,<br />

später Kaiser Friedrich III. Die zeitgenössischen Berichte<br />

über diese Heirat erinnern an das Bild eines etwas unbeholfenen<br />

Bräutigams, der „nach oben“ heiratet. Der Prinz<br />

aus dem armen Preußen wird von dem viel reicheren<br />

und vornehmeren englischen Königshaus als Schwiegersohn<br />

in Gnaden akzeptiert, freilich in der deutlich<br />

ausgesprochenen Erwartung 18 , daß er als künftiger<br />

preußischer König den englischen Forderungen ebenso<br />

geneigt sein werde, wie es Brandenburg-Preußen im-<br />

15 Eigentlich war es umgekehrt: Der Kurfürst von Hannover besaß<br />

die englische Krone.<br />

16 Förmlich wurde Wismar mit Umland erst 1903 wieder Teil <strong>Deutschland</strong>s.<br />

17 In Hannover war weibliche Erbfolge ausgeschlossen; in England<br />

seit jeher möglich.<br />

18 Vgl. Briefe des Prinzgemahls Albert an den preußischen König.<br />

mer gewesen war. 19 Mit Selbstverständlichkeit redeten<br />

Engländer in der Schleswig-Holstein-Frage mit und<br />

gaben uns im Londoner Protokoll v. 1852 auf, was zu<br />

geschehen habe. Bis heute scheint niemand zu fragen:<br />

Was ging sie das eigentlich an?<br />

Frankreich hatte sich unter Napoleon III. zu überraschender<br />

Höhe erhoben. Die deutschen Kleinstaaten<br />

nahmen daran Maß und suchten lieber dort Schutz vor<br />

Preußen und Österreich, als in diesen deutsche Brüder<br />

zu sehen. Frankreich griff wieder massiv in die querelles<br />

allemandes ein und wirkte, diese zu verstärken. Es<br />

konnte daran denken, das zu <strong>Deutschland</strong> gehörende<br />

Luxemburg zu annektieren, spielte mit dem Gedanken,<br />

sich Belgien zu nehmen, und die Rheingrenze – ja, die<br />

war sowieso das Ziel, welches auch Victor Hugo trotz<br />

grundsätzlicher Deutschfreundlichkeit in Le Rhin als<br />

natürliche Forderung Frankreichs ansieht. Dieses Ziel<br />

war wieder in erreichbare Nähe gerückt. Die französische<br />

Hegemonie auf dem Kontinent war im Grunde<br />

unangefochten.<br />

Zu Rußland bestanden nicht nur in Preußen, sondern<br />

in verschiedenen deutschen Kleinstaaten (Hessen, Oldenburg,<br />

Mecklenburg, Sachsen-Weimar, Württemberg)<br />

enge dynastische Beziehungen. Der mächtige russische<br />

Zar stand als Schatten hinter den Partikularinteressen<br />

seiner Vettern vor den eventuellen Übergriff en einer<br />

etwa entstehenden Zentralmacht wie Preußen. An sich<br />

war der Zar, als der reichere Verwandte, Preußen bis zum<br />

Krimkrieg wohlwollend verbunden. 20 Er erwartete freilich<br />

als Gegenleistung gewisse Freundschaftsdienste,<br />

die Bismarck allerdings als Vasallenpfl ichten empfand.<br />

Zar Alexander II. nahm es Preußen übel, nicht mit ihm<br />

in den Krimkrieg eingetreten zu sein, obwohl es darin<br />

nichts gewinnen konnte. 21<br />

2. <strong>Deutschland</strong> als Kulturstaat ohne Macht<br />

Die folgende Bemerkung aus dem Jahre 1942 von<br />

Vansittart, einem der Haupttreiber gegen <strong>Deutschland</strong><br />

unter Churchill, kann nur völliger Nichtkenntnis<br />

deutscher Verhältnisse zugeschrieben werden, denn<br />

nicht einmal böser Wille kann sich derartig vergreifen:<br />

Der Deutsche ... war immer der Barbar, der Bewunderer<br />

des Krieges, der Feind – heimlich oder off en – der Menschenfreundlichkeit,<br />

des Liberalismus und der christlichen<br />

Zivilisation; und das Hitler-Regime ist kein zufälliges Phänomen,<br />

sondern die logische Konsequenz der deutschen<br />

Geschichte, des Deutschen in excelsis. Vansittart muß<br />

19 Vgl. die Tagebücher des Bräutigams, des späteren Kaisers Friedrich<br />

III.; auch die von Botschafter Schweinitz, damals Friedrichs<br />

Adjutant.<br />

20 Vgl. Tagebücher v. Schlözer; Botschafter v. Schweinitz u. a.<br />

21 Das war eine ähnliche Konstellation wie 2003, als die USA erwarteten,<br />

daß <strong>Deutschland</strong> im Irakkrieg für amerikanische Interessen<br />

mitkämpfen würde. In beiden Fällen war die Folge eine nachhaltige<br />

Entfremdung, die durch Rhetorik überdeckt wurde. Was damals<br />

im Verhältnis Preußen/<strong>Deutschland</strong> zu Rußland die Beschwörung<br />

der dynastischen Verbundenheit war, ist heute im Verhältnis zur<br />

USA die ebenso hohle Berufung auf die sogenannte Atlantische<br />

Wertegemeinschaft.


sich in dem Volk, das er meinte, vertan haben. Niemals<br />

hat man von einem verantwortlichen Deutschen etwas<br />

von der Art gehört, wie es der fromme John Ruskin<br />

(1819–1900), der keinen Tag beschloß, ohne in der Bibel<br />

gelesen zu haben, 1865 zu englischen Kadetten ausgedrückt<br />

hatte: Nur im Schoße einer Nation von Kriegern<br />

sind jemals auf Erden große Künste erblüht. Große Kunst<br />

ist einem Volke nur möglich, wenn sie auf dem Schlachtfeld<br />

gegründet ist. Derselbe, in seinem Vaterland bis heute<br />

höchst angesehene Gelehrte, sagte 1870 in seiner Oxforder<br />

Antrittsrede: Das ist es, was England tun muß, oder<br />

es muß untergehen: es muß Kolonien gründen …es muß<br />

von jedem Stück freier fruchtbarer Erde … Besitz ergreifen<br />

und dann seine Kolonisten lehren, daß ihre Haupttugend<br />

in der Treue zu ihrem Lande besteht, und daß ihr erstes<br />

Streben sein muß, die Macht Englands zu fördern.<br />

<strong>Deutschland</strong> hätte vielleicht auch gerne so gesprochen,<br />

aber es hat nicht, und es konnte so auch nicht<br />

sprechen. 1861 beklagte Hermann Schulze-Delitzsch,<br />

der Mitbegründer des Genossenschaftsgedankens,<br />

in einer Wahlrede zum Preußischen Landtag, daß<br />

<strong>Deutschland</strong> trotz seiner kulturellen Höhe politisch so<br />

völlig unbedeutend sei. Ein Jahr später, 1862, notierte<br />

am fast entgegengesetzten Ende des politischen Meinungsspektrums<br />

der spätere deutsche Reichskanzler<br />

Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst in ganz ähnlicher<br />

Weise: 22<br />

Es gibt philosophische Sozialpolitiker, die sagen: die<br />

Deutschen sind ein Kulturvolk, weniger berufen zum<br />

Eingreifen in die äußeren Geschicke der Welt als zur<br />

Pfl ege der geistigen Entwicklung und zur Lösung der<br />

großen Fragen der Menschheit. Wer sich damit tröstet,<br />

dem wünschen wir die Resignation der Juden … Zu<br />

dieser Resignation haben wir es noch nicht gebracht. Wir<br />

glauben, daß das deutsche Volk noch nicht so tief gesunken<br />

ist, um sich mit dem Bewußtsein, ein Kulturvolk zu<br />

heißen, über seine politische Machtlosigkeit zu trösten.<br />

In diesem Jahre eroberte Frankreich Indochina, und<br />

in <strong>Deutschland</strong> passierte immer noch nichts. Nur daß<br />

Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten berufen<br />

(23. Sept. 1862) wurde.<br />

IV. Deutsches Reich<br />

als der Neue in der Klasse<br />

Am 18. Januar 1871 war <strong>Deutschland</strong> plötzlich da.<br />

In den zeitnahen diplomatischen Berichten fällt auf,<br />

daß die Wiederbegründung des Deutschen Reiches<br />

anfangs kaum Aufmerksamkeit fand. Berichte von<br />

Botschaftern aus den Tagen um und nach dem 18.<br />

Januar 1871 erwähnen die Reichsgründung gar nicht<br />

oder nur beiläufi g. In Wien hatte man sich damit seit<br />

1866 abgefunden. In Frankreich hatte man ohnehin<br />

andere Sorgen, u. a. tobte der mörderische Bürgerkrieg<br />

22 Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe- Schillingsfürst,<br />

1. Band, Deutsche Verlagsanstalt 1907<br />

in Paris (Pariser Kommune), und auch in London wußte<br />

man off enbar auch nicht so recht, was dieses neue<br />

deutsche Kaisertum zu bedeuten habe. Anscheinend<br />

war aber nicht einmal uns Deutschen bewußt, was da<br />

eigentlich vorgegangen war. In privaten Äußerungen<br />

fi ndet dieses Ereignis auch keinen rechten Niederschlag.<br />

Beispiel sei Theodor Fontane, der Vaterlandsfreund und<br />

Preuße schlechthin. In dem viele kleine und größere Begebenheiten<br />

behandelnden Briefwechsel mit Mathilde<br />

v. Rohr 23 schreibt Fontane am 15. 12. 1870 zwar vom<br />

Kriege, u. a. von der baldigen Capitulation von Paris. Sein<br />

nächster Brief v. 14. März 1871, keine zwei Monate nach<br />

der Reichsgründung, betriff t nur persönliche Fragen.<br />

Auch die weiteren Briefe dieses Jahres nehmen keinen<br />

Bezug auf die Reichsgründung. Ebenso im Briefwechsel<br />

mit seiner Schwester. Am 23. Dezember 1870 schreibt<br />

er u. a. von Kriegsereignissen. Der nächstfolgende Brief<br />

v. 2. März 1871 handelt aber nur von privaten Fragen.<br />

Die folgenden Briefe dieses Jahres nehmen zwar auf<br />

den Kriegsverlauf in Frankreich Bezug, aber von der<br />

Reichsgründung ist keine Rede.<br />

Ein Vergleich mit China heute bietet sich an. Die<br />

romantisierende Befassung im Westen mit China und<br />

seiner Jahrtausende alten Kultur wurde zum Staunen,<br />

dann Bewunderung, und schlug letzthin (unter Anleitung<br />

der englischsprachigen Presse) in immer lautere<br />

Verdächtigungen um. 24 Chinas militärischer Aufbau<br />

wird beargwöhnt, obwohl es noch weit entfernt ist, an<br />

die militärische Macht der USA heranzureichen. China,<br />

das in seiner langen Geschichte praktisch niemals einen<br />

Eroberungskrieg 25 geführt hat, wird plötzlich von den<br />

Mächten, die in ihrer sehr viel kürzeren Geschichte sich<br />

hauptsächlich mit Eroberungskriegen beschäftigt haben,<br />

verdächtigt, solche zu planen, und was man selber<br />

in Afrika in zügelloser Weise getan hat, wirft man heute<br />

China vor, nämlich zu versuchen, es zu kolonisieren.<br />

So ähnlich widerfuhr es uns nach 1871. Das neue<br />

Deutsche Reich hatte sich über Nacht aus dem politischen<br />

Nichts erhoben. In kürzester Zeit war aus der nichtigen<br />

deutschen Kleinstaaterei ein höchst dynamischer<br />

Staat geworden. Die Überraschung war groß. Erst nahm<br />

man gar nicht wahr, dass es uns wieder gab. Dann aber<br />

schlug die herablassende, romantisierende Zuneigung,<br />

welche <strong>Deutschland</strong> bis dahin bei seinen Nachbarn genossen<br />

hatte, um. Der damalige Oppositionsführer und<br />

spätere englische Premierminister Disraeli erkannte in<br />

der Gründung des 2. Deutschen Reiches bald ein größeres<br />

politisches Ereignis als die Französische Revolution….<br />

Wir haben eine neue Welt. Das Gleichgewicht der Macht<br />

ist völlig zerstört worden und das Land, das am meisten<br />

darunter leidet und das die Auswirkungen dieses großen<br />

23 Theodor Fontane, Briefe, Berlin, Propyläen Verlag<br />

24 Die objektiv wohl berechtigten westlichen Klagen über fehlenden<br />

Schutz der Menschenrechte in China übersehen oder wollen<br />

übersehen, daß diese im heutigen China um ein Vielfaches besser<br />

geschützt werden als jemals zuvor in der chinesischen Geschichte.<br />

25 Die Eroberung von Tibet mag die Ausnahme sein. Aber Tibet verhält<br />

sich zu China etwa so wie Irland zu England oder das Elsass<br />

zu Frankreich.<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

11


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

12<br />

Wandels am meisten spürt, ist England. 26 Das Deutsche<br />

Reich wurde bei den bisherigen Mächten sofort ebenso<br />

beliebt, wie China heute. So beliebt, wie es ein Neuling<br />

in der Klasse immer ist, wenn er auch noch die besten<br />

Noten schreibt.<br />

Der Kreis derer, die uns Übles ansonnen, schloß sich<br />

schnell. Die deutschblütige Königin Victoria hatte noch<br />

einer direkt deutschfeindlichen englischen Politik im<br />

Wege gestanden. Nach ihrem Tode (1901) war unter<br />

ihrem Sohn Eduard VII. die Verbindung mit Frankreich,<br />

welches seinerseits mit Rußland verbündet war, zur<br />

entente cordiale, zum Ring um <strong>Deutschland</strong> geworden,<br />

dem sich Rußland inoffiziell angeschlossen hatte.<br />

<strong>Deutschland</strong> war rasch isoliert.<br />

Die Welt war verteilt, zumeist an England. Außerhalb<br />

Europas gab es praktisch keinen Seehafen, der nicht<br />

direkt unter englischer, wie meistens, oder französischer<br />

Herrschaft stand oder indirekt von diesen Mächten abhing,<br />

wie Niederländisch-Indien, oder auf diese wegen<br />

eigener Machtinteressen Rücksicht nahm wie Japan. Mit<br />

wem sollten wir uns auch verbinden? Die Welt gehörte<br />

England, direkt oder indirekt, und was ihm nicht gehörte,<br />

befand sich in französischen Händen. Ausnahmen<br />

waren Rußland und die USA, die selbst imperialistische<br />

Zwecke verfolgten. Nur das Osmanische Reich war<br />

noch nicht unter englischem Einfl uß. Als <strong>Deutschland</strong><br />

hier zaghaft mit der Bagdadbahn Fuß zu fassen suchte,<br />

waren die englischen Verdächtigungen gleich da, so<br />

daß das Projekt zum Stehen kam. Das Deutsche Reich<br />

in seiner schimmernden Wehr hatte außerhalb Europas<br />

kaum mehr Einfl uß als Preußen um 1850. Was in der<br />

Welt geschah, geschah ohne (Besetzung Ägyptens) oder<br />

gegen uns (Marokkokrise). Die Beteiligung an der Niederschlagung<br />

des Boxeraufstandes war eine Ausnahme.<br />

Das Ergebnis des 1. Weltkrieges hat uns von „geringem“<br />

auf „keinen“ Einfl uß rückgestuft und insofern nicht viel<br />

geändert. <strong>Deutschland</strong>s Einfl uß in Europa und der Welt<br />

tendierte weiterhin gegen Null. So war es auch 1939.<br />

V. Sieg über Frankreich<br />

1. Compiègne<br />

Nach der französischen Kriegserklärung am 3. September<br />

1939 geschah wenig; drole de guerre – Scheinkrieg.<br />

Frankreich plante off enbar keinen Angriff gegen<br />

<strong>Deutschland</strong>. Einen Aufmarschplan für den von Hitler<br />

off enbar nicht erwarteten Krieg mit Frankreich gab es<br />

auch nicht. 27 Um diesen begann auf unserer Seite der<br />

Streit. 28 Der deutsche Feldzug begann am 10. Mai 1940.<br />

Er war strategisch überlegen geplant und in ungekannter<br />

Präzision durchgeführt worden. Der Feldzugsplan<br />

(Sichelschnitt) wird von angelsächsischen Militärhis-<br />

26 Zitiert nach: Hinz, Th. Die Psychologie der Niederlage, Berlin <strong>2010</strong>,<br />

S. 50<br />

27 Schramm, a. a. O., S. 42 E<br />

28 Manstein, S. 91 ff .<br />

torikern als genial gepriesen. 29 Hitler erkannte diesen<br />

von Erwin v. Manstein erdachten Plan sofort in seiner<br />

Genialität und setzte ihn um. 30 Der Erfolg war glänzend.<br />

Die Blutopfer dieses Feldzuges waren, verglichen mit<br />

den entsetzlichen Verlusten auf beiden Seiten während<br />

des Ersten Weltkrieges, geradezu vernachlässigbar.<br />

Am 22. Juni 1940 wurde im Wald von Compiègne<br />

der deutsche Sieg über Frankreich mit dem Waff enstillstand<br />

zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich<br />

geschlossen. Hierdurch wurde ein Sieg besiegelt, wie<br />

es ihn in der neueren europäischen Geschichte kaum<br />

ein zweites Mal gibt. Vergleichbar wären allenfalls Jena<br />

(1806) und Waterloo (1815). Der deutsche Sieg war nicht<br />

nur ein militärischer, sondern er hatte eminent politische<br />

Auswirkungen. Nach der Erniedrigung, welche<br />

<strong>Deutschland</strong> insbesondere durch Frankreich im Frieden<br />

von Versailles erdulden mußte, nach der brutalen<br />

und unwürdigen Behandlung <strong>Deutschland</strong>s während<br />

der jahrelangen Ruhr- und Rheinlandbesetzung, nach<br />

jahrhundertelangen meist erfolgreichen Versuchen<br />

Frankreichs, <strong>Deutschland</strong> politisch niederzuhalten und,<br />

wie Napoleon gewollt hatte, in französische Vasallenstaaten<br />

zu zerstückeln, war es <strong>Deutschland</strong> gelungen,<br />

dem ständig an seinen Grenzen nagenden westlichen<br />

Nachbarn eine völlige Niederlage zuzufügen. Der Krieg<br />

war für Frankreich beschämend kurz. Die französische<br />

Niederlage war auch eine geistige. Der amerikanische<br />

Botschafter in Paris berichtete an Roosevelt: Die physische<br />

und moralische Niederlage der Franzosen ist so vollständig,<br />

daß sie sich völlig damit abgefunden haben, daß<br />

Frankreich zur Provinz von Nazideutschland wird … Es ist<br />

nur ihre Hoff nung, zur bevorzugten Provinz <strong>Deutschland</strong>s<br />

(province favorite de l`Allemagne) zu werden. 31<br />

Angesichts der allgemein anerkannten Großartigkeit<br />

dieses Sieges fällt der Mangel an deutschem Triumphalismus<br />

auf. Die kampfl ose Übergabe von Paris am 14.<br />

Juni 1940 wurde nicht zu einer Siegesparade benutzt.<br />

Der deutsche Eroberer legte vielmehr vor dem Grab des<br />

Unbekannten Soldaten im Arc de Triomphe, der hauptsächlich<br />

französische Siege über und in <strong>Deutschland</strong><br />

verherrlicht, einen Kranz nieder. Deutsche Einheiten<br />

sind bis zum Abzug niemals durch den Triumphbogen<br />

marschiert, sondern stets bescheiden im Bogen<br />

darum herum. Auch die Frankreich auferlegten Waffenstillstandsbedingungen<br />

sind ungewöhnlich milde.<br />

Frankreich sollte nicht gedemütigt werden. Goebbels<br />

schreibt am 22. Juni 1940 in sein Tagebuch: In Compiègne<br />

ist alles vorbereitet … Frankreich steht off enbar vor<br />

dem Zusammenbruch. Keine demonstrative Demütigung,<br />

aber die Schmach vom 11. 11. 1918 muß ausgelöscht<br />

werden … Kein Haß und keine Rache leiten uns. Aber die<br />

Schmach von 1918 muß ausgelöscht werden. Darum<br />

diese Zeremonie. Die Bedingungen werden ausschließlich<br />

29 Churchill , Aufzeichnungen zu einer Rede im Brit. Unterhaus v.<br />

20. Juni 1940: glänzende militärische Leistung Hitlers. - statt vieler:<br />

Corrigan, S. 202 ff .<br />

30 v. Manstein, S. 118<br />

31 Zitiert bei: Michel, S. 218 aus dem Französischen von M. A.


von der deutschen Sicherheit diktiert und bestimmt von<br />

der Tatsache, daß Frankreich England in seinem Kampf<br />

gegen <strong>Deutschland</strong> nicht unterstützen darf und können<br />

soll. Am 18./19. Juni 1940 hatten Hitler und Mussolini<br />

zusammengesessen, um die Frankreich aufzuerlegenden<br />

Waff enstillstandsbedingungen festzulegen. Der<br />

italienische Außenminister Graf Ciano notiert aus diesen<br />

Verhandlungen in seinem Tagebuch: Hitler … spricht<br />

heute mit einer Mäßigung und einer Weitsicht, welche<br />

nach einem derartig großartigen Sieg, wie er ihn errungen<br />

hat, wirklich erstaunt. Ich stehe nicht in dem Verdacht<br />

übermäßiger Freundschaft zu ihm, aber oggi veramente<br />

lo ammiro – heute bewundere ich ihn wirklich.<br />

Der Waff enstillstandsvertrag enthält in seinen 24<br />

Artikeln Regelungen zur Demobilisierung Frankreichs<br />

und zur Sicherung der deutschen Besatzungsmacht. Es<br />

fi ndet sich kein Wort, keine Vorschrift, welche Frankreich<br />

als demütigend empfi nden mußte. Es ist subjektiv verständlich,<br />

wenn der französische General Huntziger die<br />

Bedingungen impitoyable nannte, aber das will nicht<br />

viel bedeuten. Der Kriegsschuldartikel im Versailler<br />

Vertrag hatte uns Deutsche wie kein anderer empört<br />

und dann auch wirtschaftlich ruiniert. Nichts davon<br />

hier, obwohl Frankreich uns, und nicht umgekehrt den<br />

Krieg erklärt hatte. Insbesondere hat es die Welt und<br />

Frankreich mit Erstaunen erfüllt, daß darin kein Wort<br />

über Abtretungen vorkommt, nichts über die Rückgabe<br />

von Straßburg, kein Wort über Elsaß-Lothringen. 32<br />

Die Waff enstillstandsbedingungen haben in der europäischen<br />

Geschichte kaum eine Parallele, jedenfalls<br />

nicht bei Napoleons Tilsiter Frieden (1807), und ein<br />

Vergleich mit Versailles 1919 verbietet sich von selbst.<br />

Diese Zurückhaltung ist allenfalls vergleichbar mit der<br />

Bismarcks nach Königgrätz 1866 gegenüber Österreich<br />

und im Frankfurter Frieden 1871 gegen Frankreich. Sie<br />

war off enbar darauf berechnet, Vergangenes vergangen<br />

sein zu lassen und mit Frankreich zu einem dauerhaften<br />

Ausgleich zu kommen. Selbst Michel spricht von der<br />

Mäßigung, der prudence de Hitler, welche der neuen<br />

französischen Regierung von Vichy eine Reihe von<br />

Freiheiten gelassen habe. 33<br />

2. Frankreich danach<br />

Das alte Deutsche Reich war ein kriegsscheuer Koloß<br />

gewesen. Seit etwa 1550 war daher Frankreich die<br />

militärische Vormacht Europas geworden. Spätestens<br />

im 17. Jahrhundert unter Richelieu bzw. Ludwig XIII.<br />

war es auch politisch in den Vordergrund getreten. Die<br />

Eroberungskriege Ludwigs XIV. (sogenannter Pfälzer<br />

Erbfolgekrieg), denen neben dem Heidelberger Schloß<br />

zahlreiche Schlösser, Burgen und Gebäude an Rhein und<br />

Mosel zum Opfer fi elen, wurden, wenn auch nicht mehr<br />

unter dem Lilienbanner, von Napoleon fortgesetzt.<br />

32 Michel, S. 159 f. – Der Führererlaß v. 2. August 1940 betr. Zivilverwaltung<br />

in Elsaß und Lothringen bewirkte freilich eine allerdings<br />

nie formal vollzogene Annexion.<br />

33 Michel, a. a. O., S. 77<br />

Frankreich konnte nicht alle seine Pläne durchsetzen,<br />

blieb aber die beherrschende Größe in Europa und auch<br />

im innerdeutschen Mächtespiel. Nach der Katastrophe<br />

von Waterloo (1815) war es der diplomatischen Klugheit<br />

Talleyrands im Verein mit Dummheit und Selbstsucht<br />

der deutschen Fürsten gelungen, der Welt einzureden,<br />

nicht Frankreich, sondern der inzwischen abgedankte<br />

Napoleon habe diese Kriege geführt. Es sei ein Vergehen<br />

gegen die Kultur, Frankreich dafür haftbar zu machen<br />

und zu erniedrigen. England, hiervon weniger als von<br />

dem Gedanken an das europäische Gleichgewicht geleitet,<br />

schloß sich dem an. Frankreich blieb die beherrschende<br />

Kraft in Festlandeuropa, und <strong>Deutschland</strong>, das<br />

die Hauptlast der Kriege getragen hatte, war düpiert.<br />

Auch die Niederlage von 1871 (Frankfurter Friede) hat<br />

das nicht nachhaltig geändert. Frankreichs Prestige<br />

war angekratzt, aber nicht vernichtet. Frankreich blieb<br />

in Europa mindestens so einfl ußreich wie das neue<br />

Deutsche Reich, und außerhalb Europas spielte es, wie<br />

dargelegt, eine ungleich größere Rolle. Das Ergebnis<br />

des von Frankreich gewünschten 1. WK konnte der Welt,<br />

unter Hinweis auf seine hohen Blutopfer 34 als französischer<br />

Sieg präsentiert werden. So blieb Frankreich auch<br />

bis 1939 die diplomatische Vormacht in Europa. Erst die<br />

Niederlage von 1940 nach einem nur sechswöchigen<br />

Feldzug hat diese in Jahrhunderten aufgebaute französische<br />

Überlegenheit vernichtet. Frankreich wurde<br />

1945 zwar ein Platz auf der Siegerbank erlaubt, so wie<br />

Italien 1940 nach „seinem“ Sieg über Frankreich neben<br />

<strong>Deutschland</strong> auf dieser Bank Platz nehmen durfte, aber<br />

es gehörte nicht dahin, und alle, auch Frankreich selbst,<br />

wußten es.<br />

3. Verlust der Weltgeltung<br />

a. Indochina<br />

Die überseeischen Besitzungen Frankreichs waren<br />

nicht Gegenstand des Waff enstillstandsabkommens.<br />

Die französische Regierung, nun in Vichy, übte daher<br />

weiterhin die Hoheit über diese aus. Das militärische<br />

Ansehen Frankreichs, die Basis seiner überseeischen<br />

Herrschaft, war aber dahin, und damit seine herausgehobene<br />

Weltgeltung. Die Folgen der Niederlage zeigten<br />

sich sofort. Japan, das sich gar nicht im Kriegszustand<br />

mit Frankreich befand, nutzte die französische Schwäche.<br />

Nach einem japanischen Ultimatum vom Juni<br />

1940 räumte Vichy-Frankreich Japan in Französisch-<br />

Indochina (Vietnam, Laos, Kambodscha) militärische<br />

Stützpunkte ein.<br />

Zwischen 1893 und 1907 hatte Frankreich dem<br />

Königreich Thailand in vier kurzen Kriegen mehrere<br />

Provinzen entrissen und Französisch-Indochina eingefügt.<br />

Nun nahm sich dieser politisch dritt- oder<br />

viertrangige Staat heraus, gegen (die ehemalige<br />

34 Wie später im 2. WK wurden die viel höheren russischen Blutopfer<br />

irgendwie nicht gewertet.<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

13


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

14<br />

Großmacht) Frankreich einen Krieg zu beginnen, um<br />

diese Provinzen zurückzuholen (Ende 1940). Frankreich<br />

konnte sich nicht mehr wehren. Sein Verbündeter im<br />

Krieg gegen <strong>Deutschland</strong>, England, half ihm jedenfalls<br />

nicht. Thailand gewann diesen Krieg, wenn auch mit<br />

japanischer Hilfe. Damit war den unter französischer<br />

Herrschaft stehenden Vietnamesen usw. das Signal<br />

gegeben, diese Herrschaft abzuschütteln. Zunächst<br />

hielt Japan dagegen, dessen erklärtes Ziel es war, Erbe<br />

der europäischen Kolonialmächte in Asien, auch von<br />

Niederländisch-Indien, zu werden. Nach dessen Niederlage<br />

gegen die USA versuchte Frankreich zwar, die<br />

Kontrolle in Indochina wieder aufzurichten. Der Bann<br />

war aber gebrochen. Die Rückeroberung mißlang und<br />

leitete in den blutigen und grausamen Indochinakrieg<br />

über. Das militärische Ende der französischen Herrschaft<br />

war mit dem Fall von Dien Bien Phu am 7. Mai 1954 gegeben.<br />

Im Juli 1954 wurde es in Genf politisch besiegelt.<br />

b. Algerien<br />

Stora schreibt: La defaite francaise et l`etablissement<br />

du régime de Vichy… – Die französische Niederlage<br />

und die Regierungsübernahme durch das Vichyregime<br />

… führten zur entscheidenden Phase der algerischen<br />

Nationalbewegung. 35 Am 8. Mai 1945, dem Tag der<br />

französischen Siegesfeier über <strong>Deutschland</strong>, zogen in<br />

vielen algerischen Städten muslimische Algerier durch<br />

die Straßen mit Spruchbändern A bas le fascisme et le<br />

colonialisme – Nieder mit Faschismus und Kolonialismus.<br />

So auch in Setif/Department Constantine. Die Polizei<br />

schießt auf die Demonstranten. Darauf Unruhen in<br />

verschiedenen Orten. Es kommt zu einem regelrechten<br />

Krieg. Dörfer werden bombardiert. Der französische<br />

General spricht von 15.000 Toten unter der algerischen<br />

Bevölkerung, die algerische Nationalbewegung (FLN)<br />

später von 45.000. Nichts war mehr wie zuvor (Stora<br />

a. a. O.). Neun Jahre später brach der bis dahin schwelende<br />

Algerienkrieg in voller Schärfe aus, welcher nach<br />

entsetzlichen Grausamkeiten 1962 mit der Anerkennung<br />

der algerischen Unabhängigkeit endete. Dieser<br />

Krieg hat mehr noch als der Indochinakrieg Frankreich<br />

traumatisiert. Die Gesamtzahl getöteter Algerier wurde<br />

von Frankreich später mit 350.000, von algerischen<br />

Quellen mit bis zu 1,5 Millionen angegeben. 150 Jahre<br />

französischer Kolonialarbeit sind beendet, etwa 1 Mio.<br />

französische Siedler, pieds noirs, verlieren ihre Heimat.<br />

Diese Kriege haben nicht nur das politische Ansehen<br />

Frankreichs erschüttert. In Algerien sind, wie der<br />

Verfasser aus mehreren Aufenthalten dort weiß, die<br />

Kriegsereignisse nicht vergessen, und in Indochina<br />

ist heute das Ansehen Frankreichs nur geringfügig<br />

besser als das der Niederlande in Indonesien. Auch die<br />

Finanzen Frankreichs wurden erschüttert, im Grunde<br />

mit Auswirkungen bis heute. Während Frankreich<br />

Kriege um seine verlorene Größe führte, konnte (West-)<br />

<strong>Deutschland</strong> seine Wirtschaft aufbauen.<br />

35 Stora, S. 95; 114<br />

4. Verlorene Grandeur<br />

Frankreich hat durch 1940 viel von seinem Selbstbewußtsein<br />

verloren. Vieles wäre in Frankreich anders<br />

gelaufen, wenn Frankreich sich erst nach einem längeren,<br />

tapfer gefochtenen Krieg hätte ergeben müssen.<br />

Gegenseitige Schuldzuweisungen sind nach einem<br />

solchen Debakel normal. Das sich selbst gerne als grande<br />

nation betitelnde Frankreich wurde aber durch die<br />

Niederlage gegen die nach wie vor als barbarisch angesehen<br />

Deutschen in eine tiefe narzißtische Verletzung<br />

gestürzt. Diese bereitete den Boden für eine Kooperation<br />

(colaboration) mit den deutschen Besetzern, deren<br />

Ausmaß und Tiefe bis heute als peinlich empfunden und<br />

heruntergespielt wird. Nachdem sich das Kriegsglück<br />

gegen <strong>Deutschland</strong> gewendet hatte, entstand hieraus<br />

dann ein Gemisch von Wendehälsen und wirklichen Widerständlern<br />

(résistance), aus welchem die Mordorgien<br />

der épuration (1944/45) 36 folgten. Deren Grausamkeiten<br />

sind nur mit denen der Pariser Kommune (1871) und<br />

deren Ausmaß nur mit den landesweiten Massenmorden<br />

der Großen Revolution zu vergleichen.<br />

Der Versuch, die 1940 verlorene nationale Ehre wiederherzustellen,<br />

führte zu der grausamen Verbissenheit,<br />

mit welcher Frankreich nach 1945 seine Kolonialkriege<br />

in Indochina und Algerien führte. Durch beide Prozesse<br />

sind neue, bis heute wirkende Beschämungen bei unserem<br />

Nachbarvolk entstanden. Heute ist in Frankreich<br />

zwar immer noch von grandeur und gloire die Rede, aber<br />

doch nur verhalten. Man ist nüchterner geworden. Man<br />

kann als Deutscher trotz bleibender Kontroversen auch<br />

mit Franzosen normal reden. Die deutsch-französische<br />

Freundschaft ist heute glaubhaft, was sie unter Stresemann/Briand<br />

nicht war.<br />

VI. Siege über England<br />

1. Sorge um das Weltreich<br />

Das Britische Weltreich war 1910, beim Tode des<br />

englischen Königs Eduard VII., das wohl großartigste<br />

politische Gebilde der Weltgeschichte. Dieses umfaßte<br />

auf allen Kontinenten ein Viertel des Erdbodens<br />

und ein Viertel der Erdbevölkerung. Von Gibraltar bis<br />

Neuseeland gab es kaum einen Küstenstrich, kaum<br />

einen Hafen, der nicht in englischer Hand war. Basis<br />

des Britischen Weltreiches war trotz allem aber Europa.<br />

Eine Vormacht in Europa konnte ihm diese Basis entziehen.<br />

Das war von Napoleon mit der Kontinentalsperre<br />

(1806–14) versucht worden. Diese war nicht so erfolglos,<br />

wie oft dargestellt. Die englischen Ausfuhren auf den<br />

36 Aaron, a. a. O., gibt ein bestürzendes Bild der Vorgänge. Wir Deutsche<br />

können uns dadurch daran erinnern lassen, daß es solche<br />

öff entlichen, unter Billigung des gesamten Volkes vollzogenen<br />

Mordorgien bei uns niemals gab.


Kontinent brachen gegenüber der Friedenszeit um<br />

fast die Häfte ein. 37 Sollte eine europäische Vormacht,<br />

und das konnte nach Lage der Dinge nur <strong>Deutschland</strong><br />

sein, wiederum eine Kontinentalsperre verfügen, dann<br />

konnte das bei den im 20. Jahrhundert deutlich verbesserten<br />

technischen und logistischen Bedingungen<br />

England und seinem Empire schwersten Schaden zufügen.<br />

Der wirkliche Grund für seine Kriegserklärung an<br />

<strong>Deutschland</strong> 1914 war daher wohl seine Angst vor einer<br />

deutschen Vormacht auf dem Kontinent. Vorgegebener<br />

Grund war allerdings der völkerrechtswidrige Einmarsch<br />

<strong>Deutschland</strong>s nach Belgien. 38 Ähnlich war es off enbar<br />

1939. Sogar die politisch korrekte Zeitschrift Der Spiegel<br />

öff net einen Spalt für den Verdacht, es sei England bei<br />

seiner Kriegserklärung 1939 vielleicht doch nicht um<br />

den Schutz Polens gegangen, sondern eher um die<br />

Niederlegung <strong>Deutschland</strong>s. Dazu wird aus einem Brief<br />

Churchills zitiert: Stets sei London mit der zweitstärksten<br />

Macht in Europa verbündet gewesen. Die Hinnahme<br />

einer deutschen Hegemonie wäre gegen unsere Geschichte<br />

… Hitler ist die größte Gefahr für unser Empire. 39<br />

Das Britische Reich war auch 1939 noch im wesentlichen<br />

intakt. Die Dominien, also die weiß besiedelten<br />

bzw. beherrschten Staaten Kanada, Südafrika,<br />

Australien, Neuseeland, waren zwar innenpolitisch<br />

emanzipiert, standen aber außenpolitisch weiter unter<br />

dem bestimmenden Einfl uß Londons, wo sich auch die<br />

Stammhäuser der in diesen tätigen Unternehmen und<br />

noch heute bekannten internationalen Banken und<br />

Konzerne befanden. Die Perle des Reiches, Gewährleistung<br />

der englischen Weltgeltung, war aber Indien.<br />

Man hatte zwar auch für Britisch Indien den Aufwand<br />

für den Erhalt des Imperiums und seinen Nutzen für<br />

das Herrschervolk nachgerechnet. Zu einem eindeutig<br />

positiven Ergebnis kam man nicht. Schließlich war<br />

aber die Machtfrage entscheidend. The English Nation<br />

has no intention of abandoning its place on the world`s<br />

stage, ceasing to be one of the Big Powers. 40 Entsprechend<br />

hatte Lord Curzon, um die Jahrhundertwende Vizekönig<br />

von Indien und später britischer Außenminister, einmal<br />

gesagt. 41 As long as we rule in India we are the greatest<br />

power in the world, if we lose it we shall drop straight away<br />

to third rate power. Churchill war fest entschlossen, das<br />

Empire, insbesondere Indien, zu erhalten. Seine kompromißlose<br />

Kriegspolitik gegen <strong>Deutschland</strong> fi ndet hier<br />

37 Vgl. Frz. Wikipedia: blocus continental; England konnte den<br />

Verlust durch neue Absatzmärkte in Nordamerika und Rußland<br />

wettmachen.<br />

38 Das Deutsche Reich hat diese Völkerrechtswidrigkeit schon<br />

während des Krieges öff entlich anerkannt und Entschädigung<br />

nach dem Kriege versprochen. – Nach der deutschen Besetzung<br />

von Dänemark (9. April 1940) erklärt sich Island für souverän und<br />

für neutral. Im Mai 1940 wurde Island gleichwohl von England<br />

besetzt. Die Encyclopedia Britannica, Stichwort: Iceland, gibt zwar<br />

den Völkerrechtsbruch zu, fi ndet aber sonst nichts dabei.<br />

39 Der Spiegel v. 16. 8. 10, S.61<br />

40 Cunningham, S. 60.<br />

41 zitiert nach Clarke, a. a. O., S. XiX. So ähnlich auch Hitler, vgl. Mein<br />

Kampf, S. 746<br />

ihre wohl wichtigste Begründung. 42 Noch 1942 sagte er:<br />

We mean to hold our own, I have not become the King`s<br />

First Minister in order to preside over the liquidation of the<br />

British Empire. 43 Ein Sieg über Feinde pfl egt das beste<br />

Argument gegenüber aufmüpfi gen Untertanen zu sein.<br />

Ein überzeugender britischer Erfolg über <strong>Deutschland</strong><br />

wäre daher gegenüber dem indischen Nationalkongreß<br />

und den anderen Kolonialvölkern ein höchst willkommenes<br />

Argument gewesen, um zu zeigen, wer Herr<br />

im Hause ist. Insbesondere aber wäre eine ruhmvolle<br />

Kriegstat Englands in dem von ihm selbst off enbar<br />

gewollten Krieg ein höchst willkommenes Argument<br />

gegenüber den USA dafür gewesen, daß man durchaus<br />

in der Lage sei, das Empire zu behalten. In Washington<br />

waren nämlich schon im März 1940, also vor dem Debakel<br />

von Dünkirchen, Überlegungen ganz anderer Art<br />

angestellt worden: Britain as a small country may not<br />

be able to hold a far-fl ung empire together. Should it go<br />

under, it is a very fair question whether the United States<br />

might not have to take them all over.<br />

Britannien ist ein kleines Land. Es wird vielleicht nicht<br />

in der Lage sein, ein weit verstreutes Reich zusammenzuhalten.<br />

Wenn es untergeht, stellt sich natürlich die Frage,<br />

ob die Vereinigten Staaten nicht einfach alles übernehmen<br />

sollten. 44 Churchill selbst sah diese amerikanische<br />

Gefahr, als er 1940 an den kanadischen Premier schrieb:<br />

We must be careful not to let the Americans … (get) the<br />

British fl eet and the guardianship of the British Empire.<br />

Churchill hatte zwar wiederholt bekundet: My whole<br />

system is founded on partnership with Roosevelt. 45 Aber er<br />

meinte, kraft seiner Persönlichkeit, schließlich war seine<br />

Mutter Amerikanerin gewesen, und des Gewichtes des<br />

Britischen Empires in dieser Partnerschaft die Rolle des<br />

Seniorpartners spielen zu können. Dieser Anspruch<br />

Churchills erwies sich nach dem Debakel in Norwegen<br />

und dann von Dünkirchen (April/Mai 1940) als zweifelhaft,<br />

nach der Niederlage auf Kreta (Mai 1941) als brüchig,<br />

und mit dem Fall Singapurs (1942) als unhaltbar.<br />

2. Norwegen<br />

Churchill schreibt in seinen Erinnerungen: Am 3.<br />

April 1940 wurde die britische Admiralität ermächtigt,<br />

die norwegischen Küstengewässer zu verminen … und<br />

es wurde beschlossen, eine britische Brigade nach Narvik<br />

zu entsenden. Weitere Streitkräfte sollten nach Stavanger,<br />

Bergen und Drontheim entsandt werden. Das liest sich so<br />

selbstverständlich, daß folgende Festsstellung nötig ist:<br />

Diese Ermächtigung kam nicht von der norwegischen<br />

Regierung, sondern vom britischen Kriegskabinett!<br />

England, das so feinnervig auf deutsche Rechtsverstöße<br />

achtete, hatte keinen Grund gesehen, Norwegen um<br />

Zustimmung anzugehen. Am 8. April morgens begann<br />

42 Es gibt allerdings zahlreiche Aussprüche Churchills und Hinweise<br />

in seiner Biographie, daß er Kriege regelrecht liebte.<br />

43 Zitiert nach Clarke, S. Xvii.<br />

44 Zitiert nach Clarke, S. 65<br />

45 Zitiert nach Clarke, S. 8<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

15


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

16<br />

England mit der Verminung der Gewässer vor Narvik,<br />

auch, trotz anerkannter schwedischer Neutralität, mit<br />

der Verminung von Teilen der schwedischen Nordseeküste.<br />

Nur wenige Stunden später begann die deutsche<br />

Operation auf Norwegen. Die britische Flotte verhedderte<br />

sich auf See, fand die deutschen Schiff e nicht oder<br />

konnte sie, wo doch, nur wenig behindern. Am 9. April<br />

um 19 Uhr waren Narvik, Trontheim, Bergen und Oslo<br />

in deutscher Hand. Corrigan (a. a. O., S. 195): The Royal<br />

Navy had failed… while the German navy had succeeded<br />

– die Royal Navy hatte verloren, die deutsche Marine gewonnen.<br />

Er gibt Churchill die Schuld an dem Desaster.<br />

Der Kampf um Narvik dauerte noch einige Tage, dann<br />

waren die englischen Landungstruppen vertrieben. Es<br />

war ein Desaster. England war jedenfalls in Europa die<br />

bei weitem stärkste Seemacht, vielleicht auch in der<br />

Welt. Die Besetzung Norwegens als reine Seeoperation<br />

durfte gegen den zur See weit unterlegenen deutschen<br />

Gegner eigentlich nicht scheitern. Das britische Prestige<br />

zur See, auf dem das Empire wesentlich beruhte, war in<br />

peinlichster Weise erschüttert.<br />

3. Dünkirchen<br />

Schlimmer als die Niederlage vor Norwegen war<br />

das ruhmlose Ende der britischen Expeditionsarmee<br />

vor Dünkirchen. Hier erlebte England ein Debakel von<br />

historischem Ausmaß, seine wohl größte Niederlage<br />

in zwei Jahrhunderten. Seit dem 10. Mai 1940 regierte<br />

Churchill als Premier des Kriegskabinetts und zugleich<br />

als dessen Kriegsminister praktisch unumschränkt,<br />

und die Verantwortung triff t ihn. Von Anfang an gab<br />

es Abstimmungsschwierigkeiten mit Frankreich. England<br />

kam den Bitten um militärische Hilfe nur teilweise<br />

nach, was auf französischer Seite zu Ausrufen über das<br />

perfi de, treulose und eigensüchtige Albion führte, die<br />

sonst uns Deutschen in den Mund gelegt werden. Die<br />

englische Expeditionsarmee von 338.000 Soldaten operierte<br />

in Nordfrankreich/Belgien anfangs erfolgreich,<br />

wich aber dann dem deutschen Vormarsch. Sie wurde,<br />

ohne Abstimmung mit französischen Stellen, schon<br />

am 24. Mai, also keine drei Wochen nach dem Beginn<br />

der Kampfhandlungen, auf Dünkirchen zurückgezogen<br />

und am 4. Juni nach England eingeschiff t. Frankreich<br />

war seinem Schicksal überlassen. Am 4. Juni 1940, hielt<br />

Churchill seine oft zitierte Durchhalterede: Wir werden<br />

kämpfen an den Stränden … usw. Das war zwar die<br />

schönste Rede, die der frisch berufene Propagandaminister<br />

Harold Nicolson je gehört hatte, das Unterhaus<br />

war bewegt. Aber in den Ohren Frankreichs, dessen<br />

Strände Churchill soeben geräumt hatte, war das hohle<br />

Rhetorik. 46 Nur der Haltebefehl Hitlers hatte die völlige<br />

Einschließung und Gefangennahme der gesamten<br />

Armee verhindert. Die Gründe für diesen Befehl sind<br />

46 Nicolson v. 4. Juni 1940<br />

umstritten. 47 Vielleicht war er aus unangebrachter militärischer<br />

Vorsicht gegeben worden. Wahrscheinlicher<br />

ist wohl, daß er einem politischen Kalkül folgte. Hitler<br />

hatte große Achtung vor dem Britischen Empire. 48<br />

Mehrfach hatte er gesagt, daß er das Britische Weltreich<br />

als Ordnungsfaktor erhalten wolle. 49 Vermutlich sollte<br />

der Haltebefehl England vor der völligen Demütigung<br />

und vor dem Gesichtsverlust gegenüber seinen Untertanenländern<br />

schützen. Vielleicht kam ein Grund<br />

hinzu: Churchill glaubte, die USA würden sofort an<br />

seiner Seite eingreifen, falls eine deutsche Invasion<br />

nach England drohe. Es liegt nahe, daß Hitler das auch<br />

so sah und deswegen auf den, militärisch als zwingend<br />

und überwiegend wohl auch als Erfolg versprechend 50<br />

angesehenen, Fortsetzungsschlag, die Invasion, verzichtete.<br />

Sicher ist, daß Hitler den baldigen Frieden<br />

sowohl mit Frankreich wie mit England wünschte und<br />

erwartete. Er wolle das Empire nicht zerstören, dessen<br />

Zerfallsteile nur den rassefremden Japanern (so Hitler)<br />

zugute kommen mußten. 51<br />

In jedem Falle war England nach kaum 20 Tagen vom<br />

Festland verscheucht worden. Schon den 1. Weltkrieg<br />

hatte das Empire nur mit Hilfe der USA überstanden.<br />

Was nun? Das Debakel wurde vertuscht und geschönt.<br />

Die Rückführung wurde unter der Bezeichnung „Operation<br />

Dynamo“ in England als großer Erfolg gefeiert.<br />

Aber überzeugt wurde davon niemand. 52 So war es ja<br />

auch nicht. Der Vater des Autoren war im Juli 1940 an<br />

die Kanalküste verlegt worden. Er schrieb in sein Tagebuch:<br />

Hunderte und Tausende Gewehre und militärische<br />

Ausrüstungsgegenstände lagen überall am Strand, zurückgelassen<br />

von den Engländern bei ihrem eiligen Rückzug<br />

vom Festland. 53 Ein Jahr später, im Mai 1941, geschah<br />

ähnliches, als England die im Oktober 1940 besetzte<br />

Insel Kreta an deutsche Fallschirmjäger verlor.<br />

4. England danach<br />

Dünkirchen wurde in Frankreich als eine Treulosigkeit<br />

Englands gesehen. 54 Engländer, wenn sie ehrlich waren,<br />

sahen das selber so. 55 Hätte England seine Expeditionsarmee<br />

nicht aufstocken anstatt zurückziehen müssen?<br />

47 Fest, S. 859; vgl. auch Encyclopedia Britannica 1962, Stichwort:<br />

World War II – Dunkirk.<br />

48 Mein Kampf, S. 158<br />

49 Boog/Förster u. a., S. 36<br />

50 Vgl. Manstein, S. 152 f.<br />

51 Angesichts der Sprunghaftigkeit Hitlerscher Ad-hoc-Pläne muß<br />

es kein Widerspruch sein, wenn er wenig später der Invasion doch<br />

wieder nähertrat; vgl. Boog/Förster, S. 35<br />

52 Corrigan, S. 259<br />

53 Michel, Henri: Les Anglais ont abandonné tout leur matériel lourd<br />

– Die Engländer ließen ihre gesamte schwere Ausrüstung zurück.<br />

54 Unter vielen vgl. Ausführungen von Michel, S. 27.. il (= Lord Gort)<br />

accélère la destruction de la 1ere armée francaise … 110.000 französische<br />

Soldaten decken den Abzug der Engländer … Nicolson,<br />

Harold, Tagebücher und Briefe, Stuttgart, 1969 (Übers. aus dem<br />

Engl.)<br />

55 Nicolson, Eintrag v. 1. Juni 1940


Die Folgen von Dünkirchen waren sofort spürbar. Die<br />

englische Politik verhedderte sich in unlösbare Widersprüche<br />

und sah sich zu Handlungen gezwungen, die<br />

zwar dem Erhalt des Empire dienen mochten, die aber<br />

mit den vorgegebenen Kriegsgründen nicht mehr<br />

vereinbar waren. Die USA übernahmen, lange bevor<br />

es offi ziell zum Krieg mit <strong>Deutschland</strong> kam, die Stabführung.<br />

England wurde zwar massiv unterstützt, aber<br />

damit wuchs die englische Abhängigkeit, es wurde<br />

kaum mehr gefragt. Es war militärisch diskreditiert und<br />

bald auch fi nanziell am Ende. Die Verzagtheit, man sagte<br />

auch Feigheit, der britischen Streitkräfte bzw. ihrer Führer<br />

hatte in Dünkirchen begonnen. 56 In der Schlacht um<br />

Kreta wurde sie erneut sichtbar. 20.000 deutsche Fallschirmspringer<br />

und Gebirgsjäger vertrieben im Frühjahr<br />

1941 etwa 30.000 britische (englische und aus dem<br />

Empire zusammengezogene) Truppen von der Insel. Der<br />

Fall von Singapur am 15. 2. 1942 macht dem Ruhm der<br />

englischen Fahne endgültig ein Ende. Die fi nest hour,<br />

von der laut Churchill die Völker des Britischen Empires<br />

noch in „tausend Jahren“ sprechen würden, kam nicht.<br />

Es ist daher merkwürdig, daß sich der selbstgeschaff ene<br />

Mythos von Englands heroischem Widerstand gegen<br />

Hitler bis heute hält, so daß sogar der Papst auf seiner<br />

Englandreise <strong>2010</strong> darauf anspielte.<br />

England hatte die Initiative an die USA verloren.<br />

Die von den USA gegen den verhaltenen Widerstand<br />

Churchills durchgesetzte Atlantikcharta v. 4. August<br />

1941 proklamierte als Kriegsziel das Selbstbestimmungsrecht<br />

der Völker. Gemeint waren alle Völker. US-<br />

Präsident Roosevelt erklärte: The age of imperialism is<br />

ended! Die niederländische Regierung tat das in ihrem<br />

Londoner Exil mit Blick auf Niederländisch-Indien als<br />

Unfug (= slap stuk) ab. Auch Churchill, der der Charta<br />

nolens volens zugestimmt hatte, um die unverzichtbare<br />

Wirtschaftshilfe der USA nicht zu gefährden, spielte ihre<br />

Bedeutung herunter. Er erklärte im Unterhaus, diese<br />

Proklamation gelte nur für zuvor selbständige europäische<br />

Staaten, die schon wie Polen und andere Länder<br />

von <strong>Deutschland</strong> überfallen worden seien. Die Selbstbestimmung<br />

in britischen Untertanenländern sei quite<br />

a diff erent problem – etwas völlig anderes. 57 Roosevelt<br />

sah das nicht so und notierte im Februar 1942: The old<br />

master servant – relationship has not been altered by the<br />

Dutch (nor by England). There is no real desire in Britain<br />

to recognize a world change … Das alte Herren – Knecht-<br />

Verhältnis hat sich bei den Holländern nicht geändert (<br />

und beiden Engländern auch nicht). Es gibt in Britannien<br />

keine wirkliche Bereitschaft anzuerkennen, dass sich die<br />

Welt gewandelt hat. 58 Dieser Wandel war durch die<br />

deutschen Siege bewirkt worden.<br />

56 Corrigan, S. 259: 50.000 britische Soldaten warfen einfach ihre<br />

Waff en weg.<br />

57 Clarke, S. 10<br />

58 Clarke, S. 19<br />

5. Indien<br />

Die englische Herrschaft in Indien wurde 1939 nicht<br />

mehr so stumm hingenommen wie 1914. Als der Vizekönig<br />

nach der englischen Kriegserklärung 1939 ohne<br />

Rücksprache mit dem indischen Nationalkongreß den<br />

Kriegszustand auch Indiens mit <strong>Deutschland</strong> ausrief,<br />

brach der bis dahin schwelende Verfassungskonfl ikt<br />

zu off ener Revolte aus. Die Mitglieder des Nationalkongresses<br />

traten geschlossen zurück. Die Bewegung des<br />

passiven Widerstandes begann.<br />

Der größte englische Selbstwiderspruch war wohl<br />

die Entsendung von Staff ord Cripps im Juni 1940, also<br />

unmittelbar nach Dünkirchen, zu Stalin, um ihn für ein<br />

Bündnis gegen <strong>Deutschland</strong> zu gewinnen. Denselben<br />

Stalin, der soeben die Hälfte Polens, zu dessen Schutz<br />

England in den Krieg getreten war, geschluckt hatte!<br />

Damit war das selbstgebaute moralische Kartenhaus<br />

Englands zerfallen. Die deutschen Verbrechen wie<br />

die massenhafte Ermordung von Juden und anderen<br />

Völkern in Konzentrationslagern standen im Sommer<br />

1940 erst noch bevor. Die Verbrechen Stalins, die Massenmorde<br />

der Kommunisten aber waren allbekannt<br />

und auch in England noch kurz zuvor angeprangert<br />

worden. Das Verbrechen, das man 1940 <strong>Deutschland</strong><br />

vorhalten konnte, bestand eigentlich nur darin, daß<br />

es die Tschechei und Polen überfallen hatte. Das aber<br />

waren aus indischer Sicht Taten, die England und andere<br />

Kolonialisten in Indien selbst und sonst auf der Welt<br />

zahllose Male verübt hatten. Hier war es schwer, die in<br />

England zur Schau getragene moralische Empörung<br />

über Hitler ganz nachzuvollziehen.<br />

Es war also nicht recht zu verdeutlichen, warum der<br />

Massenmörder Stalin nun plötzlich zum „lieben Freund“<br />

Churchills avancieren konnte, und warum Indien diese<br />

Gefühle teilen sollte. Die indischen Führer, allen voran<br />

Gandhi, konnten vor allem nicht einsehen, was Indien<br />

mit einem Krieg zu tun haben sollte, der vorgeblich zwar<br />

zum Schutz von Demokratie und Selbstbestimmung<br />

begonnen worden war, an dessen siegreichem Ende<br />

aber stehen würde, daß Indien diese Rechte verweigert<br />

werden würden. Aus dem passiven Widerstand erwuchs<br />

1942 die Quit-India-Bewegung: Die Forderung, Indien<br />

bedingungslos zu verlassen! Just quit India! rief Gandhi<br />

den Engländern zu. Der Fall von Singapur förderte diese<br />

Bewegungen. 80.000 britische und Kolonialtruppen<br />

kapitulierten am 15. 2. 1942 vor 30.000 Japanern. Hatte<br />

man Dünkirchen noch schönzureden versucht, so war<br />

nun nichts mehr zu deuteln. Wie nach Dünkirchen zu<br />

Stalin, wurde nach dem Fall von Singapur nun derselbe<br />

Cripps zu Gandhi auf eine vergleichbare Mission<br />

geschickt (März 1942). Er sollte Indien überreden, jedenfalls<br />

für die Dauer des Krieges bei der Stange zu<br />

bleiben. Dazu versprach Cripps Indien die bedingungslose<br />

Unabhängigkeit nach dem Kriege. Man streitet, ob<br />

Churchill ein solches Angebot überhaupt autorisiert hat<br />

und wenn ja, ob er es ehrlich meinte. Zwei Jahre nach<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

17


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

18<br />

Churchills Übernahme der Regierungsverantwortung<br />

war praktisch eingetreten, was er unter allen Umständen<br />

hatte vermeiden wollen: Er hatte das Britische<br />

Reich liquidiert! Das Selbstbewußtsein Englands und<br />

auch seine Kraft waren dahin. Britische Truppen, zum<br />

großen Teil aus den Dominien und Indien rekrutiert,<br />

hatten schon bis dahin keinen entscheidenden Beitrag<br />

zum alliierten Sieg erbracht. 59 Und auch nach Singapur<br />

nicht. 1947 wurde Indien unabhängig.<br />

Wie Frankreich versuchte England nach dem 2.<br />

Weltkrieg noch in jahrzehntelangen blutigen Kriegen<br />

in Malaya, Kenia, Zypern und sonst von seinen Kolonien<br />

etwas zu retten. Aber der Nimbus war weg. Mit der<br />

blutig erkämpften Unabhängigkeit Kenias 1963 war das<br />

Britische Weltreich liquidiert. Clarke bemerkt: If Churchill<br />

was the architect of victory, he was surely… the author of<br />

Britain`s post-war distress. (a. a. O., S. Xvii).<br />

VI. Wenn <strong>Deutschland</strong> 1940 besiegt<br />

worden wäre<br />

Hätten Frankreich und England im Mai 1940 <strong>Deutschland</strong><br />

eine ähnliche Niederlage zugefügt, wie es umgekehrt<br />

geschah, kann fast mit Sicherheit gesagt werden,<br />

daß die USA nicht in den europäischen Krieg verwickelt<br />

worden wären. Der wäre ja Ende 1940 beendet gewesen.<br />

Frankreich wäre wieder zur Hegemonialmacht auf<br />

dem Kontinent geworden, woran nach Lage der Dinge<br />

weder Churchill noch Roosevelt Anstoß genommen<br />

hätten. Das Schicksal <strong>Deutschland</strong>s hätte nicht weiter<br />

interessiert. Man hätte es in Stücke zerlegt, alles wäre<br />

wie bisher weitergegangen, und die europäischen Kolonialreiche<br />

hätten noch viele Jahre ihr Wesen gehabt.<br />

Oder? Es ist heute unstreitig, daß Stalin seit etwa<br />

1930 massiv und systematisch aufgerüstet hatte. Im<br />

Jahre 1941/42 war diese Aufrüstung im wesentlichen<br />

abgeschlossen. Während der deutsche Überfall auf<br />

Polen von politischer Korrektheit tabuisiert ist, 60 dürfen<br />

in bezug auf den deutschen Angriff auf die Sowjetunion<br />

die historischen Fakten genannt und gewürdigt<br />

werden. Vieles spricht dafür, daß <strong>Deutschland</strong> am 21.<br />

Juli 1941 einem unmittelbar bevorstehenden Angriff<br />

Stalins zuvorkam. Sichere Beweise wird man aber kaum<br />

beibringen können. 61 Aber selbst wenn diese Annahme<br />

falsch ist, so stellte sich nach einer angenommenen<br />

Niederlage <strong>Deutschland</strong>s 1940 gegen Frankreich/<br />

England aus Moskauer Sicht die Lage wie folgt dar:<br />

Die kommunistische Weltrevolution war das erklärte<br />

59 Der Sieg über Rommel bei El Alamein mag die Ausnahme sein.<br />

Vermutlich wird Rommel in England deswegen so gefeiert, um<br />

diesen Erschöpfungssieg um so strahlender erscheinen zu lassen.<br />

60 Vgl. die Äußerungen von E. Steinbach MdB zur (historisch unbestrittenen)<br />

polnischen Mobilmachung im Sommer 1939, die<br />

September <strong>2010</strong> zur förmlichen Stigmatisierung der Vorsitzenden<br />

des Bundes der Vertriebenen führte.<br />

61 Boog/Förster S. 88 ff .<br />

Ziel der UdSSR. 62 Voraussetzung dafür war mit den<br />

Worten Lenins die Eroberung Europas. Die Gelegenheit<br />

war so günstig wie nie. Die UdSSR, bereits im Besitz<br />

von Ostpolen, hätte diese „Mißgeburt von Versailles“<br />

(wie Polen damals in sowjetischen Zeitungen genannt<br />

wurde) kaum wiederhergestellt, sondern wieder ins<br />

Russische Reich eingegliedert. Die 24.000 (!!) Panzer, die<br />

Stalin im Juli 1941 besaß, hätte er durch das besiegte<br />

<strong>Deutschland</strong> bis an den Atlantik durchfahren lassen<br />

können. Frankreich, ohne eine entwickelte Panzerwaff e,<br />

hätte dem nichts entgegensetzen können. 63 Die angloamerikanische<br />

Fixierung auf den Gegner <strong>Deutschland</strong><br />

macht es unwahrscheinlich, daß sich in den USA eine<br />

Hand gerührt hätte, um Europa vor den Sowjets zu retten.<br />

Es wäre auch zu spät gewesen. Die Operation hätte<br />

wenige Tage gedauert. Ganz Europa wäre in kürzester<br />

Zeit Beute Stalins auf dem Wege zur Weltrevolution<br />

geworden, damit auch wohl die afrikanischen Kolonien<br />

Frankreichs und Belgiens.<br />

Wenn diese Annahme richtig ist, dann folgt, daß nur<br />

der deutsche Sieg von 1940 dieses verhindert hat. Es<br />

waren dann auch die militärisch im Grunde noch viel<br />

beeindruckenderen Siege, die <strong>Deutschland</strong> 1941/42<br />

gegen die Sowjetunion erzielte, nicht verloren. Ob<br />

deutscher Überfall oder Präventivkrieg – jedenfalls<br />

wurde die UdSSR durch die deutschen Siege derartig<br />

geschwächt, dass Stalin an einen solchen Durchmarsch<br />

nicht denken konnte. Er musste vielmehr die USA nach<br />

Europa hereinlassen, um <strong>Deutschland</strong> gemeinsam<br />

niederzuwerfen! So blieben Westeuropa und auch<br />

Westdeutschland 1945 außerhalb des sowjetischen<br />

Machtbereichs.<br />

VII. Wenn die USA nicht in den Krieg<br />

eingetreten wären<br />

Ohne die deutschen Siege von 1940 wären die USA<br />

mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht<br />

in einen europäischen Krieg eingetreten. Die USA<br />

brachte eine Lage wie bereits 1917 hervor. Damals stand<br />

<strong>Deutschland</strong> kurz vor seinem Endsieg im Weltkrieg,<br />

und damit an der Schwelle, nicht nur in Europa die<br />

Vormacht zu werden, sondern auch die Kolonialmächte<br />

zu „beerben“. Nach der Märzrevolution in Rußland und<br />

der Abdankung des Zaren war <strong>Deutschland</strong> frei, alle<br />

Kräfte gegen Frankreich zu werfen. <strong>Deutschland</strong> war<br />

erschöpft, Frankreich war es noch mehr, und auch England<br />

war am Ende seiner Kraft. Der deutsche Sieg war<br />

greifbar nahe. Das Deutsche Reich wäre dann unter Einschluß<br />

des französischen/belgischen Kolonialreiches, zu<br />

62 statt vieler: Boog/Förster, a. a. O., S. 54. – Nach dem Ende des<br />

Sowjetkommunismus ist dieser Aspekt völlig aus dem geschichtlichen<br />

Gedächtnis des Westens gefallen.<br />

63 vgl. Boog/Förster, S. 98: Von diesen Panzern waren rd. 1860 mittlere<br />

und schwere Panzer, die alle deutschen Typen in jeder Hinsicht<br />

übertrafen.


einer weltumspannenden Macht geworden. Die USA<br />

griff en ein mit dem bekannten Erfolg, daß Frankreich<br />

und England den 1. WK gewannen.<br />

Eine ganz ähnliche, nur noch deutlichere, Lage ergab<br />

sich 1940 durch die deutschen Siege über England<br />

und Frankreich. Das von Guayana in Südamerika über<br />

halb Afrika, Indochina bis nach Polynesien reichende<br />

Französische Kolonialreich war politisch bereits in<br />

deutscher Hand. Hinzu kamen, nach der Ausschaltung<br />

Belgiens und der Niederlande die riesigen Kolonialbesitzungen<br />

dieser beiden Staaten im Kongo und vor allem<br />

in Niederländisch-Indien (heute: Indonesien). Ohne<br />

amerikanische Hilfe wäre dann auch das Britische Reich<br />

zusammengebrochen und vermutlich <strong>Deutschland</strong> in<br />

die Hände gefallen. Durch nur einen einzigen Feldzug<br />

gegen Frankreich, durch nur eine einzige gewonnene<br />

Schlacht, die England vom Kontinent vertrieben hatte,<br />

wäre <strong>Deutschland</strong> im Juni 1940 gleichsam über Nacht<br />

aus dem Nichts zum nach der USA und der UdSSR<br />

theoretisch drittmächtigsten Staat der Erde geworden.<br />

Seit dem Siege Alexander des Großen bei Issos (333<br />

v. Chr.) hatte es eine solche Konstellation nicht mehr<br />

gegeben. Angesichts der drohenden Katastrophe<br />

Frankreichs war von dem englischen Politiker Vansittart,<br />

von General de Gaulle und Jean Monnet der<br />

Vorschlag gemacht worden, Frankreich und England<br />

zu einem Staat zu vereinigen, mit einer gemeinsamen<br />

Regierung, Staatsangehörigkeit usw. 64 Die jedenfalls<br />

anfangs zurückhaltende deutsche Besatzungspolitik in<br />

Frankreich hätte, so konnte man in den USA mutmaßen,<br />

ähnliche Überlegungen auch im Verhältnis <strong>Deutschland</strong>/Frankreich<br />

aufkommen lassen können. Es gab in<br />

der Vichyregierung und in Frankreich sehr starke antiamerikanische<br />

Kräfte, die einer europäischen Einigung,<br />

unter deutscher Herrschaft das Wort redeten, wenn sie<br />

denn unter französischer nicht machbar war. Tatsächlich<br />

hatte schon Victor Hugo diese gefordert:<br />

L’union de l’Allemagne et de la France, ce serait le<br />

frein de l’Angleterre et de la Russie, le salut de l’Europe,<br />

la paix du monde – Die Vereinigung von <strong>Deutschland</strong><br />

und Frankreich wäre ein Zügel für England und Rußland,<br />

ein Segen für Europa und der Frieden für die<br />

Welt. 65<br />

England wäre zweifellos nicht in der Lage gewesen,<br />

sich gegen ein unter deutscher Herrschaft vereintes Europa<br />

zu halten. Damit bekam die genannte Alexander-<br />

Perspektive im Jahre 1940 aus amerikanischer Sicht eine<br />

noch viel umfassendere Weite: DeutschFrankreich, in<br />

einer Art karolingischen Wiedervereinigung, als Fortsetzer<br />

und Zusammenfasser der kontinentaleuropäischen<br />

64 Nicolson, FN 16, am 19. Juni 1940: Unser Angebot, uns mit Frankreich<br />

zu vereinigen, hat dort wenig Anklang gefunden. Ich hatte mich<br />

schon gefreut, französischer Staatsbürger zu werden und bedaure,<br />

daß nichts daraus geworden ist.<br />

65 Victor Hugo, Le Rhin, Conclusions<br />

Kräfte, einschließlich ihrer weltumspannenden Kolonialreiche<br />

mußten bei der erkennbaren Schwäche Englands<br />

demnächst auch Erbe des Britischen Weltreichs werden.<br />

So ganz fern lagen solche heute etwas phantasmagorischen<br />

Gedanken nicht. Wir suchen Fühlung mit England<br />

auf der Basis der Teilung der Welt, hatte Ende Mai 1940 ein<br />

deutscher Diplomat geschrieben. 66 Das ist ein ähnlicher<br />

Gedanke wie der oben zitierte: Should Britain go under,<br />

it is a very fair question whether the United States might<br />

not have to take them (= das Britische Reich) all over. Es<br />

kam auch 1940 für die USA jedenfalls nicht in Betracht,<br />

ein deutsches Weltreich zu dulden – und sie griff en ein.<br />

Der deutsche Sieg wurde wieder verhindert. Dieses Mal<br />

allerdings mit der Unterstützung der UdSSR.<br />

Ergebnis<br />

Die beiden Supermächte UdSSR und USA waren<br />

schon vor 1939 die größten. Nicht deren Sieg über<br />

<strong>Deutschland</strong> hat die Welt verändert. Es waren die deutschen<br />

Siege 1940 über England und Frankreich. Diese<br />

haben deren Kolonialreiche zum Einsturz gebracht und<br />

zum Ende des Kolonialismus geführt. Großbritannien<br />

und Frankreich sind 1940 auf Normalmaß zurückgeschnitten<br />

worden. Dadurch wurden <strong>Deutschland</strong> und<br />

andere Staaten in ihrer Weltgeltung relativ aufgewertet.<br />

<strong>Deutschland</strong> als der vorerst noch kräftigste europäische<br />

Staat hat mithin durch diese Siege unmittelbar gewonnen.<br />

Erstmals seit dem Mittelalter haben wir wieder<br />

zu einer unserer Größe entsprechenden politischen<br />

Rolle gefunden. Die ehemaligen Kolonialmächte aber<br />

standen nach dem Verlust ihrer überseeischen Reiche<br />

wie der Kaiser vor der Welt, dessen Herrschermantel<br />

gar nicht da ist, er hatte ihnen auch nie gehört, weil er<br />

geraubt worden war.<br />

Die machtpolitische Entzauberung von England und<br />

Frankreich lag sicherlich außerhalb aller Erwartungen<br />

der deutschen Führung, als die ersten Schüsse auf Polen<br />

fi elen. Es triff t aber in einem fast mythischen Sinne das<br />

lateinische Wort zu: Flectere si nequeo superos acheronta<br />

movebo – kann ich den Himmel nicht zwingen, so will<br />

ich die Tiefen erschüttern. Es ist, als ob die Geschichte<br />

<strong>Deutschland</strong> in diesem Sinne gebraucht hätte, um eine<br />

neue Weltordnung ohne Kolonialismus zu ermöglichen.<br />

66 Haßo v. Etzdorf, zitiert bei: Boog/Förster, S. 28<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

19


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

20<br />

Literatur<br />

Aaron, Robert<br />

Histoire de l`épuration – de l`indulgence aux massacres novembre<br />

1942 – Septembre 1944, Fayard 1967<br />

Boog/Förster u. a.<br />

Der Angriff auf die Sowjetunion<br />

Militärgeschichtliches Forschungsamt Freiburg 1983<br />

Fischer Taschenbuch 1991<br />

Clarke, Peter<br />

The Last Thousand Days of the British Empire<br />

London 2007<br />

Corrigan, Gordon<br />

Blood, Sweat and Arrogance and the Myths of Churchill`s War,<br />

Weidenfeld & Nicolson , London 2007<br />

Cunningham, H. S.<br />

British India and Its Rulers, New Delhi 1995<br />

(Nachdruck der 1. Aufl . von 1882)<br />

Gabriel Hanotaux (1893 bis 1895 und von 1896 bis<br />

1898 Außenminister, und 1898 Kolonialminister Frankreichs)<br />

sagte: Die kolonisatorische Mission Frankreichs<br />

ist die intellektuelle und moralische Evangelisation der<br />

Völker. Wenn Kunst, Literatur, Sprache und Geist Galliens<br />

nicht ausgesät wären, der Rest des Universums wäre unfruchtbar<br />

gewesen.<br />

*<br />

Encyclopedia Britannica 1962<br />

Fest, Joachim<br />

Hitler, Ullstein Verlag 1973,<br />

v. Manstein, Erich<br />

Verlorene Siege, Bonn 1955, S. 118<br />

Michel, Henri<br />

Vichy – Année 40, Paris, 1966<br />

Nicolson, Harold<br />

Tagebücher und Briefe, Stuttgart, 1969 (aus dem Engl.)<br />

Schramm, Percy Ernst (Hrsg.)<br />

Kriegstagebuch des OKW<br />

Stora, Benjamin<br />

Algérie – histoire contemporaine 1830–1988, Alger 2004<br />

Am Tag der deutschen Einheit 3.10.<strong>2010</strong><br />

Jules Ferry (Ministerpräsident des französischen<br />

Imperialismus) sagte 1885: Die überlegenen Rassen haben<br />

ein Recht gegenüber den unterlegenen Rassen, und<br />

in dieser Hinsicht sollte sich Frankreich nicht der Pfl icht<br />

entziehen, die Völker zu zivilisieren, die … barbarisch<br />

geblieben sind.<br />

Wir Deutschen aber klagen uns an wegen der<br />

harmlosen und überdies ganz anders gemeinten Verse<br />

E. Geibels: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.<br />

*


Im <strong>DJ</strong> 2009 hat H. J. von Leesen über Umerziehung der Deutschen als Teil der psychologischen Kriegführung geschrieben.<br />

Reaktionen unserer Leser dazu lassen sich auf den Satz zusammenfassen: D a s haben wir gar nicht<br />

gewußt! Tatsächlich ist dieser Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte wie mit einem Tabu belegt. Es schien<br />

daher angebracht, es noch einmal aus einem anderen Blickwinkel zu behandeln.<br />

Deutsche Nachkriegsmedien<br />

und die Umerziehung der Deutschen<br />

von<br />

Ekkehard Zimmermann •<br />

1. Ausgangspunkt<br />

Psychologische Kriegführung hat es gegeben, soweit<br />

wir Geschichte betrachten können. In modernen<br />

Zeiten dürfte England sie erfunden und perfektioniert<br />

haben. Medien, vor allem die Massenpresse, wurden als<br />

Instrumente der Kriegsvorbereitung und ab 1914 auch<br />

der Kriegführung eingesetzt. Es gelang den Briten, über<br />

Flugblätter, Karikaturen, Zeitungen und später auch<br />

über den Film, das Bild vom Deutschen nachhaltig<br />

und dauerhaft zu beschädigen, alles Deutsche (hier<br />

vor allem das Preußische) zu verteufeln und in den<br />

Völkern der Welt (besonders aber in den USA) Ekel,<br />

Haß und den Wunsch nach Vergeltung zu wecken. Wer<br />

über Jahre Widerwärtiges und Abstoßendes über ein<br />

anderes Volk vorgesetzt bekommt, wer in Zeitungen,<br />

auf Plakaten, in Filmen Wesen erblickt, denen off ensichtlich<br />

alles Menschliche fehlt, der wird schließlich<br />

glauben, daß er selbst nichts Schlimmes tut, wenn er<br />

einen Angehörigen dieses Volkes schikaniert, demütigt<br />

oder sogar totschlägt. 67<br />

• ekkehard.zimmermann@t-online.de. – Zugleich Fortführung des<br />

Beitrages von v. Leesen in: <strong>Deutschland</strong>-<strong>Journal</strong> SWG 2009, S.46<br />

ff .<br />

67 Taylor/Sanders: Britische Propaganda im Ersten Weltkrieg, Colloquium<br />

Verlag Berlin 1990<br />

2. <strong>Journal</strong>isten als Propagandisten<br />

1832 war der Herausgeber der Times, John Delane,<br />

noch der Ansicht, daß es „die Pfl icht des <strong>Journal</strong>isten“ sei,<br />

sowie der Historiker, vor allem die Wahrheit herauszufi nden.<br />

Die Rolle des <strong>Journal</strong>isten sei die eines Vermittlers<br />

von Fakten. Wenige Jahre später klärt der amerikanische<br />

Zeitungsverleger und Herausgeber der New York Times,<br />

Swinton, seine Redakteure darüber auf, daß es „bis zum<br />

heutigen Tag so etwas wie eine unabhängige Presse in<br />

der Weltgeschichte nicht gäbe“. Und daß es „das Geschäft<br />

der <strong>Journal</strong>isten“ sei, „die Wahrheit zu zerstören,<br />

unumwunden zu lügen, zu pervertieren, zu verleumden“.<br />

<strong>Journal</strong>isten seien „intellektuelle Prostituierte“. 68<br />

Wenige Jahre später, noch vor Ausbruch des Ersten<br />

Weltkrieges, erscheint immer öfter der Deutsche als<br />

„ Hunne“, als „blutsaufende Bestie“ in den britischen<br />

Tageszeitungen. Sein Anblick schürt unter der Bevölkerung<br />

Ängste und provoziert Haß und Wut. Die kommt<br />

vor allem in den vielen Leserbriefen zum Ausdruck, welche<br />

von den Zeitungen täglich veröff entlicht werden.<br />

3. Wie öffentliche Meinung gemacht wird<br />

Gleich zu Kriegsbeginn wird auf Betreiben Lloyd<br />

Georges, des englischen Premierministers, ein „Amt für<br />

Kriegspropaganda“ eingerichtet, mit dem Ziel, auf der<br />

Insel „Meinung zu machen“. 1918 wird Lord Beaverbrook<br />

68<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

21


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

22<br />

Chef des neueingerichteten Informationsministeriums.<br />

(MOI). Dem MOI untersteht die Feindpropaganda mit<br />

ihrem Chef Lord Northcliff .<br />

Nach Meinung Beaverbrooks hat Propaganda die Aufgabe,<br />

„öff entliche Meinung zu machen und sie zu lenken“.<br />

Doch lange bevor Lord Northcliff in seinen Massenblättern<br />

Propaganda für den „guten Zweck“ des Krieges<br />

macht, saßen die widerwärtigen Bilder der Greuelpropaganda<br />

schon fest in den Hirnen, hat das Amt für<br />

Kriegspropaganda Meinung gemacht mit Bildern und<br />

Berichten von Exekutionen von Zivilisten in Belgien,<br />

der Folterung und Verstümmelung belgischer Frauen,<br />

dem Aufspießen von Kindern, dem Abhacken von Kinderhänden,<br />

dem Verkochen von Leichen zu Seife usw.<br />

Zusammengefaßt erscheinen diese Scheußlichkeiten<br />

im sog. „Bryce-Bericht“ und werden preiswert unter das<br />

Volk gebracht. 360 Seiten für einen Penny. Als 1925<br />

eine wissenschaftliche Kommission dieses „Meisterstück“<br />

britischer Kriegspropaganda in großen Teilen als<br />

Fälschung entlarvt, ist das Bild vom Deutschen längst<br />

fertig. Die Faustregel „dämonisiere den Deutschen“ hat<br />

sich weltweit bewährt. Mit dem Kriegsende hat sich die<br />

Propaganda als „fünfter Arm“ der Landesverteidigung<br />

ihren festen Platz erobert. Die Mittel waren Presse,<br />

Radio und Film. 1918 plagen sich Beaverbrook und der<br />

Herausgeber der einfl ußreichen Tageszeitung, Steed,<br />

mit Überlegungen, ob nicht das Amt für Kriegspropaganda<br />

„auch in Friedenszeiten“ eine „unbezahlbare Rolle<br />

spielen könne“, und ob sie dem Vorschlag Northcliff s<br />

folgen sollten, das Amt für Feindpropaganda in ein Amt<br />

für Umerziehung zu verwandeln. 69<br />

Propaganda könne also, nach Meinung dieser britischen<br />

Experten, durchaus eine Erziehungsaufgabe<br />

haben. „Noch weit über den Krieg hinaus“ müsse die<br />

Propaganda wirken, müsse das Bild vom „preußischen<br />

Unhold“ Bestand haben.<br />

Das will zu dem passen, was die WELT am 20. Nov.<br />

1982 ihren Lesern mitteilte. Der amerikanische Starjournalist<br />

und Analytiker des Phänomens „Öff entliche<br />

Meinung“, Lippmannn, sei der Ansicht gewesen, daß<br />

erst dann eine Umerziehung als wirklich erfolgreich<br />

bezeichnet werden könne, wenn es gelungen sei, die<br />

Darstellung der Geschichte aus der Sicht der Sieger in<br />

die Gehirne der Besiegten einzupfl anzen. Erst, wenn<br />

die Kriegspropaganda der Sieger Eingang in die Geschichtsbücher<br />

der Besiegten gefunden habe und von<br />

der nachfolgenden Generation auch geglaubt werde,<br />

erst dann könne die Umerziehung als wirklich gelungen<br />

bezeichnet werden.“<br />

Nur wenige Jahre nachdem eine unabhängige<br />

Kommission von Historikern festgestellt hatte, daß<br />

die Greuelpropaganda gegen das Deutsche Reich und<br />

seine Verbündeten haltlos, erfunden und erlogen war,<br />

saßen die Amerikaner Bernays und Lippmannn 70 an der<br />

Aufgabe, Propaganda und öffentliche Meinung auf<br />

„wissenschaftliche“ Grundlagen zu stellen und ihren<br />

Zweck und Gebrauch im Rahmen der öffentlichen<br />

Meinungsbildung zu bestimmen. Am Beginn seiner<br />

Studie über Propaganda stellt Bernays sie als „bewußte<br />

Manipulation von Gewohnheiten und Meinungen<br />

der Massen“ durch eine „geringe Anzahl intelligenter<br />

Mitglieder der Gesellschaft“ vor. Und diese wenigen<br />

könnten die vielen „zu allem bringen, was sie wollten“.<br />

Lippmannn ergänzt, daß es nur auf diesem Wege<br />

„durch das Mittel der Propaganda“ gelingen könne,<br />

69 Taylor/Sanders, a. a. O.: “Labor´s Untold Story” by Richard O. Boyer,<br />

Cameron Associates, New York 1955 – Aus der englischen Wikipedia:<br />

“There is no such thing, at this stage of the world’s history<br />

in America, as an independent press. You know it and I know it.<br />

There is not one of you who dare write your honest opinions, and<br />

if you did, you know beforehand that it would never appear in<br />

print. I am paid weekly for keeping my honest opinions out of the<br />

paper I am connected with. Others of you are paid similar salaries<br />

for similar things, and any of you who would be foolish as to write<br />

honest opinions would be out on the streets looking for another<br />

job. If I allowed my honest opinions to appear in one issue of my<br />

papers, before twenty-four hours my occupation would be gone.<br />

The business of the journalist is to destroy the truth, to lie outright,<br />

to pervert, to vilify, to fawn at the feet of Mammon, and to sell his<br />

country and his race for his daily bread. You know it and I know it,<br />

and what folly is this toasting an independent press? We are the<br />

jumping jacks, they pull the strings and we dance. Our talents,<br />

our possibilities and our lives are all the property of other men.<br />

We are intellectual prostitutes.”<br />

70 Walter Lippmann, geboren 1889 in New York City in einer<br />

deutsch-jüdischen Familie. Bernays: 1891 in Wien geboren; Neff e<br />

von Sigmund Freunds Frau. Die Bernays waren eine prominente<br />

jüdische Familie.


einen „Konsens“ zwischen Regierenden und Regierten<br />

herzustellen. Er nennt diesen Vorgang „manufacture<br />

consens“. Erleichtern ließe sich diese Zustimmung der<br />

Regierten zu den Plänen ihrer Regierung durch einen<br />

simplen Trick. Der amerikanische Sprachwissenschaftler,<br />

Politologe und Philosoph, Noam Chomsky, weist darauf<br />

hin, daß das seichte Vergnügen vor den Bildschirmen<br />

heutzutage vor allem auch dazu diene, die Menschen<br />

von ihren eigentlichen Bedürfnissen abzulenken.<br />

Im Ersten Weltkrieg jedoch wird die britische Propaganda<br />

zu einer verhängnisvollen Waff e, der die Deutschen<br />

nichts entgegenzusetzen haben. Adolf Hitler wird<br />

später die „wahrhaft geniale Berechnung“ der britischen<br />

Kriegspropaganda loben. 71 Auch das Kino half mit, im<br />

Ersten Weltkrieg nationales Pathos auf der Insel zu<br />

steigern. Propagandastreifen wie „Die Klauen der Hunnen“,<br />

„Der preußische Hundesohn“ oder „Der Kaiser,<br />

die Bestie von Berlin“ prägten sich ein, fraßen sich fest<br />

in das Gedächtnis der Massen, überdauerten dort und<br />

blieben jederzeit abrufbar. So fi ndet ein Phänomen<br />

seine Erklärung, das gemeinhin mit Haß beschrieben<br />

wird, das aber in Wirklichkeit weit mehr ist. Der amerikanische<br />

Historiker Morison stellt in seiner zweibändigen<br />

Chronik „Das Werden der amerikanischen Republik“<br />

für die Zeit nach dem Ersten und erst recht vor und im<br />

Zweiten Weltkrieg fest, daß sich die Generation, die in<br />

beiden Kriegen gegen die Deutschen kämpfte „nie wieder<br />

vollständig erholt hat“. Gemeint ist die nachhaltige<br />

Wirkung deutschfeindlicher Klischees. 72 Der deutsche<br />

Filmhistoriker Curt Moreck fügt ergänzend hinzu, daß<br />

die Wirkungen der Hetzkampagne während des Ersten<br />

Weltkrieges „durch keine gegenteilige Aufklärungsarbeit<br />

der Nachkriegszeit“ wieder aufgehoben werden<br />

konnte.<br />

Ein Blick über den Tellerrand<br />

Der Historiker Golo Mann fordert zwar, uns mit der<br />

Vergangenheit zu beschäftigen. Wer es hierzulande<br />

aber unternimmt, nicht nur die eigenen, also deutschen,<br />

sondern auch die Verbrechen anderer Völker aufzubereiten,<br />

gerät schnell in den Verdacht, ein rechtslastiger<br />

Nationalist, wenn nicht gar noch etwas Übleres zu<br />

sein. Lutz Niethammer 73 formuliert diesen Verdacht<br />

– allerdings auf das Phänomen der Internierung bezogen<br />

– wie folgt: Die westdeutschen Historiker seien<br />

„beklommen gewesen“, problematische Bereiche „ihrer<br />

Besatzungsmacht aufzugreifen, um ... nicht rechtsradikaler<br />

Agitation Nahrung zu geben und sich der Gefahr<br />

des Aufrechnens auszusetzen“.<br />

Ein Blick in die britische, amerikanische oder französische<br />

Mediengeschichte kann aber durchaus auf-<br />

71 Hitler, Adolf: „Mein Kampf“<br />

72 Morison-Crommager: Das Werden der amerikanischen Republik<br />

73 Lutz Niethammer in „Internierungspraxis in Ost- und Westdeutschland<br />

nach 1945, S.41–57, hier S. 43<br />

schlußreich sein. An sie mag der britische Botschafter in<br />

Berlin, Sir Neville Henderson, gedacht haben, als er 1939<br />

bemerkte, daß die Geschichte einst das Urteil sprechen<br />

würde, daß es „ganz allgemein“ die „Presse“ gewesen<br />

sei, welche die „hauptsächliche Ursache für den Krieg“<br />

gewesen ist. Henderson stand in Großbritannien mit<br />

dieser Meinung nicht allein. Auch er wußte, wovon<br />

er sprach. Die Befürchtung ist nicht abwegig, daß die<br />

Medien uns Deutsche zu dem gemacht haben, was wir<br />

sind. So wie in nur wenigen Jahrzehnten aus der Pfl icht<br />

zur Information (wie John Delane sie verstand) die Pfl icht<br />

zur Desinformation wurde, sobald das Vaterland rief,<br />

die Liebe zur Wahrheit zur Liebe für England wurde.<br />

So wurden aus den Vermittlern Missionare. Und jedes<br />

Mittel war recht, um dieser Mission medial Ausdruck zu<br />

verleihen – auf Kosten der Wahrheit.<br />

Die bewußte, amtliche Irreführung eines Volkes,<br />

das Täuschen und Belügen der eigenen Bevölkerung<br />

beginnt in England. Dem trägt die englische Zeitung<br />

Sunday Correspondence Rechnung, als sie 1989 feststellt:<br />

„Wir sind 1939 nicht in den Krieg eingetreten, um<br />

<strong>Deutschland</strong> vor Hitler oder die Juden vor Auschwitz 74·<br />

und den Kontinent vor dem Faschismus zu retten. Wie<br />

1914 sind wir für den nicht weniger edlen Grund in den<br />

Krieg eingetreten, daß wir eine deutsche Vorherrschaft in<br />

Europa nicht akzeptieren können.“<br />

So deutlich kann man es natürlich nicht sagen,<br />

wenn es gilt, das Volk bei der Stange zu halten, um<br />

einen Krieg durchzustehen, den viele gar nicht wollten.<br />

Dieser Ansicht war u. a. auch Steed, der während<br />

des Ersten Weltkriegs dafür zuständig war, daß die<br />

englische Bevölkerung nur das zu lesen und zu hören<br />

bekam, was sie in ihrer Siegeszuversicht und in ihrem<br />

Haß auf den „preußischen Hunnen“ stärkte. Marineminister<br />

Winston Churchill hatte bereits frühzeitig für<br />

die Einrichtung eines Pressebüros gesorgt und damit<br />

schon zu Beginn des Krieges die Presse zum Teil des<br />

regierungsamtlichen Propagandaapparates gemacht.<br />

Frühzeitig gab es mäßigende und mahnende Stimmen,<br />

die Folgen solcher propagandistischen Feldzüge lägen<br />

doch auf der Hand: die Bilder dieser Klischees würden<br />

„vielfach von Generation zu Generation weitgehend<br />

unverändert weitergegeben“. Wie gefährlich das sei,<br />

hob der englische Militärhistoriker J. F. C. Fuller hervor.<br />

Propaganda entfessele „die Bestie im Menschen“. Sie<br />

sei eine „höllische Taktik“, welche die im Menschen<br />

schlummernden tierischen Instinkte wecke ... und aus<br />

dem Gegner einen Teufel mache. 75<br />

Der schon zitierte Noam Chomsky ergänzt, daß eine<br />

Geschichte der politischen Propaganda auf ihre Quellen<br />

zurückgeführt werden müsse. Die aber lägen in Großbritannien,<br />

denn dort seien die Prinzipien der Propaganda<br />

perfekt entwickelt und umgesetzt worden. Die Briten<br />

74 Das KZ bestand 1939 auch noch gar nicht.<br />

75 Fuller, J. F. C.: The Conduct of War 1789–1961 „The Study of the<br />

Impact of the French, Industrial and Russian Revolution on War<br />

Conduct.<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

23


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

24<br />

hätten, so der Wissenschaftler, mit Hilfe der Propaganda<br />

erfolgreich „das Denken der Welt kontrolliert“. 76 Die<br />

Technik aber, Halbwahrheiten und Lügen zu verbreiten,<br />

verfolgte im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg auch das<br />

Ziel, die USA in einen Krieg zu locken.<br />

Die USA greifen in den Ersten Weltkrieg ein<br />

Gilbert Parker, Leiter der Amerikaabteilung des Informationsministeriums<br />

in London, konnte dank eines<br />

zuvor über das Land gesponnenen dichten Netzes von<br />

Sympathisanten während des Ersten Weltkrieges Zuträger<br />

und Agenten in den USA für einen Kriegseintritt<br />

Amerikas mobilisieren .<br />

In den Vereinigten Staaten nahm sich der landesweiten<br />

Verbreitung des „Hunnenklischees“ in den Jahren<br />

1916/1917 die Creel Commission 77• an, und organisierte<br />

landauf, landab ihren Propagandafeldzug – nach Vorlage<br />

der englischen Presse und nach Maßgabe der von<br />

ihr weltweit verbreiteten Greuelhetze. Die Wirkung war<br />

durchschlagend, denn innerhalb kürzester Zeit gelang<br />

es den Briten und ihren Helfershelfern in den USA, aus<br />

einer friedlichen Bevölkerung eine „hysterisch heulende,<br />

kriegslüsterne Meute zu machen“.<br />

History repeats itself – Geschichte wiederholt sich,<br />

sagt der Brite. Am 17. September 1989 teilte die „Washington<br />

Post“ ihren Lesern mit, daß britische Agenten<br />

seit 1940 eifrig dabei gewesen wären, in amerikanischen<br />

Zeitungen „Stimmung“ gegen das Dritte Reich zu machen.<br />

Sie hätten, so die Zeitung, Nachrichtenagenturen<br />

und Radiostationen manipuliert, politische Feinde in<br />

Kongreß und in den Gewerkschaften öff entlich angegriff<br />

en, politische Freunde korrumpiert und anderes<br />

mehr.<br />

In Großbritannien holte der britische Premier Churchill<br />

den schon bekannten Lord Beaverbrook als Minister<br />

für die Rüstungsproduktion in sein Kriegskabinett. Dem<br />

Informationsministerium (MOI) unterstand BBC mit<br />

ihren Dutzenden von deutschen Helfern, unter ihnen<br />

Waldemar von Knoeringen. 78 Es fällt nicht schwer, sich<br />

vorzustellen, wie wertvoll hier die Erfahrungen eines<br />

76<br />

77 The Committee on Public Information, also known as the CPI<br />

or the Creel Committee, was an independent agency of the<br />

government of the United States created to infl uence U. S. public<br />

opinion regarding American participation in World War I. Over<br />

just 28 months, from April 13, 1917 to August 21, 1919, it used<br />

every medium available to create enthusiasm for the war effort<br />

and enlist public support against foreign attempts to undercut<br />

America’s war aims.<br />

78 Freiherr zu Guttenberg: Fußnoten, Ullstein TB 646. 1971. – Bei<br />

Kriegsbeginn befand sich von Knoeringen schließlich in England.<br />

Von 1940 bis 1943 arbeitete er für das deutschsprachige<br />

Programm der BBC wie auch für den Sender der euopäischen<br />

Revolution. Er verließ die BBC, da er nicht mehr auf eigene Verantwortung<br />

arbeiten durfte und die BBC vor der Ausstrahlung<br />

eine Einsicht in die Sendemanuskripte forderte. Ende 1945 kehrte<br />

Knoeringen als Major der britischen Armee nach <strong>Deutschland</strong><br />

zurück<br />

Lords werden, der als Experte der Desinformation ausgewiesen<br />

und zusätzlich noch Herr über ein gewaltiges<br />

Presseimperium war. 1939 beginnen umgehend geheimgehaltene<br />

Anstrengungen, den „großen Vetter“ –<br />

die USA – für den Kriegseintritt zu gewinnen. Taktik und<br />

Methoden sind 1914 die gleichen wie 1939. Geschickt<br />

verstehen es die britischen Propagandaexperten 1940<br />

– so wie schon 1916, in den USA Ängste vor dem „häßlichen<br />

Hunnen“ zu wecken. Vom Datum ihrer Geburt her<br />

konnten sie alle einer Generation zugerechnet werden,<br />

für die das Empire ein Gott und das Deutsche Reich der<br />

„natürliche“ Gegner waren. Eine nicht unerhebliche<br />

Anzahl von ihnen hatte England schon im Ersten Weltkrieg<br />

gedient, hatte den Ersten Weltkrieg bewußt erlebt<br />

und durch die Kriegspropaganda ein entsprechendes<br />

Deutschenbild mitbekommen. Das saß fest, das wirkte<br />

nach und blieb richtungweisend für den Kurs, den<br />

man gegenüber den „Hunnen“ einzuschlagen hatte.<br />

Und sie beherrschten ihr Metier aus dem FF. Eine stark<br />

verbesserte Technik machte sie durchschlagskräftiger<br />

als 1914. Die Männer kamen aus regierungsamtlichen<br />

Kreisen, vor allem aus dem Außenamt (FO), aus der<br />

Ministerialbürokratie. Unter ihnen waren renommierte<br />

<strong>Journal</strong>isten. Sie kamen aus Kreisen der Industrie und<br />

Hochfi nanz und den Propagandaabteilungen des Geheimdienstes.<br />

Sie waren geübt im „Kampf im Dunkeln“,<br />

hatten aber recht unterschiedliche Interessen. Was sie<br />

verband, waren – wie vor und im Ersten Weltkrieg –<br />

die Glorie des britischen Empire und der Haß auf alles<br />

Deutsche. 79<br />

Steed, Chef der „Times“, wird während der Jahre<br />

vor und im Zweiten Weltkrieg der politische Berater<br />

Churchills. Bereits 1940 legt er ein Kriegszielprogramm<br />

79 Aigner, Dietrich: Das Ringen um England, Bechtle 1969


vor, das eine Zerstückelung <strong>Deutschland</strong>s, weitläufi ge<br />

Gebietsabtretungen – darunter Ostpreußen – und<br />

Massenaustreibungen vorsah. Treibende Kraft hinter<br />

den Kulissen war Lord Vansittart, ein bedingungsloser<br />

Befürworter des britischen Empires und ein DeutschenHaßer.<br />

Bereits 1937 hatte er in den USA für einen<br />

„Kreuzzug für Freiheit und Demokratie“ geworben und<br />

war auf ein dankbares Publikum gestoßen. Als Leiter<br />

des Koordinationskomitees für die britische Auslandspropaganda<br />

hatte er ein weites Betätigungsfeld.<br />

1938 wird in Großbritannien mit dem Aufbau einer<br />

zentral gelenkten Kriegspropaganda begonnen, deren<br />

Hauptaufgabe darin besteht, die „englische Bevölkerung<br />

auf den Krieg einzustimmen“, wie der englische<br />

Werbefachmann Sidney Rogerson meint. Der englische<br />

Medienwissenschaftler Taylor ist der Ansicht, daß das<br />

Organisationsschema der britischen Propaganda im<br />

Ersten Weltkrieg jenem des Zweiten sehr ähnlich gewesen<br />

sein müsse.<br />

Das haben wir uns so vorzustellen: An der Spitze<br />

steht ein Ausschuß für politische Kriegführung (Political<br />

Warfare Executive = PWE). Dieser Ausschuß wurde<br />

auf Vorschlag des FO (Foreign Office = Außenamt)<br />

im August 1940 ins Leben gerufen. Und in diesem<br />

PWE lassen sich jene geheimen Gremien verorten, die<br />

geschaff en wurden, um mit Hilfe von Propaganda die<br />

Menschen im In- und Ausland zu beeinfl ussen. Alle<br />

geheimen Ausschüsse, die vom FO oder auf Betreiben<br />

des Premier selbst geschaff en wurden, hatten nur ein<br />

Ziel: das Deutsche Reich als Festlandsmacht endgültig<br />

auszuschalten, dessen wirtschaftliche Stärke auf immer<br />

und ewig zu brechen, seine Rolle als europäische Großmacht<br />

zu vernichten. Vor allem aber war sicherzustellen,<br />

daß sich das Reich von seiner Niederlage nicht wieder<br />

erholen würde.<br />

Der Kampf um die deutsche Seele<br />

Ziel Delmers 80• war es, die Moral der kämpfenden<br />

Truppe und der sog. Heimatfront zu zersetzen. Er ist<br />

für unser Thema in mehrfacher Hinsicht von Interesse.<br />

Zum einen ist er ein routinierter Psychokrieger gewe-<br />

80 Von 1941 bis 1945 war Delmer an den auf die deutsche Bevölkerung<br />

abzielenden Propagandaanstrengungen der britischen Regierung<br />

beteiligt. Im Auftrag der Political Warfare Executive leitete<br />

er den in einem alten Schloß in Bletchley Park untergebrachten<br />

deutschsprachigen Soldatensender Calais, der die Aufgabe hatte,<br />

die deutsche Bevölkerung über den Kriegsverlauf aus britischer<br />

Sicht zu informieren und ihr so ein Gegenbild zur NS-Propaganda<br />

zu liefern. Darüber hinaus wurde auch über Greueltaten der<br />

Nationalsozialisten berichtet. Zu den Mitarbeitern des Senders<br />

gehörten insbesondere emigrierte deutsche <strong>Journal</strong>isten wie<br />

Hans Reinholz oder Otto John, der spätere Chef des Bundesamtes<br />

für Verfassungsschutz, von dem Delmer sich derart beeindruckt<br />

zeigte, daß er ihn in seinen Lebenserinnerungen in leuchtenden<br />

Farben – und wohl übertrieben – als einen Märtyrer des antinazistischen<br />

Widerstandskampfes schilderte. In <strong>Deutschland</strong> fand<br />

Delmers Sender – obwohl das Hören von staatlicher Seite streng<br />

verboten war – eine große Hörerschaft.<br />

contech<br />

sen. (Nach einem Bericht des Spiegel vom 8. 9. 1954<br />

hat Delmer die psychologische Kriegführung bis zur<br />

Vollendung entwickelt.) Zum anderen beschäftigt er in<br />

seiner Truppe eine Menge Deutscher, unter ihnen Otto<br />

John (den späteren Präsidenten des Verfassungsschutzes<br />

der BRD), Eduard von Schnitzler, Philipp Rosenthal,<br />

Fritz Heine u. a. 81<br />

Zum dritten – und das ist für unser Thema sehr wichtig<br />

– wird er einen Teil seiner Truppe nach der Kapitulation<br />

des Deutschen Reiches einsetzen, um der deutschen<br />

Medienlandschaft „ein neues Gesicht“ zu geben.<br />

Und letztlich erfahren wir von ihm persönlich, mit<br />

welchen Mitteln er das Ziel durchsetzen wollte, gegen<br />

die nationalsozialistische Weltanschauung zu kämpfen.<br />

Delmer und seine Truppe empfanden den Krieg vor<br />

allem als Nervenschlacht, in der „alles erlaubt“ war, „jeder<br />

Griff “, der „schmutzigste Trick“, je „übler, um so besser“,<br />

„Lügen, Betrug – alles“, wie sich der Chef rückblickend<br />

erinnerte. 82 Falls das nicht reichen sollte, sprangen<br />

andere Psychokrieger ein, wie sie von der amerikanischen<br />

<strong>Journal</strong>istin Freda Utley 83 erwähnt werden. In sog.<br />

Haßkursen sollten die GIs vor und nach dem Sieg daran<br />

erinnern werden, mit wem sie es in <strong>Deutschland</strong> zu tun<br />

haben würden. Als der Zeitpunkt gekommen war, und<br />

die „Bestie“ am Boden lag, folgte die Quittung. Auf Versailles<br />

1919 folgt die bedingungslose Kapitulation 1945.<br />

Unter Mißachtung aller völkerrechtlichen Vorgaben,<br />

ja unter Bruch des geltenden Völkerrechts wurde eine<br />

„bleibende, unsichtbare Besatzung“ eingerichtet, in<br />

der, wie der britische Historiker A. J. P. Taylor noch 1957<br />

anmerkte, Männer an den Schalthebel zeitgemäßer<br />

Massentäuschung und Massenbeeinfl ussung saßen,<br />

die den Willen der Besatzungsmacht durchsetzten und<br />

Presse, Verlage, den Rundfunk und (später) das Fernsehen<br />

kontrollierten.<br />

Die Medienpolitik in den USA in den<br />

letzten Kriegsjahren<br />

In den Vereinigten Staaten stellte sich in Regierungskreisen<br />

die Frage, wie mit <strong>Deutschland</strong> nach dessen<br />

bedingungsloser Kapitulation zu verfahren sei, lange<br />

bevor in Reims die Kapitulationsurkunde am 8. Mai 1945<br />

unterschrieben wurde. Das amerikanische Volk mußte<br />

erst – wie schon 1916 – durch die Medien lernen, alles<br />

Deutsche zu Haßen. Und das, obwohl im September<br />

1942 laut einer Gallupumfrage 40% gar nicht wußten,<br />

„warum ihr Land eigentlich am Krieg beteiligt war“. 84 Die<br />

Vorbereitung der Öffentlichkeit auf eine Verschärfung<br />

der <strong>Deutschland</strong>politik beginnt in den Medien. Die 1943<br />

beobachtbare allgemeine Verhärtung der „öffentlichen<br />

81 zu Guttenberg, a. a. O.<br />

82 Delmer, Sefton: Die Deutschen und ich, Nannen Verlag Hamburg<br />

1963, S.617 ff .<br />

83 Utley Freda: Kostspielige Rache, Nolke Verlag Hamburg 1950, S.30<br />

84 Pauwels, Jacques: Der Mythos vom guten Krieg, Papy Rossa Verlag,<br />

Köln 2003, S. 21<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

25


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

26<br />

Meinung“ ist im Zusammenhang mit dem „Kreuzzug für<br />

eine bessere Welt“ zu sehen. Über die Medien wurde ein<br />

Deutschenbild durchgesetzt, das jenem sehr ähnlich<br />

war, welches 1916 die Menschen in Hysterie, Angst und<br />

einen Haß auf alles Deutsche getrieben hatte.<br />

Der amerikanische <strong>Journal</strong>ist Benjamin Colby 85 weist<br />

nach, daß dieser Haß planmäßig von einer halbamtlichen<br />

Regierungsstelle, dem „Verband der Kriegsschriftsteller“,<br />

gesteuert wurde, der „größten Propagandamaschine<br />

der Geschichte“. Ein Beamter des „Büros für<br />

Kriegsnachrichten“ (OWI) klärt uns auf: „Wir bedienten<br />

uns der Tätigkeit von 5.000 Schriftstellern, wir erreichten<br />

Tausende von Zeitungen, mehr als 600 Radiostationen<br />

... mit dabei waren 1150 Schulungsoffi ziere“. Nachrichtenmaterial<br />

wurde verschickt, Agenturen beliefert,<br />

Rundfunktexte wurden an die Sender verteilt, persönliche<br />

Kontakte zu Redakteuren, Schriftstellern und<br />

Rundfunkanstalten vermittelt. Auch Hollywood nahm<br />

an der Kampagne teil, „zog in den Krieg“. Hunderte<br />

von antideutschen Hetz- und Haßfi lmen verbreiteten,<br />

ähnlich wie im Ersten Weltkrieg, den „Triumph des unbesiegbaren<br />

Guten über das abgrundtief Schlechte“.<br />

Und wieder zog das Bild vom „bösen Deutschen“ um die<br />

Welt. In Asien z. B. wurde in 5.000 Kinos der Haßexport<br />

aus den USA gezeigt. Die Muster, wie solche Kampagnen<br />

zu führen waren, lagen ja bereit. Die Mittel, wie man<br />

aus einer friedlichen Bevölkerung binnen kurzem eine<br />

„hysterische Meute“ machen konnte, auch. Es waren die<br />

gleichen wie die aus den Tagen des Ersten Weltkriegs.<br />

Und was sich damals 1916/1917 als wirkungsvolle Waff e<br />

erwiesen hatte, sollte sich auch 1943 als wirkungsvoll<br />

erweisen. Wie man „Feindbilder“ konstruierte, war<br />

seit dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865)<br />

bekannt. In dieser Auseinandersetzung zwischen den<br />

amerikanischen Süd- und Nordstaaten wurden die Südstaatler<br />

als die „Bösen“, als die „von Gott Verworfenen“<br />

schlechthin von der Nordpresse „aufgebaut“. Auch die<br />

Techniken waren bekannt, wie man ihnen zur Wirkung<br />

verhalf: „ständige Wiederholung“ und gezielte Appelle<br />

an „ethnische, nationale oder soziale Vorurteile“ hatten<br />

sich als die geeignetsten Mittel erwiesen. 86<br />

1943 rückte Rex Stout, ein renommierter Kriminalschriftsteller,<br />

auf Betreiben Morgenthaus an die Spitze<br />

des Verbands der Kriegsschriftsteller. Er intensivierte<br />

sofort die Zusammenarbeit mit dem Amt für Kriegsnachrichten.<br />

Das OWI verschaff te freien Zugang zu<br />

den meinungsbildenden Institutionen, d. h. zu Presse,<br />

Rundfunk, Film. Mit der Devise Wir müssen Haßen, sonst<br />

werden wir verlieren gab er die Richtung vor und die<br />

Parole aus, daß Haß auf die Deutschen nötig sei, um<br />

eine Welt des Friedens zu errichten. Vor den Tagen des<br />

Fernsehens und den mit ihm verbundenen Möglichkeiten<br />

der Massensuggestion und -manipulation übte<br />

85 Colby, Benjamin: T´was a famous Victory – Deception and Propaganda<br />

in the War with Germany, Arlington o. J.<br />

86 Hubell, John T.: Essays from Civil War History in: Contributions in<br />

American History, No 45<br />

der Rundfunk einen ungeheuren Einfl uß aus. Und so<br />

organisierte Stout ein Programm, das er „Amerikas<br />

Städtetreff en im Funk“ nannte. Die Botschaft, daß die<br />

Deutschen „unheilbar“ an Paranoia litten, fraß sich fest,<br />

so daß letztlich kein anderer Weg bliebe als sie zu töten.<br />

In der „Gesellschaft zur Verhütung eines Dritten Weltkrieges“,<br />

einer Unterorganisation des Schriftstellerverbandes,<br />

forderte u. a. die Tochter Thomas Manns, Erika<br />

Mann, ein hartes Durchgreifen und eine konsequent<br />

durchgeführte Umerziehung.<br />

Ähnlich auch Willy Brandt. Aus seinem Stockholmer<br />

Exil warnte er vor den Vansittartisten. Die hätten ein völlig<br />

falsches Bild vom deutschen Volk. Doch gerade die<br />

einfl ußreichen Emigranten in den Vereinigten Staaten<br />

waren es, die sich anfällig für die von Vansittart gezeichnete<br />

deutsche „Erblast“ vom „blutsaufenden Hunnen“<br />

zeigten. Hatte Brandt angemerkt, daß nur „gefl üchtete<br />

Deutsche“ die Umerziehung in die Hand nehmen<br />

könnten, der Lehrerstand allerdings vorher gesäubert<br />

werden müsse, so dachten die in die USA gefl üchteten<br />

Emigranten weitaus radikaler.<br />

Die Anhänger Vansittarts<br />

und ihr Einfl uß in den USA<br />

Auch der amerikanische Finanzminister Morgenthau<br />

war ein kompromißloser Anhänger der Maximen<br />

des Lord Vansittart. Er wollte „reinen Tisch“ machen<br />

und forderte im Punkt 6 seines berüchtigten Plans die<br />

„leitenden Figuren im Presse- und Erziehungswesen“<br />

als „Erzverbrecher“ vor Gericht zu stellen. Am 10. September<br />

1944 legte er eine Denkschrift vor, in der eine<br />

„Umerziehung“ gefordert wurde. Alle Schulen seien<br />

zu schließen, da dort „der das deutsche Volk beherrschende<br />

militärische Geist seit vielen Jahrhunderten<br />

… bewußt gefördert worden sei“ ...<br />

Der Leiter der Zentraleuropaabteilung im amerikanischen<br />

Geheimdienst OSS, Walter Dorn, weist darauf<br />

hin, daß die ursprüngliche Form des Morgenthauplans<br />

vom 1. September 1944 unverkennbar „gemeinsame<br />

Züge“ mit jenem Programm Vansittarts aufwiese,<br />

welches jener dem britischen Oberhaus vorgetragen<br />

hätte. Dieses Programm sah im NS eine „zwangsläufi ge<br />

Aufgipfelung“, einen „barbarischen Höhepunkt“ einer<br />

über Jahrhunderte im deutschen Volk angelegten<br />

Entwicklung. Die sei nur durch eine komplett andere<br />

Erziehung und Ausbildung zu brechen. 87 Der Brite<br />

Louis Nizer, einfl ußreicher Rechtsanwalt in New York,<br />

muß auch zu Vansittarts Anhängern gezählt werden.<br />

In seiner Schrift „Was tun mit <strong>Deutschland</strong>“ machte er<br />

Vorschläge, wie mit den Deutschen nach deren Niederlage<br />

zu verfahren sei. Wie das im einzelnen in die Praxis<br />

umzusetzen sei, empfahl die aus dem Morgenthauplan<br />

87 Morgenthau: in „The Morgenthau Diaries“


hervorgegangene Direktive 1067. 88 Diese allgemeine<br />

Richtlinie für die amerikanische Besatzungspolitik für<br />

die Nachkriegszeit ordnete in Punkt 8d die „Festnahme<br />

aller Personen an, die Schlüsselstellungen in Erziehungs-<br />

und Unterrichtswesen bekleideten.“ 8f sah die<br />

Verhaftung von Personen vor, die ähnliche Aufgaben<br />

in „Presse, Verlagshäusern und anderen Stellen hatten,<br />

die Nachrichten und Propaganda verbreiteten“. Punkt<br />

10 empfahl dem Kontrollrat ein gemeinsam abgestimmtes<br />

Vorgehen bezüglich der „Kontrolle der Organe für<br />

öffentliches Nachrichtenwesen in <strong>Deutschland</strong> ...“ 10c<br />

sah eine Pressezensur für die erste Zeit, 14 die Schließung<br />

aller Erziehungseinrichtungen vor, 14b erklärte<br />

ein „durchgebildetes System von Oberaufsicht über<br />

das deutsche Erziehungswesen“ für nötig, um eine<br />

„positive Neuorientierung“ zu ermöglichen „mit der<br />

Absicht, Nazi- und militaristische Lehren vollständig<br />

auszuschalten und die Entwicklung demokratischer<br />

Ideen zu begünstigen“.<br />

Dieses Programm wird in der amerikanischen Zone<br />

in der ersten Zeit der Besatzung durchgezogen. Die<br />

Briten hatten eine Übernahme der Direktive abgelehnt.<br />

Die Franzosen verfolgten andere Ziele.<br />

Der deutsche Charakter<br />

muß geändert werden.<br />

In einer „wissenschaftlichen Analyse“ der tausendjährigen<br />

deutschen Geschichte hatte Nizer im Stile<br />

Vansittarts eine deutliche Fehlentwicklung des Volkscharakters<br />

festgestellt – hin zu einer prekären Sonderrolle.<br />

Die bestünde primär in der fatalen Schwäche,<br />

Konfl ikte stets mit Gewalt lösen zu wollen. Das vor<br />

allem müsse geändert werden. Auf dieses Ziel hin seien<br />

Erziehung und Ausbildung anzulegen. Es sind nicht<br />

so sehr die haarsträubenden Konstruktionen eines<br />

abstrusen Geschichtsverlaufs, dem die Deutschen angeblich<br />

folgen, es ist das in ihnen versteckte Feindbild.<br />

Ergo schlug der Mann eine Therapie vor, die es in sich<br />

hatte: Im Unterschied zu Versailles sei diesmal gründlich<br />

vorzugehen. Die Souveränität des deutschen Staates sei<br />

zu beseitigen und auf lange Zeit zu suspendieren. Alle<br />

Lebensbereiche müßten perfekt kontrolliert werden.<br />

Einen Friedensvertrag solle es für die nächste Zeit nicht<br />

geben. 5.000 Menschen seien sofort hinzurichten.<br />

Vor allem aber müsse <strong>Deutschland</strong> geistig abgerüstet<br />

werden. Sein Erziehungssystem sei zu zerschlagen. Nizer<br />

sah in „wohlmeinenden Deutschen“ die geeigneten<br />

Partner, um dieses Umerziehungsprogramm durchzusetzen.<br />

Die begabtesten Studenten sollten im Ausland<br />

die „beschränkte Sicht“ des Nationalismus verlieren<br />

und als „geläuterte Lehrer“ an Schulen und Hochschulen<br />

zurückkehren. Im Schulunterricht müßten „mit<br />

Nachdruck“ von den Nazis unterdrückte Schriftsteller<br />

vorgelegt und gelesen werden.<br />

88 Direktive 1067 in: Gustav Stolper „Die Deutsche Wirklichkeit“ ,<br />

Claassen & Goverts, Hamburg 1949, S. 309 ff .<br />

Bemerkenswert für die Besatzungszeit und die<br />

frühen Jahre der Bundesrepublik – ja eigentlich bis<br />

heute – bleibt, daß die von Nizers „Beweisführung“<br />

beeindruckten emigrierten Deutschen nach ihrer Rückkehr<br />

in die alte Heimat erfolgreich versuchen werden,<br />

dieses Feindbild der Kriegspropaganda im allgemeinen<br />

Bewußtsein fest zu verankern. Die „einzigartige<br />

Schlechtigkeit“ der Deutschen gehört, dank medialer<br />

Unterstützung, zum unverzichtbaren Selbstverständnis<br />

gerade der Heranwachsenden. Heute fi nden wir diese<br />

Propaganda teilweise in den deutschen Schulbüchern.<br />

Was tun mit den Deutschen<br />

nach deren Niederlage?<br />

Nach dem englischen Historiker Watt war „paradoxerweise“<br />

sowohl die eine Ansicht, welche im Nationalsozialismus<br />

eine „Aufgipfelung“ aller schlechten<br />

Eigenschaften des deutschen Volkes sah, deutschen<br />

Ursprungs wie auch die andere, die nur von einer gründlichen<br />

Säuberung (Reform) der Herrschaftsstrukturen<br />

eine Gesundung des deutschen Volkes erwartete. 89<br />

Sowohl in Großbritannien wie auch in den USA<br />

versprachen sich diese beiden Denkschulen von einer<br />

Umerziehung des Volksganzen eine Lösung, die langfristig<br />

Erfolg versprach. Wissenschaftlich dem Phänomen<br />

„deutsche Krankheit“ zu Leibe rückten in den USA Horkheimer,<br />

Adorno, Marcuse, Kirchheimer, Neumann, Pollock<br />

u. a. Die Nationalsozialisten hatten 1933 ihr „Institut für<br />

Sozialforschung geschlossen. An der Columbiauniversität<br />

war es wieder eröff net worden.<br />

Marcuse, Kirchheimer und Neumann saßen ab 1943 in<br />

der Abteilung für Analysen und Forschung (Research &<br />

Analysis) des amerikanischen Geheimdienstes OSS und<br />

arbeiteten Empfehlungen aus, wie mit den Deutschen<br />

nach der Kapitulation zu verfahren sei. Marcuses „Leitfäden“<br />

empfahlen u. a. den amerikanischen Kommandeuren,<br />

Redakteure und Verleger zu verhaften, regierungsamtliche<br />

Kommunikationsstränge zu zerreißen<br />

und berufsgenossenschaftliche NS-Organisationen<br />

aufzulösen. Damit sollte das gesamte NS-Kommunikationsnetz<br />

zerschlagen, später in den Dienst der Alliierten<br />

gestellt und gleichzeitig die öff entliche Meinung<br />

kontrolliert werden..<br />

Während die Propaganda in den amerikanischen<br />

Medien Vorurteile allem Deutschen gegenüber aus der<br />

Zeit des Ersten Weltkrieges aufwärmte und unter das<br />

Volk brachte, saßen deutsche Sozialwissenschaftler wie<br />

Adorno und Horkheimer bei Los Angeles und schrieben<br />

kluge Gedanken nieder, wie man Vorurteile bekämpfen<br />

könne. Sie wollten demnach „nicht nur das Vorurteil …<br />

beschreiben, sondern es …erklären, um bei seiner Ausrottung<br />

zu helfen. Ausrottung meint Umerziehung …<br />

89 Watt, Donald in: Die britische <strong>Deutschland</strong>- und Besatzungspolitik<br />

1945–1949,Forschepoth/Steininger (Hrsg.) Schöningh, Paderborn<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

27


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

28<br />

Ein weiteres Ziel bestand in der „Aufdeckung potentiell<br />

faschistischer Individuen“. Hier begegnen wir schon<br />

den Topoi, die unser aller Leben verändern sollten.<br />

Horkheimer und Adorno kümmerten sich gleichfalls intensiv<br />

um eine Analyse der deutschen Seele. Ihr Befund<br />

war niederschmetternd: die deutsche Gesellschaft sei<br />

krank. Eine Reform an Haupt und Gliedern sei geboten.<br />

„Zentrale reaktionäre Keimzelle sei die Familie“, deren<br />

„autoritäre Struktur“ müsse zerbrochen, das Übel der<br />

„Autorität“ infragegestellt resp. beseitigt werden. Dann<br />

werde sich der Charakter des Volksganzen ändern. Der<br />

Deutsche würde langfristig friedlich werden. Folglich<br />

gehöre die Erziehung zu den wichtigsten Aufgaben<br />

eines Neuanfangs. Alliierte Kontrolloffi ziere und geeignete<br />

deutsche Emigranten böten sich als Lehrer an.<br />

Bereits 1942 hatte Horkheimer in einer Denkschrift<br />

an das US-Außenministerium dargelegt, daß jede Erziehung<br />

der Nachkriegsgenerationen eine „Erziehung zur<br />

Demokratie“ zu sein habe, folglich eine Umerziehung<br />

sein müsse. 90 Er war davon überzeugt, daß eine Revolution<br />

in der Zukunft nur Erfolg versprechen würde, wenn<br />

es gelang, den Kampf weg vom marxistisch eingefärbten<br />

Klassenkonfl ikt in den Bereich der Kultur und hier<br />

besonders in den Bereich der Pädagogik zu verlagern.<br />

Das deutsche Schulwesen müsse auf amerikanische<br />

Schulen abgestimmt werden. Es sei eine Elite zu schaffen,<br />

die auf Amerika eingestellt sei. Die NS-Organisation<br />

KdF sei durch Reisen nach Amerika zu ersetzen.<br />

In den 40er und 50er Jahren kehrten Horkheimer,<br />

Adorno, Marcuse und andere aus ihrem Exil nach Frankfurt<br />

am Main zurück. Sie besetzten Lehrstühle an der<br />

Universität Frankfurt und waren Gründer der Frankfurter<br />

Schule. Innerhalb der Kriegskoalition bestand weitestgehende<br />

Übereinstimmung darin, daß die Erziehung<br />

und Gestaltung des Schulunterrichts reformiert werden<br />

müßten. Hier müsse also Entscheidendes getan werden.<br />

Der deutsche Emigrant Emil Ludwig unterrichtete als<br />

Gastdozent die für eine Besatzung in <strong>Deutschland</strong> vorgesehenen<br />

Offi ziere in Charlottsville über die Defi zite<br />

im deutschen Charakter. Auch Erika Mann sorgte sich<br />

um eine „menschliche“ Erziehung. Ihre Devise: statt Drill,<br />

Zucht und Vaterland, statt Erziehung zur Barbarei, Hinwendung<br />

zu Eigenverantwortung, Nächstenliebe, Recht<br />

und Freiheit. Um diese Ziele erreichen zu können, war<br />

ihr Vater, Thomas Mann, der Ansicht, daß vorher 500.000<br />

Deutsche exekutiert werden müßten. 91<br />

1943 beginnt die enge Zusammenarbeit des amerikanischen<br />

OSS (Offi ce of Strategic Service), dem Vorläufer<br />

der CIA, mit dem britischen Ausschuß für besondere<br />

Aufgaben (SOE (Special Operations Executive)). Im OSS<br />

arbeiteten Hunderte von Deutschen. Wie viele im SOE,<br />

90 Horkheimer, Max: Memorandum über die Beseitigung des deutschen<br />

Chauvinismus. Unveröff entlichtes Manuskript, übersetzt<br />

von Günter Behrmann, Potsdam<br />

91 Mayer, Hans: Thomas Mann, Suhrkamp, TB 1047, Frankfurt a. M.<br />

1984, S.399<br />

ist unbekannt. Chef der Abteilung „Psychologische<br />

Kriegführung“ beim amerikanischen Oberkommando<br />

SHAEF war General Bob McClure. Wiewohl es nicht einfach<br />

war, aus einem wild zusammengewürfelten Haufen<br />

von Psychokriegern nach dem Sieg eine schlagkräftige<br />

Truppe von Informationskontrolleuren zu formen, gelang<br />

dies dem General. Das hieß aber in Konsequenz<br />

nichts anderes, als daß McClure mit der Übernahme<br />

eines Teils von der Truppe Sefton Delmers in die Abteilung<br />

„Information und Zensur (INC) gezwungen war, mit<br />

Technikern der Desinformation, des Betrugs und der<br />

Lüge zusammenzuarbeiten..<br />

Gegen Kriegsende befehligt McClure 23.000 Mann. 92<br />

Am Tag der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht<br />

wird aus der Abteilung PWD = Abteilung für Psychologische<br />

Kriegführung bei SHAEF die Abteilung für<br />

Informationskontrolle (ICD) bei den geplanten Militärregierungen.<br />

Das Konzept des Generals ging von einer<br />

„völligen Stillegung aller Medien“ aus. Dem sollte in<br />

einer weiteren Phase die Information der deutschen<br />

Bevölkerung über die Ziele der alliierten Sieger folgen.<br />

Dies wird mittels sorgfältig ausgewählter Beiträge in<br />

Radio und Zeitungen erreicht. In einer dritten Phase<br />

schließlich sollen Radiosender, Verlage und Zeitungen<br />

an vertrauenswürdige, zumeist linksliberal eingestellte<br />

Deutsche übergeben werden (Lizenzvergabe).<br />

Als McClure nach Washington zurückbeordert wurde,<br />

kontrollierten seine Abteilungen und Unterabteilungen,<br />

wie er einem Freund im Juli 1946 zufrieden schrieb, „37<br />

Zeitungen, 6 Radiosender, 314 Theater, 642 Kinos, 101<br />

Magazine, 237 Verleger und 7.384 Buchhändler. Der<br />

spätere Starkolumnist des Springer Verlages, Hans Habe,<br />

erinnert sich, daß er in diesen Tagen „mit Überzeugung<br />

und Begeisterung“ ein „Umerzieher“ war. So, wie er aus<br />

propagandistischen Überlegungen im Exil in Amerika<br />

„mehr oder weniger bewußt“ die Unterscheidung<br />

zwischen dem „deutschen Volk und den Nationalsozialisten“<br />

hatte fallen lassen und die Distinktion zwischen<br />

„guten“ und „schlechten“ Deutschen aufgegeben hatte.<br />

McClures Neuorganisation des Pressewesens machte<br />

zur Bedingung, daß sich jeder Lizenzträger mit dem<br />

Lizenzempfang verpfl ichten mußte, publizistisch an der<br />

Umerziehung der Bevölkerung mitzuwirken.<br />

Als die Amerikaner die Deutschen gegen die „rote<br />

Gefahr“ aus dem Osten in Position bringen zu müssen<br />

glaubten, drehte sich der Wind. Es kam es zu einem<br />

„Paradigmenwechsel“ in Politik und Informationspolitik.<br />

Erneut waren es – wie vor den Kriegen in den<br />

USA – „Kräfte“ aus Big Business, der Schwerindustrie,<br />

den Banken und der Wirtschaft, vor allem aber der<br />

Rüstungsindustrie, die einen außenpolitischen Wechsel<br />

forderten und sich an ihre einstmals hervorragenden<br />

Beziehungen zur deutschen Industrie und Finanzwelt<br />

92 Paddock, Alfred H, Jr.: U. S. Special Warfare University Press of<br />

Kansas


erinnerten. (Teilweise hatte man während des Krieges<br />

Geschäfte gemacht). Und diesem Paradigmenwechsel<br />

war die Rückkehr eines Teils der „alten Garde“ der<br />

<strong>Journal</strong>isten geschuldet. Er wurde (nicht nur von den<br />

USA) geduldet, solange die Westdeutschen eine Politik<br />

betrieben, die sich in Einklang mit den Vorstellungen<br />

Amerikas befand. Was sie zu „nützlichen Idioten“ machte,<br />

war die Tatsache, daß sie jederzeit erpreßt werden<br />

konnten. Dem Kurswechsel in Washington folgte also<br />

ein Personalwechsel in den Redaktionsstuben. Auf die<br />

linksliberalen Weltverbesserer folgten die Wort- und<br />

Gesinnungsgewaltigen aus der Zeit der Diktatur, die sich<br />

jeder Lage anzupassen wußten. Auch und vor allem in<br />

den meinungsführenden Blättern.<br />

Der deutsche Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister<br />

93 hat in die Anfangsjahre unserer sich als „Sturmgeschütze<br />

der Demokratie“ gerierender Zeitungen und<br />

Zeitschriften geleuchtet. Sicher, es gab sie auch, die<br />

Linken. Da waren aber auch die Heerscharen der Rechten,<br />

der Braunen, die wieder Zufl ucht vor den Gesinnungswächtern<br />

der Demokratie suchten. Sefton Delmer<br />

hat ihnen ein Denkmal gesetzt. Er schreibt: da waren sie<br />

wieder, „die katzbuckelnden“ deutschen <strong>Journal</strong>isten, da<br />

waren sie wieder, diese „Publizisten“, die „unter Brüning<br />

Hitler verdammt hatten und dann plötzlich begeisterte<br />

Loblieder auf den Führer anstimmten, sobald dieser die<br />

Macht ergriffen hatte“.<br />

Delmer hatte vor und während des Krieges ihre<br />

„servilen Haßgesänge“ verfolgt und wollte ihnen keine<br />

Gelegenheit „zu einem neuen geistigen Purzelbaum“<br />

bieten. Was gab es da nicht alles. Insgeheim, ließ man<br />

verlauten, habe man eigentlich immer „gegen Hitler“<br />

gearbeitet, das Parteibuch zur „Deckung“ genutzt, „um<br />

die Gestapo zu täuschen“. Und man liebe eigentlich<br />

England und Amerika. Dabei ist es bis heute geblieben.<br />

Aber sie blieben zeitlebens erpreßbar. Auch das gehört<br />

zu den Tragödien dieser frühen Jahre. Sie warten noch<br />

immer auf ihre wissenschaftliche Aufarbeitung. Der<br />

ehemalige Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Nahum<br />

Goldmann, hat diese Tragödie in einem Gespräch<br />

mit Freimuth Duve auf die kurze Formel gebracht:<br />

„Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Leute, die<br />

irgendwie eine Nazi-Belastung hatten, im Umgang die<br />

leichtesten waren.“ 94<br />

Beizeiten lernte die deutsche Öff entlichkeit durch<br />

ihre Lizenzpresse, sich den Kreuzzügen gegen das Böse<br />

immer dann anzuschließen, wenn es der große Bruder<br />

jenseits des Atlantiks für geraten hielt. Unser Heute will<br />

nicht zuletzt deswegen vielen als irgendwie deformiert<br />

erscheinen, vom Zeitgeist verunstaltet. Amerika ist<br />

immer noch das „gelobte Land“, auch wenn die Zahl<br />

der Lobsingenden abzunehmen scheint. Schatten<br />

93 Hachmeister ,Lutz: Die Herren <strong>Journal</strong>isten, Beck Verlag, München<br />

2002<br />

94 Goldmann, Nahum: Israel muß umdenken, rororo TB 4061, Hamburg<br />

1976<br />

liegen über dem „freiesten Land der Welt“. Es fällt auf,<br />

daß unsere Lage fast ausschließlich in Verbindung<br />

mit der „Revolution“ der 68er gesehen wird. Hierbei<br />

ist zu bedenken, daß solche Erklärungen recht simpel<br />

erscheinen angesichts der Verwirrung in den Köpfen<br />

vieler wohlmeinender Intellektueller, die durchaus<br />

nicht die Ansichten dieser „Revolutionäre“ teilten. Eine<br />

wichtige Erkenntnis verdanken wir diesbezüglich dem<br />

Sozialphilosophen Günter Rohrmoser. Er war der Ansicht,<br />

daß ein Verständnis unseres Heute ohne Kenntnis der<br />

68er gar nicht möglich sei.<br />

Es fallen zwischen deren Theorien und der Praxis erhebliche<br />

Widersprüche auf. Das hängt nicht zuletzt mit<br />

der Art und Weise zusammen, wie unsere gesellschaftliche<br />

Wirklichkeit empfunden, bzw. wie sie gedeutet wird.<br />

Wie weitgehend die Medien dieses Umerziehungsprogramm<br />

unterstützten, welches ursprünglich von<br />

ehemaligen Feinden <strong>Deutschland</strong>s entworfen worden<br />

war, erfahren wir vom Sozialwissenschaftler Clemens<br />

Albrecht 95 . Er hat durchaus recht, wenn er feststellt, daß<br />

der „Aufstieg der Sozialwissenschaft zu einer öff entlichen<br />

Deutungsmacht erster Ordnung ... ohne die Massenmedien<br />

nicht denkbar (war)“. Wir alle wissen aber auch um die<br />

schweren Fehler in der Vergangenheit. Zu fragen bleibt,<br />

ob wir nicht auf sicherem Wege sind, sie zu wiederholen.<br />

Bemerkenswert für die Besatzungszeit bleibt weiterhin,<br />

daß die von Nizers „Beweisführung“ angesprochenen<br />

emigrierten Deutschen nach ihrer Rückkehr in die<br />

alte Heimat sehr erfolgreich darin gewesen sind, dieses<br />

Feindbild der Kriegspropaganda zum „Allgemeingut“,<br />

zum „Bildungsgut“ werden zu lassen. Dank der Hilfe in<br />

den Medien. Heute lassen sich diese Bilder mühelos in<br />

den Schulbüchern aufspüren.<br />

95 Albrecht, Clemens: Die intellektuelle Gründung der BRD Campus<br />

Verlag Frankfurt. a. M. 1999, S.203 ff .<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

29


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

30<br />

Der Politologe Prof. Dr. Kurt Sontheimer äußerte<br />

sich auf dem Historikertag 1981 wie folgt: „Ich halte es<br />

aus umerzieherischen Gründen für unverzichtbar, an der<br />

These vom preußisch-deutschen Kaiserreich und seinen<br />

Strukturen als Vorläufer Hitlers festzuhalten, und zwar<br />

unbeschadet der Richtigkeit dieser These.“ 96<br />

Stimmen des Krieges<br />

Der Bischof von London sagte am 28. 11. 1915 in<br />

einer Predigt: Everyone that puts principle above ease and<br />

life itself beyond mere living, is banded in a great crusade<br />

to kill Germans…. to save the world, to kill the good as<br />

well as the bad, to kill those who have shown kindness to<br />

our wounded as well as the fi ends. Wer Grundsätze über<br />

Bequemlichkeit stellt, das Leben höher achtet als nur das<br />

tägliche Dahinleben, ist aufgerufen, Deutsche zu töten, die<br />

Welt zu retten, zu töten die Guten sowohl wie die Bösen,<br />

zu töten jene, die unseren Verwundeten Freundlichkeiten<br />

erwiesen haben, als auch die verworfenen Deutschen.<br />

Der folgende Vers von Rudyard Kipling, dem Barden<br />

des zügellosen englischen Imperialismus aus dem<br />

Jahre (1914) mit dem Bild des Hunnen vor dem Tor<br />

war aus Sicht der alliierten Kriegspropaganda wohl<br />

das gelungenste:<br />

For all we have and are<br />

For all our children `s fate<br />

Stand up and take the war<br />

The Hun is at the gate.<br />

Für was wir sind und haben,<br />

der Kinder Glück und Flor,<br />

auf in den Schützengraben.<br />

Der Hunne steht am Tor<br />

(Übers. v. M. A.)<br />

96 (Zitiert in dem Beitrag von Ehrhardt Bödecker: Die humane Bilanz<br />

Preußens in: Brandenburgische Gespräche 2009 – hrsg. von der<br />

Stiftung Preußisches Kulturerbe, Bonn 2009, S.5)<br />

*<br />

*<br />

*<br />

Einer dieser deutschen Hunnen schrieb an seine<br />

Familie:<br />

Ihr meine Lieben!<br />

…<br />

Solltet ihr diesen Brief in den Händen halten, so wisset<br />

denn: ich bin gefallen für meinen Kaiser, für mein<br />

Vaterland und für euch alle. Es gilt jetzt einen schweren<br />

Kampf und es ist leuchtender, lockender Frühling …<br />

Freudig, dankbar und glücklich werde ich sterben, wenn<br />

es sein muß. Ich trage diesen letzten Gruß bei mir bis zum<br />

letzten Augenblick. Dann sei er durch treue Kameraden<br />

euch gesandt, und mein Geist wird bei euch sein. Der<br />

gnädige große Gott behüte und segne Euch und mein<br />

deutsches Vaterland!<br />

Walter Roy, Stud. med. aus Hamburg<br />

Geb. 1. Juni 1894<br />

Gef. 24. April 1915 in Frankreich<br />

(aus: Kriegsbriefe gefallener Studenten, Hrsg. von<br />

Ph. Witkop)


Geschichte im Korsett<br />

des politischen Strafrechts<br />

Meinungsfreiheit im „freien Westen“<br />

von<br />

Günter Bertram 97•<br />

I Einleitung<br />

Art. 5 Grundgesetz lautet:<br />

(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift<br />

und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus<br />

allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.<br />

Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung<br />

durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.<br />

Eine Zensur fi ndet nicht statt.<br />

(2) Diese Rechte fi nden ihre Schranken in den Vorschriften<br />

der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen<br />

zum Schutze der Jugend und in dem Recht auf<br />

persönliche Ehre.<br />

(3) Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.<br />

Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zu<br />

Verfassung.<br />

Die entscheidende Frage ist: Wo liegen die „Schranken“<br />

(Art. 5 Abs. 2)? Kunst, Wissenschaft, Forschung und<br />

Lehre unterliegen diesen Schranken anscheinend nicht.<br />

Gibt es hier gar keine Begrenzungen?<br />

97 Günter Bertram, Vors. Richter a. LG i. R., Birkenweg 21, 21465<br />

Wentorf, 040/7202833, gb.bertram@gmx.de Vortrag vor der<br />

SWG am 23. März 2009 – Vorbemerkung: Nach dem 23. 3. 2009<br />

(Datum des Vortrags) sind zum Thema „Meinungsfreiheit“ wichtige<br />

Gerichtsentscheidungen ergangen, vor allem der Beschluß<br />

des Ersten Senats des BVerfG vom 4. 11. 2009, der § 130 Abs. 4<br />

StGB für verfassungsgemäß erklärt. In der Literatur sind gegen<br />

ihn inzwischen gewichtige Einwände vorgebracht worden. Die<br />

Konsequenzen der Entscheidung lassen sich zur Zeit (Sommer<br />

<strong>2010</strong>) schwer abschätzen.<br />

II. Meinungsfreiheit – der Ausgangspunkt<br />

1. Geschichte<br />

Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist im GG<br />

zwar ähnlich verbrieft wie ehedem in der Weimarer<br />

Reichsverfassung (WRV), aber anders als dort doppelt<br />

gesichert. Es kann schlechterdings nicht abgeschafft<br />

werden (Art. 79 [3] G. G.) Als zusätzliche Sicherung der<br />

Grundrechte haben wir unter dem Grundgesetz das<br />

Bundesverfassungsgericht. Es hat sich eingebürgert,<br />

die Bundesrepublik als „wehrhafte“, „streitbare“ oder<br />

„kämpferische“ Demokratie zu rühmen. Man hat bei<br />

uns den Ruf übernommen: keine Freiheit für die Feinde<br />

der Freiheit! und verschweigt dabei, daß dieser Ruf von<br />

St. Just stammt, dem engsten und bis zum Tod treuesten<br />

Mitarbeiters Robespierres, des anerkannt ärgsten<br />

Terroristen der Revolution! Mit diesem Schlachtruf<br />

werden aber heute im Staat des Grundgesetzes viele<br />

Fragwürdigkeiten legitimiert. 98[1]<br />

98 [1] Vgl. nur G. Roelleke: „keine Freiheit den Feinden der Freiheit! NJW<br />

1993, 3306 ( zu VG Frankfurt, Beschluß vom 22. 2. 1993: NJW 1993,<br />

2067; bemerkenswert der Sachverhalt S. 2067!)<br />

Doch – auch abgesehen von solchen Grotesken – ist die Legitimität<br />

von Parteiverboten höchst fragwürdig. Vgl. Martin Morlok:<br />

Schutz der Verfassung durch Parteiverbot? NJW 2001, 2931–2942;<br />

zutreffend auch Horst Meier: „Diese Artikel (scil. 21 II, 18 GG), anderen<br />

demokratischen Verfassungen unbekannt und später unter dem Begriff<br />

der „streitbaren Demokratie“ zusammengefaßt, stellen praktisch<br />

jedwede Politik unter das Gebot verfassungstreuer Gesinnung“, noch<br />

auf die Spitze getrieben durch die „Ewigkeitsklausel“ (Art 79 II GG)<br />

Kritik des Grundgesetzes, MERKUR Nr. 607, Nov. 1999, S. 1099 (1101)<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

31


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

32<br />

2. Politisches Strafrecht – nur ein Teil legitimen<br />

und illegitimen Staatsschutzes<br />

Auch das dem Verfassungsrecht untergeordnete sog.<br />

Politische Strafrecht dient der Sicherung des freiheitlichen<br />

Staates. Dazu gehören die klassischen Straftatbestände<br />

Hoch- und Landesverrat, Offenbarung von<br />

Staatsgeheimnissen, Agententätigkeit usw.; übrigens<br />

auch „Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats …<br />

durch Fortführung einer für verfassungswidrig erklärten<br />

Partei“ (§ 84 StGB) oder durch „Verstoß gegen ein Vereinigungsverbot“<br />

(§ 85 StGB). Diese können im Rahmen<br />

dieser Abhandlung außer Betracht bleiben. Staat und<br />

Gesellschaft schützen sich vor ihren wirklichen oder<br />

vermeintlichen Gegnern keineswegs allein – oder auch<br />

nur in erster Linie – durch das Strafrecht. Verwaltungshandeln<br />

ist meist wirksamer und deshalb wichtiger.<br />

Man denke etwa an die Jahresberichte (VSB) der Verfassungsschutzämter,<br />

die ein Kenner (Christoph Gusy)<br />

schon 1986 ein „rechtliches Niemandsland“ genannt<br />

hat 99[2] , an die Praxis dieser Behörde, Volkserziehung und<br />

Propaganda zu betreiben – man lese nur das Vorwort<br />

des FDP-Innenministers Dr. Wolf/NRW zu seinem VSB<br />

2007! 100[3] Auch zivilrechtliche Beziehungen sind im<br />

Sinne des Staatsschutzes nutzbar: Wenn etwa die Postbank<br />

oder andere Geldinstitute es für opportun halten,<br />

Kunden, die politisch in Verruf geraten sind, das Konto<br />

zu kündigen. 101[4] oder Vermieter ihren Vertragspartnern,<br />

99 [2] ) Christoph Gusy Der Verfassungsschutzbericht, NVwZ 1986, 6.<br />

Zur Problematik der VS-Berichte:<br />

Dietrich Murswiek Staatliche Warnungen, Wertungen, Kritik als Grundrechtseingriff<br />

– Zur Wirtschafts- und Meinungslenkung durch staatliches<br />

Informationshandeln, DVBl. 1997, 1021<br />

ders.: Meinungsäußerung als Beleg für eine verfassungsfeindliche Zielsetzung,<br />

Arnim-Festschrift Berlin 2004, 481;<br />

ders.: Der VS-Bericht – das scharfe Schwert der streitbaren Demokratie,<br />

NVwZ 2004, 769; ders.: Neue Maßstäbe für den VS-Bericht – Konsequenzen<br />

aus dem JF-Beschluß des BVerfG, NVwZ 2006, 121;<br />

Hilmar Sander: Politische Parteien im Visier des Verfassungsschutzes – Ein<br />

Beitrag zur Bestimmung der verfassungsrechtlichen Vorgaben für die<br />

nachrichtendienstliche Beobachtung politischer Parteien, dargestellt<br />

am Beispiel der „Republikaner“, DÖV 2001, 328. Die Neigung der VS-<br />

Ämter zu leichtfertigen Verdächtigungen der ??? spiegelt sich in<br />

einer Reihe dergleichen kassierender gerichtlicher Entscheidungen<br />

wider: BVerfG vom 24. 5. 2005: (NJW 2005, 2912) „Junge Freiheit“,<br />

dazu Bertram: Eine Lanze für die Pressefreiheit, NJW 2005, 2890; OVG<br />

Berlin-Brandenburg v. 6. 4. 2006: (NVwZ 2006, 838) „REP“, dazu<br />

Bertram: Kollateralschäden einer „wehrhaften Demokratie“ in NJW<br />

2006, 2967; VG Düsseldorf vom 21. 11. 2006: „national24.de“, dazu<br />

Bertram: Rechte Meinungen in NJW 2007, 2163<br />

100 [3] Vgl. VSB NRW 2007, dessen ministerielles Vorwort – Dr. Ingo Wolf,<br />

FDP, MdL (S. 1–5) – sich auf drei Seiten mit Rechtsextremismus,<br />

dann auf einer mit „Islamismus“ befaßt: „Dem VS wird in letzter<br />

Zeit wieder verstärkt vorgeworfen, er sei politisch instrumentalisiert<br />

worden. Entzündet hat sich dieser Vorwurf vor allem an der Berichterstattung<br />

über die Lokalpartei „pro Köln“. Richtig ist, daß die<br />

Aufklärungs- und Informationsarbeit des VS gesellschaftspolitisch<br />

ist. Wie kann es auch anders sein, denn die Arbeit zielt darauf ab,<br />

daß aufgeklärte Bürger der populistischen Politik rechter Parteien<br />

und Gruppierungen nicht auf den Leim gehen (S. 2) …<br />

101 [4] Ein Beispiel: Am 5. 1. 2001 kündigt die Postbank dem Verlag<br />

„Junge Freiheit“ das Konto: „Wir möchten mit extremen Organisationen<br />

keine Kundenbeziehung“ und lobt ihren Schritt „als Beitrag<br />

für die Demokratie“ und „Zeichen gegen Gewalt und Fremden-Haß“.<br />

Dann aber erscheint am 1. 2. in FAZ, SZ, Berliner Mopo und Bonner<br />

die einen Saal gemietet hatten, kurzerhand den Stuhl<br />

vor die Tür setzen, weil sie einen öffentlich inszenierten<br />

Skandal mehr fürchten als Schadensersatzansprüche.<br />

Beispiel: Im Juni 2005 lädt das „Corps Irminsul“ zum<br />

125. Jubiläum und „Festkommers“ in den Hamburger<br />

Ratsweinkeller ein – Festredner: Konrad Löw, Bayreuth.<br />

Am Vortag faxt die Sprinkenhof-AG ihrem Pächter,<br />

der den Irminsul-Vertrag geschlossen hatte: „untragbar<br />

– ausladen!“ Grund: die taz hatte just verbreitet:<br />

„rechter Kommers mit umstrittenem Gastredner!“ (vgl.<br />

dazu: Bücherverbrennung 2004, MHR 4/2004, S. 42–45;<br />

Bertram Der Fall Konrad Löw - Meinungsfreiheit oder<br />

P.C.? Recht und Politik 1/2005, 33–37). Die Hamburger<br />

Veranstalter laden K. Löw bedauernd aus; aber der RA<br />

des Vorstands nimmt das nicht hin, droht eine einstweilige<br />

Verfügung an, fragt auch beim Hamburger<br />

Verfassungsschutz nach, der mitteilt, daß gegen Löw gar<br />

nichts vorliege, und bewirkt, daß die Kündigung rasch<br />

und lautlos zurückgezogen wird – so geräuschlos, daß<br />

die taz davon nichts mitbekommt und die Ausladung<br />

Löws verkündet. 102[5] Auf derselben Linie liegt es, wenn<br />

versucht wird, einen „rechten“ Verlag von der Leipziger<br />

Buchmesse zu verbannen. Man erfährt viele – wenn<br />

nicht alles täuscht:: solide dokumentierte! – Fälle von<br />

„Berufsverboten“ (eine aus den 70er und 80er Jahren<br />

gut bekannte Vokabel) 103[6] . Die hohen Hürden, die das<br />

GG mit Bedacht vor seinen Verboten (Art. 21 II, 18)<br />

aufgerichtet hat, werden immer wieder unterspült:<br />

die NPD etwa wird praktisch so behandelt, als wäre<br />

sie verboten 104[7] , mißliebige Personen so, als wären<br />

GenA. ein „Appell für die Pressefreiheit“, daraufhin, noch am selben<br />

Tage, zieht die PB ihre Kündigung zurück, und die taz spottet:<br />

„Zivilcourage hat Konjunktur!“, vgl. Alexander von Stahl: Kampf um<br />

die Pressefreiheit: Chronologie eines Skandals, 2003, S. 33f<br />

102 [5] Vgl. näher dazu: Bertram: „Die Unperson beim Festkommerz“,<br />

Mitteilungen des Hamburgischen Richtervereins (MHR) 3/2005,<br />

11 ff., ders.: Recht und Politik 1/2005, 33 ff.: Meinungsfreiheit oder<br />

Political correctness - Der Fall Konrad Löw<br />

103 [6] Vgl. etwa den Rauswurf des Berliner Dozenten für Rechtswissenschaften<br />

– RiAG i.R. Falko Gramse – aus der Landespolizeischule<br />

Berlin Mitte vom Juli 2007 wegen Redakteurstätigkeit für die JF,<br />

vgl. JF vom 27. 7. 2007 „Patriotismus als Kündigungsgrund“ (S. 7)<br />

und „Einschüchterungsstrategie“ (Heinrich Lummer, a. a. O., S. 2).<br />

Eine „Show“ besonderer Art – mit einem Rauswurf und anschließenden<br />

Arbeitsgerichtsprozessen verbunden: Eva Herman bei<br />

Kerner am 9. 10. 2007, vgl. dazu Bertram, „Gedanken zur Hermann-<br />

Schlacht“: Recht und Politik 4/2007, S. 242<br />

Der „Fall Molau 2004“ (jetzt auch zu ihm FAZ v. 9. 1. 2009: „Eine<br />

Partei zersetzt sich selbst“), über den Panorama am 25. 11. 2004<br />

berichtete („Schulverbot für Nazikinder – Fragwürdiger Umgang<br />

mit NPD-Familie“), zeigt mehrere Facetten des Problems auf: Dem<br />

Mann, der als Pädagoge allseits gelobt wurde, wurde von seiner<br />

Braunschweiger Waldorfschule fristlos gekündigt und gleich<br />

Hausverbot erteilt, als er wissenschaftlicher Mitarbeiter der sächsischen<br />

NPD-Landtagsfraktion wurde. Der eigentliche Skandal lag<br />

aber darin, daß das Hausverbot sofort auch auf seine Frau und (!!)<br />

seine dort eingeschulten minderjährigen Kinder erstreckt wurde.<br />

Vgl. dazu Bertram: Kinderhaftung - Sippenhaft, Mitteilungen des<br />

Hamburgischen Richtervereins 1/2005, S. 26. Andere Fälle bei v.<br />

Münch – Der „Aufstand der Anständigen“<br />

NJW 2001, 728 (insb. 732, Ziffer V. 3)<br />

104 [7] Das jüngste Projekt des niedersächsischen Innenministers<br />

Schünemann (CDU – im Auftrag der Innenminister), mit Hilfe einer<br />

Verfassungsänderung (dazu Gutachten des Prof. Volker Epping,<br />

Hannover) die NPD von der staatlichen Parteienfi nanzierung aus-


ihnen die Grundrechte bereits entzogen worden …<br />

Der Rostocker Prof. Volker Neumann spricht von einer<br />

„Feinderklärung gegen rechts“ 105[8] – die sich in teils<br />

phantasievollen Spielarten von „Verbot, Schikane und<br />

Boykott“ ausprägen. 106[9]<br />

3. Meinungsfreiheit als Grund- und<br />

Verfassungsrecht,<br />

a. Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />

An der Wiege der Rechtsprechung steht das oft zitierte<br />

„Lüth-Urteil“ vom 15. 1. 1958. 107[10] 1950 hatte der<br />

Hamburger Senatssprecher Erich Lüth öffentlich zum<br />

Boykott des Veit-Harlan-Films „Unsterbliche Geliebte“<br />

aufgerufen, weil Harlan als Autor des seinerzeit von<br />

Goebbels bestellten und in seiner Auswirkung – der<br />

damaligen Instrumentalisierung! – schlimmen Films<br />

„Jud Süß“ seinen Anspruch auf öffentliche Wiederkehr<br />

verwirkt habe. Das Landgericht Hamburg verurteilte<br />

Lüth auf entsprechende Klage zur Unterlassung, weil<br />

der Boykottaufruf zivilrechtlich eine sittenwidrige und<br />

daher verbotene Schädigung sei. Dagegen erhob Lüth<br />

Verfassungsbeschwerde, so daß Karlsruhe die juristisch<br />

interessante Frage zu beantworten hatte, ob und inwieweit<br />

das Grundrecht der Meinungsfreiheit, auf das<br />

Lüth pochte, zivilrechtlich in die Sphäre Dritter, also<br />

Harlans bzw. seiner Filmgesellschaften, hineinzuwirken<br />

vermochte.<br />

Sehr weit, entschied das BVerfG und gab Lüth recht.<br />

Hier nur ein paar Kernsätze aus dieser Entscheidung:<br />

Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist<br />

als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit<br />

in der Gesellschaft eines der vornehmsten<br />

Menschenrechte überhaupt (Hinw. auf Art. 11 der Erklärung<br />

der Menschen- und Bürgerrechte v. 1789).<br />

Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung<br />

ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht<br />

zuschließen, ist ein geradezu klassischer Umgehungsversuch, vgl.<br />

dazu Bertram: „Angriff auf die Chancengleichheit“, Junge Freiheit v.<br />

28. 11. 2008, S. 7; ders.: Gekrümmtes Recht, a. a. O., S. 2; die Änderung<br />

des Kommunalwahlgesetzes von Mecklenburg-Vorpommern<br />

durch G. vom 28. 1. 2009 (Überprüfung verdächtiger Kandidaten<br />

durch den VS) ist aus gleichen Holze. Beides wird gelobt von Rainer<br />

Litten: Politikmüdigkeit und Rechtsextremismus – was hilft? Recht<br />

und Politik 1/2009, S. 18–22<br />

105 [8] Volker Neumann „Feinderklärung gegen rechts – Versammlungsrecht<br />

zwischen Rechtsgüterschutz und Gesinnungsaktionen“ in<br />

Leggewie/Meier, 2002, S. 155 (157 ff.)<br />

106 [9] Z. B. LG Leipzig v. 6. 10. 2000 in NJW 2001, 80: sittenwidrig: unwirksam!<br />

LG Frankfurt/Oder v. 13. 10. 2000: Kündigung wirksam! NJW<br />

2001, 82; dazu richtig Boemke, Leipzig: Kündigung von NPD-Konten<br />

und § 138 BGB in NJW 2001, 43; über das Thema Kontenkündigung<br />

und „Report“-Bericht dazu LG Mainz v. 9. 11. 2000 in NJW 2001, 761;<br />

vgl. auch viele einschlägige Nachweise bei Ingo von Münch: „Der<br />

Aufstand der Anständigen“, NJW 2001, 728 – zu Kontenkündigungen<br />

dort S. 732<br />

107 [10] 1 BvR 400/57 v. 15. 1. 1958: NJW 1958, 257–259; zur Fortgeltung<br />

seiner Prinzipien vgl. Dieter Grimm: Die Meinungsfreiheit in der<br />

Rechtsprechung des BVerfG, NJW 1995, 1997, dort Ziffer I<br />

erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den<br />

Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist<br />

(BVerfG … = NJW 56, 1393). Es ist in gewissem Sinne<br />

die Grundlage jeder Freiheit überhaupt … Aus dieser<br />

grundlegenden Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit<br />

... ergibt sich, daß es nicht folgerichtig wäre, die<br />

sachliche Reichweite gerade dieses Grundrechts jeder<br />

Relativierung durch einfaches Gesetz ... zu überlassen<br />

… Die gegenseitige Beziehung zwischen Grundrecht<br />

und „allgemeinem Gesetz“ ist … nicht als einseitige<br />

Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts<br />

durch die „allgemeinen Gesetze“ aufzufassen: es fi ndet<br />

vielmehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt,<br />

daß die „allgemeinen Gesetze“ zwar dem Wortlaut<br />

nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits<br />

aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung<br />

dieses Grundrechts … ausgelegt und so in ihrer das<br />

Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder<br />

eingeschränkt werden müssen“.<br />

Ein langes, seiner Dialektik wegen nicht ganz einfaches,<br />

aber höchst aktuelles Zitat – wichtig auch deshalb,<br />

weil es für den „öffentlichen geistigen Meinungskampf<br />

in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage“<br />

in eine Vermutung ausmündet: „die Vermutung für die<br />

Zulässigkeit der freien Rede“. 108[11]<br />

4. Meinungsverbreitungsrecht<br />

Zur Freiheit der Meinungen gehört nicht nur das<br />

Recht, sie zu äußern, sondern auch, sie gemeinschaftlich<br />

und demonstrativ unter die Leute zu bringen. Das wird<br />

durch Art. 8 GG verbrieft:<br />

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne<br />

Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne<br />

Waffen zu versammeln.<br />

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann<br />

dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines<br />

Gesetzes beschränkt werden.<br />

Den inneren engen Zusammenhang beider Grundrechte<br />

(Art. 5 und 8 GG) stellt das BVerfG in seiner<br />

Brockdorf-Entscheidung vom 14. Mai 1985 heraus: Es<br />

ging darum, ob die im Februar 1981 vom Landrat Steinburg<br />

verfügten und vom OVG Schleswig bestätigten Beschränkungen<br />

einer Anti-Kernkraft-Großdemonstration<br />

in der Wilstermarsch vollen Umfangs zulässig waren;<br />

als das BVerfG entschied, hatte die Demonstration mit<br />

ca. 50.000 Teilnehmern, bei der etwa 10.000 Polizeibeamte<br />

im Einsatz gewesen waren, längst stattgefunden,<br />

unbeschadet des Verbots. Das Gericht gab der Verfassungsbeschwerde<br />

gegen die Verfügung des Landrats<br />

statt. 109[12]<br />

108 [11] BVerfG. NJW 1958, 259 .<br />

109 [12] Durch besonders ausführlichen Beschluß, vgl. 1 BvR 233, 341/81:<br />

NJW 1985, 2395 ff.<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

33


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

34<br />

„Als Abwehrrecht“, heißt es in den Gründen, „das auch<br />

und vor allem anders denkenden Minderheiten zugute<br />

kommt, gewährleistet Art. 8 GG den Grundrechtsträgern<br />

das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und<br />

Inhalt der Veranstaltung …In der verfassungsrechtlichen<br />

Rechtsprechung, die sich bislang mit der Versammlungsfreiheit<br />

noch nicht befaßt hat, wird die Meinungsfreiheit<br />

seit langem zu den unentbehrlichen und grundlegenden<br />

Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens<br />

gezählt“ (: Lüth-Urteil!). Das BVerfG habe früher schon<br />

betont, „in einer Demokratie müsse die Willensbildung<br />

vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt<br />

verlaufen; das Recht des Bürgers auf Teilhabe an der<br />

politischen Willensbildung äußere sich …auch in der<br />

Einfl ußnahme auf den ständigen Prozeß der politischen<br />

Meinungsbildung, die sich in einem demokratischen<br />

Staatswesen frei, off en, unreglementiert und grundsätzlich<br />

,staatsfrei‘ vollziehen müsse … An diesem Prozeß“, merkt<br />

der Senat an, „sind die Bürger in unterschiedlichem Maße<br />

beteiligt. Große Verbände, fi nanzstarke Geldgeber oder<br />

Massenmedien können beträchtlichen Einfl uß ausüben,<br />

während sich der Staatsbürger eher als ohnmächtig erlebt.<br />

In einer Gesellschaft, in der die Chance, sich durch sie zu<br />

äußern, auf wenige beschränkt ist, verbleibt dem einzelnen<br />

… im allgemeinen nur eine kollektive Einfl ußnahme<br />

durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für<br />

Demonstrationen. Die ungehinderte Ausübung des Freiheitsrechts<br />

wirkt nicht nur dem Bewußtsein politischer<br />

Ohnmacht und gefährlichen Tendenzen zur Staatsverdrossenheit<br />

entgegen. Sie liegt … im wohlverstandenen<br />

Gemeininteresse …“ 110[13] An sich erlaubte Restriktionen<br />

müßten zurückhaltend angewendet werden: „Mit diesen<br />

Anforderungen wären erst recht behördliche Maßnahmen<br />

unvereinbar, die über die Anwendung grundrechtsbeschränkender<br />

Gesetze hinausgehen und etwa den<br />

Zugang zu einer Demonstration durch Behinderung von<br />

Anfahrten und schleppende vorbeugende Kontrollen<br />

unzumutbar erschweren oder ihren staatsfreien unreglementierten<br />

Charakter durch exzessive Observationen<br />

und Registrierungen … verändern.“ Das BVerfG hielt auch<br />

sonst die Fahne der Liberalität hoch.<br />

III. Meinungsfreiheit …<br />

und dessen Einfärbung<br />

1. Klimawandel<br />

Im Herbst 2004 fand sich in der NJW ein Beitrag zum<br />

Titel: „Demonstrationsfreiheit auch für Rechtsextremisten?<br />

– Grundsatzüberlegungen zum Gebot rechtsstaatlicher<br />

Toleranz.“ 111[14] Sein Verfasser, Hoffmann-Riem, damals<br />

Vorsitzender Richter am Bundesverfassungsgericht,<br />

erinnert zunächst daran, daß es die Studentenbewegung<br />

mit ihrem Protest gegen „überkommene Strukturen“, „den<br />

Obrigkeitsstaat“ usw. gewesen sei, die Mitte der 60er<br />

110 [13] BVerfG, a. a. O., NJW 1985, 2396 re. Sp.<br />

111 [14] NJW 2004, 2777–2782<br />

Jahre den Art. 8 GG aus seinem „Dornröschenschlaf“ gerissen<br />

und damit beim BVerfG viel Verständnis gefunden<br />

habe, wie etwa die Brockdorf-Entscheidung zeige, die<br />

den Gorleben-Treck 1979, die Bonner Friedensdemonstration<br />

1981 und die Süddeutsche Menschenkette 1983<br />

als Muster wünschenswerter behördlicher Kooperationsbereitschaft<br />

hervorhebt. 112[15] Trotz Widerspruchs im<br />

einzelnen hat die liberale Linie des BVerfG im großen<br />

und ganzen Beifall gefunden, eine Akzeptanz, die dazu<br />

beigetragen hat, ihm sein bemerkenswertes Ansehen<br />

zu verschaffen.<br />

Nun galten all diese Demonstrationen im Selbstverständnis<br />

ihrer Veranstalter, den Zuschreibungen der<br />

Medien und im allgemeinen Bewußtsein durchweg<br />

als „links“. Irgendwann vor der deutschen Wiedervereinigung,<br />

danach aber immer auffälliger, änderte sich<br />

das Bild, und man bekam es mit Demonstrationen,<br />

Kundgebungen, Aufrufen, Publikationen zu tun, die das<br />

„linke“ Monopol nicht mehr gelten ließen: Empörung<br />

und Frust über „die politische Klasse“ (vgl. Arnulf Baring<br />

in der FAZ vom 19. 11. 2002: „Bürger, auf die Barrikaden!<br />

Wir dürfen nicht zulassen, daß alles weiter bergab geht,<br />

hilfl ose Politiker das Land verrotten lassen …), demonstrative<br />

Mißachtung politischer „Korrektheit“, Betonung<br />

deutscher „nationaler“ Belange und Interessen, Protest<br />

gegen nationale „Leisetreterei“, „Überfremdung“ usw.<br />

Das war nicht mehr „links“! Also galt das alles als „rechts“,<br />

und dann bald auch als „rechtsradikal“.<br />

Hoffmann-Riem in o. a. Aufsatz: Zu den Errungenschaften<br />

des Rechtsstaats gehört, daß er inhaltlich neutral<br />

ist. Er darf Kritik nicht als erwünscht oder unerwünscht<br />

defi nieren und je nach dem Ergebnis dieser Defi nition<br />

rechtlich unterschiedlich behandeln. Wer meint, Grundrechte<br />

politisch einfärben zu dürfen, demontiert sie …Ein<br />

Grundrecht darf seine Fahne nicht nach dem politischen<br />

Wind richten. … Der Schutz des Grundrechts gilt für alle<br />

Versammlungen … und zwar ohne inhaltliche Bewertung<br />

des Anliegens oder gar seiner gesellschaftlichen Wünschbarkeit<br />

… Schutz besteht damit grundsätzlich auch für<br />

Versammlungen von Rechtsextremisten. Die Garantien<br />

des Rechtsstaates dürfen zu keiner Zeit einem politischen<br />

Trend oder einem politisch wünschenswerten Anliegen<br />

geopfert werden.<br />

Das war nicht nur die Meinung eines Verfassungsrichters,<br />

sondern die des zuständigen mit acht Richtern<br />

besetzten Ersten Senats 113[16] : Das Grundrecht der Meinungsfreiheit<br />

ist ein Recht auch zum Schutz von Minderheiten;<br />

seine Ausübung darf nicht … unter den Vorbehalt<br />

gestellt werden, daß die geäußerten Meinungsinhalte<br />

herrschenden sozialen oder ethischen Auffassungen nicht<br />

widersprechen … Die maßgebende Rechtsprechung,<br />

von der Rechtswissenschaft ganz überwiegend geteilt<br />

114[17] , ist also eindeutig. Die Verwaltungspraxis war<br />

eine andere, wie der Verfasser vielfach feststellen muß-<br />

112 [15] NJW 1985, 2398 zu III. 1.<br />

113 [16] Senatsentscheidung vom 23. 6. 2004: NJW 2004, 2814<br />

114 [17] Nachweise etwa bei Hoffmann-Riem, a. a. O.; Kniesel/Poscher:<br />

„Die Entwicklung des Versammlungsrechts 2000 – 2003“, NJW 2004,<br />

422 ff.


te. Daß Verwaltungen sich um verfassungsrechtliche<br />

Maßstäbe wenig scheren, macht fast jedes einschlägige<br />

Demonstrationsereignis (soweit darüber berichtet wird)<br />

augenfällig. Ein krasser Fall ist der spektakulär gescheiterte<br />

sog. „Anti-Islamisierungskongreß“ von Köln vom<br />

September letzten Jahres: Der Kongreß ist genehmigt,<br />

geht aber in riesigen Gegenkundgebungen unter, als<br />

deren Exekutoren sich als gewalttätige „Autonome“<br />

einfi nden, vor denen die Polizei schnell kapituliert und<br />

den Notstand ausruft: ihre Aufl ösungsverfügung sich<br />

also nicht gegen die „Störer“, sondern deren Kontrahenten<br />

richtet. „Kapitulation des Rechtsstaates!“ urteilt<br />

der Staatsrechtler Josef Isensee – gewiß zutreffend …<br />

Man könnte Beispiel um Beispiel anfügen; das wäre<br />

aber überfl üssig. 115[18]<br />

2. Antifa<br />

Wirklich bedenklich und für den Rechtsstaat gefährlich<br />

ist der Streit, den das OVG Münster mit missionarischer<br />

Leidenschaft gegen den Ersten Senat des BVerfG<br />

ausfi cht. Dem OVG, zumal seinem Präsidenten Michael<br />

Bertrams, zufolge gibt es Meinungen (etwa – wie es<br />

bei ihm heißt – rassistischen, ausländerfeindlichen,<br />

antisemitischen, faschistischen und ähnlichen Inhalts,<br />

„menschenverachtendes Gedankengut“), die nicht etwa<br />

nur „politisch mißliebig“, sondern von vornherein und<br />

schlechthin verfassungswidrig, verboten und verbietbar<br />

seien. Unsere „kämpferische Demokratie“ sei<br />

nämlich begründet im „historischen Gedächtnis“ einer<br />

antifaschistischen Verfassung, denen diese Maßstäbe<br />

zu entnehmen seien (= Art. 139 GG usw.) 116[19] Dieser<br />

Anspruch auf politische Vormundschaft des Staates<br />

über die Meinungsvielfalt der Bürger prägte dann<br />

einen Prozeß der Wochenzeitung Junge Freiheit, Berlin,<br />

gegen den Verfassungsschutz Düsseldorf. Dieser endete<br />

damit, daß die Karlsruher Verfassungsrichter die vom<br />

antifaschistischen Geist inspirierten Vorentscheidungen<br />

Düsseldorfs und Münsters kassierte und der Jungen<br />

Freiheit recht gab. 117[20]<br />

3. Volksverhetzung (§ 130 StGB)<br />

im Lichte der Verfassung<br />

Art. 1 (3) GG lautet: Die nachfolgenden Grundrechte<br />

binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung<br />

als unmittelbar geltendes Recht. Gesetze, die<br />

gegen die Verfassung verstoßen, sind daher rechtswidrig<br />

und können vom BVerfG aufgehoben werden. In<br />

Zusammenhang mit unserer Fragestellung sorgt eine<br />

Bestimmung des Strafgesetzbuches, die sogenannte<br />

115 [18] zur eignen Erfahrung in Bergedorf am 10. 02. 2007: Bertram<br />

MHR 1/007 S. 22, Fn. 18<br />

116 [19] M. Bertrams: Demonstrationsfreiheit für Neonazis? Zur Kontroverse<br />

zwischen dem OVG NRW und der 1. Kammer des Ersten<br />

Senats des BVerfG, Arndt-Festschrift 2002, S. 19 ff.<br />

117 [20] vgl. Bertram: Eine Lanze für die Pressefreiheit, NJW 2005, 2890,<br />

ders.: Hoheitliche Tugendwächter: Verfassungsschutz und „Neue<br />

Rechte“, NJW 2004, 344<br />

Volksverhetzung immer wieder und bis zur Stunde<br />

für Zündstoff und Debatten. § 130 StGB, der diese<br />

Bezeichnung trägt, trat 1960 an die Stelle des früheren<br />

§ 130, der die „Anreizung zum Klassenkampf“ mit Strafe<br />

bedroht und längst obsolet geworden war. 118[21] Der<br />

neue Text von 1960 lautete:<br />

Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öff entlichen<br />

Frieden zu stören,<br />

1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt<br />

oder zu Gewalt- oder<br />

Willkürmaßnahmen gegen sie auff ordert oder<br />

2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift,<br />

daß er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig<br />

verächtlich macht oder verleumdet,<br />

wird mit Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu fünf<br />

Jahren bestraft.<br />

Diese Bestimmung reichte aus, sowohl antisemitischen<br />

und fremdenfeindlichen Schmähreden, Verunglimpfungen<br />

usw. strafrechtlich zu begegnen. 119[22] Ich<br />

selbst war Berichterstatter in einer Hamburger Strafkammer,<br />

die es bald nach 1966 mit einer Episode des<br />

Bürgerschaftswahlkampfs zu tun bekam: Der Angeklagte<br />

hatte die Wahlplakate der SPD für ihren Kandidaten<br />

Bürgermeister Prof. Dr. Herbert Weichmann vielfach so<br />

überklebt, daß die Aufschrift lautete: „Hamburg wählt<br />

seinen Juden“ oder „…wählt seinen Juden Weichmann“.<br />

Die Strafkammer hat den Mann nach dem zitierten<br />

Paragraphen verurteilt, und der Bundesgerichtshof hat<br />

das Urteil bestätigt. 120[23] 30 Jahre später fand unter meinem<br />

Vorsitz in Hamburg das Strafverfahren gegen den<br />

US-Bürger Garry Lauck statt. Er hatte bald nach der Wiedervereinigung<br />

damit begonnen, seinen „NS-Kampfruf“,<br />

ein ziemlich übles antisemitisches Hetzblatt, das sich<br />

mit Vorliebe über die sog. Vergasungslüge verbreitete,<br />

Hitler pries und in diesem Sinn die Trommel rührte, massenhaft<br />

in die Neuen Bundesländer hineinzupumpen.<br />

Auch ihn haben wir nach § 130 StGB bestraft, und der<br />

BGH hat seine Revision verworfen. 121[24]<br />

118 [21] vgl. das 6. Strafrechtsänderungsgesetz, BGBl.1960, I 478<br />

119 [22] Zu den Motiven der Gesetzgebung und ihrer Veranlassung vgl.<br />

Joachim Jahn: Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus – Die<br />

Änderung der §§ 130 und 86 a StGB als Reaktion auf fremdenfeindliche<br />

Gewalt im Licht der Geschichte des politischen Strafrechts in<br />

<strong>Deutschland</strong>, Diss. Univ. Hannover, Frankfurt 1998, S. 39 mit Anm.<br />

164; S. 130 f. mit Anm. 755, 756, zum „Fall Nieland“ vgl. BGH in NJW<br />

1959, 1593; Bertram: Der Rechtsstaat und seine Volksverhetzungsnovelle,<br />

NJW 2005, 1476, Ziffer III; Lohse NJW 1971, 1245 mit Anm.<br />

1–3<br />

120 [23] vgl. BGH v. 15. 11. 1967 = BGHSt. 21, 371 = NJW 1968, 309<br />

121 [24] LG Hamburg vom 22. 8. 1996; BGH-Beschluß 3 StR 10/97 v. 5. 3.<br />

1997<br />

dazu neulich Marc Coester: Hate Crimes, Dissertation Tübingen 2007,<br />

dort insb.: Hate speech und der Schutz der freien Meinungsäußerung,<br />

S. 91–115. Winfried Brugger: Verbot oder Schutz von Haßreden?<br />

Rechtsvergleichende Beobachtungen zum deutschen und amerikanischen<br />

Recht, Archiv des öffentlichen Rechts, 128. Band, Heft<br />

3 (Sept. 2003); ders.: Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit<br />

im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse,<br />

VVDStRL 63, Tagung Oktober 2003, S. 101–140, 202 ff.<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

35


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

36<br />

Natürlich wurde durch dieses Urteil die Meinungsfreiheit<br />

und Meinungsverbreitungsfreiheit von Lauck<br />

beschränkt. Aber hier waren Meinungen mit Aggressivität<br />

und Verletzungsvorsatz geäußert und verbreitet<br />

worden. Dieser § 130 StGB (1960, alter Fassung!) ist ein<br />

allgemeines Gesetz, das vor Art. 5 GG Bestand hat. Man<br />

mag rechtspolitisch darüber streiten, ob eine liberale<br />

demokratische Ordnung nicht doch besser daran täte,<br />

sogar solche Haßreden („hate speech“) zu dulden. 122[25]<br />

Diese Vorschrift war in <strong>Deutschland</strong> Gesetz, die darin<br />

ausgesprochene Beschränkung der Meinungsfreiheit<br />

entsprach dem Grundgesetz. Der Richter, der ja nicht<br />

Gesetzgeber ist, darf nicht fragen, ob er sie für politisch<br />

geboten und angemessen hält, was übrigens bei mir<br />

der Fall war und ist. Die sog. Auschwitz-Lüge (besser:<br />

-Leugnung), zumal mit polemischer Häme (etwa: „…<br />

nur jüdische Lüge zu Erpressungszwecken!“) vorgebracht,<br />

enthält einen Angriff auf die Menschenwürde der<br />

Juden nach § 130 Ziffer I. 2., war also Volksverhetzung.<br />

Das schiere Bestreiten des Massenmordes konnte den<br />

Umständen nach gegebenenfalls als Beleidigung (bis zu<br />

2 Jahren oder Geldstrafe) strafbar sein, nicht aber – viel<br />

strenger! – als Volksverhetzung. Auf der Basis dieser<br />

gefestigten Rechtsprechung hob der BGH am 15. 3.<br />

1994 eine Verurteilung des NPD-Funktionärs Deckert<br />

durch das LG Mannheim auf, weil in concreto im Urteil<br />

zwar eine Beleidigung dargelegt werde, nicht aber<br />

die besondere Voraussetzung der Volksverhetzung.<br />

Deckert war in einer Versammlung als Übersetzer und<br />

begeisterter Interpret für Fred Leuchter, einem bekannten<br />

Auschwitz-Leugner, tätig gewesen. 123[26] Der BGH<br />

hat die Auschwitz-Leugnung durchaus nicht gebilligt,<br />

sondern nur dem Gesetz entsprechend entschieden,<br />

daß es auf Deckerts Verhalten nicht zutraf. Diese Urteilsaufhebung<br />

geriet den Medien in den falschen Hals,<br />

Entrüstungsstürme im Medienzeitalter – der BGH und die<br />

„Auschwitz-Lüge“. Süddeutsche Zeitung v. 26. 6. 1994:<br />

Eine durch Mölln und Solingen, Lübeck, Hoyerswerda<br />

und Rostock hoch alarmierte Öffentlichkeit konnte den<br />

Ingo Pommerenig weist in „Historische Entwicklung der Political correctness<br />

in Amerika“, Bund Freiheit der Wissenschaft, 1. 6. 2006,<br />

darauf hin, daß die US-Gerichte sich, soweit ersichtlich, nicht vor<br />

den Wagen der PC („speech codes“ usw. usw.) spannen lassen,<br />

vielmehr auf die Verfassung pochen; aber ihnen weichen die Verwaltungen,<br />

Universitäten pp. tunlichst aus, vgl. a. a. O., S. 10, 11, 12.<br />

122 [25] Vgl. aus dem Urteil 627 Kls 7/96 vom 22. 8. 1996 gegen Gary/<br />

Gerhard Lauck, S 81:<br />

„Der Umstand, daß bei ihm zu Hause – soweit hier von Interesse – alles<br />

erlaubt ist, mildert für seine Person nur wenig: Er kannte die deutsche<br />

Rechtslage immerhin genau. Aber dieser Umstand lenkt das<br />

Auge – ganz unabhängig von der Person des Angeklagten – auf<br />

Unterschiede, die es zwischen rechtsstaatlich -liberalen Staaten<br />

gibt: Unterschiede, die … zwar überzeugend begründbar sind, die<br />

aber doch zu ständiger Prüfung nötigen, wieweit Verbote dort, wo<br />

andernorts Freiheit herrscht, unerläßlich oder noch vernünftig sind.<br />

Adressat dieser Frage ist zunächst der Gesetzgeber, dem der frühere<br />

Bundespräsident Gustav Heinemann einen ruhigen Gang in aufgeregten<br />

Zeiten anempfohlen hatte, dann der Gesetzesausleger und<br />

letztlich das strafzumessende Gericht…“<br />

123 [26] 1 StR 179/93, NJW 1994, 1421 – sog. 1. Deckert-Urteil. 2. Deckert-<br />

Urteil vom 22. 6.1994:<br />

NJW 1094, 2494; Beisel, Die Strafbarkeit der AL, NJW 1995, 997 Zi. II.<br />

1 (998 r. Sp.)<br />

vermeintlichen Freispruch für die „Auschwitz-Lüge“ nicht<br />

fassen. Waschkörbeweise kam Protest in die Karlsruher<br />

Herrenstraße, Telefone und Fax-Geräte standen tagelang<br />

nicht still. Pressesprecher Siol sah sich mit renommierten<br />

Anrufern aus Übersee konfrontiert, nach deren fester<br />

Überzeugung am höchsten deutschen Strafgericht wieder<br />

Nazis eingezogen waren. 124[27]<br />

Der Gesetzgeber, der in dieser heiklen Angelegenheit<br />

sich schon seit langem wechselnden Impulsen<br />

ausgesetzt gesehen hatte125[28] , hielt nun die Zeit zum<br />

Handeln für gekommen, zumal mit dem 8. Mai 1995 der<br />

40. Jahrestag der deutschen Kapitulation heranrückte,<br />

an dem die Augen der Welt vermutlich auf <strong>Deutschland</strong><br />

ruhen würden. Mit Gesetz vom 28. 10. 1994 fügte das<br />

Parlament dem § 130 einen Abs. III hinzu:<br />

Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren …<br />

wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des<br />

Nationalsozialismus begangene Handlung des<br />

Völkermords der in § 220 a Abs. 1 bezeichneten<br />

Art“ (Anmerkung: damit ist Völkermord usw.<br />

gemeint, später durch inhaltsgleichen Verweis<br />

auf § 6 I des Völkerstrafgesetzbuchs geändert)<br />

in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen<br />

Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung<br />

billigt, leugnet oder verharmlost.<br />

Entsprechendes galt dann auch für Druckschriften.<br />

Schon vor und erst recht nach der Novelle gab es in der<br />

juristischen Literatur gewichtige Zweifel, ob dieser neue<br />

Absatz rechtlich sinnvoll und praktikabel sei: Welches<br />

Rechtsgut schützt er? Die geschichtliche Wahrheit wohl<br />

kaum – oder soll der Strafrichter die historische Wissenschaft<br />

gängeln? 126[29] Das politische Klima? einen „gesellschaftlichen<br />

Grundkonsens“? „die kollektive Scham“ 127[30] ,<br />

124 [27] Die rhetorisch wenig geglückte, aber in der Sache ganz untadelige<br />

Rede Philipp Jenningers am 11. November 1988 („50 Jahre<br />

….“) vor dem Bundestag rief ähnliche Hysterien im In- und im<br />

Ausland hervor: „Hitler vom Bundestagspräsidenten entschuldigt<br />

/ Antisemitismus explodiert abermals im deutschen Parlament /<br />

Tumult wegen Hitlerverehrung“ vgl. näher Bertram: Die Kultur als<br />

Machtfrage, MHR 2003, 36 ff. (41 mit Fn. 20 und 21. Ignatz Bubis,<br />

Vorsitzender im Zentralrat der Juden <strong>Deutschland</strong>s, trug später,<br />

im November 1994, die Jenninger-Rede ohne Urheberbenennung<br />

als eigene vor: ohne jeden Protest. Zu allem Werner Hill WDR-Fs<br />

vom 11. 11. 1989, 3SAT v. 5. 11. 2003, vgl. MHR 4/2003, a. a. O.<br />

125 [28] Dazu Bertram NJW 1994, 2004 zu Ziffer 5. Vgl. weiterhin etwa<br />

Vogelsang: Die Neuregelung zur sog. „AL“ – Beitrag zur Bewältigung<br />

der Vergangenheit oder „widerliche Aufrechnung“? NJW 1985, 2386;<br />

Köhler: Zur Frage der Strafbarkeit des Leugnens von Völkermordtaten,<br />

NJW 1985, 2389; Beisel: Die Strafbarkeit der AL, NJW 1995, 997<br />

126 [29] „Historikerstreit“ …. Eben dies geschieht – immer wieder, wie<br />

Hunderte Einzelfälle beweisen. Man erfährt dazu auch groteske<br />

Details, vgl. etwa Lorenz Jäger: Drastik Risiken der Zeitgeschichte:<br />

Die Fälle Canfora und Irving, FAZ vom 21. 11. 2005, wo es heißt:<br />

„… Mancher hat sich in Kenntnis des Risikos, das ein direktes Zitat<br />

bedeuten würde, stillschweigend bei Irving bedient: in <strong>Deutschland</strong><br />

etwa Günter Grass, dessen Fontane-Roman „Ein weites Feld“ in<br />

Schilderung des Reichsluftfahrtministeriums auf Irvings Göring-<br />

Biographie zurückgriff, aber schamhaft nur von einem „britischen<br />

Historiker“ sprach. Nun wüßte man doch gern, welchen Reim sich<br />

die deutschen Voltaires auf die Verhaftung (erg. Irvings) machen …“<br />

127 [30] Dazu Fischer, StGB 56. Aufl . 2009 in Rz.24 zu § 130: „Die Ansicht,<br />

der Tatbestand (erg. III) schütze „die kollektive Scham“ über die<br />

Massenvernichtung … beschreibt eher ein normatives Postulat: Es


<strong>Deutschland</strong>s Ansehen in der Welt? Die Menschenwürde<br />

von Opfern? Diese ist aber bereits Schutzgut des Abs. I<br />

und wird im neuen III gar nicht erwähnt. Der öff entliche<br />

Friede? (zweifelhaft schon deshalb, weil er kaum mehr als<br />

eine rhetorische: durch Medien und Politik inszenierte<br />

Zuschreibung sein kann.) 128[31]<br />

Juristisch bereitet § 130 in dieser Form eigentlich<br />

unlösbare Schwierigkeiten. Art. 103 Abs. 2 GG verlangt<br />

vom Strafgesetz tatbestandliche Bestimmtheit. Ist<br />

„Verharmlosen“ überhaupt noch ein rechtlich faßbarer<br />

Begriff ? Wird der ohnehin schon schwierige Tatbestand<br />

nicht noch weiter verunklart durch eine scheinbar liberale<br />

Ausnahmeklausel, die alles an sich Verbotene dann<br />

für rechtens erklärt, wenn der Täter in guter Absicht<br />

gehandelt hat? 129[32] Straftaten setzen grundsätzlich<br />

Vorsatz voraus, § 15 StGB. Was muß der Vorsatz des<br />

Täters beim Leugnen/Verharmlosen umfassen? Ist<br />

nur der Agitator und bewußte Lügner sozusagen der<br />

„Tätertyp“? Oder auch der Irrende, der es nicht besser<br />

weiß, oder der „Unbelehrbare“, oder wer sonst noch „in<br />

revisionistischer Verblendung“ handelt (so BGH v. 10. 4.<br />

2002: NJW 2002, 115)? Der wohl führende Kommentar<br />

der Strafrechtspraxis eröff net seine einschlägige Randziff<br />

er dazu mit der Bemerkung: Kaum lösbare Probleme<br />

wirft hier die Frage des Vorsatzes auf. Ist Leugnen objektiv<br />

das In-Abrede-Stellen von etwas Wahrem, so kann vorsätzliches<br />

Leugnen, wie es Abs. 3 verlangt, nach allgemeinen<br />

Regeln nur ein In-Abrede-Stellen sein, dessen Unwahrheit<br />

der Täter kennt oder jedenfalls in Kauf nimmt, mag auch<br />

die fragliche Tatsache für die anderen noch so off enkundig<br />

sein … 130[33]<br />

Und schließlich die wichtigste Frage: Ist diese Norm<br />

mit der Garantie der Meinungsfreiheit vereinbar? Diese<br />

Freiheit fi ndet ihre Schranken in den Vorschriften allein<br />

der allgemeinen Gesetze. Und das heißt: das fragliche<br />

Gesetz darf zum ersten nicht lediglich auf eine bestimmte<br />

Situation gemünzt sein. Es muß zum zweiten<br />

„meinungsneutral“ sein, darf also nicht bestimmte An-<br />

kann nicht legitimerweise strafbar sein, sich nicht zu schämen oder<br />

andere durch Verbreiten falscher Ansichten davon abzuhalten, sich<br />

zu schämen.“<br />

128 [31] Abs. III. verlangt insoweit nur die „Eignung“ zur Friedensstörung<br />

(abstraktes Gefährdungsdelikt), die schwerlich eine empirische<br />

Gegebenheit ist: „In der Praxis beschränken sich Feststellungen …<br />

fast regelmäßig auf den Hinweis, sie stehe „außer Frage“, Fischer, a.<br />

a. O. Rz. 14 IV. hingegen setzt eine vollendete Störung voraus, die<br />

eigentlich empirisch würde festgestellt werden müssen mit der<br />

Folge, daß der Tatbestand leerlaufen würde. Sollte er das vielleicht,<br />

weil es nur auf seine Anwendung im Verwaltungsrecht ankam, in<br />

Kauf genommen haben? Vgl. Fischer, a. a. O., Rz. 40<br />

Eingehende Kritik, auch an der s. E. unschlüssigen Rechtsprechung<br />

des BVerfG („Tatsachen/Meinungen …“), bei Stefan Huster: Das<br />

Verbot der „Auschwitz-Lüge“, die Meinungsfreiheit und das BVerfG,<br />

NJW 1996, 487<br />

129 [32] Vgl. etwa Bertram: Grenzenlose Volksverhetzung – Lea Roshs<br />

Debattenbeitrag NJW 2002, 111<br />

130 [33] Lenckner/Sternberg-Lieben, Rz. 20 zu § 130 StGB in Schönke-<br />

Schröder, 27. Aufl age 2006; sehr kritisch, auch zur Rechtspr. des<br />

BGH („… in revisionistischer Verblendung negiert …“, BGHSt. 47, 278<br />

= NJW 2002, 2115) Fischer StGB, 56. Aufl age 2009, § 130 Rz. 42. Der<br />

BGH schiebt hier wie auch sonst wiederholt das Vorsatzproblem<br />

beiseite und hebt auf die Motive und Zwecke des historischen<br />

Gesetzgebers ab (wie Bubnoff in LK).<br />

schauungen kriminalisieren 131[34] wie katholisch, atheistisch,<br />

reaktionär, fortschrittlich, völkisch, kommunistisch,<br />

weltbürgerlich, deutschfreundlich/deutschfeindlich,<br />

philosemitisch/antisemitisch usw. Der Meinungsinhalt,<br />

ob wertvoll oder wertlos, rational oder emotional,<br />

begründet oder grundlos, edel oder verwerfl ich usw.<br />

geht die Obrigkeit – und den Gesetzgeber! – nichts an.<br />

Andernfalls, schreibt Richter am Bundesverfassungsgericht<br />

Grimm (NJW 1995, 1698), würde dem Staat eine Defi<br />

nitionskompetenz über erwünschte oder unerwünschte<br />

Meinungen eingeräumt.<br />

Das BVerfG hat bislang die Frage noch niemals<br />

entschieden, ob die oft vorgebrachten Bedenken gegenüber<br />

der Verfassungsmäßigkeit des § 130 III StGB<br />

durchgreifen. 132[35] Es hat allerdings schon zum „alten“<br />

§ 130 StGB eine Linie vorgezeichnet, auf der es den<br />

130 III StGB, freilich nur sehr eingeschränkt!, vielleicht<br />

würde „halten“ wollen: Ihr zufolge werden falsche Tatsachenbehauptungen<br />

von der Meinungsfreiheit nicht<br />

gedeckt – im Gegensatz zu „falschen Meinungen“, die<br />

den Schutz genießen, was allerdings für falsche Tatsachenbehauptungen<br />

wiederum insoweit und dann<br />

auch gelte, wenn sie Meinungselemente und -grundlagen<br />

darstellen. 133[36] Die Strafgerichte, auch der Bundesgerichtshof,<br />

stellen die Gültigkeit der Norm nicht in Frage<br />

und versuchen, irgendwie mit ihr zurechtzukommen.<br />

Hier wäre noch anzumerken, daß der o. g. Hoff mann-<br />

Riem nach seiner Pensionierung öff entlich erklärt hat,<br />

er halte – aus rechtspolitischer Sicht – den genannten<br />

Absatz 3 („Holocaust-Leugnung“) für verunglückt und<br />

schädlich 134[37] , was ihm empörten Widerspruch aber<br />

auch Zustimmung eingetragen hat. 135[38] Die Zweifel,<br />

ob die Bestrafung der Auschwitz-Leugnung (III) verfassungsrechtlich<br />

haltbar ist, verstärken und verdichten<br />

sich bei der jüngsten Novelle.<br />

§ 130 Abs. 4 sagt:<br />

Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit<br />

Geldstrafe wird bestraft, wer öff entlich oder in<br />

einer Versammlung den öff entlichen Frieden in<br />

einer die Würde der Opfer verletzenden Weise<br />

131 [34] So vom BVerfG schon im Lüth-Urteil herausgestellt, vgl. NJW<br />

1958, S. 258, Ziffer 3<br />

132 [35] Vgl. Bertram NJW 2005, 1476 (1477: Ziff er IV.1)<br />

133 [36] Der Irving-Beschluß vom 13. 4. 1994 (NJW 1994, 1779), der falsche<br />

Tatsachenbehauptungen für i. S. des Art 5 GG ungeschützt erklärt,<br />

anders als kritikwürdige Meinungen (Hitler: Kriegsschuldfrage),<br />

Beschl. v. 11. 1. 1994: NJW 1994, 1781, betrifft den alten § 130 (TZ<br />

1991). Die i. E. schwierige und fragwürdige Unterscheidung (dazu<br />

Grimm Die Meinungsfreiheit in der Rspr. des BVerfG, NJW 1995, 1699)<br />

gilt dann aber auch für § 130 III StGB von 1994. Überzeugende<br />

Kritik bei Stephan Huster: „Das Verbot der Auschwitz-Lüge, die<br />

Meinungsfreiheit und das BVerfG, NJW 1996, 487; Michael Köhler:<br />

Zur Frage des Leugnens von Völkermordtaten, NJW 1985, 2389 (Fazit<br />

1391 l. Sp.)<br />

134 [37] Vgl. FAZ vom 10. 7. 2008: Keine Märtyrer schaffen – früherer VerfRi.<br />

gegen Holocaust-Paragraphen.<br />

135 [38] Vgl. etwa OVGPr. Bertrams in FAZ vom 17. 7. 2008: Das BVerfG<br />

und die Neonazis; gegen ihn Bertram in FAZ v. 19. 8. 2008 Triftige<br />

Gründe<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

37


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

38<br />

dadurch stört, daß er die nationalsozialistische<br />

Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht<br />

oder rechtfertigt.<br />

Der offensichtliche Mangel an Präzision in dieser<br />

Vorschrift ist kein Kunstfehler: er ist gewollt. Demgemäß<br />

hat Justizministerin Zypries schon im Gesetzgebungsverfahren<br />

Auslegungshilfen gegeben und erklärt,<br />

„Verherrlichen“ liege auch dann vor, wenn NS-Unrechtsverhältnisse<br />

in einem positiven Bewertungszusammenhang<br />

erschienen, oder wenn dabei positive Wertakzente<br />

gesetzt würden; und strafbare Billigung könne auch unter<br />

Vorbehalt oder konkludent erfolgen. 136[39]<br />

Das ist eine kaum noch verhohlene Aufforderung an<br />

die Strafjustiz, die politische Vormundschaft über die<br />

Gesellschaft zu übernehmen.<br />

Überraschenderweise hat das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde<br />

verworfen, mit der u. a. gerügt<br />

worden war, daß die neue Vorschrift schon deshalb<br />

gegen Art. 5 GG verstoße, weil sie als politisch gewollte<br />

einseitige Bestimmung kein „Allgemeines Gesetz“ sei.<br />

Das hat das BVerfG sogar als zutreffend konzediert,<br />

nicht aber die Konsequenz gezogen, die Vorschrift für<br />

verfassungswidrig zu erklären. Art. 5 II GG (Einschränkung<br />

der Meinungsfreiheit nur durch allgemeine) gelte<br />

nicht im Bereich von NS-Taten. Für das NS-Erbe hätten<br />

allgemeine Verfassungsregeln keine Geltung; dies – also<br />

ausnahmsweise Durchbrechung ihres Textes! – sei dem<br />

GG „immanent“, habe dort also noch nicht einmal erklärt<br />

werden müssen. Ein rein politischer Spruch mithin,<br />

ohne eigentlich rechtliche Substanz, für dessen Kritik<br />

hier kein Platz ist. 137<br />

IV. Der Appell von Blois – übergreifende<br />

Ursachen und Wirkungen<br />

Mitte Oktober 2008 schlugen eine Reihe international<br />

hochgeachteter Wissenschaftler, auch Historiker,<br />

öffentlich Alarm. Ihr Protest, der „Appell von Blois“,<br />

richtete sich gegen einen sog. Rahmenbeschluß der<br />

EU, der vor seiner Verabschiedung zu stehen schien.<br />

Worum ging es? Brigitte Zypries hatte sich während der<br />

deutschen EU-Ratspräsidentschaft als Vorsitzende des<br />

Justizministerrats für ihr altes Projekt ins Zeug gelegt,<br />

einer europaweiten „Erinnerungskultur“ strafrechtliche<br />

Verbindlichkeit zu verschaffen und zu diesem Zweck die<br />

deutschen Volksverhetzungsvorschriften als eine Art<br />

136 [39] Vgl. Bertram: Der Rechtsstaat und seine Volksverhetzungsnovelle,<br />

NJW 2005, 1476 zu Ziffer III. a. E.; unter Hinweis auf die Motive auch<br />

Lenckner/Sternberg-Lieben § 130 Rz. 22 b)<br />

39a vgl. etwa nur Bertram NJW-Aktuell 50/2009, S. XII (Standpunkt);<br />

Horst Meier, Sonderrecht gegen Neonazis? Merkur Juni <strong>2010</strong>, 733;<br />

Schaefer: Wieviel Freiheit für die Gegner der Freiheit?<br />

DÖV <strong>2010</strong>, 379; Benjamin Rusteberg: Die Schranken der Meinungsfreiheit<br />

gegen rechts, StudZR 2919, 159<br />

137 Vgl. etwa nur Bertram NJW-Aktuell 50/2009 S. XII (Standpunkt);<br />

Horst Meier, Sonderrecht gegen Neonazis? Merkur Juni <strong>2010</strong>. 733;<br />

Schaefer: Wieviel Freiheit für die Gegner der Freiheit?<br />

DÖV <strong>2010</strong>, 379; Benjamin Rusteberg: Die Schranken der Meinungsfreiheit<br />

gegen rechts, StudZR 2919, 159<br />

von Muster, aber erweiternd formuliert, allgemeinverbindlich<br />

zu machen. Die einschlägige Publizistik teilte<br />

im Mai 2007 mit, der EU-Ministerrat habe sich endlich<br />

auf einen „Rahmenbeschluß“ geeinigt, der die Staaten<br />

verpfl ichte, u. a. die öffentliche Billigung, Leugnung<br />

oder grobe Verharmlosung von Völkermordverbrechen,<br />

Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen<br />

unter Strafe bis zu drei Jahren zu stellen und<br />

außerdem bei Delikten jeglicher Art „rassistische und<br />

fremdenfeindliche Motive“ zu Strafverschärfungsgründen<br />

zu erklären. 138[40] Dieses Projekt schien in die europäische<br />

Landschaft sogar zu passen, denn memory laws, also<br />

Erinnerungsgesetze, waren in Europa längst ins Kraut<br />

geschossen: Arno Widmann hatte lt. FR vom 6. 11. 2008<br />

in fünfzehn Staaten derartige Gesetze – untereinander<br />

teils grotesk widersprechender Art! – ausgemacht. 139[41]<br />

Diese hatten auch zu Gerichtsverfahren und Strafen<br />

geführt. 140[42]<br />

138 [40] Näher Bertram: Wider die „Erinnerungspolizei“ – Der Appell von<br />

Blois, MHR 4/2008, 12 mit Literaturangaben. Vgl. auch Thorsten<br />

Hinz, a. a. O. (Anm. 18), S. 181: Zypries- Initiative<br />

139 [41] Reinhard Müller, FAZ vom 28. 2. 2009: Wo das Leugnen beginnt<br />

– Schon das „quantitative Bagatellisieren“ des Holocaust<br />

steht unter Strafe in <strong>Deutschland</strong>. Mit dem EU-Haftbefehl könnte<br />

der Arm des deutschen Gesetzes bis nach Großbritannien reichen<br />

– nennt Österreich, Frankreich, Spanien bis zur Entscheidung<br />

der dortigen Verfassungsgerichte (!!), Belgien, Luxemburg,<br />

Liechtenstein, Tschechien, Polen, Israel. Mit leichter Ironie zum<br />

Zypries’schen Haftbefehl gegen Richard Williamson … Vgl. auch<br />

Thomas Immannuel Steinburg vom 21. 10. 2008 (Internet, Schmidt-<br />

Polyglatt): Europäische Erinnerungspolizei in der Maske der Tugend,<br />

wo es heißt: „Frankreich erließ 1990 unangefochten ein Verbot der<br />

Leugnung der Vernichtung europäischer Juden und anderer 1945<br />

in Nürnberg defi nierter Verbrechen gegen die Menschheit. 1995<br />

wurde der Historiker Bernard Lewis auf dieser Grundlage von einem<br />

französischen Kriminalgericht verurteilt, weil er bestritten hatte, daß<br />

der Massenmord an den Armeniern als Völkermord einzustufen sei,<br />

… 2001 verfügte die Frz. Republik per Gesetz, daß Sklaverei ein Verbrechen<br />

gegen die Menschheit sei. Oliver Petre-Grenouilleau wurde<br />

daraufhin von frz. Staatsbürgern in Übersee vor Gericht gebracht; er<br />

hatte eine Forschungsarbeit über afrikanischen Sklavenhandel veröffentlicht.<br />

Von einem anderen Standpunkt aus schreibt inzwischen ein<br />

weiteres frz. Gesetz vor, daß Lehrpläne an Schulen die „positive Rolle<br />

Frankreichs“, „besonders in Nordafrika“ zu berücksichtigen hätten …“<br />

Dazu noch Karen Krüger in FAZ vom 19. 11. 2008: Die Beleidigung<br />

der türkischen Nation bleibt strafbar: Der türkische Justizminister<br />

verteidigt den Art. 301 (betr. des Verbots, vom armenischen Genozid<br />

zu sprechen).<br />

140 [42] Bemerkenswert eine Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichtshofs<br />

vom Herbst 2007, nach der Art. 607.2 des StGB<br />

dahin zu ändern sei, daß zwar jede Rechtfertigung des Holocaust<br />

verboten bleibe, dessen pure Leugnung indessen von der Meinungsfreiheit<br />

umfasst werde, vgl. Junge Freiheit vom 16. 11. 2007:<br />

Holocaust-Leugnung nicht mehr strafbar<br />

Bertram: Den Punkt getroffen, JF 16. 11. 2007, S. 2


V. Alleinstellung der NS-Verbrechen<br />

Dennoch wäre der Zypries-Plan fast gescheitert:<br />

Polen, Slowenien und die baltischen Staaten hatten<br />

verlangt, wenn dergleichen schon gemacht werde,<br />

dann müßten Stalins Ausrottungsverbrechen strafrechtlich<br />

genauso wie andere, insb. die NS-Verbrechen,<br />

nachträglich verdammt, also ausdrücklich ins Gesetz<br />

einbezogen werden. Der Ministerrat indessen hatte<br />

sich in einer „sehr anstrengenden Sitzung“ (Brigitte<br />

Zypries) nur auf die Formel verständigen können, er<br />

„bedauere“ auch diese Verbrechen, wolle und könne sie<br />

aber nicht als „Völkermord“ qualifi zieren, mithin nicht<br />

einbeziehen. 141[43] „The Zypries List of horrors“ (Garton Ash<br />

in The Guardian) ist also nicht gedacht als ein generelles<br />

Verbot, Großverbrechen zu bestreiten, sondern das<br />

Projekt, allein den NS-Holocaust dem nun auch europaweiten<br />

Tabu zu unterwerfen. Daß dies die juristische<br />

Einkleidung eines geradezu religiösen Anliegens ist, hat<br />

wiederum Thorsten Hinz überzeugend begründet. Das<br />

Straßburger EU-Parlament hatte das Projekt dann im<br />

November 2007 abgesegnet; aber zur Zeit ist trotzdem<br />

offen, ob der „Parlamentsvorbehalt“ einiger osteuropäischer<br />

Staaten dort zur Geltung und das Projekt<br />

dadurch doch noch zum Scheitern gebracht wird. In<br />

dieser Lage, zu der die Dinge noch in der Schwebe sind,<br />

fi nden sich, wie eingangs bemerkt, Wissenschaftler aus<br />

Frankreich, Italien, Belgien, Holland, England, Polen u.<br />

a. Ländern, auch aus <strong>Deutschland</strong>, auf Einladung des<br />

Bürgermeisters und früheren Kulturministers Jack Lang<br />

im französischen Blois zusammen, um vor dieser neuen<br />

Inquisition, der „Erinnerungspolizei“, in letzter Minute zu<br />

warnen. Timothy Garton Ash formuliert die Erklärung,<br />

in der es heißt:<br />

In einem freien Staat ist es nicht die Aufgabe irgendeiner<br />

politischen Autorität zu defi nieren, was<br />

die historische Wahrheit sei, geschweige denn<br />

darf sie die Freiheit des Historikers mittels der<br />

Androhung von Strafsanktionen einschränken.<br />

Wir fordern die Historiker auf, in ihren Ländern<br />

ihre Kräfte zu sammeln und sich diesem Appell<br />

anzuschließen, um der Vermehrung von Erinnerungsgesetzen<br />

Einhalt zu gebieten. Die politisch<br />

Verantwortlichen bitten wir zu begreifen, daß es<br />

zwar zu ihren Aufgaben gehört, das kollektive<br />

Gedächtnis zu pfl egen, daß sie aber keinesfalls<br />

per Gesetz Staatswahrheiten institutionalisieren<br />

sollen (vgl. Robert Havemann: „HEW “ = „Hauptverwaltung<br />

ewige Wahrheiten!!).<br />

141 [43] Offenbar soll der abstrakte Text nur auf den Holocaust zutreffen;<br />

in diesem Sinne schon Milosz Matuchek in der SZ v. 30. 11. 2007:<br />

Europas Erinnerungsgesetz: „… Längst war überfällig, daß sich die<br />

Justizminister der EU-Staaten auf ein gemeinsames Vorgehen für<br />

einen Beschluß zur Holocaust-Leugnung einigen … Die EU würde<br />

ihrem Ziel näher kommen und neben Wirtschafts-, Währungs- und<br />

Wertegemeinschaft auch zu einer Erinnerungsgemeinschaft werden.“<br />

Ash kennt die Geschichte der DDR besser als die<br />

weiland „maßgebenden Deutschen, die schwerwiegende<br />

Konsequenzen für die Arbeit des Historikers und die<br />

intellektuelle Freiheit insgesamt haben können … „In einer<br />

Demokratie ist die Freiheit der Geschichte die Freiheit aller“.<br />

Erfreulicherweise ist der Protest unüberhörbar geworden<br />

142[44] , was freilich nicht heißt, daß man auf ihn hören<br />

wird. Übrigens wirft das Zypries-Projekt auch prekäre<br />

europarechtliche Fragen von der Art auf, wie der Zweite<br />

Senat des BVerfG sie im Lissabon-Termin verhandelt hat:<br />

die Frage nach den rechtlichen Kompetenzen europäischer<br />

Instanzen, ihren 27 Nationen eine einheitliche<br />

Erinnerungskultur strafrechtlicher Art zu oktroyieren. Es<br />

ist klar, daß der EG-Vertrag für eine solche Kompetenz<br />

schlechterdings nichts hergibt, und zwar trotz seiner<br />

textlichen Verwaschenheit: Art. 5 S. 2 EGV verlangt eine<br />

Einzelermächtigung, die nirgends erteilt wird. Hier wird<br />

einfach aus dem hohlen Bauch „Wertegemeinschaft“ herausgeschöpft<br />

und hervorgezaubert. 143[45] Die negative<br />

Antwort aber dürfte keinen der vielen EU-Funktionäre<br />

oder Straßburger Mandatsträger interessieren oder gar<br />

erschüttern; die deutschen Abgesandten in Ministerrat<br />

und Kommission am allerwenigsten. Sie sind es doch,<br />

die den Wechselbalg auf seine Reise geschickt haben.<br />

VI. Schluß<br />

Ich verabscheue, was Sie schreiben, aber ich würde<br />

mein Leben dafür hergeben, daß Sie es weiter schreiben<br />

können. Diese Formulierung dessen, was Aufklärung<br />

und Toleranz einmal bedeuten sollten (sie wird Voltaire<br />

zugeschrieben 144[46] , dürfte heute fast nirgends mehr<br />

auf Verständnis stoßen: nicht bei unseren politischen<br />

Akteuren, den Parteien, nicht in den Medien, Behörden,<br />

Volkshochschulen – und am allerwenigsten in<br />

den Ämtern, die den gesetzlichen Auftrag haben, die<br />

Verfassung, also auch die Meinungsfreiheit, zu schützen.<br />

Die Gerichte aber sind auf die Verfassung, ihren<br />

Text und Geist, verpflichtet. Ob dies innerhalb der<br />

Rechtsprechung so bleibt, und wenn es bleibt: ob das<br />

allein genügt, das immer enger werdende Korsett der<br />

Bevormundung und Gängelei zu sprengen, ist eine<br />

zur Zeit ganz offene Frage. Je weniger die Gesellschaft<br />

bereit ist, sich gängeln und bevormunden zu lassen, um<br />

so hoffnungsvoller die Aussicht, und umgekehrt leider:<br />

um so düsterer!<br />

142 [44] Vgl. etwa Marc Zitzmann in NZZ vom 22. 10. 2008: „Wider die<br />

„Staatswahrheit“, Jürg Altweg in FAZ vom 16. 10. 2008: Retro-Moral<br />

– Historiker kämpfen für die Freiheit der Geschichte; Arno Widmann<br />

in FR v. 6. 11. 2008: Der Kampf um die Erinnerung; Cora Stephan Eros<br />

der Freiheit, Der Spiegel 46/2008 S. 190; Thorsten Hinz Glasfassaden<br />

der Unfreiheit – Das deutsche Elend wird zum europäischen: Moralpolizisten<br />

sollen über die Geschichte wachen, JF 30. 11. 2008, S. 11<br />

143 [45] Vgl. dazu die köstliche Glosse Gerd Roelleckes: Antidiskriminierung<br />

auf europäisch, NJW 1996, 3261<br />

144 [46] Im Brief an A. M. Riche vom 6. 2. 1770<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

39


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

40<br />

Wahrheit als Hochverrat?<br />

Wer andere als die herrschenden Wahrheiten lehrt,<br />

begeht vor der Welt eine Art Hochverrat. Er macht sich<br />

strafbar. Nicht die jeweils herrschenden Wahrheiten<br />

sind schützenswert. Schutzgut ist die durch sie erzeugte<br />

Ruhe des Volkes, die jählings zerbrechen kann. Wahrheiten<br />

beunruhigen das Volk, denn sie zeigen ihm die<br />

Unsicherheit der Stelzen unserer Lebensbühne. Große<br />

Propheten wurden daher seit je gekreuzigt und verbrannt<br />

(Goethe/Faust). Ti estin aletheia – Was ist Wahrheit? Diese<br />

Pilatusfrage, nüchtern übersetzt, lautet: Wahrheit – gibt<br />

es die überhaupt? Goethe sagt einmal zu einem Historiker:<br />

Wie wenig enthält auch die ausführlichste Geschichte<br />

im Vergleich zum wirklichen Leben … Und von dem wenigen,<br />

wie weniges ist wahr? Und von dem Wahren, ist irgend<br />

etwas über allen Zweifel hinaus? Bleibt nicht vielmehr alles<br />

ungewiß, das Größte wie das Geringste?<br />

Dostojewski beschreibt in seiner berühmten Phantasie<br />

Großinquisitor, daß Christus auf die Erde zurückkehrt.<br />

ER sagt nichts, dennoch wird er erkannt. Hosianna, ruft<br />

das Volk wie ehedem. Auch der Kardinal Großinquisitor<br />

erkennt IHN, steckt den Finger aus und gebietet der Wache,<br />

IHN festzunehmen.<br />

Das Volk weicht angstvoll zurück und läßt es geschehen.<br />

Im Gefängnis spricht der Großinquisitor zu<br />

Christus: Weshalb bist du denn gekommen, uns zu stören?<br />

Hast du ein Recht dazu, uns auch nur eines der Geheimnisse<br />

zu enthüllen von jener Welt, von wo du gekommen<br />

bist? Der Großinquisitor bezweifelt also nicht, daß der<br />

wiedererschienene Christus im Besitz der objektiven<br />

Wahrheit ist, wie nur Gott sie kennt. Er bezweifelt<br />

aber, daß diese objektive Wahrheit jetzt schon für die<br />

Menschen paßt. Ich achte deine Wahrheiten, sagt der<br />

Großinquisitor, und auch ich warte auf das Heil, aber<br />

jetzt verwirrst du das Volk. Wisse: Jetzt und eben jetzt<br />

sind diese Menschen mehr als je davon überzeugt, daß sie<br />

völlige Freiheit genießen. Und dabei haben sie uns selber<br />

ihre Freiheit ergeben zu Füßen gelegt. Warum störst du<br />

uns? Wer verdiente wohl eher den Scheiterhaufen als du?<br />

Morgen werde ich dich verbrennen.<br />

Es ist also eine sehr ernste Frage, die sich stellt: Soll<br />

man für Wahrheit kämpfen? Welche Wahrheit?<br />

M.A.


Die Aff äre (1986/87) um den beim damaligen CDU-Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, Dr. Uwe Barschel,<br />

plazierten SPD-Spitzel Pfeiff er steht mit dem ungeklärten Tod Barschels in einem Genfer Hotelzimmer in Verbindung.<br />

Harms glaubt, Barschel habe Selbstmord begangen. Ich glaube an Mord, begangen durch die Stasi, unter helfendem<br />

Nicken von Engholm, welcher der SED sehr nahe stand. Nachdem die SPD die Früchte der Aff äre geerntet und die Wahl<br />

gewonnen hatte, hat ihr Generalstaatsanwalt alle Ermittlungen eingestellt. Höhepunkt des Skandals war die gerichtlich<br />

niemals geahndete nächtliche Übergabe von Schweigegeld an Pfeiff er durch den SPD-Sozialminister Janssen. Diese<br />

Machenschaften der SPD, einer demokratischen Partei, waren schlimm genug. Das wirklich Erschütternde an der Aff äre<br />

aber war die Treulosigkeit und Feigheit der CDU. Es rührte sich keine Hand! Weder Landespolitiker, die ihren Aufstieg<br />

z. T. Barschel verdankten, noch der damalige CDU-Vorsitzende Kohl. Feige bis ins Mark!<br />

Ich bin Herrn Harms dankbar für seinen Bericht. Er mahnt uns, nicht vorschnell zu richten! Eine Mahnung, die angesichts<br />

der Vorgänge um Th. Sarrazin (September <strong>2010</strong>) wieder einmal ungehört blieb. M.A.<br />

Uwe Barschel<br />

Richtigstellung eines Augenzeugen<br />

Rainer Ute Harms, Pinneberg 145•<br />

Einleitung<br />

Die Ereignisse um den schleswig-holsteinischen<br />

Ministerpräsidenten Dr. Dr. Uwe Barschel haben mich<br />

seit den Ereignissen 1987/88 nie losgelassen. Es war<br />

dabei weniger die Sache an sich, als vielmehr die Begleitumstände<br />

und alles, was danach passierte. Das hat<br />

mich bis heute nicht losgelassen. Deswegen will ich das,<br />

was ich damals als Landtagsabgeordneter persönlich<br />

erlebte, die damaligen Begegnungen mit Menschen<br />

in der eigenen Fraktion, mit <strong>Journal</strong>isten und Bürgern,<br />

hier schildern.<br />

De mortuis nihil nisi bene! Rede nicht schlecht über<br />

Tote. Für Uwe Barschel hat dieser Satz nie gegolten.<br />

Noch heute wird negativ auf Uwe Barschel Bezug<br />

genommen von Menschen, die wirklich nicht wissen,<br />

was vorgefallen ist. Die Äußerungen sind so, daß es als<br />

selbstverständlich angenommen wird, daß er ein übler<br />

Patron war, dessen Leben und Tun verwerfl iche Machenschaften<br />

gewesen wären. Noch heute werden unser<br />

damaliger Fraktionspressesprecher Günter Kohl oder z.<br />

B. der frühere Staatssekretär Dr. Hermann Schleifer für<br />

Dinge stigmatisiert, an denen sie keine Schuld haben<br />

und mit denen sie nichts zu tun haben. Sie wurden<br />

damals aber zusammen mit anderen als Bauernopfer<br />

auf dem Altar der Öff entlichkeit geschlachtet.<br />

Lassen Sie es mich vorwegnehmen: Ich glaube nicht,<br />

daß alles das, was so über die damaligen Ereignisse im<br />

Umlauf ist, richtig ist.<br />

145 • Damals CDU-Mitglied im schleswig-holsteinischen Landtag<br />

Meine gemeinsame Geschichte mit Barschel<br />

Um die Persönlichkeit, den Menschen Uwe Barschel<br />

beschreiben zu können, werde ich zunächst einige<br />

gemeinsame Erlebnisse mit ihm schildern. Ich kannte<br />

Uwe Barschel aus einigen Begegnungen Ende der 60er<br />

Jahre aus der Jungen Union in Schleswig-Holstein. Er<br />

war mein Landesvorsitzender. Da es meine (Eigen)<br />

art war, mich in der Politik nach den eigenen Empfi ndungen,<br />

der eigenen Meinung über Politik zu richten,<br />

hatten wir unsere erste kontroverse Begegnung in den<br />

Gremien der Jugendorganisation. Klaus Hensel (heute<br />

erster Stadtrat in Quickborn), Willi Klepper, Karla Heesen<br />

und ich, alle Junge Union Kreis Pinneberg, reisten 1970<br />

monatelang durch Schleswig-Holstein. Wir wollten<br />

dafür sorgen, daß der verdiente, damals aber umstrittene<br />

Ministerpräsident Helmut Lemke durch Gerhard<br />

Stoltenberg abgelöst wird.<br />

Ich erinnere mich noch, wie diese beiden Politiker<br />

mit hochrotem Kopf auf dem Landesparteitag im Kieler<br />

Schloß beieinander saßen. Mein erster wichtiger<br />

Auftritt auf diesem Parteitag zu Stoltenberg gewandt,<br />

der damals Kruppdirektor war: „Wenn Sie nicht bereit<br />

sind, in der Stunde der Not für die CDU Schleswig-<br />

Holsteins in unser Land zu kommen, dann können Sie<br />

das nächste Mal auf der Villa Hügel kandidieren.“ Ich<br />

bin sicher, es waren unsere monatelangen Aktivitäten,<br />

die bewirkten, daß Stoltenberg Spitzenkandidat wurde<br />

und wir ein fulminantes Wahlergebnis bekamen.<br />

Diese Episode erzähle ich aber nur deswegen, um Uwe<br />

Barschels politisches Gespür beleuchten zu können.<br />

Uwe Barschel war auf diesem denkwürdigen Parteitag<br />

nämlich krank. Er hat mir gegenüber immer bestritten,<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

41


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

42<br />

daß meine Unterstellung, er hätte eine „politische Krankheit“<br />

gehabt, richtig gewesen ist. Dennoch bin ich noch<br />

heute dieser Meinung, denn wäre er zugegen gewesen,<br />

hätte er sich für die Junge Union äußern müssen, deren<br />

Landesvorsitzender er war. Das hätte aber geheißen,<br />

Partei ergreifen zu müssen. Der kluge Uwe Barschel war<br />

schon damals ein guter politischer Stratege. Ich sehe das<br />

eben Beschriebene nicht als negativ an, hätte er anders<br />

gehandelt, wäre er politisch nicht eine so bedeutende<br />

Persönlichkeit geworden. Im Frühjahr des Jahres 1971<br />

kamen Uwe Barschel und ich dann gemeinsam in den<br />

Landtag. Er war, weil ein brillanter Kopf, politisch sofort<br />

ein Hoffnungsträger, der natürlich schnell Karriere<br />

machte. Er begann als parlamentarisch Beauftragter<br />

für Jugendfragen. Das brachte ihm eine Dotation, ein<br />

Auto mit Fahrer und ein Büro, so daß er sich politisch<br />

entfalten konnte.<br />

Als der Fraktionsvorsitzende Gerd Lausen damals<br />

Finanzminister wurde, war es nur natürlich, daß Uwe<br />

Barschel unser Fraktionsvorsitzender wurde. Er bekam<br />

ein exzellentes Wahlergebnis und leitete die Fraktion<br />

von allen, die ich als Vorsitzende kennengelernt habe,<br />

ohne Frage am fairsten, am besten und gegenüber der<br />

Regierung loyal, aber durchaus kritisch und durchsetzungsstark.<br />

Nicht um mich etwa rechtfertigen oder profi lieren<br />

zu wollen, es liegt ja alles ziemlich weit zurück, möchte<br />

ich doch meine damalige Haltung und Uwe Barschels<br />

aufrechte Haltung mir (und den ‚Freunden‘) gegenüber<br />

beschreiben. Vielleicht weil ich einen guten, sicheren<br />

Wahlkreis hatte, vielleicht auch wegen meines Demokratieverständnisses<br />

(ich wollte gewählt werden), hatte<br />

ich keinerlei Interessen an den kleinen und großen<br />

Machtspielchen in der Fraktion. Mich interessierte<br />

die Politik in und für Schleswig-Holstein und darüber<br />

hinaus.<br />

Vielleicht wegen meines ethischen Fundamentes,<br />

aber sicher auch deswegen, weil ich versuchte, Politik<br />

unter dem Gesichtspunkt zu begreifen‚ was für die<br />

Menschen heute und auch noch in zehn oder zwanzig<br />

Jahren gut ist. Ich fragte mich, was muß für <strong>Deutschland</strong><br />

getan werden und zwar nicht nur für die damalige<br />

Bundesrepublik (alt). Meine Ansichten etwa zum Umweltschutz<br />

oder zur Wiedervereinigung erschienen in<br />

der damaligen Betrachtung häufi g als ‚absurd‘, so daß<br />

ich bei vielen Kollegen als Querulant galt.<br />

Auf meine Anregung hin diskutierte unsere<br />

Fraktion 1986 auf ihrer Klausurtagung die Folgen<br />

der demografi schen Entwicklung. Stellen Sie sich<br />

vor, wir hätten damals Schlußfolgerungen aus<br />

den Erkenntnissen für die Politik gezogen. Die<br />

fi nanziellen Probleme des Landes sähen heute<br />

z. B. anders aus.<br />

Leidenschaftlich versuchte ich die Verantwortungsträger<br />

in meiner Partei davon zu überzeugen,<br />

daß die damalige DDR auch <strong>Deutschland</strong><br />

ist, das wir für die Millionen Menschen dort mit<br />

zu handeln hätten. Es war sicher auch mein Verdienst,<br />

daß wir damals die DDR und die früheren<br />

Ostgebiete <strong>Deutschland</strong>s bereisten. Das war für<br />

viele Politiker eine wichtige Nachhilfestunde in<br />

deutscher Politik.<br />

Ich beschreibe das so ausführlich, weil ich mich an<br />

die vielen Klausurtagungen der CDU-Landtagsfraktion<br />

erinnere. Man suchte sich einen feinen Ort in Schleswig-<br />

Holstein aus, es gab ein opulentes Essen, dann wurde<br />

kurz mit Reden des Ministerpräsidenten oder ähnlichen<br />

Würdenträgern getagt. Danach wurde getrunken. Viele<br />

konspirierten und fi elen dann angeheitert ins Bett. Ich<br />

bin immer nach Hause gefahren. Am nächsten Morgen,<br />

wenn Politik diskutiert wurde, sah ich in die müden,<br />

uninteressierten Augen der Kollegen (natürlich mit<br />

Ausnahmen), die sich sichtlich genervt fühlten, wenn<br />

der Harms dauernd redete. Nur einer hörte garantiert<br />

immer sehr aufmerksam zu, das war Uwe Barschel. Er war<br />

der einzige, der sich in die Argumente und Anregungen<br />

hineinzudenken und sie aufzunehmen versuchte.<br />

Mein Wunsch nach der Wiedervereinigung <strong>Deutschland</strong>s<br />

wurde von Uwe Barschel nachhaltig unterstützt.<br />

So hatten wir seinerzeit mit etwa 50 Personen (mehr<br />

waren nicht zu motivieren) am 17. Juni 1971 an der Zonengrenze<br />

bei Mustin demonstriert. Redner in Richtung<br />

DDR war Uwe Barschel. Er fuhr mit unserer Fraktion und<br />

auch mit kleineren Delegationen durch die DDR. Dieses<br />

Verhalten zeigte seine politische Weitsicht. Uwe Barschel<br />

hatte die Verpfl ichtung des Wiedervereinigungsauftrages<br />

erkannt und setze sie in aktive Politik um. Das war<br />

übrigens die Ursache für seine (und unsere) häufi gen<br />

Besuche in der DDR. Alles andere, was nachher hineingeheimnist<br />

wurde (Waffengeschäfte/Stasi) ist schlicht<br />

dummes Zeug.<br />

Übrigens war Gerhard Stoltenberg erst durch unsere<br />

Aktivitäten dazu gebracht worden, die DDR ebenfalls<br />

regelmäßig zu besuchen. Weil er noch nie in der DDR<br />

war, hatte ich schon zu organisieren begonnen, daß er<br />

mit mir zusammen einmal einen privaten Besuch bei<br />

meinen Verwandten in Sachsen machen sollte. Er hat<br />

dann Wege über die Kirche gefunden.<br />

Aber ich will hier noch ein anderes Erlebnis schildern,<br />

daß den Politiker Uwe Barschel wohl noch besser<br />

kennzeichnen kann. In der Fraktion war ich seinerzeit<br />

zeitweilig baupolitischer Sprecher, also zuständig für<br />

die Novellierung der Landesbauordnung. Als Bürgermeister<br />

meines kleinen Wohnortes kannte ich einerseits<br />

die Bauordnung, andererseits das, was wirklich bei uns<br />

gebaut wurde. Es gab Schwarzbauten. Woher sollten die<br />

Bürger auch wissen, daß das, was sie taten, gegen ein<br />

recht kompliziertes Gesetz verstößt. Nicht die Bürger<br />

seien zu bestrafen, so meinte ich, sondern die Vorschriften<br />

sind zu ändern. Der damalige Innenminister Uwe


Barschel war von mir eingeladen worden, zu einem<br />

bestimmten landespolitischen Thema bei uns im Dorf<br />

vor den Bürgermeistern der Region zu sprechen. Weil<br />

der Innenminister für die Landesbauordnung verantwortlich<br />

zeichnete, rief ich seine Sekretärin an und bat<br />

sie, den Minister zu bitten, doch eine halbe Stunde eher<br />

zu kommen (anonym), ich wollte ihm gerne mal die<br />

Schwarzbauten in meinem Dorf zeigen.<br />

Uwe Barschel rief mich damals an und sagte: „Rainer<br />

Ute, wenn ich als Minister sehe, daß es irgendwo<br />

Schwarzbauten gibt, dann muß ich sie als ‚Offi zialdelikte‘<br />

verfolgen und das kann nicht in deinem und meinem<br />

Sinne sein.“ Er kam pünktlich zur Veranstaltung, aber<br />

bei meinen Vorschlägen zur Landesbauordnung war er<br />

später besonders aufgeschlossen und hilfreich. Ich habe<br />

das so ausführlich beschrieben, weil ich damit die Persönlichkeit<br />

Uwe Barschels kennzeichnen möchte. Er war<br />

ein durch und durch korrekter, aber eben auch immer<br />

politisch klug denkender Mann, vor dessen Fähigkeiten<br />

ich auch heute noch rückblickend große Achtung habe.<br />

Da er diese Haltung seit 1971 in allen unseren unzähligen<br />

Begegnungen so vorlebte, sehe ich einfach<br />

keinen Grund, daran zu zweifeln, daß er so nicht auch<br />

bis zum Schluß handelte.<br />

Der Ablauf der Ereignisse<br />

Wie in jedem Wahlkampf hatte der Axel Springer<br />

Verlag einen führenden <strong>Journal</strong>isten abgestellt, der die<br />

Öff entlichkeitsarbeit der Regierung im Wahlkampf mit<br />

seinem Sachverstand unterstützen sollte. Diesmal war<br />

es Reiner Pfeiff er. Die Tätigkeit eines solchen Mannes<br />

bezog sich nie darauf, „der Mann fürs Grobe“ zu sein.<br />

Das wäre ja im übrigen auch ziemlich töricht. Wenn<br />

man so etwas überhaupt hätte tun wollen, wäre dies<br />

aus der Staatskanzlei heraus zu organisieren ein doppelt<br />

törichtes Verhalten. Nein, dieser Mann sollte den Wahlkampf<br />

begleiten und die Regierungsarbeit gegenüber<br />

der Landespresse positiv profi lieren, mehr nicht. Uwe<br />

Barschel zu unterstellen, er hätte diesem Mann einen<br />

anderen Auftrag gegeben, kann nur in den Köpfen von<br />

Menschen geboren sein, die glauben, daß Politik per<br />

se intrigant und schmutzig ist. Was man nicht wußte,<br />

Pfeiff er war bei Springer ein Auslaufmodell, mußte sich<br />

also Gedanken über seine berufl iche Zukunft machen,<br />

und er war alles, nur kein führender <strong>Journal</strong>ist.<br />

Irgendwann zu Beginn des Sommers 1987 rief mich<br />

dieser Pfeiffer zu Hause an. Mein einziges ‚Pfeiffer-<br />

Erlebnis‘ übrigens. Er fragte mich, ob ich etwas über<br />

Engholms Kirchenmitgliedschaft wüßte oder so. Zwar<br />

empfand ich diese Frage seltsam und sogar ziemlich<br />

abstrus, maß ihr aber nicht die Bedeutung zu, die sie<br />

hatte. Wohlgemerkt, das war zu einem Zeitpunkt, an<br />

dem der engste Mitarbeiter von Engholm (dem späteren<br />

Ministerpräsidenten), Herr Nielius, schon intensiven<br />

Kontakt mit Pfeiff er hatte. Hätte ich damals die Bedeu-<br />

tung erkannt und Alarm geschlagen, die Entwicklung<br />

wäre sicher eine andere gewesen.<br />

Heute gesicherte Tatsachen:<br />

1. Pfeiffer war zu einem „feindlichen U-Boot“ mutiert.<br />

Er spielte ein doppeltes Spiel. Einerseits<br />

sollte er die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung<br />

unterstützen, andererseits konstruierte er<br />

Verschwörungstheorien, die er nicht etwa den<br />

eigenen Leuten, sondern über Herrn Nielius der<br />

SPD-Opposition mitteilte.<br />

2. Es muß doch nachdenklich stimmen, warum<br />

Pfeiffer später durch den „Boten“ Nielius eine<br />

Geldprämie von Engholm und Sozialminister<br />

Jansen auf einer Autobahnraststätte überreicht<br />

bekam. Auch sollte man sich fragen, warum der<br />

ins Gerede gekommene Nielius (der treue Knecht<br />

ließ sich für den Herrn schlagen) über die Jahre<br />

von Engholm gestützt wurde.<br />

3. Engholm behauptet bis heute, er habe von den<br />

Machenschaften nichts gewußt. Ich denke, ich<br />

kenne das politische Geschäft gut genug, um zu<br />

wissen, daß alles stimmt, nur diese Behauptung<br />

nicht. Zumindest hat Engholm gewußt, daß<br />

Nielius mit Hilfe Pfeiffers einen Skandal plante,<br />

der vor der Wahl (wie geschehen) platzen sollte,<br />

um der SPD zum Sieg zu verhelfen. Die Veröffentlichung<br />

im Der Spiegel einen Tag vor der<br />

Wahl am 27. September hat uns alle überrascht<br />

und kalt getroffen, insbesondere Uwe Barschel.<br />

Die Intrige war also, wie geplant, erfolgreich,<br />

natürlich nicht für Uwe Barschel und die CDU,<br />

sondern für die SPD.<br />

4. ‚Aliquid semper haeret! Irgend etwas bleibt<br />

immer hängen! Die SPD-Strategie war aufgegangen.<br />

Wie bereits beschrieben, verstand es<br />

Uwe Barschel mit der ihm übertragenen Macht,<br />

klug umzugehen. Andererseits macht ein solches<br />

Amt auch einsam. Damit konnte Uwe Barschel<br />

nur schwer zurechtkommen.<br />

5. Nun passierte dieses Komplott. Barschel war<br />

ganz allein, denn selbst seine ‚eigenen Freunde‘<br />

begannen offensichtlich, an ihm zu zweifeln.<br />

6. Am 23. September 1987 besuchte der stellvertretende<br />

Ministerpräsident Dr. Henning Schwarz<br />

das Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Quickborn<br />

in meinem Wahlkreis. Es war der Tag der Namensgebung<br />

dieser Schule. Als wir gelegentlich<br />

allein waren, meinte ich zu ihm, daß wir als seine<br />

Freunde doch mehr für Uwe Barschel tun müßten,<br />

wir müßten ihm doch in jeder Beziehung<br />

helfen. Er meinte, daß doch mehr an der Sache<br />

dran sein könnte. Selbst Dr. Henning Schwarz,<br />

einen durch und durch anständigen, loyalen und<br />

korrekten Mann, plagten Zweifel.<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

43


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

44<br />

Für mich war damals gegen Ende September klar,<br />

daß Uwe Barschel als Ministerpräsident zurücktreten<br />

müsse, um so die politische Verantwortung zu übernehmen<br />

dafür, daß die Regierung den Herrn Pfeiff er eingestellt<br />

hatte. Er hätte damit die politische Verantwortung<br />

für dessen Machenschaften übernehmen müssen. Das<br />

ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist eigentlich<br />

eine Selbstverständlichkeit, daß nämlich alle, die mit<br />

Uwe Barschel zusammen Politik gemacht haben, die<br />

durch ihn eine große Karriere gemacht haben, alles<br />

tun, um ihm, aber auch der eigenen CDU, in Würde aus<br />

dieser Situation herauszuhelfen versuchen.<br />

Untersuchungsausschuß<br />

Für mich war selbstverständlich, daß der einzurichtende<br />

Untersuchungsausschuß das Gremium sein<br />

mußte, in dem die Aufklärung der Sachverhalte vorgenommen<br />

wird. Die Aufgabe der CDU-Leute in dem<br />

Ausschuß wäre es gewesen, alles zu tun, ihren Freund<br />

Uwe Barschel und die CDU in ihrer Gesamtheit so gut<br />

es ging zu schützen.<br />

Für mich wäre es auch dann selbstverständlich gewesen,<br />

so zu handeln, wenn Uwe Barschel alle die ihm<br />

unterstellten Dinge gemacht hätte. Was ich aber nicht<br />

von ihm glaubte. Es gebot also die ‚Freundschaft und<br />

Loyalität“, so zu handeln. Ich merkte auch, daß Uwe<br />

Barschel in seiner Einsamkeit in besonderer Weise die<br />

Hilfe, Solidarität und Freundschaft seiner „Freunde“ und<br />

Weggefährten brauchte und suchte.<br />

29. September 1987<br />

Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, hatten<br />

wir Ende September oder Anfang Oktober 1987 eine<br />

erste Parlamentssitzung. Wir wählten vermutlich den<br />

neuen Parlamentspräsidenten. Wichtiger war aber die<br />

Fraktionssitzung der CDU. Sie könnte am 29. September<br />

gewesen sein. In dieser Sitzung waren alle Mitglieder<br />

gemeinsam der Ansicht, daß ein Untersuchungsausschuß<br />

eingerichtet werden solle, um die im Zusammenhang<br />

mit den Machenschaften Pfeiff ers entstandenen<br />

Fragen zu klären.<br />

Wir versicherten zugleich Uwe Barschel unserer<br />

Freundschaft und Solidarität. Auch rieten wir ihm, erst<br />

einmal wegzufahren und sich von dem Streß zu erholen,<br />

um dann mit frischer Kraft und gemeinsam mit uns die<br />

Mühsal des Untersuchungsausschusses zu überstehen<br />

und den entstandenen Schaden für ihn und für die CDU<br />

insgesamt zu begrenzen.<br />

Wegen der unzähligen <strong>Journal</strong>isten, die uns förmlich<br />

belagerten, sollte niemand wissen, wohin Uwe Barschel<br />

in den Urlaub fuhr. Nur der Staatssekretär in der<br />

Staatskanzlei, Günter Hebbeln, hatte während dieser<br />

Zeit Kontakt zum Ministerpräsidenten, war quasi das<br />

Bindeglied zwischen Fraktion und Uwe Barschel.<br />

6. Oktober 1987<br />

Ich erinnere mich noch wie heute an die Fraktionssitzung<br />

am 6. Oktober 1987. Es war mein Geburtstag.<br />

Uwe Barschel hatte mir noch schriftlich dazu gratuliert.<br />

Anstatt daß wir damals Strategien für unser gemeinsames<br />

Vorgehen besprachen, erklärte der designierte<br />

Untersuchungsausschußvorsitzende Dr. Trutz Graf<br />

Kerssenbrock kategorisch und off ensichtlich mit Zustimmung<br />

des damaligen Fraktionsvorsitzenden Klaus<br />

Kribben, daß die Vorwürfe gegen Uwe Barschel zuträfen<br />

und man ihn aus der Partei ausschließen müsse. Ich<br />

traute meinen Ohren nicht. Gerade hatten wir in der<br />

letzten Sitzung einstimmig beschlossen, Uwe Barschel<br />

nachhaltig zu helfen, mit Mut und Zuversicht aus seinem<br />

Urlaub zurückzukehren. Kaum war er nun weg,<br />

wurde von Kerssenbrock sein Parteiausschluß gefordert.<br />

Kerssenbrock wäre doch als Jurist eigentlich dem<br />

Grundsatz verpfl ichtet: „In dubio pro reo“, im Zweifel für<br />

den Angeklagten. Außerdem war er nach der Systematik<br />

eines Untersuchungsausschusses nicht der „Ankläger“,<br />

sondern doch der „Verteidiger“.<br />

Ich fühlte mich damals zutiefst verletzt. Meine Familie<br />

hat sehr unter dem Dritten Reich gelitten. Der erste<br />

Mann meiner Mutter wurde bereits 1934 von den Nazis<br />

ermordet. Ich war stolz, ein frei gewählter Abgeordneter<br />

in einem demokratischen Parlament sein zu dürfen, und<br />

nun stand für einige führende Leute unserer Fraktion<br />

off ensichtlich das Urteil schon fest, bevor der Untersuchungsausschuß<br />

ein einziges Mal getagt hatte. Das war<br />

ein unglaublicher Vorgang – und für mich unfaßbar in<br />

einer Demokratie.<br />

Ich hielt deswegen in der Fraktion massiv dagegen.<br />

Zu meinem Entsetzen mußte ich feststellen, daß ich<br />

(von den älteren Parlamentariern) off ensichtlich der einzige<br />

war. Selbst gestandene Minister waren erkennbar<br />

bereit, Uwe Barschel voreilig zu verurteilen.<br />

8. Oktober 1987<br />

Am Donnerstag, dem 8. Oktober 1987, tagten wir<br />

wieder in der Fraktion. Die Diskussion ging wieder um<br />

den Parteiausschluß Uwe Barschels. Ich vermute noch<br />

heute, daß die werten Kollegen ihr Fell zu retten hoff -<br />

ten, indem sie die Schuld für alles Vorgefallene auf Uwe<br />

Barschel abzuladen versuchten und ein Parteiausschluß<br />

dies dokumentieren sollte. Was müssen dies für feige<br />

Gemüter gewesen sein. Ich schlug vor, bis Sonntag<br />

abend, bis zu Uwe Barschels Rückkehr, zu warten und<br />

dann zusammen mit ihm zu tagen und ihn mit dem<br />

Wunsch der Mehrheit der Fraktion zu konfrontieren.<br />

Davor hatte man Angst. Nein, man müsse dies sofort<br />

vollziehen. Ich verstand die Welt nicht mehr. Zumindest<br />

gab es an diesem Tag keinen Beschluß, wir vertagten<br />

uns auf den nächsten Tag.<br />

9. Oktober 1987<br />

Es war Freitag, der 9. Oktober 1987. Ein denkwürdiger<br />

Tag. Wieder wurde von Kerssenbrock und Kribben der<br />

Parteiausschluß gefordert, wieder wurde heftig disku-


tiert. Ich forderte diesmal, und dies sehr heftig: Wenn<br />

man dies schon wolle, dann sollte man wenigstens bis<br />

zur Rückkehr Uwe Barschels am Sonntag (11. Oktober)<br />

warten und ihm von Angesicht zu Angesicht die<br />

Chance zu einer Stellungnahme geben, ehe wir unsere<br />

Entscheidung fällen.<br />

Außer mir, so erinnere ich mich, gab es keinen unter<br />

den altgedienten Parlamentariern, der bereit war, für<br />

Uwe Barschel zu sprechen.<br />

Neben mir saß der Kultusminister Peter Bendixen. Im<br />

Gegensatz zu mir war er mit Uwe Barschel persönlich<br />

befreundet. Ich sagte ihm: „Peter, du bist doch Uwes<br />

Freund, sag du doch mal was!“ Er schien mir wie paralysiert.<br />

Sagte dann aber zaghaft tatsächlich etwas<br />

zugunsten Barschels.<br />

Die Fraktion beschloß gegen meinen erbitterten<br />

Widerstand den Parteiausschluß Uwe Barschels. Ich<br />

war schockiert. Als ob ich einen Holzhammer auf den<br />

Kopf bekommen hatte, fuhr ich nach Hause. Kurz hinter<br />

Kiel wäre ich beinahe gegen die Leitplanke gefahren,<br />

als ich im Radio hörte, daß unsere Fraktion einstimmig<br />

den Parteiausschluß Uwe Barschels beschlossen habe.<br />

Ich war verzweifelt.<br />

Am darauff olgenden Sonnabend mußte ich, obwohl<br />

mir nicht danach war, als Bürgermeister am Erntedankfest<br />

unseres Dorfes teilnehmen. Ich erinnere mich noch,<br />

wie eine liebe Bilsenerin, Magda Gülck, mir über die<br />

Wange streichelte und meinte: „Rainer du siehst aber<br />

schlecht aus.“ Am nächsten Nachmittag fuhr ich mit meinen<br />

Jungs auf der Langenhorner Chaussee in Hamburg,<br />

als ich im Rundfunk hörte, Uwe Barschel sei tot. Ich war<br />

irgendwie überhaupt nicht überrascht.<br />

Der besagte Herr Pfeiff er sagte damals in einem Interview:<br />

„Das habe ich nicht gewollt!“ Diese spontane<br />

unüberlegte Äußerung war wohl ehrlich gemeint. Man<br />

muß sich allerdings fragen, was Pfeiff er denn dann<br />

gewollt hatte. Nun, er wollte die Regierung Barschel<br />

stürzen. Sicher erhoff te er sich eine lukrative Beschäftigung<br />

in einer neuen Regierung Engholm, denn sein<br />

Springer-Vertrag lief ja aus. Weil das nun nichts werden<br />

konnte, gab es dann später wenigstens Schweigegeld.<br />

12. Oktober 1987<br />

Zurück nach Kiel. In der Fraktionssitzung am Montag<br />

nach Uwe Barschels Tod herrschte allgemeine Betroff enheit<br />

unter denselben Leuten, die Uwe Barschel gerade<br />

aus der Partei ausschließen wollten.<br />

Übrigens bestätigte mir der Fraktionsvorsitzende<br />

Kribben in dieser Sitzung ausdrücklich, daß ich nicht mit<br />

für den Parteiausschluß gestimmt hatte. Es kennzeichnet<br />

sein ‚Format’ und seinen ‚Charakter’, daß er sich nicht<br />

zu schade war, drei Tage vorher von „Einstimmigkeit“<br />

vor der Presse zu sprechen.<br />

Fraktionssitzungen der CDU<br />

Staatsekretär Günter Hebbeln nahm an den Fraktionssitzungen<br />

teil. Er hat Uwe Barschel sicher über die<br />

Vorgänge in unserer Fraktion in Kiel informiert: Obwohl<br />

die Fraktion Uwe Barschel noch vor zehn Tagen einmütig<br />

ihrer Solidarität und Hilfe versichert hatte, beschloß<br />

sie, kaum war er außer Sicht, seinen Parteiausschluß.<br />

Daß der „verrückte“ Harms dagegengehalten hatte, war<br />

für Uwe Barschel sicher kein Grund, mutig in die Zukunft<br />

zu sehen. Es ist übrigens davon auszugehen, daß Uwe<br />

Barschel mein Votum nie erfahren hatte. Vielmehr<br />

mußte er unterstellen, daß auch sein Ziehvater und<br />

Landesvorsitzender, Dr. Gerhard Stoltenberg, diesen<br />

Beschluß unterstützen würde.<br />

Man stelle sich vor, was in Uwe Barschel damals vorgegangen<br />

sein muß, als er erfuhr, daß seine engsten<br />

‚Freunde‘, die Minister, die doch durch ihn in Amt und<br />

Würden gekommen waren, ihn wie eine heiße Kartoffel<br />

fallengelassen hatten. Sie taten dies, weil sie wohl<br />

hoff ten, dadurch ihre eigene Haut retten zu können.<br />

Uwe Barschel war ganz sicher zutiefst verzweifelt. Und,<br />

wenn meine These stimmt, daß Uwe Barschel ein Mann<br />

der Ehre war, und zwar in einer sehr konservativen<br />

Interpretation, dann blieb ihm nur eine Konsequenz,<br />

zumal ja das Urteil des erst beginnenden Untersuchungsausschusses<br />

für seine „Freunde von der CDU“<br />

bereits feststand.<br />

Ich kannte Uwe Barschel nicht nur als einen äußerst<br />

intelligenten, korrekten Mann, sondern auch als einen<br />

liebenden Vater. Unsere Familien bekamen etwa zur<br />

gleichen Zeit ihre Kinder. Wir haben uns häufi g darüber<br />

unterhalten. Er liebte seine Familie und besonders seine<br />

Kinder über alles. Deswegen fl og Uwe Barschel nach<br />

Genf. Denn dort waren seine Mutter und seine Kinder<br />

bei Barschels Bruder zu Gast. Als sie damals nachmittags<br />

in den Zirkus gingen, hat er sie noch einmal – aus der<br />

Entfernung – gesehen und sich quasi von ihnen verabschiedet.<br />

Dann beendete er sein Leben.<br />

Graf Kerssenbrock<br />

Es scheint zu den menschlichen Eigenschaften zu<br />

gehören,<br />

• eigene Schuld oder sagen wir Verantwortung,<br />

wie bei Kerssenbrock und Kribben, von sich zu<br />

weisen und anderen zuzuschieben;<br />

• in den Tod Uwe Barschels etwas hineinzugeheimnissen,<br />

was nicht richtig ist. Es war weder<br />

ein „Waterkantgate“, noch Waff engeschäfte,<br />

sondern hier starb ein Mann durch eigene<br />

Hand, weil seine Freunde ihn verlassen hatten<br />

- er starb aus Verzweifl ung.<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

45


1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

46<br />

Ich erinnere mich noch deutlich, wie sich Graf<br />

Kerssenbrock später darin gefi el, von den <strong>Journal</strong>isten<br />

hofi ert und zum ‚Retter der Demokratie‘ hochstilisiert<br />

zu werden.<br />

Mir war es schon peinlich, wie der Spiegel-Chefredakteur<br />

Böhme Kerssenbrock in fast jede seiner<br />

damaligen Talkshows bei SAT 1 einlud. Ich denke mir,<br />

auch er wollte dadurch Schuldgefühle rechtfertigen.<br />

Schließlich war die Spiegel-Berichterstattung Auslöser<br />

für diesen Skandal.<br />

Schlimmer noch war das eitle und unkameradschaftliche<br />

Verhalten Kerssenbrocks, der aber immer vom<br />

Fraktionsvorsitzenden Kribben unterstützt wurde. In<br />

der CDU-Fraktion machte sich im Laufe des Untersuchungsausschusses<br />

zunehmend ein Unwohlsein über<br />

Graf Kerssenbrock breit, der selbstherrlich Uwe Barschel<br />

verurteilte und sich in der Öff entlichkeit als „größter<br />

Demokrat aller Zeiten“ aufspielte. Kerssenbrock gab<br />

damals ein Interview im Kölner Express, in dem er in der<br />

Überschrift erklärte: „Es gibt bessere als Stoltenberg!“<br />

Das erregte die Gemüter, denn Gerhard Stoltenberg war<br />

als Landesvorsitzender in der damaligen schwierigen<br />

Zeit die Persönlichkeit, die als einzige unseren Landesverband<br />

der CDU zusammenzuhalten vermochte.<br />

Außerdem war er zwölf Jahre lang erfolgreicher Ministerpräsident<br />

unseres Landes gewesen, mit dem viele<br />

gerne zusammengearbeitet hatten.<br />

In der Fraktion in Sachen Kölner Express zur Rede<br />

gestellt, erklärte Kerssenbrock, daß er falsch zitiert<br />

worden sei. Dies erklärte er auch gegenüber anderen<br />

Zeitungen, wie z. B. der Welt. Durch Zufall erfuhr ich von<br />

einem Brief des Express-<strong>Journal</strong>isten an Kerssenbrock,<br />

in dem er ihn fragte, ob er nicht mehr zu dem von ihm<br />

autorisierten Interview stehe. Mir war auch bekannt,<br />

daß Fraktionsvorsitzender Kribben von diesem Vorgang<br />

wußte, aber in der Fraktion nichts dazu sagte. Ich rief<br />

daraufhin den <strong>Journal</strong>isten des Express an, der mir später<br />

auch schriftlich versicherte, daß Kerssenbrock ihm<br />

gerade noch einmal versichert habe, daß das Interview<br />

Wort für Wort korrekt sei. Er hatte also gegenüber der<br />

Fraktion die Unwahrheit gesagt.<br />

Ich informierte damals den durch das Interview<br />

zutiefst verletzten Gerhard Stoltenberg, der als Bundesverteidigungsminister<br />

in Bonn weilte. In der nächsten<br />

Fraktionssitzung mußte Kerssenbrock, nachdem er<br />

damit konfrontiert worden war, als Obmann im Untersuchungsausschuß<br />

endlich zurücktreten. Ursache<br />

für die Mißstimmung in der Fraktion war auch, daß<br />

Kerssenbrock in diesen Tagen wiederum in Hintergrundgesprächen<br />

mit <strong>Journal</strong>isten Uwe Barschel für<br />

in allen Teilen schuldig erklärte. Was mich noch heute<br />

verwundert, war der Wunsch des Fraktionsvorsitzenden<br />

Kribben, schon nach vierzehn Tagen Kerssenbrock wieder<br />

als Obmann zu installieren.<br />

Der Ausschußvorsitzende des Untersuchungsausschusses,<br />

Dr. Klingner, ein anständiger Jurist, tat mehr<br />

für die Aufklärung und damit für Uwe Barschel als<br />

der eigene Mann Kerssenbrock, der sich darin gefi el,<br />

Barschel vorab zu verurteilen und sich selbst als Retter<br />

der Demokratie (der große, schonungslose Aufklärer)<br />

zu gerieren.<br />

Mich erinnerte das verdächtig an Prozesse im Dritten<br />

Reich, in denen das Urteil schon vor Beginn des<br />

Prozesses feststand. So kennzeichnete ich einmal das<br />

Verhalten Kerssenbrocks gegenüber Professor Dall‘<br />

Asta mit einem Wort: „Freisler!“ Er riet mir, dies nicht<br />

laut zu sagen.<br />

Viele <strong>Journal</strong>isten haben damals diese Zusammenhänge<br />

nicht erkannt, weil ja ein „Waterkantgate“ eine<br />

spannendere Story ist als das Fehlverhalten mancher<br />

CDU–Politiker.<br />

Enttäuschungen<br />

Was für mich bleibt, ist eine tiefe, menschliche Enttäuschung,<br />

die übrigens bis heute anhält. In Kiel gibt<br />

es regelmäßige Treff en der ehemaligen CDU–Abgeordneten,<br />

zu denen auch ich eingeladen werde. Ich bin da<br />

nie hingegangen, denn ich könnte nicht diejenigen<br />

wiedersehen, deren Fehlverhalten zu solchen verheerenden<br />

Konsequenzen im menschlichen Bereich und<br />

für unsere Partei geführt haben.<br />

Ich bin als Autodidakt in die Politik gekommen. Ich<br />

war jung und begeistert und erwartete von ‚denen da<br />

oben‘, daß sie Menschen besonderer Qualität seien.<br />

Sie waren es nicht. Im Gegenteil, die Fraktion war in<br />

den CDU-Regierungsjahren zu einem Club der Jasager<br />

mutiert, die das ‚Politik-Machen‘ der Regierung<br />

überließen. Die einzelnen Abgeordneten gaben sich<br />

zufrieden, wenn sie den einen oder anderen ‚Bonsche<br />

oder Zückerchen’ für ihren Wahlkreis bekamen. In dem<br />

Moment, als es keine Regierung mehr gab, die sie führte,<br />

war es ein Club der Versager, manifestiert durch die Kribbens,<br />

Kerssenbrocks oder auch Aniols und Heisers. Eine<br />

menschlich hervorragende Persönlichkeit zeigt sich in<br />

der Stunde der Not, in der Bewährung in schwierigen<br />

Situationen. Die führenden Mitglieder der CDU-Fraktion<br />

in Kiel haben diese Bewährungsprobe nicht bestanden.<br />

Es war ihr Verhalten, das zum Tode Uwe Barschels geführt<br />

hat. Es hatte aber auch die Konsequenz, daß sich<br />

die CDU in unserem Bundesland 18 Jahre lang aus den<br />

Folgen dieser Fehlleistungen nicht lösen konnte.<br />

Was mich allerdings befriedigt, ist die Tatsache, daß<br />

so ein Mann wie Kerssenbrock, der seinerzeit als Politiker<br />

und Jurist versagt hatte, in der CDU Schleswig-Holsteins<br />

bis heute kein Bein mehr auf die Erde bekommen<br />

hat. Irgendwie haben die CDU-Mitglieder gefühlsmäßig


erkannt, bei wem opportunistischer Eigennutz über<br />

loyaler Menschlichkeit steht.<br />

Mein rosarotes Menschenbild von damals vor der<br />

Wahl 1987 mußte ich leider revidieren. Gut reden können<br />

muß noch lange nicht bedeuten, eine gebildete,<br />

integre Persönlichkeit zu sein, deren Handeln durch<br />

Ethik getragen ist. In Kiel war also wohl doch nur ein<br />

gewisses Mittelmaß versammelt. Etwas, was ich auch<br />

unter <strong>Journal</strong>isten beobachten konnte. Abgesehen von<br />

den unklugen eidesstattlichen Versicherungen, zu denen<br />

sich Uwe Barschel zum Schluß und in tiefer innerer<br />

Aufgewühltheit wohl gedrängt sah, war unser damaliger<br />

Ministerpräsident für mich immer eine ethisch und<br />

charakterlich über die anderen weit herausragende<br />

Persönlichkeit, dem bis heute Unrecht zugefügt wird.<br />

Menschen neigen dazu, das zu glauben, was sie<br />

gerne glauben möchten, und da sind Waterkantgate,<br />

Waff engeschäfte, Mord und Ähnliches der Stoff , aus<br />

denen Fantasien gespeist werden. So glaube ich inzwischen<br />

nicht mehr, daß meine Notizen dazu beitragen<br />

werden, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen.<br />

Vielleicht aber helfen sie dem Gebildeten, dem<br />

distanzierten und reflektierenden Zeitgenossen, in<br />

diesem Fall zumindest gewisse Zweifel an der ‚amtlichen<br />

Meinung‘ zu begründen.<br />

Epilog<br />

Ich denke immer wieder darüber nach, warum die<br />

Ehefrau von Dr. Barschel, Freya Barschel, vom ersten Tag<br />

an versuchte, eine Mord- und Verschwörungstheorie zu<br />

erhärten. Auch 2006 hat sie sich wieder in diesem Sinne<br />

eingelassen. Ich kann hier nur Vermutungen anstellen:<br />

Uwe Barschel glaubte, daß sie und vor allem die<br />

Kinder besser mit den Ereignissen umgehen können,<br />

wenn man an konspirierende Mordtheorien glauben<br />

kann. Deswegen hat Uwe Barschel seine Frau in diesem<br />

Glauben gelassen, als er sich von ihr verabschiedete,<br />

um damals nach Genf zu fl iegen. Was ich zu beschreiben<br />

versuche, war die große Verzweifl ung Barschels,<br />

weil seine sogenannten Freunde ihn verlassen hatten.<br />

Er sah keinen Ausweg mehr. Sollten seine Kinder dies<br />

heute lesen, dann sollten Sie wissen, daß ihr Vater ein<br />

charakterstarker, hochintelligenter Politiker war, dazu<br />

aber auch in besonderer Weise menschlich und empfi<br />

ndsam. Ein Mann, der seine Kinder über alles geliebt<br />

hat und der nach festen ethischen Grundsätzen lebte.<br />

Ich bin stolz, Uwe Barschel gekannt zu haben und<br />

daß ich zusammen mit ihm Politik machen durfte. Ich<br />

denke, die Kinder sollten wissen, daß sie stolz auf ihren<br />

Vater und seine Lebensleistung sein können.<br />

*<br />

1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />

47


2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

48<br />

Übers Niederträchtige<br />

Niemand sich beklage:<br />

Denn es ist das Mächtige,<br />

Was man dir auch sage.<br />

Goethe<br />

West- Östlicher Divan


2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

Deutsche hatten an der Erschließung der Erde nur geringen Anteil. Aber die Entdeckung Nilquellen, die Beantwortung<br />

der seit der Antike berühmtesten geographischen Frage, gelang dem Deutschen Richard Kandt. Aus<br />

seinem Buch Caput Nili, 5. Aufl ., Berlin 1921, stammt der folgende Auszug.<br />

Caput Nili<br />

- die Entdeckung der Nilquelle<br />

Es waren herrliche Hochtäler, durch die wir dem allmählich<br />

auf eine Breite von 4 m und Knöcheltiefe gesunkenen<br />

Rukarara folgten. Wasserreiche Wiesengründe,<br />

aus denen Tausende, von Bienen umschwärmte, fast<br />

zwei Mann hohe Königskerzen aufragten, durchfl ossen<br />

von kristallklaren Bächen, die bald dichtes Gebüsch, bald<br />

nur zarte Mimosen begleiteten, zu beiden Seiten sanft<br />

geneigte Hügel, auf ihren Kamm der dunkle Urwald, der<br />

auch teilweise die Hänge bedeckt. Meist sind sie aber<br />

nur mit hellen Gräsern bekleidet, die sich scharf von<br />

den dunklen Partien des Waldes wie von der Talsohle<br />

abheben, deren Grün auf große Strecken unter einem<br />

Teppich von weißen, gelben und rosa Strohblumen<br />

begraben liegt. Zahlreiche Nebenschluchten führen<br />

dem Haupttal kleine Bäche zu, und je weiter stromaufwärts<br />

wir marschieren, um so rascher nimmt die<br />

Wassermenge des Rukarara ab. Die Abende in diesen<br />

herrlichen Tälern hatten einen besonderen Zauber. Den<br />

ganzen Nachmittag türmten die Träger Scheiterhaufen,<br />

die nach Sonnenuntergang entzündet wurden und<br />

die ganze Nacht hindurch das Tal und den Waldrand<br />

erleuchteten. Ich selbst schlief, weil es im Zelte zu kalt<br />

war, draußen zwischen zwei großen Feuern, in deren<br />

Mitte mein Bett gestellt war. Sobald es dunkel ward,<br />

sah man im Tal hie und da wie Irrlichter den Schein<br />

von Fackeln tanzen; es waren die Träger, die viele der<br />

Hunderte von Bienenhäusern, die in diesen Tälern von<br />

Bienenjägern aufgestellt waren, plünderten. Ich hätte<br />

es Ihnen vielleicht verboten, wenn das Spiel der durch<br />

die nebelerfüllten Täler wandernden Lichter nicht so<br />

schön und von geheimnisvollen Schauern erfüllt gewesen<br />

wäre.<br />

Es war das Ende eines solchen Teiles, das ich Mitte<br />

August 1898 mit meiner Karawane erreichte. Nur noch<br />

als 30 cm breites Rinnsal kam hier der Rukarara aus einer<br />

pfadlosen, mit Wald und üppigster Vegetation erfüllten<br />

Schlucht. In diese drang ich am nächsten Tage mit einem<br />

Eingeborenen und einigen meiner Leute ein. Es war eine<br />

schlimme Arbeit; für je 500 m brauchten wir fast eine<br />

Stunde. Aber mit Äxten und Haumessern brachen wir<br />

uns Bahn und oft im Morast bis zum Leib versinkend, oft<br />

auf allen Vieren in dem eiskalten Bach selber kriechend,<br />

durch Schluchten und Nebenschluchten langsam<br />

ansteigend, erreichten wir nach mühevollen Stunden,<br />

erschöpft, durchnäßt, von oben bis unten besudelt,<br />

einen kleinen feuchten Kessel am Ende einer Klamm,<br />

aus deren Boden die Quelle nicht sprudelnd, sondern<br />

Tropfen für Tropfen dringt: Caput Nili.<br />

War es wirklich die Quelle des Nils, die ich gefunden?<br />

Und hatte wirklich der Satz kein Recht mehr, den noch<br />

in den achtziger Jahren einer der größten Geographen<br />

Europas geschrieben hatte: On cherche encore la tete du<br />

Nil comme aux temps de Lucian; personne n`a eu la gloire,<br />

de voir la fl euve naissant? 146<br />

An e i n e m jedenfalls kann kein Zweifel mehr bestehen:<br />

darob, daß die Quelle des Rukarara die Quelle<br />

des Kagera, des Alexandra-Nils, ist. … Ist überhaupt<br />

der Kagera, wie die Eingeborenen zu Speke sagten, die<br />

„Mutter des Felsenstroms“, d. h. des Murchison-Nils?<br />

146 Noch immer sucht man die Quelle des Nils wie zur Zeit des Lukian;<br />

hatte niemand den Ruhm, den Fluß in seinem Ursprung zu erblicken?<br />

Übersetzung von M. A.<br />

2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

49


2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

50<br />

Ost – West<br />

Viele Aussprüche des Konfuzius können fast wörtlich<br />

in Parallele gesetzt werden zu abendländischen<br />

Weisheiten, zum Beispiel:<br />

Lernen und fortwährend üben, ist das denn nicht<br />

auch befriedigend?<br />

Goethe: Wer immer strebend sich bemüht, den<br />

können wir erlösen<br />

*<br />

Bei der Leitung eines Staates muß man ... die<br />

Menschen lieben<br />

Wie die Dinge kommen, so mußt du dich<br />

ihnen anpassen. Und die Menschen, mit denen<br />

du zusammengeführt wirst, die mußt du<br />

lieben; αλλ αληθινϖσ - aber auch wirklich!<br />

Marcus Aurelius<br />

*<br />

Irrlehren anzugreifen, schadet nur.<br />

Max Planck: Falsche Ansichten gehen nicht durch Widerlegung<br />

unter, sie sterben aus.<br />

*<br />

Was man weiß, als Wissen gelten lassen, was man nicht<br />

weiß, als Nichtwissen gelten lassen: das ist Wissen.<br />

Platon: oida ouk eidos – ich weiß, dass ich nichts weiß<br />

*<br />

Ein Mensch ohne Menschenliebe, was hilft dem die<br />

Form? Ein Mensch ohne Menschenliebe, was hilft dem<br />

die Musik?<br />

Paulus 1. Korinther 13: Wenn ich mit Menschen und mit<br />

Engelszungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre<br />

mir`s nichts nütze …<br />

*


Und ist der Victoriasee nur ein ruhender Punkt im Stromsystem des Nils, wie der Bodensee für den Rhein, oder<br />

selbst seine Quelle?<br />

Jeder Bürger des Staates ist ein geborener Verteidiger desselben (Scharnhorst). Dieses große Wort und die damit<br />

verbundenen Werte gehen dahin – und das schlimmste ist, daß unserer Volk und seine gewählten Vertreter<br />

darüber nicht einmal diskutieren.<br />

Die Wehrpfl icht ist praktisch abgeschaff t. Das wird demnächst auch in <strong>Deutschland</strong> zu Entwicklungen führen,<br />

wo private Kriegsdienstleister, zumeist anglo-amerikanische Investoren, Söldnertruppen weltweit vermieten. Es<br />

droht eine Ramboisierung des Militärs. Schwer vermittelbare junge Männer strömen schon jetzt in die Berufsarmeen,<br />

etwa in Spanien und England, die sich ohne ethische Bindung an Volk und Vaterland oder politische Werte<br />

wie Freiheit und Rechtsstaat von dem zum Krieg gebrauchen lassen, der am meisten zahlt.<br />

Bedingt abwehrbereit<br />

von<br />

General a. D. Reinhard Uhle-Wettler<br />

Timmendorfer Strand<br />

1. Bundeswehrstrukturreform<br />

Nach dem Willen des Bundesverteidigungsministers<br />

wird die Bundeswehr einer Strukturreform unterzogen,<br />

die alles Bisherige übertriff t. O-Ton von Karl-Theodor<br />

von und zu Guttenberg: „Die Grunddebatte ist doch<br />

die, haben wir eine Bundeswehr, die den sicherheits-<br />

und verteidigungspolitischen Herausforderungen der<br />

Gegenwart und der Zukunft überhaupt noch gerecht<br />

werden kann? Und das kann man leider nur mit einem<br />

Nein beantworten.“ (NDR Info, Streitkräfte und<br />

Strategien) Auslöser des forschen, weil etwas voreilig<br />

erscheinenden Neuansatzes sind die Sparaufl agen der<br />

Bundesregierung in Milliardenhöhe auf Grund der weltweiten<br />

Finanz- und Wirtschaftskrise sowie der Krise des<br />

EURO. Hinzu kommt die in vielen Jahren aufgewachsene<br />

Verschuldung der öff entlichen Hand, die mittlerweile<br />

das Ausmaß von 2 Billionen anzunehmen droht. Es muß<br />

also auf allen Ebenen gespart werden. Seit April <strong>2010</strong><br />

arbeitet eine 6köpfi ge Kommission unter der Leitung<br />

von Frank-Jürgen Weise, dem Leiter der Bundesagentur<br />

für Arbeit, an der neuen Konzeption. Unter den Mitgliedern<br />

ist immerhin wenigstens ein aktiver General. Bis<br />

Ende des Jahres sollen die organisatorischen Eckpunkte<br />

politisch entschieden sein. Wie bereits zur Jahresmitte<br />

aus dem Munde des Ministers zu erfahren war, geben<br />

die Einsatzbedingungen der „Armee im Einsatz“ die<br />

Richtung vor. Dabei sollen die Führungsfähigkeit, Effi<br />

zienz, Flexibilität und Wirtschaftlichkeit maßgeblich<br />

verbessert werden.<br />

Dies war im Grunde schon das Anliegen der Strukturkommission<br />

„Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der<br />

Bundeswehr“ unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundespräsidenten<br />

Richard v. Weizsäcker. Dessen Vorwort<br />

zu dem Bericht an die Bundesregierung vom 23. Mai<br />

2000 fordert u. a.: „In einer von Partnern umgebenen<br />

Lage bedarf unser Land einer bündniskonformen Bundeswehr,<br />

die mit einem umstrukturierten, nachhaltig<br />

verkleinerten Personalbestand grundlegend modernisiert<br />

werden muß.“ Die danach etwa seit dem Jahr 2002<br />

eingeleitete „Transformation“ der Bundeswehr in eine<br />

Einsatzarmee ist aus politischen und haushaltsmäßigen<br />

Gründen nicht vollendet worden.<br />

Auf Grund der nun bekanntgewordenen Daten ist<br />

mit der Aussetzung der allgemeinen Wehrpfl icht und<br />

einer wesentlichen Verringerung des Umfanges der<br />

Bundeswehr auf unter 200 000 Mann zu rechnen.<br />

Damit dürften „Die verteidigungspolitischen Richtlinien“<br />

vom 21. 5. 2003 sowie „Die Konzeption der<br />

Bundeswehr“ vom 9. 8. 2004 und die zu ihrer Verwirklichung<br />

eingeleiteten Maßnahmen der Transformation in<br />

wichtigen Teilen schon wieder überholt sein oder sich<br />

als nicht ausreichend erweisen.<br />

Es bleibt aber off enbar dabei, daß die Bundeswehr<br />

„Instrument einer umfassend angelegten, vorausschauenden<br />

Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ ist.<br />

Sie hat den Auftrag:<br />

- die außenpolitische Handlungsfähigkeit<br />

<strong>Deutschland</strong>s zu sichern,<br />

- einen Beitrag zur Stabilität im europäischen und<br />

globalen Rahmen zu leisten,<br />

- die nationale Sicherheit und Verteidigung zu<br />

gewährleisten und zur Verteidigung der Verbündeten<br />

beizutragen,<br />

2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

51


2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

52<br />

- die multinationale Zusammenarbeit und Integration<br />

zu fördern.<br />

Der Auftrag der Bundeswehr ist eingebettet in die<br />

gesamtstaatliche Vorsorgepflicht für die Sicherheit<br />

der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und unseres<br />

Wertesystems sowie für die Wahrung unserer<br />

Interessen im europäischen und transatlantischen<br />

Zusammenhang.<br />

Aus dem Auftrag leiten sich die Aufgaben der Bundeswehr<br />

ab:<br />

- internationale Konfl iktverhütung und Krisenbewältigung<br />

einschließlich des Kampfes gegen den<br />

internationalen Terrorismus,<br />

- Unterstützung von Bündnispartnern,<br />

- Schutz <strong>Deutschland</strong>s und seiner Bürgerinnen<br />

und Bürger,<br />

- Rettung und Evakuierung,<br />

- Partnerschaft und Kooperation,<br />

- Hilfeleistungen der Bundeswehr im In- und Ausland<br />

(Amtshilfe, Naturkatastrophen, besonders<br />

schwere Unglücksfälle).<br />

Auftrag und Mittel in Übereinstimmung zu bringen,<br />

dürfte eine besonders schwere Aufgabe der politischen<br />

Leitung der Bundeswehr sein. Dies muß die Strukturkommission<br />

entsprechend berücksichtigen. Die Bundeswehrführung<br />

muß – notfalls durch Rücktritt – ein<br />

Zeichen setzen, sollte die Beschlußfassung über die<br />

Reform wiederum ein deutliches Auseinanderklaff en<br />

von Auftrag und Mitteln in Kauf nehmen.<br />

2. Versagen der Politik<br />

Der I. und II. Weltkrieg haben den deutschen Soldaten<br />

vor unlösbare Aufgaben gestellt. Beide Male hat<br />

es die Politik versäumt, ihm die erforderlichen Mittel<br />

zur Erfüllung seines Auftrages in die Hand zu geben.<br />

Der überstürzte und schlecht vorbereitete Aufbau<br />

der Bundeswehr setzte diese „Tradition“ fort. Eine Reform<br />

nach der anderen verhinderte die erforderliche<br />

Kontinuität für das Wachsen prägender Traditionen,<br />

starker Bindungen, sicherer Verhaltensweisen und<br />

gefestigten, eingeübten fachlichen Könnens, die eine<br />

Armee nun einmal braucht, allem voran jedoch das<br />

Vertrauen in eine kompetente politische Führung.<br />

Der Kommissionsbericht „Führungsfähigkeit und Entscheidungsverantwortung<br />

in den Streitkräften“, kurz<br />

„de Maizière-Bericht“ vom September 1981 mit einem<br />

Vorwort des damaligen Verteidigungsministers Hans<br />

Apel und einer Stellungnahme des Generals de Maizière<br />

stellt „das unausgewogene Verhältnis von Aufgaben<br />

und Mitteln als ein Zentralproblem der Streitkräfte“<br />

heraus. Verschärft werde dieses Problem, so der General,<br />

durch die aktuelle Finanzlage. Daran hat sich bis heute<br />

nichts geändert. „Die Bundeswehr ist mit veraltetem<br />

Material ausgestattet, hat Strukturen, die teilweise noch<br />

den Geist des Kalten Krieges atmen, ist dramatisch unterfi<br />

nanziert, über viele viele Jahre hinweg.“ O-Ton von<br />

zu Guttenberg (NDR Info, Streitkräfte und Strategien).<br />

Ähnliche Äußerungen waren wiederholt Sendungen<br />

des deutschen Fernsehens zu entnehmen, ohne daß<br />

sie besondere Reaktionen auslösten. Schwerwiegend ist<br />

außerdem das vom Wehrbeauftragten festgestellte und<br />

durch den Bundespräsidenten bestätigte „freundliche<br />

Desinteresse“ der „Gesellschaft“ an den Belangen der<br />

Bundeswehr. Dazu kommt der Mangel an Fachwissen<br />

und -können gemäß der Feststellung Helmut Schmidts<br />

aus den 60er Jahren über den „lähmenden ›strategischen<br />

Dilettantismus‹ der politischen Klasse, nachzulesen<br />

in „Einsatz ohne Ziel?“, Die Politikbedürftigkeit des<br />

Militärischen, von Dr. phil. Klaus Naumann (Hamburger<br />

Edition 2008, Seite 72). Als vor einigen Jahren einer der<br />

ranghöchsten Generale der Bundeswehr über seine<br />

Erfahrungen als NATO-Befehlshaber im ehemaligen<br />

Jugoslawien vor der Clausewitz-Gesellschaft vortrug,<br />

wurde er in der anschließenden Diskussion gefragt,<br />

ob er dies auch maßgeblichen Politikern gesagt habe.<br />

Unter dem „wissenden“ Gelächter der in den ersten<br />

Reihen sitzenden ranghöchsten Pensionäre lautete die<br />

Antwort: „Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, daß ich<br />

von einem einzigen Politiker nach meinen Erfahrungen<br />

befragt worden bin!“ Eine mögliche Erklärung hierzu<br />

kann General a. D. Klaus Naumann beitragen. Er schreibt<br />

auf Seite 245 seines Buches ›Frieden – der noch nicht<br />

erfüllte Auftrag‹: „Ich konnte von 1986 bis 1999 den<br />

Stellenwert des unverändert wichtigsten Instruments<br />

deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, der Bundeswehr,<br />

für die Parteien des deutschen Bundestages aus<br />

der Nähe beobachten. Ich kann daher sagen, daß er von<br />

den Regierenden aller Schattierungen, von relativ wenigen<br />

Ausnahmen und von vielen Lippenbekenntnissen<br />

abgesehen, als gering angesehen wurde.“<br />

Die Klagen der in Afghanistan eingesetzten Truppen<br />

über Ausrüstungsmängel und dem Einsatz unangepaßte,<br />

friedensmäßige bürokratische Bestimmungen und<br />

Dienstvorschriften sind mittlerweile unüberhörbar.<br />

Demgegenüber äußern zuständige Behörden und<br />

Dienststellen „Die Zulassungsnormen (für dringend<br />

benötigte Fahrzeuge und Gerät, Verf.) sind verbindlich.<br />

Eine bundeswehrspezifi sche Norm unterhalb dieser<br />

Vorschriften wird es nicht geben.“ (Preuß. Allg. Zeitung<br />

›PAZ‹ vom 7. 8. <strong>2010</strong>). So macht ein polemischer<br />

Soldatenspruch die Runde: „Mülltrennung geht vor<br />

Sicherheit!“ Der Verteidigungsminister klagt selbst<br />

über zu lange Wege in seinem Ministerium. Aus einer<br />

Armee für den Frieden darf aber keine Friedensarmee<br />

werden, die nicht für den Einsatz taugt. Von der Politik<br />

ist daher eine konsequente und verzugslose Auswertung<br />

und Umsetzung der Lehren und Erfahrungen aus<br />

Afghanistan und den anderen Auslandseinsätzen zu<br />

fordern. Das verlangt schon die Treuepfl icht gegenüber<br />

den Soldaten, die in der „Armee im Einsatz“ ihr Leben


einsetzen. „Staat und Soldaten sind durch gegenseitige<br />

Treue miteinander verbunden.“ (§ 1 SG)<br />

3. Allgemeine Wehrpfl icht<br />

Die bisherigen offi ziellen und inoffi ziellen Verlautbarungen<br />

zur geplanten Strukturreform sehen neben<br />

einer wesentlichen Kürzung der Umfangszahlen bei den<br />

Zeit- und Berufssoldaten, wenn nicht die Abschaff ung,<br />

so doch wenigstens die Aussetzung der Allgemeinen<br />

Wehrpfl icht vor. Dies zeigt den Ernst der Lage. Gehörte<br />

doch die allgemeine Wehrpfl icht über alle Stürme der<br />

Sicherheitspolitik hinweg zum demokratischen Selbstverständnis<br />

der Armee und der BRD als wehrhafter Demokratie.<br />

Allerdings ist es der Politik niemals gelungen,<br />

das Problem der Wehrgerechtigkeit hinlänglich zu lösen<br />

und den überaus großen Umfang der Kriegsdienstverweigerung<br />

und Drückebergerei ausreichend in den<br />

Griff zu bekommen. Während es die Massenmedien<br />

versäumt haben, das Problembewußtsein und eine ausreichende<br />

Sensibilität für die Erfordernisse deutscher<br />

Sicherheitspolitik im Volk zu wecken, fehlte es bei der<br />

politischen Klasse ganz off ensichtlich am Willen, die<br />

entsprechende Überzeugungsarbeit zu leisten. Dazu<br />

gehört natürlich unter anderem das eigene Vorbild<br />

durch Ableistung von Wehr- oder Ersatzdienst (Art.<br />

12a GG). Daran fehlt es weitgehend heute noch bis in<br />

die höchsten politischen Ränge. Den Streitkräften ist<br />

es dennoch bisher gelungen, aus den Wehrpfl ichtigen<br />

einen großen Teil der benötigten Berufs- und Zeitsoldaten<br />

zu gewinnen. Dies war ein wesentlicher Grund<br />

ihres Kampfes für den Erhalt der Wehrpfl icht. Die derzeit<br />

geltende Verkürzung auf 6 Monate ist unverantwortlich<br />

und muß von Fachleuten nicht diskutiert werden. Sie<br />

kann nur – polemisch ausgedrückt – zur Ausbildung<br />

von „Kanonenfutter“ führen.<br />

Am Rande sei erwähnt, daß nun natürlich auch der<br />

Ersatzdienst betroffen ist. Der bewährte Zivildienst<br />

in Krankenhäusern und Pflegeheimen wird sich in<br />

der bisherigen Form nicht halten lassen. Ob der bestehende<br />

Freiwillige Soziale Dienst die Lücke füllen<br />

können wird, ist sehr fraglich. Natürlich stellt sich mit<br />

gesundem Menschenverstand auch die Frage nach<br />

der Einrichtung einer allgemeinen Dienstpfl icht. Deren<br />

Einrichtung könnte viele Probleme, wie zum Beispiel die<br />

Gleichbehandlung von Männern und Frauen und die<br />

Wehrgerechtigkeit, lösen, wird aber zur Zeit kaum ernsthaft<br />

öff entlich diskutiert. Altbundespräsident Richard<br />

v. Weizsäcker ist vor einigen Jahren in einer Talk-Show<br />

des deutschen Fernsehens von einer Zuschauerin, die<br />

eine leitende Funktion bei der Caritas ausübte, unter<br />

sehr großem Beifall die Einführung der allgemeinen<br />

Dienstpfl icht u. a. zur Lösung des Mangels an Pfl egepersonal<br />

vorgeschlagen worden. Die Antwort lautete:<br />

„Liebe Frau X! Wenn Sie draußen für Ihren Vorschlag<br />

ebensolchen Beifall wie hier drinnen bekommen, bin<br />

ich Ihr Mann!“ Damit war das so wichtige Thema leider<br />

vorschnell und abrupt abgetan.<br />

Von besonderer Bedeutung ist im übrigen die mit<br />

dem Erlaß der Bundeswehrkonzeption von 2004 bestätigte<br />

Umstrukturierung der Bundeswehr unter der<br />

Bezeichnung: „Transformation“. Diese verlegte ohne<br />

viel Aufhebens den Schwerpunkt auf die Erfordernisse<br />

von Auslandseinsätzen anstelle des noch von den Erfordernissen<br />

der Ost-West-Konfrontation (kalter Krieg)<br />

geprägten Verteidigungsauftrages im Rahmen des<br />

NATO-Vertrages. So wurden nahezu die gesamten, in<br />

Jahrzehnten eingespielten territorialen Verteidigungskräfte,<br />

sowie einige voll funktionsfähige und bewährte<br />

Bundeswehrkrankenhäuser und zahlreiche Verbände<br />

und Stäbe der Sanitätstruppe, der ABC-Abwehr und<br />

dazugehörender Reserveformationen aufgelöst. Offensichtlich<br />

hat die Heimatverteidigung keinen hohen<br />

Stellenwert. Das ist ein schwerer Fehler und kann<br />

<strong>Deutschland</strong> im Zeitalter der „Neuen Kriege“ (Herfried<br />

Münkler) und der Massenvernichtungswaff en noch<br />

teuer zu stehen kommen!<br />

Schließlich müssen die Folgen der demographischen<br />

Entwicklung bedacht werden. Den in Gang befi ndlichen<br />

Kampf um qualifi ziertes Personal kann die Bundeswehr<br />

ohne Wehrpfl icht und bei mangelhafter fi nanzieller<br />

Ausstattung gegenüber der Industrie, gut zahlenden<br />

privaten Sicherheitsdiensten und Nichtregierungsorganisationen<br />

nur verlieren. Eine Freiwilligenarmee kann<br />

das erforderliche Personal nur bekommen, wenn man es<br />

besonders gut bezahlt und den Soldatenberuf auch in<br />

anderer Hinsicht attraktiv gestaltet. Das kostet vor allem<br />

viel Geld, das off ensichtlich nicht zur Verfügung steht.<br />

Daher sollte als Alternative die Einführung einer<br />

allgemeinen Dienstpflicht untersucht werden. Sie<br />

gehört zu den natürlichen Pfl ichten der weiblichen<br />

und männlichen Staatsbürger etwa zwischen dem 18.<br />

und 35. Lebensjahr. Sie ist den umfassenden staatsbürgerlichen<br />

Rechten und Freiheiten geschuldet, die<br />

der demokratische Rechtsstaat gewährt. Allgemeine<br />

Dienstpfl icht könnte geleistet werden: als Dienst in den<br />

Sicherheitsorganen, Wehrdienst, Sozialdienst, karitativer<br />

Dienst, besonders in der Kranken- und Altenpfl ege,<br />

in der Behindertenbetreuung, bei Feuerwehr, Katastrophenschutz<br />

und Technischem Hilfswerk. Mit Einschränkungen<br />

könnte der Dienst im Umwelt- und Naturschutz<br />

sowie in der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft anerkannt<br />

werden. Man stelle sich einmal vor, in welchem<br />

Umfang die gerade so heftig diskutierte Integration<br />

unserer Jugend und ihre Heranführung an die Aufgaben<br />

des „Staatsbürgers in Zivil“ gefördert werden könnte!<br />

Immerhin haben zum Thema „Allgemeine Dienstpfl icht“<br />

kürzlich der Saarländische Ministerpräsident Peter Müller<br />

und der ehemalige Ministerpräsident von Hessen,<br />

Roland Koch, wichtige Denkanstöße gegeben.<br />

4. Kriegsbild<br />

Wer für die künftige Sicherheitspolitik plant, muß sich<br />

ein möglichst wirklichkeitsnahes Bild von möglichen<br />

2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

53


2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

54<br />

Gefahren und Erscheinungsformen der Bedrohungen<br />

machen. Dabei sind die jüngsten Erfahrungen und<br />

mögliche Weiterentwicklungen zu berücksichtigen.<br />

Ideologische Festlegungen und idealistisches Wunschdenken<br />

über den ewigen Frieden führen in die Irre<br />

und zu nicht korrigierbaren Fehlern. Viele Menschen<br />

gehen noch von überholten Bildern konventioneller<br />

Kriege der jüngeren Geschichte aus, wie sie uns im<br />

Fernsehen vorgeführt werden. Die neuen Kriege der<br />

jüngsten Vergangenheit haben aber gezeigt, daß sich<br />

Krieg und Frieden nicht mehr wie früher sauber trennen<br />

lassen, und daß von einem erweiterten Begriff<br />

der Sicherheitspolitik ausgegangen werden muß. Im<br />

Zeichen der Globalisierung, kollektiver Sicherheitssysteme<br />

und einer weltweiten Migrationsbewegung<br />

gehen außen- und innenpolitische Gefahren und deren<br />

Abwehr oft ineinander über. Sicherheitspolitik geht also<br />

weit über das rein Militärische und die unmittelbaren<br />

Verteidigungsanstrengungen hinaus. Abwehr von Umweltgefahren,<br />

Beseitigung von Instabilitäten anderer<br />

Länder, Zugriff auf lebenswichtige Ressourcen und<br />

schwere Menschenrechtsverletzungen wie Völkermord,<br />

Vertreibungen und anderes mehr können Gegenstand<br />

von sicherheitspolitischen Maßnahmen sein.<br />

Nachfolgende Umstände und Ereignisse zwingen<br />

neben anderen, hier nicht aufgeführten, zu dieser<br />

Beurteilung:<br />

- die Entwicklung von Massenvernichtungswaff en<br />

(ABC), Raketentechnologie, intelligente Waff en,<br />

Kampfdrohnen und weitere moderne Waff ensysteme;<br />

- die Flugzeugattacken im September 2001 gegen<br />

die USA durch arabische Terroristen;<br />

- die irakischen Raketen auf Israel im 2. Golfkrieg;<br />

- die Vernichtung der irakischen Atomanlagen<br />

durch die Israelische Luftwaffe im Jahr 1981<br />

mitten im Frieden;<br />

- der Balkankrieg der NATO, ohne daß eines ihrer<br />

Mitglieder angegriff en worden ist;<br />

- der Krieg der NATO gegen die Taliban in Afghanistan;<br />

- schließlich die Tatsache, daß Kriege heutzutage<br />

in der Regel ohne förmliche Kriegserklärung<br />

begonnen und – wie im Falle des IRAK - ohne<br />

Friedensvertrag beendet werden;<br />

- Selbstmordattentäter;<br />

- die moderne Piraterie vor den Küsten Somalias,<br />

in der Straße von Magellan und andernorts;<br />

- die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen<br />

von Migrantengruppen, Jugendbanden und<br />

politischen Minderheiten in den Großstädten der<br />

westlichen, aber auch der östlichen Hemisphäre;<br />

- die gewalttätigen Machenschaften der organisierten<br />

Kriminalität und ihre mafi osen Strukturen,<br />

deren bedrohliche Ausmaße und Aktivitäten<br />

durch den <strong>Journal</strong>isten Jürgen Roth in zahlreichen<br />

Büchern, u. a. in „Mafi aland <strong>Deutschland</strong>“<br />

und „Ermitteln Verboten! Warum die Polizei den<br />

Kampf gegen die Kriminalität aufgegeben hat“<br />

beschrieben worden ist.<br />

Jürgen Roth ist der Meinung, daß der Kampf gegen<br />

die organisierte Kriminalität bereits verloren ist, weil<br />

der politische Wille zu einer durchschlagenden Bekämpfung<br />

fehle.<br />

Ähnliches war kürzlich in einem Interview der Zeitschrift<br />

dsmagazin Nr. 05/06 <strong>2010</strong> zu lesen. Hier äußert<br />

sich MdB Wolfgang Bosbach, Mitglied im Verein für off ene<br />

Aussprache, gegenüber dem Chefredakteur Joachim<br />

Schäfer über Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft<br />

von Migranten u. a. wie folgt: „ … aber ich weiß<br />

aus langjähriger berufl icher und politischer Erfahrung,<br />

daß es in <strong>Deutschland</strong> ausgesprochen schwierig ist,<br />

ausländische Straftäter selbst dann auszuweisen und<br />

abzuschieben, wenn sie schwere Straftaten begangen<br />

haben. Aber ich sehe im Deutschen Bundestag weit<br />

und breit keine Mehrheit für eine erleichterte Ausweisung<br />

von ausländischen Straftätern.“ Daraus läßt sich<br />

ableiten, daß es bei den hier anstehenden Fragen zur Sicherheitspolitik<br />

eben entscheidend auf den politischen<br />

Willen und nicht so sehr auf noch so richtige Argumente<br />

und nachprüfbare Tatsachen ankommt.<br />

Wenigstens in der mittelständischen Wirtschaft<br />

fanden wir eine deutliche Stimme, die Forderungen<br />

für die innere Sicherheit im Zusammenhang mit einem<br />

erwarteten „Crash“ des internationalen Finanzsystems<br />

aufstellte. Wer macht sich schon Gedanken darüber, daß<br />

die Polizei über keine Reservistenorganisation verfügt<br />

und schon heute in halbwegs „normalen“ Zeiten personell<br />

überfordert ist, wie ein hochrangiger Vertreter<br />

der Polizei in einer Arbeitsgruppe für das Buch von<br />

Eberhard und Eike Hamer „Was passiert, wenn der Crash<br />

kommt?“ feststellte. Die kräftemäßige Überforderung<br />

der Polizei im Falle bürgerkriegsähnlicher Verhältnisse<br />

in Notlagen ist bereits vorgegeben. Demgegenüber<br />

muten die vorgesehenen Stellenkürzungen bei den<br />

Polizeien der Länder geradezu abenteuerlich an. Man<br />

muß dabei zusätzlich bedenken, daß der Einsatz der<br />

Bundeswehr zu Aufgaben der inneren Sicherheit geradezu<br />

als Sakrileg gilt, für den sich niemand wirklich<br />

ernsthaft einzusetzen wagt. Also bestimmen in Fragen<br />

der Sicherheit eher ideologische Vorbehalte als nüchterne<br />

Analyse und Zusammenfassung der ohnehin<br />

(zu) schwachen Kräfte das Geschehen. Wie wenig ausgeprägt<br />

die Sensibilität für Sicherheitsfragen ist, kann<br />

man den öff entlichen Diskussionen entnehmen, die sich<br />

nahezu ausschließlich um Löhne und Gehälter, Renten<br />

und Steuergerechtigkeit drehen. Sicherheitspolitik steht<br />

nicht auf der Tagesordnung der Massenmedien und<br />

fi ndet daher auch nicht Eingang in das Bewußtsein der<br />

Bevölkerung. Dieser Mangel wird noch durch ehemals<br />

hochrangige und weithin bekannte Politiker, die sich<br />

öff entlich äußern, bestärkt. So thematisieren Friedrich<br />

Merz und Wolfgang Clement in ihrem herausragenden<br />

gemeinsam verfaßten Buch: „WAS JETZT ZU TUN IST“<br />

unter der Herausgeberschaft der renommierten Wirtschaftsjournalistin<br />

Dr. Ursula Weidenfeld die so wichtige


und zugleich kostenträchtige Sicherheitspolitik nicht<br />

einmal am Rande.<br />

5. Sicherheit im Bündnis<br />

Allen maßgeblichen sicherheitspolitischen Konzeptionen,<br />

Planungen und Maßnahmen des laufenden Jahrzehnts<br />

liegen bei Unterschieden und Versäumnissen im<br />

Einzelfall die nachfolgenden gemeinsamen Eckpunkte<br />

zu Grunde:<br />

- das atlantische Bündnis bzw. die transatlantische<br />

Partnerschaft;<br />

- die Konzeption der gemeinsamen Sicherheit<br />

und ihrer Stärkung in Europa; die Einsatzfähigkeit<br />

der deutschen Streitkräfte muß derjenigen<br />

der wichtigsten europäischen Bündnispartner<br />

entsprechen;<br />

- vorrangige Ausrichtung der Bundeswehr auf<br />

Auslandseinsätze zur Krisenvorsorge, Krisenbewältigung<br />

und „Nation building“;<br />

- Kampf gegen Terrorismus und asymmetrisch<br />

organisierte Gegner.<br />

Dazu sind Aufgaben- und Lastenteilung sowie Rüstungskooperation<br />

einschließlich Standardisierung zur<br />

Eff ektivität des Bündnisses und zur Kosteneinsparung<br />

unabdingbar. Außerdem muß deutsche Sicherheitspolitik<br />

bedenken, daß der Verzicht auf Besitz von A-Waff en<br />

im Rahmen des Atomwaff ensperrvertrages den atomaren<br />

Schutzschild seiner Verbündeten erfordert. Mangelhafte<br />

eigene Verteidigungsanstrengungen führen<br />

unabwendbar zum Verlust des Einfl usses im Bündnis<br />

und zum Vasallenstatus gegenüber der herrschenden<br />

Weltmacht USA. Sicher ist den meisten Bürgern der<br />

BRD gar nicht klar, daß die erforderlichen Verteidigungsanstrengungen<br />

bereits unter dem vereinbarten<br />

Maß liegen. „Der Verteidigungshaushalt beträgt in<br />

<strong>Deutschland</strong> 1,3% des Bruttosozialprodukts. Damit liegt<br />

<strong>Deutschland</strong> im Vergleich der NATO-Mitgliedstaaten auf<br />

einem hinteren Tabellenplatz und deutlich unter dem<br />

Wunschziel der NATO von 2 Prozent.“ (Dieter Farwick,<br />

PAZ v. 14. 8. <strong>2010</strong>)<br />

6. Stellung des Soldaten<br />

Die Probleme der Bundeswehr lassen sich fast regelmäßig<br />

an der Schnittstelle von Politik und Militär<br />

festmachen. Oft stammen sie noch aus der Aufbauzeit<br />

der Bundeswehr und den Auseinandersetzungen um<br />

die Wiederbewaff nung. Vieles beruht auf einem grundsätzlichen<br />

Mißverständnis. Die Kontrolle der Macht,<br />

auch der militärischen, ist eine Selbstverständlichkeit.<br />

Civil control kommt aus dem Angelsächsischen und<br />

bedeutet dort nicht etwa „zivile Kontrolle“, sondern<br />

Kontrolle durch das Parlament und die von diesem<br />

bestimmten demokratischen Gremien. Dennoch wird<br />

die falsche Deutung nur allzu gerne benutzt, um die<br />

erforderliche militärische Amtsgewalt einzuschränken.<br />

Dahinter steht ein unberechtigtes Mißtrauen, nachdem<br />

die Bundeswehr von Anfang an und nun über mehr<br />

als ein halbes Jahrhundert durch treuen Dienst ihre<br />

demokratische Zuverlässigkeit bewiesen hat. Ein Beispiel:<br />

Die Aufstiegschancen der hohen Generalität der<br />

Bundeswehr in politische Ämter sind nahezu bei Null.<br />

In 50 Jahren haben es 2(!) Generale zum Staatssekretär<br />

und einer von diesen zum Innenminister eines Bundeslandes<br />

gebracht. Ein Vergleich mit den USA oder gar mit<br />

Israel macht deutlich, was in diesen Demokratien möglich<br />

und vielleicht sogar üblich ist, nämlich der Aufstieg<br />

bewährter Generale in die höchsten politischen Ämter<br />

bis hin zum Staatspräsidenten. Ein anderes Beispiel:<br />

General Carl v. Clausewitz war der Ansicht, „der Feldherr“<br />

müsse Sitz und Stimme im Kabinett haben, um gehört<br />

zu werden (8. Buch Vom Kriege). In der BRD sind die 4<br />

Staatssekretäre dem Generalinspekteur vorgesetzt. Alle<br />

zaghaften Versuche, ihm diesen Rang zu verleihen, sind<br />

bisher abgeschmettert worden. Die Inspekteure der Teilstreitkräfte<br />

gar sind Abteilungsleitern der Ministerien,<br />

also Ministerialdirektoren gleichgestellt. Da ist von Amt<br />

und Würden wie dem unmittelbaren Vortragsrecht (Immediatrecht)<br />

des ehemaligen „Feldherrn“ nichts mehr<br />

übriggeblieben. Diese Beispiele lassen sich fortsetzen<br />

und auf die protokollarische Rangfolge ausdehnen, in<br />

der vor Jahren der Generalinspekteur hinter Landessuperintendenten<br />

und Landesrabbinern stand (BMVg, Fü S<br />

I 3 vom 16. Februar 1984). Die unterbewertete Stellung<br />

der militärischen Führungsspitze war 1970 durch den<br />

sogenannten „Blankeneser Erlaß“ Helmut Schmidts<br />

festgeschrieben worden. Daran hat auch die Ersetzung<br />

durch den „Berliner Erlaß“, „Weisung zur militärischen<br />

Spitzengliederung“ vom 21. Januar 2005 von Verteidigungsminister<br />

Peter Struck nichts grundsätzlich geändert.<br />

Die Stimme des Soldaten wird, wie eine 50jährige<br />

Erfahrung lehrt, nicht ausreichend gehört. Das führt zu<br />

unsachgerechten und oft auch fehlerhaften sicherheitspolitischen<br />

Beurteilungen und Entscheidungen sowie<br />

gefährlichen Verzögerungen und Führungsmängeln.<br />

Dies ist natürlich längst erkannt, wird aber nicht grundsätzlich<br />

geändert, weil Vorurteile, politische Bedenken<br />

und nicht zuletzt eine Beamtenschaft, die mit großer<br />

und langjähriger ministerieller Erfahrung ihre Positionen<br />

gegen jeden Soldaten mit aller Macht verteidigt,<br />

dagegenstehen. Es ist zu befürchten, daß an diesen<br />

Gegebenheiten auch künftig jeder auch noch so gute<br />

Verteidigungsminister scheitert. Es genügt jedenfalls<br />

nicht, die Bundeswehr wieder einmal zu reformieren,<br />

wenn nicht gleichzeitig der politische und ministerielle<br />

Einfl uß der militärischen Führungsspitze erweitert und<br />

verbessert wird.<br />

7. Wehrrecht und andere Hausaufgaben<br />

Eine „Armee im Einsatz“ braucht wie andere demokratisch<br />

verfaßte Staaten auch ein Wehrrecht für den<br />

2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

55


2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

56<br />

Einsatz. Das bedeutet konkret, daß endlich eine funktionierende<br />

Militärgerichtsbarkeit zu schaff en ist, die den<br />

Einsatzbedingungen gerecht wird, mit den Soldaten<br />

lebt und das Geschehen vor Ort beurteilen kann. Die<br />

Tatsache, daß sich Soldaten für ihr Verhalten im fernen<br />

Ausland unter „kriegsähnlichen Verhältnissen“ vor einer<br />

zivilen Gerichtsbarkeit im friedlichen Heimatland<br />

rechtfertigen müssen, ist so absurd, daß der gesunde<br />

Menschenverstand sich wehrt, dies zu glauben. Wie weit<br />

sich die politische Klasse trotz allen Geschwafels über<br />

Innere Führung von ihrer Treuepfl icht nach Soldatengesetz<br />

gegenüber dem Soldaten bereits entfernt hat, kann<br />

man der Rede des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt<br />

anläßlich einer Großvereidigung in Berlin entnehmen.<br />

Darin rief er den angetretenen Soldaten sinngemäß<br />

zu, sie hätten das Glück, in diesem demokratischen<br />

Rechtsstaat niemals mißbraucht zu werden. Das war<br />

sehr freimütig.<br />

War es doch der Altbundeskanzler Helmut Schmidt,<br />

der zuvor den Krieg gegen das Jugoslawien des Herrn<br />

Slobodan Milosevic wiederholt mündlich und schriftlich<br />

in schöner Gemeinschaft mit Herrn Henry Kissinger als<br />

völkerrechtswidrig bezeichnet hatte. Da das Völkerrecht<br />

gemäß Artikel 25 GG Bestandteil des Bundesrechtes ist<br />

und den Gesetzen, also auch dem Soldatengesetz vorgeht,<br />

hat die Bundesregierung unsere an diesem Krieg<br />

beteiligten Soldaten off enbar mißbraucht.<br />

Dies und viele andere Ungereimtheiten, die allesamt<br />

darauf hindeuten, daß die politische Klasse ihre sicherheitspolitischen,<br />

besonders die verteidigungs- und militärpolitischen<br />

Hausaufgaben sträfl ich vernachlässigt,<br />

kann in etlichen, von Soldaten verfaßten Büchern nachgelesen<br />

werden. Sie hatten allesamt nicht die erhoff te<br />

Wirkung, dokumentieren jedoch, daß die Soldaten nicht<br />

immer geschwiegen haben, wie man es unseren Vätern<br />

in der Wehrmacht vorwirft. Beispielhaft sei hier an die<br />

Bücher von Generalmajor Gerd Schultze-Rhonhof „Wozu<br />

noch tapfer sein?“, Generalleutnant Dr. Franz Uhle-<br />

Wettler „Rührt Euch!“ und Generalmajor Gerd-Helmut<br />

Komossa „<strong>Deutschland</strong> Heute“, Eine kritische Bilanz,<br />

aber auch an das Buch des international erfahrenen<br />

und bewährten Generals Klaus Naumann: „Frieden – der<br />

noch nicht erfüllte Auftrag“, nachdrücklich erinnert.<br />

8. Kosten<br />

Die geplante Strukturreform hat ihren Preis. Berufs-<br />

und Zeitsoldaten, die vorzeitig entlassen werden,<br />

sind abzufi nden. Standorte, die geschlossen werden,<br />

verlieren viele Arbeitsplätze und Einkünfte durch die<br />

Bundeswehr. Eine „Streichliste“ in der Rüstung, etwa bei<br />

ganzen Programmen oder zum Beispiel bei Stückzahlen<br />

des Eurofi ghters, des Kampfhubschraubers Tiger,<br />

des Schützenpanzers Puma, der Aufklärungsdrohnen<br />

oder bei anderen Rüstungsprojekten ist nicht umsonst<br />

zu haben. Laufende Verträge und internationale<br />

Kooperationsabkommen können nicht ohne weiteres<br />

aufgekündigt werden. Zusätzlich ist zu bedenken, daß<br />

die Rüstungsindustrie ihre Forschungs-, Entwicklungs-<br />

und Erprobungskapazitäten nicht so einfach ab- oder<br />

aufbauen kann. Sind sie einmal mangels Aufträgen<br />

verloren gegangen, werden sie bei dem vorhandenen<br />

Fachkräftemangel in andere Industrien abwandern und<br />

sind für die heimische Rüstung verloren. Bundeswehrstrukturen<br />

müssen daher Planungssicherheit gewähren<br />

und langfristige Planung ermöglichen. Einsparungen<br />

werden erst nach Ablauf von mehreren Jahren wirksam.<br />

Reformen kosten meist zunächst zusätzliche Finanzmittel.<br />

Bei allen erforderlichen Kosten-Nutzenanalysen<br />

und den Konsequenzen daraus darf im übrigen nicht<br />

übersehen werden, daß jede wesentliche Verkleinerung<br />

der Bundeswehr zugleich auch eine Verringerung der<br />

Berufsaussichten und Aufstiegschancen ihrer Angehörigen<br />

mit sich bringt. Damit ist ein wesentliches Problem<br />

der Inneren Führung bzw. der Menschenführung<br />

verbunden: „Der Mensch im Mittelpunkt!“ Mangelnde<br />

Berufszufriedenheit dürfte sich sehr negativ auf den<br />

Geist der der Truppe auswirken.<br />

9. Si vis pacem para bellum<br />

Dieser prägnante und kluge Leitsatz der Römer kann<br />

frei für die heutige Zeit etwa so übersetzt werden:<br />

„Wenn du Sicherheit willst, betreibe vorsorglich<br />

Gefahrenabwehr.“<br />

Sicherheit und Recht sind die beiden Hauptaufgaben<br />

des Staates, nicht Wohlstand und Soziales. Vorsorge, Bereitschaft<br />

und Übung in der Gefahrenabwehr sind vordringlich<br />

und unabdingbar gegenüber allen anderen<br />

staatlichen Aufgaben. Nachlässigkeit und Versäumnis<br />

führen zur Wehrlosigkeit und diese zur Rechtlosigkeit.<br />

Der Wehrlose fordert Gefahren geradezu heraus. Mit<br />

Israelis braucht man darüber nicht zu diskutieren. Sie<br />

wissen das und erfahren es täglich neu. Die Deutschen<br />

sollten das ebenfalls gelernt haben. Sie verfügen nicht<br />

erst seit Kaiser Napoleon über reichhaltige Erfahrungen<br />

eigener Wehrlosigkeit und fremder Besatzungstruppen.<br />

Nach dem Waff enstillstand im Mai 1945, als die Sieger<br />

die Deutschen vollständig entwaffneten, waren sie<br />

sogar vogelfrei und nahezu rechtlos. Heute sind die<br />

unsicheren Zustände im Lande immerhin schon wieder<br />

soweit gediehen, daß Polizisten und Polizeiwachen, also<br />

Männer und Einrichtungen im hoheitlichen Auftrag,<br />

von marodierenden Banden gewaltsam angegriff en<br />

werden. Ruft da niemand: „Wehret den Anfängen“?<br />

Es ist Aufgabe der politischen Klasse, den Volkssouverän<br />

umfassend zu informieren, im Verein mit den<br />

Massenmedien eine öff entliche, bundesweite Diskussion<br />

in Gang zu setzen und das sicherheitspolitische<br />

Problembewußtsein des Volkes und seiner Institutionen<br />

zu schärfen. Das ständige öff entliche Gerede darum,<br />

der Bürger müsse mehr Geld in der Tasche haben und<br />

angesichts der wieder angelaufenen Konjunktur „etwas<br />

vom Kuchen abbekommen“, lenkt von den wirklichen


Problemen ab. Notwendig ist zunächst der Wille, dem<br />

Vaterland treu zu dienen und sich gegen die Gefahren<br />

für die Sicherheit des Landes und seiner Bürger zu<br />

wappnen. Ist die Gefahr einmal eingetreten, ist es leicht<br />

zu spät für durchschlagende Gegenmaßnahmen, ähnlich<br />

den jüngsten Flut- und Brandkatastrophen in Pakistan<br />

und Rußland. Es ist höchste Zeit zu handeln. Dabei<br />

verdient die Tatsache hohe Aufmerksamkeit, daß von<br />

„Heimatverteidigung“ überhaupt nicht mehr gesprochen<br />

wird. Merkwürdig ist auch, daß die Öff entlichkeit<br />

nahezu nichts darüber zu hören bekommt, wie sich die<br />

politische Führung die Modernisierung der Armee vorstellt.<br />

Ein „Kaputtsparen“ der Bundeswehr darf es nicht<br />

geben! Ihre Einsatzbereitschaft geht uns alle an! Ohne<br />

den unbeirrbaren Willen der politischen Klasse einerseits<br />

und die allgemeine Dienstbereitschaft des Volkes<br />

zur Gefahrenabwehr andererseits wird allerdings eine<br />

durchschlagende wirkliche Bundeswehrreform nicht zu<br />

haben sein. Der Staatsbürger ist aufgerufen und eine<br />

willensstarke politische Führung. Mehr denn je bleibt<br />

wünschenswert, daß der Verteidigungsminister dem<br />

Bundestag eines Tages melden kann: „Abwehrbereit!“<br />

*<br />

In Kaiser Theodosius tritt nach zahlreichen<br />

fremdstämmigen Herrschern am Ende des<br />

Reiches noch einmal und zum letzten Male<br />

ein Geblütsrömer an die Spitze des Staates.<br />

So sammelte der preußische Adel sich am<br />

Ende des Deutschen Reiches noch einmal im<br />

20. Juli 1944.<br />

*<br />

Die Gelehrten der Perser behaupten, an der<br />

Zwietracht zwischen den Hellenen und Barbaren<br />

seien die Phoiniker schuld … Ich selber will nicht<br />

entscheiden, ob es so oder anders gewesen ist … Ich<br />

weiß, daß menschliche Größe und Herrlichkeit nicht<br />

von Bestand ist, und darum will ich der Schicksale<br />

beider in gleicher Weise gedenken.<br />

Herodot<br />

*<br />

2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

57


2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

58<br />

Weder in den Taten oberfl ächlich und nachlässig sein,<br />

noch im Umgang mit anderen Verwirrung stiften, noch<br />

in den Vorstellungen ziellos umherschweifen, noch mit<br />

der Seele sich ganz und gar hinreißen lassen noch im<br />

Leben keine Muße haben.<br />

Sie töten uns, zerfl eischen uns, verjagen uns unter<br />

Verwünschungen. Was bedeutet dies im Verhältnis<br />

dazu, dass die Seele rein, klug und gerecht bleibt?...<br />

Entwickle dich selbst jeden Tag zu einer Unabhängigkeit<br />

hin, die verbunden ist mit Freundlichkeit, Einfachheit<br />

und Taktgefühl.<br />

Marcus Aurelius Wege zu sich selbst.8. Buch, Nr. 51


<strong>Deutschland</strong> - das Land<br />

der Deutschen und der Türken?<br />

von Stefan Hug 147·<br />

„Was, wenn die Mehrheit der Türken sich gar nicht integrieren<br />

will? (...) Wenn sie, von Erdogan dazu angespornt,<br />

türkische Schulen und Universitäten in <strong>Deutschland</strong> verlangt?<br />

Wenn sie eigene Parteien fordert und das Türkische<br />

als Amtssprache in Berlin-Kreuzberg?“ 148<br />

Mit diesen Worten beschrieb die „Frankfurter Allgemeine“<br />

Anfang 2008 ein diff uses Gefühl des Mißtrauens<br />

gegenüber den Türken in <strong>Deutschland</strong>. Wer mit off enen<br />

Augen und Ohren durch das Leben geht, konnte schon<br />

viele Jahre früher die bedenkliche Tendenz zu türkischen<br />

Parallelgesellschaften ausmachen. Diese Tendenz<br />

verdichtet sich in letzter Zeit mehr und mehr, und sie<br />

wird durch zwei Faktoren verstärkt: durch eine immer<br />

ungeniertere Einfl ußnahme der Türkei in <strong>Deutschland</strong><br />

und eine im Gegenzug immer schwächer und zögerlicher<br />

werdende Reaktion des deutschen Staates.<br />

Türkische Staatsgewalt auf deutschem<br />

Boden<br />

Die zahlenmäßige Dominanz der Türken unter den<br />

Muslimen und den verschiedenen nichtdeutschen Nationalitäten<br />

in der Bundesrepublik wird in den letzten<br />

Jahrzehnten zunehmend bekräftigt durch die Tatsache,<br />

daß ihnen der off ensiv auftretende türkische Staat an<br />

147 · Leicht veränderter Auszug aus dem im September <strong>2010</strong> publizierten<br />

Buch von Stefan Hug: „Migrantengewalt. Wie sich unser<br />

Staat selbst entmachtet.“ (Verlag Siegfried Bublies, 304 Seiten,<br />

19,80 Euro).<br />

148 „Frankfurter Allgemeine“ vom 12. Februar 2008<br />

die Seite tritt. Die Türken in <strong>Deutschland</strong> werden durch<br />

die Türkei unterstützt, die über die NATO bereits seit<br />

Jahrzehnten mit der Bundesrepublik in einem von der<br />

politischen Führung als überaus wichtig betrachteten<br />

Pakt verbunden ist. Außerdem ist die Türkei seit Jahrzehnten<br />

auch Anwärter zum Beitritt in die Europäische<br />

Union. Das unterscheidet die Türken wesentlich von den<br />

Arabern, die aus vielen verschiedenen Staaten kommen,<br />

deren politische Verbundenheit mit <strong>Deutschland</strong> weniger<br />

intensiv ist.<br />

Die Türkei hat eine stark wachsende Bevölkerung,<br />

die an Zahl jene der deutschen in den nächsten<br />

Jahren übertreffen wird – es wird mehr Türken als<br />

Bundesdeutsche geben, wobei sich bereits jetzt in der<br />

bundesdeutschen Bevölkerung ca. drei Millionen aus<br />

der Türkei stammende Menschen befi nden! Darunter<br />

zählen Hunderttausende türkische Staatsbürger kurdischer<br />

Ethnie; doch die kurdischen Verbände in der<br />

Bundesrepublik werden nicht von einem kurdischen<br />

Staat protegiert und haben deswegen kaum ein politisches<br />

Gewicht. Durch einen EU-Beitritt der Türkei<br />

würden langfristig Millionen Türken zusätzlich nach<br />

<strong>Deutschland</strong> kommen. Sie träfen auf eine türkische Infrastruktur,<br />

die es jetzt schon ermöglicht, sich innerhalb<br />

<strong>Deutschland</strong>s in einer rein türkischen Welt zu bewegen.<br />

Nichts würde sie dazu animieren, Deutsch zu lernen<br />

und sich den Sitten und Gebräuchen unseres Landes<br />

anzupassen. Während die geostrategische Bedeutung<br />

<strong>Deutschland</strong>s mit der Wiedervereinigung gesunken ist<br />

und die Bundesrepublik zum sicheren Hinterland der<br />

NATO wurde, ist jene der Türkei mindestens gleich stark<br />

geblieben bzw. sogar noch gewachsen. Das Ende des<br />

2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

59


2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

60<br />

Ost-West-Konfl ikts hat die Bedeutung des Bosporus<br />

minimiert, da nun nicht mehr die Gefahr besteht, daß<br />

sowjetrussische Marineverbände in das östliche Mittelmeer<br />

durchbrechen und den Suezkanal bedrohen<br />

könnten. Andererseits grenzt die Türkei an viele Staaten,<br />

die in den strategischen Planungen der USA eine bedeutende<br />

Rolle spielen (Irak, Iran, Syrien), weshalb sie<br />

auf Drängen Washingtons auch am Golfkrieg 1990/91<br />

teilnahm. Die Waff enbrüderschaft beim Golfkrieg 2003<br />

verweigerte die inzwischen islamistische Führung der<br />

Türkei trotz heftigen Werbens der USA mit Hinweis auf<br />

die muslimische Bevölkerung des Irak. Dennoch besitzt<br />

die Türkei immense strategische Bedeutung und<br />

beherbergt auf ihrem Boden große Militärbasen der<br />

USA, auf die das Pentagon nicht verzichten will. Syrien<br />

und der Iran stehen im Fadenkreuz Washingtons, und<br />

beide Staaten haben gemeinsame Grenzen mit der<br />

Türkei. Unter US-amerikanischer Ägide arbeiteten bis<br />

vor kurzem sogar israelisches und türkisches Militär<br />

einträchtig zusammen!<br />

Diese Schlüsselstellung wird zusätzlich durch die<br />

wachsende Bedeutung der Türkei im Energiesektor<br />

unterstrichen. Zwar verfügt sie über keine eigenen<br />

Energiequellen, fungiert aber in den strategischen<br />

Planungen der US-Amerikaner als „Energiekorridor“<br />

für Erdöl und Erdgas aus Zentralasien. Damit sollen<br />

Rußland, China und der Iran umgangen werden. Eine Öl-<br />

Pipeline vom aserbaidschanischen Baku in die türkische<br />

Hafenstadt Ceyhan wurde bereits 2006 fertiggestellt.<br />

Die „Nabucco“-Pipeline soll Erdgas bis nach Österreich<br />

bringen. Das würde den potentiellen politischen Einfl uß<br />

Ankaras verstärken; die türkische Führung hat bereits<br />

bekundet, daß mit dieser Stellung im Energiesektor die<br />

Europäische Union nicht mehr länger die Tür für eine<br />

Mitgliedschaft der Türkei verschlossen halten könne<br />

und im Gegenteil der Beitrittsprozeß beschleunigt<br />

werden muß - die Pipeline wird von Ankara für eine politische<br />

Erpressung benutzt, noch bevor sie gebaut ist! 149<br />

Diesen globalen strategischen Entwicklungen läuft<br />

eine wachsende Einfl ußnahme der Türkei in <strong>Deutschland</strong><br />

selbst parallel. Der türkische Regierungschef<br />

Erdogan rief unbekümmert in einer Massenversammlung<br />

in Köln die Türken in <strong>Deutschland</strong> dazu auf, sich<br />

nicht zu assimilieren. In einem Interview bekundete er<br />

gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen“, daß sogar<br />

die Türken mit deutscher Staatsbürgerschaft beiden<br />

Staaten gegenüber loyal sein sollen! 150 Das direkte<br />

staatliche Handeln der Türkei wird ergänzt durch die<br />

DITIB. Die meisten in <strong>Deutschland</strong> errichteten Moscheen<br />

entstehen in Trägerschaft der „Diyanet Isleri Türk<br />

Islam Birligi“. Diese ist letztlich nichts anderes als ein<br />

Anhängsel des türkischen Staates, weil sie dem „Präsidium<br />

für Religionsangelegenheiten“ untersteht, einer<br />

staatlichen Behörde der Türkei! Bezeichnenderweise<br />

149 „Der Standard“ vom 20. Januar 2009<br />

150 „Frankfurter Allgemeine“ vom 12. März 2008<br />

sind viele Moscheen der DITIB mit der türkischen Fahne<br />

geschmückt - falls die deutsche Flagge überhaupt<br />

verwendet wird, ist sie oft kleiner als die türkische oder<br />

hängt niedriger als diese. 151<br />

Der türkische Staat besoldet zudem die Imame, die<br />

nach <strong>Deutschland</strong> geschickt und regelmäßig nach<br />

wenigen Jahren ausgetauscht werden, damit sie nicht<br />

„verdeutschen.“ Schon in den neunziger Jahren wurde<br />

eine starke Beeinfl ussung der deutschen Innenpolitik<br />

durch die sich zuspitzende Kurdenproblematik off enkundig.<br />

Die Auseinandersetzungen zwischen Kurden<br />

und Türken führten dazu, daß die kurdische Separatistenorganisation<br />

PKK ihren Krieg gegen die Türkei<br />

nicht nur in Ostanatolien führte, sondern auf deutschen<br />

Boden verlagerte, etwa mit Anschlägen gegen türkische<br />

Konsulate. Zugleich wurden Abweichler in den eigenen<br />

Reihen ermordet oder mit dubiosen Methoden Geld<br />

unter den kurdischen Landsleuten eingetrieben. Das<br />

trug dazu bei, daß die PKK in der Bundesrepublik als<br />

terroristische Organisation eingestuft und 1993 verboten<br />

wurde. Gegen den Führer der PKK, Öcalan, wurde in<br />

der Bundesrepublik ein Haftbefehl erlassen. 1999 mußte<br />

Öcalan Syrien verlassen, da die Türkei dem südlichen<br />

Nachbarn damit gedroht hatte, den Zufl uß des lebenswichtigen<br />

Euphratwassers zu drosseln. Der deutsche<br />

Haftbefehl wurde akut, als Öcalan nach seinem Weggang<br />

aus Syrien weltweit Zufl ucht suchte. Anfang 1999<br />

wurde er in Rom von der Polizei festgenommen. Mit<br />

Italien besteht ein Auslieferungsabkommen, so daß er<br />

an die Bundesrepublik hätte überstellt werden müssen.<br />

Doch der Generalbundesanwalt verzichtete; die<br />

Italiener ließen ihn daraufhin wieder frei, wenig später<br />

wurde er in Kenia von türkischen Geheimdienstlern<br />

angeblich mit Hilfe des israelischen Geheimdienstes<br />

gekidnappt und in die Türkei gebracht. Daraufhin<br />

kam es abermals zu bürgerkriegsähnlichen Szenen in<br />

<strong>Deutschland</strong>. In Berlin wollten Kurden das israelische<br />

Generalkonsulat stürmen. Doch die israelischen Sicherheitskräfte<br />

eröff neten im Gegensatz zu den deutschen<br />

Bewachern, welche den Angriff nicht abhielten, ohne<br />

Zögern das Feuer und töteten vier der Kurden. 152 Dr.<br />

Hans Plattner, in den neunziger Jahren Botschafter<br />

der Republik Österreich in der Türkei, kommentierte<br />

von außen das Geschehen trocken mit den Worten:<br />

„Die Türken in <strong>Deutschland</strong> beeinfl ussen schon jetzt die<br />

deutsche Innenpolitik.“ 153<br />

Daß <strong>Deutschland</strong> Öcalan nicht haben wollte, ist verständlich:<br />

zu heftig wären die Auseinandersetzungen<br />

gewesen, die sich Türken und Kurden während eines<br />

Prozesses um ihn geliefert hätten. Wahrscheinlich hätte<br />

auch der türkische Staat mit allen ihm zur Verfügung<br />

stehenden Mitteln versucht, ein Urteil in Ankaras Sinne<br />

oder sogar die Auslieferung in die Türkei zu erzwingen.<br />

151 Vgl. den Bericht über die Ingolstädter Moschee auf der Netzseite<br />

von „Politically Incorrect“ vom 18. Mai 2008<br />

152 „Der Spiegel“ vom 1. Juni 1999<br />

153 Plattner, Die Türkei, Eine Herausforderung für Europa, S. 76


All diesen unbequemen Szenarien ging die politische<br />

Führung der Bundesrepublik aus dem Weg. Um so<br />

unverständlicher, daß sie die unveränderte Problemlage<br />

zwischen Türken und Kurden kurz darauf sogar<br />

„eindeutschte“, als sie Hunderttausenden türkischen<br />

Staatsbürgern (und damit auch Kurden) die deutschen<br />

Pässe förmlich hinterher warf.<br />

Innenminister Schäuble hatte 1990 mit der Neuordnung<br />

des Staatsangehörigkeitsrechtes dafür gesorgt,<br />

daß dessen strenge Kriterien gelockert wurden. So<br />

konnten von 1990 bis 1997, vor der rot-grünen Regierungsübernahme,<br />

bereits fast 166 000 Türken die deutsche<br />

Staatsbürgerschaft erlangen, durchschnittlich über<br />

20 000 pro Jahr, wogegen über die achtziger Jahre hinweg<br />

die jährliche Einbürgerungsrate der Türken noch<br />

im dreistelligen und niedrigen vierstelligen Bereich<br />

gelegen hatte. Doch diese Steigerung war der Türken-<br />

Lobby zu wenig, sie stieß sich vor allem am Widerstand<br />

der CDU gegen die doppelte Staatsbürgerschaft.<br />

Fünf Wochen vor der Bundestagswahl 1998 rief der<br />

liberalkonservative Ministerpräsident der Türkei, Mesut<br />

Yilmaz, dazu auf, nicht die CDU zu wählen, weil die<br />

Partei gegen die doppelte Staatsbürgerschaft und den<br />

EU-Beitritt der Türkei sei. Sogar die Opposition Yilmaz’<br />

in der Türkei unterstützte seine Forderung. Die CHP,<br />

das türkische Pendant zur SPD, verschickte an jeden<br />

einzelnen wahlberechtigten Türken in <strong>Deutschland</strong><br />

einen Brief mit der Auff orderung, die SPD zu wählen,<br />

insgesamt 160 000 Schreiben. Bei der Bundestagswahl<br />

votierten dann die Türken mit deutschem Paß zu 70%<br />

für die SPD und verhalfen Rot-Grün mit zum knappen<br />

Sieg. Seitdem werden die „Deutsch-Türken“ von allen<br />

großen Parteien, zunehmend auch der CDU/CSU, als<br />

Wähler umworben. Und die Masseneinbürgerung<br />

wurde daraufhin erst so richtig ausgeweitet: In den<br />

Jahren von 1998 bis einschließlich 2004, vor dem Beginn<br />

der zweiten Großen Koalition, wurden fast eine halbe<br />

Million Türken eingebürgert. Die generelle Akzeptanz<br />

der doppelten Staatsangehörigkeit konnte allerdings<br />

nicht durchgesetzt werden, da Roland Kochs Wahlsieg<br />

in Hessen 1999 die Mehrheit im Bundesrat zugunsten<br />

der Konservativen veränderte.<br />

So gestalteten sich die deutlich sichtbaren, aber<br />

kaum skandalisierten Zugriff e türkischer Staatsgewalt<br />

auf deutschen Boden. Anfang 2008 fanden sie einen<br />

bisher unerreichten Höhepunkt. Am 3. Februar 2008 forderte<br />

ein Brand in einem von Türken bewohnten Haus<br />

in Ludwigshafen neun Tote. Sofort wurde der Verdacht<br />

laut, daß Deutsche bzw. „Rechte“ den Brand gelegt<br />

hatten – dieser Verdacht wurde nach den Anschlägen in<br />

Mölln und Solingen in den neunziger Jahren praktisch<br />

institutionalisiert. Doch die Ermittlungen ergaben keine<br />

eindeutig bestimmbare Brandursache. Brandstiftung<br />

wurde schließlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit<br />

ausgeschlossen, wohl aber hatte einer<br />

der türkischen Mieter im Keller, wo der Brand ausbrach,<br />

illegal Strom abgezapft!<br />

Die Türkei schickte kurz nach dem Brand eigene Ermittler<br />

nach Ludwigshafen. Der deutsche Innenminister<br />

und damit oberste Chef der Bundespolizei, Wolfgang<br />

Schäuble, ließ dazu nichts anderes verlauten als „Das<br />

würden wir selbstverständlich begrüßen. Die türkische<br />

Regierung kann das tun, auch wenn wir wissen, daß<br />

das Mißtrauen gegenüber unseren Polizeibehörden<br />

unbegründet ist.“ 154<br />

Damit hat der deutsche Staat seine volle Souveränität<br />

auf dem eigenen Territorium freiwillig in Frage gestellt<br />

und vor allem einen verhängnisvollen Präzedenzfall<br />

geschaffen – in Zukunft wird jeder Brand mit Toten in<br />

einem von Türken bewohnten Haus auf deutschem Boden<br />

dazu führen, daß der türkische Staat mit Hinweis auf<br />

Ludwigshafen eigene Ermittler senden will und kann! In<br />

einer anderen Hinsicht aber konstituiert Ludwigshafen<br />

ebenfalls einen – positiven – Präzedenzfall. Erstmals ließ<br />

die deutsche Bevölkerung sich nicht mehr dazu hinreißen,<br />

ohne begründeten Verdacht in großen Massen<br />

gegen „Rechts“ zu protestieren und in Lichterketten<br />

gegen einen imaginierten Feind zu demonstrieren. Die<br />

offene Berichterstattung verschwieg nicht, daß Türken<br />

deutsche Feuerwehrleute beleidigt und sogar tätlich<br />

angegriffen hatten, weil diese angeblich zu spät am<br />

brennenden Haus erschienen waren. 155 Offensichtlich<br />

haben sich die Wahrnehmung und das Problembewußtsein<br />

der deutschen Bevölkerung seit Beginn der<br />

neunziger Jahre stark verändert. Die unzähligen Fälle<br />

von Migrantengewalt, die ungeahndet blieben bzw.<br />

nicht politisiert oder skandalisiert wurden, haben ihre<br />

Wirkung genausowenig verfehlt wie die sich häufenden<br />

Falschmeldungen über ausländerfeindliche Taten, z.B.<br />

im sächsischen Sebnitz.<br />

Türkische Wähler als Königsmacher<br />

Auf der politischen Ebene hat die Einbürgerung<br />

Hunderttausender von Türken das Phänomen hervorgebracht,<br />

daß dieser Klientel zunehmend eine wahlentscheidende<br />

Qualität zugesprochen wird. 156 Dabei<br />

üben sie, gemessen an ihrer Zahl, unverhältnismäßig<br />

viel Einfl uß aus. Die faktische Rolle türkischer Wähler<br />

als „Königsmacher“ erinnert dabei an die FDP in der<br />

Bundesrepublik, die über viele Jahre einem gefl ügelten<br />

Wort zufolge „mit 5 % der Wählerstimmen 50 % der<br />

Politik“ machte. Schon 1998 galten vielen die Wähler<br />

türkischer Herkunft als entscheidendes Zünglein an der<br />

Waage, bei der Bundestagswahl 2002 hat sich dieser<br />

Trend noch einmal verstärkt, wobei eine eindeutige<br />

Neigung der Türken zu linken Parteien festzustellen<br />

154 „Frankfurter Allgemeine“ vom 5. Februar 2008<br />

155 „Der Spiegel“ vom 6. Februar 2008<br />

156 „Süddeutsche Zeitung“ vom 4. September 2009<br />

2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

61


2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

62<br />

war und ist. 157 Die CDU-Führung verstand das als Signal,<br />

vermehrt um Türken zu werben, womit sie sich immer<br />

stärker von der Parteibasis entfernte.<br />

Die Ergebenheitsadressen deutscher Spitzenpolitiker<br />

betreff end die zukünftige Präsenz türkischstämmiger<br />

Politiker im politischen Leben <strong>Deutschland</strong>s scheinen<br />

sich in den letzten Jahren fast zu überschlagen: so<br />

prognostizierte Wolfgang Schäuble, Innenminister<br />

der CDU, einen türkischstämmigen Bundeskanzler. 158<br />

Gerhard Schröder, ehemaliger SPD-Bundeskanzler,<br />

sah zu Beginn des Jahres 2009 mindestens einen türkischstämmigen<br />

Minister im nächsten Kabinett. 159 Die<br />

Grünen glänzen seit November 2008, der Wahl Cem<br />

Özdemirs, bereits mit einer zur Hälfte türkischen Spitze<br />

ihres doppelköpfi gen Parteivorsitzes.<br />

Die Linkspartei duldet die Relativierung des Genozids<br />

an den Armeniern durch ihr Mitglied, den Bundestagsabgeordneten<br />

Hakki Keskin. 160 Die FDP wirbt zwar nicht<br />

speziell um türkische Migranten, weitet aber ihren Liberalismus<br />

so weit aus, daß sie inzwischen nichts mehr<br />

gegen den EU-Beitritt der Türkei einzuwenden hat.<br />

Hat diese FDP einstmals als Partei der Zahnärzte und<br />

Rechtsanwälte mit 5 % der Wählerstimmen 50 % der<br />

Politik gemacht, deutet sich bei der türkischen Minderheit<br />

ein noch krasseres Mißverhältnis an. Dadurch,<br />

daß fast alle Parteien explizit um sie buhlen, können<br />

sie im Zweifelsfall 100 % der Politik mit weniger als 3%<br />

der Gesamtbevölkerung bestimmen, wobei in diesen<br />

3 % die nichtdeutschen, türkischen Staatsbürger mit<br />

eingerechnet sind. Die Bildung einer türkisch/muslimischen<br />

Partei, von vielen als „Worst-case“-Szenario an<br />

die Wand gemalt, wäre dagegen nur halb so schlimm.<br />

Eine solche Partei stünde einzig als Indiz dafür, daß<br />

die Türken bereits in solchen Massen vorhanden sind,<br />

daß sie sich – neben der Einfl ußnahme auf deutsche<br />

Parteien – eine „eigene“ Partei leisten könnten. Der<br />

schlimmste aller Fälle ist aber bereits mit dem Einfl uß<br />

auf eigentlich alle deutschen Parteien im Bundestag<br />

längst eingetreten …<br />

Diese fatale Entwicklung war klar vorhersehbar.<br />

Schon zu Beginn der achtziger Jahre warnte der Rechtswissenschaftler<br />

Quaritsch vor einer Masseneinbürgerung<br />

von Ausländern, ohne diese zuvor ausreichend<br />

assimiliert zu haben.<br />

„Gäbe es aber (...) eine relevante Wählergruppe türkischer<br />

Abstammung, dann stiege dieses Problem 161 zu<br />

einem Wahlkampfthema von hohem Rang auf. Da das<br />

bürgerliche und das sozial-liberale Lager fast gleich<br />

stark sind, würde der Mechanismus der Entscheidung<br />

durch Nichtentscheidung in Gang gesetzt, den wir aus<br />

157 „Süddeutsche Zeitung“ vom 4. September 2009<br />

158 „Focus“ vom 19. November 2008<br />

159 „Süddeutsche Zeitung“ vom 28. Januar 2009<br />

160 „junge welt“ vom 9. März 2006<br />

161 (Quaritsch bezieht sich auf die Freizügigkeit von Türken innerhalb<br />

Europas)<br />

allen Ländern nördlich der Alpen kennen, in denen<br />

die Wähler ebenso gleichgewichtig verteilt sind. Wo<br />

300 000 Stimmen die Frage beantworten können, wie<br />

der nächste Regierungschef heißt, dürfen auch kleine<br />

Minderheiten nicht vor den Kopf gestoßen werden.<br />

Objektiv notwendige Entscheidungen oder programmatische<br />

Aussagen dieser Art werden unterlassen, um<br />

die Macht zu erhalten oder die Macht zu erwerben. (...)<br />

Welche Partei riskierte dann den allfälligen Verdacht<br />

der Türken- und Fremdenfeindschaft (...)? Vor allem:<br />

welche Partei riskiert den Verzicht auf die Wähler dieser<br />

Gruppe? (...) Wie dem auch sei: Die Einbürgerung nicht<br />

assimilierter ethnischer Gruppen schlägt unmittelbar<br />

durch auf Innen- wie Außenpolitik.“ 162<br />

Die Präsenz türkischstämmiger Politiker in der<br />

deutschen Politik soll nach Ansicht von „Integrationsexperten“<br />

und der türkischen Interessenverbände die<br />

Gleichberechtigung und Emanzipation der türkischen<br />

Volksgruppe in der Bundesrepublik symbolisieren, in<br />

Augen der (noch) deutschen Führungselite steht sie<br />

stellvertretend für die „multikulturelle Gesellschaft“ an<br />

sich. Daß diese Kooptation zwar die Repräsentation<br />

innerhalb der Politik verändert, jedoch keine wirkliche<br />

Basis bei den Deutschen hat, wird nicht begriff en. Der<br />

Akt der Kooptation selbst läßt sich als Alibi der Eliten<br />

verstehen und ist für diese nicht weiter gefährlich, wenn<br />

die Zahl und die Macht der Kooptierten einen gewissen<br />

Grad nicht überschreiten. Selbst die Grünen verweigerten<br />

Özdemir ein sicheres Bundestagsmandat und lassen<br />

damit erkennen, daß sie außer dem Vorstandsvorsitz für<br />

ihren „Vorzeige-Türken“ keine weitere Macht türkischer<br />

Personen dulden.<br />

Anders als die USA haben wir in der Bundesrepublik<br />

kein Amalgam, das verschiedene Völker und Rassen<br />

zusammenschweißt, wie es der beständige Verweis auf<br />

den sozialen Aufstieg und die beständige Beschwörung<br />

der Nation im Alltag jenseits des Atlantiks konkretisiert.<br />

Die Führung der Bundesrepublik ist auf dem Wege – im<br />

krampfhaften Versuch, multikulturelle US-Muster zu<br />

kopieren – das eigene Volk zu vergessen, einen Staat<br />

ohne Staatsvolk zu repräsentieren. Dabei spricht das<br />

Grundgesetz explizit und nur vom „deutschen Volk“,<br />

von keiner anderen Volksgruppe. Sollten die Eliten<br />

der Bundesrepublik der Meinung sein, dieses vermischen<br />

zu können oder auch nur dem deutschen Volk<br />

eine „türkische Volksgruppe“ beizugesellen, sei ihnen<br />

empfohlen, dies schnellstmöglich in das Grundgesetz<br />

einzubringen - um so mehr, da ja inzwischen in allen<br />

Parteiführungen, selbst der Union, ein Konsens dafür<br />

besteht. Ein solcher Schritt würde jenen Deutschen,<br />

die anderer Meinung sind, die Gelegenheit geben, sich<br />

eindeutig zu positionieren.<br />

162 Quaritsch, Einwanderungsland Bundesrepublik <strong>Deutschland</strong>?,<br />

S. 64–65


Ankara regiert mit<br />

Der überproportionale politische Einfluß einer<br />

ethnisch-religiös defi nierten Wählergruppe ist nur eine<br />

Seite des Problems. Verschärfend kommt hinzu, daß<br />

ein türkischer Staat existiert, der diese Gruppe immer<br />

noch als seine Untertanen ansieht, selbst wenn sie die<br />

deutsche Staatsbürgerschaft besitzt – so äußerte sich,<br />

wie bereits erwähnt, der türkische Ministerpräsident<br />

im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen“ dahingehend,<br />

daß auch die Türken mit deutschem Paß der<br />

Türkei gegenüber loyal sein sollen. In diesem Interview<br />

lud er zudem die Bundeskanzlerin Merkel ein, mit ihm<br />

zusammen auf einer Veranstaltung wie in der Köln-<br />

Arena, in welcher Erdogan seine berüchtigte Rede hielt,<br />

aufzutreten. Süffi sant schrieb die „Frankfurter Allgemeine“<br />

dazu: „Erdogan lädt Merkel nach <strong>Deutschland</strong> ein.“ 163<br />

Wie die Staatsführung der Türkei die türkische<br />

Minderheit in <strong>Deutschland</strong> betrachtet, darüber geben<br />

folgende Sätze Auskunft: Angesichts der bestehenden<br />

Interessengegensätze in den Beziehungen zu <strong>Deutschland</strong><br />

muß die Türkei ein selbstverständliches Interesse daran<br />

haben, die türkische Bevölkerungsgruppe als strategisches<br />

außenpolitisches Instrument einzusetzen. Dies erfordert<br />

unausweichlich das Ziel, die Gruppe zu mobilisieren und<br />

zu politisieren, die dann als organisierte Minderheit in die<br />

Politik der Bundesrepublik eingreift. 164<br />

Der türkische Ministerpräsident Erdogan hat diese<br />

Analyse einer „deutsch-türkischen“ Akademikerin in<br />

seiner Kölner Rede bestätigt, einen Machtanspruch der<br />

Türken in <strong>Deutschland</strong> zugunsten der Türkei geradezu<br />

eingefordert und dabei indirekt auf die armenische<br />

Lobby in den USA als Vorbild angespielt. Das türkische<br />

Staatsoberhaupt sprach gegenüber den in <strong>Deutschland</strong><br />

lebenden, zu einem nicht geringen Teil über deutsche<br />

Pässe verfügenden Türken von „unseren Interessen“.<br />

Dieser klar ausgesprochenen Vereinnahmung kommt<br />

eine zunehmende „Hüter-Stellung“ des türkischen<br />

Staates seit den neunziger Jahren hinzu.<br />

Indem er sich in vielen praktischen Dingen als Fürsprecher<br />

der türkischen Minderheit einsetzt, will er die<br />

Türken auf deutschem Boden, auch die mit deutschem<br />

Paß, dauerhaft an sich binden.<br />

„In der Tat hat die türkische Politik und Diplomatie<br />

in den Verhandlungen mit der deutschen Regierung in<br />

den letzten Jahren die Belange ihrer Staatsangehörigen<br />

verstärkt thematisiert. Die türkischen Forderungen<br />

konzentrierten sich vor allem auf Themen wie Staatsangehörigkeitsfrage,<br />

wachsende Ausländerfeindlichkeit<br />

und Bildungspolitik. Für die politischen Verantwortungsträger<br />

in Ankara ist ein resoluter Einsatz für die<br />

vielschichtigen Probleme ihrer Bürger nicht nur eine<br />

moralische Verpfl ichtung, sondern sie liegt auch im<br />

staatlichen Eigeninteresse. Die Fähigkeit der Türkei, den<br />

Erwartungen der <strong>Deutschland</strong>-Türken entsprechende<br />

Dienstleistungen zu erbringen, werden die Bindung an<br />

163 „Frankfurter Allgemeine“ vom 13. März 2008<br />

164 Atilgan, Türkische Diaspora in <strong>Deutschland</strong>, S. 169<br />

sie stärken und folglich die Motivation und die Bereitschaft<br />

steigern, sich in der bundesdeutschen Politik für<br />

die Türkei einzusetzen.“ 165<br />

Die staatliche Führung der Türkei mischt sich also<br />

immer stärker und ungenierter in die deutsche Innenpolitik<br />

ein. Irrig ist die Vorstellung, sie täte das erst seit<br />

kurzem, um ihre Staatsbürger auf deutschem Boden<br />

vor Anfeindungen zu schützen. Bereits in den achtziger<br />

Jahren gab es Vorstöße aus Ankara, kurdischen Vereinen<br />

in <strong>Deutschland</strong> den Gebrauch der kurdischen Sprache<br />

zu verbieten!<br />

Die Einmischungen zeugten sich unverändert fort,<br />

denn ein Staat, der solchen Interventionen keine<br />

klare Grenze setzt, muß sich nicht über immer weiter<br />

gehendere Forderungen wundern. Im Bundesland<br />

Brandenburg ist seit 2002 der Völkermord der Osmanen<br />

an den Armeniern fakultativer Bestandteil des Lehrplans<br />

in Geschichte. Zu Beginn des Jahres 2005 nahm<br />

die Regierung in Potsdam auf Grund eines Vorstoßes<br />

des türkischen Generalkonsuls den Genozid aus dem<br />

Lehrplan. Sogar die linke „taz“ empörte sich darüber<br />

und bezeichnete dies als feigen und servilen Akt der<br />

Selbstzensur des brandenburgischen Ministerpräsidenten<br />

Matthias Platzeck. 166<br />

Auf Grund des starken Protests aus armenischen<br />

Kreisen, der evangelischen Kirche in Brandenburg, aber<br />

auch von Personen des öff entlichen Lebens wurde der<br />

Schritt rückgängig gemacht und der Völkermord wieder<br />

in den Lehrplan aufgenommen.<br />

Doch die Türken-Lobby läßt nicht locker und zeigt,<br />

wie das Muster in Zukunft aussehen wird: nicht mehr<br />

der türkische Staat selbst, sondern Mitglieder der<br />

Türken-Lobby melden sich zu Wort und werden über<br />

ihre Vertretungsmacht den türkischen Staat wirken<br />

lassen. Der Vorsitzende der „Türkischen Gemeinde in<br />

<strong>Deutschland</strong>“, Kenan Kolat, forderte 2009 erneut die<br />

Streichung des Genozids aus dem brandenburgischen<br />

Lehrplan, unter anderem mit der Begründung, das<br />

Thema setze die türkischstämmigen Schüler unter<br />

„psychologischen Druck“. Wie viele bzw. wie wenige<br />

türkischstämmige Schüler es in diesem mitteldeutschen<br />

Bundesland überhaupt gibt, erwähnte er nicht. Die<br />

„Frankfurter Allgemeine“ schrieb dazu, daß es Kolat<br />

„wohl weniger um das Wohlergehen der türkischen<br />

Schüler, als vielmehr um die Interessenwahrung des<br />

türkischen Staates geht.“ 167<br />

Die Einfl ußnahme steigert sich, wenn die deutsche<br />

Exekutive – quasi in vorauseilendem Gehorsam – in<br />

die Türkei reist, um den Zuspruch der türkischen Regierungsstellen<br />

auf Türken in <strong>Deutschland</strong> zu erbitten.<br />

2008 reiste der Arbeitsminister Nordrhein-Westfalens,<br />

Karl-Josef Laumann, nach Ankara. Einziger Zweck<br />

165 Atilgan, Türkische Diaspora in <strong>Deutschland</strong>, S. 172–173<br />

166 „taz“ vom 26. Januar 2005<br />

167 „Frankfurter Allgemeine“ vom 7. August 2009<br />

2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

63


2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

64<br />

seines Besuchs: er wollte die jungen Türken in seinem<br />

Bundesland dazu animieren, Berufsausbildungen zu<br />

machen, um so der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken.<br />

Warum er sich dafür in die Türkei begab, sich mit seinem<br />

türkischen Amtskollegen traf und sein Anliegen<br />

nicht vor Ort an der Ruhr propagierte? „Viele türkische<br />

Familien bei uns hören eben immer noch mehr auf die<br />

türkische Obrigkeit als auf die deutsche.“ 168 Wieso sollte<br />

sich die offen ausgesprochene und praktizierte Politik<br />

der Türkei, türkische Volksgruppen in fremden Staaten<br />

massiv zu bevorteilen und zu instrumentalisieren bzw.<br />

zu „schützen“, nicht auch auf die Bundesrepublik erstrecken?<br />

Nur, weil <strong>Deutschland</strong> historisch nicht zum Siedlungsraum<br />

des Osmanischen Reiches gehörte? Durch<br />

die Intervention türkischen Militärs wurde 1974 die Insel<br />

Zypern geteilt und seitdem eine massive Ansiedlung<br />

von Festlandtürken betrieben; die türkische Staatsführung<br />

hat 2003 im Norden des Irak Truppen stationiert;<br />

nicht allein mit der Begründung, kurdische Separatisten<br />

zu bekämpfen, sondern auch turkmenische Minderheiten<br />

in diesem Gebiet zu schützen. Ankara hat über viele<br />

Jahrzehnte die Diskriminierung der türkischen Minderheit<br />

im griechischen Thrakien beklagt, im eigenen Land<br />

aber eine weitaus härtere Verfolgung der griechischen<br />

Minderheit betrieben, so daß diese in den fünfziger<br />

und sechziger Jahren größtenteils auswanderte. Die<br />

nach dem Ende des Kommunismus 1989 in Bulgarien<br />

entstandene „Bewegung für Rechte und Freiheiten“<br />

fungiert praktisch als Partei der türkischen Minderheit<br />

in Bulgarien, und Gerüchte wollen nicht verstummen,<br />

daß sie über versteckte Kanäle vom türkischen Staat<br />

subventioniert wird.<br />

Die deutschen Politiker denken wahrscheinlich<br />

immer noch, daß sie in Ankara einen Sonderstatus besitzen.<br />

Das trifft zwar zu, aber in völlig anderer Hinsicht,<br />

als sie es begreifen – der politische und ökonomische<br />

Status der Bundesrepublik ist nämlich weitaus höher<br />

einzuschätzen als der von kleinen und korrupten Balkanstaaten.<br />

In keiner Weise wird die Türkei deshalb davon absehen,<br />

ihre Minderheit hierzulande nicht für ihre Zwecke<br />

zu instrumentalisieren – dazu ist das Potential des<br />

möglichen Gewinns viel zu verlockend. Die Türkei wird<br />

eher danach trachten, ihre Landsleute auf deutschem<br />

Boden noch viel stärker zu vereinnahmen als jene in<br />

ihren unmittelbaren Nachbarstaaten – das ist der besondere<br />

Status <strong>Deutschland</strong>s in den Augen der türkischen<br />

Regierungen gleich welcher Couleur!<br />

Eine militärische Intervention ist nicht möglich, deshalb<br />

spielt man unter anderem virtuos auf der Klaviatur<br />

der Geschichtspolitik, um Druck auf die Deutschen und<br />

indirekt auch auf die Türken auf deutschem Boden<br />

auszuüben. Ein türkischer Generalkonsul in Nordrhein-<br />

Westfalen warnte 2008 im Gespräch mit oppositionellen<br />

türkischen Gruppierungen davor, auf den Schutz der<br />

168 „WAZ“, 28. November 2008<br />

Türkei zu verzichten – die Deutschen hätten braunes<br />

Blut in ihren Adern und würden im Zweifelsfall die<br />

Türken so behandeln wie die Juden im Dritten Reich. 169<br />

Hat die Regierung Kohl noch de facto den Zugang<br />

der Türkei nach Europa verschleppt, aber gegenüber<br />

Ankara das Gegenteil behauptet, bietet sich nun mit der<br />

zunehmenden Präsenz türkischstämmiger Politiker in<br />

<strong>Deutschland</strong> die Gelegenheit, über das wirtschaftsstarke<br />

<strong>Deutschland</strong> positiv auf die Beitrittsverhandlungen<br />

der Europäischen Union Einfl uß zu nehmen. Gerade in<br />

dieser Frage gibt es keine streng nach Parteien gegliederte<br />

Meinungsvielfalt der türkischstämmigen Funktionäre,<br />

sondern einen quasi „alltürkischen“ Konsens. So<br />

sprechen sich Bülent Arslan und Emine Demirbüken-<br />

Wegner, beide Funktionsträger innerhalb der CDU,<br />

vehement gegen das (noch) propagierte Modell der<br />

„Privilegierten Partnerschaft“ ihrer Partei aus und<br />

befürworten uneingeschränkt den Beitritt der Türkei!<br />

Der türkische Staat als hineinregierender und<br />

mitregierender Faktor in <strong>Deutschland</strong> wird weiter an<br />

Bedeutung zunehmen. Beide Seiten – Ankara und die<br />

sogenannten „Deutsch-Türken“ bzw. deren Interessenvertreter<br />

– arbeiten darauf hin. Ein maßgeblicher Teil der<br />

„Deutsch-Türken“ betrachtet die Türkei nach wie vor als<br />

hauptsächlichen Bezugspunkt ihres Lebens, selbst bei<br />

langdauerndem Aufenthalt in <strong>Deutschland</strong>. Vor allem<br />

vom Beitritt zur Europäischen Union versprechen sich<br />

beide Seiten ungeheure Vorteile. Für die „Deutsch-<br />

Türken“ ohne deutschen Paß hierzulande würde sich<br />

mit dem Status als EU-Bürger einiges verbessern, sie<br />

könnten z.B. frei innerhalb der EU reisen. Die Türkei<br />

sähe sich außenpolitisch aufgewertet und einen uralten<br />

Minderwertigkeitskomplex besänftigt, da sich ihre<br />

Führungsschicht seit Atatürks Zeiten geistig zu Europa<br />

zählt - allerdings nimmt die islamische Orientierung zur<br />

Zeit deutlich zu. Für die Pragmatiker in Ankara ist dies<br />

kein Widerspruch, sie schielen neben der symbolischen<br />

Aufwertung vor allem auf die materiellen Vorteile etwa<br />

in Form von Wirtschaftshilfen. So oder so: wie mit einer<br />

Nabelschnur ist die türkische Minderheit in <strong>Deutschland</strong><br />

mit der Türkei verbunden, und alles deutet darauf<br />

hin, daß die Nabelschnur zukünftig nicht durchtrennt,<br />

sondern von zusätzlichem Blut durchpulst wird. Der<br />

Orientalist Raddatz bringt es auf den Punkt: „Sprache,<br />

Familiennachzug, Reisen in die Heimat, türkisches<br />

Fernsehen, Besuche türkischer Politiker verdichten sich<br />

zu einer mentalen – und fi nanziellen – Nabelschnur.<br />

Durch sie schiebt sich die Türkei biologisch und geistig<br />

nach <strong>Deutschland</strong> vor und macht aus einer simplen<br />

Anwesenheit eine politische Einheit.“ 170<br />

Es sind im wesentlichen zwei Punkte, die ein beständiges<br />

und fast direktes Mitregieren Ankaras in der<br />

169 „Frankfurter Rundschau“ vom 28. April 2009<br />

170 Raddatz, Die türkische Gefahr?’ S. 224-225


deutschen Politik wahrscheinlich machen. Erstens ist es<br />

nach wie vor Strategie des türkischen Staates, die doppelte<br />

Staatsbürgerschaft von „Deutsch-Türken“ möglich<br />

zu machen bzw. als anerkannte Praxis zu etablieren.<br />

Die Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft ist in<br />

der Bundesrepublik zwar bei vielen anderen Staaten<br />

akzeptiert, wird aber zum Ausnahmefall, wenn allein<br />

die Zahl der möglichen Doppelstaatler aus der Türkei<br />

die Doppelstaatler aller anderen Nationen in der<br />

Bundesrepublik weit übersteigt – und weil viele dieser<br />

Doppelstaatler in ihrer Loyalität faktisch der Türkei den<br />

Vorrang geben.<br />

Zweitens existiert die DITIB, die letztlich nichts<br />

anderes ist als eine staatliche Behörde der Türkei,<br />

ursprünglich geschaff en in der Absicht, islamistische<br />

Bestrebungen zu unterbinden, spätestens mit der<br />

Machtergreifung der AKP in der Türkei selbst im Ruch,<br />

Islamisierung zu betreiben.<br />

Minderheitenstatus und Türkisch als<br />

Amtssprache<br />

Die Türken haben sich bereits „Türken-Ghettos“ auf<br />

deutschem Boden geschaffen, aber die Träume ihrer<br />

Funktionäre und Fürsprecher gehen noch weiter. Sie<br />

wollen für die Türken den Status einer anerkannten<br />

Minderheit erreichen, also Volksgruppenrechte für die<br />

Türken auf deutschem Boden. So drückt es Atilgan aus:<br />

„Für den Status der Türken in <strong>Deutschland</strong> ist die Defi<br />

nition des Hohen Kommissars der OSZE für Nationale<br />

Minderheiten als eine Gruppe „mit eigener Identität, die<br />

sich deutlich von der Identität der Mehrheit der Bevölkerung<br />

unterscheidet, darüber hinaus den dringenden<br />

Wunsch hat, die Identität zu behalten oder sogar zu festigen<br />

und/oder die Empfehlung der Parlamentarischen<br />

Versammlung des Europarates Nummer 1201 aus dem<br />

Jahr 1993 am aussagekräftigsten. Allerdings ist dieses<br />

Dokument nicht juristisch bindend, da die Versammlung<br />

nur empfehlen kann. Dieser Text defi niert eine Gruppe<br />

dann als nationale Minderheit, wenn sie eigenständige<br />

ethnische, kulturelle, religiöse oder sprachliche Merkmale<br />

aufweist, wenn sie hinreichend groß ist sowie den<br />

Willen hat, ihre Identität zu erhalten. Zusätzlich heißt<br />

es, die Angehörigen dieser Gruppe müßten mit dem<br />

betreffenden Staat langdauernd, fest und bleibend<br />

verbunden sowie dessen Staatsbürger sein.<br />

Nach dieser Defi nition befi ndet sich die türkische<br />

Bevölkerungsgruppe in <strong>Deutschland</strong> auf dem Weg<br />

zur Bildung einer Minorität. Sie hat die erforderlichen<br />

‚spezifi schen Eigenschaften‘, und ihr Vereinsleben zeigt<br />

den Willen zu ihrer Erhaltung. Ebenso ist die Gruppe<br />

hinreichend groß. Das letzte Kriterium der lang dauernden<br />

Präsenz ist zwar nicht genau defi niert, wird sich<br />

aber im Laufe der Zeit selbst erfüllen. Die relativ geringe<br />

Einbürgerungsquote der Türken in <strong>Deutschland</strong> war u.<br />

a. in der rechtlichen und konzeptionellen Geschlossenheit<br />

der deutschen Staatsangehörigkeit begründet, mit<br />

der Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes wird<br />

die Zahl der Einbürgerungen von türkischen Staatsbürgern<br />

jedoch voraussichtlich erheblich steigen. Das<br />

Zentrum für Türkeistudien rechnet auf der Grundlage<br />

von Hochrechnungen im Jahre 2003 mit 900 000 deutschen<br />

Staatsbürgern türkischer Abstammung. Es ist also<br />

durchaus davon auszugehen, daß es auf lange Sicht in<br />

<strong>Deutschland</strong> eine türkische Minderheit geben wird.“ 171<br />

Betrachtet man die gegenwärtig existierenden Minderheitenrechte<br />

in <strong>Deutschland</strong>, dann stellt man fest, daß<br />

es sich sowohl zahlenmäßig als auch gesamtpolitisch<br />

um marginale Erscheinungen in der Bundesrepublik<br />

handelt. Sorben in Brandenburg/Sachsen und Dänen<br />

in Schleswig-Holstein stellen selbst in ihren jeweiligen<br />

Bundesländern nur einen kleinen Teil der Bevölkerung;<br />

Schleswig-Holstein, Brandenburg und Sachsen<br />

sind zudem Länder mit zahlenmäßig schwacher Bevölkerung<br />

– deswegen auch geringer Bedeutung im<br />

Bundesrat – und ohne großes ökonomisches Gewicht.<br />

Sie beherbergen außerdem keine repräsentativen Millionenmetropolen.<br />

Wenn den Türken in <strong>Deutschland</strong> in absehbarer<br />

Zeit, nur auf Grund ihres drängenden Forderns und<br />

aus Angst vor einem Bürgerkrieg, Minderheitenrechte<br />

zugestanden würden, hätte dies dagegen unabsehbare<br />

Folgen für die territoriale Integrität der Bundesrepublik.<br />

Das sind keine Horrorszenarien von Rechtsradikalen,<br />

sondern logische Folgerungen aus der Geschichte jener<br />

Länder, in denen sich eine große türkische Minderheit<br />

befi ndet, die die Gesamtpolitik des Landes beeinfl ussen<br />

will – so etwa in Zypern vor 1974. Jeder anfangs höfl ich<br />

ausformulierte Anspruch auf „Partizipation“ wird auf<br />

Grund der historischen Erfahrung und dem Anspruchsdenken<br />

vieler Türken/Muslime – nämlich Herrschaft<br />

über Christen auszuüben – langfristig zumindest in<br />

der Forderung nach einem Sonderstatus für die eigene<br />

Volksgruppe, wahrscheinlich aber in bürgerkriegsähnlichen<br />

Zuständen enden. So prophezeit es Peter Scholl-<br />

Latour für <strong>Deutschland</strong> bei einer weiteren Zunahme der<br />

Muslime und einem Beitritt der Türkei zur Europäischen<br />

Union: „Die „multikulturelle“ Utopie weltfremder Ideologen<br />

liefe Gefahr, in Mord und Totschlag, in off enen<br />

Bürgerkrieg einzumünden.“ 172<br />

Es sei daran erinnert, daß die Türken auf Zypern in<br />

den sechziger Jahren ca. 30% der Sitze im Parlament<br />

zugestanden bekamen, obwohl sie nur 20% der<br />

Bevölkerung der Mittelmeerinsel stellten, zusätzlich<br />

garantierte die Verfassung ihnen ein Vetorecht, welches<br />

sie so exzessiv nutzten, daß Zypern unregierbar<br />

wurde. Da es im Gegensatz zu Dänen und Sorben keine<br />

historisch abgegrenzten Siedlungsgebiete von Türken<br />

in <strong>Deutschland</strong> gibt, würde die Türken-Lobby selbstverständlich<br />

versuchen, diese Volksgruppenrechte<br />

auf breitestmöglicher Ebene, nämlich bundesweit, zu<br />

verankern. Selbst wenn dies scheitern würde, wäre<br />

eine Verwurzelung von Sonderrechten in bestimmten<br />

171 Atilgan, Türkische Diaspora in <strong>Deutschland</strong>, S. 95<br />

172 Scholl-Latour, Allahs Schatten über Atatürk, S. 308<br />

2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

65


2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />

66<br />

Bundesländern und eine starke Beeinflussung der<br />

Bundespolitik immer noch möglich. Die zahlenmäßig<br />

größte türkische Gruppe lebt in Nordrhein-Westfalen,<br />

einem Land mit ökonomischer Potenz und Stärke im<br />

Bundesrat, da es über die höchste Einwohnerzahl aller<br />

Bundesländer verfügt. Die Zentrale der DITIB befi ndet<br />

sich ebenfalls dort. Dazu gesellen sich die besonders<br />

rührigen Gruppen der Türken-Lobby in solchen Metropolen<br />

wie Berlin, Hamburg und Köln, das ebenfalls in<br />

Nordrhein-Westfalen liegt. <strong>Deutschland</strong> würde einen<br />

binationalen Charakter bekommen, es wäre das Land<br />

der Deutschen und der Türken!<br />

Die sich jetzt bereits deutlich abzeichnenden Tendenzen<br />

in den „Türken-Ghettos“ weisen darauf hin, daß<br />

diese potentiellen Enklaven einen prinzipiell anderen<br />

Charakter besitzen, als etwa das sorbisch und dänisch<br />

besiedelte Gebiet. In Bautzen, Lübbenau und Flensburg<br />

käme niemand auf die Idee, die Hoheit des deutschen<br />

Staates in Frage zu stellen oder das Gewaltmonopol<br />

deutscher Polizisten anzuzweifeln. Mit einer staatsrechtlichen<br />

Emanzipation der „Türken-Ghettos“ hätten<br />

wir tatsächlich Enklaven in <strong>Deutschland</strong>, die sich nicht<br />

nur sprachlich, sondern auch religiös und kulturell gravierend<br />

vom deutschen Siedlungsgebiet unterscheiden<br />

würden – mit einer Tendenz zur Ausbreitung durch<br />

zunehmende Einwanderung aus Anatolien und zur<br />

„Protektion“ durch Ankara.<br />

Die mögliche Einführung von Türkisch als Amtssprache<br />

muß nicht unbedingt mit der Einführung von<br />

Volksgruppenrechten einhergehen, sondern hat einen<br />

eigenständigen Charakter. Seit Jahren versuchen Funktionäre<br />

der Türken-Lobby und ihre Parteigänger unter<br />

den Deutschen, die türkische Sprache aufzuwerten, obwohl<br />

diese international keinen Stellenwert besitzt. Die<br />

Absicht ist klar: das Manko der Türken, eine im weltweiten<br />

Maßstab unbedeutende Sprache als Muttersprache<br />

zu haben, soll durch die Anerkennung des Türkischen<br />

im deutschen Schul- und Bildungsbetrieb kompensiert<br />

werden. Eine Einführung von Türkisch als Amtssprache,<br />

von einer allgemeinen Einführung von Türkisch in<br />

Schulen befördert, würde aber die Chance einer jetzt<br />

schon ungewissen Integration durch Spracherwerb<br />

massiv verschlechtern. Es bestünde dann nicht mehr der<br />

geringste Anreiz, die deutsche Sprache zu erlernen und<br />

gut zu beherrschen. Die Bildung türkischer Exklaven<br />

würde zementiert, was der SPD-Bezirksbürgermeister<br />

Neuköllns, Heinz Buschkowsky, treff end kommentierte,<br />

als der türkische Ministerpräsident Erdogan <strong>2010</strong><br />

türkischsprachige Schulen in <strong>Deutschland</strong> forderte: „Es<br />

kann nicht die Aufgabe der deutschen Gesellschaft sein,<br />

den Jugendlichen Türkisch beizubringen (…) Wir sind<br />

keine Exklave der Türkei.“ 173<br />

Latent gefördert wird ein solcher Schritt aber<br />

dadurch, daß Türkisch de facto bereits in vielen<br />

Kommunen zur Amtssprache erhoben wurde. Es gibt<br />

innerhalb vieler Behörden Beschilderungen auf Türkisch,<br />

türkischsprachige Ausfüllhilfen für Formulare<br />

173 „Welt“ vom 28. März <strong>2010</strong><br />

und türkischsprachige Mitarbeiter. Mit Berufung darauf<br />

könnten die Funktionäre der Türken-Lobby drängen,<br />

aus einem „Gewohnheitsrecht“ einen formal anerkannten<br />

Status zu machen. Es ist bezeichnend, daß sich nicht<br />

nur die CDU-Spitze, sondern auch Türken- und Islam-<br />

Verbände dagegen aussprachen, als von der CDU-Basis<br />

ein Vorstoß gemacht wurde, Deutsch als Sprache der<br />

Bundesrepublik im Grundgesetz zu verankern. Daß<br />

die Türken-Lobby dagegen Sturm lief 174 , obwohl sie<br />

nicht direkt davon tangiert wäre, läßt nur einen Schluß<br />

zu: sie befürchtet, daß ein solcher Schritt zum gegenwärtigen<br />

Zeitpunkt Signalcharakter hätte und eine<br />

spätere Einführung des Türkischen erschweren bzw.<br />

verhindern würde. Es ist in ihren Augen taktisch besser,<br />

erst abzuwarten und dann nach Zuzug von weiteren<br />

Millionen Türken gegebenenfalls Deutsch und Türkisch<br />

im Grundgesetz zu verankern.<br />

Wenn <strong>Deutschland</strong> aber zu einem Land der Deutschen<br />

und der Türken wird, erleidet es über kurz oder<br />

lang das Schicksal Westarmeniens und Ostgriechenlands:<br />

die ursprünglichen Bewohner des Landes werden<br />

ausgelöscht oder vertrieben, so wie es in Konstantinopel,<br />

Smyrna und Adana geschah.<br />

Literatur<br />

Canan Atilgan: Türkische Diaspora in <strong>Deutschland</strong>.<br />

Chance oder Risiko für die deutsch-türkischen Beziehungen,<br />

Hamburg 2002<br />

Hans Plattner: Die Türkei. Eine Herausforderung für<br />

Europa, München 1999<br />

Helmut Quaritsch: Einwanderungsland Bundesrepublik<br />

<strong>Deutschland</strong>? 2. Aufl ., München 1982,<br />

Hans-Peter Raddatz: Die türkische Gefahr? Risiken<br />

und Chancen, München 2004<br />

Peter Scholl-Latour: Allahs Schatten über Atatürk.<br />

Die Türkei in der Zerreißprobe, 6. Aufl ., München 2001<br />

Walter Rathenau, von Nazis als Nichtarier und Jude<br />

verunglimpft und 1922 ermordet, schrieb: Der Inbegriff<br />

der Weltgeschichte ist die Tragödie des arischen Stammes.<br />

Ein blondes, wundervolles Volk erwächst im Norden …<br />

aber (es) quellen die Fluten der dunklen Völker immer näher.<br />

Eine orientalische Religion ergreift die Nordländer …<br />

174 „Süddeutsche Zeitung“ vom 3. Dezember 2008<br />

*


3. Teil Geschichte<br />

Immer öfter wird die Frage gestellt, warum wir Deutschen so erpicht darauf sind, die NS-Verbrechen als weltgeschichtliche<br />

Singularität zu bezeichnen. Waren sie das wirklich, oder liegen unerkannte psychologische Mechanismen<br />

zugrunde?<br />

Ihr Deutschen wollt wohl<br />

in allem die Größten sein<br />

– also auch bei Verbrechen<br />

Geschichte<br />

von<br />

Teil<br />

N. N. (Name dem Herausgeber bekannt) 3.<br />

Der zitierte Ausspruch stammt von meiner Kollegin<br />

Anneliese St. (Jahrgang 1921). Ich lernte Anneliese,<br />

inzwischen Ann-Lise, ca. 1990 in Paris bei einer Tagung<br />

„kritischer“ deutscher und französischer Psychoanalytiker<br />

kennen. Am zweiten Tagungstag hielt ich einen<br />

Vortrag, der inzwischen unter dem Titel „Kollektive<br />

Verbrechen und die Zweite Generation“ in der Festschrift<br />

für meinen ehemaligen Chef veröff entlicht ist.<br />

Ich wählte darin die Methode der Distanz, des Blicks<br />

auf das Eigene im Fremden. Mein Beispiel war die Vandalisierung<br />

eines jüdischen Friedhofs in Carpentras. Ein<br />

Blick über den Zaun, um einige Aspekte des Erbes der<br />

Zweiten Generation in Frankreich nach dem Algerienkrieg<br />

zu beleuchten.<br />

Während der Diskussion gab es einen ziemlichen<br />

Eklat, denn einige deutsche Kollegen warfen mir „Vergleich“<br />

zwischen Nationalsozialismus, Judenvernichtung<br />

und Frankreich, Algerienkrieg vor. Ein Kollege<br />

fiel ziemlich aus dem Rahmen und schrie mich an:<br />

„Mein Vater war in Lodz, Sie als Deutsche haben kein<br />

Recht, den Franzosen eine Lektion zu erteilen.“ Das war<br />

schon ziemlich verrückt.<br />

Meine französischen Kollegen waren etwas diff erenzierter,<br />

denn auch in Frankreich hatte die sog. „Vergangenheitsbewältigung“<br />

nach dem Algerienkrieg in<br />

einigen Kreisen bereits begonnen und treibt auch dort<br />

seltsame Blüten. Anneliese war telefonisch informiert<br />

worden und kritisierte die Reaktionen meiner deutschen<br />

Kollegen mit den Worten der Überschrift. Sie war<br />

als Zwölfj ährige nach der vorübergehenden Verhaftung<br />

ihres sozialistischen Vaters in ihrer Heimatstadt Mannheim<br />

mit den Eltern nach Frankreich ausgewandert und<br />

1938 eingebürgert worden. 1944 wurde sie, trotz guter<br />

falscher Papiere, eben durch Verrat, durch die Gendar-<br />

merie verhaftet und interniert. Von dort ging es nach<br />

Auschwitz etc. und 1945 zurück nach Frankreich, Arbeit<br />

mit traumatisierten Kindern, Analyse bei Francoise Dolte<br />

und Jaques Lacan, von dem sie sagt, daß er ihr wieder<br />

die deutsche Sprache „wert gemacht“ habe. Dadurch<br />

(Analyse, Sprache) fühle sie sich als Überlebende. Bei<br />

ihr habe ich keinen Haß kennengelernt, den hatte sie<br />

überwunden, der zerstöre die eigene Person.<br />

*<br />

Jacob Burckhardt beobachtet (in: Griechische Kulturgeschichte):<br />

Denn so sehr ist das Gemüt der Menschen<br />

von Ruhmsucht zerrüttet, daß sie lieber durch das größte<br />

Unglück berühmt als ohne Unglück obskur sein wollen.<br />

*<br />

Joachim Fest, Im Gegenlicht – Eine italienische<br />

Reise, Siedler Verlag Berlin 1988, S. 140, wendet diesen<br />

Gedanken auf uns Deutsche an: Manchmal denkt man,<br />

die fortgesetzte Aufgebrachtheit der Deutschen über die<br />

Hitlerjahre könnte weniger mit dem moralischen Entsetzen<br />

und der begriff enen geschichtlichen Lektion zu tun haben,<br />

als behauptet wird. Vielmehr macht sich darin der Versuch<br />

einer geistig auf vielen Bereichen unproduktiv gewordenen<br />

Nation geltend, wenigsten durch Hitler und die Greuel jener<br />

Jahre einige Aufmerksamkeit zu erregen … Oft klingt<br />

sogar etwas wie ein pervertierter Stolz darüber durch,<br />

wessen sie fähig waren. Bezeichnenderweise ist der Ort<br />

solcher Selbstanklagen fast durchweg die Vorderbühne,<br />

wo das Spektakel zu Hause ist: in Pamphleten, Fernsehshows.<br />

… So kann der Verdacht nicht ausbleiben, die<br />

Deutschen ahnten, daß sie der Welt durch nicht viel mehr<br />

als durch den Schatten interessant sind, den die Untaten<br />

jener Herrschaft werfen.<br />

67


3. Teil Geschichte<br />

68<br />

Der algerische Unabhängigkeitskrieg war grausam, und zwar wohl besonders auf französischer Seite. Im Jahre 2008<br />

hatte ich in Oran/Algerien Gelegenheit, mit dem aus Lothringen stammenden Bischof von Oran zu sprechen, der die<br />

letzte Phase des 1962 beendeten Krieges miterlebt hatte. Dieser überließ mir sein gedrucktes Tagebuch mit Widmung.<br />

Daraus ist die folgende Episode genommen.<br />

Das blonde Kind<br />

Aus dem Tagebuch des Bischofs von Oran<br />

aus der Zeit des Algerienkrieges<br />

Mittwoch, 26. Oktober 1960: Hier läuft ein kleiner<br />

Junge herum mit blonden Locken, etwa 6–7 Jahre alt.<br />

Er treibt sich ständig mit den Soldaten herum, ißt mit<br />

ihnen und schläft bei ihnen. Das wundert mich. Ich frage<br />

einen Soldaten: Was macht dieses … Kind hier eigentlich?<br />

A: Das ist ein kleiner Araber, den haben wir … mitgebracht.<br />

F: Wieso – mitgebracht? Und seine Eltern haben ihn einfach<br />

so gehen lassen?<br />

A: Der hat keine Eltern mehr. Die Kameraden unserer<br />

Kompanie haben kürzlich einen Trupp von Fallschirmjägern<br />

in die … transportiert. Die Fallschirmjäger haben da<br />

ein Massaker in einem Dorf angestellt und die gesamte<br />

Einwohnerschaft niedergemacht. Nach dem Einsatz hat<br />

einer unserer Kameraden diesen kleinen Jungen gefunden<br />

und ihn als Andenken hergebracht, weil er ihm so gefallen<br />

hat. Na ja, so ist er halt hier.<br />

F: Das kann doch nicht sein. A: Wieso denn nicht? Andere<br />

nehmen sich doch auch Andenken mit: Schmuckstücke,<br />

Töpfersachen, auch mal einen Hund …<br />

Der Autor sieht den kleinen Jungen seit einigen<br />

Tagen nicht mehr und fragt sich, wo er abgeblieben sei.<br />

Dienstag, 22. November: Ich habe jetzt die Erklärung<br />

für das Verschwinden des kleinen blonden Jungen. Als<br />

ich heute abend von meiner Arbeit aus Castiglione<br />

zurückkam, traf ich den Adjutanten der 2. Kompanie<br />

zusammen mit dem Adjutanten der CSS, die sich vor<br />

der Telefonzentrale in meinem Büro gefl äzt hatten.<br />

Eigentlich mehr aus Zufall frage ich den Adjutanten,<br />

was aus dem kleinen Kind geworden sei.<br />

A: Mach dir keine Sorge, der wird uns nicht weiter stören.<br />

F: Was soll das heißen? A: Na, ich hab ihn abgeschaff t.<br />

F: Wie das?<br />

A: Na, ich habe ihn in eine Schlucht gebracht, in einem<br />

kleinen Gehölz, und dann habe ich ihm mit meiner Pistole<br />

eine Kugel in den Kopf gegeben.<br />

F: Nein – das ist nicht wahr! Sie sind ein Krimineller!<br />

A: Was du nicht sagst! Das Kind wurde wirklich lästig.<br />

Ich konnte vor Bestürzung einige Augenblicke lang<br />

nichts sagen … Der Adjutant albert herum, schlägt dem<br />

anderen auf die Schultern und beide gehen hinaus –<br />

stolz über ihre Leistung.<br />

Das ist ja entsetzlich. Erbarmen, Herr Gott!<br />

Inschrift in der Kuppel der Kathedrale Notre<br />

Dame - d`Afriqe in Algiers (gesehen 2008 von M. A.<br />

im Rahmen eines Vespergottesdienstes, der von<br />

10 Personen besucht war, welche nach Auskunft<br />

des Priesters fast seine gesamte Gemeinde ausmachten):<br />

*<br />

Ste Marie, prie pour nous et pour les musulmans.<br />

Heilige Maria, bitte für uns und für die Muslime.


Der Geist des Warschauer Ghettos<br />

von<br />

Rabbi Stephen Wise 175•<br />

… Ich werde nicht versuchen, auf diesen Seiten auch<br />

nur eine Zusammenfassung der Eindrücke wiederzugeben,<br />

die ich während der Tage in Warschau (1936!)<br />

sammelte. Diese Eindrücke waren größtenteils ergreifend<br />

und traurig machend, obwohl sie auch ein Gefühl<br />

von unbezähmbarer mystischer Hoffnung vermittelten.<br />

Ich beschränke mich auf eine unvergeßliche Stunde und<br />

Szene, die mir viel über den Schrecken und die Größe<br />

des Lebens der polnischen Juden erzählte.<br />

Zu den Büroräumen der zionistischen Bewegung<br />

kam eine Gruppe von Männern aus Przytyk 176 , einer<br />

Stadt, die später noch berühmt wurde. Einige aus der<br />

Gruppe waren eingesperrt gewesen, einige freigesprochen<br />

und einige nur entlassen, aber nicht entlastet. Ihr<br />

Fall lag noch bei der Berufungsinstanz. Diese waren keine<br />

Bittsteller, noch weniger Klagende, obwohl in ihren<br />

anklagenden Reden Bitterkeit mitschwang. Nur wenige<br />

Monate zuvor hatte es sechshundert jüdische Familien<br />

in Przytyk gegeben, die so lebten, wie jüdische Familien<br />

eben größtenteils in kleineren polnischen Städten<br />

lebten; d. h., sie lebten in einigermaßen annehmbarer<br />

Armut. Es kam ein Tag, an dem diese Menschen fühlten,<br />

175 · Kap. XVI der Autobiographie „Challenging Years, Putnam’s Sons“,<br />

Newyork 1949; aus dem Englischen von Karl-Heinz Kuhlmann<br />

176 PRZYTYK, Stadt in Mittelpolen nahe Radom. 1936 waren 90 %<br />

ihrer 3000 Einwohner Juden. Przytyk wurde bekannt durch das<br />

Pogrom von 1936. Dieses wurde von der *Endecja party, deren<br />

Führer der Antisemit Roman Dmowski war, getragen. Drei Juden<br />

wurden getötet, 60 verwundet. Der von den Juden organisierten<br />

Selbstverteidigung fi el 1 Pole zum Opfer. Der betreff ende Jude<br />

wurde schuldig gesprochen und hart bestraft. Das führte zu<br />

landesweiten Protesten der Juden.<br />

daß, aus der allgemein wachsenden jüdischen Unruhe<br />

im Lande heraus, sie angegriffen werden würden. Ein<br />

Mitglied der Gruppe sagte mit Feuer in seiner Stimme<br />

und natürlich auf jiddisch: „Sie dachten, daß sie mit uns<br />

Juden alles machen könnten und daß wir Juden wie<br />

Lämmer unter der Hand eines Schlachters ohne Widerstand<br />

sterben würden. Aber wir leisteten Widerstand,<br />

und einer von ihnen (also ein Pole), der losstürmte, um<br />

unsere Frauen und Kinder zu ermorden, fi el.“<br />

Sie erzählten von der unglaublichen Ungerechtigkeit<br />

eines quasigerichtlichen Verfahrens, das die Pogrommacher<br />

freisprach und die jüdischen Verteidiger ihrer<br />

Gemeinde zu Gefängnisstrafen verurteilte. Einer nach<br />

dem anderen sprach mit leidenschaftlicher Anspannung,<br />

wobei ihre Hauptforderung war, irgendwie eine<br />

Milderung der über ihre Verwandten verhängten ungerechten<br />

Strafen zu erreichen. Einer sprach besonders für<br />

seinen sehr jungen Bruder, der schwer bestraft worden<br />

war. Sie bekannten ihr Verbrechen der Selbstverteidigung,<br />

einer Selbstverteidigung, die durch einen wilden<br />

und mörderischen Angriff provoziert worden war. Sie<br />

baten um mehr. Und die Führer der zionistischen Partei,<br />

die mit mir dort saßen, waren nicht weniger tief bewegt<br />

als ich. Der zentrale Punkt ihrer Petition lautete:<br />

Wir wollen keinen Gewinn aus unserem Unglück<br />

schlagen. Wie sind nicht gleich den Juden,<br />

die über Palästina erst dann nachdenken, wenn<br />

ihnen mit Vernichtung und Heimatlosigkeit<br />

gedroht wird. Wir waren und wir sind, alle von<br />

uns, Zionisten. Wir wissen, daß die noch unge-<br />

3. Teil Geschichte<br />

69


3. Teil Geschichte<br />

70<br />

fähr fünfhundert Familien unserer Gemeinde<br />

nicht nach Palästina gebracht werden können.<br />

Wir verdienen es nicht mehr als andere, und<br />

wir verstehen, daß, wenn es für alle (Ausreise-)<br />

Bescheinigungen geben würde, dann wäre alles,<br />

was die Polen zu tun brauchen würden, um ihre<br />

Juden loszuwerden, Pogrome in allen Städten<br />

und Dörfern zu beginnen. Wir wissen, daß wir<br />

bleiben müssen, wo wir sind, obwohl wir nicht<br />

wissen, wie wir über den Winter kommen sollen.<br />

Die Polizei tritt schon den Bauern entgegen, die,<br />

wenn sie könnten, den Hungrigen unter uns Essen<br />

bringen würden.<br />

„Aber“ – und hier lag das Herz ihres Hilferufes – „wir<br />

sind keine Zwangsjuden, wie einige andere Juden“, und<br />

sie bezeichneten sie nach den Wohngebieten. „Wenn wir<br />

in Palästina leben würden, dann würden wir uns selbst<br />

verteidigen. Wir sind bereit, für das jüdische Land zu<br />

sterben und für die jüdische Ehre zu leiden. Laßt einige<br />

von uns gehen.“ Dann nannten sie eine Zahl und sofort<br />

nannte ein anderer eine geringere Zahl. „Wenn auch nur<br />

so wenige“ – und es wurde eine höchst bescheidene<br />

Zahl genannt –, „wir fühlen, daß unser Leben uns nicht<br />

so viel gilt, und wenn wir sterben, dann wird es für das<br />

Land ISRAEL sein.“<br />

Mit tränenerstickter Stimme fragte ich: „Wie lange<br />

habt ihr in Przytyk gelebt?“ Schnell kam die Antwort: „Es<br />

gibt Steine auf unserem Friedhof, die sind sechshundert<br />

Jahre alt.“ Zwei Dinge waren klar: Erstens die tragische<br />

Demut der Juden, die ihre Geschichte von Jahrhunderten<br />

nach Grabsteinen datierten. Und zweitens: Diese<br />

moralische Größe, welche, mit der Geduld ihres ewigen<br />

Glaubens, „Ich werde nicht sterben, sondern leben“, die<br />

Werke Gottes wieder in seinem Land zu erzählen plant.<br />

Während ich in Warschau war, entdeckte ich, daß es die<br />

Anfänge einer Selbstverteidigungsbewegung, natürlich<br />

im Untergrund, gab. Und das Schönste von allem war,<br />

daß sie ein Zweig der palästinensischen Selbstverteidigung<br />

war. Diese Anfänge der Selbstverteidigung waren<br />

dazu bestimmt, mächtige und ruhmreiche Konsequenzen<br />

in der jüdischen Partisanenbewegung Polens zu<br />

haben, die dann ihren Höhepunkt in der Tragödie und<br />

dem Ruhm der Zerstörung Warschaus fanden. Die<br />

Verteidiger Warschaus, die gegen die nationalsozialistische<br />

Übermacht standen, haben ihren Platz neben<br />

den makkabäischen Verteidigern Judäas und nahmen<br />

die heroischen Leistungen der palästinensischen Hagana<br />

177 vorweg.<br />

Ich muß noch vom tiefsten Eindruck, den die Juden<br />

Polens auf mich machten, erzählen. Zum ersten Mal sah<br />

ich selbst etwas von der sagenhaften Frömmigkeit und<br />

der unsäglichen Armut der meisten Juden. Ich hatte ja<br />

177 Die Hagana war eine zionistische paramilitärische Untergrundorganisation<br />

während der britischen Besatzung Palästinas<br />

(1920–48).<br />

schon viele schmerzliche Einblicke in das New Yorker<br />

Ghetto vierzig bis fünfzig Jahre zuvor, als die Lebensumstände<br />

am niedrigsten waren. Ich habe etwas gesehen<br />

von den überfüllten, von Armut geplagten Ghettos in<br />

den großen Städten anderer Länder. Aber nichts, das ich<br />

vorher gesehen oder gewußt hatte, warf ein Licht auf<br />

das Leben in Warschau und ihre ärmsten Bewohner. Ich<br />

ging tiefer hinein, und man zeigte mir Kellerwohnungen,<br />

die unvorstellbar dunkelsten unterirdischen Löcher.<br />

Viele von diesen waren von großen Familien bewohnt<br />

und manchmal auch von zwei Familiengruppen, die sie<br />

tags- und nachtsüber wechselnd belegten. Indem ich<br />

meine Fragen so schüchtern wie nur möglich stellte,<br />

erfuhr ich, daß manche dieser Familien von fünfzehn<br />

bis zwanzig Zloty in der Woche lebten, was drei bis vier<br />

Dollar entspricht.<br />

Vielleicht sollte ich mich schämen, die Geschichte<br />

von einem elenden, hungrig aussehenden Familienoberhaupt,<br />

dem ich mich zuwandte, zu erzählen. Ich<br />

fragte ihn: „Wie kann man mit so wenig auskommen?“<br />

Schnell wie ein Blitz und so zuversichtlich kam die Antwort<br />

auf Jiddisch: „Gott wird schon helfen.“ Keine Klage,<br />

kein Jammern, keine Bitterkeit! Allein die Aussage eines<br />

unerschütterlichen Glaubens: Gott wird schon helfen.<br />

Das war nicht die Resignation einer dumpfen Frömmigkeit.<br />

Sie verkörperte den vollen und unerschütterlichen<br />

Glauben wie auch die Annahme der fürchterlichsten<br />

Trübsale des Körper und des Geistes als Ausdruck des<br />

göttlichen Willens und Zieles. Ich fühlte, daß ich auf<br />

die Verkörperung des Geistes der Frömmigkeit des<br />

Judentums gestoßen war, auf die Frömmigkeit eines<br />

nicht klagenden Märtyrertums, die Annahme eines<br />

solchen Märtyrertums als einer Phase des Lebenskampfes.<br />

Wie blaß und dünn und blutleer und veräußerlicht<br />

erscheint dagegen das religiöse Leben der Habenden,<br />

der Besitzenden, die ich alle in meinen Tagen kennengelernt<br />

habe.<br />

Ich werde nie aufhören, demütig dankbar zu sein<br />

für die Off enbarung, die Polen, d. h., die das polnische<br />

Judentum mir von der Innerlichkeit des jüdischen<br />

Glaubens und Lebens gewährt hat. Ich füge das Leben<br />

hinzu, weil außer einigen wenigen abweichenden<br />

Assimilierten diese polnischen Juden eins waren in<br />

ihrem Elend, in ihrem Leiden, in ihrem Heroismus, im<br />

Reichtum und Adel ihres Glaubens. Indem ich einen<br />

Blick davon erhalten habe, war ich nicht überrascht<br />

von der Verteidigung dieser Stadt Jahre später, tapfer<br />

und wundersam verlängert. Auch nicht vom Mut der<br />

nur halbbewaff neten jüdischen Partisanen gegen die<br />

stolzesten Armeen Europas! Mein Besuch in Polen<br />

war mehr als eine schicksalhafte Episode. Er war einer<br />

meiner mich am meisten bereichernden Erfahrungen<br />

aller meiner Tage.<br />

*


Jüdische Bevölkerung in Europa: Der französische<br />

Botschafter am Zarenhof während des 1. WK, Maurice<br />

Paleologue, beklagt in seinem Tagebuch die schweren<br />

Rechtsverletzungen gegenüber Juden im Zarenreich,<br />

insbesondere in Polen. Der russische Antisemitismus sei,<br />

wie er dem Zaren mehrfach darlegt, ein Haupthindernis<br />

für die USA, an der Seite Rußlands in den Krieg gegen<br />

<strong>Deutschland</strong> einzutreten. Zur Zahl der Juden vermerkt<br />

er am 5. September 1916:<br />

Die Gesamtzahl der über die ganze Erde verteilten<br />

Israeliten wird auf 12,5 Mio. geschätzt,<br />

davon 5,3 Mio. in Rußland. Und 2,2 Mio. in den<br />

Vereinigten Staaten. Mit Ausnahme dieser zwei<br />

Länder befi nden sich die größten Ansammlungen<br />

von Juden in Österreich-Ungarn (2,25 Mio.), in<br />

<strong>Deutschland</strong> (615.000), in der Türkei (485.000),<br />

in England (445.000), in Frankreich (345.000), in<br />

Rumänien (260.000) und in Holland (115.000).<br />

Von den genannten 5,3 Mio. Juden im Zarenreich<br />

lebte offenbar der größere Teil im späteren Polen.<br />

Großer Brockhaus 1970 Juden unter Bezug auf Yewish<br />

Yearbook 1929 nennt für damaliges Polen 3,5 Mio. und<br />

die Sowjetunion 2,7 Mio. Juden. Für etwa dasselbe<br />

Gebiet nennt der Der Neue Brockhaus (2. Aufl . Leipzig,<br />

1941) (Stichwort: Juden) etwa dieselben Zahlen.<br />

*<br />

3. Teil Geschichte<br />

71


3. Teil Geschichte<br />

72<br />

Alles, was du siehst, wird äußerst schnell vergehen,<br />

und diejenigen, die zusehen, wie es vergeht, werden<br />

auch selbst sehr schnell vergehen. Und wer im höchsten<br />

Alter stirbt, wird in den gleichen Zustand versetzt wie<br />

derjenige, der früh stirbt.<br />

Marcus Aurelius , 9. Buch Nr. 33


Der mit der japanischen Besetzung Burmas (1942) beginnende burmesische Unabhängigkeitskrieg wurde von<br />

diversen Aufstandsgruppen geführt. England hatte sich bereiterklärt, Burma zu einem off engelassenen Zeitpunkt in<br />

die Unabhängigkeit zu entlassen. Diesen wollten die Aufständischen nicht abwarten. Aus dieser Zeit stammt der folgende<br />

Bericht. Die von England praktizierte Hinrichtung durch den Strang ist wohl eine der am wenigsten grausamen.<br />

Der folgende Bericht berührt daher nicht durch die Grausamkeit des Geschehens, sondern fast noch mehr durch die<br />

nüchterne Klarheit des Hinrichtungsvorganges.<br />

Eine Hinrichtung – A Hanging<br />

Geschichte<br />

von<br />

Teil<br />

A. E. Blair (alias George Orwell) 3.<br />

Es war in Burma. Ein schmutziger Morgen der Regenzeit.<br />

Fiebriges Licht, wie gelbes Wellblech, ragte über<br />

die hohen Mauern in den Gefängnishof. Wir warten<br />

vor den Todeszellen, Verschläge in einer Reihe, vorne<br />

mit doppelten Balken, wie kleine Tierkäfi ge. Jede dieser<br />

Zellen maß etwa 10 x 10 Fuß und war völlig leer, bis auf<br />

eine Pritsche und einen Krug für Trinkwasser. In einigen<br />

saßen braune Männer, wortlos ans Gitter gedrängt, die<br />

Decken um ihren Leib geschlagen. Das waren die Verurteilten,<br />

die in der nächsten Woche oder so gehängt<br />

werden sollten.<br />

Ein Gefangener war aus seiner Zelle herausgebracht<br />

worden. Ein Hindu. Ein zierliches Männchen, mit geschorenem<br />

Kopf und glasigem, wäßrigem Blick. Er hatte<br />

einen dichten, starkwüchsigen Schurrbart, geradezu<br />

unsinnig groß bei seiner Statur, ein Schurrbart fast wie<br />

bei den Witzfi guren im Film. Sechs stämmige indische<br />

Wärter führten ihn und machten ihn galgenfertig. Zwei<br />

standen etwas abseits mit Gewehren und aufgesetzten<br />

Bajonetten. Die anderen legten ihm Handschellen an<br />

und zogen durch diese eine Kette, die sie an ihrem eigenen<br />

Gürtel befestigten. Seine Arme wurden an seinem<br />

Leib festgezurrt. Die Wärter blieben nah um ihn, sie<br />

hielten ihn sorgsam, fast liebevoll fest, so als wollten sie<br />

immer sicher sein, ob er auch noch da sei. So wie man<br />

einen Fisch hält, der noch lebt und vielleicht wieder<br />

ins Wasser springt. Er aber stand ohne Widerstand da,<br />

streckte seine Arme zur Fesselung entgegen, so als ob<br />

er kaum merkte, was geschah.<br />

Es schlug 8 Uhr, und von den entfernten Unterkünften<br />

tönte der Weckruf kläglich durch die feuchte Luft.<br />

Der Gefängnisleiter, etwas abseits von uns, rührte sinnierend<br />

mit seinem Stock im Sand herum, und hob bei<br />

dem Ton den Kopf. Er war ein Armeearzt, hatte einen<br />

grauen, bürstenartigen Schnauzbart und eine schnarrige<br />

Stimme: Mein Gott, Francis, nun mach mal zu – rief<br />

er ungehalten. Der Mann sollte eigentlich jetzt schon tot<br />

sein. Seid ihr immer noch nicht fertig?<br />

Francis, der Oberaufseher, ein fetter Drawide, also<br />

kein Hindu, in weißer Uniform und mit Goldbrille hob<br />

seine dunkle Hand. Jawohl, Sir, sofort! brachte er hervor.<br />

Alles iss z` Zufriedenheit färtig! Der Henker wartet schon.<br />

Kann losgehn.<br />

Also Marsch, aber fl ott. Die Gefangenen kriegen kein<br />

Frühstück, bevor wir diese Sache nicht hinter uns haben.<br />

Wir machten uns auf den Weg zum Galgen. Zwei<br />

Wächter an jeder Seite des Gefangenen, ihre Gewehre<br />

im Anschlag; weitere zwei gingen eng aufgeschlossen<br />

hinter ihm und hielten ihn an Arm und Schultern, ihn<br />

zugleich schiebend wie haltend. Wir anderen, Offi zielle<br />

und so weiter, hinterher. Es waren etwa 30 m bis zum<br />

Galgen. Ich schaute auf den bloßen braunen Rücken des<br />

Gefangenen, der da vor mir ging. Mit seinen zusammengebundenen<br />

Armen bewegte er sich ungeschickt, aber<br />

doch zügig, mit dem geduckten Gang der Inder, die ja<br />

ihre Knie nie durchstrecken. Bei jedem Schritt glitten<br />

seine Muskeln voran. Die Haarlocke auf seinem Schädel<br />

hüpfte auf und ab, seine Fußspuren drückten sich in den<br />

nassen Sand. Und plötzlich, ungeachtet der Männer, die<br />

ihn an jeder Schulter hielten, trat er etwas zur Seite, um<br />

einer Pfütze im Wege auszuweichen.<br />

73


74<br />

Merkwürdig. Aber bis zu diesem Augenblick war<br />

mir gar nicht bewußt gewesen, was es bedeutet, einen<br />

gesunden, geistig klaren Menschen zu zerstören. Als<br />

ich den Gefangenen zur Seite treten sah, um der Pfütze<br />

auszuweichen, erkannte ich das Ungeheuerliche,<br />

die unsägliche Verkehrtheit, ein Leben abzuscheiden,<br />

welches in voller Kraft steht. Dieser Mann war nicht<br />

sterbenskrank, er war lebendig wie wir. Seine Organe<br />

arbeiteten – sein Gedärm verdaute die Nahrung, seine<br />

Haut erneuerte sich und seine Fingernägel wuchsen<br />

und bildeten sich neu aus – alles nur zum Zwecke dieser<br />

feierlichen Ungeheuerlichkeit. Seine Nägel würden<br />

noch wachsen, wenn er auf der Falltür steht, und auch<br />

dann noch, wenn er ins Freie fällt und nur noch eine<br />

Zehntelsekunde leben wird. Seine Augen sahen den<br />

gelben Sandboden, die grauen Gefängnismauern,<br />

und sein Hirn erinnerte sich, schaute voraus und wog<br />

vernünftig ab – wegen einer Pfütze. Er und wir waren<br />

gemeinsam Menschen, zusammen einen Weg gehend,<br />

sehend, hörend, fühlend, verstehend dieselbe Welt;<br />

und in zwei Minuten mit einem jähen Schlag würde<br />

einer von uns weg sein – ein Wesen weniger, eine Welt<br />

weniger.<br />

Der Galgen stand in einem kleinen Hof, abseits vom<br />

Hauptfeld des Gefängnisses, seine Mauern stark mit<br />

Gestrüpp überwachsen. Es war ein Ziegelbau, an drei<br />

Seiten umschlossen wie ein Stall, oben mit einem Gerüst<br />

und darüber zwei Balken mit einem Querbalken, von<br />

dem das Seil herabhing. Der Henker, ein grauhaariger<br />

Gefangener in der weißen Gefängnisuniform, wartete<br />

neben seiner Maschine. Er grüßte uns mit einer servilen,<br />

tiefen Verbeugung, als wir eintraten. Auf ein Wort<br />

von Francis griff en die beiden Wärter den Gefangenen<br />

noch fester und führten halb, halb schoben sie ihn zum<br />

Galgen und halfen ihm etwas ungeschickt auf die Leiter.<br />

Dann stieg der Henker hinauf und legte das Seil um das<br />

Genick des Gefangenen.<br />

Wir standen keine 3 Meter entfernt und warteten. Die<br />

Wärter hatten sich in einer Art Halbkreis um den Galgen<br />

aufgestellt. Und dann, als die Schlinge um seinen Hals<br />

gelegt war, begann der Gefangene seinen Gott anzurufen.<br />

Es war ein hoher, sich wiederholender Ton: Ram!<br />

Ram! Ram! Nicht drängend oder ängstlich wie ein Gebet<br />

um Hilfe, aber inständig und rhythmisch, fast wie das<br />

Schlagen einer Glocke. Der Hund antwortete darauf mit<br />

Gewinsel. Der Henker, oben auf dem Gerüst, zog einen<br />

Sack aus Baumwolle, so eine Art Mehlsack, hervor und<br />

stülpte ihn dem Gefangenen über den Kopf. Aber der<br />

Ton, nur gedämpft durch das Tuch, dauerte an. Immer<br />

und immer wieder: Ram! Ram! Ram! Ram! Ram!<br />

Der Henker stieg herab und stand bereit, die Hand<br />

am Hebel. Minuten schienen zu vergehen. Das ständige<br />

gedämpfte Rufen des Gefangenen hörte nicht auf.<br />

Ram! Ram! Ram! – keinen Augenblick nachlassend. Der<br />

Gefängnisleiter, den Kopf nach vorn geneigt, stocherte<br />

langsam mit seinem Stock im Boden. Vielleicht zählte<br />

er die Rufe und hatte dem Gefangenen eine bestimmte<br />

Anzahl zugestanden – fünfzig, oder vielleicht, hundert.<br />

Allen hatte sich die Gesichtsfarbe verfärbt. Die Inder<br />

waren grau geworden wie schlechter Kaff ee, und ein<br />

oder zwei der Bajonette begannen zu zittern. Wir<br />

schauten auf den gebundenen, verhüllten Mann auf<br />

der Falltür und hörten auf seine Rufe. Ein jeder Ruf eine<br />

Sekunde Lebens; wir dachten alle dasselbe – oh, tötet<br />

ihn schnell, bringt es hinter euch, macht ein Ende mit<br />

dieser gräßlichen Ruferei!<br />

Plötzlich raff te sich der Gefängnisleiter zusammen. Er<br />

warf den Kopf auf, machte eine raschen Zug mit seinem<br />

Stock: Chalo! rief er fast wütend.<br />

Da war ein krächzendes Geräusch, und dann Todesstille.<br />

Der Gefangene war nicht mehr, und das Seil drehte<br />

sich um sich selbst. Ich ließ den Hund laufen, und er<br />

rannte sofort auf die Rückseite des Galgens. Dort blieb<br />

er mit einem Ruck stehen, bellte und verzog sich unter<br />

das Gestrüpp in einer Ecke des Hofes. Er schaute uns<br />

furchterfüllt an. Wir gingen um den Galgen, um den<br />

Körper des Gefangenen zu untersuchen. Er hing da<br />

mit ausgestreckten Zehen, drehte sich sehr langsam,<br />

tot wie ein Stein.<br />

Übersetzung von M. A.<br />

*


Lust am Leiden anderer 3. Teil Geschichte<br />

Die beklemmendste Ausprägung menschlicher Niedrigkeit<br />

ist wohl, wenn wir mit Jubel und Schadenfreude,<br />

oder nur zur Unterhaltung, fremdes Leid genießen.<br />

Wir Menschen haben Lust am Leiden anderer. Es wird<br />

richtiger sein, uns zu dieser Erbsünde zu bekennen, als<br />

daß wir den Splitter im Auge des anderen sehen und herausziehen<br />

wollen (Matth. 7,3). Diese Sünde hindert uns,<br />

an unserer eigenen Besserung zu arbeiten. Vielleicht ist<br />

sogar die folgende Blütenlese aus Lesefrüchten auch<br />

nicht mehr als Voyeurismus. Hauptsächlich sollen diese<br />

und viele andere mögliche Beispiele aber doch zeigen,<br />

was wir Menschen einander antun, und wo wir ansetzen<br />

sollten, wenn wir das Gute wollen.<br />

M.A.<br />

Erhängen<br />

Aus Pepy`s Tagebuch, 13. Oktober 1660: Ich ging nach<br />

Charing Cross hinaus, um zu sehen, wie Gen.-Major<br />

Harrison gehängt, geschleift und gevierteilt würde. Das<br />

wurde da vollzogen. Er sah so fröhlich aus (cheerful), wie<br />

man in dieser Lage nur aussehen kann. Er war gerade<br />

(d. h. vom Galgen) abgeschnitten worden; sein Kopf<br />

und sein Herz wurden dem Volk gezeigt, worauf große<br />

Freudenrufe gehört wurden … So habe ich also gesehen,<br />

wie der König (d. h. Karl I.) in White Hall enthauptet<br />

wurde, und auch das erste Blut, welches in Vergeltung<br />

für den King in Charing Cross fl oß. 178<br />

*<br />

178 Thomas Harrison war Parteigänger von Oliver Cromwell gewesen<br />

und hatte für die Hinrichtung von König Karl I. (1649) gestimmt.<br />

Nach der Restauration wurden die führenden Köpfe der Cromwellzeit<br />

hingerichtet.<br />

21. Jan. 1663.: Machte mich, nachdem ich meine<br />

Frau zu ihrer Tante geschickt hatte, auf, um einen Platz<br />

zu ergattern, um Turners Hinrichtung zuzuschauen<br />

… Für einen Schilling bekam ich einen Stehplatz auf<br />

einem Wagenrad, wo ich sehr unbequem über eine<br />

Stunde stand, bevor die Hinrichtung vollzogen wurde.<br />

Er (= Turner) hat die Sache durch lange Ansprachen<br />

und Gebete, eines immer nach dem anderen, ziemlich<br />

hingezogen, in der Hoffnung auf Begnadigung. Die<br />

kam aber nicht; schließlich wurde er, so wie er war, von<br />

der Leiter gestoßen. Er war ein gutaussehender Mann<br />

und hielt sich bis zum Schluß gut. Es tat mir leid, ihn so<br />

zu sehen. Da waren wohl an die 12–14 000 Menschen<br />

auf der Straße.<br />

Enthaupten<br />

Aus Aegerter (La Vie de Saint Just, Gallimard – Paris<br />

1929): Um 5 Uhr nachmittags besteigt Saint Just den<br />

ersten Karren, großartig in seinem Gleichmut, in seinem<br />

blauen, aufgeknöpften Rock über dem weißen<br />

Vorhemd. Es sind 18 Verurteilte … zusammen mit Robespierre<br />

und seinen drei Kollegen gepfercht auf den<br />

Karren. Das Schafott war in Eile zum Platz der Revolution,<br />

nahe der Freiheitsstatue, geschafft worden, auf dasselbe<br />

Pfl aster, welches Ludwig XVI. und Danton betreten<br />

hatten. Eine unzählige Menge säumte die Straße. Frauen<br />

in Sommerkleidern stellten Blumen in die Fenster …<br />

geschminkte Mädchen applaudierten dem vorüberziehenden<br />

gespenstischen Zug … Die Karren kamen<br />

langsam vorwärts. Der infame Carrier, der Mann der<br />

Massenertränkungen in Nantes, der sich nun gerettet<br />

75


3. Teil Geschichte<br />

76<br />

glaubte 179 , tanzte vor Freude und jubelte: A mort – aufs<br />

Schafott mit ihnen! ... Frauen tanzten wie die Furien um<br />

die zum Tode Geführten … Ungeheurer, frenetischer<br />

Beifall begrüßte jeden abgeschlagenen Kopf. Jählings<br />

befi el die Riesenmenge ein Schweigen. Saint Just stieg<br />

die Stufen empor…mit einer roten Blume im Knopfl och.<br />

Er starb ohne ein Wort zu sagen. Die Henkerknechte<br />

schoben ihn, das Beil fi el. Er hat vor dem Tode nicht<br />

gezittert, und der Henker zeigte der schweigenden<br />

Menge ein blasses Haupt mit weit geöffneten Augen<br />

… Die Revolution war vorbei.<br />

Rädern und Vierteilen<br />

Aus Hermann Kurz, Der Sonnenwirt: Mein Vater …<br />

ist zu Alpirsbach auf dem Schwarzwald gerädert worden,<br />

und ich hab als ein zwölfjähriger Bube hart dabei<br />

zusehen müssen … In meinem ganzen Leben vergess’<br />

ich’s nicht … Ich übe mein Gedächtnis, daß es mir die<br />

Stöße des schweren, mit Blei ausgefüllten Rades und<br />

das Krachen der Glieder immer wieder als gegenwärtig<br />

vorstellen muß: erst den rechten Fuß und den linken<br />

Vorderarm, dann den linken Fuß und den rechten Vorderarm,<br />

dann den rechten Schenkel und den linken<br />

Oberarm, dann den linken Schenkel und den rechten<br />

Oberarm, und endlich, wenn sie’s leidlich machen, den<br />

Gnadenstoß auf die Brust. Meinem Vater ist’s nicht so gut<br />

geworden: lebendig haben sie ihn aufs Rad gefl ochten,<br />

stundenlang ächzen und stöhnen lassen in der gräulichen<br />

Marter, bis sie ihm endlich den Kopf abgeschnitten<br />

und auf den Pfahl gesteckt haben. Und dabei haben die<br />

Pfaffen immerfort in ihn hinein geschrieen und ihm ihre<br />

Kreuze unter die Nase gestoßen. Das halt ich mir täglich<br />

vor, damit mich kein dummes Mitleid übermannt …<br />

179 Er wurde am 16. Dezember 1794 guillotiniert.<br />

Verbrennen<br />

Aus: Ulrich von Riechental Chronik des Konzils von<br />

Konstanz 1414–18: In dreifachem Verhör wurde Hus<br />

zum Widerruf aufgefordert. Hus blieb fest. Nach dem<br />

letzten Verhör am 8. Juli 1415 wurde er verurteilt und<br />

sofort verbrannt. (Der Vogt) rief die Ratsknechte und<br />

den Henker herbei, damit sie ihn hinausführten, um<br />

ihn zu verbrennen … Er trug eine weiße Bischofsmütze<br />

auf seinem Kopf, auf der waren zwei Teufel gemalt, und<br />

zwischen beiden stand, Heresiarcha, das heißt soviel wie<br />

Erzbischof aller Ketzer … (Hus will beichten) … Als er<br />

daraufhin anfangen wollte, deutsch zu predigen, wollte<br />

das Herzog Ludwig nicht leiden und befahl, ihn zu<br />

verbrennen. Da ergriff ihn der Henker und band ihn in<br />

seinem Gewand an einen Pfahl. Er stellte ihn auf einen<br />

Schemel. Legte Holz und Stroh um ihn herum, schüttete<br />

etwas Pech hinein und brannte es an. Da begann er<br />

gewaltig zu schreien und war bald verbrannt … Man<br />

führte alles, was man von der Asche fand, in den Rhein.<br />

Öffentliche Hinrichtung: Die letzte öffentliche<br />

Hinrichtung fand 1937 in Missouri/USA vor rd. 20 0000<br />

Zuschauern statt.<br />

*


4. Teil Grundwerte<br />

Die öff entliche Aufregung um die Thesen von Th. Sarrazin hat die Aufmerksamkeit auf ein Thema gelenkt, dem<br />

alle, Regierung und Bürger, seit Jahren ängstlich ausweichen. Man will nicht sehen, was auf uns nicht zukommt,<br />

sondern zurast. Es ist, als ob die westeuropäischen Staaten auf eine Art Wunder hoff ten, mit welchem das Problem<br />

der schleichenden Selbstaufgabe jählings gelöst wäre.<br />

Die unaufhaltsame Islamisierung<br />

Europas180·<br />

von<br />

M. Aden<br />

1. Ausgangspunkt<br />

Das Christentum eroberte das Römische Reich in<br />

dergleichen Geschwindigkeit wie heute der Islam<br />

<strong>Deutschland</strong> und Westeuropa. Beide Prozesse weisen<br />

große Ähnlichkeiten auf. Das aggressive Christentum<br />

fraß sich mit derselben Sturheit durch die Institutionen<br />

des Reiches, mit der sich auch der Islam, offenbar nicht<br />

weniger schnell, in die höheren Lagen des Staates<br />

durcharbeitet. Die von den antiken Christen oft nur<br />

vorgetäuschte Verfolgungssituation 181 schuf ihnen<br />

ein Anspruchsklima, in welchem, und zwar auf stetig<br />

steigendem Niveau, Gleichberechtigung eingefordert<br />

wurde. Anfangs verlangte man nur Toleranz; dann Teilhabe<br />

an den staatlichen Ämtern, dann diese überhaupt.<br />

Die in den meisten Fällen wohl nicht wirkliche Bedrohungslage<br />

der Christen schweißte diese zusammen und<br />

ließ Netzwerke und Einfl ußzonen entstehen, zu denen<br />

Nichtchristen keinen Zugang mehr hatten.<br />

Es ist anzunehmen, daß auch bei uns Netzwerke im<br />

Aufbau sind, die sich aus einer gefühlten oder vorgegebenen<br />

Verfolgungssituation speisen. Die im heutigen<br />

<strong>Deutschland</strong> und Westeuropa von islamischer Seite erhobenen<br />

Diskriminierungsvorwürfe halten nicht immer<br />

der näheren Überprüfung stand. Sie werden aber, wo sie<br />

doch einmal wahr sind, mit großem medialem Lärm aufbereitet,<br />

oder es wird, wie im Falle Sarrazin (September<br />

180 · Zum Thema: Aden, M., Christlicher Glaube – Kommentar zum<br />

christlichen Glaubensbekenntnis, www.dresaden.de unter D.<br />

181 v. Harnack, Die Mission und die Ausbreitung des Christentums,<br />

Nachdruck der Ausgabe von 1924, S. 508: Die Christen konnten sich<br />

dauernd als verfolgte Herde fühlen, und waren es doch in der Regel<br />

nicht; sie konnten sich in Gedanken alle die Tugenden des Heroismus<br />

zubilligen und wurden doch selten auf die Probe gestellt.<br />

<strong>2010</strong>), aus unglücklichen Formulierungen eine Diskriminierungsgesinnung<br />

der Noch-Mehrheit herausgelesen,<br />

deren Instrumentalisierung durch die Noch-Minderheit<br />

zu einem neuen Gleichberechtigungsschub führt. In der<br />

Antike endete die Toleranz des Heidentums gegenüber<br />

dem Christentum in bestürzend kurzer Zeit mit dem<br />

brutal durchgesetzten Verbot des Heidentums durch<br />

das siegreiche Christentum, obwohl die heidnische Religion<br />

immer noch die der Mehrheit der Reichsbewohner<br />

war. Das sei zur Beherzigung kurz dargestellt. Vestigia<br />

terrent. Oder mit Worten der Bibel (Matthäus 11, 15): Wer<br />

Ohren hat, der höre!<br />

2. Indifferenz des Bürgertums<br />

Im Frühjahr <strong>2010</strong> erschütterten Anklagen wegen<br />

sexueller Mißbräuche die katholische Kirche. Diese<br />

waren im Grundsatz leider oft berechtigt. Mehr als<br />

diese Vorfälle selbst mußte aber eigentlich auffallen die<br />

äußerst laue Solidarität anderer christlichen Kirchen mit<br />

ihrer katholischen Mutterkirche. Bestürzend geradezu<br />

waren die Lieblosigkeit, Häme, Hohn und Spott, womit<br />

unsere kulturtragenden Schichten, das Bürgertum,<br />

die ehrwürdigste Institution unseres Kulturkreises, die<br />

katholische Kirche, überschütteten und schmähten. Der<br />

christliche Glaube sagt den meisten nichts mehr. Noch<br />

ehrt der Staat den hergebrachten Kult. Parlamentseröffnungen<br />

und große Staatsakte werden mit ökumenisch<br />

genannten Gottesdiensten, die in Wahrheit ein Hybride<br />

aus verschiedenen Kultformen sind, eingeleitet, aber<br />

die Mehrheit der Teilnehmer sieht sich nur noch als<br />

Zuschauer einer nicht mehr verstandenen Zeremonie.<br />

4. Teil Grundwerte<br />

77


4. Teil Grundwerte<br />

78<br />

Der Glaube verdunstet und zieht sich in freikirchliche<br />

Gruppierungen und Konventikel zurück.<br />

Die kultur- und staatstragenden Schichten des spätantiken<br />

Kulturraumes, im wesentlichen identisch mit<br />

dem des Römischen Reiches um 250, das gebildete<br />

Bürgertum damals, waren der überkommenen antiken<br />

Religion ebenso entfremdet wie die bürgerlichen Kreise<br />

heute der christlichen Religion. Die staatlichen Kulte<br />

wurden weiter gefeiert und geachtet, aber sie trafen<br />

auf keinen Glauben mehr. Nach beendeter Kulthandlung<br />

schauten sich die Repräsentanten des Reiches<br />

ebenso selbstspöttisch an, wie heute die Parlamentarier<br />

nach beendetem „ökumenischen Gottesdienst“. Privat<br />

bildeten sich unter Mystagogen und Sektengründern<br />

Kleingruppen, die, wie es bei heutigen Sekten geschieht,<br />

Elemente der heidnischen und anderer Religionen<br />

zu oft sehr kurzlebigen neuen Formen mischten. Um<br />

250 waren die traditionellen Formen des Götterkultes<br />

Gegenstand der allgemeinen Mißachtung oft auch<br />

Verachtung geworden. Statt vieler sei auf Lukian (3. Jh.)<br />

verwiesen. Seine Göttergespräche zerreißen mit Hohn<br />

und Spott die etwa noch verbliebene Glaubensbereitschaft<br />

seiner Zeitgenossen. 182 Ganz ähnlich spricht eine<br />

zunehmende Anzahl unserer Bildungseliten heute über<br />

die Kirche, freilich, kulturell bedingt, in heutigen Formen<br />

und Bildern. Wenn sie diese überhaupt noch wahrnimmt.<br />

Auch Lukian hatte recht. Aber es scheint ihm nur<br />

um die eigenen Geistreicheleien zu gehen, nicht um<br />

die Sache selbst. So wenig wie unsere bürgerlichen<br />

„Eliten“ heute sahen er und seine Gesinnungsgenossen<br />

Veranlassung, das Erbe der Väter ggfs. durch Umformung<br />

zu verteidigen und zukunftsfähig zu machen.<br />

Das vordringende Christentum nahm man nur am<br />

Rande wahr. Lukian kennt das zu seiner Zeit schon<br />

ziemlich verbreitete Christentum, die Sekte der Galiläer,<br />

anscheinend überhaupt nicht. Die der hergebrachten<br />

Kultur daraus drohende Gefahr wurde nicht gesehen<br />

oder dadurch heruntergespielt, daß man die Christen<br />

zu kulturlosen Exoten erklärte. Diesen Weg scheinen<br />

auch wir heute in bezug auf den Islam zu gehen. Als<br />

exotische Erscheinung blieb dieser bis vor kurzem unterhalb<br />

der Wahrnehmungsschwelle: Seine aus unserer<br />

Sicht manchmal merkwürdigen Gebräuche erzeugten<br />

Kopfschütteln – und Wegschauen. Der (freilich fern<br />

der „besseren“ Wohnlagen sich vollziehende) Bevölkerungsaustausch<br />

in ganzen Stadtbezirken wird kaum,<br />

die allmähliche religiöse oder kulturelle Überfremdung<br />

immer noch nicht wahrgenommen. Erst der Bau größerer<br />

Moscheen weckte weitere Kreise auf. Ob freilich zu<br />

religiösem Eifer, stehe dahin. In der Antike endete diese<br />

Haltung mit dem Untergang der alten Religion und dem<br />

Ende des sie tragenden Staates eine Generation später.<br />

Für die christliche Religion ist ein ähnliches Ende zu<br />

befürchten, was dann auch die Frage nach der Zukunft<br />

unseres Staates eröffnet.<br />

182 Lukian, Sämtliche Werke – Übersetzt von Christoph Martin Wieland,<br />

Hrg. H. Floerke, 1911. Vielleicht kann man Lukian in seiner<br />

Kritik der heidnischen „Theologie“ mit David Friedrich Strauß<br />

vergleichen und der von ihm angestoßenen radikalen Kritik.<br />

3. Kampf gegen die neue Religion<br />

Der staatliche Widerstand gegen das Vordringen<br />

der Christen setzte in Rom erst spät ein. Schon Gibbon<br />

legt dar, daß die Kirche die Verfolgungen, denen ihre<br />

Religion bis zum endlichen Sieg ausgesetzt gewesen<br />

war, sehr übertrieben habe. Noch die heutige Kirche<br />

rühmt sich dieser Verfolgungen. Tatsächlich waren die<br />

Christenverfolgungen im Römischen Reich bis etwa<br />

um 250 nicht allzu schlimm. Christen aus dem mittleren<br />

Bürgerstand blieben im ganzen unbehelligt. Die Zahl der<br />

Märtyrer war klein und leicht zu zählen. 183 Erst zwischen<br />

249 und 258 kommt es zu ernst gemeinten und strategisch<br />

geplanten Verfolgungen unter den Kaisern Decius<br />

und Valerian. Dann ging 303 unter Diokletian (284–305)<br />

noch einmal eine heftige Verfolgungswelle über das<br />

Reich. Das war es dann auch schon. Auch die Gebildeten<br />

befaßten sich erst spät mit der Sekte der Galiläer, wie<br />

sie zumeist noch hieß. Celsus (Ende 2. Jhdt.) wollte sie<br />

geistig überwinden. Er ist nur indirekt bekannt durch<br />

die Gegenschrift des Origines. Der ernsthafteste und<br />

intellektuell redlichste Kämpfer gegen die neue Religion<br />

war Porphyrios (234 bis ca. 300). 184 Aber v. Harnack stellt<br />

fest: (Zwar ist) Porphyrios auch heute noch nicht widerlegt<br />

… Aber die Religion der Kirche war schon Weltreligion<br />

geworden; solche Weltreligionen vermag kein Professor<br />

mit Erfolg zu bekämpfen.<br />

Es zeigt sich also, daß Staat und staatstragende<br />

Schichten die schleichende Umwertung ihrer Religion<br />

und Kultur anfangs gar nicht zur Kenntnis nahmen oder<br />

nehmen wollten. Als man sich endlich zur Gegenwehr<br />

aufraffte, war die Entscheidung, ohne daß es noch<br />

jemand wußte, zugunsten des Christentums schon<br />

gefallen.<br />

4. Kampf für die alte Religion: Antike<br />

Einer Neuerung kann auch dadurch entgegengetreten<br />

werden, daß man das gefährdete Alte stärkt.<br />

Das ist gewiß eine edlere Form des Widerstandes als<br />

blutige Verfolgungen auszurufen oder in unseren Tagen<br />

mit Aufmärschen gegen den Bau von Moscheen<br />

zu polemisieren, welche, wenn wir ehrlich sind, nicht<br />

schlechter in unsere Städtebilder passen als in Berlin<br />

die Große Synagoge oder auch der Dom. 185 Diesen<br />

Weg ging ein Schüler des Porphyrios, Jamblichos (ca.<br />

250–330). Nicht Bekämpfung der neuen christlichen<br />

Religion war sein Ziel, sondern eine Neubestimmung<br />

der von uns „heidnisch“ genannten antiken Religion. 186<br />

Jamblichos gab nicht nur dem griechischen Glauben eine<br />

neue theoretische Begründung … er schuf auch eine ver-<br />

183 v. Harnack , FN 1, S. 504<br />

184 Vgl. die ausführliche Würdigung durch v. Harnack, a. a. O., S. 520f.<br />

185 Hierzu vgl. www.dresaden.de E 1 Nr. 195<br />

186 Jamblich – Pythagoras,Wbg. 2002, Reihe SAPERE; Vgl. Dillon,<br />

John, S. 295 f.: Vita Pythagorica – ein Evangelium, ähnlich dem<br />

des Johannes.


tiefte religiöse Praxis dadurch, daß er durch Gebet, Opfer,<br />

Kultus … verinnerlichte und sie als symbolischen Ausdruck<br />

seelischer Vorgänge betrachtete. 187 Das zeigt neben anderen<br />

Schriften dieses Mannes seine Vita Pythagorica,<br />

das Leben des Pythagoras. Diese wurde wie schon seine<br />

Schrift über Plotin in unseren Tagen ein antichristliches<br />

Evangelium genannt. Dillon nennt die Vita Pythagorica<br />

ein Evangelium nach Art des Johannesevangeliums,<br />

in welchem der Anspruch des Pythagoras bzw. seiner<br />

Schüler unterstrichen werde, ein griechisch-heidnisches<br />

Gegengewicht zu Jesus, eigentlich sogar sein Vorbild<br />

und Vorläufer, zu sein.<br />

Die auf Platon und letztlich Pythagoras (ca. 570–497)<br />

gestützte Religion der Spätantike 188 ist ein Beispiel für<br />

den geistigen Kampf. Auch Jamblichos lehrte in der<br />

Tradition des Pythagoras und Platon die Erlösung des<br />

Menschen. 189 Die komplizierten Lehrgebäude und<br />

schwierigen Praktiken der antiken Religionen oder<br />

Konfessionen stießen den nicht Eingeweihten zurück.<br />

Jamblichos schreibt in seinem Leben des Pythagoras<br />

(29,157): Von dem, was der menschlichen Erkenntnis<br />

überhaupt zugänglich ist, gibt es nichts, was in den Schriften<br />

des Pythagoras nicht erschöpfend dargelegt ist …<br />

Pythagoras war in allen zu Genüge in jeder Wissenschaft<br />

erfahren (ÜvV). Hieraus ergeben sich mystische Weiterungen<br />

merkwürdigster Art. Lehren mit immer feineren<br />

Vorschriften und eine Kosmologie, die dem Gläubigen<br />

am Ende zumutete, das Weltganze als Konstrukt aus<br />

183 Welten zu verstehen usw.<br />

Die von Jamblichos und ein wenig später von Kaiser<br />

Julian (362–365) und anderen unternommenen<br />

Versuche, die antike Religion geistlich aufzufrischen<br />

und wieder aufzurichten, waren ehrenwert, aber vergeblich.<br />

Was Pythagoras gelehrt haben mochte, oder<br />

was immer von den antiken Göttern zu erwarten war<br />

– all das war ebenso umgreifend in Christus als Person<br />

beschlossen (1. Kolosserbrief 1,16/17). Der Christ mußte<br />

keine besondere Lehren oder Sitten befolgen, sondern<br />

nur an Christus als den Erlöser glauben; vgl. Apg. 2,38.<br />

Das Christentum war einfacher und versprach ebenso<br />

viel, ja unendlich viel mehr, indem es gegen den Spott<br />

der Intellektuellen ganz kompromißlos die leibliche<br />

Auferstehung eines jeden im Glauben an Christus<br />

Verstorbenen predigte. Diese klare Einfachheit war<br />

vermutlich der entscheidende Wettbewerbsvorteil der<br />

neuen Religion gegenüber den Konkurrentinnen, welche,<br />

wie die Pythagoräer, statt leiblicher Auferstehung<br />

eine umständliche Reinkarnationslehre nach Art des<br />

Buddhismus lehrten.<br />

187 RGG 2. Aufl . 1929 Jamblichos<br />

188 Zu dieser „hellenistischen Mischreligion“ vgl. Aden, Apostolisches<br />

Gaubensbekenntnis, www.dresaden.de S. 81<br />

189 Lurje, M in Jamblich FN 4, S. 225: Philosophie des Pythagoras als<br />

Erlösungslehre.<br />

5. Kampf für die alte Religion: heute<br />

Die Aufgabe der christlichen Religion in allen ihren<br />

Ausprägungen wäre es heute, sich dem Islam geistlich<br />

und theologisch zu stellen und neuen Glauben zu<br />

entfachen.<br />

Als im 7. Jahrhundert der Islam auftrat, war das<br />

Christentum zu einer lehrhaft verfestigten Schrift- und<br />

Gelehrtenreligion geworden. Seither trifft der Wettbewerbsvorteil<br />

der Einfachheit auf den Islam zu. Heute ist<br />

es der Islam, der gegen den Spott der anderen kompromißlos<br />

die leibliche Auferstehung des Frommen in<br />

Aussicht stellt, während die christlichen Kirchen sich<br />

bei dieser Frage in wolkigen Ausfl üchten verlieren und<br />

in Wahrheit nicht mehr wissen, was sie dem frommen<br />

Christen jenseits des Grabes versprechen sollen. 190<br />

Gegenüber dem Islam hat das Christentum seit<br />

dessen Auftreten stets und ständig Anhänger verloren.<br />

Es ist umgekehrt bis heute niemals vorgekommen, daß<br />

das Christentum zu Lasten des Islam in größerer Zahl<br />

Anhänger gewinnen konnte. Die christliche Botschaft<br />

konnte sich in ihren Ursprungsländern im östlichen<br />

Mittelmeer nicht halten und verlor diese an den Islam,<br />

heute stößt sie auch in ihren europäischen Kernländern<br />

auf immer größere Verständnisschwierigkeiten. Sie ist<br />

von mythischen Bildern durchsetzt wie Erbsünde, Erlösung<br />

von Schuld, Opfer des Gerechten am Kreuz für<br />

die sündige Menschheit, leibhaftige Auferstehung von<br />

den Toten usw., welche selbst Kirchenobere kaum mehr<br />

verstehen. Der Islam ist dagegen ungeheuer einfach!<br />

Viel einfacher als das christliche Glaubensbekenntnis!<br />

Viele Deutsche sind Muslime geworden, weil sie das<br />

Christentum nicht verstehen.<br />

Es wäre aber billig, den Islam nur als einfach hinzustellen!<br />

Der Islam kann einen ungeheuren Reichtum<br />

entfalten. Christen müssen sich fragen, ob ihre Religion<br />

dieselben Höhen und Tiefen erschließt. Das Christentum<br />

steht in Gefahr, gegenüber dem Islam abzufallen. Es<br />

mutet dem Anfänger zu viel Gedankenarbeit zu und<br />

gibt dem fortgeschrittenen Suchenden zu wenig Raum<br />

für seelische Erhebung. Jeder Christ müßte dem zweiten<br />

Satzteil widersprechen. Der Verfasser nimmt ihn auch<br />

sofort zurück, freilich mit der Maßgabe: Das Christentum<br />

in seinen kirchlich verlautbarten Formen spricht die<br />

Herzen nur noch selten an. Wenn sich das nicht ändert,<br />

wird es dem Ansturm des Islam erliegen.<br />

6. Beschleunigung gesellschaftlicher<br />

Veränderungen<br />

Gesellschaftliche Veränderungen geschehen nicht<br />

plötzlich, sondern als dynamische Vorgänge in der Zeit.<br />

Sie benötigen vom Beginn bis zur allgemeinen Anerkennung<br />

einen gewissen Vollzugszeitraum. Die Dauer<br />

190 Aden , Apostolisches Glaubensbekenntnis, www.dresaden.de,<br />

S. 258 ff .<br />

4. Teil Grundwerte<br />

79


4. Teil Grundwerte<br />

80<br />

des Vollzugszeitraums ist von vielen, im einzelnen kaum<br />

benennbaren Umständen abhängig. Gesamtgeschichtlich<br />

kann aber ein Akzelerationsgesetz festgestellt<br />

werden, welches wohl hauptsächlich auf der ständigen<br />

Beschleunigung der Informationsübertragung beruht.<br />

Sucht man miteinander vergleichbare Neuerungen<br />

damals und heute auf und ermittelt den damals und<br />

heute erforderlichen Vollzugszeitraum, so ist er früher<br />

in der Regel deutlich länger als heute. Man könnte sogar<br />

versuchen, einen Akzelerationsfaktor zu errechnen, um<br />

welchen heutige Vollzugszeiträume schneller ablaufen<br />

als damals. Es soll aber hier keiner Mathematisierung<br />

geschichtlicher Verläufe das Wort geredet werden, welche<br />

in falscher Sicherheit Vorhersagen träfe. Wohl aber<br />

folgendes: Vergleichbare Vorgänge geschehen heute<br />

gegenüber der Antike in stark, vielleicht bis um das<br />

Zehnfache, verkürzten Vollzugszeiträumen. Das, was<br />

auf uns zukommt, wird also nicht in fernen Jahrzehnten<br />

geschehen, sondern wahrscheinlich bald. Wenn noch<br />

gehandelt werden soll, dann rasch!<br />

7. Vergleichende Chronologie<br />

Christentum damals/Islam heute<br />

Etwa um das Jahr 50 verschwindet der Völkerapostel<br />

Paulus. Seine Saat ging auf. Das Christentum begann,<br />

sich in der antiken Welt auszubreiten. Dieses Jahr kann<br />

man als Beginn der christlichen Religion ansetzen. Im<br />

Jahre 303 wurden Christen letztmalig verfolgt. Dann<br />

gelang ihm der Durchbruch zur praktisch herrschenden<br />

Religion (311: Toleranzedikt des Galerius). Um 400<br />

war die Sekte der Galiläer stark genug geworden, die<br />

Konkurrenzreligion verbieten zu lassen (392 Verbot der<br />

heidnischen Kulte). Der Zeitraum vom ersten Auftreten<br />

des Christentums bis zum Verbot der heidnischen Kulte<br />

durch das Christentum betrug ziemlich genau 350 Jahre.<br />

Für den heutigen westeuropäischen Christen stellt<br />

sich die Frage, wie lange es dauern wird, bis der Islam<br />

in Westeuropa in der Lage sein wird, die aus seiner Sicht<br />

heidnischen Kulte, also das Christentum, zu verbieten,<br />

wie er es in den Ländern seiner Dominanz heute tut.<br />

Alles kann nur Spekulation sein. Diese kann aber vielleicht<br />

doch wie folgt etwas eingegrenzt werden. Das<br />

vermutlich als Siegeszug endende Vordringen des<br />

Islam begann bei uns um 1970, als die ersten Türken<br />

kamen. Etwa ab 1990 begannen kritische Stimmen zu<br />

fragen, was denn angesichts der türkischen Einwanderung<br />

nach <strong>Deutschland</strong> eigentlich vor sich gehe. Ab<br />

etwa 2000 ist diese Stimmung in Westeuropa ziemlich<br />

allgemein geworden. Es kam zu ersten Widerstandshandlungen<br />

der Bevölkerung gegen Moscheebauten<br />

und Islamisierung. Wer will, kann diese Erscheinungen<br />

mit den Christenverfolgungen in Rom parallelisieren.<br />

Heute werden diese Gegenkräfte von den (noch<br />

christlichen) Behörden mit allem rechtlichen und<br />

ideologischen Aufwand unterdrückt. Die im April <strong>2010</strong><br />

durch einen CDU-Ministerpräsidenten vollzogene Er-<br />

nennung einer muslimischen Ministerin ist eindeutiges<br />

Zeichen dafür, daß die Anerkennung des Islam als dem<br />

Christentum gleichrangige Religion praktisch vollzogen<br />

ist. Derselbe Ministerpräsident hat, nun als Bundespräsident,<br />

den Islam als dem Christentum praktisch<br />

gleichrangige Religion in <strong>Deutschland</strong> bezeichnet. Die<br />

Diskussion um islamisch-theologische Fakultäten wird<br />

an unseren Universitäten erst seit etwa 2005 ernsthaft<br />

geführt. Im Oktober <strong>2010</strong> verlautete bereits, daß an drei<br />

Standorten solche Fakultäten eingerichtet werden sollen.<br />

Ausgerechnet Tübingen, eine der Hauptstätten der<br />

deutschen theologischen Wissenschaft, gehört dazu.<br />

Bei diesen wird es nicht bleiben. Die christlichen theologischen<br />

Fakultäten bluten mangels Studenten und des<br />

qualifi zierten wissenschaftlichen Nachwuchses immer<br />

mehr aus. In zehn bis fünfzehn Jahren werden diese<br />

weitgehend funktionslos geworden sein. Man wird –<br />

diese Voraussage sei gewagt – erst christlich-islamische<br />

Simultanfakultäten schaff en, die dann wegen des viel<br />

größeren Zulaufs von Imamschülern immer mehr zu<br />

muslimischen Fakultäten werden. Der Islam steht in<br />

<strong>Deutschland</strong> also heute dort, wo das Christentum 311<br />

mit dem Toleranzedikt des Galerius stand. Dafür brauchte<br />

die christliche Religion rund 250 Jahre; der Islam in<br />

<strong>Deutschland</strong> aber kaum 40 Jahre.<br />

8. Verbot des Christentums in<br />

Westeuropa?<br />

Es ist heute nicht mehr befremdlich, über ein Ende<br />

des Christentums in <strong>Deutschland</strong> und Westeuropa<br />

nachzudenken. Als noch nicht öff entlich gedacht, wird<br />

man aber den Gedanken zurückweisen, die christliche<br />

Religion werde einmal bei uns verboten werden. Absurd,<br />

darüber zu spekulieren, wann das der Fall sein<br />

könnte. Es sei hier doch gewagt: In 25 Jahren wird<br />

es keine christlich-theologischen Fakultäten mehr an<br />

unseren Hochschulen geben, wohl aber islamische.<br />

Das Christentum wird dann noch nicht durch Gesetz<br />

verboten sein, wohl aber derartig marginalisiert sein,<br />

daß es politisch unkorrekt sein wird, im öff entlichen<br />

Diskurs christliches Gedankengut zu zitieren.<br />

Das muß auf den unvorbereiteten Leser wie eine verstiegene<br />

Panikmache wirken. Aber die Geschichte hat<br />

keine Sympathie mit Verlierern. Im Weihnachtsgottesdienst<br />

im Breslauer Dom 1944 kam auch wohl niemand<br />

auf den Gedanken, daß dieses der letzte deutschsprachige<br />

Weihnachtsgottesdienst in dieser Kirche sei, und<br />

daß der Gebrauch der deutschen Sprache in dieser<br />

rein deutschen Stadt einmal verboten sein werde. Es<br />

geschah doch, und zwar ein halbes Jahr später.<br />

Das Christentum im späten Rom brauchte nach<br />

seiner förmlichen Gleichberechtigung im Jahre 311<br />

mit dem Heidentum weitere 80 Jahre, bis es den Spieß<br />

umdrehen und nun die heidnische Religion verfolgen<br />

und schließlich förmlich verbieten konnte (392: Widerruf<br />

des Toleranzediktes und Verbot der heidnischen Kulte).


Verteidigungsschriften zugunsten des Heidentums<br />

wurden öffentlich verbrannt, auch wenn sie von einem<br />

Kaiser stammten. 191 Setzt man einen Akzelerationsfaktor<br />

von etwa 6, dann entsprächen diesen 80 Jahren in der<br />

Antike heute etwa 15 Jahre. Der Islam wäre also etwa<br />

2025 stark genug, in <strong>Deutschland</strong> das zu tun, was er in<br />

den Ländern seiner bereits bestehenden Dominanz in<br />

oft sehr brutaler, sogar tödlicher Weise tut, nämlich die<br />

christliche Kirche und die Christen zu entrechten und<br />

zu verfolgen.<br />

Es wird hier nicht gesagt, daß es so kommen muß.<br />

Es wird auch nicht gesagt, daß irgend jemand im<br />

islamischen Bereich heute Gedanken hegt, wie hier<br />

beschrieben. Es wird freilich auch nicht gesagt, daß<br />

dieser Gedanke den führenden Muslimen fern liege.<br />

Muslime, die der Verfasser auf Reisen und auch hier<br />

kennengelernt hat, sind oft fromme Menschen. Viele<br />

von ihnen weisen den Gedanken zurück, bei uns eine<br />

religiöse Dominanz des Islam errichten zu wollen. Es<br />

sei ihnen geglaubt. Aber auch die christlich-frommen<br />

ersten Einwanderer nach Nordamerika, die Pilgerväter,<br />

dachten nicht entfernt daran, die ihnen freundlich<br />

entgegenkommende Urbevölkerung zu vernichten. Es<br />

geschah dann doch – irgendwie.<br />

Ergebnis<br />

Um 350 stand das Reich unter seinem jungen Kaiser<br />

Julian wieder einmal an allen Fronten siegreich da. Wer<br />

hätte denken können, daß das Palladium des Staates<br />

und seiner Macht, die Göttin Victoria, schon binnen<br />

einer Generation geschändet und entehrt sein würde?<br />

Mit Rührung und Mitgefühl verfolgen wir das Aufbäumen<br />

der alttreuen Anhänger der antiken Religion<br />

gegen die Unduldsamkeit der Christen. Die Tränen der<br />

Verzweifl ung, welche die letzte Vestalin über den an<br />

ihr begangenen Religionsfrevel der Christen vergoß,<br />

empfi nden wir noch. 192 Mit Beklemmung folgen wir<br />

Symmachus an den Kaiserhof, wo er 384 im Auftrage<br />

des römischen Senats Kaiser Gratian fl ehentlich bat, den<br />

Altar der Victoria wieder aufrichten zu dürfen. Symmachus<br />

legt dieser Göttin die beschwörenden Worte an<br />

den Kaiser in den Mund: Diese Religion hat die Welt unter<br />

meine Gesetze getan. Dieser Kult hat Hannibal von Rom<br />

und Kelten vom Kapitol vertrieben. 193 Umsonst. So kann<br />

es auch einmal den Kreuzen und Kruzifi xen in unseren<br />

Domen und Kathedralen ergehen! Und so ist es auch<br />

bereits passiert. Die älteste und ehrwürdigste Kirche<br />

der Christenheit, die Hagia Sophia in Konstantinopel<br />

ist seit 1453 ihrer christlichen Zeichen entkleidet und<br />

zur Moschee geworden. So wird es wohl kommen. Die<br />

meisten der heute lebenden Deutschen werden es noch<br />

191 Z. B. Kaiser Julians Schrift gegen die Galiläer<br />

192 Gregorovius, F., Geschichte der Stadt Rom, Buch 1. Nr. 2<br />

193 Gibbon, E. History of the Decline and Fall of the Roman Empire,<br />

London 1813, VI, S. 96 f.<br />

erleben, daß im Kölner Dom muslimische Gottesdienste<br />

gefeiert werden,<br />

Wahrscheinlich ist es schon zu spät, das Christentum<br />

in <strong>Deutschland</strong> zu retten.<br />

M. A.<br />

Stand: 17. 10. <strong>2010</strong><br />

*<br />

Papst Benedikt XVI. hat auf seiner Englandreise im<br />

September <strong>2010</strong> einen Vorschlag gemacht, der auf eine<br />

Doppelmitgliedschaft zwischen der anglikanischen und<br />

katholischen Kirche zielt. In diesem Vorschlag habe ich<br />

Gedanken wiedergefunden, welche ich als Privatmann<br />

Papst Benedikt in einem Brief v. 15. Mai 2006 vorgetragen<br />

habe. Mir liegt ein Antwortschreiben seines Büros<br />

vor. Vielleicht ist der Zeitpunk gekommen, diese Gedanken<br />

öff entlich zu machen. Der geistliche Zustand des<br />

Protestantismus, nicht nur der anglikanischen Staatskirche,<br />

ist von der Art, daß das Erbe Luthers bei den in<br />

der EKD verbundenen Landeskirchen weniger gut als<br />

in einer christlichen Weltkirche aufgehoben scheint.<br />

Der Brief, der hier zur Diskussion gestellt wird, lautet:<br />

Seiner Heiligkeit<br />

Papst Benedikt XVI.<br />

V a t i k a n<br />

15. Mai 2006<br />

500. Jahrestag der Reformation im Jahre 2017<br />

Euer Heiligkeit!<br />

Im Jahre 2017 wird sich die von Martin Luther ausgelöste<br />

Reformation zum 500. Male jähren. Dieses herausragende<br />

Datum ist geeignet, um mit einem kühnen Schritt<br />

die seither getrennten Teile der abendländischen Kirche<br />

zusammenzuführen. Hierzu erlaube ich mir folgende<br />

Überlegung:<br />

1. Martin Luther wird anlässlich des 500. Jahrestages<br />

der Reformation heiliggesprochen.<br />

2. Die katholische Kirche verlautbart anlässlich<br />

dieses Jahrestages einseitig eine Erledigungserklärung<br />

betreffend der Gründe, welche zur<br />

Kirchenspaltung geführt haben. Getaufte evangelische<br />

Christen gelten hinfort als katholisch,<br />

wenn sie nicht je für ihre Person widersprechen.<br />

Die einzuleitenden Schritte brauchen einen längeren<br />

Vorlauf. Es gibt viele schwierige, aber wohl nicht unlösbare,<br />

theologische und rechtliche Fragen. Es besteht daher<br />

schon heute Handlungsbedarf, wenn der Gedanke verfolgt<br />

werden soll.<br />

Zu 1: Heiligsprechung Martin Luthers.<br />

a. Luther wurde als Mitglied der einen Kirche geboren<br />

und getauft. Die längste und geistlich wirksamste Zeit<br />

4. Teil Grundwerte<br />

81


4. Teil Grundwerte<br />

82<br />

seines Lebens war Luther Mitglied der katholischen Kirche.<br />

Es ist wohl nicht einmal sicher, ob er in einem förmlichen<br />

Sinne jemals aufgehört hat, es zu sein. Die geltend gemachten<br />

Trennpunkte zwischen den evangelischen Kirchen und<br />

der Römischen Kirche sind dem christlichen Laien, gleich<br />

ob evangelisch oder katholisch, kaum nachvollziehbar.<br />

In der evangelischen Predigt spielen diese heute keinerlei<br />

Rolle. Die Wiedereingliederung Luthers in die Weltkirche<br />

als Heiliger entzöge den protestantischen Konfessionen<br />

und Glaubensgruppen die vielleicht wichtigste Geschäftsgrundlage<br />

für ihren Sonderweg.<br />

b. Die geistlichen Leistungen Luthers waren und sind für<br />

die katholische Kirche als in dem Maße herausragend, daß<br />

– wäre es nicht zur Kirchenspaltung gekommen – Luther<br />

nach den einschlägigen Vorschriften für eine Heiligsprechung<br />

ohne weiteres in Betracht käme. Das bis heute die<br />

katholische Kirche prägende Trienter Reformkonzil war,<br />

wenn zwar nicht Luthers bewusstes Werk, so doch dessen<br />

unmittelbare Folge. Der Vorwurf gegen Luther, die Kirchenspaltung<br />

herbeigeführt, jedenfalls in Kauf genommen zu<br />

haben, hat Gewicht. Die Kirchenspaltung war aber nach<br />

heute wohl einhelliger Ansicht auch Folge eines falschen<br />

Verhaltens der Kurie. Luther hat die Spaltung nicht betrieben,<br />

sondern von seinem Standpunkt aus als das geringere<br />

Übel hingenommen.<br />

2. Erledigungserklärung<br />

a. Die katholische Kirche stellt lehramtlich fest, daß es<br />

keinen theologischen Grund gebe, welcher die Fortdauer<br />

der Kirchenspaltung rechtfertige. Getaufte evangelische<br />

Christen können daher ohne Änderung ihres Glaubensstandes<br />

Glieder der katholischen Weltkirche sein. Die fortdauernde<br />

Spaltung gefährdet aber die Kirche Jesu Christi<br />

in der Welt. Sie ist auch in der Mission kontraproduktiv.<br />

Die Römische Kirche würde durch einen solchen Schritt<br />

alle Getauften als Angehörige der einen katholischen<br />

Kirche anerkennen. Katholisch ist danach, ohne weitere<br />

Formalitäten, ipso iure, wer christlich getauft ist.<br />

b. Es wird angeregt, den Mitgliedern evangelischer<br />

Kirchen (ausgenommen die gemäß näherer Defi nition<br />

als Sekten anzusehenden Gruppen) die Doppelmitgliedschaft<br />

mit der katholischen Kirche zuzuerkennen. Diese<br />

Christen werden damit katholisch, ohne konvertieren zu<br />

müssen. Diese können aber durch schlichte Mitteilung an<br />

die zuständige katholische Stelle die Doppelmitgliedschaft<br />

zurückweisen.<br />

Erwartete Folge: Die Hemmungen, die Konfession, in<br />

welcher man geboren ist, zu verlassen, würden weichen.<br />

Die evangelische Kirche würde einer sehr heiklen Darlegungs-<br />

und Beweislast unterworfen werden. Sie müsste<br />

ihren Mitgliedern darlegen, was das evangelische proprium<br />

sei, und warum dieses mit einer Doppelmitgliedschaft<br />

in der katholischen Kirche unvereinbar sei. Die geistliche<br />

Substanz der evangelischen Seite ist oft sehr ausgedünnt.<br />

Es ist daher anzunehmen, daß das Stadium der Doppelmitgliedschaft<br />

nach ein, zwei Generationen überwunden<br />

sein wird. Es wird nur noch eine Kirchenmitgliedschaft, die<br />

katholische, geben.<br />

c. Die Doppelmitgliedschaft ist mit keinen zusätzlichen<br />

Pfl ichten verbunden. Die Kirchensteuer fl ießt weiterhin an<br />

die Erstkirche. Das Doppelmitglied hätte aber das Recht,<br />

durch einfache schriftliche Erklärung seine Mitgliedschaft<br />

in der evangelischen Kirche zugunsten seiner Mitgliedschaft<br />

in der katholischen zu beenden.<br />

Ich bin Lutheraner wie meine Vorfahren seit jeher. Treue<br />

zu diesen würde mich wie viele meinesgleichen immer<br />

hindern zu konvertieren. Dinge, welche ich in meiner Kirche<br />

beobachte, sind nicht sehr ermutigend. Aufenthalte<br />

im auch außereuropäischen Ausland lassen mich fragen,<br />

ob wir Christen je an unserer Stelle genug tun, um das<br />

Eigentliche der christlichen Botschaft zu formulieren und<br />

in der Welt zu vertreten. Sie wollen mir daher die Kühnheit,<br />

Ihnen den obigen Gedanken nahezubringen, verzeihen.<br />

*


Wiedervereinigung<br />

der christlichen Kirchen?<br />

von<br />

Hinrich E. Bues, Hamburg<br />

Der historische Staatsbesuch von Papst Benedikt<br />

XVI. in Großbritannien im September <strong>2010</strong> könnte ein<br />

neues Kapitel für die Christenheit aufgeschlagen haben.<br />

Feindselige und aggressive Stimmen schlugen dem Besucher<br />

aus Rom zunächst entgegen. Während des viertägigen<br />

Besuches wandelte sich freilich die Stimmung<br />

vollständig. Historisch ist dieser Staatsbesuch nicht nur<br />

deswegen zu nennen, weil noch nie ein Papst in offi zieller<br />

Mission auf den britischen Inseln war, sondern auch<br />

auf Grund der besonderen Situation der anglikanischen<br />

Staatskirche. Sie verdankt ihre Gründung einer in der<br />

Kirchengeschichte einzigartigen Gewalttätigkeit durch<br />

König Heinrich VIII. im Jahr 1534, der die Schwäche der<br />

katholischen Kirche infolge der lutherischen Reformation<br />

nutzte und sich zum Oberhaupt der Kirche seines<br />

Landes machte.<br />

Die auf königlichem Machtmissbrauch aufgebaute<br />

Kirche ist heute geistlich offenbar ausgezehrt und<br />

auch organisatorisch ihrer Aufl ösung nahe. Zum einen<br />

verliert die ehemalige „Church of England“ in dramatischem<br />

Ausmaß Mitglieder und Pastoren an Freikirchen<br />

oder die katholische Kirche und krankt zum anderen<br />

an innerer Zustimmung ihrer noch verbleibenden Mitglieder.<br />

Zudem ist die anglikanische Weltgemeinschaft<br />

innerlich tief gespalten. In Amerika und Australien bereiten<br />

sich ganze Gemeinden und Teilkirchen auf einen<br />

Übertritt in die katholische Kirche vor.<br />

Auf dieser Grundlage ist der Vorstoß von Papst<br />

Benedikt zu sehen. In der Konstitution „Anglicanorum<br />

Coetibus“ vom Dezember 2009 besteht nun für Anglikaner<br />

eine völlig neue Möglichkeit des Übertritts zur<br />

katholischen Kirche. Es wird nicht mehr die Absage an<br />

die bisherige Glaubenspraxis gefordert, sondern nur<br />

noch die Anerkennung des katholischen Katechismus<br />

(KKK) sowie des Papstes. So leuchtet am Horizont – 470<br />

Jahre nach der Spaltung der Christenheit durch die<br />

Reformation – eine neue und von vielen unerwartete<br />

Möglichkeit der Kircheneinheit auf.<br />

Ganz in dieser Linie liegt eine zweite Entscheidung<br />

des römischen Gastes, die Seligsprechung von John<br />

Henry Kardinal Newman (1801-1890). Bei diesem Mann<br />

handelt es sich um den berühmtesten und anerkanntesten<br />

Theologen des Anglikanismus im 19. Jahrhundert.<br />

Er trat 1845 zur katholischen Kirche über und wurde<br />

1879 zum Kardinal ernannt. 120 Jahre nach seinem Tod<br />

erfolgte nun am 19. September seine Erhebung zur Ehre<br />

der Altäre, was Benedikt klugerweise als „Zeichen der<br />

Versöhnung“ mit der Anglikanischen Kirche deutete. So<br />

fühlten sich bei der Seligsprechungsfeier in Birmingham<br />

am 19. September nicht nur 55.000 katholische Gläubige,<br />

sondern auch eine Reihe anglikanischer Bischöfe<br />

und Pastoren willkommen.<br />

Insgesamt zeigt die Entwicklung der Kirche in<br />

England viele Parallelen zur deutschen Situation. Die<br />

Aufl ösungsescheinungen in den den deutschen evangelischen<br />

Landeskirchen sind wie in England Folge<br />

einer geistlichen Auszehrung sowie völlig überholter<br />

Srukturen, welche auf der territorialen Einteilung des<br />

Deutschen reiches vor 1806 zurückgehen.<br />

Vor 60 Jahren bezeichneten sich noch 42,2 Millionen<br />

als evangelisch, heute noch 24,5 Millionen. Der Mitgliederrückgang<br />

einer jahrhundertealten Institution<br />

um über 42 Prozent in diesem relativ kurzen Zeitraum<br />

ist einzigartig. Ähnliche Zerreißproben wie in England<br />

4. Teil Grundwerte<br />

83


4. Teil Grundwerte<br />

84<br />

sind auf theologischem Gebiet auch in <strong>Deutschland</strong> zu<br />

beobachten. Die katholische Kirche hat demgegenüber<br />

im gleichen Zeitraum ihre Mitgliederzahl seit 1950 von<br />

23,2 auf 24,9 Millionen Mitglieder steigern können, ein<br />

Plus von 7,3 Prozent.<br />

Will sich das Christentum gegen den andrängenden<br />

Islam halten, ist eine Vereinigung der Kirche dan das<br />

Gebot der Stunde.<br />

*<br />

Mohammed u. George Washington: Mohammed, der<br />

nicht nur den Islam, sondern auch das arabische Großreich<br />

gründete, und George Washington, der Gründer<br />

der USA, hatten Gemeinsamkeiten, die jeweils für ihre<br />

Karriere ausschlaggebend waren. Beide<br />

• stammten aus besseren, aber veramten Familien;<br />

• heirateten im etwa gleichen Alter von rd. 25 Jahren<br />

Witwen, die älter als sie und sehr reich waren.<br />

Die Heirat mit Khadija erlaubte Mohammed die<br />

Muße, seinen religiösen Eingebungen nachzugehen.<br />

Washington wurde durch seine Frau zu<br />

einem der reichsten Landbesitzer in Virginia, was<br />

ihm erlaubte, ab 1774 politisch tätig zu werden;<br />

• hatten einen starken Hang zu Frauen, aber keine<br />

Kinder. Washington hatte einige illegitime Kinder<br />

mit seinen Negersklavinnen; Mohammed hatte<br />

zwar mehrere Kinder, von denen aber nur eine<br />

Tochter, Fatima, überlebte;<br />

• besaßen große Beredsamkeit;<br />

• verdankten ihren epochalen Aufstieg ihren militärischen<br />

Leistungen, die sie zu Gründern jeweils<br />

ihrer Staaten machten.<br />

*


Gewissen und Verantwortung<br />

Zum Gewissen gehört die zuverlässige Information<br />

Grundwerte<br />

Von<br />

Teil<br />

Pater Lothar Groppe SJ 4.<br />

Fragestellung<br />

Artikel 4 (3) des Grundgesetzes bestimmt: „Niemand<br />

darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der<br />

Waff e gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“<br />

Der Text geht off enbar davon aus, daß jedermann<br />

hinlänglich bekannt ist, was Gewissensgründe<br />

und letztlich das Gewissen sind. Im täglichen Umgang<br />

sprechen wir ja von gewissenhaften und gewissenlosen<br />

Menschen. Angesichts ständig steigender Zahlen<br />

von Kriminaldelikten hat man bisweilen den Eindruck,<br />

es werde heutzutage ein wenig häufi g vom Gewissen<br />

gesprochen. „Wer allzu leicht das Gewissen im Munde<br />

führt, macht sich ähnlich verdächtig wie derjenige, der<br />

den heiligen Namen Gottes ins Gewöhnliche herabzerrt<br />

und damit Götzen- statt Gottesdienst treibt“, schrieb<br />

der damalige Kardinal Ratzinger bereits 1972 194 . Der<br />

Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen,<br />

der glaubt, den Dienst mit der Waffe nicht leisten<br />

zu dürfen, ohne per sönlich schuldig zu werden,<br />

kann sich dennoch zu Recht auf das Grundgesetz<br />

berufen.<br />

Als seinerzeit im Parlamentarischen Rat vor der Gründung<br />

der Bundesrepublik <strong>Deutschland</strong> über die Frage<br />

einer Kriegsdienst verweigerung aus Gewissensgründen<br />

beraten wurde, warnte der spätere Bundespräsident<br />

Theodor Heuß entschieden davor, diesen Artikel in<br />

das Grundgesetz aufzunehmen, da es zu einem ungeheuren<br />

Gewissensverschleiß kommen werde. Dabei<br />

war Professor Heuß alles andere als militärfromm. Die<br />

194 Internationale katholische Zeitschrift 1 (1972), S. 435.<br />

Folgezeit sollte seine Befürchtungen nur allzu sehr<br />

bestätigen. Steigende Zahlen von Wehrdienstverweigerern<br />

rechtfertigen noch nicht ohne weiteres den Schluß,<br />

die allgemeine Gewissenhaftigkeit habe erfreuliche<br />

Fortschritte gemacht. Nicht selten kann man sich des<br />

Eindrucks nicht erwehren, die Anträge auf Befreiung<br />

vom Wehrdienst könnten eher aus „gewissen“ als Gewissensgründen<br />

gestellt worden sein.<br />

Dem Seelsorger fällt immer wieder auf, daß echte<br />

Gewissens bildung nicht eben häufi g anzutreff en ist.<br />

Den Grund hierfür gab der Salzburger Pastoraltheologe<br />

Professor Dr. Gottfried Griesl auf der XXIII. Internationalen<br />

Pädagogischen Werktagung 1974 an. Er machte<br />

darauf aufmerksam, daß die Frage der Gewissensbildung<br />

von der wissenschaftlichen Pädagogik sehr<br />

stiefmütterlich behandelt werde. „Das Abschieben der<br />

Aufgabe der Gewissensbildung an den Pfarrer dürfte<br />

das öff entliche Fehlurteil verstärken, daß Gewissen<br />

nichts mit Wissen, sondern nur etwas mit glauben zu<br />

tun habe.“ Jedoch sei an der Gewissensfunktion die<br />

ganze Persönlichkeit mit Er kenntnis, Wertgefühl und<br />

tätiger Selbsterfahrung beteiligt.<br />

Die nachfolgenden Ausführungen sollen ein wenig<br />

zur Er hellung des Spannungsfeldes „Gewissen und<br />

Verantwortung“ beitragen.<br />

85


4. Teil Grundwerte<br />

86<br />

Der Begriff des Gewissens<br />

Was ist denn eigentlich das Gewissen? Ist es eine<br />

oder gar die höchste Berufungsinstanz im Bereich<br />

menschlicher Entschei dungen? Aber wenn dem so ist,<br />

wie kommt es dann, daß Menschen mit voneinander<br />

abweichenden oder gar einander widersprechenden<br />

sittlichen Urteilen sich darauf berufen können? Hat<br />

jeder Mensch ein eigenes Gewissen? Gibt es eine<br />

gemeinsame Basis für das Gewissen? Wenn wir den<br />

Begriff des Gewissens untersuchen, so unterscheiden<br />

wir zweierlei verschie dene Rücksichten: Im weiteren<br />

Sinn bedeutet Gewissen die Fähigkeit des menschlichen<br />

Geistes zur Erkenntnis der sittlichen Werte, Normen,<br />

Gebote und Verbote (Synderesis). Es ist dies die Gewissensanlage.<br />

Wir fi nden hierfür einen Hinweis im 1. Buch<br />

der Könige 3,9 – der Bitte Salomons an Gott: „Schenke<br />

also deinem Knecht ein gehorsames Herz, damit er<br />

dein Volk regieren und zwischen Gut und Böse unterscheiden<br />

könne.“ Interessant ist, daß der atheistische<br />

tschechische Philosoph Milan Machovec, der öfter Gast<br />

bei wissenschaftlichen Veranstaltun gen im Westen war,<br />

sich verblüff end ähnlich äußert: Die „Beurteilung der<br />

menschlichen Angelegenheiten vom Gesichts punkt<br />

der Unterscheidung des Guten vom Bösen“ leistet das<br />

Gewissen – und vermittelt „das Bewußtsein der Verantwortung<br />

einem anderen Menschen gegenüber“ 195 .<br />

Im engeren Sinn verstehen wir unter Gewissen das<br />

sittlich urteilende Selbstbewußtsein, das über das eigene,<br />

hier und jetzt zu vollziehende Handeln zu befi nden<br />

hat. Im 1. Korintherbrief des hl. Paulus fi nden wir im 11.<br />

Kapitel ein klassisches Beispiel hierfür. Es geht um die<br />

Frage der Würdigkeit, die Eucharistie zu empfangen:<br />

„Es prüfe ein jeder sich selbst, und so esse er von dem<br />

Brot und trinke von dem Kelch, denn wer unwürdig ißt<br />

und trinkt, der ißt und trinkt sich das Gericht, da er den<br />

Leib des Herrn nicht unterscheidet.“ Gemeint ist: nicht<br />

von gewöhnlicher Speise unterscheidet. Hier kommt<br />

klar zum Ausdruck, daß wir durchaus in der Lage sind,<br />

unser eigenes Tun und Lassen zu beurteilen.<br />

Mit dem Apostel Paulus kommt aus der stoischen<br />

Popular philosophie der im 1. Jahrhundert vor Christus<br />

in die Umgangs sprache eingebürgerte Fachausdruck<br />

„Syneidesis“, d. h. Ge wissensurteil, in das christliche<br />

Schrifttum.<br />

Es ist jene innere Instanz, die dem Menschen in einer<br />

ganz persönlichen, unüberhörbaren Weise kundtut,<br />

was er tun oder lassen soll. Er nimmt sie vor der Tat als<br />

anfeuernde, warnende, verbietende oder gebietende<br />

Stimme wahr, nach der Tat erfährt er sie als lobende,<br />

richtende, verurteilende Macht. Ein jeder von uns kennt<br />

die Gewissensbisse, die uns eindeutig sagen, daß wir<br />

schlecht, schäbig, gemein handelten. Aber wir erfuhren<br />

alle auch schon ein Gefühl der inneren Beglückung,<br />

wenn wir gut handelten, wenn wir jemandem eine<br />

Freude machten, ohne auf Belohnung unserer guten<br />

Tat zu hoff en.<br />

195 „Dialog als Menschlichkeit“, in: „Neues Forum“, 1967, S. 321 f.<br />

Der Gewissensbefehl<br />

Gemeinsam ist allen Gewissensregungen der innere<br />

Befehl: Tue das, was du als gut und richtig erkannt hast!<br />

Diese „Stimme“ gebietet uns allen, ausnahmslos, unser<br />

Denken, Reden und Tun mit dem als gut, richtig, wertvoll<br />

Erkannten in Überein stimmung zu bringen. Voraussetzung<br />

hierfür ist das Bemühen um die Erkenntnis des<br />

sittlich Guten. Nicht derjenige ist ja schon gewissenhaft,<br />

der sich mit der oberfl ächlichen Sicht der Dinge begnügt,<br />

der etwa das tut, was „man“ tut, der sich von der<br />

Masse als Mitläufer treiben läßt, sondern wer den Dingen<br />

auf den Grund geht, wer sich bemüht, zu erkennen,<br />

was hier und jetzt notwendig, was das Bessere mehrerer<br />

sich bietender Möglich keiten ist. Die Gewissensbildung<br />

muß aber nach objektiven Normen erfolgen. Wir fi nden<br />

sie in den 10 Geboten oder den Forderungen Christi.<br />

Die Pastoralkonstitution „Die Kirche in der Welt von<br />

heute“ sagt hierzu in Nr. 16: „Im Inneren seines Gewissens<br />

entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht<br />

selbst gibt, sondern dem er gehorchen muß und dessen<br />

Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten<br />

und zur Unter lassung des Bösen anruft, und, wo nötig,<br />

in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes.<br />

Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem<br />

Herzen eingeschrieben ist und gemäß dem er gerichtet<br />

werden wird. Das Gewissen ist die ver borgenste Mitte<br />

und das Heiligtum im Menschen, wo er alleine ist mit<br />

Gott, dessen Stimme in seinem Innersten zu hören ist.<br />

Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes<br />

Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten<br />

seine Erfüllung hat. Nicht selten jedoch geschieht es,<br />

daß das Gewissen aus unüberwind licher Unkenntnis<br />

irrt, ohne daß es dadurch seine Würde verliert. Das<br />

kann man aber nicht sagen, wenn der Mensch sich zu<br />

wenig darum bemüht, nach dem Wahren und Guten zu<br />

suchen, und das Gewissen durch Gewöhnung an die<br />

Sünde allmählich fast blind wird.“ Der Mensch ist also in<br />

seiner Gewissensbildung keineswegs autonom – denn<br />

dies hieße, der Willkür Tür und Tor öff nen –, sondern er<br />

ist, jedenfalls als Christ, auf die Off enbarung und das<br />

kirchliche Lehramt angewiesen. Wenn man bisweilen,<br />

wörtlich oder doch sinngemäß, selbst von Priestern<br />

hören kann, der Mensch sei Schöpfer seiner Moral, so<br />

ist das vielleicht ehrliche Überzeugung, aber letztlich<br />

unchristlich und anti kirchlich.<br />

Nun können zwar weder Off enbarung noch kirchliches<br />

Lehramt jemandem eine Entscheidung abnehmen.<br />

Wohl vermögen sie, ihm zu einem sach- und<br />

situationsgerechten Gewissensurteil zu verhelfen.<br />

Hierzu sagt die Pastoralkonstitution weiter: „Durch die<br />

Treue zum Gewissen sind die Christen mit den übrigen<br />

Menschen verbunden im Suchen nach der Wahrheit<br />

und zur wahrheitsgemäßen Lösung all der vielen moralischen<br />

Probleme, die im Leben der einzelnen wie<br />

im gesellschaftlichen Zu sammenleben entstehen. Je<br />

mehr also das rechte Gewissen sich durchsetzt, desto<br />

mehr lassen die Personen von der blinden Willkür ab


und suchen sich nach den objektiven Normen der Sittlichkeit<br />

zu richten.“ Das Streben nach Wahrheits- und<br />

Wert erkenntnis und die Orientierung am Willen Gottes<br />

gehören unausweichlich zur Gewissenhaftigkeit.<br />

Gewissen und Verantwortung<br />

Wenngleich das Gewissen einem jeden Menschen<br />

befi ehlt, sein Denken, Reden und Tun in Übereinstimmung<br />

zu bringen mit dem, was er als gut, richtig und<br />

wertvoll erkennt, so ist doch die Intensität dieser Gewissensregung<br />

sehr verschieden. Das Ge wissen kann<br />

noch schwach entwickelt, es kann zart gebildet, aber<br />

auch völlig abgestumpft sein. Aber in einer Hinsicht<br />

kann – bei aller Möglichkeit, objektiv zu irren – das<br />

Gewissen nicht in die Irre gehen: Niemals fühlt sich<br />

jemand verpfl ichtet, gegen seine bessere Erkenntnis zu<br />

handeln. Dort, wo es keinen Drang mehr gibt, nach dem<br />

als sittlich gut Erkannten zu handeln, ist das Gewissen<br />

erstorben. Aber niemand hält diesen Zustand für normal<br />

und identifi ziert sich mit dem „gewissenlosen“, mit dem<br />

„bösen“ Menschen. Der Hl. Schrift ist das Phänomen der<br />

Gewissensstumpfheit wohl bekannt, aber sie qualifi ziert<br />

es sogleich ab, wenn sie sagt: „Der Tor spricht in seinem<br />

Herzen: Es gibt keinen Gott!“ (Psalm 14,1). Im Sprachgebrauch<br />

der Schrift ist der „Tor“ gleichbedeutend mit<br />

dem „Gottlosen“.<br />

Das Alte Testament kennt, abgesehen vom Buch der<br />

Weisheit (17,11) – wo der Einfl uß der griechischen Zeitphilosophie<br />

spür bar wird – das Wort „Gewissen“ nicht.<br />

Als Ersatzbezeichnung dient das Wort „Herz“, das im<br />

biblischen Sprachgebrauch Inbegriff des inneren Menschen,<br />

seiner seelischen und geistigen Fähigkeiten ist.<br />

So heißt es etwa im 24. Kapitel des 2. Buches Samuel im<br />

10. Vers: „David schlug das Herz, weil er das Volk zählen<br />

ließ“. Das mag uns etwas sonderbar erscheinen, denn<br />

eine Volkszählung ist bei uns – schon allein wegen der<br />

damit ver bundenen Kosten – zwar nicht gerade alltäglich,<br />

aber ein ganz normaler Vorgang. Ganz anders im<br />

Orient. Dort diente eine Volkszählung in erster Linie der<br />

Feststellung der wehrfähigen Männer. Man machte einen<br />

Überschlag, ob die eigenen Kräfte wohl ausreichten,<br />

über den Nachbarn herzufallen, und kam man zu einem<br />

entsprechenden Ergebnis, so schlug man los. Vgl. auch<br />

das 14. Kapitel bei Lukas, wo der Herr sagt: „Wenn ein<br />

König gegen einen anderen König in den Krieg ziehen<br />

will, setzt er sich dann nicht zuvor hin und überlegt, ob<br />

er mit 10 000 Mann dem entgegentreten könnte, der<br />

mit 20 000 gegen ihn heranzieht? Kann er das nicht, so<br />

läßt er jenen, solange er noch fern ist, durch eine Gesandtschaft<br />

um Frieden bitten.“ (31 f.) Gott hat seinem<br />

auserwählten Volk unter Androhung schwerster Strafe<br />

verboten, eine Volkszählung abzuhalten. Zur Strafe für<br />

Davids Unge horsam ließ er eine Pest über Israel kommen,<br />

der 70 000 Menschen zum Opfer fi elen.<br />

Verschiedene Beurteilungsmaßstäbe<br />

Wie ist es aber möglich, daß durchaus auch gewissenhafte<br />

Menschen in der gleichen Sache einen<br />

verschiedenen oder gar entgegengesetzten Gewissensanspruch<br />

anmelden? Jedoch hier geht es nicht um den<br />

Drang nach gewissenhaftem Handeln an sich, sondern<br />

vielmehr um den Inhalt der sittlichen Erkenntnis. Verschiedene<br />

Arten von Sittlichkeit gibt es nicht, denn das<br />

Reich der sittlichen Werte muß notwendigerweise eins<br />

sein, wenn es alle Menschen binden will. Sonst gäbe<br />

es tatsächlich keine für alle verbindliche Moral. Dann<br />

wäre auch kein geordnetes Mit einander in Gesellschaft<br />

und Staat möglich, und die Einhaltung bestimmter<br />

Verhaltensnormen wäre nicht durch die Einsicht der<br />

Staatsbürger, sondern lediglich durch Strafandrohung<br />

zu erreichen. Dann käme es nur darauf an, sich nicht<br />

„erwischen“ zu lassen. Freilich ist der Inhalt der sittlichen<br />

Erkenntnis nicht jedermann in gleicher Weise zugänglich.<br />

Der Philosoph Karl Jaspers sagt einmal etwas<br />

boshaft: „Die Durchschnittsbegabung der Menschheit<br />

ist schwache Idiotie!“ Artur Schopenhauer formulierte<br />

es so: „Das Gewissen setzt sich zusammen aus 1/5 Menschenfurcht,<br />

1/5 Frömmigkeit, 1/5 Vorurteil, 1/5 Eitelkeit<br />

und 1/5 Gewohnheit.“<br />

Voraussetzungen einer verantwortlichen<br />

Gewissensentscheidung<br />

Man darf nicht übersehen, daß die klare Erkenntnis<br />

des Guten und Richtigen grundsätzlich und auch in<br />

der konkreten Situation von einer ganzen Reihe von<br />

Voraussetzungen ab hängt: einmal von der eigenen<br />

Urteilsfähigkeit, sodann von der vorbehaltlosen Ehrlichkeit<br />

im Suchen nach dem sittlich Guten und Erlaubten.<br />

Denken wir etwa an das allzu wahre Wort des<br />

Volksmundes: Was man wünscht, das glaubt man gern!<br />

Schließlich spielen Erziehung und Umwelt, öffentliche<br />

und veröffentlichte Meinungen, auch das, was „man“ tut,<br />

das, was „in“ ist, wie man heute sagt, und nicht zuletzt<br />

Sitte und Gewohn heit eine nicht zu unterschätzende<br />

Rolle in der Gewissensent scheidung.<br />

Es ist unzweifelhaft, daß eine sittlich hochstehende<br />

Umgebung eine richtige Gewissensentscheidung erleichtert.<br />

Aber dort, wo das Ellenbogendenken oder das<br />

gewissenlose Karrierestreben, das „Vorwärts-kommen-<br />

Wollen“ um jeden Preis stark ausgeprägt sind, muß der<br />

einzelne alle sittliche Energie zusammenballen, um den<br />

Ruf seines Gewissens zu hören und ihm zu folgen. Deshalb<br />

„ist es von großer Bedeutung, daß allen die Möglichkeit<br />

geboten wird, in sich die rechte menschliche<br />

Verantwortung zu bilden, die sich am göttlichen Gesetz<br />

orientiert und die jeweiligen Verhältnisse berücksichtigt.<br />

Das erfordert aber, daß weithin die erzieherischen<br />

und sozialen Bedingungen verbessert werden und vor<br />

allem, daß eine religiöse Bildung oder wenigstens eine<br />

umfassende sittliche Unterweisung geboten wird“, wie<br />

4. Teil Grundwerte<br />

87


4. Teil Grundwerte<br />

88<br />

die Pastoralkonstitution „Die Kirche in der Welt von<br />

heute“ in der Nr. 87 sagt.<br />

Die Frage nach dem Gewissen ist eine Zentralfrage<br />

des sittlich-religiösen Lebens. Das Gewissen ist oberste<br />

Richtschnur des sittlichen Handelns, der Kompaß für<br />

das Tun und Lassen eines Menschen. Papst Pius XII. sagt<br />

hierzu in einer Ansprache zum Tag der Familie: „Hier<br />

entscheidet sich der Mensch für das Gute oder Böse.<br />

Hier wählt er zwischen dem Weg des Sieges und der<br />

Niederlage. Auch, wenn er wollte, könnte der Mensch<br />

es niemals abschütteln. Mit ihm, mag er es loben oder<br />

verwerfen, wird er den ganzen Weg des Lebens durchlaufen,<br />

und ebenso wird es sein wahrhaftiger und unbestechlicher<br />

Zeuge sein, wenn er sich vor dem Gerichte<br />

Gottes stellt“ (23. 3. 1952). Für das Gewissen gelten<br />

die Worte des Herrn: „Das Auge ist die Leuchte deines<br />

Leibes. Ist dein Auge gesund, so hat dein Leib Licht, ist<br />

es aber krank, so ist dein ganzer Leib in Finsternis. Sieh<br />

also zu, daß das Licht in dir nicht Finsternis sei! Ist dein<br />

Leib ganz erhellt und kein Teil davon dunkel, so wird<br />

er ganz hell sein, wie wenn ein Licht mit seinem Glanz<br />

dich erleuchtet.“ (Lk 11,34 ff.) In diesem Sinne schreibt<br />

Paulus: „Alles, was nicht aus Überzeugung geschieht, (d.<br />

h. aus dem Gewissen) ist Sünde.“ (Röm. 14,23)<br />

Niemand ist eine Insel<br />

Der Menschen Tun ist nie in sich isoliert, es reicht<br />

hinein in die Gemeinschaft, etwa die Familie, eine<br />

Schulklasse, einen Betrieb, ins öffentliche Leben. Welch<br />

psychologische Zwänge und Ab hängigkeiten gibt es<br />

da häufi g, auch wenn man sich dessen vielfach nicht<br />

bewußt ist und diese Tatsache oft zu verdrängen sucht.<br />

Je größer der Kreis von Mitmenschen, desto weiter<br />

reichend ist die Wirkung seines Tun und Lassens zum<br />

Wohl oder Schaden der Gemeinschaft. Um so schwerer<br />

wiegt dann etwa die Verantwortung der Akademiker<br />

und Professoren (nicht zuletzt der Theologen!), die sich<br />

der Wirkung ihrer Worte und Schriften in der breiten<br />

Öffentlichkeit bewußt sein sollten.<br />

Das Gewissen als Uranlage des Menschen<br />

Die Gewissensanlage ist unabhängig von Religion,<br />

Rasse, Kultur und Volk. Im November 1964 hielt Kardinal<br />

König, der Erz bischof von Wien, einen Vortrag vor der<br />

El-Azhar-Universität in Kairo, der höchsten Bildungsstätte<br />

des Islam. In seiner Dank adresse sagte der Rektor:<br />

„Es gibt zwischen Christen und Moslems dogmatische<br />

Unterschiede, doch keine Unterschiede der sittlichen<br />

Werte und des sozialen Verhaltens.“ Auch der Ungläubige,<br />

auch der, dem die Offenbarung aus welchem Grund<br />

auch immer verschlossen blieb, weiß, daß er das Gute<br />

tun und das Böse meiden muß. Paulus macht im 2. Kapitel<br />

des Römer briefes hierauf aufmerksam. Da geht es um<br />

das Gericht am Jüngsten Tag. Gerichtet wird nicht auf<br />

Grund der äußeren Zuge hörigkeit zum auserwählten<br />

Volk Gottes – denn Gott kann dem Abraham aus den<br />

Steinen Kinder erwecken –, sondern nach dem Maß<br />

der Beobachtung des göttlichen Gesetzes nach dem<br />

Zeugnis des Gewissens: „Wenn nämlich die Heiden, die<br />

das Gesetz nicht haben, von Natur aus die Vorschriften<br />

des Gesetzes erfüllen, so sind sie, die das Gesetz nicht<br />

haben, sich selbst Gesetz.“ (Röm. 2,14) Nach Paulus<br />

tragen auch die Heiden, die keine göttliche Offenbarung<br />

kennen, das göttliche Gesetz in ihrem Herzen. So<br />

fi nden sich etwa im Codex Hammurapi, in der Mitte<br />

des 20. Jahr hunderts vor Christus, einige dem Dekalog<br />

sehr ähnliche Vorschriften. „Sie zeigen, daß das Werk<br />

des Gesetzes in ihrem Herzen geschrieben steht“, fährt<br />

Paulus im Römerbrief fort (2,15). Plastisch schildert der<br />

Apostel den Hergang des Gerichtes. Da treten Ankläger<br />

und Verteidiger des Menschen auf. Das sind die guten<br />

und bösen Ansichten und Gedanken, die sein Tun und<br />

Lassen im Leben bestimmten: „Ihre Gedanken werden<br />

sich untereinander anklagen oder verteidigen an dem<br />

Tage, da Gott das Verborgene im Menschen richten<br />

wird.“ Gerade weil es sich hier um das Verborgene im<br />

Menschen handelt, muß ein unbe stechlicher Zeuge<br />

aussagen, was an diesen Gedanken und Absichten gut<br />

oder böse war. Dieser Zeuge ist das Gewissen: „Wobei<br />

ihr Gewissen ihnen Zeugnis ablegen wird.“ (15)<br />

Sittliche Zentralfunktion im Menschen<br />

Wie ist das möglich? Das Gewissen ist eben die sittliche<br />

Zentral funktion im Menschen. Es hat ihm das ins<br />

Herz geschriebene Gesetz Gottes vorgelegt. Es hat die<br />

Gesinnungen und Absichten des Menschen begleitet<br />

und hat nach der Tat sein Urteil gefällt. So ist es ein<br />

unbestechlicher Zeuge über das verborgene Gute und<br />

Böse des Menschen, wenn dieser vor das Gericht Gottes<br />

tritt. Wer das formale Gesetz Gottes nicht kennt, erkennt<br />

in sich selbst das Gesetz, vorausgesetzt, daß er nicht<br />

die Stimme des Gewissens in sich zum Verstummen<br />

gebracht hat.<br />

Allerdings gibt es neben dem natürlich-sittlichen<br />

Gesetz des Heiden noch ein anderes Gesetz, unter das<br />

wir Christen gestellt sind, das Gesetz Christi. Wer Christi<br />

Namen kennt, muß sein Leben nach ihm ausrichten:<br />

„Brüder, seid gesinnt wie Christus Jesus“, schreibt Paulus<br />

im Philipperbrief (2,5). Für jeden Menschen gibt es<br />

außerdem noch eine persönliche Führung Gottes. Jeder<br />

hat von Gott einen bestimmten Auftrag, eine Sendung,<br />

die nur er verwirklichen kann. Deshalb sprechen wir<br />

vom „Beruf“, weil, wenigstens im Idealfall, der Mensch<br />

dem Ruf folgt zu einem Handeln, zu einer Lebensaufgabe,<br />

zu der er „berufen“ ist. Aber nur, wer sein Gewissen<br />

schulte, wird diesen Anruf Gottes vernehmen. Deshalb<br />

ist es für uns wichtig, unser Gewissen zu bilden und<br />

zu schärfen. Hierbei könnten uns etwa die ??? „GewissensDer<br />

Spiegel“ ??? aus dem „Gotteslob“ wirksame<br />

Hilfe leisten.


Äußere Hilfen und Hindernisse<br />

„Die Wandlungen von Denkweisen und Strukturen<br />

stellen häufi g überkommene Werte in Frage, zumal bei<br />

der jüngeren Generation, die nicht selten ungeduldig, ja<br />

angsthaft rebellisch wird … Die von früheren Generationen<br />

überkommenen Institutionen, Gesetze, Denk- und<br />

Auffassungsweisen scheinen den wirklichen Zuständen<br />

von heute nicht mehr in jedem Fall gut zu entsprechen.<br />

So kommt es zu schweren Störungen im Ver halten und<br />

sogar in den Verhaltensnormen.“ 196<br />

Es ist heutzutage ungleich schwerer als in früheren<br />

Zeiten, immer und in allem das rechte Verhalten zu<br />

fi nden, da ehedem das äußere Leben durch Sitte und<br />

Brauchtum, gemeindliche und staatliche Verordnungen<br />

und Gesetze geregelt war und zwar nach christlichen<br />

Grundsätzen.<br />

Wenngleich diese auch keineswegs immer befolgt<br />

wurden, so waren sie doch allgemein anerkannt. Man<br />

nannte das Gute gut und das Böse schlecht, während<br />

heute der Begriffsinhalt vieler Worte häufi g umgebogen<br />

und umgelogen wird. Man denke bloß etwa an den<br />

Slogan: Kann denn Liebe Sünde sein?, wobei man mit<br />

der „Liebe“ selbstverständlich nicht selbstlose Hingabe<br />

an ein Du, sondern sexuelle Zügellosigkeit meint. In<br />

der vorigen Generation etwa wäre es völlig undenkbar<br />

gewesen, daß ein junger Mann mit einem jungen<br />

Mädchen allein auf Reisen ging. Gemeinsames Zelten<br />

gar hätte ihre Vorstellungskraft völlig gesprengt, während<br />

sich heute „auch unter katholischen Schrift stellern<br />

eine romantische Verideologisierung der Sexualität“<br />

ausbreitet, wie Kardinal Höffner in seinem Hirtenbrief<br />

über „Ehe und Familie im Licht des Glaubens“ vom<br />

Dezember 1969 fest stellt. Jaques Maritain spricht im<br />

„Bauer von Garonne“ von der „katholischen Verehrung<br />

des Fleisches“ (S. 63). Während eine Reihe von Bischöfen<br />

in ihren Hirtenbriefen der letzten Jahre betonten,<br />

es widerspreche der christlichen Auffassung von der<br />

menschlichen Geschlechtlichkeit und Ehe, vor der Ehe<br />

die geschlechtliche Hingabe einzuüben und sei eine<br />

Mißachtung der menschlichen Personenwürde – eine<br />

Lehre, die im Hirtenbrief aller deutschen Bischöfe zu<br />

Fragen der menschlichen Geschlechtlich keit vom März<br />

1973 bestätigt wurde –, glaubte beispielsweise ein<br />

Autor, der aber zweifelsohne nicht vereinzelt dasteht<br />

und auch immer wieder selbst von katholischen Zeitschriften<br />

herange zogen wird, in einem katholischen<br />

Publikationsorgan 197 keine Bedenken gegen „Zelten mit<br />

17 zu zweit“ anmelden zu müssen. Wenn das Paar sich<br />

über seine Gefühle klar sei, füreinander Verantwortung<br />

trage und auch in der Empfängnisverhütung zu einer<br />

verantwortlichen Lösung gekommen sei, dann könnten<br />

ihre „Leiber kommunizieren“. Selbst vor dieser geradezu<br />

blasphemischen Bezeichnung eines Verhältnisses, das<br />

in der katholischen Moral sonst schlicht als Unzucht<br />

bezeichnet wird, scheut man nicht zurück.<br />

196 Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“, Nr. 7, Text des 2. Vatikanischen<br />

Konzils.<br />

197 „Neue Gespräche“, September/Oktober 1973.<br />

Man muß sich darüber klar sein, daß solche Veröffentlichungen<br />

gerade in einem katholischen Publikationsorgan<br />

leicht verhäng nisvolle Folgen haben können, da<br />

sie besonders von nicht gefestigten Persönlichkeiten<br />

zumindest als mögliche Verhaltens form christlicher<br />

Lebensgestaltung betrachtet werden könnten. Die<br />

Berufung auf das eigene Gewissen vermag hier nicht<br />

weiter zuhelfen, denn was man wünscht, das glaubt<br />

man gern. Die deutschen Bischöfe betonten in ihrem<br />

Hirtenwort vom März 1973 zu Recht, daß zu „einem<br />

guten Gewissen immer auch eine zuverlässige Information<br />

gehört. Sie kann nicht darin bestehen, daß eine<br />

mehr oder minder große Zahl anderer in gleicher Lage<br />

dasselbe tun. Das wäre billiges Mitläufertum.“ Noch vor<br />

wenigen Jahrzehnten gehörte es, zumindest in vielen<br />

katholischen Gegenden, zum guten Ton, sonntags zum<br />

Gottesdienst zu gehen. Zweifellos ermunterte nicht immer<br />

nur Frömmigkeit zum Kirchgang. Soziale „Zwänge“<br />

spielten nicht selten eine erheb liche Rolle. Immerhin<br />

war eine Folge des mehr oder minder regelmäßigen<br />

Gottesdienstbesuches – man denke etwa auch an<br />

die ehedem weit verbreiteten Fastenpredigten und<br />

Volks missionen –, daß im allgemeinen erheblich mehr<br />

religiöses Wissen vorhanden war als heute und die<br />

Menschen, die den religiösen Unterweisungen folgten,<br />

ein besseres Unterschei dungsvermögen besaßen als<br />

heutzutage. Dieses wiederum und eine im ganzen doch<br />

stärkere religiöse Prägung bewahrten vor mancher<br />

Kurzschlußhandlung, wie sie einem Areligiösen leichter<br />

widerfährt. So stimmen die Statistiken der Länder<br />

überein, daß etwa Selbstmorde bei praktizierenden<br />

Christen erheblich seltener sind als bei religiös nicht<br />

gebundenen Menschen. Es dürfte weitgehend auf das<br />

Konto der immer stärkeren Entchristlichung unseres<br />

Kontinents zurückzuführen sein, wenn die Weltgesundheitsorganisation<br />

in Genf mehr als 150 000 Selbstmorde<br />

jährlich in Europa registriert 198 .<br />

Es läßt sich nicht leugnen, daß die Öffentlichkeit<br />

heutzutage weitgehend entchristlicht ist. Zu diesem<br />

Phänomen sagt die Pastoralkonstitution „Die Kirche<br />

in der Welt von heute“ in der Nr. 7: „Breite Volksmassen<br />

geben das religiöse Leben praktisch auf. Anders als in<br />

früheren Zeiten sind die Leugnung Gottes oder der Religion<br />

oder die völlige Gleichgültigkeit ihnen gegenüber<br />

keine Ausnahme und keine Sache nur von einzelnen<br />

mehr. Heute wird eine solche Haltung gar nicht selten<br />

als Forderung des wissenschaftlichen Fortschritts und<br />

eines sogenannten Humanismus ausgegeben.“ Der einzelne<br />

wird nicht mehr von außen auf die rechte Fährte<br />

geführt, sondern vielfach davon abgezogen.<br />

So muß der einzelne durch eigene Überlegung<br />

und selbständige Entscheidung das Rechte finden<br />

und wählen. Die Verhältnisse sind heute oft so unübersichtlicht,<br />

die Zusammenhänge in Wirtschaft,<br />

Technik und Politik häufi g derart kompliziert, daß es<br />

dem einzelnen oft sehr schwer wird, zu entscheiden,<br />

was für ihn hier und jetzt sittlich geboten oder erlaubt,<br />

198 Statistik der WHO von <strong>2010</strong><br />

4. Teil Grundwerte<br />

89


4. Teil Grundwerte<br />

90<br />

was zu tun oder zu unterlassen, was das Bessere oder<br />

doch wenigstens das geringere Übel ist. Der Einfl uß<br />

der öffentlichen und mehr noch der veröffentlichten<br />

Meinung, die keineswegs mehr christlich sind, und<br />

die öffentliche Meinung bestimmende Faktoren, wie<br />

Rund funk, Fernsehen, Film und Presse erschweren weitgehend<br />

die Bildung einer selbständigen christlichen<br />

Entscheidung. Es soll nun keineswegs in den Klageruf<br />

eingestimmt werden, heute sei alles viel schlimmer als<br />

früher. Jedoch, wenn die Menschen – jedenfalls in der<br />

großen Mehrheit – sich im wesentlichen wohl gleich<br />

bleiben dürften, so scheint es doch, daß sie vielfach<br />

den Orientierungssinn verloren haben. Der moderne<br />

Mensch weiß vielfach nicht mehr, was des Interesses<br />

wert ist und was nicht. Viele vermögen nicht mehr<br />

zwischen echten und Ersatzwerten zu unterscheiden.<br />

Das schon fast psychopathisch zu nennende Interesse<br />

der Bevölkerung an Massenveranstaltungen jeder Art,<br />

der geradezu alberne Kult mit Fußballgrößen, Film- und<br />

Rockstars legen diesen Gedanken zumindest nahe.<br />

Mit Millionen Zeitgenossen ist während Fußballweltmeisterschaften<br />

nichts anzufangen, ganz abgesehen<br />

von der maßlosen Überbewertung eines gewonnenen<br />

Spiels. Manche Sensationsprozesse bieten wochen- und<br />

monatelang Gesprächs- und Lesestoff für ein breites<br />

Publikum. Als seinerzeit Rosemarie Nitribitt, „des deutschen<br />

Wirtschaftswunder liebstes Kind“, ermordet<br />

wurde, rissen sich die Filmgewaltigen darum, diesen<br />

makabren Stoff verfi lmen zu dürfen. Der Geist der heutigen<br />

Menschen gleicht vielfach einem Trödlerladen, in<br />

dem alles kreuz und quer durcheinander – oder doch<br />

gleichberechtigt nebeneinander liegt: Die Giftmischerin<br />

und der Politiker, der Forscher und der Fußballstar, das<br />

Film sternchen und die Krankenschwester, die Tag und<br />

Nacht bei ihren Patienten ausharrt. Viele besitzen kein<br />

Unterscheidungs vermögen, keine objektiven Maßstäbe<br />

mehr. Der Instinkt für wahr und falsch, echt und unecht,<br />

zu dem im wesentlichen nur die lebendige Bindung<br />

an Gott befähigt, ist verkümmert oder ganz abhanden<br />

gekommen. „Der Mensch von heute, auch jener, der<br />

noch religiös und christlich sein will, hat weithin das<br />

Gespür für die Sünde verloren ...“ Papst Pius XII. nannte<br />

es geradezu „die größte Sünde unserer Zeit, daß die<br />

Menschen das Gespür für die Sünde preisgegeben<br />

hätten“ 199 . Das Gebet Salomons: „Schenke also deinem<br />

Knecht ein gehorsames Herz, damit er zwischen Gut<br />

und Böse unterscheiden könne“, stößt vielfach nicht<br />

mehr auf Verständnis, wird nicht mehr als existentielles<br />

Anliegen begriffen.<br />

Persönliche Verantwortung<br />

Und doch bleibt jeder letztlich für sein eigenes Tun<br />

verant wortlich. Der Mensch weiß, daß er diese Verantwortung<br />

nicht auf andere abwälzen kann, und<br />

199 Bacht, Heinrich: Weltnähe oder Weltdistanz, Frankfurt a. M., 1962,<br />

S. 47.<br />

deshalb gewöhnt er sich weitgehend ab, über sein<br />

Tun und Lassen nachzudenken. Deshalb vielfach auch<br />

diese ständige Selbstbetäubung durch pausenloses<br />

Radio- und Musikhören, das stundenlange Hocken vor<br />

der „Flimmer kiste“, der ununterbrochene Rummel, der<br />

einen nicht mehr zu sich selbst kommen läßt, die Flucht<br />

vor der Stille, das Hineinfl üchten in den Tröster Alkohol,<br />

der die Sorgen, aber auch die Gewissen ersäuft. Selbst<br />

diejenigen, die sich in Exerzitien begeben, bringen es<br />

häufi g nicht mehr fertig, einige Tage in der Stille zuzubringen.<br />

„Wir treff en nicht darum nie auf Gott, weil er<br />

abwesend wäre in der Welt und im Leben, sondern weil<br />

wir ständig abwesend sind! Hören wir auf mit der steten<br />

Flucht vor uns selber, wir fl iehen damit auch vor Gott!“ 200<br />

Viele Menschen jagen ihren Wunschvorstellungen und<br />

Träumen nach, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen,<br />

ob diese auch verantwortbar sind.<br />

Ein klassischer Vertreter dieser Gruppe ist „Des Teufels<br />

General“. Als der junge Leutnant Hartmann, dem die<br />

Welt seiner Ideale zerbrochen ist, seinen väterlichen<br />

Freund Harras fragt: „Glauben Sie an Gott“, da muß<br />

dieser erst überlegen, die Frage kam zu unvermutet.<br />

Doch dann sagt er: „Ich weiß es nicht. Aber das lag<br />

an mir. Ich wollte ihm nicht begegnen. Er hätte mich<br />

vor Ent scheidungen gestellt, denen ich ausweichen<br />

wollte ... Die größte Findung aller Zeiten habe ich nicht<br />

erkannt. Sie heißt Gott. Der Mensch träumt nichts, was<br />

nicht ist und war und sein wird. Wenn er Gott geträumt<br />

hat – dann gibt es Gott. Ich kenne ihn nicht. Aber ich<br />

kenne den Teufel. Den hab ich gesehen – Auge in Auge.<br />

Drum weiß ich, daß es Gott geben muß. Mir hat er sein<br />

Angesicht verhüllt. Ich habe seine Hand nicht ergriff en.<br />

Ich habe – die andere gewählt.“<br />

Harras wählte die andere Hand in klarer Erkenntnis,<br />

daß es die falsche war. Er wollte den Entscheidungen<br />

ausweichen. Aber es gibt keinen Menschen, der ungestraft<br />

der Entscheidung, der sittlichen Verantwortung<br />

ausweichen kann. Darin liegt die tragische Schuld von<br />

Harras: Obwohl er das Dritte Reich durch schaute und<br />

verachtete, hat er sich doch seiner bedient. Nicht so sehr<br />

des Ruhmes wegen, nicht einmal der Macht und des<br />

Geldes wegen, denen so viele Menschen verfallen. Aber<br />

er wollte seine Gaben entfalten, um große technische<br />

Erfi ndungen zu machen, um seine geliebte Fliegerei<br />

aufzubauen. Sein Gewissen sagte ihm klar, was er zu<br />

tun hätte. Er war sich seiner Verantwortung durchaus<br />

bewußt. Aber um der Fliegerei willen entschied er sich<br />

– wissend – gegen Gott.<br />

Der Christ muß sich vielfach im Gegensatz zur öff entlichen<br />

Meinung und im Widerstreit mit den Einfl üssen<br />

seiner Umgebung entscheiden, und in Zukunft wird<br />

dies voraussichtlich noch viel mehr gelten. Darum<br />

bedarf es eines hohen Maßes an Selbständigkeit, Verantwortungsbewußtsein<br />

und Verantwortungsfreude. Es<br />

bedarf heute wohl mehr denn je der Zivilcourage, des<br />

Mutes, gegen den Strom zu schwimmen.<br />

200 Ders.(Hg.): Tage des Herrn, Frankfurt a. M., o. J., S. 93.


Ein überzeugter Christ, der aus seinem Glauben<br />

leben will, hat in der freien Welt – im Gegensatz zu<br />

Diktaturen – nicht mit Gefängnis oder gar Schwererem<br />

zu rechnen. Er wird sich aber darauf gefaßt machen<br />

müssen, nicht für voll genommen oder mitleidig belächelt<br />

zu werden. Das scheint vielen noch schwerer<br />

erträglich als regelrechte Verfolgung, die wenigstens<br />

den Glorien schein des Märtyrers verheißt.<br />

Gewissenlosigkeit im persönlichen Bereich hat oft<br />

nur Folgen für den einzelnen, und dieser muß sie vor<br />

Gott verantworten. Aber Gewissenlosigkeit im öff entlichen<br />

Bereich, die nichts von einer Verantwortung vor<br />

Gott weiß oder wissen will, kann leicht zu katastrophalen<br />

Folgen für ungezählte Menschen führen. Deshalb<br />

sagte Generaloberst Beck am 16. Juli 1938 in seinem<br />

Vortrag vor Generalen: „Es stehen hier letzte Entscheidungen<br />

über den Bestand der Nation auf dem Spiel. Die<br />

Geschichte wird die militärischen Führer mit einer Blutschuld<br />

belasten, wenn sie nicht nach ihrem fachlichen<br />

und staatspolitischen Wissen und Gewissen handeln.“<br />

Der ehemalige Rüstungsminister Speer hat in den langen<br />

Jahren seiner Gefangenschaft über seinen Anteil<br />

am Niedergang des Bewußtseins sittlicher Verantwortung<br />

für die Folgen des eigenen Handelns nachgedacht<br />

und kommt in seinen „Erinnerungen“ zu folgendem<br />

Ergebnis: „Im Grunde nutzte ich das Phänomen der<br />

kritiklosen Verbundenheit des Technikers mit seiner<br />

Aufgabe aus. Die scheinbare moralische Neutralität der<br />

Technik ließ bei ihnen die Besinnung aufs eigene Tun<br />

gar nicht erst aufkommen. Je technischer unsere vom<br />

Krieg diktierte Welt wurde, um so gefährlicher wirkte<br />

sich dieses Phänomen aus, das dem Techniker keine<br />

direkte Beziehung zu den Folgen seines anonymen Tuns<br />

vermittelte.“ (S. 226)<br />

Keine Patentrezepte<br />

Es lassen sich keine Patentrezepte geben. Jede Situation<br />

unter scheidet sich in oft wesentlichen Details von<br />

der anderen, und bekanntlich steckt der Teufel im Detail.<br />

Worauf es ganz wesent lich ankommt, ist, sein Gewissen<br />

an den Prinzipien zu orien tieren, die uns in den Geboten<br />

Gottes, in der Hl. Schrift und vom Lehramt der Kirche an<br />

die Hand gegeben werden. Es kommt ferner auf ein gehöriges<br />

Maß an Sachkenntnis an, denn Prinzipien allein<br />

können uns nicht weiterhelfen, weil sie zu allgemein<br />

sind. Schließlich hat Gott uns auch noch den Verstand<br />

gegeben, den zu gebrauchen keineswegs sündhaft ist.<br />

Es liegt aber nicht im Belieben des einzelnen, sich mit<br />

den sittlichen Prinzipien der katholischen Lehre vertraut<br />

zu machen und sich die gehörigen Sachkenntnisse zu<br />

erwerben. Darum mahnt das Konzil die Gläubigen, „genau<br />

unterscheiden zu lernen zwischen den Rechten und<br />

Pfl ichten, die sie haben, insofern sie zur Kirche gehören,<br />

und denen, die sie als Glieder der menschlichen Gesellschaft<br />

haben. Beide sollen sie harmonisch miteinander<br />

verbinden suchen und daran denken, daß sie sich auch<br />

in jeder zeitlichen Angelegenheit vom christlichen<br />

Gewissen führen lassen müssen: keine menschliche<br />

Tätigkeit, auch in weltlichen Dingen nicht, läßt sich ja<br />

der Herrschaft Gottes entziehen.“ 201<br />

Mündiges Gewissen<br />

Seit dem Konzil weisen nicht wenige Christen immer<br />

wieder auf ihre Mündigkeit hin. Hierbei ist aber sehr zu<br />

beachten, daß Mündigkeit keineswegs bedeutet, sich<br />

nach Belieben bestehen den Verpfl ichtungen zu entziehen<br />

oder sich seine Privatmoral oder seinen eigenen<br />

Katechismus zurechtzulegen. Mündigkeit bedeutet,<br />

auf Grund eigenen Nachdenkens und gründlichen<br />

Studiums der Lehre der Kirche in Eigenverantwortung<br />

selb ständige Entscheidungen zu fällen. Wenn man<br />

früher vielleicht zu sehr immer wieder auf ein Wort<br />

der Kirche zu aktuellen Anlässen wartete, sollte man<br />

heute mehr und mehr fähig werden, auch ohne einen<br />

Hirtenbrief zu einer echten Gewissensent scheidung zu<br />

kommen. „Bei ihrer Gewissensbildung müssen jedoch<br />

die Christgläubigen die heilige und sichere Lehre der<br />

Kirche sorgfältig vor Augen haben. Denn nach dem<br />

Willen Christi ist die katholische Kirche die Lehrerin der<br />

Wahrheit; ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit, die Christus<br />

ist, zu verkündigen und authentisch zu lehren, zugleich<br />

auch die Prinzipien der sittlichen Ordnung, die aus dem<br />

Wesen des Menschen selbst hervorgehen, autoritativ<br />

zu erklären und zu bestätigen“ 202 .<br />

Mündigsein im christlichen Sinn bedeutet, herangewachsen<br />

zu sein, zur Fülle des Mannesalters Christi<br />

(Epheser 4,13), sich die Gesinnung Christi (Phil. 2,5) zueigen<br />

gemacht zu haben. Ohne Studium und Betrachtung<br />

der Hl. Schrift kann niemand zu dieser Geisteshaltung<br />

gelangen, deshalb sagt das Konzil: „Der Jünger hat<br />

gegenüber Christus, dem Meister, die Pfl icht, die von<br />

ihm empfangene Wahrheit immer vollkommener<br />

kennenzu lernen, in Treue zu verkünden und kraftvoll<br />

zu verteidi gen ...“ 203<br />

Mehr als in früheren Zeiten muß uns bewußt sein,<br />

daß es nicht nur gilt, die eigene Seele zu retten, sondern<br />

Verantwortung zu tragen auch für die anderen: „So stark<br />

ist in diesem Leib die Ver bindung und der Zusammenhalt<br />

der Glieder (vgl. Eph. 4,16), daß man von einem<br />

Glied, das nicht nach seinem Maß zum Wachstum des<br />

Leibes beiträgt, sagen muß, es nütze weder der Kirche<br />

noch sich selber.“ 204<br />

Wissen, Gewissen und Verantwortung stehen dicht<br />

nebenein ander, ja sind unlöslich miteinander verwoben.<br />

Zwar macht ein waches Gewissen die Entscheidung<br />

schwerer, aber es allein gibt dem Leben Würde und<br />

201 Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“, Nr. 36, Text des 2. Vatikanischen<br />

Konzils.<br />

202 Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis Humanae“, Nr. 14,<br />

Text des 2. Vatikanischen Konzils.<br />

203 Ebenda.<br />

204 Dekret über das Laienapostolat „Apostolicam Actuositatem“, Nr.<br />

2, Text des 2. Vatikanischen Konzils.<br />

4. Teil Grundwerte<br />

91


4. Teil Grundwerte<br />

92<br />

Klarheit, es allein ermöglicht uns letzten Endes ein<br />

menschenwürdiges Dasein.<br />

Die Frage nach der christlichen Verantwortung für<br />

unser eigenes Leben und den Bereich, in dem wir in<br />

Familie, Beruf und Öffentlichkeit tätig sind, ist heute<br />

drängender als früher, weil die Öffentlichkeit weitgehend<br />

die christlichen Prinzipien ignoriert, ja bekämpft.<br />

Der Christ muß sich an Christus und seinen Forderungen<br />

aus richten. Der Katholik erhält darüber hinaus<br />

durch das Lehr amt der Kirche in vielen Fragen von<br />

Bedeutung Orientierungs hilfen für eine christliche<br />

Lebensführung. So auch für das kom plexe Gebiet der<br />

Friedenssicherung und -förderung. Bereits im November<br />

1981 veröffentlichten die österreichischen Bischöfe<br />

eine Erklärung zur Friedensproblematik. Sie ist des halb<br />

von besonderer Bedeutung, weil sie von den Oberhirten<br />

eines neutralen Staates stammt:<br />

„Der Einsatz für den Frieden hat seine Wurzeln im<br />

Evangelium Jesu Christi, der seinen Jüngern den Auftrag<br />

zur Brüderlich keit gegeben und diese durch seine<br />

Menschlichkeit begründet hat. Er hat der Welt den<br />

Frieden versprochen, wie sie ihn selbst nicht geben<br />

kann. So sehen wir in den ehrlichen Bemühungen um<br />

den Frieden eine Verwirklichung der Nachfolge Christi<br />

in einer Welt, die anders denkt.<br />

Dies verpfl ichtet uns aber auch, ernsten, kritischen<br />

und zum Teil ungelösten Fragen nicht auszuweichen:<br />

So muß gefragt werden, wie sich Frieden, Gewaltlosigkeit<br />

einerseits und berechtigte Not wehr anderseits<br />

zueinander verhalten. Das führt zur Frage, welche<br />

Werte auch unter Opfern verteidigungswürdig sind, ja,<br />

verteidigt werden müssen. Zu undifferenziert erscheint<br />

uns die öfter geäußerte Meinung, als dürften staatliche<br />

Unabhängigkeit, Freiheit und Menschenrechte unter<br />

allen Umständen nur durch absolute Gewaltlosigkeit<br />

verteidigt werden. Weder aus der Hl. Schrift noch aus<br />

der Lehre der Kirche kann abgeleitet werden, daß Beruf<br />

und Dienst des Soldaten in sich unehrenhaft seien ...<br />

Die Friedensbewegung unserer Tage birgt großen Idealismus<br />

und zugleich mitunter auch Kurzsichtigkeiten<br />

in sich und könnte in Gefahr sein, politisch mißbraucht<br />

zu werden.“<br />

Die Kirche darf die Gläubigen in den oft schwierigen<br />

Problemen des gesellschaftlichen wie privaten Lebens<br />

nicht allein lassen. Sie kommt aber dieser Verpfl ichtung<br />

neben einer Fülle von Stellungnahmen ihrer verantwortlichen<br />

Repräsentanten auch in den Massenmedien<br />

mit zahlreichen Hirtenbriefen zu aktuellen Fragen nach.<br />

Aus der großen Bandbreite dieser Publikationen<br />

seien einige Veröffentlichungen in Erinnerung gerufen:<br />

„Zur gesellschaftspolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik“;<br />

„Gegen Gewalt und Terror in der Welt“; „Zur<br />

Sorge um die straffällig gewordenen Mitbürger“, „Gesellschaftliche<br />

Grundwerte und menschliches Glück“; „Zu<br />

Fragen der menschlichen Geschlechtlichkeit“; „Zur Seelsorge<br />

an Be hinderten“ oder das Hirtenwort „Gerechtigkeit<br />

schafft Frieden“. In ihm betonen die Bischöfe, daß<br />

es dem kirchlichen Amt aufgetragen ist, „die Prinzipien<br />

und Normen des sittlich Verpfl ichtenden in Fragen des<br />

Friedens zu verkündigen, sei es gelegen oder ungelegen.<br />

Dadurch werden dem Gewissen der Gläubigen und<br />

aller Menschen guten Willens Orientierungs hilfen für<br />

das Handeln gegeben. Die Verantwortung für die Anwendung<br />

moralischer Grundsätze trägt der Handelnde<br />

selbst, sie kann ihm nicht abgenommen werden.“ (S. 64<br />

f.) „Militärischer Dienst ist nur sinnvoll zur Sicherung und<br />

Erhaltung, notfalls zur Wiederherstellung des Friedens.<br />

Spätestens seit den Über fällen auf Kambodscha und<br />

Afghanistan scheint es klar zu sein, daß ein Volk ohne<br />

bewaffnete Streitkräfte und den ent schlossenen Willen<br />

zur notfalls bewaffneten Verteidigung ver brecherischen<br />

Angriffen seitens Dritter schutzlos ausgeliefert ist. Wer<br />

trotz dieser Erkenntnis aus ehrlicher Gewissensüberzeugung<br />

glaubt, nicht Soldat werden zu dürfen, ohne<br />

persön lich schuldig zu werden, ist nach unserer Verfassung<br />

berechtigt und nach dem Sittengesetz verpfl ichtet,<br />

den Waffendienst zu verweigern. Allerdings muß er<br />

zu einem anderen Dienst an der Gemeinschaft bereit<br />

sein, denn bloße Wehrdienstverweigerung allein ist<br />

noch kein positiver Beitrag zum Frieden. Soldaten und<br />

Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen sollten<br />

sich um mehr Verständnis und Toleranz für den jeweils<br />

anderen Standpunkt bemühen, vorausgesetzt, daß<br />

es sich bei beiden um eine echte Gewissensentscheidung<br />

handelt. Soldatsein wie auch Verweigerung des<br />

Wehrdienstes müssen ja vor dem eigenen Gewissen<br />

verantwortet werden.“ 205<br />

Wer sich von seinem Gewissen leiten läßt, wer seine<br />

Bindung an Gott immer enger zu knüpfen sucht, um sich<br />

von ihm führen zu lassen, der wird auch die Kraft und<br />

Hilfe dessen an sich erfahren, der uns verheißen hat, bei<br />

uns zu sein alle Tage bis ans Ende der Welt.<br />

P. Lothar Groppe SJ, geb. 1927 in Münster, ist Militärpfarrer<br />

a. D. und war u. a. als Dozent und Militärdekan<br />

an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg<br />

tätig. Daneben hielt er Vorlesungen und Seminare für die<br />

österreichischen Generalstabslehrgänge. Eine Zeitlang<br />

leitete er die deutsche Sektion des Radio Vatikan. Ferner ist<br />

er publizistisch tätig und veröffentlicht vielfältige Aufsätze,<br />

u. a. in der „Jungen Freiheit“ und in „Soldat im Volk“. Zur<br />

Zeit arbeitet er als Seelsorger in einer kirchlichen Mutter-<br />

Kind-Einrichtung.<br />

Dieser Aufsatz ist zuerst erschienen in: IBW-<strong>Journal</strong>, Informationsdienst<br />

des Deutschen Instituts für Bildung und<br />

Wissen, Paderborn, September 1983. Er wurde für die vorliegende<br />

Ausgabe geringfügig redaktionell überarbeitet.<br />

205 Groppe, Lothar: Müssen Christen die Waff en niederlegen? In „Auftrag“,<br />

Nr. 122/123, August 1982, S. 45. Vgl. hierzu auch die Veröffentlichungen<br />

des Verfassers in „Theologisches“, „Friedens dienste<br />

mit und ohne Waff en“, 6/1982; „Was sagt das 11. Vati kanische<br />

Konzil zum soldatischen Dienst und zur Verteidigung?“ in: „Die<br />

Ethik des Soldaten in der Gesellschaft von Morgen“, Weltforum<br />

Verlag, München 1978, S. 85 f.; „Wenn Soldaten nach Lourdes<br />

ziehen?“ in „Publik“, 4. 9. 1970.


5. Teil Bücher<br />

1. Die SWG hat ein Buch angeregt wie folgt:<br />

Prof. Dr. Harald Seubert, »Was wir wollen können«.<br />

Bürgerliche Identität am Beginn des 21. Jahrhunderts.<br />

Aus dem Expose:<br />

In jüngster Zeit wird die Forderung nach dem konservativen<br />

Element der Politik in <strong>Deutschland</strong> wieder<br />

verstärkt erhoben. Unübersehbare ungelöste Probleme,<br />

u. a. im Zusammenhang der Integrationspolitik,<br />

machen deutlich, daß Politik und Medien sich den<br />

Realitäten kaum mehr stellen. Diese „Apperzeptionsverweigerung“<br />

(H. von Doderer) ging in den letzten zwei<br />

Jahrzehnten mit einer zunehmenden Zurückdrängung<br />

bürgerlicher Denkweisen einher. Umgekehrt wird aber<br />

auch deutlich, daß der Begriff des Konservativen bzw.<br />

Bürgerlichen nicht klar ist. Noch weniger deutlich ist,<br />

was ein moderner Konservatismus auf der Höhe des 21.<br />

Jahrhunderts sein kann. Diese Unschärfe macht es dem<br />

Gegner leicht, bürgerliche Kreise als rückwärtsgewandte,<br />

„rechts“ und sogar „rechtsextrem“ zu verunglimpfen.<br />

Dadurch, daß (seit dem Sarrazin-Buch und der anschließenden<br />

„Debatte“) das Konservatismus-Thema<br />

im Zusammenhang der Frage der Meinungsfreiheit<br />

debattiert wird, und dies in einem breiten intellektuellen<br />

Diskurs (Einlassungen von Baring, aber auch <strong>Journal</strong>isten<br />

wie Broder und Thea Dorn), deutet sich eine<br />

Kehrtwende an. Um so wesentlicher ist es, daß sich ein<br />

moderner Konservatismus heute zu artikulieren – und<br />

nicht nur zu reagieren – vermag. Ein entscheidender<br />

Schlüssel für konservatives Selbstverständnis ist der<br />

Begriff des Bürgertums und der bürgerlichen Identität.<br />

Ihm wird eine schmale Monographie (von ca. 80 Manuskriptseiten)<br />

gewidmet, die sich indirekt zugleich als Positionsbestimmung<br />

konservativer Grundlagen versteht.<br />

(1) In dem einführenden Kapitel wird eine begriff s-<br />

und problemgeschichtliche Bestimmung von Bürgertum<br />

und Bürgerlichkeit gegeben. Damit muß in diesem<br />

Kapitel auch von Untergang und Zerstörung des Bürgertums<br />

im Sog des linken und rechten Totalitarismus die<br />

Rede sein. Sowohl der Bolschewismus als auch der Nationalsozialismus<br />

zielen explizit auf die Zerstörung der<br />

bürgerlichen Welt. Indessen nistete auch in ihr selbst der<br />

Keim der Selbstzerstörung. Das Décadence-Bewußtsein<br />

und seine Deutung durch Nietzsche und Thomas Mann<br />

muß zur Kenntnis nehmen, wer in der Moderne an den<br />

Begriff des Bürgerlichen anschließen will.<br />

(2) Das zweite Kapitel wird der Aktualität, aber<br />

zugleich der notwendigen Transformation des Bürgertums<br />

nach dem Ende des totalitären Zeitalters<br />

gewidmet sein. Die deutsche Situation unterscheidet<br />

sich hier durchaus von jener in Frankreich oder England,<br />

insofern die „Angestelltenkultur“ der sechziger Jahre im<br />

Westen, die DDR-Ideologie im Osten eine Aushöhlung<br />

bürgerlichen Selbstverständnisses und bürgerlicher<br />

Selbstverständlichkeiten bedeutete. Dennoch war es<br />

gerade eine (nie gänzlich zerstörte) bürgerliche Lebenswelt,<br />

die die „friedliche Revolution“ von 1989 auslöste.<br />

Man muß sich zwanzig Jahre später auch fragen, wo<br />

ihre Impulse im geeinten <strong>Deutschland</strong> geblieben sind.<br />

Von heute her legt sich ein sehr ambivalenter Eindruck<br />

nahe: Zum einen ist gerade in der jüngeren Generation<br />

eine starke Neigung zu bürgerlichem Habitus und<br />

seinen Lebensformen zu erkennen, auch wenn er sich<br />

nicht durchgehend politisch artikuliert. Zum anderen<br />

haben, durch unverhältnismäßigen medialen und politischen<br />

Einfl uß (Noelle-Neumann: „Schweigespirale“),<br />

5. Teil Bücher<br />

93


5. Teil Bücher<br />

94<br />

die Ideologen der „Kulturrevolution“ von 1968 auf den<br />

Feldern von Geschichts-, Familien- und Genderpolitik,<br />

aber auch im sozial- und gesellschaftspolitischen Sinn<br />

die bürgerliche Mitte vermeintlich besetzt. Tatsächlich<br />

ist diese Mitte damit erodiert und unkenntlich geworden,<br />

sehr zum Schaden der „Freiheit in der Republik“.<br />

(3) Diese Diagnose muß im dritten und letzten Kapitel<br />

des Buches auf den Rahmen einer Therapie hin<br />

fortgeschrieben werden. Hier wird vor dem Hintergrund<br />

der globalen Welt gefragt, wie Bürgerlichkeit, als ein<br />

singuläres Proprium europäischer Identität, am Beginn<br />

des 21. Jahrhunderts Leitfaden für die Politik und das<br />

2. Die SWG ist Mitherausgeberin des folgenden Buches<br />

Die missbrauchte Republik<br />

*<br />

Selbstverständnis eines liberalen Konservatismus sein<br />

kann. Besonderes Augenmerk gilt der Universitäts- und<br />

Bildungspolitik. Auch wird die Bedeutung des Christentums<br />

und eines Patriotismus, der nach Kant zugleich<br />

die Weltbürgerlichkeit garantiert, für jene bürgerliche<br />

Identität herausgearbeitet. Und nicht zuletzt ist zu<br />

fragen, was Bürgerlichkeit für den geforderten „fl exible<br />

man“ des globalen Zeitalters bedeuten kann?<br />

Es wird sich zeigen, daß es eine freie Republik und<br />

eine wirklich politische Dimension des Gemeinwesens<br />

ohne bürgerliche Identität nicht geben kann. Zugleich<br />

wird deutlich werden, wie weit wir davon heute entfernt<br />

sind.<br />

Aufklärung über die Aufklärer (Hrsg. Späth/Aden) Verlag Inspiration Un Ltd Hamburg/London <strong>2010</strong><br />

Seit AnfangFrühjahr <strong>2010</strong> sieht sich die bundesdeutsche<br />

Gesellschaft mit einer beispiellosen Welle<br />

von Enthüllungen über den Missbrauch von Kindern<br />

und Jugendlichen konfrontiert. Aus der häufi g veröff<br />

entlichten und durch bestimmte gesellschaftliche<br />

Kreise gestützten Meinung, der sexuelle Missbrauch<br />

von Kindern sei eine Art römisch-katholisches Problem,<br />

wurde, wie Umfragen zeigten, schnell öff entliche Meinung.<br />

Die nackten Fakten polizeilicher Kriminalstatistik<br />

zeigten freilich ein völlig anderes Bild: „„Den einigen<br />

hundert bisher bekannten Übergriff en in katholischen<br />

Einrichtungen seit den fünfziger Jahren... stehen ca.<br />

16.000 Übergriff e jährlich in der gesamten Gesellschaft<br />

gegenüber.“ Diese Feststellung ist nur eine von vielen<br />

wichtigen Korrekturen, die das neue Buch „Die missbrauchte<br />

Republik – Aufklärung über die Aufklärer“ in<br />

der aktuellen Missbrauchsdebatte anbringt. Während<br />

in dieser Zeitschrift sonst meist Veröff entlichungen<br />

von dritter Seite besprochen werden, ist in diesem<br />

Falle die Staats- und Wirtschaftspolitische Gesellschaft<br />

selbst Herausgeberin – zusammen mit der evangelischkonservativen<br />

„Kirchlichen Sammlung um Bibel und<br />

Bekenntnis in Bayern e.V.“ und ihrem Vorsitzenden<br />

Andreas Späth.“<br />

In dem neuen Buch geht es, wie Prof. Menno Aden<br />

in der Einleitung des Buches darstellt, nicht nur um Kindesmissbrauch.<br />

Es geht um die von der 68er-Bewegung<br />

proklamierte sogenannte „sexuelle Revolution“ und<br />

damit um deren Gesellschaftspolitik insgesamt, die<br />

seit jeher im Fokus der kritischen Aufmerksamkeit der<br />

SWG steht.<br />

So furchtbar jeder einzelne Fall gerade in der Kirche<br />

ist, so heuchlerisch war der Aufstand der vermeintlich<br />

Anständigen. Sexueller Missbrauch ist in unserem Land<br />

ein Thema, das zwar strafrechtlich klar defi niert ist, über<br />

das sich jedoch bestimmte Kreise - merkwürdigerweise<br />

mitunter dieselben, die nun auf die katholische Kirche<br />

einprügeln -– in den Jahren nach 1968 und teilweise<br />

bis weit in die neunziger Jahren hinein - ein sehr<br />

eigenwilliges Bild gemacht hatten, das von massiver<br />

Verharmlosung der Pädosexualität bis zu deren off ener<br />

Befürwortung reicht und dieses propagierten, wie in<br />

dem neuen Buch in eindrucksvoller Weise nachgewiesen<br />

wird..


So waren es nicht nur Pädophilenverbände, sondern<br />

auch Greminen von Parteien und sogenannter<br />

Bürgerrechtsbewegungen wie der Humanistischen<br />

Union, der wiederum zahlreiche Politiker aus FDP, SPD<br />

und Bündnis90/Die Grünen angehören, die sich nicht<br />

entblödeten, für ein angebliches „„Recht der Kinder<br />

auf Sexualität“„ einzutreten. Der Vorstand der Humanistischen<br />

Union warnte noch vor wenigen Jahren vor<br />

einer Kriminalisierung und Dämonisierung von Pädophilen,<br />

und Pro Familia, sowie die Bundeszentrale für<br />

gesundheitliche Aufklärung förderten bis vor kurzer Zeit<br />

mit Steuermitteln Broschüren, in denen Erzieher und<br />

Familienmitglieder im Rahmen sogenannter Sexualerziehung<br />

im Grunde off en zu pädophilen Handlungen<br />

aufgefordert wurden.<br />

Diese Tatsachen und die fast schon refl exartigen<br />

Anklagen antiklerikaler und antikirchlicher Kreise waren<br />

die beiden Impulse für die Aufnahme zu den Arbeiten<br />

am das oben genannten Buch. Es gliedert sich grob in<br />

zwei Teile, wobei der erste Teil Der erste Teil besteht<br />

aus Aufsätzen von Kurt J. Heinz, Weihbischof Prof. Dr.<br />

Andreas Laun, Dr. Gerard van den Aardweg, Andreas<br />

Späth, Gabriele Kuby, Christa Meves, Dr. Albert Wunsch<br />

und Jürgen Liminskiin denen das Phänomen der<br />

Pädosexualität in allen Facetten beleuchtet wird: Welchen<br />

Umfang hat die Pädophilie in den verschiedenen<br />

Bereichen der Gesellschaft? Welchen Zusammenhang<br />

gibt es mit dem Zölibat und mit Homosexuellen im<br />

Priesteramt? Was ist von der griechischen „Knabenliebe“<br />

zu halten, auf die sich neuzeitliche Verharmloser und<br />

Förderer der Pädophilie so gern berufen? Ab wann<br />

begann die Infi zierung der im frühen 20. Jahrhundert<br />

aufgekommen Reformpädagogik mit dem „Virus“ der<br />

Pädophilie? Warum haben maßgebliche Vordenker der<br />

68er-Bewegung sexuelle Kontakte von Erwachsenen<br />

mit Kindern oft verharmlost und teilweise sogar off ensiv<br />

befürwortet? Wie kann die Pädophilie am besten zurückgedrängt<br />

werden? Was ist vom „Runden Tisch“ der<br />

Bundesregierung zu halten, der vor wenigen Wochen<br />

seine Tätigkeit aufgenommen hat? Auf alle diese und<br />

viele weitere Fragen geben Autoren wie Kurt J. Heinz,<br />

Weihbischof Prof. Dr. Andreas Laun, Dr. Gerard van<br />

den Aardweg, Andreas Späth, Gabriele Kuby, Christa<br />

Meves, Dr. Albert Wunsch und Jürgen Liminski klar und<br />

umfassend Antwort.<br />

Interessant ist, wie sehr Organisationen, die sich nun<br />

ganz besonders über Sünden im Bereich der Kirche<br />

ereifern, es selbst waren, die diese Sünden einst am<br />

liebsten zu einer Art Freiheitsrecht erklären wollten.<br />

Dies wird im zweiten Teil des Buches besonders<br />

deutlich, und der zweite Teil einer Dokumentation,<br />

die dem Leser immer wieder die Sprache verschlagen<br />

kann. Minutiös dokumentieren die Autoren des Buches<br />

anhand von Originalzitaten in der Sachverhalte und<br />

Texte veröff entlicht werden, die die Aktivitäten der ie<br />

Apologeten sexueller Handlungen von Erwachsenen an<br />

Kindern und deren Wirken in Kirche und Gesellschaft<br />

in erschütternder Deutlichkeit der Öff entlichkeit zu-<br />

gänglich machen. Insbesondere in den Jahren 1968<br />

bis etwa 1998, teilweise aber bis in die jüngste Zeit<br />

hinein, gab es einfl ussreiche gesellschaftliche Kräfte,<br />

die pädosexuelle Kontakte strafl os stellen wollten oder<br />

sogar als für das Kindeswohl nützlich propagierten. Mit<br />

Schaudern erfährt der Leser, wie die Pädophilenlobby<br />

nicht ohne Erfolg versucht hat, Kinderschutz-Verbände<br />

zu unterwandern und für ihr im Wortsinne perverses<br />

Anliegen auch noch Steuergelder zu bekommen. Das<br />

Buch belegt Querverbindungen dieser Kräfte – etwa zur<br />

Jugendarbeit der EKD, zur „feministischen Theologie“,<br />

zur Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, zur<br />

Zeitschrift „Bravo“ oder zu Homosexuellenverbänden –<br />

über die andere Publikationen zum Pädophilie-Skandal<br />

heute lieber schweigen.<br />

Abgerundet wird der Band durch philosophische<br />

Überlegungen von Prof. Dr. Harald Seubert zu den<br />

„emanzipatorischen Quellen des Bösen“, aus denen sich<br />

der gesellschaftliche Umgang mit der vorher betrachteten<br />

Missbrauchsproblematik speist. Nicht uninteressant<br />

ist dabei, wie sehr Organisationen, die sich nun<br />

in höchstem Maße über Sünden in der katholischen<br />

Kirche ereifern, es selbst waren, die diese Sünden einst<br />

am liebsten zu einer Art Freiheitsrecht erklären wollten.<br />

Fachaufsätze und Dokumentation zeigen durch Einblicke<br />

auch in szenerelevante Kreise, wo die eigentlichen<br />

Probleme liegen - sowohl qualitativ, als auch quantitativ.<br />

Das die Problematik - zumindest des Missbrauchs an<br />

Jungen - wohl eher brisanter wird, zeigt ein erschütternder<br />

Aufsatz des niederländischen Therapeuten<br />

Gerard van den Aardweg, dem wir tiefe Einblicke in die<br />

Zusammenhänge von Pädophilie und Homosexualität<br />

verdanken. Die Autoren sind dem heißen Eisen nicht<br />

ausgewichen, sondern haben zupackend die Situation<br />

unserer Gesellschaft aus verschiedensten Blickwinkeln<br />

analysiert.Dabei werden auch die Hinter- und Abgründe<br />

ausgeleuchtet und die schier unglaubliche Dreistigkeit<br />

selbsternannter Aufklärer aufgedeckt. Eine kleine Zahl<br />

bestens vernetzter Pädo-Aktivisten hat in den verschiedensten<br />

Bereichen – von den Universitäten über die<br />

Justiz bis zur Gesetzgebung im Ehe- und Familienrecht<br />

– unheilvoll gewirkt. Eine Schlüsselfi gur ist dabei der im<br />

Jahr 2008 verstorbene Professor für Sozialpädagogik<br />

Helmut Kentler: Besonders bedauerlich ist in diesem<br />

Zusammenhang, dass wo immer man sich mit der<br />

Apologie sogenannter Kindersexualität beschäftigt<br />

hat, sei es bei „Pro Familia“„, der Bundeszentrale für<br />

gesundheitliche Aufklärung oder entsprechend einschlägigen<br />

Organisationen stößt man auch seinen<br />

auf den Namen des Sozialpädagogen Helmut Kentler<br />

stößt. Er war es, der hofiert von der evangelischen<br />

Kirche, insbesondere verschiedener Einrichtungen<br />

der Jugendarbeit, die Frühsexualisierung von Kindern<br />

propagierte und Sexualität zwischen Minderjährigen<br />

und Erwachsenen verteidigte, ja sogar stolz verkündete,<br />

im Rahmen seiner Gutachtertätigkeit für den Berliner<br />

Senat einräumte bewirkt zu haben, dass Jugendliche bei<br />

wegen Missbrauchs vorbestraften Päderasten unterge-<br />

5. Teil Bücher<br />

95


5. Teil Bücher<br />

96<br />

bracht zu habwerden -– im vollen Wissen, ja sogar mit<br />

der Begründungwohl wissend, dass diese Verkehr mit<br />

den ihnen Anvertrauten haben würdätten (was dann<br />

off enbar auch tatsächlich der Fall war).<br />

Aber auch der zwischenzeitlich ebenfalls verstorbene<br />

Gerald Becker und sein Lebensgefährte Hartmut<br />

von Hentig waren in ein evangelisch-landeskirchliches<br />

Beziehungsgefl echt eingebunden, dass ihrem pädagogischen<br />

und sonstigem Treiben gegenüber Politik und<br />

breiter Öff entlichkeit den Nimbus der Seriosität, ja des<br />

moralisch Hochstehenden verlieh. Heute können auch<br />

noch so warme Worte von kirchlichen Vertretern nicht<br />

beispielsweise über die kaum aussprechbarenschockierende<br />

Verstrickungen des evangelischen Theologen Gerold<br />

Becker in den vermutlich größten systematischen<br />

Missbrauchsskandal der bundesdeutschen Geschichte<br />

hinwegtäuschen. Zur Wahrheit über die „chronique<br />

scandaleuse“ des bundesdeutschen Pädophiliedebatte<br />

gehört übrigens, dass es Figuren wir Kentler und Becker,<br />

die ganz off en die Pädosexualität bis in den kirchlichen<br />

Bereich hinein salonfähig machen wollten, auf katholischer<br />

Seite nicht gab.<br />

Getäuscht hatten sich aber vielleicht auch Täter vom<br />

Schlage Beckers selbst. Womöglich glaubten er und<br />

andere im Laufe der Jahre den zum Teil selbst in Umlauf<br />

gebrachten Lügen, über angebliche sexuelle Bedürfnisse<br />

von Kindern. In diesem Klima fortschreitender kollektiver<br />

Gehirnerweichung, in dem weite gesellschaftliche<br />

Kreise Sex mit Kindern nicht mehr verwerfl ich fi nden<br />

wollten, gab es einen Fels in der Brandung, den auch<br />

mächtigste Interessenverbindungen wohl abzuschleifen,<br />

aber nicht aufzulösen vermochten - das Strafrecht.<br />

So wundert es nicht, dass einschlägig engagierte Persönlichkeiten,<br />

darunter auch Politikern und (oft selbst<br />

3. Kirsten Heisig:<br />

Das Ende der Geduld<br />

Herder-Verlag, 205 Seiten, 14,95 Euro<br />

ISBN 978-3-451-30204-6<br />

Dr. med. Patricia Aden, Essen<br />

Vorsitzende des Landesfrauenrates NW<br />

Wie kommt es, daß ein Buch über kriminelle Jugendliche<br />

in Berlin, über heruntergekommene Schulen und<br />

sich wiederholende Jugendgerichtsverfahren zum<br />

Bestseller wird? Hier geht es nicht um ein lokales Phänomen<br />

oder bedauerliche Einzelfälle. Vielmehr wird die<br />

Symptomatik einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung<br />

anschaulich beschrieben. Die Erosion der staatlichen<br />

Ordnung ist so weit fortgeschritten, daß nur sofortige<br />

und konsequente Maßnahmen ein endgültiges Abgleiten<br />

verhindern können. So ist bereits der Titel als Auf-<br />

*<br />

einschlägig interessierten!) Wissenschaftlern so viel<br />

von der (teilweisen oder sogar vollständigen) Entkriminalisierung<br />

der Pädophilie schwadronierten. Dass es<br />

allerdings auch in Paragraphen „gegossenes“ Unrecht<br />

gibt, zeigen nicht nur viele Gesetze der NS-Zeit und der<br />

DDR, sondern auch der bundesdeutsche § 218. , so als<br />

ob sich durch das Verdrehen von Worten aus Unrecht<br />

Recht machen ließe...Das neue Buch belegt, wie zäh und<br />

hartnäckig fast 30 Jahre lang in <strong>Deutschland</strong> versucht<br />

wurde, sexuellen Kindesmissbrauch für rechtmäßig zu<br />

erklären. Erst Mitte/Ende der 1990er Jahre ist dieser<br />

Anschlag auf unsere Rechtsordnung angesichts einer<br />

durch schreckliche Verbrechen alarmierten Öff entlichkeit<br />

(vorerst) gescheitert.<br />

Abgerundet wird der Band durch philosophische<br />

Überlegungen von Prof. Dr. Harald Seubert zu den<br />

„emanzipatorischen Quellen des Bösen“, aus denen sich<br />

der gesellschaftliche Umgang mit der zuvor betrachteten<br />

Missbrauchsproblematik speist. An dem neuen Buch<br />

wird die bundesdeutsche Pädophiliedebatte kaum<br />

vorbeigehen können. Auch all denjenigen, die eine<br />

grundsätzliche Auseinandersetzung mit der sogenannten<br />

68er Bewegung für notwendig halten, liefert dieses<br />

Buch frappierende neue Erkenntnisse und Argumente.<br />

A.S./K.B.<br />

Das Buch kann bei der SWG bezogen werden. Da die<br />

SWG als gemeinnütziger Verein keine kaufmännische<br />

Tätigkeit entfalten darf und will, werden wir dieses Buch<br />

zum Selbstbezugpreis von 6 Euro/Stück abgeben. Wir<br />

würden es aber als Bestätigung unserer Arbeit ansehen,<br />

wenn Sie uns überdies eine Spende in Höhe von<br />

6 Euro (= Diff erenz zum Ladenpreis von 11.80 Euro )<br />

zukommen lassen.<br />

schrei zu verstehen: Das Ende der Geduld. Die Autorin<br />

Kirsten Heisig war Jugendrichterin am Amtsgericht<br />

Berlin-Tiergarten. Sie beschreibt aus ihrer täglichen<br />

Erfahrung Täterkarrieren. Eigentlich sind alle jungen<br />

Täter Opfer einer verfehlten Erziehung. Sie kommen<br />

aus Familien, in denen Alkohol und Videos den Alltag<br />

bestimmen, aus Wohlstandsverwahrlosung und aus<br />

Migrantenfamilien, die sich weigern, irgend etwas für<br />

die Zukunft ihrer Kinder zu tun.


Um eine Täterkarriere zu vermeiden, muß man beim<br />

ersten Regelverstoß schnell und konsequent reagieren.<br />

Dazu aber ist unser Staat nicht in der Lage. Zu viele<br />

Instanzen sind beteiligt, und entsprechend langsam<br />

und wirkungslos sind die Bemühungen, die Täter auf<br />

den Weg von Recht und Ordnung zurückzuführen.<br />

Besonders eindrucksvoll ist die Schilderung libanesischkurdischer<br />

Großfamilien (mit zehn und mehr Kindern),<br />

die mit ungeklärter Staatsangehörigkeit hier einwandern,<br />

Sozialhilfe beziehen und sich jeder Maßnahme<br />

der Integration widersetzen. Die Autorin plädiert dafür,<br />

in solchen Fällen delinquente Jugendliche zu ihrem<br />

eigenen Schutz aus ihren Familien zu nehmen, da sie<br />

sonst unweigerlich in die Kriminalität gedrängt werden.<br />

Es gibt gewisse Ansätze zur Hilfe, wie z. B. das Neuköllner<br />

Modell. Aber einzelne Projekte verlieren sich,<br />

wenn sie nicht von einem politischen Konzept und<br />

dem Willen zur Veränderung getragen werden. Dazu<br />

muß man das Ausmaß der Verwilderung erkannt haben.<br />

4. Schenk, Fritz/ Siebeke, Friedrich- Wilhelm<br />

Der Fall Hohmann<br />

Ein Deutscher Dreyfus<br />

Dokumentation eines Medien- und Rechtsskandals<br />

Universitas 3. Überrbeitete und ergänzte Aufl age <strong>2010</strong><br />

Martin Hohmann, damals CDU MdB, hielt in seinem<br />

Wahlkreis zum Tag der deutschen Einheit 2003 eine<br />

Rede. Darin hat er, in Entgegnung zu der damals (vgl.<br />

D. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker) neu entfachten<br />

Tätervolk-Debatte folgenden Gedanken entwickelt:<br />

An der bolschewistischen Oktoberrevolution<br />

und an den nachfolgenden Verbrechen im Sowjetkommunismus<br />

seien, was völlig unstreitig<br />

ist, sehr viele Täter jüdischer Herkunft beteiligt<br />

gewesen. Aber diese Täter seien keine wirklichen<br />

Juden (mehr) gewesen, weil sie sich von ihrem<br />

Judentum losgesagt hätten und in die Gottlosigkeit<br />

gefallen seien. In ähnlicher Weise seien auch<br />

die NS-Verbrechen von Menschen begangen<br />

worden, die ihrer Religion abgesagt hätten. Das<br />

zeige, dass Gottesferne und Religionsverlust der<br />

Nährboden für die schlimmsten Verbrechen sei,<br />

nicht aber die Zugehörigkeit zu einem bestimmten<br />

Volk. Wie es abwegig wäre, die Juden als Tätervolk<br />

der Verbrechen im Sowjetkommunismus<br />

zu bezeichnen, so liege es fern, das deutsche Volk<br />

als Tätervolk der NS-Verbrechen zu bezeichnen.<br />

Darin wurde Antisemitismus gesehen. Braungeist –<br />

Bandstifter – charakterloser Lump waren die Ausdrücke,<br />

die nun auf den völlig Überraschten niederprasselten.<br />

*<br />

Kriminalstatistiken täuschen darüber hinweg – so die<br />

Autorin –, daß die Intensität der Gewalt und der Anteil<br />

der Intensivtäter zugenommen haben. Andere Länder<br />

haben die gleichen Probleme wie wir und gehen damit<br />

anders und erfolgreicher um. Das wird am Beispiel von<br />

Rotterdam gezeigt. <strong>Deutschland</strong> ist europäischen Nachbarländern<br />

aber in einem Punkt voraus: Bei uns gibt<br />

es eine eigene Jugendgerichtsbarkeit, was in anderen<br />

Ländern nicht der Fall ist.<br />

Kirsten Heisig schreibt mit erkennbar innerer Beteiligung,<br />

dennoch sachlich und an eigenen Erfahrungen<br />

orientiert. Vielleicht ist das der Grund, warum ihre Aussagen<br />

nicht sofort zerrissen wurden. Ein anderer ist der,<br />

daß die Autorin nicht mehr lebt.<br />

Als Todesursache wird Selbstmord angegeben, Ende<br />

Juni, kurz vor dem Erscheinen ihres Buches. Frau Heisigs<br />

Tod ist ein Verlust für den Rechtsstaat. Ihr Buch sollte<br />

uns aufrütteln.<br />

Es entstand der Fall Hohmann. Niemand trat für ihn ein.<br />

Auch die katholische Kirche, welcher Hohmann eng<br />

verbunden war, stand schweigend beiseite. Hohmann<br />

wurde aus der CDU ausgeschlossen. Dagegen wehrte<br />

er sich durch alle Instanzen mit allen Rechtsmitteln, die<br />

ihm aber nicht halfen.<br />

Fritz Schenk von 1971-88 zuerst Co-Moderator,<br />

zuletzt Redaktionsleiter im ZDF-Magazin, schrieb die<br />

1. und 2. Aufl age des vorliegenden Buches. Friedrich-<br />

Wilhelm Siebeke (Jahrgang 1922) , erfolgreicher Anwalt<br />

in Düsseldorf und viele Jahre Mitglied des Bundesparteigerichts<br />

der CDU besorgte nun die 3. Aufl age. Dem<br />

2006 verstorbenen Schenk gilt ein ehrendes Andenken.<br />

Siebeke verdient höchste Anerkennung dafür, dass er<br />

sich die Mühe gemacht hat, das Verfahren gegen Hohmann<br />

von Anfang bis Ende rechtlich auszuleuchten.<br />

Das Buch hat in der 3. Aufl age vom Verlag den Untertitel<br />

bekommen Ein deutscher Dreyfus. Man muss<br />

als Deutscher beschämt dazu ausrufen: Wenn es doch<br />

so wäre! Dreyfus wurde vor dem 1. Weltkrieg in einer<br />

aufgehetzten Atmosphäre zu Unrecht des Landesverrats<br />

zugunsten <strong>Deutschland</strong>s bezichtigt und in einem<br />

formal richtigen Strafverfahren verurteilt. Als aber das<br />

Unrecht erkannt worden war, hat die französische Regierung<br />

Dreyfus rehabilitiert, entschädigt und in volle<br />

Ehren wieder eingesetzt. Dafür verdient Frankreich Respekt.<br />

Die völlige Unschuld Hohmanns ist längst, nicht<br />

5. Teil Bücher<br />

97


5. Teil Bücher<br />

98<br />

erst durch dieses Buch, erwiesen. Niemand von der CDU<br />

hat aber die Größe, sich bei Hohmann zu entschuldigen<br />

und ihn zu rehabilitieren. Auch die Bundeskanzlerin<br />

nicht. Das ist schändlich von ihr und beschämend für<br />

alle Deutschen. Hohmann ist wie Autor Siebeke privat<br />

berichtet, heute von allen verlassen und menschlich<br />

völlig zerbrochen.<br />

Schenk hatte hohen SED-Funktionären gedient,<br />

ehe er 1957 in die Bundesrepublik fl oh. Er sagte aus<br />

Erfahrung im Vorwort zur 1. Auflage: Zu den ersten<br />

Gewaltmaßnahmen jeder Diktatur gehören die Unterdrückung<br />

und schließlich die Beseitigung der Meinungsfreiheit.<br />

Er erinnert an den Skandal um den damaligen<br />

Bundestagspräsidenten Jenninger, der aufgrund einer<br />

unseligen Rede sein Amt verlor und fortan als Ausgestoßener<br />

lebte – und daran, dass der Vorsitzende des<br />

Zentralrates der Juden, Ignaz Bubis, (ohne Jenningers<br />

Namen zu nennen) genau die gleiche Rede gehalten<br />

hat und dafür allgemeine Zustimmung erfuhr. Jenninger<br />

wurde trotzdem nicht rehabilitiert! Zur 2. Aufl age<br />

(2004) sagt Schenk: Der Fall Hohmann ist… ist zu einem<br />

Politikum höchsten Ranges geworden. .. und spricht von<br />

der öff entliche Verdammnis, der Hohmann preisgegeben<br />

wurde, wie sie bisher kaum ihresgleichen hatte. Schenk<br />

zeichnet den Verlauf des Verfahrens akribisch nach. Karl<br />

Feldmeyer (FAZ-Redakteur a.D.) im Geleitwort zur 3. Auflage<br />

kann in der Rede Hohmanns (natürlich) nichts Antisemitisches<br />

erkennen. Das Thema, das sich Hohmann<br />

gewählt hatte, war die Forderung nach Gerechtigkeit für<br />

<strong>Deutschland</strong> (S. 13). Auch wenn man das Ergebnis nicht<br />

wüsste – man fühlt mit von Seite zu Seite wachsender<br />

Beklemmung, welche unsinnige Forderung Hohmann<br />

hier gestellt hat, man sieht ihn förmlich – wie Laokoon<br />

mit den Schlangen – in einem aussichtlosen Kampf<br />

mit linken Intriganten und feigen Parteifreunden, in<br />

welchem er untergehen wird.<br />

Das Uhrwerk der linken Meinungsmacher (S. 37 f)<br />

beschreibt Wirkweise der linken Seilschaften, die sich<br />

locker die Bälle zuwerfen. Der Ablauf des so genannten<br />

Skandals zeigt vor allem, wie das Räderwerk der Political<br />

Correctness im deutschen Pressewesen läuft. Obwohl<br />

Hohmanns Rede noch praktisch unbekannt war, keilten<br />

die Zeitungen bereits los. Berliner Zeitung: Charakterloser<br />

Lump! Usw. Wir haben dasselbe im September<br />

<strong>2010</strong> wieder bei Sarrazin erlebt. Bundespräsident,<br />

Bundeskanzlerin, höchste Repräsentanten des Staates<br />

schämen sich nicht, ein vernichtendes Urteil über ein<br />

Buch abzugeben, das sie zugeben, gar nicht gelesen zu<br />

haben. Das Buch ist erschütternd und erregend – aber<br />

leider auch von der Art, dass ein freiheitlicher Bürger<br />

es kaum erträgt, weiter zu lesen. Alle, alle schwenken<br />

in die vorgegebene Linie ein, auch die sich freiheitlich<br />

gebende FAZ (S. 44). Hohmann hatte keine Chance! Die<br />

CDU – Granden, taub für jedes sachliche Wort, lassen<br />

Hohmann fallen, ehe sie noch wissen, was er gesagt,<br />

gedacht oder getan hat. Wie bei Barschel - feige bis ins<br />

Mark. Siebeke hat als Mitglied im erkennenden Bundesparteigericht<br />

der CDU entsetzt zusehen müssen,<br />

wie Hohmann gegen alles Recht mißhandelt wurde. In<br />

einem Sondervotum hat er gegen den Parteiausschluß<br />

Hohmanns gestimmt. Alle zum Fall Hohmann ergangenen<br />

zehn (!) bis zum BVerfG ergangenen Entscheidungen<br />

hat er zusammen mit seinem Sondervotum und<br />

der hierzu vom verstorbenen FAZ-Redakteur Fromme<br />

verfaßten Anmerkung in der 3. Aufl age veröff entlicht.<br />

Zusammen mit hier erstmals veröff entlichten Entscheidungen<br />

zum Fall ist das eine in der bundesdeutschen<br />

Rechtsgeschichte einmalige Dokumentation!<br />

Es will etwas heißen, wenn der hoch betagte Anwalt<br />

es als Verpfl ichtung beschreibt, diese Dokumentation<br />

vorzulegen, und wenn er sagt: Das Hohmann- Verfahren<br />

war kein “gerechtes Verfahren“ ( S. 185). Auf S. 186 f gibt<br />

Siebeke ein Verzeichnis der von den verschiedenen<br />

Instanzen gemachten Verfahrensfehler. Diese werden<br />

auf den Seiten 181-272 darlegt und erläutert. Auch der<br />

juristische Laie kann oft nur den Kopf schütteln, und<br />

der Jurist fragt sich betroff en: Haben wir Deutschen aus<br />

zwei Diktaturen, aus NS- Zeit und DDR nichts gelernt?<br />

Herrscht dieselbe Feigheit? Dieselbe Duckmäuserei?<br />

Dieselbe nassforsche Missachtung des Rechtes auch<br />

bei uns unter dem Grundgesetz? Das wird man leider<br />

so sehen müssen, jedenfalls immer dann, wenn es um<br />

bestimmte Themen geht.<br />

Das Buch sollte jeder freiheitliche Bürger lesen. Und<br />

wenn er es vor lauter Empörung nicht zuende liest –<br />

dann möge er es für seine Kinder und Enkel hinstellen,<br />

und folgende Belehrung hinzufügen: So fängt die<br />

Unfreiheit an!<br />

M.A.<br />

12.11.10


Zum Schluß<br />

Odysseus<br />

Wie elend stillzusitzen, abzuschließen,<br />

zu Rost verwittern, alt und ungebraucht.<br />

Als ob es Leben wäre, nur zu atmen!<br />

Doch Alter hat noch Würde und Bestimmung.<br />

Der Tod schließt alles. Doch bevor er naht,<br />

sei etwas noch des Ruhmes wert getan.<br />

Die Sterne glitzern schon vom Bergeskamm,<br />

der Tag zerfl ießt, es steigt der Mond gemach,<br />

und aus dem Meer raunt es mit tausend Stimmen.<br />

Kommt, Freunde, auf! Noch ist es nicht zu spät,<br />

uns eine Welt, die neuer ist, zu suchen.<br />

Stoßt ab, und schlagt in klarem Takt die Ruder.<br />

Denn jenseits, wo die Sonne untergeht,<br />

und jenseits aller Sterne dort im Westen,<br />

da muß ich hin, soweit, bis daß ich sterbe. 206·<br />

206 · Nach ägyptischer und griechischer Vorstellung lagen das Totenreich<br />

oder die Inseln der Seligen jenseits der Säulen des Herkules<br />

im Westen.<br />

sei das Gedicht Ulysses – Odysseus von Alfred Lord<br />

Tennyson (Auszug) eingerückt. Viele unserer Leser<br />

haben ihre Berufsjahre hinter sich, schauen etwas<br />

resigniert auf die Entwicklungen und meinen, es sei<br />

zu spät, uns eine Welt, die neuer ist, zu suchen. So ist es<br />

nicht. Der Tod schließt zwar alles. Doch bevor er naht, sei<br />

etwas noch des Ruhmes wert getan … Sie können uns<br />

eine Spende zukommen lassen oder die SWG auch in<br />

Ihrem Testament bedenken.<br />

Mag sein, daß uns die Brecher unterspülen.<br />

Mag auch sein, und wir sehen jene Inseln<br />

der Seligen und sehen auch Achill,<br />

den Helden, den wir kannten, noch einmal.<br />

Und sind wir gleich nicht mehr so stark wie einst,<br />

da wir die Erde und den Himmel faßten,<br />

so sind wir doch noch immer, die wir sind:<br />

ein Bündnis heißer, gleichgestimmter Herzen,<br />

zwar schwach durch Alter und durch manchen Schlag,<br />

doch stark in einem ungebeugten Willen,<br />

zu streben, suchen, fi nden und nicht weichen.<br />

(gekürzt; übersetzt aus dem Englischen von M. Aden.<br />

Das ungekürzte Gedicht übersetzt unter: www.<br />

dresaden.de B III Nr. 2 Englisch)<br />

Zum Schluß<br />

99


100<br />

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