Gesamtausgabe DJ 2010 - Deutschland Journal
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<strong>Deutschland</strong>-<strong>Journal</strong><br />
<strong>2010</strong><br />
Staats- und Wirtschaftspolitische Gesellschaft e. V.
2<br />
Kleine swg-Reihe, Heft 80<br />
Blibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation<br />
in der Deutschen Nationalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten<br />
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />
© <strong>2010</strong> by Staats- und Wirtschaftspolitische Gesellschaft e. V.<br />
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Bankverbindung: Postbank Hamburg (BLZ 200 100 20) Nr. 3396 14 - 200<br />
Redaktion: Prof. Dr. Menno Aden<br />
Druck: Rautenberg Druck GmbH, 26789 Leer<br />
ISSN 0944-324X<br />
ISBN 3-88527-105-2
Zu dieser Ausgabe des <strong>Deutschland</strong>-<strong>Journal</strong>s............................................................................................................................... 5<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
1. Verbotene Siege 1940 – Compiègne und Dünkirchen<br />
von Menno Aden ......................................................................................................................................................................... 7<br />
2. Deutsche Nachkriegsmedien und die Umerziehung der Deutschen<br />
von Ekkehard Zimmermann ................................................................................................................................................. 21<br />
3. Geschichte im Korsett des politischen Strafrechts<br />
Meinungsfreiheit im „freien Westen“<br />
von Günter Bertram ................................................................................................................................................................ 31<br />
4. Uwe Barschel – Richtigstellung eines Augenzeugen<br />
von Rainer U. Harms ................................................................................................................................................................ 41<br />
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
1. Deutsche Entdecker – Richard Kandt<br />
und die Quellen des Nils ........................................................................................................................................................ 49<br />
2. Bedingt abwehrbereit<br />
von Reinhard Uhle-Wettler ................................................................................................................................................... 51<br />
3. <strong>Deutschland</strong> – das Land der Deutschen und der Türken?<br />
von Stefan Hug ......................................................................................................................................................................... 59<br />
3. Teil Geschichte<br />
1. Ihr Deutschen wollt wohl in allem die Größten sein – also auch bei Verbrechen<br />
N.N. ................................................................................................................................................................................................ 67<br />
2. Das blonde Kind - Aus dem Tagebuch des Bischofs von Oran<br />
aus der Zeit des Algerienkrieges ........................................................................................................................................ 68<br />
3. Der Geist des Warschauer Ghettos<br />
von Karl-Heinz Kuhlmann ....................................................................................................................................................... 69<br />
4. Eine Hinrichtung – A Hanging ............................................................................................................................................... 73<br />
5. Lust am Leidem anderer ......................................................................................................................................................... 75<br />
4. Teil Grundwerte<br />
1. Die unaufhaltsame Islamisierung Europas<br />
von Menno Aden ........................................................................................................................................................................ 77<br />
2. Wiedervereinigung der christlichen Kirchen?<br />
von Hinrich Bues ..........................................................................................................................................................................83<br />
3. Gewissen und Verantwortung<br />
von Lothar Groppe..................................................................................................................................................................... 85<br />
5. Teil Bücher ................................................................................................................................................................................... 93<br />
Zum Schluß ...................................................................................................................................................................................... 99<br />
Inhalt<br />
3
Zu dieser Ausgabe<br />
des <strong>Deutschland</strong>-<strong>Journal</strong>s<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
Heimkehret fernher aus den fernen Landen,<br />
in seiner Seele tief bewegt der Wanderer;<br />
Er legt von sich den Stab und knieet nieder,<br />
Und feuchtet deinen Schooß mit stillen Tränen,<br />
O deutsche Heimat! – Woll ihm nicht versagen<br />
Für viele Liebe nur die eine Bitte:<br />
Wann müd am Abend seine Augen sinken,<br />
auf deinem Grunde lass den Stein ihn fi nden,<br />
darunter er zum Schlaf sein Haupt verberge.<br />
Adalbert v. Chamisso<br />
(1781–1838)<br />
Chamisso schrieb dieses Gedicht im Oktober 1818,<br />
als er nach einer mehrere Jahre währenden Welt- und<br />
Entdeckungsreise auf einem russischen Schiff in Swinemünde<br />
wieder deutschen Boden betrat. Dieses Gedicht<br />
und seine Umstände regen uns an, unsere nationale Befi<br />
ndlichkeit unter drei Gesichtspunkten zu überprüfen.<br />
Erstens: Heimkehret fernher aus den fernen Landen<br />
Chamisso war von einer russischen Forschungsreise<br />
zurückgekommen, keiner deutschen. Der deutsche<br />
Beitrag zur Entdeckung und Eroberung der Welt war<br />
gering. Das Deckblatt dieser Ausgabe zeigt, wie vor<br />
Beginn der Weltkriege die Macht auf der Erde verteilt<br />
war. Es wird kaum jemals untersucht, welche mentalen<br />
Folgen es für <strong>Deutschland</strong> hatte und bis heute hat,<br />
daß wir an den Reichtümern der weiten Welt nicht<br />
teilhatten, welche unseren Nachbarvölkern aus ihren<br />
Untertanengebieten zufl ossen. Der höchst profi table<br />
Sklavenhandel begründete den Reichtum und damit<br />
die politische Bedeutung Englands. Es konnte daher die<br />
Söldnerheere bezahlen, die es ihm seit etwa 1700 ermöglichten,<br />
in und außerhalb Europas praktisch ununterbrochen<br />
Kriege zu führen. Deutsche hatten mangels<br />
eigener überseeischer Interessen kein Verständnis für<br />
Welt-Macht bzw. Welt-Politik. Diese deutsche Welt-Ferne<br />
und unsere politische Selbsteinschätzung haben sich<br />
aber infolge der deutschen Siege über England und<br />
Frankreich zum Besseren geändert. Darüber verhält<br />
sich der Hauptaufsatz dieses Heftes Verbotene Siege<br />
1940 – Compiègne und Dünkirchen.<br />
Die Tatsache, daß wir auch 70 Jahre später diese<br />
deutschen Siege nicht unverkrampft bewerten können,<br />
ist auch eine Folge der von den USA an uns Deutschen<br />
vollzogenen Umerziehung (re- education), welche Zimmermann<br />
behandelt.<br />
Zweitens: O deutsche Heimat! – Woll ihm nicht versagen/Für<br />
viele Liebe…<br />
Liebe für unser deutsches Vaterland? Wer hat sie –<br />
der jetzige Bundespräsident etwa? Wer von unseren<br />
Eliten? Diese Liebe wird uns heute nicht leicht gemacht!<br />
Wer bekundet, <strong>Deutschland</strong> zu lieben, wird, wenn der<br />
Betreff ende Bundespräsident Köhler ist, belächelt. Hat<br />
er keine so hohe Stellung, wird er, wie der Unterzeichner,<br />
wegen Volksverhetzung angezeigt, sobald er das<br />
Wort Patriotismus in den Mund nimmt. So geschehen<br />
in Potsdam, wo der Unterzeichner einen Vortrag über<br />
Deutschen Patriotismus im heutigen Europa 1 hielt. Alles<br />
ist erlaubt, wenn <strong>Deutschland</strong> geschmäht wird. Wer<br />
aber an Deutschen begangene Schandtaten zur Sprache<br />
bringen will, fi ndet in <strong>Deutschland</strong> kein Forum und<br />
keinen Verlag.<br />
Bertrams Beitrag Geschichte im Korsett des politischen<br />
Strafrechts zeigt, wie etwa ab 1969 gegen alle verfassungsrechtlichen<br />
Bedenken über den Volksverhetzungsparagraphen<br />
§ 130 StGB und die dazu ergehende<br />
Rechtsprechung ein Klima geschaff en wurde, welches<br />
die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in gewissen<br />
Bereichen aufhebt. Folgewirkung ist die Verfemung<br />
von Menschen, die sich den Mund nicht verbieten lassen<br />
wollen. Menschen werden regelrecht zerstört, nur<br />
weil sie von ihrem Recht zur freien Meinungsäußerung<br />
Gebrauch machten. Ein süddeutscher Juraprofessor<br />
wurde mit einem Disziplinarverfahren überzogen, weil<br />
er ein, inhaltlich übrigens nicht beanstandetes, Buch in<br />
einem angeblich „rechten“ Verlag veröff entlichte. Der<br />
Fall Sarrazin im September/Oktober <strong>2010</strong> ging für den<br />
Tabubrecher letztlich glimpfl ich aus, weil der lauteste<br />
ihm gemachte Vorwurf (Juden-Gen) ausgerechnet aus<br />
Israel entkräftet wurde. Die Feigheit ist der unzertrennliche<br />
Bruder der Politischen Korrektheit. Beide fi nden<br />
ihre Opfer auch im demokratischen Rechtsstaat, wie<br />
Harms im Fall Barschel darstellt.<br />
1 Unverändertes Vortragsmanuskript kann eingesehen werden<br />
unter: www.dresaden.de A IV Nr. 69<br />
Zu dieser Ausgabe des <strong>Deutschland</strong>-<strong>Journal</strong>s<br />
5
Zu dieser Ausgabe des <strong>Deutschland</strong>-<strong>Journal</strong>s<br />
6<br />
Drittens: Swinemünde<br />
Der Dichter betritt deutschen Boden in Swinemünde.<br />
Stettin und Umland wurden Monate nach dem<br />
Kriegsende ethnisch gesäubert. Allein aus Swinemünde<br />
wurden etwa 30.000 Menschen vertrieben, vergewaltigt<br />
und ermordet. Niemals ist ein Pole wegen solcher<br />
Gewalttaten vor ein Gericht gestellt worden. Der neue<br />
polnische Staatspräsident hat sich anläßlich seiner<br />
Vereidigung im August <strong>2010</strong> zu westlichen Werten<br />
bekannt. Dazu gehören Wahrheit und die Bereitschaft<br />
zur Wiedergutmachung. Davon ist weiterhin nicht die<br />
Rede. Im Gegenteil. Der gehässige Grundton aus Polen<br />
und der Tschechei scheint in demselben Maße zuzunehmen,<br />
wie wir unsere Demutsgesten gen Osten steigern.<br />
Der Verzicht auf ihren Sitz im Stiftungsrat für das<br />
Vertreibungsdenkmal hat Frau Steinbach (MdB) nicht<br />
genützt. Bartoschewski durfte sie weiter Blonde Bestie<br />
nennen, und niemand nahm Anstoß, aber ein wütender<br />
Protest wurde laut, als Frau Steinbach den Charakter<br />
Bartoschewskis in Zweifel zog. Es erweist sich immer<br />
wieder die uralte Wahrheit: Erlittenes Unrecht kann<br />
das Opfer dem Täter vergeben. Zugefügtes Unrecht aber<br />
verzeiht der Täter dem Opfer nie! Die Vertreiberstaaten<br />
werden es uns nie verzeihen, daß sie auf Jahrhunderte<br />
mit der Lüge leben müssen, Swinemünde sei polnisch,<br />
das Stadtbild von Eger tschechisch, das von Marburg/<br />
Drau slowenisch usw. Das müssen wir Deutschen endlich<br />
einmal lernen!<br />
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
Der deutsche Beitrag zur Entdeckung der Welt war<br />
gering, aber ein Deutscher, Richard Kandt, hat eines der<br />
seit der Antike berühmtesten geographischen Rätsel<br />
gelöst und die Nilquellen entdeckt. Ein Auszug aus<br />
seinem Buch Caput Nili erinnert daran.<br />
Die Bundeswehr ist wohl die staatliche Einrichtung,<br />
die am häufi gsten von sogenannten Reformen<br />
heimgesucht wird. Die weitgehende Aufgabe der<br />
deutschen Souveränität im Lissabonvertrag (2009) mit<br />
der weitgehenden Zur-Verfügung-Stellung deutscher<br />
Souveränität fi ndet in der militärischen Selbstaufgabe<br />
unseres Staates ihre Fortsetzung. General a. D. Reinhard<br />
Uhle-Wettler, Timmendorfer Strand, befi ndet, daß wir<br />
nur noch Bedingt abwehrbereit sind.<br />
3. Teil Geschichte<br />
Im <strong>Deutschland</strong>-<strong>Journal</strong> 2009 wurden italienische<br />
Kriegsverbrechen in Äthiopien behandelt. Es ist eine<br />
immer öfter gestellte Frage, warum wir Deutschen<br />
so erpicht darauf sind, die NS-Verbrechen als weltgeschichtliche<br />
Singularität zu bezeichnen. Waren sie<br />
das wirklich, oder liegen psychologische Mechanismen<br />
zugrunde? Hierzu eine interessante Stimme aus<br />
Frankreich. Zudem einige Beispiele, welche belegen,<br />
dass die Neigung zu Verbrechen und Grausamkeit eine<br />
menschliche Eigenschaft ist.<br />
4. Teil Grundwerte<br />
Mit seinem Buch <strong>Deutschland</strong> schafft sich ab hat Th.<br />
Sarrazin eine dringend nötige Diskussion angestoßen.<br />
Unabhängig von völkischen Überlegungen steht die<br />
wohl viel einschneidendere Gefahr der Islamisierung<br />
<strong>Deutschland</strong>s und Europas vor unseren Augen. Die ist<br />
wie in dem Aufsatz Die unaufhaltsame Islamisierung<br />
Europas gezeigt wird, offenbar nicht mehr aufzuhalten.<br />
Ein Lösungsansatz zur Stärkung des Christentums wird<br />
dennoch zur Diskussion gestellt. Ein Beitrag von Groppe<br />
Gewissen und Verantwortung führt uns auf dahin zurück.<br />
5. Teil Bücher<br />
Wir stellen vier Bücher vor. Zwei davon sind SWG-<br />
Erzeugnisse. Das erste von H. Seubert betriff t die Zukunft<br />
des Bürgertums. Das zweite wird von der SWG mit<br />
herausgegeben und betriff t Fragen der <strong>2010</strong> bekannt<br />
gewordenen Fälle von sexuellem Mißbrauch. Das Buch<br />
von Kirsten Heisig ist bekannt – aber noch nicht bekannt<br />
genug. Es wird hier besprochen. Der Fall Hohmann – Ein<br />
deutscher Dreyfus ist in der 3. Aufl age erschienen, die<br />
von Friedrich – Wilhelm Siebeke verantwortet wurde.<br />
Man liest solche Dokumentationen über den Verfall<br />
der Meinungsfreiheit in <strong>Deutschland</strong> nicht gerne, aber<br />
man sollte.
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
Verbotene Siege 1940 –<br />
Compiègne und Dünkirchen<br />
von<br />
M. Aden<br />
I. Ausgangspunkt<br />
Der Jahrestag der deutschen Kapitulation am 8./9.<br />
Mai 1945 jährte sich <strong>2010</strong> zum 65. Male und führte zu<br />
umfangreichen Siegesgedenkfeiern in den Staaten<br />
unserer ehemaligen Feinde. Darüber wurde der 70.<br />
Jahrestag der deutschen Siege über Frankreich und<br />
England vergessen.<br />
Das NS-Regime werden wir, zumal mit der Kenntnis<br />
von heute, verwerfen. Die damals errungenen Siege<br />
müssen nicht gefeiert werden; das werden sie auch<br />
nicht. Anscheinend wurde ihrer aber gar nicht gedacht.<br />
<strong>Deutschland</strong>s politische Entwicklung in den letzten<br />
Jahrhunderten hat, wie folgend näher ausgeführt<br />
werden soll, unseren politischen Blick derartig verengt,<br />
daß wir über <strong>Deutschland</strong>, bestenfalls Europa, kaum<br />
hinausschauen können. Die beiden Weltkriege erscheinen<br />
uns daher nicht als Welt-kriege, sondern als eine<br />
Art deutscher Sondervorstellung auf der Bühne der<br />
Geschichte, mit der wir „durchgefallen“ sind. Wir können<br />
Verlauf des Krieges und sein Ende nur mit deutschen<br />
Augen sehen. Schon den asiatischen Krieg und die japanische<br />
Niederlage sehen wir nur durch einen fernen<br />
Schleier. Unter dem ausschließlichen Gesichtspunkt der<br />
deutschen Niederlage 1945 sind alle damals errungenen<br />
deutschen militärischen Erfolge mit den Worten E. v.<br />
Mansteins nur verlorene Siege.<br />
Das waren sie aber nicht. Es waren diese deutschen<br />
Siege über Frankreich und England, welche die 1648<br />
im Westfälischen Frieden an Frankreich und ab etwa<br />
1700 zusätzlich an England verlorene politische Selbst-<br />
bestimmung <strong>Deutschland</strong>s wiederherstellten und<br />
letztlich dazu führten, daß <strong>Deutschland</strong> heute eine<br />
seiner Bedeutung in der Weltpolitik entsprechende<br />
Rolle spielen kann. Es waren diese Siege, welche die<br />
Entkolonialisierung auslösten und die heutige multipolare<br />
Weltordnung herauff ührten. Diese Siege haben<br />
die Sowjetisierung Westeuropas verhindert und so<br />
den Boden für den Umschwung von 1990 mit vorbereitet.<br />
Das uns fast irritierende hohe Ansehen, welches<br />
<strong>Deutschland</strong> in den ehemaligen Untertanenländern<br />
Englands und Frankreichs genießt, ist im wesentlichen<br />
eine Fernwirkung dieser deutschen Siege, besser dieser<br />
englischen und französischen Niederlagen.<br />
Diese Siege waren also nicht verloren. Man wird sie<br />
eher verbotene Siege nennen, denn sie passen nicht in<br />
das offi ziell gepfl egte Geschichtsbild. Dieses wird weiterhin<br />
vom Selbstlob, insbesondere der Englischsprachigen,<br />
geprägt, durch ihren Sieg über das Monstrum Hitler<br />
die Welt gerettet zu haben. Politisch Korrekte werden<br />
daher vor allem daran Anstoß nehmen, daß sich aus<br />
den folgenden Überlegungen ergibt, Hitler habe dann<br />
doch auch Gutes gezeitigt. Das ist bei dem heutigen<br />
Meinungsklima in <strong>Deutschland</strong> für den Verfasser eines<br />
solchen Aufsatzes in der Tat gefährlich, und es nützt<br />
ihm wenig, wenn er hier und sonst bekundet, wie sehr<br />
ihm das NS-Regime als eine geschichtliche Schande<br />
unseres Vaterlandes erscheint. 2 Darauf kann man nur<br />
vertrauensvoll mit Augustinus antworten, daß Gott oft<br />
2 In Wikipedia sieht man z. B. unter dem Stichwort Menno Aden,<br />
mit welcher Akribie in den Schriften des Verfassers nach Spuren<br />
einer verbotenen Gesinnung gesucht wird.<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
7
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
8<br />
das Böse zuläßt, um Gutes hervorzubringen – oder wie<br />
Lessing sagt: Das Leid wird seinen guten Grund in dem<br />
ewigen unendlichen Zusammenhange aller Dinge haben.<br />
In diesem ist Weisheit und Güte, was uns in den wenigen<br />
Gliedern, ... blindes Geschick und Grausamkeit scheinet. 3<br />
II. Geschichtliche Voraussetzungen<br />
1. <strong>Deutschland</strong>, der bequeme Nachbar<br />
<strong>Deutschland</strong> war nach großen Anfängen unter Karl<br />
dem Großen, über Höhen wie unter Otto d. Großen<br />
und Friedrich Barbarossa, Niedergängen und Neuaufbrüchen<br />
tausend Jahre später um 1800 zur politischen<br />
Nichtigkeit herabgesunken. Es war ein harmloser, verschlafener<br />
Bär, der keine politischen Ansprüche stellte<br />
und sich wortlos alles gefallen ließ. Pufendorf schreibt<br />
1667, also nach dem Dreißigjährigen Krieg, über den Zustand<br />
<strong>Deutschland</strong>s: Die Größe und Stärke des Deutschen<br />
Reiches könnte, wenn es eine monarchische Verfassung<br />
hätte, für ganz Europa bedrohlich sein, aber es ist durch<br />
innere Krankheiten und Umwälzungen so geschwächt,<br />
daß es sich kaum selbst verteidigen kann. 4 Deutsche Eliten<br />
begleiteten <strong>Deutschland</strong>s Weg in die Kümmerlichkeit<br />
unbetroff en. Die völlige Zerstörung <strong>Deutschland</strong>s im<br />
Frieden von Lunéville (1801), als das gesamte linke<br />
Rheinufer, von Mainz bis Bonn und Aachen, an Frankreich<br />
abgetreten wurde, scheint nicht einmal bemerkt<br />
worden zu sein. Auch nicht von Friedrich Schiller, der<br />
unter den zeitgenössischen Dichtern patriotischen Gefühlen<br />
noch am ehesten Raum gab. Unserem Dichterfürsten<br />
Goethe fi el zu diesem Epochenereignis nur das<br />
Gedicht Hermann und Dorothea ein, welches die Flucht<br />
der überrheinischen Deutschen vor den wilden Franken<br />
zum Thema hat und in der Ermahnung an Hermann<br />
gipfelt, nicht zu den Waff en zu eilen, sondern mit seiner<br />
Dorothea brav Haus und Garten zu pfl egen.<br />
<strong>Deutschland</strong>s Nachbarn im Westen hatten um 1800<br />
die Welt entdeckt und erobert, und sein Nachbar im Osten,<br />
Rußland, hatte nicht nur die deutschgeprägten ehemaligen<br />
Ordenslande in Besitz genommen, sondern vor<br />
allem Sibirien bis zum Pazifi k unter russische Herrschaft<br />
gebracht. Plus Ultra – Weiter hinaus! war der Wappenspruch<br />
des spanischen Königs Karl I. gewesen. Amerika<br />
und die pazifi schen Inseln, und die noch ferneren nach<br />
seinem Sohn benannten Philippinen waren unter sein<br />
Zepter geraten. Als deutscher Kaiser Karl V. aber wurde<br />
er von der Reformation und den immer deutlicheren<br />
Teilinteressen der deutschen Fürsten zermürbt. Spanien<br />
schaute über die Ozeane, Magellan umfuhr die<br />
Welt, der deutsche Horizont aber blieb unverrückt. Er<br />
wurde sogar enger. Nur noch selten ging er bis an die<br />
3 Hamburgische Dramaturgie, zitiert nach: Reemtsma, Jan Ph.,<br />
Lessing in Hamburg, C.H. Beck München 2007, S. 66<br />
4 Pufendorf, Samuel, Die Verfassung des Deutschen Reiches (1667),<br />
Reclam Nr. 966 (3) § 7.<br />
Grenzen des Deutschen Reiches bzw. deutschen Kulturgebietes.<br />
Noch zur Zeit des Deutschen Bundes blieb er<br />
meist an den Grenzen des Fürstentums oder der Freien<br />
Stadt hängen. Für seine Nachbarn war <strong>Deutschland</strong><br />
das Land, durch welches der romantische Rhein fl oß.<br />
In Thackereys Roman Jahrmarkt der Eitelkeiten (Vanity<br />
Fair, 1848) triff t die englische Reisegruppe am Rhein auf<br />
ein harmloses Völkchen, wo auf der einen Seite der Adel<br />
sitzt und weint und Strümpfe strickt, und auf der anderen<br />
Seite die bürgerliche Welt; und seine Durchlaucht, der<br />
Herzog und die durchlauchte Familie, alles sehr dick und<br />
wohlwollend … (61. Kapitel). Mit ähnlichen Eindrücken<br />
hatte auch Victor Hugo um 1850 den Rhein bereist und<br />
in seinem Bericht Le Rhin festgehalten. Reiseberichte<br />
über <strong>Deutschland</strong> von Skandinaviern 5 und Russen 6 aus<br />
dieser Zeit lauten ähnlich.<br />
Das Bild spießiger Enge im fi ktiven Reichsmarktfl ecken<br />
Kuhschnappel, welches Jean Paul in dem um 1750<br />
spielenden Roman Siebenkäs zeichnet, ist zwar literarisch<br />
kostbar, aber unter politischen Gesichtspunkten<br />
für uns peinlich und beschämend. In derselben Zeit<br />
hatte England Frankreich aus Nordamerika und Indien<br />
geworfen und dort seine Herrschaft etabliert. Das geschah<br />
wesentlich mit deutschen Söldnern, die unter<br />
Umständen angeworben wurden, die schon damals als<br />
schändlich angesehen wurden. 7 England dirigierte ab<br />
1700 die europäischen Kriege, auch etwa den Siebenjährigen<br />
Krieg, und der große Preußenkönig Friedrich<br />
erscheint bei näherem Hinsehen fast als Marionette<br />
im englischen Spiel um das Gleichgewicht Europas.<br />
England konnte das auf Grund seines Reichtums, den<br />
es insbesondere als Marktführer des transatlantischen<br />
Sklavenhandels erworben hatte. Dieser Reichtum wurde<br />
dann durch den englischen Sieg über Frankreich im<br />
Siebenjährigen Krieg, in Indien der 3. Karnatische Krieg<br />
genannt, noch um die Schätze Indiens ergänzt.<br />
Als bei uns nach vielen Mühen der Zollverein gegründet<br />
wurde (1834), sah die Außenwelt wie folgt aus:<br />
England vollendete die Eroberung Indiens mit der Einverleibung<br />
Sindhs, des heutigen Pakistans; Frankreich<br />
eroberte Algerien und begann, es zu besiedeln. In China<br />
führte England die Opiumkriege (1840). Als Bismarck<br />
sich im Frankfurter Parlament mit partikularistischen<br />
Eitelkeiten abmühen mußte (1857), versuchten England<br />
und Frankreich, China in ihre Botmäßigkeit zu bringen 8 ,<br />
5 Vgl. Baggesen, Jens, Das Labyrinth – oder Reise durch <strong>Deutschland</strong><br />
in die Schweiz 1789<br />
6 Die Beschreibung seiner Reise von 1789 bis 1790 durch Europa<br />
von Nikolaus Karamsin (1766–1826)<br />
7 Authentisch Goethes Promemoria v. 30. 11. 1784 wg. niederländischer<br />
Werbungen im Herzogtum Sachsen- Weimar: Nr. 1: werden<br />
für jeden Mann jährlich 50 thlr ... gezahlt. Usw. Die Empörung<br />
darüber fi ndet literarischen Niederschlag z. B. bei Schiller, Kabale<br />
und Liebe 2. Akt. 2. Szene: ... Juche nach Amerika! Oder in C.D.<br />
Schubarts Kaplied betreff end von den Niederlanden für Südafrika<br />
angeworbener Söldner.<br />
8 In Tientsin, vor den Toren Pekings, hat der Verfasser noch die<br />
damals von Franzosen gebaute Kirche besichtigen können. Notre
Rußland eroberte Mittelasien und gründete am Pazifi k<br />
als Marinevorposten das heutige Wladiwostok. Als der<br />
Deutsche Bund sich aufraff te, Holstein vor dem dänischen<br />
Zugriff zu retten (1864), provozierte die junge<br />
USA einen Krieg mit Mexiko und nahm alles Land von<br />
Texas bis Kalifornien, wodurch sie ihr Gebiet auf einen<br />
Schlag um fast das Doppelte vergrößerte. Von allen<br />
deutschen Staaten, einschließlich Österreichs, hatte<br />
nur das militaristische Preußen sein Gebiet vergrößert.<br />
Es hatte nämlich 1853 dem Großherzog von Oldenburg<br />
das Jadegebiet (heutiges Wilhelmshaven) abgekauft.<br />
Die bedeutenden wissenschaftlichen Beiträge von<br />
Deutschen, insbesondere ab 1750, sind hier nicht zu behandeln.<br />
Sie mögen, was aber hier nicht auszuführen ist,<br />
allerdings das Gegenstück der politischen Verdumpfung<br />
<strong>Deutschland</strong>s sein. Wem der Weg in die Ferne versperrt<br />
ist, sucht die Ferne eben in der Tiefe seines Innern.<br />
2. Verteilte Welt<br />
Auch 1860 waren wir immer noch nicht aufgewacht.<br />
Deutsche Seefahrten fanden während all der Jahre auf<br />
der Opernbühne statt. 1843 wurde Wagners Der fl iegende<br />
Holländer uraufgeführt. Die wirklichen Holländer<br />
aber waren, wie die Engländer, in ihren Kolonien reich<br />
geworden, so reich, daß wir Deutschen wie der Handwerksbursche<br />
in Kannitverstaan von J. P. Hebel nur mit<br />
off enem Munde fragten, wie das möglich sei. Deutsche<br />
Eroberungen in Übersee gab es nicht. Die 1720 nach nur<br />
etwa 30 Jahren wieder aufgegebene brandenburgische<br />
Kolonie Groß Friedrichsburg im heutigen Ghana war<br />
der einzige Versuch und lud nicht zur Wiederholung<br />
solcher Abenteuer ein. Spätere Vorstöße in diese Richtung<br />
verschwanden in den Akten. 9 Die Welt war unter<br />
England und Frankreich weithin aufgeteilt. In Asien<br />
gab es kaum noch einen Fußbreit, der nicht der Interessensphäre<br />
einer dieser beiden zugerechnet wurde.<br />
Davon merkten wir Deutschen gar nichts. Wir schauten<br />
unbetroff en zu, wie das letzte deutsche Großreich, die<br />
vom Vorarlberg bis Lemberg, von (heute) Dubrovnik bis<br />
Krakau reichende Donaumonarchie unter den Nörgeleien<br />
der Ungarn der Aufl ösung entgegentrieb. Deutsche<br />
Politiker konnten niemals in den Kategorien denken,<br />
in welchen sich die Gedanken der transkontinentalen<br />
Imperien bewegten.<br />
Auch Bismarck konnte off enbar nicht in großen Räumen<br />
denken. Er hätte voraussehen müssen, auf welche<br />
Widerstände das neue Deutsche Reich im Kampf um<br />
seine europäische Selbstbehauptung stoßen würde,<br />
wie isoliert es sein würde, sobald es (mit seinen Worten)<br />
Dame des Victoires steht noch auf einer verwitterten Plakette<br />
zu lesen.<br />
9 Der spätere Held von Küstrin, Joachim Nettelbeck, der sich eine<br />
Zeitlang in holländischen Diensten als Sklavenhändler in Westafrika<br />
betätigt hatte, machte seinem König, Friedrich d. Großen,<br />
1786 einen solchen Vorschlag, der aber unbeachtet blieb. Vgl.<br />
Lebensbeschreibung des Seefahrers, Patrioten und Sklavenhändlers<br />
Joachim Nettelbeck, verlegt bei Greno 1987<br />
anfangen würde zu reiten. Er wußte aus den zahlreichen<br />
diplomatischen Feilschereien, wie wichtig Tauschobjekte<br />
waren, um die Interessen der Mächte auszugleichen<br />
und abzuwiegeln. Er selbst war darin ein Meister. 10 Da<br />
wir in Europa nichts zu vergeben hatten, wäre es von<br />
Bismarck vorausschauend gewesen, sich in Übersee<br />
Tauschobjekte zu besorgen. Frankreich hatte etwas<br />
anzubieten, als es ein Bündnis gegen <strong>Deutschland</strong><br />
suchte. Für den Verzicht auf seine Option im Sudan<br />
(Faschodakrise) bekam es die Entente Cordiale, aus<br />
welchem der Ring um <strong>Deutschland</strong> geschmiedet wurde,<br />
der 1914 platzte. Die späteren bettelnden deutschen<br />
Bündnisangebote an England unter Kaiser Wilhelm II.<br />
mußten schon deswegen scheitern, weil wir England<br />
nichts anzubieten hatten, wie Niall Ferguson bemerkt.<br />
Nicht <strong>Deutschland</strong>, sondern England war eigentlich der<br />
geborene Feind Frankreichs. Die deutsch-französische<br />
Feindschaft nach 1871 war im Grunde substanzlos und<br />
beruhte wesentlich auf dem Streit um Elsaß-Lothringen.<br />
Diese Feindschaft hätte vielleicht gegen England umgedreht<br />
werden können, wenn Preußen/<strong>Deutschland</strong> im<br />
Austausch gegen Straßburg Frankreich eine deutsche<br />
Besitzung in Südamerika, Südafrika oder sonstwo hätte<br />
anbieten können, oder besser noch, wenn umgekehrt<br />
<strong>Deutschland</strong> 1871 im Frankfurter Frieden statt sich<br />
Elsaß-Lothringen abtreten zu lassen, auf den Vorschlag<br />
eingegangen wäre, Französisch-Indochina zu nehmen.<br />
Bismarck konnte aber mit solchen Gedanken weder<br />
politisch noch mental etwas anfangen.<br />
Wie anders wäre die deutsche und somit die Weltgeschichte<br />
verlaufen, wenn Bismarck, anstatt sich<br />
mit den Nickeligkeiten der deutschen Kleinstaaterei<br />
herumzuschlagen, um 1860 Hawaii 11 und Polynesien 12 ,<br />
Neuseeland 13 , Ägypten 14 oder den ebenfalls noch freien<br />
späteren belgischen Kongo für Preußen erobert hätte.<br />
<strong>Deutschland</strong> hätte im europäischen und Weltkonzert<br />
eine völlig andere Rolle gespielt. Die deutsche Einheit<br />
war fällig. Sie wäre auch so gekommen. Bismarcks<br />
Diplomatie und Moltkes strategisches Genie waren im<br />
Grunde „Schüsse übers Grab“, nur (wenn auch gekonnt<br />
plazierte) Fangschüsse auf das getroffene Wild der<br />
deutschen Fürstenherrlichkeiten. Es ist heute nicht<br />
darüber zu rechten, ob solche Ausgriff e für Preußen/<br />
<strong>Deutschland</strong> im Ergebnis für <strong>Deutschland</strong> segensreich<br />
gewesen wären. Unrealistisch wäre es nicht gewesen.<br />
Die Niederlande konnten, wenn auch erst nach langem<br />
Kriege, noch 1900 die Rieseninsel Sumatra ihrem<br />
10 Vgl. die Art, wie er Napoleon III. das immer noch österreichische<br />
Norditalien versprach, um ihn aus der deutschen Innenpolitik<br />
herauszuhalten.<br />
11 Am 7. Juli 1898 durch die Vereinigten Staaten annektiert.<br />
12 Der Archipel fi el im März 1888 an Frankreich.<br />
13 Bis 1860 war englische Herrschaft kaum präsent, es herrschten<br />
anarchische Zustände.<br />
14 Der Bau des Suezkanals (1870) machte das Land derart von<br />
ausländischen Anleihen abhängig, daß die von Großbritannien<br />
und Frankreich eingerichtete Staatsschuldenverwaltung zur<br />
eigentlichen Regierung des Landes wurde. Zur Sicherung des<br />
Verbindungsweges nach Indien erwarb Großbritannien die<br />
ägyptischen Kanalaktien, besetzte 1882 das Land und machte<br />
es 1914 formell zum Protektorat.<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
9
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
10<br />
indonesischen Kolonialreich einverleiben. Selbst das<br />
unbedeutende Belgien konnte sich noch 1885 das<br />
gewaltige Kongobecken aneignen. Wenn Bismarck,<br />
der Gastgeber der Kongokonferenz (1884/85), darauf<br />
gedrungen hätte, wäre wohl uns diese reiche Kolonie<br />
zugefallen. Aber wir Deutschen wollten nicht. Wir<br />
konnten seit Martin Behaim (1490) zwar die Weltkugel<br />
abbilden und seit Gerhard Mercator (1512–94) maßstabgerechte<br />
Weltkarten zeichnen, wir konnten aber<br />
nicht im Weltmaßstab denken.<br />
III. Kampf um die Hegemonie in Europa<br />
1. Fremde Mächte in <strong>Deutschland</strong><br />
Nicht nur in der Welt, auch in Europa war <strong>Deutschland</strong><br />
abgeschlagen. Der größte Block in Mitteleuropa<br />
war bis 1870 Gegenstand, nicht Teilnehmer im Kampf<br />
um die Hegemonie in Mitteleuropa. <strong>Deutschland</strong>s<br />
Stellung um 1850 gegenüber den Mächten (Frankreich,<br />
England, Rußland und mit Einschränkungen Österreich)<br />
ähnelte der, in welcher sich China um 1900 gegenüber<br />
den Großmächten befand: Halb-kolonial. Ein machtloses<br />
politisches Gebilde, in welchem fremde Mächte<br />
unkontrollierbare Sonderrechte hatten. England<br />
besaß Hannover 15 und das 1807 eroberte Helgoland.<br />
Dänemark hatte Holstein und Lauenburg. Schweden,<br />
das sich im Westfälischen Frieden bedeutende Stücke<br />
Norddeutschlands genommen hatte, besaß immer<br />
noch gewisse Ansprüche auf Wismar. 16 Luxemburg, Teil<br />
des Deutschen Bundes, schien Frankreich zuzufallen.<br />
England hatte seit etwa 1700 im protestantischen<br />
<strong>Deutschland</strong> prägenden Einfluß ausgeübt. Dieser<br />
gründete sich politisch auf die Personalunion der<br />
englischen Könige mit Hannover. Nach deren Beendigung<br />
durch die Thronbesteigung von Königin Victoria<br />
(1830) 17 wurde dieser Einfl uß neu begründet durch die<br />
vom englischen Prinzgemahl Albert v. Sachsen-Coburg<br />
arrangierte Heirat seiner, der englischen Königstochter<br />
Victoria, mit dem preußischen Kronprinzen Friedrich,<br />
später Kaiser Friedrich III. Die zeitgenössischen Berichte<br />
über diese Heirat erinnern an das Bild eines etwas unbeholfenen<br />
Bräutigams, der „nach oben“ heiratet. Der Prinz<br />
aus dem armen Preußen wird von dem viel reicheren<br />
und vornehmeren englischen Königshaus als Schwiegersohn<br />
in Gnaden akzeptiert, freilich in der deutlich<br />
ausgesprochenen Erwartung 18 , daß er als künftiger<br />
preußischer König den englischen Forderungen ebenso<br />
geneigt sein werde, wie es Brandenburg-Preußen im-<br />
15 Eigentlich war es umgekehrt: Der Kurfürst von Hannover besaß<br />
die englische Krone.<br />
16 Förmlich wurde Wismar mit Umland erst 1903 wieder Teil <strong>Deutschland</strong>s.<br />
17 In Hannover war weibliche Erbfolge ausgeschlossen; in England<br />
seit jeher möglich.<br />
18 Vgl. Briefe des Prinzgemahls Albert an den preußischen König.<br />
mer gewesen war. 19 Mit Selbstverständlichkeit redeten<br />
Engländer in der Schleswig-Holstein-Frage mit und<br />
gaben uns im Londoner Protokoll v. 1852 auf, was zu<br />
geschehen habe. Bis heute scheint niemand zu fragen:<br />
Was ging sie das eigentlich an?<br />
Frankreich hatte sich unter Napoleon III. zu überraschender<br />
Höhe erhoben. Die deutschen Kleinstaaten<br />
nahmen daran Maß und suchten lieber dort Schutz vor<br />
Preußen und Österreich, als in diesen deutsche Brüder<br />
zu sehen. Frankreich griff wieder massiv in die querelles<br />
allemandes ein und wirkte, diese zu verstärken. Es<br />
konnte daran denken, das zu <strong>Deutschland</strong> gehörende<br />
Luxemburg zu annektieren, spielte mit dem Gedanken,<br />
sich Belgien zu nehmen, und die Rheingrenze – ja, die<br />
war sowieso das Ziel, welches auch Victor Hugo trotz<br />
grundsätzlicher Deutschfreundlichkeit in Le Rhin als<br />
natürliche Forderung Frankreichs ansieht. Dieses Ziel<br />
war wieder in erreichbare Nähe gerückt. Die französische<br />
Hegemonie auf dem Kontinent war im Grunde<br />
unangefochten.<br />
Zu Rußland bestanden nicht nur in Preußen, sondern<br />
in verschiedenen deutschen Kleinstaaten (Hessen, Oldenburg,<br />
Mecklenburg, Sachsen-Weimar, Württemberg)<br />
enge dynastische Beziehungen. Der mächtige russische<br />
Zar stand als Schatten hinter den Partikularinteressen<br />
seiner Vettern vor den eventuellen Übergriff en einer<br />
etwa entstehenden Zentralmacht wie Preußen. An sich<br />
war der Zar, als der reichere Verwandte, Preußen bis zum<br />
Krimkrieg wohlwollend verbunden. 20 Er erwartete freilich<br />
als Gegenleistung gewisse Freundschaftsdienste,<br />
die Bismarck allerdings als Vasallenpfl ichten empfand.<br />
Zar Alexander II. nahm es Preußen übel, nicht mit ihm<br />
in den Krimkrieg eingetreten zu sein, obwohl es darin<br />
nichts gewinnen konnte. 21<br />
2. <strong>Deutschland</strong> als Kulturstaat ohne Macht<br />
Die folgende Bemerkung aus dem Jahre 1942 von<br />
Vansittart, einem der Haupttreiber gegen <strong>Deutschland</strong><br />
unter Churchill, kann nur völliger Nichtkenntnis<br />
deutscher Verhältnisse zugeschrieben werden, denn<br />
nicht einmal böser Wille kann sich derartig vergreifen:<br />
Der Deutsche ... war immer der Barbar, der Bewunderer<br />
des Krieges, der Feind – heimlich oder off en – der Menschenfreundlichkeit,<br />
des Liberalismus und der christlichen<br />
Zivilisation; und das Hitler-Regime ist kein zufälliges Phänomen,<br />
sondern die logische Konsequenz der deutschen<br />
Geschichte, des Deutschen in excelsis. Vansittart muß<br />
19 Vgl. die Tagebücher des Bräutigams, des späteren Kaisers Friedrich<br />
III.; auch die von Botschafter Schweinitz, damals Friedrichs<br />
Adjutant.<br />
20 Vgl. Tagebücher v. Schlözer; Botschafter v. Schweinitz u. a.<br />
21 Das war eine ähnliche Konstellation wie 2003, als die USA erwarteten,<br />
daß <strong>Deutschland</strong> im Irakkrieg für amerikanische Interessen<br />
mitkämpfen würde. In beiden Fällen war die Folge eine nachhaltige<br />
Entfremdung, die durch Rhetorik überdeckt wurde. Was damals<br />
im Verhältnis Preußen/<strong>Deutschland</strong> zu Rußland die Beschwörung<br />
der dynastischen Verbundenheit war, ist heute im Verhältnis zur<br />
USA die ebenso hohle Berufung auf die sogenannte Atlantische<br />
Wertegemeinschaft.
sich in dem Volk, das er meinte, vertan haben. Niemals<br />
hat man von einem verantwortlichen Deutschen etwas<br />
von der Art gehört, wie es der fromme John Ruskin<br />
(1819–1900), der keinen Tag beschloß, ohne in der Bibel<br />
gelesen zu haben, 1865 zu englischen Kadetten ausgedrückt<br />
hatte: Nur im Schoße einer Nation von Kriegern<br />
sind jemals auf Erden große Künste erblüht. Große Kunst<br />
ist einem Volke nur möglich, wenn sie auf dem Schlachtfeld<br />
gegründet ist. Derselbe, in seinem Vaterland bis heute<br />
höchst angesehene Gelehrte, sagte 1870 in seiner Oxforder<br />
Antrittsrede: Das ist es, was England tun muß, oder<br />
es muß untergehen: es muß Kolonien gründen …es muß<br />
von jedem Stück freier fruchtbarer Erde … Besitz ergreifen<br />
und dann seine Kolonisten lehren, daß ihre Haupttugend<br />
in der Treue zu ihrem Lande besteht, und daß ihr erstes<br />
Streben sein muß, die Macht Englands zu fördern.<br />
<strong>Deutschland</strong> hätte vielleicht auch gerne so gesprochen,<br />
aber es hat nicht, und es konnte so auch nicht<br />
sprechen. 1861 beklagte Hermann Schulze-Delitzsch,<br />
der Mitbegründer des Genossenschaftsgedankens,<br />
in einer Wahlrede zum Preußischen Landtag, daß<br />
<strong>Deutschland</strong> trotz seiner kulturellen Höhe politisch so<br />
völlig unbedeutend sei. Ein Jahr später, 1862, notierte<br />
am fast entgegengesetzten Ende des politischen Meinungsspektrums<br />
der spätere deutsche Reichskanzler<br />
Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst in ganz ähnlicher<br />
Weise: 22<br />
Es gibt philosophische Sozialpolitiker, die sagen: die<br />
Deutschen sind ein Kulturvolk, weniger berufen zum<br />
Eingreifen in die äußeren Geschicke der Welt als zur<br />
Pfl ege der geistigen Entwicklung und zur Lösung der<br />
großen Fragen der Menschheit. Wer sich damit tröstet,<br />
dem wünschen wir die Resignation der Juden … Zu<br />
dieser Resignation haben wir es noch nicht gebracht. Wir<br />
glauben, daß das deutsche Volk noch nicht so tief gesunken<br />
ist, um sich mit dem Bewußtsein, ein Kulturvolk zu<br />
heißen, über seine politische Machtlosigkeit zu trösten.<br />
In diesem Jahre eroberte Frankreich Indochina, und<br />
in <strong>Deutschland</strong> passierte immer noch nichts. Nur daß<br />
Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten berufen<br />
(23. Sept. 1862) wurde.<br />
IV. Deutsches Reich<br />
als der Neue in der Klasse<br />
Am 18. Januar 1871 war <strong>Deutschland</strong> plötzlich da.<br />
In den zeitnahen diplomatischen Berichten fällt auf,<br />
daß die Wiederbegründung des Deutschen Reiches<br />
anfangs kaum Aufmerksamkeit fand. Berichte von<br />
Botschaftern aus den Tagen um und nach dem 18.<br />
Januar 1871 erwähnen die Reichsgründung gar nicht<br />
oder nur beiläufi g. In Wien hatte man sich damit seit<br />
1866 abgefunden. In Frankreich hatte man ohnehin<br />
andere Sorgen, u. a. tobte der mörderische Bürgerkrieg<br />
22 Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe- Schillingsfürst,<br />
1. Band, Deutsche Verlagsanstalt 1907<br />
in Paris (Pariser Kommune), und auch in London wußte<br />
man off enbar auch nicht so recht, was dieses neue<br />
deutsche Kaisertum zu bedeuten habe. Anscheinend<br />
war aber nicht einmal uns Deutschen bewußt, was da<br />
eigentlich vorgegangen war. In privaten Äußerungen<br />
fi ndet dieses Ereignis auch keinen rechten Niederschlag.<br />
Beispiel sei Theodor Fontane, der Vaterlandsfreund und<br />
Preuße schlechthin. In dem viele kleine und größere Begebenheiten<br />
behandelnden Briefwechsel mit Mathilde<br />
v. Rohr 23 schreibt Fontane am 15. 12. 1870 zwar vom<br />
Kriege, u. a. von der baldigen Capitulation von Paris. Sein<br />
nächster Brief v. 14. März 1871, keine zwei Monate nach<br />
der Reichsgründung, betriff t nur persönliche Fragen.<br />
Auch die weiteren Briefe dieses Jahres nehmen keinen<br />
Bezug auf die Reichsgründung. Ebenso im Briefwechsel<br />
mit seiner Schwester. Am 23. Dezember 1870 schreibt<br />
er u. a. von Kriegsereignissen. Der nächstfolgende Brief<br />
v. 2. März 1871 handelt aber nur von privaten Fragen.<br />
Die folgenden Briefe dieses Jahres nehmen zwar auf<br />
den Kriegsverlauf in Frankreich Bezug, aber von der<br />
Reichsgründung ist keine Rede.<br />
Ein Vergleich mit China heute bietet sich an. Die<br />
romantisierende Befassung im Westen mit China und<br />
seiner Jahrtausende alten Kultur wurde zum Staunen,<br />
dann Bewunderung, und schlug letzthin (unter Anleitung<br />
der englischsprachigen Presse) in immer lautere<br />
Verdächtigungen um. 24 Chinas militärischer Aufbau<br />
wird beargwöhnt, obwohl es noch weit entfernt ist, an<br />
die militärische Macht der USA heranzureichen. China,<br />
das in seiner langen Geschichte praktisch niemals einen<br />
Eroberungskrieg 25 geführt hat, wird plötzlich von den<br />
Mächten, die in ihrer sehr viel kürzeren Geschichte sich<br />
hauptsächlich mit Eroberungskriegen beschäftigt haben,<br />
verdächtigt, solche zu planen, und was man selber<br />
in Afrika in zügelloser Weise getan hat, wirft man heute<br />
China vor, nämlich zu versuchen, es zu kolonisieren.<br />
So ähnlich widerfuhr es uns nach 1871. Das neue<br />
Deutsche Reich hatte sich über Nacht aus dem politischen<br />
Nichts erhoben. In kürzester Zeit war aus der nichtigen<br />
deutschen Kleinstaaterei ein höchst dynamischer<br />
Staat geworden. Die Überraschung war groß. Erst nahm<br />
man gar nicht wahr, dass es uns wieder gab. Dann aber<br />
schlug die herablassende, romantisierende Zuneigung,<br />
welche <strong>Deutschland</strong> bis dahin bei seinen Nachbarn genossen<br />
hatte, um. Der damalige Oppositionsführer und<br />
spätere englische Premierminister Disraeli erkannte in<br />
der Gründung des 2. Deutschen Reiches bald ein größeres<br />
politisches Ereignis als die Französische Revolution….<br />
Wir haben eine neue Welt. Das Gleichgewicht der Macht<br />
ist völlig zerstört worden und das Land, das am meisten<br />
darunter leidet und das die Auswirkungen dieses großen<br />
23 Theodor Fontane, Briefe, Berlin, Propyläen Verlag<br />
24 Die objektiv wohl berechtigten westlichen Klagen über fehlenden<br />
Schutz der Menschenrechte in China übersehen oder wollen<br />
übersehen, daß diese im heutigen China um ein Vielfaches besser<br />
geschützt werden als jemals zuvor in der chinesischen Geschichte.<br />
25 Die Eroberung von Tibet mag die Ausnahme sein. Aber Tibet verhält<br />
sich zu China etwa so wie Irland zu England oder das Elsass<br />
zu Frankreich.<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
11
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
12<br />
Wandels am meisten spürt, ist England. 26 Das Deutsche<br />
Reich wurde bei den bisherigen Mächten sofort ebenso<br />
beliebt, wie China heute. So beliebt, wie es ein Neuling<br />
in der Klasse immer ist, wenn er auch noch die besten<br />
Noten schreibt.<br />
Der Kreis derer, die uns Übles ansonnen, schloß sich<br />
schnell. Die deutschblütige Königin Victoria hatte noch<br />
einer direkt deutschfeindlichen englischen Politik im<br />
Wege gestanden. Nach ihrem Tode (1901) war unter<br />
ihrem Sohn Eduard VII. die Verbindung mit Frankreich,<br />
welches seinerseits mit Rußland verbündet war, zur<br />
entente cordiale, zum Ring um <strong>Deutschland</strong> geworden,<br />
dem sich Rußland inoffiziell angeschlossen hatte.<br />
<strong>Deutschland</strong> war rasch isoliert.<br />
Die Welt war verteilt, zumeist an England. Außerhalb<br />
Europas gab es praktisch keinen Seehafen, der nicht<br />
direkt unter englischer, wie meistens, oder französischer<br />
Herrschaft stand oder indirekt von diesen Mächten abhing,<br />
wie Niederländisch-Indien, oder auf diese wegen<br />
eigener Machtinteressen Rücksicht nahm wie Japan. Mit<br />
wem sollten wir uns auch verbinden? Die Welt gehörte<br />
England, direkt oder indirekt, und was ihm nicht gehörte,<br />
befand sich in französischen Händen. Ausnahmen<br />
waren Rußland und die USA, die selbst imperialistische<br />
Zwecke verfolgten. Nur das Osmanische Reich war<br />
noch nicht unter englischem Einfl uß. Als <strong>Deutschland</strong><br />
hier zaghaft mit der Bagdadbahn Fuß zu fassen suchte,<br />
waren die englischen Verdächtigungen gleich da, so<br />
daß das Projekt zum Stehen kam. Das Deutsche Reich<br />
in seiner schimmernden Wehr hatte außerhalb Europas<br />
kaum mehr Einfl uß als Preußen um 1850. Was in der<br />
Welt geschah, geschah ohne (Besetzung Ägyptens) oder<br />
gegen uns (Marokkokrise). Die Beteiligung an der Niederschlagung<br />
des Boxeraufstandes war eine Ausnahme.<br />
Das Ergebnis des 1. Weltkrieges hat uns von „geringem“<br />
auf „keinen“ Einfl uß rückgestuft und insofern nicht viel<br />
geändert. <strong>Deutschland</strong>s Einfl uß in Europa und der Welt<br />
tendierte weiterhin gegen Null. So war es auch 1939.<br />
V. Sieg über Frankreich<br />
1. Compiègne<br />
Nach der französischen Kriegserklärung am 3. September<br />
1939 geschah wenig; drole de guerre – Scheinkrieg.<br />
Frankreich plante off enbar keinen Angriff gegen<br />
<strong>Deutschland</strong>. Einen Aufmarschplan für den von Hitler<br />
off enbar nicht erwarteten Krieg mit Frankreich gab es<br />
auch nicht. 27 Um diesen begann auf unserer Seite der<br />
Streit. 28 Der deutsche Feldzug begann am 10. Mai 1940.<br />
Er war strategisch überlegen geplant und in ungekannter<br />
Präzision durchgeführt worden. Der Feldzugsplan<br />
(Sichelschnitt) wird von angelsächsischen Militärhis-<br />
26 Zitiert nach: Hinz, Th. Die Psychologie der Niederlage, Berlin <strong>2010</strong>,<br />
S. 50<br />
27 Schramm, a. a. O., S. 42 E<br />
28 Manstein, S. 91 ff .<br />
torikern als genial gepriesen. 29 Hitler erkannte diesen<br />
von Erwin v. Manstein erdachten Plan sofort in seiner<br />
Genialität und setzte ihn um. 30 Der Erfolg war glänzend.<br />
Die Blutopfer dieses Feldzuges waren, verglichen mit<br />
den entsetzlichen Verlusten auf beiden Seiten während<br />
des Ersten Weltkrieges, geradezu vernachlässigbar.<br />
Am 22. Juni 1940 wurde im Wald von Compiègne<br />
der deutsche Sieg über Frankreich mit dem Waff enstillstand<br />
zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich<br />
geschlossen. Hierdurch wurde ein Sieg besiegelt, wie<br />
es ihn in der neueren europäischen Geschichte kaum<br />
ein zweites Mal gibt. Vergleichbar wären allenfalls Jena<br />
(1806) und Waterloo (1815). Der deutsche Sieg war nicht<br />
nur ein militärischer, sondern er hatte eminent politische<br />
Auswirkungen. Nach der Erniedrigung, welche<br />
<strong>Deutschland</strong> insbesondere durch Frankreich im Frieden<br />
von Versailles erdulden mußte, nach der brutalen<br />
und unwürdigen Behandlung <strong>Deutschland</strong>s während<br />
der jahrelangen Ruhr- und Rheinlandbesetzung, nach<br />
jahrhundertelangen meist erfolgreichen Versuchen<br />
Frankreichs, <strong>Deutschland</strong> politisch niederzuhalten und,<br />
wie Napoleon gewollt hatte, in französische Vasallenstaaten<br />
zu zerstückeln, war es <strong>Deutschland</strong> gelungen,<br />
dem ständig an seinen Grenzen nagenden westlichen<br />
Nachbarn eine völlige Niederlage zuzufügen. Der Krieg<br />
war für Frankreich beschämend kurz. Die französische<br />
Niederlage war auch eine geistige. Der amerikanische<br />
Botschafter in Paris berichtete an Roosevelt: Die physische<br />
und moralische Niederlage der Franzosen ist so vollständig,<br />
daß sie sich völlig damit abgefunden haben, daß<br />
Frankreich zur Provinz von Nazideutschland wird … Es ist<br />
nur ihre Hoff nung, zur bevorzugten Provinz <strong>Deutschland</strong>s<br />
(province favorite de l`Allemagne) zu werden. 31<br />
Angesichts der allgemein anerkannten Großartigkeit<br />
dieses Sieges fällt der Mangel an deutschem Triumphalismus<br />
auf. Die kampfl ose Übergabe von Paris am 14.<br />
Juni 1940 wurde nicht zu einer Siegesparade benutzt.<br />
Der deutsche Eroberer legte vielmehr vor dem Grab des<br />
Unbekannten Soldaten im Arc de Triomphe, der hauptsächlich<br />
französische Siege über und in <strong>Deutschland</strong><br />
verherrlicht, einen Kranz nieder. Deutsche Einheiten<br />
sind bis zum Abzug niemals durch den Triumphbogen<br />
marschiert, sondern stets bescheiden im Bogen<br />
darum herum. Auch die Frankreich auferlegten Waffenstillstandsbedingungen<br />
sind ungewöhnlich milde.<br />
Frankreich sollte nicht gedemütigt werden. Goebbels<br />
schreibt am 22. Juni 1940 in sein Tagebuch: In Compiègne<br />
ist alles vorbereitet … Frankreich steht off enbar vor<br />
dem Zusammenbruch. Keine demonstrative Demütigung,<br />
aber die Schmach vom 11. 11. 1918 muß ausgelöscht<br />
werden … Kein Haß und keine Rache leiten uns. Aber die<br />
Schmach von 1918 muß ausgelöscht werden. Darum<br />
diese Zeremonie. Die Bedingungen werden ausschließlich<br />
29 Churchill , Aufzeichnungen zu einer Rede im Brit. Unterhaus v.<br />
20. Juni 1940: glänzende militärische Leistung Hitlers. - statt vieler:<br />
Corrigan, S. 202 ff .<br />
30 v. Manstein, S. 118<br />
31 Zitiert bei: Michel, S. 218 aus dem Französischen von M. A.
von der deutschen Sicherheit diktiert und bestimmt von<br />
der Tatsache, daß Frankreich England in seinem Kampf<br />
gegen <strong>Deutschland</strong> nicht unterstützen darf und können<br />
soll. Am 18./19. Juni 1940 hatten Hitler und Mussolini<br />
zusammengesessen, um die Frankreich aufzuerlegenden<br />
Waff enstillstandsbedingungen festzulegen. Der<br />
italienische Außenminister Graf Ciano notiert aus diesen<br />
Verhandlungen in seinem Tagebuch: Hitler … spricht<br />
heute mit einer Mäßigung und einer Weitsicht, welche<br />
nach einem derartig großartigen Sieg, wie er ihn errungen<br />
hat, wirklich erstaunt. Ich stehe nicht in dem Verdacht<br />
übermäßiger Freundschaft zu ihm, aber oggi veramente<br />
lo ammiro – heute bewundere ich ihn wirklich.<br />
Der Waff enstillstandsvertrag enthält in seinen 24<br />
Artikeln Regelungen zur Demobilisierung Frankreichs<br />
und zur Sicherung der deutschen Besatzungsmacht. Es<br />
fi ndet sich kein Wort, keine Vorschrift, welche Frankreich<br />
als demütigend empfi nden mußte. Es ist subjektiv verständlich,<br />
wenn der französische General Huntziger die<br />
Bedingungen impitoyable nannte, aber das will nicht<br />
viel bedeuten. Der Kriegsschuldartikel im Versailler<br />
Vertrag hatte uns Deutsche wie kein anderer empört<br />
und dann auch wirtschaftlich ruiniert. Nichts davon<br />
hier, obwohl Frankreich uns, und nicht umgekehrt den<br />
Krieg erklärt hatte. Insbesondere hat es die Welt und<br />
Frankreich mit Erstaunen erfüllt, daß darin kein Wort<br />
über Abtretungen vorkommt, nichts über die Rückgabe<br />
von Straßburg, kein Wort über Elsaß-Lothringen. 32<br />
Die Waff enstillstandsbedingungen haben in der europäischen<br />
Geschichte kaum eine Parallele, jedenfalls<br />
nicht bei Napoleons Tilsiter Frieden (1807), und ein<br />
Vergleich mit Versailles 1919 verbietet sich von selbst.<br />
Diese Zurückhaltung ist allenfalls vergleichbar mit der<br />
Bismarcks nach Königgrätz 1866 gegenüber Österreich<br />
und im Frankfurter Frieden 1871 gegen Frankreich. Sie<br />
war off enbar darauf berechnet, Vergangenes vergangen<br />
sein zu lassen und mit Frankreich zu einem dauerhaften<br />
Ausgleich zu kommen. Selbst Michel spricht von der<br />
Mäßigung, der prudence de Hitler, welche der neuen<br />
französischen Regierung von Vichy eine Reihe von<br />
Freiheiten gelassen habe. 33<br />
2. Frankreich danach<br />
Das alte Deutsche Reich war ein kriegsscheuer Koloß<br />
gewesen. Seit etwa 1550 war daher Frankreich die<br />
militärische Vormacht Europas geworden. Spätestens<br />
im 17. Jahrhundert unter Richelieu bzw. Ludwig XIII.<br />
war es auch politisch in den Vordergrund getreten. Die<br />
Eroberungskriege Ludwigs XIV. (sogenannter Pfälzer<br />
Erbfolgekrieg), denen neben dem Heidelberger Schloß<br />
zahlreiche Schlösser, Burgen und Gebäude an Rhein und<br />
Mosel zum Opfer fi elen, wurden, wenn auch nicht mehr<br />
unter dem Lilienbanner, von Napoleon fortgesetzt.<br />
32 Michel, S. 159 f. – Der Führererlaß v. 2. August 1940 betr. Zivilverwaltung<br />
in Elsaß und Lothringen bewirkte freilich eine allerdings<br />
nie formal vollzogene Annexion.<br />
33 Michel, a. a. O., S. 77<br />
Frankreich konnte nicht alle seine Pläne durchsetzen,<br />
blieb aber die beherrschende Größe in Europa und auch<br />
im innerdeutschen Mächtespiel. Nach der Katastrophe<br />
von Waterloo (1815) war es der diplomatischen Klugheit<br />
Talleyrands im Verein mit Dummheit und Selbstsucht<br />
der deutschen Fürsten gelungen, der Welt einzureden,<br />
nicht Frankreich, sondern der inzwischen abgedankte<br />
Napoleon habe diese Kriege geführt. Es sei ein Vergehen<br />
gegen die Kultur, Frankreich dafür haftbar zu machen<br />
und zu erniedrigen. England, hiervon weniger als von<br />
dem Gedanken an das europäische Gleichgewicht geleitet,<br />
schloß sich dem an. Frankreich blieb die beherrschende<br />
Kraft in Festlandeuropa, und <strong>Deutschland</strong>, das<br />
die Hauptlast der Kriege getragen hatte, war düpiert.<br />
Auch die Niederlage von 1871 (Frankfurter Friede) hat<br />
das nicht nachhaltig geändert. Frankreichs Prestige<br />
war angekratzt, aber nicht vernichtet. Frankreich blieb<br />
in Europa mindestens so einfl ußreich wie das neue<br />
Deutsche Reich, und außerhalb Europas spielte es, wie<br />
dargelegt, eine ungleich größere Rolle. Das Ergebnis<br />
des von Frankreich gewünschten 1. WK konnte der Welt,<br />
unter Hinweis auf seine hohen Blutopfer 34 als französischer<br />
Sieg präsentiert werden. So blieb Frankreich auch<br />
bis 1939 die diplomatische Vormacht in Europa. Erst die<br />
Niederlage von 1940 nach einem nur sechswöchigen<br />
Feldzug hat diese in Jahrhunderten aufgebaute französische<br />
Überlegenheit vernichtet. Frankreich wurde<br />
1945 zwar ein Platz auf der Siegerbank erlaubt, so wie<br />
Italien 1940 nach „seinem“ Sieg über Frankreich neben<br />
<strong>Deutschland</strong> auf dieser Bank Platz nehmen durfte, aber<br />
es gehörte nicht dahin, und alle, auch Frankreich selbst,<br />
wußten es.<br />
3. Verlust der Weltgeltung<br />
a. Indochina<br />
Die überseeischen Besitzungen Frankreichs waren<br />
nicht Gegenstand des Waff enstillstandsabkommens.<br />
Die französische Regierung, nun in Vichy, übte daher<br />
weiterhin die Hoheit über diese aus. Das militärische<br />
Ansehen Frankreichs, die Basis seiner überseeischen<br />
Herrschaft, war aber dahin, und damit seine herausgehobene<br />
Weltgeltung. Die Folgen der Niederlage zeigten<br />
sich sofort. Japan, das sich gar nicht im Kriegszustand<br />
mit Frankreich befand, nutzte die französische Schwäche.<br />
Nach einem japanischen Ultimatum vom Juni<br />
1940 räumte Vichy-Frankreich Japan in Französisch-<br />
Indochina (Vietnam, Laos, Kambodscha) militärische<br />
Stützpunkte ein.<br />
Zwischen 1893 und 1907 hatte Frankreich dem<br />
Königreich Thailand in vier kurzen Kriegen mehrere<br />
Provinzen entrissen und Französisch-Indochina eingefügt.<br />
Nun nahm sich dieser politisch dritt- oder<br />
viertrangige Staat heraus, gegen (die ehemalige<br />
34 Wie später im 2. WK wurden die viel höheren russischen Blutopfer<br />
irgendwie nicht gewertet.<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
13
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
14<br />
Großmacht) Frankreich einen Krieg zu beginnen, um<br />
diese Provinzen zurückzuholen (Ende 1940). Frankreich<br />
konnte sich nicht mehr wehren. Sein Verbündeter im<br />
Krieg gegen <strong>Deutschland</strong>, England, half ihm jedenfalls<br />
nicht. Thailand gewann diesen Krieg, wenn auch mit<br />
japanischer Hilfe. Damit war den unter französischer<br />
Herrschaft stehenden Vietnamesen usw. das Signal<br />
gegeben, diese Herrschaft abzuschütteln. Zunächst<br />
hielt Japan dagegen, dessen erklärtes Ziel es war, Erbe<br />
der europäischen Kolonialmächte in Asien, auch von<br />
Niederländisch-Indien, zu werden. Nach dessen Niederlage<br />
gegen die USA versuchte Frankreich zwar, die<br />
Kontrolle in Indochina wieder aufzurichten. Der Bann<br />
war aber gebrochen. Die Rückeroberung mißlang und<br />
leitete in den blutigen und grausamen Indochinakrieg<br />
über. Das militärische Ende der französischen Herrschaft<br />
war mit dem Fall von Dien Bien Phu am 7. Mai 1954 gegeben.<br />
Im Juli 1954 wurde es in Genf politisch besiegelt.<br />
b. Algerien<br />
Stora schreibt: La defaite francaise et l`etablissement<br />
du régime de Vichy… – Die französische Niederlage<br />
und die Regierungsübernahme durch das Vichyregime<br />
… führten zur entscheidenden Phase der algerischen<br />
Nationalbewegung. 35 Am 8. Mai 1945, dem Tag der<br />
französischen Siegesfeier über <strong>Deutschland</strong>, zogen in<br />
vielen algerischen Städten muslimische Algerier durch<br />
die Straßen mit Spruchbändern A bas le fascisme et le<br />
colonialisme – Nieder mit Faschismus und Kolonialismus.<br />
So auch in Setif/Department Constantine. Die Polizei<br />
schießt auf die Demonstranten. Darauf Unruhen in<br />
verschiedenen Orten. Es kommt zu einem regelrechten<br />
Krieg. Dörfer werden bombardiert. Der französische<br />
General spricht von 15.000 Toten unter der algerischen<br />
Bevölkerung, die algerische Nationalbewegung (FLN)<br />
später von 45.000. Nichts war mehr wie zuvor (Stora<br />
a. a. O.). Neun Jahre später brach der bis dahin schwelende<br />
Algerienkrieg in voller Schärfe aus, welcher nach<br />
entsetzlichen Grausamkeiten 1962 mit der Anerkennung<br />
der algerischen Unabhängigkeit endete. Dieser<br />
Krieg hat mehr noch als der Indochinakrieg Frankreich<br />
traumatisiert. Die Gesamtzahl getöteter Algerier wurde<br />
von Frankreich später mit 350.000, von algerischen<br />
Quellen mit bis zu 1,5 Millionen angegeben. 150 Jahre<br />
französischer Kolonialarbeit sind beendet, etwa 1 Mio.<br />
französische Siedler, pieds noirs, verlieren ihre Heimat.<br />
Diese Kriege haben nicht nur das politische Ansehen<br />
Frankreichs erschüttert. In Algerien sind, wie der<br />
Verfasser aus mehreren Aufenthalten dort weiß, die<br />
Kriegsereignisse nicht vergessen, und in Indochina<br />
ist heute das Ansehen Frankreichs nur geringfügig<br />
besser als das der Niederlande in Indonesien. Auch die<br />
Finanzen Frankreichs wurden erschüttert, im Grunde<br />
mit Auswirkungen bis heute. Während Frankreich<br />
Kriege um seine verlorene Größe führte, konnte (West-)<br />
<strong>Deutschland</strong> seine Wirtschaft aufbauen.<br />
35 Stora, S. 95; 114<br />
4. Verlorene Grandeur<br />
Frankreich hat durch 1940 viel von seinem Selbstbewußtsein<br />
verloren. Vieles wäre in Frankreich anders<br />
gelaufen, wenn Frankreich sich erst nach einem längeren,<br />
tapfer gefochtenen Krieg hätte ergeben müssen.<br />
Gegenseitige Schuldzuweisungen sind nach einem<br />
solchen Debakel normal. Das sich selbst gerne als grande<br />
nation betitelnde Frankreich wurde aber durch die<br />
Niederlage gegen die nach wie vor als barbarisch angesehen<br />
Deutschen in eine tiefe narzißtische Verletzung<br />
gestürzt. Diese bereitete den Boden für eine Kooperation<br />
(colaboration) mit den deutschen Besetzern, deren<br />
Ausmaß und Tiefe bis heute als peinlich empfunden und<br />
heruntergespielt wird. Nachdem sich das Kriegsglück<br />
gegen <strong>Deutschland</strong> gewendet hatte, entstand hieraus<br />
dann ein Gemisch von Wendehälsen und wirklichen Widerständlern<br />
(résistance), aus welchem die Mordorgien<br />
der épuration (1944/45) 36 folgten. Deren Grausamkeiten<br />
sind nur mit denen der Pariser Kommune (1871) und<br />
deren Ausmaß nur mit den landesweiten Massenmorden<br />
der Großen Revolution zu vergleichen.<br />
Der Versuch, die 1940 verlorene nationale Ehre wiederherzustellen,<br />
führte zu der grausamen Verbissenheit,<br />
mit welcher Frankreich nach 1945 seine Kolonialkriege<br />
in Indochina und Algerien führte. Durch beide Prozesse<br />
sind neue, bis heute wirkende Beschämungen bei unserem<br />
Nachbarvolk entstanden. Heute ist in Frankreich<br />
zwar immer noch von grandeur und gloire die Rede, aber<br />
doch nur verhalten. Man ist nüchterner geworden. Man<br />
kann als Deutscher trotz bleibender Kontroversen auch<br />
mit Franzosen normal reden. Die deutsch-französische<br />
Freundschaft ist heute glaubhaft, was sie unter Stresemann/Briand<br />
nicht war.<br />
VI. Siege über England<br />
1. Sorge um das Weltreich<br />
Das Britische Weltreich war 1910, beim Tode des<br />
englischen Königs Eduard VII., das wohl großartigste<br />
politische Gebilde der Weltgeschichte. Dieses umfaßte<br />
auf allen Kontinenten ein Viertel des Erdbodens<br />
und ein Viertel der Erdbevölkerung. Von Gibraltar bis<br />
Neuseeland gab es kaum einen Küstenstrich, kaum<br />
einen Hafen, der nicht in englischer Hand war. Basis<br />
des Britischen Weltreiches war trotz allem aber Europa.<br />
Eine Vormacht in Europa konnte ihm diese Basis entziehen.<br />
Das war von Napoleon mit der Kontinentalsperre<br />
(1806–14) versucht worden. Diese war nicht so erfolglos,<br />
wie oft dargestellt. Die englischen Ausfuhren auf den<br />
36 Aaron, a. a. O., gibt ein bestürzendes Bild der Vorgänge. Wir Deutsche<br />
können uns dadurch daran erinnern lassen, daß es solche<br />
öff entlichen, unter Billigung des gesamten Volkes vollzogenen<br />
Mordorgien bei uns niemals gab.
Kontinent brachen gegenüber der Friedenszeit um<br />
fast die Häfte ein. 37 Sollte eine europäische Vormacht,<br />
und das konnte nach Lage der Dinge nur <strong>Deutschland</strong><br />
sein, wiederum eine Kontinentalsperre verfügen, dann<br />
konnte das bei den im 20. Jahrhundert deutlich verbesserten<br />
technischen und logistischen Bedingungen<br />
England und seinem Empire schwersten Schaden zufügen.<br />
Der wirkliche Grund für seine Kriegserklärung an<br />
<strong>Deutschland</strong> 1914 war daher wohl seine Angst vor einer<br />
deutschen Vormacht auf dem Kontinent. Vorgegebener<br />
Grund war allerdings der völkerrechtswidrige Einmarsch<br />
<strong>Deutschland</strong>s nach Belgien. 38 Ähnlich war es off enbar<br />
1939. Sogar die politisch korrekte Zeitschrift Der Spiegel<br />
öff net einen Spalt für den Verdacht, es sei England bei<br />
seiner Kriegserklärung 1939 vielleicht doch nicht um<br />
den Schutz Polens gegangen, sondern eher um die<br />
Niederlegung <strong>Deutschland</strong>s. Dazu wird aus einem Brief<br />
Churchills zitiert: Stets sei London mit der zweitstärksten<br />
Macht in Europa verbündet gewesen. Die Hinnahme<br />
einer deutschen Hegemonie wäre gegen unsere Geschichte<br />
… Hitler ist die größte Gefahr für unser Empire. 39<br />
Das Britische Reich war auch 1939 noch im wesentlichen<br />
intakt. Die Dominien, also die weiß besiedelten<br />
bzw. beherrschten Staaten Kanada, Südafrika,<br />
Australien, Neuseeland, waren zwar innenpolitisch<br />
emanzipiert, standen aber außenpolitisch weiter unter<br />
dem bestimmenden Einfl uß Londons, wo sich auch die<br />
Stammhäuser der in diesen tätigen Unternehmen und<br />
noch heute bekannten internationalen Banken und<br />
Konzerne befanden. Die Perle des Reiches, Gewährleistung<br />
der englischen Weltgeltung, war aber Indien.<br />
Man hatte zwar auch für Britisch Indien den Aufwand<br />
für den Erhalt des Imperiums und seinen Nutzen für<br />
das Herrschervolk nachgerechnet. Zu einem eindeutig<br />
positiven Ergebnis kam man nicht. Schließlich war<br />
aber die Machtfrage entscheidend. The English Nation<br />
has no intention of abandoning its place on the world`s<br />
stage, ceasing to be one of the Big Powers. 40 Entsprechend<br />
hatte Lord Curzon, um die Jahrhundertwende Vizekönig<br />
von Indien und später britischer Außenminister, einmal<br />
gesagt. 41 As long as we rule in India we are the greatest<br />
power in the world, if we lose it we shall drop straight away<br />
to third rate power. Churchill war fest entschlossen, das<br />
Empire, insbesondere Indien, zu erhalten. Seine kompromißlose<br />
Kriegspolitik gegen <strong>Deutschland</strong> fi ndet hier<br />
37 Vgl. Frz. Wikipedia: blocus continental; England konnte den<br />
Verlust durch neue Absatzmärkte in Nordamerika und Rußland<br />
wettmachen.<br />
38 Das Deutsche Reich hat diese Völkerrechtswidrigkeit schon<br />
während des Krieges öff entlich anerkannt und Entschädigung<br />
nach dem Kriege versprochen. – Nach der deutschen Besetzung<br />
von Dänemark (9. April 1940) erklärt sich Island für souverän und<br />
für neutral. Im Mai 1940 wurde Island gleichwohl von England<br />
besetzt. Die Encyclopedia Britannica, Stichwort: Iceland, gibt zwar<br />
den Völkerrechtsbruch zu, fi ndet aber sonst nichts dabei.<br />
39 Der Spiegel v. 16. 8. 10, S.61<br />
40 Cunningham, S. 60.<br />
41 zitiert nach Clarke, a. a. O., S. XiX. So ähnlich auch Hitler, vgl. Mein<br />
Kampf, S. 746<br />
ihre wohl wichtigste Begründung. 42 Noch 1942 sagte er:<br />
We mean to hold our own, I have not become the King`s<br />
First Minister in order to preside over the liquidation of the<br />
British Empire. 43 Ein Sieg über Feinde pfl egt das beste<br />
Argument gegenüber aufmüpfi gen Untertanen zu sein.<br />
Ein überzeugender britischer Erfolg über <strong>Deutschland</strong><br />
wäre daher gegenüber dem indischen Nationalkongreß<br />
und den anderen Kolonialvölkern ein höchst willkommenes<br />
Argument gewesen, um zu zeigen, wer Herr<br />
im Hause ist. Insbesondere aber wäre eine ruhmvolle<br />
Kriegstat Englands in dem von ihm selbst off enbar<br />
gewollten Krieg ein höchst willkommenes Argument<br />
gegenüber den USA dafür gewesen, daß man durchaus<br />
in der Lage sei, das Empire zu behalten. In Washington<br />
waren nämlich schon im März 1940, also vor dem Debakel<br />
von Dünkirchen, Überlegungen ganz anderer Art<br />
angestellt worden: Britain as a small country may not<br />
be able to hold a far-fl ung empire together. Should it go<br />
under, it is a very fair question whether the United States<br />
might not have to take them all over.<br />
Britannien ist ein kleines Land. Es wird vielleicht nicht<br />
in der Lage sein, ein weit verstreutes Reich zusammenzuhalten.<br />
Wenn es untergeht, stellt sich natürlich die Frage,<br />
ob die Vereinigten Staaten nicht einfach alles übernehmen<br />
sollten. 44 Churchill selbst sah diese amerikanische<br />
Gefahr, als er 1940 an den kanadischen Premier schrieb:<br />
We must be careful not to let the Americans … (get) the<br />
British fl eet and the guardianship of the British Empire.<br />
Churchill hatte zwar wiederholt bekundet: My whole<br />
system is founded on partnership with Roosevelt. 45 Aber er<br />
meinte, kraft seiner Persönlichkeit, schließlich war seine<br />
Mutter Amerikanerin gewesen, und des Gewichtes des<br />
Britischen Empires in dieser Partnerschaft die Rolle des<br />
Seniorpartners spielen zu können. Dieser Anspruch<br />
Churchills erwies sich nach dem Debakel in Norwegen<br />
und dann von Dünkirchen (April/Mai 1940) als zweifelhaft,<br />
nach der Niederlage auf Kreta (Mai 1941) als brüchig,<br />
und mit dem Fall Singapurs (1942) als unhaltbar.<br />
2. Norwegen<br />
Churchill schreibt in seinen Erinnerungen: Am 3.<br />
April 1940 wurde die britische Admiralität ermächtigt,<br />
die norwegischen Küstengewässer zu verminen … und<br />
es wurde beschlossen, eine britische Brigade nach Narvik<br />
zu entsenden. Weitere Streitkräfte sollten nach Stavanger,<br />
Bergen und Drontheim entsandt werden. Das liest sich so<br />
selbstverständlich, daß folgende Festsstellung nötig ist:<br />
Diese Ermächtigung kam nicht von der norwegischen<br />
Regierung, sondern vom britischen Kriegskabinett!<br />
England, das so feinnervig auf deutsche Rechtsverstöße<br />
achtete, hatte keinen Grund gesehen, Norwegen um<br />
Zustimmung anzugehen. Am 8. April morgens begann<br />
42 Es gibt allerdings zahlreiche Aussprüche Churchills und Hinweise<br />
in seiner Biographie, daß er Kriege regelrecht liebte.<br />
43 Zitiert nach Clarke, S. Xvii.<br />
44 Zitiert nach Clarke, S. 65<br />
45 Zitiert nach Clarke, S. 8<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
15
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
16<br />
England mit der Verminung der Gewässer vor Narvik,<br />
auch, trotz anerkannter schwedischer Neutralität, mit<br />
der Verminung von Teilen der schwedischen Nordseeküste.<br />
Nur wenige Stunden später begann die deutsche<br />
Operation auf Norwegen. Die britische Flotte verhedderte<br />
sich auf See, fand die deutschen Schiff e nicht oder<br />
konnte sie, wo doch, nur wenig behindern. Am 9. April<br />
um 19 Uhr waren Narvik, Trontheim, Bergen und Oslo<br />
in deutscher Hand. Corrigan (a. a. O., S. 195): The Royal<br />
Navy had failed… while the German navy had succeeded<br />
– die Royal Navy hatte verloren, die deutsche Marine gewonnen.<br />
Er gibt Churchill die Schuld an dem Desaster.<br />
Der Kampf um Narvik dauerte noch einige Tage, dann<br />
waren die englischen Landungstruppen vertrieben. Es<br />
war ein Desaster. England war jedenfalls in Europa die<br />
bei weitem stärkste Seemacht, vielleicht auch in der<br />
Welt. Die Besetzung Norwegens als reine Seeoperation<br />
durfte gegen den zur See weit unterlegenen deutschen<br />
Gegner eigentlich nicht scheitern. Das britische Prestige<br />
zur See, auf dem das Empire wesentlich beruhte, war in<br />
peinlichster Weise erschüttert.<br />
3. Dünkirchen<br />
Schlimmer als die Niederlage vor Norwegen war<br />
das ruhmlose Ende der britischen Expeditionsarmee<br />
vor Dünkirchen. Hier erlebte England ein Debakel von<br />
historischem Ausmaß, seine wohl größte Niederlage<br />
in zwei Jahrhunderten. Seit dem 10. Mai 1940 regierte<br />
Churchill als Premier des Kriegskabinetts und zugleich<br />
als dessen Kriegsminister praktisch unumschränkt,<br />
und die Verantwortung triff t ihn. Von Anfang an gab<br />
es Abstimmungsschwierigkeiten mit Frankreich. England<br />
kam den Bitten um militärische Hilfe nur teilweise<br />
nach, was auf französischer Seite zu Ausrufen über das<br />
perfi de, treulose und eigensüchtige Albion führte, die<br />
sonst uns Deutschen in den Mund gelegt werden. Die<br />
englische Expeditionsarmee von 338.000 Soldaten operierte<br />
in Nordfrankreich/Belgien anfangs erfolgreich,<br />
wich aber dann dem deutschen Vormarsch. Sie wurde,<br />
ohne Abstimmung mit französischen Stellen, schon<br />
am 24. Mai, also keine drei Wochen nach dem Beginn<br />
der Kampfhandlungen, auf Dünkirchen zurückgezogen<br />
und am 4. Juni nach England eingeschiff t. Frankreich<br />
war seinem Schicksal überlassen. Am 4. Juni 1940, hielt<br />
Churchill seine oft zitierte Durchhalterede: Wir werden<br />
kämpfen an den Stränden … usw. Das war zwar die<br />
schönste Rede, die der frisch berufene Propagandaminister<br />
Harold Nicolson je gehört hatte, das Unterhaus<br />
war bewegt. Aber in den Ohren Frankreichs, dessen<br />
Strände Churchill soeben geräumt hatte, war das hohle<br />
Rhetorik. 46 Nur der Haltebefehl Hitlers hatte die völlige<br />
Einschließung und Gefangennahme der gesamten<br />
Armee verhindert. Die Gründe für diesen Befehl sind<br />
46 Nicolson v. 4. Juni 1940<br />
umstritten. 47 Vielleicht war er aus unangebrachter militärischer<br />
Vorsicht gegeben worden. Wahrscheinlicher<br />
ist wohl, daß er einem politischen Kalkül folgte. Hitler<br />
hatte große Achtung vor dem Britischen Empire. 48<br />
Mehrfach hatte er gesagt, daß er das Britische Weltreich<br />
als Ordnungsfaktor erhalten wolle. 49 Vermutlich sollte<br />
der Haltebefehl England vor der völligen Demütigung<br />
und vor dem Gesichtsverlust gegenüber seinen Untertanenländern<br />
schützen. Vielleicht kam ein Grund<br />
hinzu: Churchill glaubte, die USA würden sofort an<br />
seiner Seite eingreifen, falls eine deutsche Invasion<br />
nach England drohe. Es liegt nahe, daß Hitler das auch<br />
so sah und deswegen auf den, militärisch als zwingend<br />
und überwiegend wohl auch als Erfolg versprechend 50<br />
angesehenen, Fortsetzungsschlag, die Invasion, verzichtete.<br />
Sicher ist, daß Hitler den baldigen Frieden<br />
sowohl mit Frankreich wie mit England wünschte und<br />
erwartete. Er wolle das Empire nicht zerstören, dessen<br />
Zerfallsteile nur den rassefremden Japanern (so Hitler)<br />
zugute kommen mußten. 51<br />
In jedem Falle war England nach kaum 20 Tagen vom<br />
Festland verscheucht worden. Schon den 1. Weltkrieg<br />
hatte das Empire nur mit Hilfe der USA überstanden.<br />
Was nun? Das Debakel wurde vertuscht und geschönt.<br />
Die Rückführung wurde unter der Bezeichnung „Operation<br />
Dynamo“ in England als großer Erfolg gefeiert.<br />
Aber überzeugt wurde davon niemand. 52 So war es ja<br />
auch nicht. Der Vater des Autoren war im Juli 1940 an<br />
die Kanalküste verlegt worden. Er schrieb in sein Tagebuch:<br />
Hunderte und Tausende Gewehre und militärische<br />
Ausrüstungsgegenstände lagen überall am Strand, zurückgelassen<br />
von den Engländern bei ihrem eiligen Rückzug<br />
vom Festland. 53 Ein Jahr später, im Mai 1941, geschah<br />
ähnliches, als England die im Oktober 1940 besetzte<br />
Insel Kreta an deutsche Fallschirmjäger verlor.<br />
4. England danach<br />
Dünkirchen wurde in Frankreich als eine Treulosigkeit<br />
Englands gesehen. 54 Engländer, wenn sie ehrlich waren,<br />
sahen das selber so. 55 Hätte England seine Expeditionsarmee<br />
nicht aufstocken anstatt zurückziehen müssen?<br />
47 Fest, S. 859; vgl. auch Encyclopedia Britannica 1962, Stichwort:<br />
World War II – Dunkirk.<br />
48 Mein Kampf, S. 158<br />
49 Boog/Förster u. a., S. 36<br />
50 Vgl. Manstein, S. 152 f.<br />
51 Angesichts der Sprunghaftigkeit Hitlerscher Ad-hoc-Pläne muß<br />
es kein Widerspruch sein, wenn er wenig später der Invasion doch<br />
wieder nähertrat; vgl. Boog/Förster, S. 35<br />
52 Corrigan, S. 259<br />
53 Michel, Henri: Les Anglais ont abandonné tout leur matériel lourd<br />
– Die Engländer ließen ihre gesamte schwere Ausrüstung zurück.<br />
54 Unter vielen vgl. Ausführungen von Michel, S. 27.. il (= Lord Gort)<br />
accélère la destruction de la 1ere armée francaise … 110.000 französische<br />
Soldaten decken den Abzug der Engländer … Nicolson,<br />
Harold, Tagebücher und Briefe, Stuttgart, 1969 (Übers. aus dem<br />
Engl.)<br />
55 Nicolson, Eintrag v. 1. Juni 1940
Die Folgen von Dünkirchen waren sofort spürbar. Die<br />
englische Politik verhedderte sich in unlösbare Widersprüche<br />
und sah sich zu Handlungen gezwungen, die<br />
zwar dem Erhalt des Empire dienen mochten, die aber<br />
mit den vorgegebenen Kriegsgründen nicht mehr<br />
vereinbar waren. Die USA übernahmen, lange bevor<br />
es offi ziell zum Krieg mit <strong>Deutschland</strong> kam, die Stabführung.<br />
England wurde zwar massiv unterstützt, aber<br />
damit wuchs die englische Abhängigkeit, es wurde<br />
kaum mehr gefragt. Es war militärisch diskreditiert und<br />
bald auch fi nanziell am Ende. Die Verzagtheit, man sagte<br />
auch Feigheit, der britischen Streitkräfte bzw. ihrer Führer<br />
hatte in Dünkirchen begonnen. 56 In der Schlacht um<br />
Kreta wurde sie erneut sichtbar. 20.000 deutsche Fallschirmspringer<br />
und Gebirgsjäger vertrieben im Frühjahr<br />
1941 etwa 30.000 britische (englische und aus dem<br />
Empire zusammengezogene) Truppen von der Insel. Der<br />
Fall von Singapur am 15. 2. 1942 macht dem Ruhm der<br />
englischen Fahne endgültig ein Ende. Die fi nest hour,<br />
von der laut Churchill die Völker des Britischen Empires<br />
noch in „tausend Jahren“ sprechen würden, kam nicht.<br />
Es ist daher merkwürdig, daß sich der selbstgeschaff ene<br />
Mythos von Englands heroischem Widerstand gegen<br />
Hitler bis heute hält, so daß sogar der Papst auf seiner<br />
Englandreise <strong>2010</strong> darauf anspielte.<br />
England hatte die Initiative an die USA verloren.<br />
Die von den USA gegen den verhaltenen Widerstand<br />
Churchills durchgesetzte Atlantikcharta v. 4. August<br />
1941 proklamierte als Kriegsziel das Selbstbestimmungsrecht<br />
der Völker. Gemeint waren alle Völker. US-<br />
Präsident Roosevelt erklärte: The age of imperialism is<br />
ended! Die niederländische Regierung tat das in ihrem<br />
Londoner Exil mit Blick auf Niederländisch-Indien als<br />
Unfug (= slap stuk) ab. Auch Churchill, der der Charta<br />
nolens volens zugestimmt hatte, um die unverzichtbare<br />
Wirtschaftshilfe der USA nicht zu gefährden, spielte ihre<br />
Bedeutung herunter. Er erklärte im Unterhaus, diese<br />
Proklamation gelte nur für zuvor selbständige europäische<br />
Staaten, die schon wie Polen und andere Länder<br />
von <strong>Deutschland</strong> überfallen worden seien. Die Selbstbestimmung<br />
in britischen Untertanenländern sei quite<br />
a diff erent problem – etwas völlig anderes. 57 Roosevelt<br />
sah das nicht so und notierte im Februar 1942: The old<br />
master servant – relationship has not been altered by the<br />
Dutch (nor by England). There is no real desire in Britain<br />
to recognize a world change … Das alte Herren – Knecht-<br />
Verhältnis hat sich bei den Holländern nicht geändert (<br />
und beiden Engländern auch nicht). Es gibt in Britannien<br />
keine wirkliche Bereitschaft anzuerkennen, dass sich die<br />
Welt gewandelt hat. 58 Dieser Wandel war durch die<br />
deutschen Siege bewirkt worden.<br />
56 Corrigan, S. 259: 50.000 britische Soldaten warfen einfach ihre<br />
Waff en weg.<br />
57 Clarke, S. 10<br />
58 Clarke, S. 19<br />
5. Indien<br />
Die englische Herrschaft in Indien wurde 1939 nicht<br />
mehr so stumm hingenommen wie 1914. Als der Vizekönig<br />
nach der englischen Kriegserklärung 1939 ohne<br />
Rücksprache mit dem indischen Nationalkongreß den<br />
Kriegszustand auch Indiens mit <strong>Deutschland</strong> ausrief,<br />
brach der bis dahin schwelende Verfassungskonfl ikt<br />
zu off ener Revolte aus. Die Mitglieder des Nationalkongresses<br />
traten geschlossen zurück. Die Bewegung des<br />
passiven Widerstandes begann.<br />
Der größte englische Selbstwiderspruch war wohl<br />
die Entsendung von Staff ord Cripps im Juni 1940, also<br />
unmittelbar nach Dünkirchen, zu Stalin, um ihn für ein<br />
Bündnis gegen <strong>Deutschland</strong> zu gewinnen. Denselben<br />
Stalin, der soeben die Hälfte Polens, zu dessen Schutz<br />
England in den Krieg getreten war, geschluckt hatte!<br />
Damit war das selbstgebaute moralische Kartenhaus<br />
Englands zerfallen. Die deutschen Verbrechen wie<br />
die massenhafte Ermordung von Juden und anderen<br />
Völkern in Konzentrationslagern standen im Sommer<br />
1940 erst noch bevor. Die Verbrechen Stalins, die Massenmorde<br />
der Kommunisten aber waren allbekannt<br />
und auch in England noch kurz zuvor angeprangert<br />
worden. Das Verbrechen, das man 1940 <strong>Deutschland</strong><br />
vorhalten konnte, bestand eigentlich nur darin, daß<br />
es die Tschechei und Polen überfallen hatte. Das aber<br />
waren aus indischer Sicht Taten, die England und andere<br />
Kolonialisten in Indien selbst und sonst auf der Welt<br />
zahllose Male verübt hatten. Hier war es schwer, die in<br />
England zur Schau getragene moralische Empörung<br />
über Hitler ganz nachzuvollziehen.<br />
Es war also nicht recht zu verdeutlichen, warum der<br />
Massenmörder Stalin nun plötzlich zum „lieben Freund“<br />
Churchills avancieren konnte, und warum Indien diese<br />
Gefühle teilen sollte. Die indischen Führer, allen voran<br />
Gandhi, konnten vor allem nicht einsehen, was Indien<br />
mit einem Krieg zu tun haben sollte, der vorgeblich zwar<br />
zum Schutz von Demokratie und Selbstbestimmung<br />
begonnen worden war, an dessen siegreichem Ende<br />
aber stehen würde, daß Indien diese Rechte verweigert<br />
werden würden. Aus dem passiven Widerstand erwuchs<br />
1942 die Quit-India-Bewegung: Die Forderung, Indien<br />
bedingungslos zu verlassen! Just quit India! rief Gandhi<br />
den Engländern zu. Der Fall von Singapur förderte diese<br />
Bewegungen. 80.000 britische und Kolonialtruppen<br />
kapitulierten am 15. 2. 1942 vor 30.000 Japanern. Hatte<br />
man Dünkirchen noch schönzureden versucht, so war<br />
nun nichts mehr zu deuteln. Wie nach Dünkirchen zu<br />
Stalin, wurde nach dem Fall von Singapur nun derselbe<br />
Cripps zu Gandhi auf eine vergleichbare Mission<br />
geschickt (März 1942). Er sollte Indien überreden, jedenfalls<br />
für die Dauer des Krieges bei der Stange zu<br />
bleiben. Dazu versprach Cripps Indien die bedingungslose<br />
Unabhängigkeit nach dem Kriege. Man streitet, ob<br />
Churchill ein solches Angebot überhaupt autorisiert hat<br />
und wenn ja, ob er es ehrlich meinte. Zwei Jahre nach<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
17
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
18<br />
Churchills Übernahme der Regierungsverantwortung<br />
war praktisch eingetreten, was er unter allen Umständen<br />
hatte vermeiden wollen: Er hatte das Britische<br />
Reich liquidiert! Das Selbstbewußtsein Englands und<br />
auch seine Kraft waren dahin. Britische Truppen, zum<br />
großen Teil aus den Dominien und Indien rekrutiert,<br />
hatten schon bis dahin keinen entscheidenden Beitrag<br />
zum alliierten Sieg erbracht. 59 Und auch nach Singapur<br />
nicht. 1947 wurde Indien unabhängig.<br />
Wie Frankreich versuchte England nach dem 2.<br />
Weltkrieg noch in jahrzehntelangen blutigen Kriegen<br />
in Malaya, Kenia, Zypern und sonst von seinen Kolonien<br />
etwas zu retten. Aber der Nimbus war weg. Mit der<br />
blutig erkämpften Unabhängigkeit Kenias 1963 war das<br />
Britische Weltreich liquidiert. Clarke bemerkt: If Churchill<br />
was the architect of victory, he was surely… the author of<br />
Britain`s post-war distress. (a. a. O., S. Xvii).<br />
VI. Wenn <strong>Deutschland</strong> 1940 besiegt<br />
worden wäre<br />
Hätten Frankreich und England im Mai 1940 <strong>Deutschland</strong><br />
eine ähnliche Niederlage zugefügt, wie es umgekehrt<br />
geschah, kann fast mit Sicherheit gesagt werden,<br />
daß die USA nicht in den europäischen Krieg verwickelt<br />
worden wären. Der wäre ja Ende 1940 beendet gewesen.<br />
Frankreich wäre wieder zur Hegemonialmacht auf<br />
dem Kontinent geworden, woran nach Lage der Dinge<br />
weder Churchill noch Roosevelt Anstoß genommen<br />
hätten. Das Schicksal <strong>Deutschland</strong>s hätte nicht weiter<br />
interessiert. Man hätte es in Stücke zerlegt, alles wäre<br />
wie bisher weitergegangen, und die europäischen Kolonialreiche<br />
hätten noch viele Jahre ihr Wesen gehabt.<br />
Oder? Es ist heute unstreitig, daß Stalin seit etwa<br />
1930 massiv und systematisch aufgerüstet hatte. Im<br />
Jahre 1941/42 war diese Aufrüstung im wesentlichen<br />
abgeschlossen. Während der deutsche Überfall auf<br />
Polen von politischer Korrektheit tabuisiert ist, 60 dürfen<br />
in bezug auf den deutschen Angriff auf die Sowjetunion<br />
die historischen Fakten genannt und gewürdigt<br />
werden. Vieles spricht dafür, daß <strong>Deutschland</strong> am 21.<br />
Juli 1941 einem unmittelbar bevorstehenden Angriff<br />
Stalins zuvorkam. Sichere Beweise wird man aber kaum<br />
beibringen können. 61 Aber selbst wenn diese Annahme<br />
falsch ist, so stellte sich nach einer angenommenen<br />
Niederlage <strong>Deutschland</strong>s 1940 gegen Frankreich/<br />
England aus Moskauer Sicht die Lage wie folgt dar:<br />
Die kommunistische Weltrevolution war das erklärte<br />
59 Der Sieg über Rommel bei El Alamein mag die Ausnahme sein.<br />
Vermutlich wird Rommel in England deswegen so gefeiert, um<br />
diesen Erschöpfungssieg um so strahlender erscheinen zu lassen.<br />
60 Vgl. die Äußerungen von E. Steinbach MdB zur (historisch unbestrittenen)<br />
polnischen Mobilmachung im Sommer 1939, die<br />
September <strong>2010</strong> zur förmlichen Stigmatisierung der Vorsitzenden<br />
des Bundes der Vertriebenen führte.<br />
61 Boog/Förster S. 88 ff .<br />
Ziel der UdSSR. 62 Voraussetzung dafür war mit den<br />
Worten Lenins die Eroberung Europas. Die Gelegenheit<br />
war so günstig wie nie. Die UdSSR, bereits im Besitz<br />
von Ostpolen, hätte diese „Mißgeburt von Versailles“<br />
(wie Polen damals in sowjetischen Zeitungen genannt<br />
wurde) kaum wiederhergestellt, sondern wieder ins<br />
Russische Reich eingegliedert. Die 24.000 (!!) Panzer, die<br />
Stalin im Juli 1941 besaß, hätte er durch das besiegte<br />
<strong>Deutschland</strong> bis an den Atlantik durchfahren lassen<br />
können. Frankreich, ohne eine entwickelte Panzerwaff e,<br />
hätte dem nichts entgegensetzen können. 63 Die angloamerikanische<br />
Fixierung auf den Gegner <strong>Deutschland</strong><br />
macht es unwahrscheinlich, daß sich in den USA eine<br />
Hand gerührt hätte, um Europa vor den Sowjets zu retten.<br />
Es wäre auch zu spät gewesen. Die Operation hätte<br />
wenige Tage gedauert. Ganz Europa wäre in kürzester<br />
Zeit Beute Stalins auf dem Wege zur Weltrevolution<br />
geworden, damit auch wohl die afrikanischen Kolonien<br />
Frankreichs und Belgiens.<br />
Wenn diese Annahme richtig ist, dann folgt, daß nur<br />
der deutsche Sieg von 1940 dieses verhindert hat. Es<br />
waren dann auch die militärisch im Grunde noch viel<br />
beeindruckenderen Siege, die <strong>Deutschland</strong> 1941/42<br />
gegen die Sowjetunion erzielte, nicht verloren. Ob<br />
deutscher Überfall oder Präventivkrieg – jedenfalls<br />
wurde die UdSSR durch die deutschen Siege derartig<br />
geschwächt, dass Stalin an einen solchen Durchmarsch<br />
nicht denken konnte. Er musste vielmehr die USA nach<br />
Europa hereinlassen, um <strong>Deutschland</strong> gemeinsam<br />
niederzuwerfen! So blieben Westeuropa und auch<br />
Westdeutschland 1945 außerhalb des sowjetischen<br />
Machtbereichs.<br />
VII. Wenn die USA nicht in den Krieg<br />
eingetreten wären<br />
Ohne die deutschen Siege von 1940 wären die USA<br />
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht<br />
in einen europäischen Krieg eingetreten. Die USA<br />
brachte eine Lage wie bereits 1917 hervor. Damals stand<br />
<strong>Deutschland</strong> kurz vor seinem Endsieg im Weltkrieg,<br />
und damit an der Schwelle, nicht nur in Europa die<br />
Vormacht zu werden, sondern auch die Kolonialmächte<br />
zu „beerben“. Nach der Märzrevolution in Rußland und<br />
der Abdankung des Zaren war <strong>Deutschland</strong> frei, alle<br />
Kräfte gegen Frankreich zu werfen. <strong>Deutschland</strong> war<br />
erschöpft, Frankreich war es noch mehr, und auch England<br />
war am Ende seiner Kraft. Der deutsche Sieg war<br />
greifbar nahe. Das Deutsche Reich wäre dann unter Einschluß<br />
des französischen/belgischen Kolonialreiches, zu<br />
62 statt vieler: Boog/Förster, a. a. O., S. 54. – Nach dem Ende des<br />
Sowjetkommunismus ist dieser Aspekt völlig aus dem geschichtlichen<br />
Gedächtnis des Westens gefallen.<br />
63 vgl. Boog/Förster, S. 98: Von diesen Panzern waren rd. 1860 mittlere<br />
und schwere Panzer, die alle deutschen Typen in jeder Hinsicht<br />
übertrafen.
einer weltumspannenden Macht geworden. Die USA<br />
griff en ein mit dem bekannten Erfolg, daß Frankreich<br />
und England den 1. WK gewannen.<br />
Eine ganz ähnliche, nur noch deutlichere, Lage ergab<br />
sich 1940 durch die deutschen Siege über England<br />
und Frankreich. Das von Guayana in Südamerika über<br />
halb Afrika, Indochina bis nach Polynesien reichende<br />
Französische Kolonialreich war politisch bereits in<br />
deutscher Hand. Hinzu kamen, nach der Ausschaltung<br />
Belgiens und der Niederlande die riesigen Kolonialbesitzungen<br />
dieser beiden Staaten im Kongo und vor allem<br />
in Niederländisch-Indien (heute: Indonesien). Ohne<br />
amerikanische Hilfe wäre dann auch das Britische Reich<br />
zusammengebrochen und vermutlich <strong>Deutschland</strong> in<br />
die Hände gefallen. Durch nur einen einzigen Feldzug<br />
gegen Frankreich, durch nur eine einzige gewonnene<br />
Schlacht, die England vom Kontinent vertrieben hatte,<br />
wäre <strong>Deutschland</strong> im Juni 1940 gleichsam über Nacht<br />
aus dem Nichts zum nach der USA und der UdSSR<br />
theoretisch drittmächtigsten Staat der Erde geworden.<br />
Seit dem Siege Alexander des Großen bei Issos (333<br />
v. Chr.) hatte es eine solche Konstellation nicht mehr<br />
gegeben. Angesichts der drohenden Katastrophe<br />
Frankreichs war von dem englischen Politiker Vansittart,<br />
von General de Gaulle und Jean Monnet der<br />
Vorschlag gemacht worden, Frankreich und England<br />
zu einem Staat zu vereinigen, mit einer gemeinsamen<br />
Regierung, Staatsangehörigkeit usw. 64 Die jedenfalls<br />
anfangs zurückhaltende deutsche Besatzungspolitik in<br />
Frankreich hätte, so konnte man in den USA mutmaßen,<br />
ähnliche Überlegungen auch im Verhältnis <strong>Deutschland</strong>/Frankreich<br />
aufkommen lassen können. Es gab in<br />
der Vichyregierung und in Frankreich sehr starke antiamerikanische<br />
Kräfte, die einer europäischen Einigung,<br />
unter deutscher Herrschaft das Wort redeten, wenn sie<br />
denn unter französischer nicht machbar war. Tatsächlich<br />
hatte schon Victor Hugo diese gefordert:<br />
L’union de l’Allemagne et de la France, ce serait le<br />
frein de l’Angleterre et de la Russie, le salut de l’Europe,<br />
la paix du monde – Die Vereinigung von <strong>Deutschland</strong><br />
und Frankreich wäre ein Zügel für England und Rußland,<br />
ein Segen für Europa und der Frieden für die<br />
Welt. 65<br />
England wäre zweifellos nicht in der Lage gewesen,<br />
sich gegen ein unter deutscher Herrschaft vereintes Europa<br />
zu halten. Damit bekam die genannte Alexander-<br />
Perspektive im Jahre 1940 aus amerikanischer Sicht eine<br />
noch viel umfassendere Weite: DeutschFrankreich, in<br />
einer Art karolingischen Wiedervereinigung, als Fortsetzer<br />
und Zusammenfasser der kontinentaleuropäischen<br />
64 Nicolson, FN 16, am 19. Juni 1940: Unser Angebot, uns mit Frankreich<br />
zu vereinigen, hat dort wenig Anklang gefunden. Ich hatte mich<br />
schon gefreut, französischer Staatsbürger zu werden und bedaure,<br />
daß nichts daraus geworden ist.<br />
65 Victor Hugo, Le Rhin, Conclusions<br />
Kräfte, einschließlich ihrer weltumspannenden Kolonialreiche<br />
mußten bei der erkennbaren Schwäche Englands<br />
demnächst auch Erbe des Britischen Weltreichs werden.<br />
So ganz fern lagen solche heute etwas phantasmagorischen<br />
Gedanken nicht. Wir suchen Fühlung mit England<br />
auf der Basis der Teilung der Welt, hatte Ende Mai 1940 ein<br />
deutscher Diplomat geschrieben. 66 Das ist ein ähnlicher<br />
Gedanke wie der oben zitierte: Should Britain go under,<br />
it is a very fair question whether the United States might<br />
not have to take them (= das Britische Reich) all over. Es<br />
kam auch 1940 für die USA jedenfalls nicht in Betracht,<br />
ein deutsches Weltreich zu dulden – und sie griff en ein.<br />
Der deutsche Sieg wurde wieder verhindert. Dieses Mal<br />
allerdings mit der Unterstützung der UdSSR.<br />
Ergebnis<br />
Die beiden Supermächte UdSSR und USA waren<br />
schon vor 1939 die größten. Nicht deren Sieg über<br />
<strong>Deutschland</strong> hat die Welt verändert. Es waren die deutschen<br />
Siege 1940 über England und Frankreich. Diese<br />
haben deren Kolonialreiche zum Einsturz gebracht und<br />
zum Ende des Kolonialismus geführt. Großbritannien<br />
und Frankreich sind 1940 auf Normalmaß zurückgeschnitten<br />
worden. Dadurch wurden <strong>Deutschland</strong> und<br />
andere Staaten in ihrer Weltgeltung relativ aufgewertet.<br />
<strong>Deutschland</strong> als der vorerst noch kräftigste europäische<br />
Staat hat mithin durch diese Siege unmittelbar gewonnen.<br />
Erstmals seit dem Mittelalter haben wir wieder<br />
zu einer unserer Größe entsprechenden politischen<br />
Rolle gefunden. Die ehemaligen Kolonialmächte aber<br />
standen nach dem Verlust ihrer überseeischen Reiche<br />
wie der Kaiser vor der Welt, dessen Herrschermantel<br />
gar nicht da ist, er hatte ihnen auch nie gehört, weil er<br />
geraubt worden war.<br />
Die machtpolitische Entzauberung von England und<br />
Frankreich lag sicherlich außerhalb aller Erwartungen<br />
der deutschen Führung, als die ersten Schüsse auf Polen<br />
fi elen. Es triff t aber in einem fast mythischen Sinne das<br />
lateinische Wort zu: Flectere si nequeo superos acheronta<br />
movebo – kann ich den Himmel nicht zwingen, so will<br />
ich die Tiefen erschüttern. Es ist, als ob die Geschichte<br />
<strong>Deutschland</strong> in diesem Sinne gebraucht hätte, um eine<br />
neue Weltordnung ohne Kolonialismus zu ermöglichen.<br />
66 Haßo v. Etzdorf, zitiert bei: Boog/Förster, S. 28<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
19
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
20<br />
Literatur<br />
Aaron, Robert<br />
Histoire de l`épuration – de l`indulgence aux massacres novembre<br />
1942 – Septembre 1944, Fayard 1967<br />
Boog/Förster u. a.<br />
Der Angriff auf die Sowjetunion<br />
Militärgeschichtliches Forschungsamt Freiburg 1983<br />
Fischer Taschenbuch 1991<br />
Clarke, Peter<br />
The Last Thousand Days of the British Empire<br />
London 2007<br />
Corrigan, Gordon<br />
Blood, Sweat and Arrogance and the Myths of Churchill`s War,<br />
Weidenfeld & Nicolson , London 2007<br />
Cunningham, H. S.<br />
British India and Its Rulers, New Delhi 1995<br />
(Nachdruck der 1. Aufl . von 1882)<br />
Gabriel Hanotaux (1893 bis 1895 und von 1896 bis<br />
1898 Außenminister, und 1898 Kolonialminister Frankreichs)<br />
sagte: Die kolonisatorische Mission Frankreichs<br />
ist die intellektuelle und moralische Evangelisation der<br />
Völker. Wenn Kunst, Literatur, Sprache und Geist Galliens<br />
nicht ausgesät wären, der Rest des Universums wäre unfruchtbar<br />
gewesen.<br />
*<br />
Encyclopedia Britannica 1962<br />
Fest, Joachim<br />
Hitler, Ullstein Verlag 1973,<br />
v. Manstein, Erich<br />
Verlorene Siege, Bonn 1955, S. 118<br />
Michel, Henri<br />
Vichy – Année 40, Paris, 1966<br />
Nicolson, Harold<br />
Tagebücher und Briefe, Stuttgart, 1969 (aus dem Engl.)<br />
Schramm, Percy Ernst (Hrsg.)<br />
Kriegstagebuch des OKW<br />
Stora, Benjamin<br />
Algérie – histoire contemporaine 1830–1988, Alger 2004<br />
Am Tag der deutschen Einheit 3.10.<strong>2010</strong><br />
Jules Ferry (Ministerpräsident des französischen<br />
Imperialismus) sagte 1885: Die überlegenen Rassen haben<br />
ein Recht gegenüber den unterlegenen Rassen, und<br />
in dieser Hinsicht sollte sich Frankreich nicht der Pfl icht<br />
entziehen, die Völker zu zivilisieren, die … barbarisch<br />
geblieben sind.<br />
Wir Deutschen aber klagen uns an wegen der<br />
harmlosen und überdies ganz anders gemeinten Verse<br />
E. Geibels: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.<br />
*
Im <strong>DJ</strong> 2009 hat H. J. von Leesen über Umerziehung der Deutschen als Teil der psychologischen Kriegführung geschrieben.<br />
Reaktionen unserer Leser dazu lassen sich auf den Satz zusammenfassen: D a s haben wir gar nicht<br />
gewußt! Tatsächlich ist dieser Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte wie mit einem Tabu belegt. Es schien<br />
daher angebracht, es noch einmal aus einem anderen Blickwinkel zu behandeln.<br />
Deutsche Nachkriegsmedien<br />
und die Umerziehung der Deutschen<br />
von<br />
Ekkehard Zimmermann •<br />
1. Ausgangspunkt<br />
Psychologische Kriegführung hat es gegeben, soweit<br />
wir Geschichte betrachten können. In modernen<br />
Zeiten dürfte England sie erfunden und perfektioniert<br />
haben. Medien, vor allem die Massenpresse, wurden als<br />
Instrumente der Kriegsvorbereitung und ab 1914 auch<br />
der Kriegführung eingesetzt. Es gelang den Briten, über<br />
Flugblätter, Karikaturen, Zeitungen und später auch<br />
über den Film, das Bild vom Deutschen nachhaltig<br />
und dauerhaft zu beschädigen, alles Deutsche (hier<br />
vor allem das Preußische) zu verteufeln und in den<br />
Völkern der Welt (besonders aber in den USA) Ekel,<br />
Haß und den Wunsch nach Vergeltung zu wecken. Wer<br />
über Jahre Widerwärtiges und Abstoßendes über ein<br />
anderes Volk vorgesetzt bekommt, wer in Zeitungen,<br />
auf Plakaten, in Filmen Wesen erblickt, denen off ensichtlich<br />
alles Menschliche fehlt, der wird schließlich<br />
glauben, daß er selbst nichts Schlimmes tut, wenn er<br />
einen Angehörigen dieses Volkes schikaniert, demütigt<br />
oder sogar totschlägt. 67<br />
• ekkehard.zimmermann@t-online.de. – Zugleich Fortführung des<br />
Beitrages von v. Leesen in: <strong>Deutschland</strong>-<strong>Journal</strong> SWG 2009, S.46<br />
ff .<br />
67 Taylor/Sanders: Britische Propaganda im Ersten Weltkrieg, Colloquium<br />
Verlag Berlin 1990<br />
2. <strong>Journal</strong>isten als Propagandisten<br />
1832 war der Herausgeber der Times, John Delane,<br />
noch der Ansicht, daß es „die Pfl icht des <strong>Journal</strong>isten“ sei,<br />
sowie der Historiker, vor allem die Wahrheit herauszufi nden.<br />
Die Rolle des <strong>Journal</strong>isten sei die eines Vermittlers<br />
von Fakten. Wenige Jahre später klärt der amerikanische<br />
Zeitungsverleger und Herausgeber der New York Times,<br />
Swinton, seine Redakteure darüber auf, daß es „bis zum<br />
heutigen Tag so etwas wie eine unabhängige Presse in<br />
der Weltgeschichte nicht gäbe“. Und daß es „das Geschäft<br />
der <strong>Journal</strong>isten“ sei, „die Wahrheit zu zerstören,<br />
unumwunden zu lügen, zu pervertieren, zu verleumden“.<br />
<strong>Journal</strong>isten seien „intellektuelle Prostituierte“. 68<br />
Wenige Jahre später, noch vor Ausbruch des Ersten<br />
Weltkrieges, erscheint immer öfter der Deutsche als<br />
„ Hunne“, als „blutsaufende Bestie“ in den britischen<br />
Tageszeitungen. Sein Anblick schürt unter der Bevölkerung<br />
Ängste und provoziert Haß und Wut. Die kommt<br />
vor allem in den vielen Leserbriefen zum Ausdruck, welche<br />
von den Zeitungen täglich veröff entlicht werden.<br />
3. Wie öffentliche Meinung gemacht wird<br />
Gleich zu Kriegsbeginn wird auf Betreiben Lloyd<br />
Georges, des englischen Premierministers, ein „Amt für<br />
Kriegspropaganda“ eingerichtet, mit dem Ziel, auf der<br />
Insel „Meinung zu machen“. 1918 wird Lord Beaverbrook<br />
68<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
21
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
22<br />
Chef des neueingerichteten Informationsministeriums.<br />
(MOI). Dem MOI untersteht die Feindpropaganda mit<br />
ihrem Chef Lord Northcliff .<br />
Nach Meinung Beaverbrooks hat Propaganda die Aufgabe,<br />
„öff entliche Meinung zu machen und sie zu lenken“.<br />
Doch lange bevor Lord Northcliff in seinen Massenblättern<br />
Propaganda für den „guten Zweck“ des Krieges<br />
macht, saßen die widerwärtigen Bilder der Greuelpropaganda<br />
schon fest in den Hirnen, hat das Amt für<br />
Kriegspropaganda Meinung gemacht mit Bildern und<br />
Berichten von Exekutionen von Zivilisten in Belgien,<br />
der Folterung und Verstümmelung belgischer Frauen,<br />
dem Aufspießen von Kindern, dem Abhacken von Kinderhänden,<br />
dem Verkochen von Leichen zu Seife usw.<br />
Zusammengefaßt erscheinen diese Scheußlichkeiten<br />
im sog. „Bryce-Bericht“ und werden preiswert unter das<br />
Volk gebracht. 360 Seiten für einen Penny. Als 1925<br />
eine wissenschaftliche Kommission dieses „Meisterstück“<br />
britischer Kriegspropaganda in großen Teilen als<br />
Fälschung entlarvt, ist das Bild vom Deutschen längst<br />
fertig. Die Faustregel „dämonisiere den Deutschen“ hat<br />
sich weltweit bewährt. Mit dem Kriegsende hat sich die<br />
Propaganda als „fünfter Arm“ der Landesverteidigung<br />
ihren festen Platz erobert. Die Mittel waren Presse,<br />
Radio und Film. 1918 plagen sich Beaverbrook und der<br />
Herausgeber der einfl ußreichen Tageszeitung, Steed,<br />
mit Überlegungen, ob nicht das Amt für Kriegspropaganda<br />
„auch in Friedenszeiten“ eine „unbezahlbare Rolle<br />
spielen könne“, und ob sie dem Vorschlag Northcliff s<br />
folgen sollten, das Amt für Feindpropaganda in ein Amt<br />
für Umerziehung zu verwandeln. 69<br />
Propaganda könne also, nach Meinung dieser britischen<br />
Experten, durchaus eine Erziehungsaufgabe<br />
haben. „Noch weit über den Krieg hinaus“ müsse die<br />
Propaganda wirken, müsse das Bild vom „preußischen<br />
Unhold“ Bestand haben.<br />
Das will zu dem passen, was die WELT am 20. Nov.<br />
1982 ihren Lesern mitteilte. Der amerikanische Starjournalist<br />
und Analytiker des Phänomens „Öff entliche<br />
Meinung“, Lippmannn, sei der Ansicht gewesen, daß<br />
erst dann eine Umerziehung als wirklich erfolgreich<br />
bezeichnet werden könne, wenn es gelungen sei, die<br />
Darstellung der Geschichte aus der Sicht der Sieger in<br />
die Gehirne der Besiegten einzupfl anzen. Erst, wenn<br />
die Kriegspropaganda der Sieger Eingang in die Geschichtsbücher<br />
der Besiegten gefunden habe und von<br />
der nachfolgenden Generation auch geglaubt werde,<br />
erst dann könne die Umerziehung als wirklich gelungen<br />
bezeichnet werden.“<br />
Nur wenige Jahre nachdem eine unabhängige<br />
Kommission von Historikern festgestellt hatte, daß<br />
die Greuelpropaganda gegen das Deutsche Reich und<br />
seine Verbündeten haltlos, erfunden und erlogen war,<br />
saßen die Amerikaner Bernays und Lippmannn 70 an der<br />
Aufgabe, Propaganda und öffentliche Meinung auf<br />
„wissenschaftliche“ Grundlagen zu stellen und ihren<br />
Zweck und Gebrauch im Rahmen der öffentlichen<br />
Meinungsbildung zu bestimmen. Am Beginn seiner<br />
Studie über Propaganda stellt Bernays sie als „bewußte<br />
Manipulation von Gewohnheiten und Meinungen<br />
der Massen“ durch eine „geringe Anzahl intelligenter<br />
Mitglieder der Gesellschaft“ vor. Und diese wenigen<br />
könnten die vielen „zu allem bringen, was sie wollten“.<br />
Lippmannn ergänzt, daß es nur auf diesem Wege<br />
„durch das Mittel der Propaganda“ gelingen könne,<br />
69 Taylor/Sanders, a. a. O.: “Labor´s Untold Story” by Richard O. Boyer,<br />
Cameron Associates, New York 1955 – Aus der englischen Wikipedia:<br />
“There is no such thing, at this stage of the world’s history<br />
in America, as an independent press. You know it and I know it.<br />
There is not one of you who dare write your honest opinions, and<br />
if you did, you know beforehand that it would never appear in<br />
print. I am paid weekly for keeping my honest opinions out of the<br />
paper I am connected with. Others of you are paid similar salaries<br />
for similar things, and any of you who would be foolish as to write<br />
honest opinions would be out on the streets looking for another<br />
job. If I allowed my honest opinions to appear in one issue of my<br />
papers, before twenty-four hours my occupation would be gone.<br />
The business of the journalist is to destroy the truth, to lie outright,<br />
to pervert, to vilify, to fawn at the feet of Mammon, and to sell his<br />
country and his race for his daily bread. You know it and I know it,<br />
and what folly is this toasting an independent press? We are the<br />
jumping jacks, they pull the strings and we dance. Our talents,<br />
our possibilities and our lives are all the property of other men.<br />
We are intellectual prostitutes.”<br />
70 Walter Lippmann, geboren 1889 in New York City in einer<br />
deutsch-jüdischen Familie. Bernays: 1891 in Wien geboren; Neff e<br />
von Sigmund Freunds Frau. Die Bernays waren eine prominente<br />
jüdische Familie.
einen „Konsens“ zwischen Regierenden und Regierten<br />
herzustellen. Er nennt diesen Vorgang „manufacture<br />
consens“. Erleichtern ließe sich diese Zustimmung der<br />
Regierten zu den Plänen ihrer Regierung durch einen<br />
simplen Trick. Der amerikanische Sprachwissenschaftler,<br />
Politologe und Philosoph, Noam Chomsky, weist darauf<br />
hin, daß das seichte Vergnügen vor den Bildschirmen<br />
heutzutage vor allem auch dazu diene, die Menschen<br />
von ihren eigentlichen Bedürfnissen abzulenken.<br />
Im Ersten Weltkrieg jedoch wird die britische Propaganda<br />
zu einer verhängnisvollen Waff e, der die Deutschen<br />
nichts entgegenzusetzen haben. Adolf Hitler wird<br />
später die „wahrhaft geniale Berechnung“ der britischen<br />
Kriegspropaganda loben. 71 Auch das Kino half mit, im<br />
Ersten Weltkrieg nationales Pathos auf der Insel zu<br />
steigern. Propagandastreifen wie „Die Klauen der Hunnen“,<br />
„Der preußische Hundesohn“ oder „Der Kaiser,<br />
die Bestie von Berlin“ prägten sich ein, fraßen sich fest<br />
in das Gedächtnis der Massen, überdauerten dort und<br />
blieben jederzeit abrufbar. So fi ndet ein Phänomen<br />
seine Erklärung, das gemeinhin mit Haß beschrieben<br />
wird, das aber in Wirklichkeit weit mehr ist. Der amerikanische<br />
Historiker Morison stellt in seiner zweibändigen<br />
Chronik „Das Werden der amerikanischen Republik“<br />
für die Zeit nach dem Ersten und erst recht vor und im<br />
Zweiten Weltkrieg fest, daß sich die Generation, die in<br />
beiden Kriegen gegen die Deutschen kämpfte „nie wieder<br />
vollständig erholt hat“. Gemeint ist die nachhaltige<br />
Wirkung deutschfeindlicher Klischees. 72 Der deutsche<br />
Filmhistoriker Curt Moreck fügt ergänzend hinzu, daß<br />
die Wirkungen der Hetzkampagne während des Ersten<br />
Weltkrieges „durch keine gegenteilige Aufklärungsarbeit<br />
der Nachkriegszeit“ wieder aufgehoben werden<br />
konnte.<br />
Ein Blick über den Tellerrand<br />
Der Historiker Golo Mann fordert zwar, uns mit der<br />
Vergangenheit zu beschäftigen. Wer es hierzulande<br />
aber unternimmt, nicht nur die eigenen, also deutschen,<br />
sondern auch die Verbrechen anderer Völker aufzubereiten,<br />
gerät schnell in den Verdacht, ein rechtslastiger<br />
Nationalist, wenn nicht gar noch etwas Übleres zu<br />
sein. Lutz Niethammer 73 formuliert diesen Verdacht<br />
– allerdings auf das Phänomen der Internierung bezogen<br />
– wie folgt: Die westdeutschen Historiker seien<br />
„beklommen gewesen“, problematische Bereiche „ihrer<br />
Besatzungsmacht aufzugreifen, um ... nicht rechtsradikaler<br />
Agitation Nahrung zu geben und sich der Gefahr<br />
des Aufrechnens auszusetzen“.<br />
Ein Blick in die britische, amerikanische oder französische<br />
Mediengeschichte kann aber durchaus auf-<br />
71 Hitler, Adolf: „Mein Kampf“<br />
72 Morison-Crommager: Das Werden der amerikanischen Republik<br />
73 Lutz Niethammer in „Internierungspraxis in Ost- und Westdeutschland<br />
nach 1945, S.41–57, hier S. 43<br />
schlußreich sein. An sie mag der britische Botschafter in<br />
Berlin, Sir Neville Henderson, gedacht haben, als er 1939<br />
bemerkte, daß die Geschichte einst das Urteil sprechen<br />
würde, daß es „ganz allgemein“ die „Presse“ gewesen<br />
sei, welche die „hauptsächliche Ursache für den Krieg“<br />
gewesen ist. Henderson stand in Großbritannien mit<br />
dieser Meinung nicht allein. Auch er wußte, wovon<br />
er sprach. Die Befürchtung ist nicht abwegig, daß die<br />
Medien uns Deutsche zu dem gemacht haben, was wir<br />
sind. So wie in nur wenigen Jahrzehnten aus der Pfl icht<br />
zur Information (wie John Delane sie verstand) die Pfl icht<br />
zur Desinformation wurde, sobald das Vaterland rief,<br />
die Liebe zur Wahrheit zur Liebe für England wurde.<br />
So wurden aus den Vermittlern Missionare. Und jedes<br />
Mittel war recht, um dieser Mission medial Ausdruck zu<br />
verleihen – auf Kosten der Wahrheit.<br />
Die bewußte, amtliche Irreführung eines Volkes,<br />
das Täuschen und Belügen der eigenen Bevölkerung<br />
beginnt in England. Dem trägt die englische Zeitung<br />
Sunday Correspondence Rechnung, als sie 1989 feststellt:<br />
„Wir sind 1939 nicht in den Krieg eingetreten, um<br />
<strong>Deutschland</strong> vor Hitler oder die Juden vor Auschwitz 74·<br />
und den Kontinent vor dem Faschismus zu retten. Wie<br />
1914 sind wir für den nicht weniger edlen Grund in den<br />
Krieg eingetreten, daß wir eine deutsche Vorherrschaft in<br />
Europa nicht akzeptieren können.“<br />
So deutlich kann man es natürlich nicht sagen,<br />
wenn es gilt, das Volk bei der Stange zu halten, um<br />
einen Krieg durchzustehen, den viele gar nicht wollten.<br />
Dieser Ansicht war u. a. auch Steed, der während<br />
des Ersten Weltkriegs dafür zuständig war, daß die<br />
englische Bevölkerung nur das zu lesen und zu hören<br />
bekam, was sie in ihrer Siegeszuversicht und in ihrem<br />
Haß auf den „preußischen Hunnen“ stärkte. Marineminister<br />
Winston Churchill hatte bereits frühzeitig für<br />
die Einrichtung eines Pressebüros gesorgt und damit<br />
schon zu Beginn des Krieges die Presse zum Teil des<br />
regierungsamtlichen Propagandaapparates gemacht.<br />
Frühzeitig gab es mäßigende und mahnende Stimmen,<br />
die Folgen solcher propagandistischen Feldzüge lägen<br />
doch auf der Hand: die Bilder dieser Klischees würden<br />
„vielfach von Generation zu Generation weitgehend<br />
unverändert weitergegeben“. Wie gefährlich das sei,<br />
hob der englische Militärhistoriker J. F. C. Fuller hervor.<br />
Propaganda entfessele „die Bestie im Menschen“. Sie<br />
sei eine „höllische Taktik“, welche die im Menschen<br />
schlummernden tierischen Instinkte wecke ... und aus<br />
dem Gegner einen Teufel mache. 75<br />
Der schon zitierte Noam Chomsky ergänzt, daß eine<br />
Geschichte der politischen Propaganda auf ihre Quellen<br />
zurückgeführt werden müsse. Die aber lägen in Großbritannien,<br />
denn dort seien die Prinzipien der Propaganda<br />
perfekt entwickelt und umgesetzt worden. Die Briten<br />
74 Das KZ bestand 1939 auch noch gar nicht.<br />
75 Fuller, J. F. C.: The Conduct of War 1789–1961 „The Study of the<br />
Impact of the French, Industrial and Russian Revolution on War<br />
Conduct.<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
23
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
24<br />
hätten, so der Wissenschaftler, mit Hilfe der Propaganda<br />
erfolgreich „das Denken der Welt kontrolliert“. 76 Die<br />
Technik aber, Halbwahrheiten und Lügen zu verbreiten,<br />
verfolgte im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg auch das<br />
Ziel, die USA in einen Krieg zu locken.<br />
Die USA greifen in den Ersten Weltkrieg ein<br />
Gilbert Parker, Leiter der Amerikaabteilung des Informationsministeriums<br />
in London, konnte dank eines<br />
zuvor über das Land gesponnenen dichten Netzes von<br />
Sympathisanten während des Ersten Weltkrieges Zuträger<br />
und Agenten in den USA für einen Kriegseintritt<br />
Amerikas mobilisieren .<br />
In den Vereinigten Staaten nahm sich der landesweiten<br />
Verbreitung des „Hunnenklischees“ in den Jahren<br />
1916/1917 die Creel Commission 77• an, und organisierte<br />
landauf, landab ihren Propagandafeldzug – nach Vorlage<br />
der englischen Presse und nach Maßgabe der von<br />
ihr weltweit verbreiteten Greuelhetze. Die Wirkung war<br />
durchschlagend, denn innerhalb kürzester Zeit gelang<br />
es den Briten und ihren Helfershelfern in den USA, aus<br />
einer friedlichen Bevölkerung eine „hysterisch heulende,<br />
kriegslüsterne Meute zu machen“.<br />
History repeats itself – Geschichte wiederholt sich,<br />
sagt der Brite. Am 17. September 1989 teilte die „Washington<br />
Post“ ihren Lesern mit, daß britische Agenten<br />
seit 1940 eifrig dabei gewesen wären, in amerikanischen<br />
Zeitungen „Stimmung“ gegen das Dritte Reich zu machen.<br />
Sie hätten, so die Zeitung, Nachrichtenagenturen<br />
und Radiostationen manipuliert, politische Feinde in<br />
Kongreß und in den Gewerkschaften öff entlich angegriff<br />
en, politische Freunde korrumpiert und anderes<br />
mehr.<br />
In Großbritannien holte der britische Premier Churchill<br />
den schon bekannten Lord Beaverbrook als Minister<br />
für die Rüstungsproduktion in sein Kriegskabinett. Dem<br />
Informationsministerium (MOI) unterstand BBC mit<br />
ihren Dutzenden von deutschen Helfern, unter ihnen<br />
Waldemar von Knoeringen. 78 Es fällt nicht schwer, sich<br />
vorzustellen, wie wertvoll hier die Erfahrungen eines<br />
76<br />
77 The Committee on Public Information, also known as the CPI<br />
or the Creel Committee, was an independent agency of the<br />
government of the United States created to infl uence U. S. public<br />
opinion regarding American participation in World War I. Over<br />
just 28 months, from April 13, 1917 to August 21, 1919, it used<br />
every medium available to create enthusiasm for the war effort<br />
and enlist public support against foreign attempts to undercut<br />
America’s war aims.<br />
78 Freiherr zu Guttenberg: Fußnoten, Ullstein TB 646. 1971. – Bei<br />
Kriegsbeginn befand sich von Knoeringen schließlich in England.<br />
Von 1940 bis 1943 arbeitete er für das deutschsprachige<br />
Programm der BBC wie auch für den Sender der euopäischen<br />
Revolution. Er verließ die BBC, da er nicht mehr auf eigene Verantwortung<br />
arbeiten durfte und die BBC vor der Ausstrahlung<br />
eine Einsicht in die Sendemanuskripte forderte. Ende 1945 kehrte<br />
Knoeringen als Major der britischen Armee nach <strong>Deutschland</strong><br />
zurück<br />
Lords werden, der als Experte der Desinformation ausgewiesen<br />
und zusätzlich noch Herr über ein gewaltiges<br />
Presseimperium war. 1939 beginnen umgehend geheimgehaltene<br />
Anstrengungen, den „großen Vetter“ –<br />
die USA – für den Kriegseintritt zu gewinnen. Taktik und<br />
Methoden sind 1914 die gleichen wie 1939. Geschickt<br />
verstehen es die britischen Propagandaexperten 1940<br />
– so wie schon 1916, in den USA Ängste vor dem „häßlichen<br />
Hunnen“ zu wecken. Vom Datum ihrer Geburt her<br />
konnten sie alle einer Generation zugerechnet werden,<br />
für die das Empire ein Gott und das Deutsche Reich der<br />
„natürliche“ Gegner waren. Eine nicht unerhebliche<br />
Anzahl von ihnen hatte England schon im Ersten Weltkrieg<br />
gedient, hatte den Ersten Weltkrieg bewußt erlebt<br />
und durch die Kriegspropaganda ein entsprechendes<br />
Deutschenbild mitbekommen. Das saß fest, das wirkte<br />
nach und blieb richtungweisend für den Kurs, den<br />
man gegenüber den „Hunnen“ einzuschlagen hatte.<br />
Und sie beherrschten ihr Metier aus dem FF. Eine stark<br />
verbesserte Technik machte sie durchschlagskräftiger<br />
als 1914. Die Männer kamen aus regierungsamtlichen<br />
Kreisen, vor allem aus dem Außenamt (FO), aus der<br />
Ministerialbürokratie. Unter ihnen waren renommierte<br />
<strong>Journal</strong>isten. Sie kamen aus Kreisen der Industrie und<br />
Hochfi nanz und den Propagandaabteilungen des Geheimdienstes.<br />
Sie waren geübt im „Kampf im Dunkeln“,<br />
hatten aber recht unterschiedliche Interessen. Was sie<br />
verband, waren – wie vor und im Ersten Weltkrieg –<br />
die Glorie des britischen Empire und der Haß auf alles<br />
Deutsche. 79<br />
Steed, Chef der „Times“, wird während der Jahre<br />
vor und im Zweiten Weltkrieg der politische Berater<br />
Churchills. Bereits 1940 legt er ein Kriegszielprogramm<br />
79 Aigner, Dietrich: Das Ringen um England, Bechtle 1969
vor, das eine Zerstückelung <strong>Deutschland</strong>s, weitläufi ge<br />
Gebietsabtretungen – darunter Ostpreußen – und<br />
Massenaustreibungen vorsah. Treibende Kraft hinter<br />
den Kulissen war Lord Vansittart, ein bedingungsloser<br />
Befürworter des britischen Empires und ein DeutschenHaßer.<br />
Bereits 1937 hatte er in den USA für einen<br />
„Kreuzzug für Freiheit und Demokratie“ geworben und<br />
war auf ein dankbares Publikum gestoßen. Als Leiter<br />
des Koordinationskomitees für die britische Auslandspropaganda<br />
hatte er ein weites Betätigungsfeld.<br />
1938 wird in Großbritannien mit dem Aufbau einer<br />
zentral gelenkten Kriegspropaganda begonnen, deren<br />
Hauptaufgabe darin besteht, die „englische Bevölkerung<br />
auf den Krieg einzustimmen“, wie der englische<br />
Werbefachmann Sidney Rogerson meint. Der englische<br />
Medienwissenschaftler Taylor ist der Ansicht, daß das<br />
Organisationsschema der britischen Propaganda im<br />
Ersten Weltkrieg jenem des Zweiten sehr ähnlich gewesen<br />
sein müsse.<br />
Das haben wir uns so vorzustellen: An der Spitze<br />
steht ein Ausschuß für politische Kriegführung (Political<br />
Warfare Executive = PWE). Dieser Ausschuß wurde<br />
auf Vorschlag des FO (Foreign Office = Außenamt)<br />
im August 1940 ins Leben gerufen. Und in diesem<br />
PWE lassen sich jene geheimen Gremien verorten, die<br />
geschaff en wurden, um mit Hilfe von Propaganda die<br />
Menschen im In- und Ausland zu beeinfl ussen. Alle<br />
geheimen Ausschüsse, die vom FO oder auf Betreiben<br />
des Premier selbst geschaff en wurden, hatten nur ein<br />
Ziel: das Deutsche Reich als Festlandsmacht endgültig<br />
auszuschalten, dessen wirtschaftliche Stärke auf immer<br />
und ewig zu brechen, seine Rolle als europäische Großmacht<br />
zu vernichten. Vor allem aber war sicherzustellen,<br />
daß sich das Reich von seiner Niederlage nicht wieder<br />
erholen würde.<br />
Der Kampf um die deutsche Seele<br />
Ziel Delmers 80• war es, die Moral der kämpfenden<br />
Truppe und der sog. Heimatfront zu zersetzen. Er ist<br />
für unser Thema in mehrfacher Hinsicht von Interesse.<br />
Zum einen ist er ein routinierter Psychokrieger gewe-<br />
80 Von 1941 bis 1945 war Delmer an den auf die deutsche Bevölkerung<br />
abzielenden Propagandaanstrengungen der britischen Regierung<br />
beteiligt. Im Auftrag der Political Warfare Executive leitete<br />
er den in einem alten Schloß in Bletchley Park untergebrachten<br />
deutschsprachigen Soldatensender Calais, der die Aufgabe hatte,<br />
die deutsche Bevölkerung über den Kriegsverlauf aus britischer<br />
Sicht zu informieren und ihr so ein Gegenbild zur NS-Propaganda<br />
zu liefern. Darüber hinaus wurde auch über Greueltaten der<br />
Nationalsozialisten berichtet. Zu den Mitarbeitern des Senders<br />
gehörten insbesondere emigrierte deutsche <strong>Journal</strong>isten wie<br />
Hans Reinholz oder Otto John, der spätere Chef des Bundesamtes<br />
für Verfassungsschutz, von dem Delmer sich derart beeindruckt<br />
zeigte, daß er ihn in seinen Lebenserinnerungen in leuchtenden<br />
Farben – und wohl übertrieben – als einen Märtyrer des antinazistischen<br />
Widerstandskampfes schilderte. In <strong>Deutschland</strong> fand<br />
Delmers Sender – obwohl das Hören von staatlicher Seite streng<br />
verboten war – eine große Hörerschaft.<br />
contech<br />
sen. (Nach einem Bericht des Spiegel vom 8. 9. 1954<br />
hat Delmer die psychologische Kriegführung bis zur<br />
Vollendung entwickelt.) Zum anderen beschäftigt er in<br />
seiner Truppe eine Menge Deutscher, unter ihnen Otto<br />
John (den späteren Präsidenten des Verfassungsschutzes<br />
der BRD), Eduard von Schnitzler, Philipp Rosenthal,<br />
Fritz Heine u. a. 81<br />
Zum dritten – und das ist für unser Thema sehr wichtig<br />
– wird er einen Teil seiner Truppe nach der Kapitulation<br />
des Deutschen Reiches einsetzen, um der deutschen<br />
Medienlandschaft „ein neues Gesicht“ zu geben.<br />
Und letztlich erfahren wir von ihm persönlich, mit<br />
welchen Mitteln er das Ziel durchsetzen wollte, gegen<br />
die nationalsozialistische Weltanschauung zu kämpfen.<br />
Delmer und seine Truppe empfanden den Krieg vor<br />
allem als Nervenschlacht, in der „alles erlaubt“ war, „jeder<br />
Griff “, der „schmutzigste Trick“, je „übler, um so besser“,<br />
„Lügen, Betrug – alles“, wie sich der Chef rückblickend<br />
erinnerte. 82 Falls das nicht reichen sollte, sprangen<br />
andere Psychokrieger ein, wie sie von der amerikanischen<br />
<strong>Journal</strong>istin Freda Utley 83 erwähnt werden. In sog.<br />
Haßkursen sollten die GIs vor und nach dem Sieg daran<br />
erinnern werden, mit wem sie es in <strong>Deutschland</strong> zu tun<br />
haben würden. Als der Zeitpunkt gekommen war, und<br />
die „Bestie“ am Boden lag, folgte die Quittung. Auf Versailles<br />
1919 folgt die bedingungslose Kapitulation 1945.<br />
Unter Mißachtung aller völkerrechtlichen Vorgaben,<br />
ja unter Bruch des geltenden Völkerrechts wurde eine<br />
„bleibende, unsichtbare Besatzung“ eingerichtet, in<br />
der, wie der britische Historiker A. J. P. Taylor noch 1957<br />
anmerkte, Männer an den Schalthebel zeitgemäßer<br />
Massentäuschung und Massenbeeinfl ussung saßen,<br />
die den Willen der Besatzungsmacht durchsetzten und<br />
Presse, Verlage, den Rundfunk und (später) das Fernsehen<br />
kontrollierten.<br />
Die Medienpolitik in den USA in den<br />
letzten Kriegsjahren<br />
In den Vereinigten Staaten stellte sich in Regierungskreisen<br />
die Frage, wie mit <strong>Deutschland</strong> nach dessen<br />
bedingungsloser Kapitulation zu verfahren sei, lange<br />
bevor in Reims die Kapitulationsurkunde am 8. Mai 1945<br />
unterschrieben wurde. Das amerikanische Volk mußte<br />
erst – wie schon 1916 – durch die Medien lernen, alles<br />
Deutsche zu Haßen. Und das, obwohl im September<br />
1942 laut einer Gallupumfrage 40% gar nicht wußten,<br />
„warum ihr Land eigentlich am Krieg beteiligt war“. 84 Die<br />
Vorbereitung der Öffentlichkeit auf eine Verschärfung<br />
der <strong>Deutschland</strong>politik beginnt in den Medien. Die 1943<br />
beobachtbare allgemeine Verhärtung der „öffentlichen<br />
81 zu Guttenberg, a. a. O.<br />
82 Delmer, Sefton: Die Deutschen und ich, Nannen Verlag Hamburg<br />
1963, S.617 ff .<br />
83 Utley Freda: Kostspielige Rache, Nolke Verlag Hamburg 1950, S.30<br />
84 Pauwels, Jacques: Der Mythos vom guten Krieg, Papy Rossa Verlag,<br />
Köln 2003, S. 21<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
25
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
26<br />
Meinung“ ist im Zusammenhang mit dem „Kreuzzug für<br />
eine bessere Welt“ zu sehen. Über die Medien wurde ein<br />
Deutschenbild durchgesetzt, das jenem sehr ähnlich<br />
war, welches 1916 die Menschen in Hysterie, Angst und<br />
einen Haß auf alles Deutsche getrieben hatte.<br />
Der amerikanische <strong>Journal</strong>ist Benjamin Colby 85 weist<br />
nach, daß dieser Haß planmäßig von einer halbamtlichen<br />
Regierungsstelle, dem „Verband der Kriegsschriftsteller“,<br />
gesteuert wurde, der „größten Propagandamaschine<br />
der Geschichte“. Ein Beamter des „Büros für<br />
Kriegsnachrichten“ (OWI) klärt uns auf: „Wir bedienten<br />
uns der Tätigkeit von 5.000 Schriftstellern, wir erreichten<br />
Tausende von Zeitungen, mehr als 600 Radiostationen<br />
... mit dabei waren 1150 Schulungsoffi ziere“. Nachrichtenmaterial<br />
wurde verschickt, Agenturen beliefert,<br />
Rundfunktexte wurden an die Sender verteilt, persönliche<br />
Kontakte zu Redakteuren, Schriftstellern und<br />
Rundfunkanstalten vermittelt. Auch Hollywood nahm<br />
an der Kampagne teil, „zog in den Krieg“. Hunderte<br />
von antideutschen Hetz- und Haßfi lmen verbreiteten,<br />
ähnlich wie im Ersten Weltkrieg, den „Triumph des unbesiegbaren<br />
Guten über das abgrundtief Schlechte“.<br />
Und wieder zog das Bild vom „bösen Deutschen“ um die<br />
Welt. In Asien z. B. wurde in 5.000 Kinos der Haßexport<br />
aus den USA gezeigt. Die Muster, wie solche Kampagnen<br />
zu führen waren, lagen ja bereit. Die Mittel, wie man<br />
aus einer friedlichen Bevölkerung binnen kurzem eine<br />
„hysterische Meute“ machen konnte, auch. Es waren die<br />
gleichen wie die aus den Tagen des Ersten Weltkriegs.<br />
Und was sich damals 1916/1917 als wirkungsvolle Waff e<br />
erwiesen hatte, sollte sich auch 1943 als wirkungsvoll<br />
erweisen. Wie man „Feindbilder“ konstruierte, war<br />
seit dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865)<br />
bekannt. In dieser Auseinandersetzung zwischen den<br />
amerikanischen Süd- und Nordstaaten wurden die Südstaatler<br />
als die „Bösen“, als die „von Gott Verworfenen“<br />
schlechthin von der Nordpresse „aufgebaut“. Auch die<br />
Techniken waren bekannt, wie man ihnen zur Wirkung<br />
verhalf: „ständige Wiederholung“ und gezielte Appelle<br />
an „ethnische, nationale oder soziale Vorurteile“ hatten<br />
sich als die geeignetsten Mittel erwiesen. 86<br />
1943 rückte Rex Stout, ein renommierter Kriminalschriftsteller,<br />
auf Betreiben Morgenthaus an die Spitze<br />
des Verbands der Kriegsschriftsteller. Er intensivierte<br />
sofort die Zusammenarbeit mit dem Amt für Kriegsnachrichten.<br />
Das OWI verschaff te freien Zugang zu<br />
den meinungsbildenden Institutionen, d. h. zu Presse,<br />
Rundfunk, Film. Mit der Devise Wir müssen Haßen, sonst<br />
werden wir verlieren gab er die Richtung vor und die<br />
Parole aus, daß Haß auf die Deutschen nötig sei, um<br />
eine Welt des Friedens zu errichten. Vor den Tagen des<br />
Fernsehens und den mit ihm verbundenen Möglichkeiten<br />
der Massensuggestion und -manipulation übte<br />
85 Colby, Benjamin: T´was a famous Victory – Deception and Propaganda<br />
in the War with Germany, Arlington o. J.<br />
86 Hubell, John T.: Essays from Civil War History in: Contributions in<br />
American History, No 45<br />
der Rundfunk einen ungeheuren Einfl uß aus. Und so<br />
organisierte Stout ein Programm, das er „Amerikas<br />
Städtetreff en im Funk“ nannte. Die Botschaft, daß die<br />
Deutschen „unheilbar“ an Paranoia litten, fraß sich fest,<br />
so daß letztlich kein anderer Weg bliebe als sie zu töten.<br />
In der „Gesellschaft zur Verhütung eines Dritten Weltkrieges“,<br />
einer Unterorganisation des Schriftstellerverbandes,<br />
forderte u. a. die Tochter Thomas Manns, Erika<br />
Mann, ein hartes Durchgreifen und eine konsequent<br />
durchgeführte Umerziehung.<br />
Ähnlich auch Willy Brandt. Aus seinem Stockholmer<br />
Exil warnte er vor den Vansittartisten. Die hätten ein völlig<br />
falsches Bild vom deutschen Volk. Doch gerade die<br />
einfl ußreichen Emigranten in den Vereinigten Staaten<br />
waren es, die sich anfällig für die von Vansittart gezeichnete<br />
deutsche „Erblast“ vom „blutsaufenden Hunnen“<br />
zeigten. Hatte Brandt angemerkt, daß nur „gefl üchtete<br />
Deutsche“ die Umerziehung in die Hand nehmen<br />
könnten, der Lehrerstand allerdings vorher gesäubert<br />
werden müsse, so dachten die in die USA gefl üchteten<br />
Emigranten weitaus radikaler.<br />
Die Anhänger Vansittarts<br />
und ihr Einfl uß in den USA<br />
Auch der amerikanische Finanzminister Morgenthau<br />
war ein kompromißloser Anhänger der Maximen<br />
des Lord Vansittart. Er wollte „reinen Tisch“ machen<br />
und forderte im Punkt 6 seines berüchtigten Plans die<br />
„leitenden Figuren im Presse- und Erziehungswesen“<br />
als „Erzverbrecher“ vor Gericht zu stellen. Am 10. September<br />
1944 legte er eine Denkschrift vor, in der eine<br />
„Umerziehung“ gefordert wurde. Alle Schulen seien<br />
zu schließen, da dort „der das deutsche Volk beherrschende<br />
militärische Geist seit vielen Jahrhunderten<br />
… bewußt gefördert worden sei“ ...<br />
Der Leiter der Zentraleuropaabteilung im amerikanischen<br />
Geheimdienst OSS, Walter Dorn, weist darauf<br />
hin, daß die ursprüngliche Form des Morgenthauplans<br />
vom 1. September 1944 unverkennbar „gemeinsame<br />
Züge“ mit jenem Programm Vansittarts aufwiese,<br />
welches jener dem britischen Oberhaus vorgetragen<br />
hätte. Dieses Programm sah im NS eine „zwangsläufi ge<br />
Aufgipfelung“, einen „barbarischen Höhepunkt“ einer<br />
über Jahrhunderte im deutschen Volk angelegten<br />
Entwicklung. Die sei nur durch eine komplett andere<br />
Erziehung und Ausbildung zu brechen. 87 Der Brite<br />
Louis Nizer, einfl ußreicher Rechtsanwalt in New York,<br />
muß auch zu Vansittarts Anhängern gezählt werden.<br />
In seiner Schrift „Was tun mit <strong>Deutschland</strong>“ machte er<br />
Vorschläge, wie mit den Deutschen nach deren Niederlage<br />
zu verfahren sei. Wie das im einzelnen in die Praxis<br />
umzusetzen sei, empfahl die aus dem Morgenthauplan<br />
87 Morgenthau: in „The Morgenthau Diaries“
hervorgegangene Direktive 1067. 88 Diese allgemeine<br />
Richtlinie für die amerikanische Besatzungspolitik für<br />
die Nachkriegszeit ordnete in Punkt 8d die „Festnahme<br />
aller Personen an, die Schlüsselstellungen in Erziehungs-<br />
und Unterrichtswesen bekleideten.“ 8f sah die<br />
Verhaftung von Personen vor, die ähnliche Aufgaben<br />
in „Presse, Verlagshäusern und anderen Stellen hatten,<br />
die Nachrichten und Propaganda verbreiteten“. Punkt<br />
10 empfahl dem Kontrollrat ein gemeinsam abgestimmtes<br />
Vorgehen bezüglich der „Kontrolle der Organe für<br />
öffentliches Nachrichtenwesen in <strong>Deutschland</strong> ...“ 10c<br />
sah eine Pressezensur für die erste Zeit, 14 die Schließung<br />
aller Erziehungseinrichtungen vor, 14b erklärte<br />
ein „durchgebildetes System von Oberaufsicht über<br />
das deutsche Erziehungswesen“ für nötig, um eine<br />
„positive Neuorientierung“ zu ermöglichen „mit der<br />
Absicht, Nazi- und militaristische Lehren vollständig<br />
auszuschalten und die Entwicklung demokratischer<br />
Ideen zu begünstigen“.<br />
Dieses Programm wird in der amerikanischen Zone<br />
in der ersten Zeit der Besatzung durchgezogen. Die<br />
Briten hatten eine Übernahme der Direktive abgelehnt.<br />
Die Franzosen verfolgten andere Ziele.<br />
Der deutsche Charakter<br />
muß geändert werden.<br />
In einer „wissenschaftlichen Analyse“ der tausendjährigen<br />
deutschen Geschichte hatte Nizer im Stile<br />
Vansittarts eine deutliche Fehlentwicklung des Volkscharakters<br />
festgestellt – hin zu einer prekären Sonderrolle.<br />
Die bestünde primär in der fatalen Schwäche,<br />
Konfl ikte stets mit Gewalt lösen zu wollen. Das vor<br />
allem müsse geändert werden. Auf dieses Ziel hin seien<br />
Erziehung und Ausbildung anzulegen. Es sind nicht<br />
so sehr die haarsträubenden Konstruktionen eines<br />
abstrusen Geschichtsverlaufs, dem die Deutschen angeblich<br />
folgen, es ist das in ihnen versteckte Feindbild.<br />
Ergo schlug der Mann eine Therapie vor, die es in sich<br />
hatte: Im Unterschied zu Versailles sei diesmal gründlich<br />
vorzugehen. Die Souveränität des deutschen Staates sei<br />
zu beseitigen und auf lange Zeit zu suspendieren. Alle<br />
Lebensbereiche müßten perfekt kontrolliert werden.<br />
Einen Friedensvertrag solle es für die nächste Zeit nicht<br />
geben. 5.000 Menschen seien sofort hinzurichten.<br />
Vor allem aber müsse <strong>Deutschland</strong> geistig abgerüstet<br />
werden. Sein Erziehungssystem sei zu zerschlagen. Nizer<br />
sah in „wohlmeinenden Deutschen“ die geeigneten<br />
Partner, um dieses Umerziehungsprogramm durchzusetzen.<br />
Die begabtesten Studenten sollten im Ausland<br />
die „beschränkte Sicht“ des Nationalismus verlieren<br />
und als „geläuterte Lehrer“ an Schulen und Hochschulen<br />
zurückkehren. Im Schulunterricht müßten „mit<br />
Nachdruck“ von den Nazis unterdrückte Schriftsteller<br />
vorgelegt und gelesen werden.<br />
88 Direktive 1067 in: Gustav Stolper „Die Deutsche Wirklichkeit“ ,<br />
Claassen & Goverts, Hamburg 1949, S. 309 ff .<br />
Bemerkenswert für die Besatzungszeit und die<br />
frühen Jahre der Bundesrepublik – ja eigentlich bis<br />
heute – bleibt, daß die von Nizers „Beweisführung“<br />
beeindruckten emigrierten Deutschen nach ihrer Rückkehr<br />
in die alte Heimat erfolgreich versuchen werden,<br />
dieses Feindbild der Kriegspropaganda im allgemeinen<br />
Bewußtsein fest zu verankern. Die „einzigartige<br />
Schlechtigkeit“ der Deutschen gehört, dank medialer<br />
Unterstützung, zum unverzichtbaren Selbstverständnis<br />
gerade der Heranwachsenden. Heute fi nden wir diese<br />
Propaganda teilweise in den deutschen Schulbüchern.<br />
Was tun mit den Deutschen<br />
nach deren Niederlage?<br />
Nach dem englischen Historiker Watt war „paradoxerweise“<br />
sowohl die eine Ansicht, welche im Nationalsozialismus<br />
eine „Aufgipfelung“ aller schlechten<br />
Eigenschaften des deutschen Volkes sah, deutschen<br />
Ursprungs wie auch die andere, die nur von einer gründlichen<br />
Säuberung (Reform) der Herrschaftsstrukturen<br />
eine Gesundung des deutschen Volkes erwartete. 89<br />
Sowohl in Großbritannien wie auch in den USA<br />
versprachen sich diese beiden Denkschulen von einer<br />
Umerziehung des Volksganzen eine Lösung, die langfristig<br />
Erfolg versprach. Wissenschaftlich dem Phänomen<br />
„deutsche Krankheit“ zu Leibe rückten in den USA Horkheimer,<br />
Adorno, Marcuse, Kirchheimer, Neumann, Pollock<br />
u. a. Die Nationalsozialisten hatten 1933 ihr „Institut für<br />
Sozialforschung geschlossen. An der Columbiauniversität<br />
war es wieder eröff net worden.<br />
Marcuse, Kirchheimer und Neumann saßen ab 1943 in<br />
der Abteilung für Analysen und Forschung (Research &<br />
Analysis) des amerikanischen Geheimdienstes OSS und<br />
arbeiteten Empfehlungen aus, wie mit den Deutschen<br />
nach der Kapitulation zu verfahren sei. Marcuses „Leitfäden“<br />
empfahlen u. a. den amerikanischen Kommandeuren,<br />
Redakteure und Verleger zu verhaften, regierungsamtliche<br />
Kommunikationsstränge zu zerreißen<br />
und berufsgenossenschaftliche NS-Organisationen<br />
aufzulösen. Damit sollte das gesamte NS-Kommunikationsnetz<br />
zerschlagen, später in den Dienst der Alliierten<br />
gestellt und gleichzeitig die öff entliche Meinung<br />
kontrolliert werden..<br />
Während die Propaganda in den amerikanischen<br />
Medien Vorurteile allem Deutschen gegenüber aus der<br />
Zeit des Ersten Weltkrieges aufwärmte und unter das<br />
Volk brachte, saßen deutsche Sozialwissenschaftler wie<br />
Adorno und Horkheimer bei Los Angeles und schrieben<br />
kluge Gedanken nieder, wie man Vorurteile bekämpfen<br />
könne. Sie wollten demnach „nicht nur das Vorurteil …<br />
beschreiben, sondern es …erklären, um bei seiner Ausrottung<br />
zu helfen. Ausrottung meint Umerziehung …<br />
89 Watt, Donald in: Die britische <strong>Deutschland</strong>- und Besatzungspolitik<br />
1945–1949,Forschepoth/Steininger (Hrsg.) Schöningh, Paderborn<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
27
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
28<br />
Ein weiteres Ziel bestand in der „Aufdeckung potentiell<br />
faschistischer Individuen“. Hier begegnen wir schon<br />
den Topoi, die unser aller Leben verändern sollten.<br />
Horkheimer und Adorno kümmerten sich gleichfalls intensiv<br />
um eine Analyse der deutschen Seele. Ihr Befund<br />
war niederschmetternd: die deutsche Gesellschaft sei<br />
krank. Eine Reform an Haupt und Gliedern sei geboten.<br />
„Zentrale reaktionäre Keimzelle sei die Familie“, deren<br />
„autoritäre Struktur“ müsse zerbrochen, das Übel der<br />
„Autorität“ infragegestellt resp. beseitigt werden. Dann<br />
werde sich der Charakter des Volksganzen ändern. Der<br />
Deutsche würde langfristig friedlich werden. Folglich<br />
gehöre die Erziehung zu den wichtigsten Aufgaben<br />
eines Neuanfangs. Alliierte Kontrolloffi ziere und geeignete<br />
deutsche Emigranten böten sich als Lehrer an.<br />
Bereits 1942 hatte Horkheimer in einer Denkschrift<br />
an das US-Außenministerium dargelegt, daß jede Erziehung<br />
der Nachkriegsgenerationen eine „Erziehung zur<br />
Demokratie“ zu sein habe, folglich eine Umerziehung<br />
sein müsse. 90 Er war davon überzeugt, daß eine Revolution<br />
in der Zukunft nur Erfolg versprechen würde, wenn<br />
es gelang, den Kampf weg vom marxistisch eingefärbten<br />
Klassenkonfl ikt in den Bereich der Kultur und hier<br />
besonders in den Bereich der Pädagogik zu verlagern.<br />
Das deutsche Schulwesen müsse auf amerikanische<br />
Schulen abgestimmt werden. Es sei eine Elite zu schaffen,<br />
die auf Amerika eingestellt sei. Die NS-Organisation<br />
KdF sei durch Reisen nach Amerika zu ersetzen.<br />
In den 40er und 50er Jahren kehrten Horkheimer,<br />
Adorno, Marcuse und andere aus ihrem Exil nach Frankfurt<br />
am Main zurück. Sie besetzten Lehrstühle an der<br />
Universität Frankfurt und waren Gründer der Frankfurter<br />
Schule. Innerhalb der Kriegskoalition bestand weitestgehende<br />
Übereinstimmung darin, daß die Erziehung<br />
und Gestaltung des Schulunterrichts reformiert werden<br />
müßten. Hier müsse also Entscheidendes getan werden.<br />
Der deutsche Emigrant Emil Ludwig unterrichtete als<br />
Gastdozent die für eine Besatzung in <strong>Deutschland</strong> vorgesehenen<br />
Offi ziere in Charlottsville über die Defi zite<br />
im deutschen Charakter. Auch Erika Mann sorgte sich<br />
um eine „menschliche“ Erziehung. Ihre Devise: statt Drill,<br />
Zucht und Vaterland, statt Erziehung zur Barbarei, Hinwendung<br />
zu Eigenverantwortung, Nächstenliebe, Recht<br />
und Freiheit. Um diese Ziele erreichen zu können, war<br />
ihr Vater, Thomas Mann, der Ansicht, daß vorher 500.000<br />
Deutsche exekutiert werden müßten. 91<br />
1943 beginnt die enge Zusammenarbeit des amerikanischen<br />
OSS (Offi ce of Strategic Service), dem Vorläufer<br />
der CIA, mit dem britischen Ausschuß für besondere<br />
Aufgaben (SOE (Special Operations Executive)). Im OSS<br />
arbeiteten Hunderte von Deutschen. Wie viele im SOE,<br />
90 Horkheimer, Max: Memorandum über die Beseitigung des deutschen<br />
Chauvinismus. Unveröff entlichtes Manuskript, übersetzt<br />
von Günter Behrmann, Potsdam<br />
91 Mayer, Hans: Thomas Mann, Suhrkamp, TB 1047, Frankfurt a. M.<br />
1984, S.399<br />
ist unbekannt. Chef der Abteilung „Psychologische<br />
Kriegführung“ beim amerikanischen Oberkommando<br />
SHAEF war General Bob McClure. Wiewohl es nicht einfach<br />
war, aus einem wild zusammengewürfelten Haufen<br />
von Psychokriegern nach dem Sieg eine schlagkräftige<br />
Truppe von Informationskontrolleuren zu formen, gelang<br />
dies dem General. Das hieß aber in Konsequenz<br />
nichts anderes, als daß McClure mit der Übernahme<br />
eines Teils von der Truppe Sefton Delmers in die Abteilung<br />
„Information und Zensur (INC) gezwungen war, mit<br />
Technikern der Desinformation, des Betrugs und der<br />
Lüge zusammenzuarbeiten..<br />
Gegen Kriegsende befehligt McClure 23.000 Mann. 92<br />
Am Tag der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht<br />
wird aus der Abteilung PWD = Abteilung für Psychologische<br />
Kriegführung bei SHAEF die Abteilung für<br />
Informationskontrolle (ICD) bei den geplanten Militärregierungen.<br />
Das Konzept des Generals ging von einer<br />
„völligen Stillegung aller Medien“ aus. Dem sollte in<br />
einer weiteren Phase die Information der deutschen<br />
Bevölkerung über die Ziele der alliierten Sieger folgen.<br />
Dies wird mittels sorgfältig ausgewählter Beiträge in<br />
Radio und Zeitungen erreicht. In einer dritten Phase<br />
schließlich sollen Radiosender, Verlage und Zeitungen<br />
an vertrauenswürdige, zumeist linksliberal eingestellte<br />
Deutsche übergeben werden (Lizenzvergabe).<br />
Als McClure nach Washington zurückbeordert wurde,<br />
kontrollierten seine Abteilungen und Unterabteilungen,<br />
wie er einem Freund im Juli 1946 zufrieden schrieb, „37<br />
Zeitungen, 6 Radiosender, 314 Theater, 642 Kinos, 101<br />
Magazine, 237 Verleger und 7.384 Buchhändler. Der<br />
spätere Starkolumnist des Springer Verlages, Hans Habe,<br />
erinnert sich, daß er in diesen Tagen „mit Überzeugung<br />
und Begeisterung“ ein „Umerzieher“ war. So, wie er aus<br />
propagandistischen Überlegungen im Exil in Amerika<br />
„mehr oder weniger bewußt“ die Unterscheidung<br />
zwischen dem „deutschen Volk und den Nationalsozialisten“<br />
hatte fallen lassen und die Distinktion zwischen<br />
„guten“ und „schlechten“ Deutschen aufgegeben hatte.<br />
McClures Neuorganisation des Pressewesens machte<br />
zur Bedingung, daß sich jeder Lizenzträger mit dem<br />
Lizenzempfang verpfl ichten mußte, publizistisch an der<br />
Umerziehung der Bevölkerung mitzuwirken.<br />
Als die Amerikaner die Deutschen gegen die „rote<br />
Gefahr“ aus dem Osten in Position bringen zu müssen<br />
glaubten, drehte sich der Wind. Es kam es zu einem<br />
„Paradigmenwechsel“ in Politik und Informationspolitik.<br />
Erneut waren es – wie vor den Kriegen in den<br />
USA – „Kräfte“ aus Big Business, der Schwerindustrie,<br />
den Banken und der Wirtschaft, vor allem aber der<br />
Rüstungsindustrie, die einen außenpolitischen Wechsel<br />
forderten und sich an ihre einstmals hervorragenden<br />
Beziehungen zur deutschen Industrie und Finanzwelt<br />
92 Paddock, Alfred H, Jr.: U. S. Special Warfare University Press of<br />
Kansas
erinnerten. (Teilweise hatte man während des Krieges<br />
Geschäfte gemacht). Und diesem Paradigmenwechsel<br />
war die Rückkehr eines Teils der „alten Garde“ der<br />
<strong>Journal</strong>isten geschuldet. Er wurde (nicht nur von den<br />
USA) geduldet, solange die Westdeutschen eine Politik<br />
betrieben, die sich in Einklang mit den Vorstellungen<br />
Amerikas befand. Was sie zu „nützlichen Idioten“ machte,<br />
war die Tatsache, daß sie jederzeit erpreßt werden<br />
konnten. Dem Kurswechsel in Washington folgte also<br />
ein Personalwechsel in den Redaktionsstuben. Auf die<br />
linksliberalen Weltverbesserer folgten die Wort- und<br />
Gesinnungsgewaltigen aus der Zeit der Diktatur, die sich<br />
jeder Lage anzupassen wußten. Auch und vor allem in<br />
den meinungsführenden Blättern.<br />
Der deutsche Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister<br />
93 hat in die Anfangsjahre unserer sich als „Sturmgeschütze<br />
der Demokratie“ gerierender Zeitungen und<br />
Zeitschriften geleuchtet. Sicher, es gab sie auch, die<br />
Linken. Da waren aber auch die Heerscharen der Rechten,<br />
der Braunen, die wieder Zufl ucht vor den Gesinnungswächtern<br />
der Demokratie suchten. Sefton Delmer<br />
hat ihnen ein Denkmal gesetzt. Er schreibt: da waren sie<br />
wieder, „die katzbuckelnden“ deutschen <strong>Journal</strong>isten, da<br />
waren sie wieder, diese „Publizisten“, die „unter Brüning<br />
Hitler verdammt hatten und dann plötzlich begeisterte<br />
Loblieder auf den Führer anstimmten, sobald dieser die<br />
Macht ergriffen hatte“.<br />
Delmer hatte vor und während des Krieges ihre<br />
„servilen Haßgesänge“ verfolgt und wollte ihnen keine<br />
Gelegenheit „zu einem neuen geistigen Purzelbaum“<br />
bieten. Was gab es da nicht alles. Insgeheim, ließ man<br />
verlauten, habe man eigentlich immer „gegen Hitler“<br />
gearbeitet, das Parteibuch zur „Deckung“ genutzt, „um<br />
die Gestapo zu täuschen“. Und man liebe eigentlich<br />
England und Amerika. Dabei ist es bis heute geblieben.<br />
Aber sie blieben zeitlebens erpreßbar. Auch das gehört<br />
zu den Tragödien dieser frühen Jahre. Sie warten noch<br />
immer auf ihre wissenschaftliche Aufarbeitung. Der<br />
ehemalige Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Nahum<br />
Goldmann, hat diese Tragödie in einem Gespräch<br />
mit Freimuth Duve auf die kurze Formel gebracht:<br />
„Ich habe die Erfahrung gemacht, daß die Leute, die<br />
irgendwie eine Nazi-Belastung hatten, im Umgang die<br />
leichtesten waren.“ 94<br />
Beizeiten lernte die deutsche Öff entlichkeit durch<br />
ihre Lizenzpresse, sich den Kreuzzügen gegen das Böse<br />
immer dann anzuschließen, wenn es der große Bruder<br />
jenseits des Atlantiks für geraten hielt. Unser Heute will<br />
nicht zuletzt deswegen vielen als irgendwie deformiert<br />
erscheinen, vom Zeitgeist verunstaltet. Amerika ist<br />
immer noch das „gelobte Land“, auch wenn die Zahl<br />
der Lobsingenden abzunehmen scheint. Schatten<br />
93 Hachmeister ,Lutz: Die Herren <strong>Journal</strong>isten, Beck Verlag, München<br />
2002<br />
94 Goldmann, Nahum: Israel muß umdenken, rororo TB 4061, Hamburg<br />
1976<br />
liegen über dem „freiesten Land der Welt“. Es fällt auf,<br />
daß unsere Lage fast ausschließlich in Verbindung<br />
mit der „Revolution“ der 68er gesehen wird. Hierbei<br />
ist zu bedenken, daß solche Erklärungen recht simpel<br />
erscheinen angesichts der Verwirrung in den Köpfen<br />
vieler wohlmeinender Intellektueller, die durchaus<br />
nicht die Ansichten dieser „Revolutionäre“ teilten. Eine<br />
wichtige Erkenntnis verdanken wir diesbezüglich dem<br />
Sozialphilosophen Günter Rohrmoser. Er war der Ansicht,<br />
daß ein Verständnis unseres Heute ohne Kenntnis der<br />
68er gar nicht möglich sei.<br />
Es fallen zwischen deren Theorien und der Praxis erhebliche<br />
Widersprüche auf. Das hängt nicht zuletzt mit<br />
der Art und Weise zusammen, wie unsere gesellschaftliche<br />
Wirklichkeit empfunden, bzw. wie sie gedeutet wird.<br />
Wie weitgehend die Medien dieses Umerziehungsprogramm<br />
unterstützten, welches ursprünglich von<br />
ehemaligen Feinden <strong>Deutschland</strong>s entworfen worden<br />
war, erfahren wir vom Sozialwissenschaftler Clemens<br />
Albrecht 95 . Er hat durchaus recht, wenn er feststellt, daß<br />
der „Aufstieg der Sozialwissenschaft zu einer öff entlichen<br />
Deutungsmacht erster Ordnung ... ohne die Massenmedien<br />
nicht denkbar (war)“. Wir alle wissen aber auch um die<br />
schweren Fehler in der Vergangenheit. Zu fragen bleibt,<br />
ob wir nicht auf sicherem Wege sind, sie zu wiederholen.<br />
Bemerkenswert für die Besatzungszeit bleibt weiterhin,<br />
daß die von Nizers „Beweisführung“ angesprochenen<br />
emigrierten Deutschen nach ihrer Rückkehr in die<br />
alte Heimat sehr erfolgreich darin gewesen sind, dieses<br />
Feindbild der Kriegspropaganda zum „Allgemeingut“,<br />
zum „Bildungsgut“ werden zu lassen. Dank der Hilfe in<br />
den Medien. Heute lassen sich diese Bilder mühelos in<br />
den Schulbüchern aufspüren.<br />
95 Albrecht, Clemens: Die intellektuelle Gründung der BRD Campus<br />
Verlag Frankfurt. a. M. 1999, S.203 ff .<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
29
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
30<br />
Der Politologe Prof. Dr. Kurt Sontheimer äußerte<br />
sich auf dem Historikertag 1981 wie folgt: „Ich halte es<br />
aus umerzieherischen Gründen für unverzichtbar, an der<br />
These vom preußisch-deutschen Kaiserreich und seinen<br />
Strukturen als Vorläufer Hitlers festzuhalten, und zwar<br />
unbeschadet der Richtigkeit dieser These.“ 96<br />
Stimmen des Krieges<br />
Der Bischof von London sagte am 28. 11. 1915 in<br />
einer Predigt: Everyone that puts principle above ease and<br />
life itself beyond mere living, is banded in a great crusade<br />
to kill Germans…. to save the world, to kill the good as<br />
well as the bad, to kill those who have shown kindness to<br />
our wounded as well as the fi ends. Wer Grundsätze über<br />
Bequemlichkeit stellt, das Leben höher achtet als nur das<br />
tägliche Dahinleben, ist aufgerufen, Deutsche zu töten, die<br />
Welt zu retten, zu töten die Guten sowohl wie die Bösen,<br />
zu töten jene, die unseren Verwundeten Freundlichkeiten<br />
erwiesen haben, als auch die verworfenen Deutschen.<br />
Der folgende Vers von Rudyard Kipling, dem Barden<br />
des zügellosen englischen Imperialismus aus dem<br />
Jahre (1914) mit dem Bild des Hunnen vor dem Tor<br />
war aus Sicht der alliierten Kriegspropaganda wohl<br />
das gelungenste:<br />
For all we have and are<br />
For all our children `s fate<br />
Stand up and take the war<br />
The Hun is at the gate.<br />
Für was wir sind und haben,<br />
der Kinder Glück und Flor,<br />
auf in den Schützengraben.<br />
Der Hunne steht am Tor<br />
(Übers. v. M. A.)<br />
96 (Zitiert in dem Beitrag von Ehrhardt Bödecker: Die humane Bilanz<br />
Preußens in: Brandenburgische Gespräche 2009 – hrsg. von der<br />
Stiftung Preußisches Kulturerbe, Bonn 2009, S.5)<br />
*<br />
*<br />
*<br />
Einer dieser deutschen Hunnen schrieb an seine<br />
Familie:<br />
Ihr meine Lieben!<br />
…<br />
Solltet ihr diesen Brief in den Händen halten, so wisset<br />
denn: ich bin gefallen für meinen Kaiser, für mein<br />
Vaterland und für euch alle. Es gilt jetzt einen schweren<br />
Kampf und es ist leuchtender, lockender Frühling …<br />
Freudig, dankbar und glücklich werde ich sterben, wenn<br />
es sein muß. Ich trage diesen letzten Gruß bei mir bis zum<br />
letzten Augenblick. Dann sei er durch treue Kameraden<br />
euch gesandt, und mein Geist wird bei euch sein. Der<br />
gnädige große Gott behüte und segne Euch und mein<br />
deutsches Vaterland!<br />
Walter Roy, Stud. med. aus Hamburg<br />
Geb. 1. Juni 1894<br />
Gef. 24. April 1915 in Frankreich<br />
(aus: Kriegsbriefe gefallener Studenten, Hrsg. von<br />
Ph. Witkop)
Geschichte im Korsett<br />
des politischen Strafrechts<br />
Meinungsfreiheit im „freien Westen“<br />
von<br />
Günter Bertram 97•<br />
I Einleitung<br />
Art. 5 Grundgesetz lautet:<br />
(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift<br />
und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus<br />
allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten.<br />
Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung<br />
durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.<br />
Eine Zensur fi ndet nicht statt.<br />
(2) Diese Rechte fi nden ihre Schranken in den Vorschriften<br />
der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen<br />
zum Schutze der Jugend und in dem Recht auf<br />
persönliche Ehre.<br />
(3) Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.<br />
Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zu<br />
Verfassung.<br />
Die entscheidende Frage ist: Wo liegen die „Schranken“<br />
(Art. 5 Abs. 2)? Kunst, Wissenschaft, Forschung und<br />
Lehre unterliegen diesen Schranken anscheinend nicht.<br />
Gibt es hier gar keine Begrenzungen?<br />
97 Günter Bertram, Vors. Richter a. LG i. R., Birkenweg 21, 21465<br />
Wentorf, 040/7202833, gb.bertram@gmx.de Vortrag vor der<br />
SWG am 23. März 2009 – Vorbemerkung: Nach dem 23. 3. 2009<br />
(Datum des Vortrags) sind zum Thema „Meinungsfreiheit“ wichtige<br />
Gerichtsentscheidungen ergangen, vor allem der Beschluß<br />
des Ersten Senats des BVerfG vom 4. 11. 2009, der § 130 Abs. 4<br />
StGB für verfassungsgemäß erklärt. In der Literatur sind gegen<br />
ihn inzwischen gewichtige Einwände vorgebracht worden. Die<br />
Konsequenzen der Entscheidung lassen sich zur Zeit (Sommer<br />
<strong>2010</strong>) schwer abschätzen.<br />
II. Meinungsfreiheit – der Ausgangspunkt<br />
1. Geschichte<br />
Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist im GG<br />
zwar ähnlich verbrieft wie ehedem in der Weimarer<br />
Reichsverfassung (WRV), aber anders als dort doppelt<br />
gesichert. Es kann schlechterdings nicht abgeschafft<br />
werden (Art. 79 [3] G. G.) Als zusätzliche Sicherung der<br />
Grundrechte haben wir unter dem Grundgesetz das<br />
Bundesverfassungsgericht. Es hat sich eingebürgert,<br />
die Bundesrepublik als „wehrhafte“, „streitbare“ oder<br />
„kämpferische“ Demokratie zu rühmen. Man hat bei<br />
uns den Ruf übernommen: keine Freiheit für die Feinde<br />
der Freiheit! und verschweigt dabei, daß dieser Ruf von<br />
St. Just stammt, dem engsten und bis zum Tod treuesten<br />
Mitarbeiters Robespierres, des anerkannt ärgsten<br />
Terroristen der Revolution! Mit diesem Schlachtruf<br />
werden aber heute im Staat des Grundgesetzes viele<br />
Fragwürdigkeiten legitimiert. 98[1]<br />
98 [1] Vgl. nur G. Roelleke: „keine Freiheit den Feinden der Freiheit! NJW<br />
1993, 3306 ( zu VG Frankfurt, Beschluß vom 22. 2. 1993: NJW 1993,<br />
2067; bemerkenswert der Sachverhalt S. 2067!)<br />
Doch – auch abgesehen von solchen Grotesken – ist die Legitimität<br />
von Parteiverboten höchst fragwürdig. Vgl. Martin Morlok:<br />
Schutz der Verfassung durch Parteiverbot? NJW 2001, 2931–2942;<br />
zutreffend auch Horst Meier: „Diese Artikel (scil. 21 II, 18 GG), anderen<br />
demokratischen Verfassungen unbekannt und später unter dem Begriff<br />
der „streitbaren Demokratie“ zusammengefaßt, stellen praktisch<br />
jedwede Politik unter das Gebot verfassungstreuer Gesinnung“, noch<br />
auf die Spitze getrieben durch die „Ewigkeitsklausel“ (Art 79 II GG)<br />
Kritik des Grundgesetzes, MERKUR Nr. 607, Nov. 1999, S. 1099 (1101)<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
31
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
32<br />
2. Politisches Strafrecht – nur ein Teil legitimen<br />
und illegitimen Staatsschutzes<br />
Auch das dem Verfassungsrecht untergeordnete sog.<br />
Politische Strafrecht dient der Sicherung des freiheitlichen<br />
Staates. Dazu gehören die klassischen Straftatbestände<br />
Hoch- und Landesverrat, Offenbarung von<br />
Staatsgeheimnissen, Agententätigkeit usw.; übrigens<br />
auch „Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats …<br />
durch Fortführung einer für verfassungswidrig erklärten<br />
Partei“ (§ 84 StGB) oder durch „Verstoß gegen ein Vereinigungsverbot“<br />
(§ 85 StGB). Diese können im Rahmen<br />
dieser Abhandlung außer Betracht bleiben. Staat und<br />
Gesellschaft schützen sich vor ihren wirklichen oder<br />
vermeintlichen Gegnern keineswegs allein – oder auch<br />
nur in erster Linie – durch das Strafrecht. Verwaltungshandeln<br />
ist meist wirksamer und deshalb wichtiger.<br />
Man denke etwa an die Jahresberichte (VSB) der Verfassungsschutzämter,<br />
die ein Kenner (Christoph Gusy)<br />
schon 1986 ein „rechtliches Niemandsland“ genannt<br />
hat 99[2] , an die Praxis dieser Behörde, Volkserziehung und<br />
Propaganda zu betreiben – man lese nur das Vorwort<br />
des FDP-Innenministers Dr. Wolf/NRW zu seinem VSB<br />
2007! 100[3] Auch zivilrechtliche Beziehungen sind im<br />
Sinne des Staatsschutzes nutzbar: Wenn etwa die Postbank<br />
oder andere Geldinstitute es für opportun halten,<br />
Kunden, die politisch in Verruf geraten sind, das Konto<br />
zu kündigen. 101[4] oder Vermieter ihren Vertragspartnern,<br />
99 [2] ) Christoph Gusy Der Verfassungsschutzbericht, NVwZ 1986, 6.<br />
Zur Problematik der VS-Berichte:<br />
Dietrich Murswiek Staatliche Warnungen, Wertungen, Kritik als Grundrechtseingriff<br />
– Zur Wirtschafts- und Meinungslenkung durch staatliches<br />
Informationshandeln, DVBl. 1997, 1021<br />
ders.: Meinungsäußerung als Beleg für eine verfassungsfeindliche Zielsetzung,<br />
Arnim-Festschrift Berlin 2004, 481;<br />
ders.: Der VS-Bericht – das scharfe Schwert der streitbaren Demokratie,<br />
NVwZ 2004, 769; ders.: Neue Maßstäbe für den VS-Bericht – Konsequenzen<br />
aus dem JF-Beschluß des BVerfG, NVwZ 2006, 121;<br />
Hilmar Sander: Politische Parteien im Visier des Verfassungsschutzes – Ein<br />
Beitrag zur Bestimmung der verfassungsrechtlichen Vorgaben für die<br />
nachrichtendienstliche Beobachtung politischer Parteien, dargestellt<br />
am Beispiel der „Republikaner“, DÖV 2001, 328. Die Neigung der VS-<br />
Ämter zu leichtfertigen Verdächtigungen der ??? spiegelt sich in<br />
einer Reihe dergleichen kassierender gerichtlicher Entscheidungen<br />
wider: BVerfG vom 24. 5. 2005: (NJW 2005, 2912) „Junge Freiheit“,<br />
dazu Bertram: Eine Lanze für die Pressefreiheit, NJW 2005, 2890; OVG<br />
Berlin-Brandenburg v. 6. 4. 2006: (NVwZ 2006, 838) „REP“, dazu<br />
Bertram: Kollateralschäden einer „wehrhaften Demokratie“ in NJW<br />
2006, 2967; VG Düsseldorf vom 21. 11. 2006: „national24.de“, dazu<br />
Bertram: Rechte Meinungen in NJW 2007, 2163<br />
100 [3] Vgl. VSB NRW 2007, dessen ministerielles Vorwort – Dr. Ingo Wolf,<br />
FDP, MdL (S. 1–5) – sich auf drei Seiten mit Rechtsextremismus,<br />
dann auf einer mit „Islamismus“ befaßt: „Dem VS wird in letzter<br />
Zeit wieder verstärkt vorgeworfen, er sei politisch instrumentalisiert<br />
worden. Entzündet hat sich dieser Vorwurf vor allem an der Berichterstattung<br />
über die Lokalpartei „pro Köln“. Richtig ist, daß die<br />
Aufklärungs- und Informationsarbeit des VS gesellschaftspolitisch<br />
ist. Wie kann es auch anders sein, denn die Arbeit zielt darauf ab,<br />
daß aufgeklärte Bürger der populistischen Politik rechter Parteien<br />
und Gruppierungen nicht auf den Leim gehen (S. 2) …<br />
101 [4] Ein Beispiel: Am 5. 1. 2001 kündigt die Postbank dem Verlag<br />
„Junge Freiheit“ das Konto: „Wir möchten mit extremen Organisationen<br />
keine Kundenbeziehung“ und lobt ihren Schritt „als Beitrag<br />
für die Demokratie“ und „Zeichen gegen Gewalt und Fremden-Haß“.<br />
Dann aber erscheint am 1. 2. in FAZ, SZ, Berliner Mopo und Bonner<br />
die einen Saal gemietet hatten, kurzerhand den Stuhl<br />
vor die Tür setzen, weil sie einen öffentlich inszenierten<br />
Skandal mehr fürchten als Schadensersatzansprüche.<br />
Beispiel: Im Juni 2005 lädt das „Corps Irminsul“ zum<br />
125. Jubiläum und „Festkommers“ in den Hamburger<br />
Ratsweinkeller ein – Festredner: Konrad Löw, Bayreuth.<br />
Am Vortag faxt die Sprinkenhof-AG ihrem Pächter,<br />
der den Irminsul-Vertrag geschlossen hatte: „untragbar<br />
– ausladen!“ Grund: die taz hatte just verbreitet:<br />
„rechter Kommers mit umstrittenem Gastredner!“ (vgl.<br />
dazu: Bücherverbrennung 2004, MHR 4/2004, S. 42–45;<br />
Bertram Der Fall Konrad Löw - Meinungsfreiheit oder<br />
P.C.? Recht und Politik 1/2005, 33–37). Die Hamburger<br />
Veranstalter laden K. Löw bedauernd aus; aber der RA<br />
des Vorstands nimmt das nicht hin, droht eine einstweilige<br />
Verfügung an, fragt auch beim Hamburger<br />
Verfassungsschutz nach, der mitteilt, daß gegen Löw gar<br />
nichts vorliege, und bewirkt, daß die Kündigung rasch<br />
und lautlos zurückgezogen wird – so geräuschlos, daß<br />
die taz davon nichts mitbekommt und die Ausladung<br />
Löws verkündet. 102[5] Auf derselben Linie liegt es, wenn<br />
versucht wird, einen „rechten“ Verlag von der Leipziger<br />
Buchmesse zu verbannen. Man erfährt viele – wenn<br />
nicht alles täuscht:: solide dokumentierte! – Fälle von<br />
„Berufsverboten“ (eine aus den 70er und 80er Jahren<br />
gut bekannte Vokabel) 103[6] . Die hohen Hürden, die das<br />
GG mit Bedacht vor seinen Verboten (Art. 21 II, 18)<br />
aufgerichtet hat, werden immer wieder unterspült:<br />
die NPD etwa wird praktisch so behandelt, als wäre<br />
sie verboten 104[7] , mißliebige Personen so, als wären<br />
GenA. ein „Appell für die Pressefreiheit“, daraufhin, noch am selben<br />
Tage, zieht die PB ihre Kündigung zurück, und die taz spottet:<br />
„Zivilcourage hat Konjunktur!“, vgl. Alexander von Stahl: Kampf um<br />
die Pressefreiheit: Chronologie eines Skandals, 2003, S. 33f<br />
102 [5] Vgl. näher dazu: Bertram: „Die Unperson beim Festkommerz“,<br />
Mitteilungen des Hamburgischen Richtervereins (MHR) 3/2005,<br />
11 ff., ders.: Recht und Politik 1/2005, 33 ff.: Meinungsfreiheit oder<br />
Political correctness - Der Fall Konrad Löw<br />
103 [6] Vgl. etwa den Rauswurf des Berliner Dozenten für Rechtswissenschaften<br />
– RiAG i.R. Falko Gramse – aus der Landespolizeischule<br />
Berlin Mitte vom Juli 2007 wegen Redakteurstätigkeit für die JF,<br />
vgl. JF vom 27. 7. 2007 „Patriotismus als Kündigungsgrund“ (S. 7)<br />
und „Einschüchterungsstrategie“ (Heinrich Lummer, a. a. O., S. 2).<br />
Eine „Show“ besonderer Art – mit einem Rauswurf und anschließenden<br />
Arbeitsgerichtsprozessen verbunden: Eva Herman bei<br />
Kerner am 9. 10. 2007, vgl. dazu Bertram, „Gedanken zur Hermann-<br />
Schlacht“: Recht und Politik 4/2007, S. 242<br />
Der „Fall Molau 2004“ (jetzt auch zu ihm FAZ v. 9. 1. 2009: „Eine<br />
Partei zersetzt sich selbst“), über den Panorama am 25. 11. 2004<br />
berichtete („Schulverbot für Nazikinder – Fragwürdiger Umgang<br />
mit NPD-Familie“), zeigt mehrere Facetten des Problems auf: Dem<br />
Mann, der als Pädagoge allseits gelobt wurde, wurde von seiner<br />
Braunschweiger Waldorfschule fristlos gekündigt und gleich<br />
Hausverbot erteilt, als er wissenschaftlicher Mitarbeiter der sächsischen<br />
NPD-Landtagsfraktion wurde. Der eigentliche Skandal lag<br />
aber darin, daß das Hausverbot sofort auch auf seine Frau und (!!)<br />
seine dort eingeschulten minderjährigen Kinder erstreckt wurde.<br />
Vgl. dazu Bertram: Kinderhaftung - Sippenhaft, Mitteilungen des<br />
Hamburgischen Richtervereins 1/2005, S. 26. Andere Fälle bei v.<br />
Münch – Der „Aufstand der Anständigen“<br />
NJW 2001, 728 (insb. 732, Ziffer V. 3)<br />
104 [7] Das jüngste Projekt des niedersächsischen Innenministers<br />
Schünemann (CDU – im Auftrag der Innenminister), mit Hilfe einer<br />
Verfassungsänderung (dazu Gutachten des Prof. Volker Epping,<br />
Hannover) die NPD von der staatlichen Parteienfi nanzierung aus-
ihnen die Grundrechte bereits entzogen worden …<br />
Der Rostocker Prof. Volker Neumann spricht von einer<br />
„Feinderklärung gegen rechts“ 105[8] – die sich in teils<br />
phantasievollen Spielarten von „Verbot, Schikane und<br />
Boykott“ ausprägen. 106[9]<br />
3. Meinungsfreiheit als Grund- und<br />
Verfassungsrecht,<br />
a. Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />
An der Wiege der Rechtsprechung steht das oft zitierte<br />
„Lüth-Urteil“ vom 15. 1. 1958. 107[10] 1950 hatte der<br />
Hamburger Senatssprecher Erich Lüth öffentlich zum<br />
Boykott des Veit-Harlan-Films „Unsterbliche Geliebte“<br />
aufgerufen, weil Harlan als Autor des seinerzeit von<br />
Goebbels bestellten und in seiner Auswirkung – der<br />
damaligen Instrumentalisierung! – schlimmen Films<br />
„Jud Süß“ seinen Anspruch auf öffentliche Wiederkehr<br />
verwirkt habe. Das Landgericht Hamburg verurteilte<br />
Lüth auf entsprechende Klage zur Unterlassung, weil<br />
der Boykottaufruf zivilrechtlich eine sittenwidrige und<br />
daher verbotene Schädigung sei. Dagegen erhob Lüth<br />
Verfassungsbeschwerde, so daß Karlsruhe die juristisch<br />
interessante Frage zu beantworten hatte, ob und inwieweit<br />
das Grundrecht der Meinungsfreiheit, auf das<br />
Lüth pochte, zivilrechtlich in die Sphäre Dritter, also<br />
Harlans bzw. seiner Filmgesellschaften, hineinzuwirken<br />
vermochte.<br />
Sehr weit, entschied das BVerfG und gab Lüth recht.<br />
Hier nur ein paar Kernsätze aus dieser Entscheidung:<br />
Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist<br />
als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit<br />
in der Gesellschaft eines der vornehmsten<br />
Menschenrechte überhaupt (Hinw. auf Art. 11 der Erklärung<br />
der Menschen- und Bürgerrechte v. 1789).<br />
Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung<br />
ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht<br />
zuschließen, ist ein geradezu klassischer Umgehungsversuch, vgl.<br />
dazu Bertram: „Angriff auf die Chancengleichheit“, Junge Freiheit v.<br />
28. 11. 2008, S. 7; ders.: Gekrümmtes Recht, a. a. O., S. 2; die Änderung<br />
des Kommunalwahlgesetzes von Mecklenburg-Vorpommern<br />
durch G. vom 28. 1. 2009 (Überprüfung verdächtiger Kandidaten<br />
durch den VS) ist aus gleichen Holze. Beides wird gelobt von Rainer<br />
Litten: Politikmüdigkeit und Rechtsextremismus – was hilft? Recht<br />
und Politik 1/2009, S. 18–22<br />
105 [8] Volker Neumann „Feinderklärung gegen rechts – Versammlungsrecht<br />
zwischen Rechtsgüterschutz und Gesinnungsaktionen“ in<br />
Leggewie/Meier, 2002, S. 155 (157 ff.)<br />
106 [9] Z. B. LG Leipzig v. 6. 10. 2000 in NJW 2001, 80: sittenwidrig: unwirksam!<br />
LG Frankfurt/Oder v. 13. 10. 2000: Kündigung wirksam! NJW<br />
2001, 82; dazu richtig Boemke, Leipzig: Kündigung von NPD-Konten<br />
und § 138 BGB in NJW 2001, 43; über das Thema Kontenkündigung<br />
und „Report“-Bericht dazu LG Mainz v. 9. 11. 2000 in NJW 2001, 761;<br />
vgl. auch viele einschlägige Nachweise bei Ingo von Münch: „Der<br />
Aufstand der Anständigen“, NJW 2001, 728 – zu Kontenkündigungen<br />
dort S. 732<br />
107 [10] 1 BvR 400/57 v. 15. 1. 1958: NJW 1958, 257–259; zur Fortgeltung<br />
seiner Prinzipien vgl. Dieter Grimm: Die Meinungsfreiheit in der<br />
Rechtsprechung des BVerfG, NJW 1995, 1997, dort Ziffer I<br />
erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den<br />
Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist<br />
(BVerfG … = NJW 56, 1393). Es ist in gewissem Sinne<br />
die Grundlage jeder Freiheit überhaupt … Aus dieser<br />
grundlegenden Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit<br />
... ergibt sich, daß es nicht folgerichtig wäre, die<br />
sachliche Reichweite gerade dieses Grundrechts jeder<br />
Relativierung durch einfaches Gesetz ... zu überlassen<br />
… Die gegenseitige Beziehung zwischen Grundrecht<br />
und „allgemeinem Gesetz“ ist … nicht als einseitige<br />
Beschränkung der Geltungskraft des Grundrechts<br />
durch die „allgemeinen Gesetze“ aufzufassen: es fi ndet<br />
vielmehr eine Wechselwirkung in dem Sinne statt,<br />
daß die „allgemeinen Gesetze“ zwar dem Wortlaut<br />
nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits<br />
aber aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung<br />
dieses Grundrechts … ausgelegt und so in ihrer das<br />
Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder<br />
eingeschränkt werden müssen“.<br />
Ein langes, seiner Dialektik wegen nicht ganz einfaches,<br />
aber höchst aktuelles Zitat – wichtig auch deshalb,<br />
weil es für den „öffentlichen geistigen Meinungskampf<br />
in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage“<br />
in eine Vermutung ausmündet: „die Vermutung für die<br />
Zulässigkeit der freien Rede“. 108[11]<br />
4. Meinungsverbreitungsrecht<br />
Zur Freiheit der Meinungen gehört nicht nur das<br />
Recht, sie zu äußern, sondern auch, sie gemeinschaftlich<br />
und demonstrativ unter die Leute zu bringen. Das wird<br />
durch Art. 8 GG verbrieft:<br />
(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne<br />
Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne<br />
Waffen zu versammeln.<br />
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann<br />
dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines<br />
Gesetzes beschränkt werden.<br />
Den inneren engen Zusammenhang beider Grundrechte<br />
(Art. 5 und 8 GG) stellt das BVerfG in seiner<br />
Brockdorf-Entscheidung vom 14. Mai 1985 heraus: Es<br />
ging darum, ob die im Februar 1981 vom Landrat Steinburg<br />
verfügten und vom OVG Schleswig bestätigten Beschränkungen<br />
einer Anti-Kernkraft-Großdemonstration<br />
in der Wilstermarsch vollen Umfangs zulässig waren;<br />
als das BVerfG entschied, hatte die Demonstration mit<br />
ca. 50.000 Teilnehmern, bei der etwa 10.000 Polizeibeamte<br />
im Einsatz gewesen waren, längst stattgefunden,<br />
unbeschadet des Verbots. Das Gericht gab der Verfassungsbeschwerde<br />
gegen die Verfügung des Landrats<br />
statt. 109[12]<br />
108 [11] BVerfG. NJW 1958, 259 .<br />
109 [12] Durch besonders ausführlichen Beschluß, vgl. 1 BvR 233, 341/81:<br />
NJW 1985, 2395 ff.<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
33
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
34<br />
„Als Abwehrrecht“, heißt es in den Gründen, „das auch<br />
und vor allem anders denkenden Minderheiten zugute<br />
kommt, gewährleistet Art. 8 GG den Grundrechtsträgern<br />
das Selbstbestimmungsrecht über Ort, Zeitpunkt, Art und<br />
Inhalt der Veranstaltung …In der verfassungsrechtlichen<br />
Rechtsprechung, die sich bislang mit der Versammlungsfreiheit<br />
noch nicht befaßt hat, wird die Meinungsfreiheit<br />
seit langem zu den unentbehrlichen und grundlegenden<br />
Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens<br />
gezählt“ (: Lüth-Urteil!). Das BVerfG habe früher schon<br />
betont, „in einer Demokratie müsse die Willensbildung<br />
vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt<br />
verlaufen; das Recht des Bürgers auf Teilhabe an der<br />
politischen Willensbildung äußere sich …auch in der<br />
Einfl ußnahme auf den ständigen Prozeß der politischen<br />
Meinungsbildung, die sich in einem demokratischen<br />
Staatswesen frei, off en, unreglementiert und grundsätzlich<br />
,staatsfrei‘ vollziehen müsse … An diesem Prozeß“, merkt<br />
der Senat an, „sind die Bürger in unterschiedlichem Maße<br />
beteiligt. Große Verbände, fi nanzstarke Geldgeber oder<br />
Massenmedien können beträchtlichen Einfl uß ausüben,<br />
während sich der Staatsbürger eher als ohnmächtig erlebt.<br />
In einer Gesellschaft, in der die Chance, sich durch sie zu<br />
äußern, auf wenige beschränkt ist, verbleibt dem einzelnen<br />
… im allgemeinen nur eine kollektive Einfl ußnahme<br />
durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für<br />
Demonstrationen. Die ungehinderte Ausübung des Freiheitsrechts<br />
wirkt nicht nur dem Bewußtsein politischer<br />
Ohnmacht und gefährlichen Tendenzen zur Staatsverdrossenheit<br />
entgegen. Sie liegt … im wohlverstandenen<br />
Gemeininteresse …“ 110[13] An sich erlaubte Restriktionen<br />
müßten zurückhaltend angewendet werden: „Mit diesen<br />
Anforderungen wären erst recht behördliche Maßnahmen<br />
unvereinbar, die über die Anwendung grundrechtsbeschränkender<br />
Gesetze hinausgehen und etwa den<br />
Zugang zu einer Demonstration durch Behinderung von<br />
Anfahrten und schleppende vorbeugende Kontrollen<br />
unzumutbar erschweren oder ihren staatsfreien unreglementierten<br />
Charakter durch exzessive Observationen<br />
und Registrierungen … verändern.“ Das BVerfG hielt auch<br />
sonst die Fahne der Liberalität hoch.<br />
III. Meinungsfreiheit …<br />
und dessen Einfärbung<br />
1. Klimawandel<br />
Im Herbst 2004 fand sich in der NJW ein Beitrag zum<br />
Titel: „Demonstrationsfreiheit auch für Rechtsextremisten?<br />
– Grundsatzüberlegungen zum Gebot rechtsstaatlicher<br />
Toleranz.“ 111[14] Sein Verfasser, Hoffmann-Riem, damals<br />
Vorsitzender Richter am Bundesverfassungsgericht,<br />
erinnert zunächst daran, daß es die Studentenbewegung<br />
mit ihrem Protest gegen „überkommene Strukturen“, „den<br />
Obrigkeitsstaat“ usw. gewesen sei, die Mitte der 60er<br />
110 [13] BVerfG, a. a. O., NJW 1985, 2396 re. Sp.<br />
111 [14] NJW 2004, 2777–2782<br />
Jahre den Art. 8 GG aus seinem „Dornröschenschlaf“ gerissen<br />
und damit beim BVerfG viel Verständnis gefunden<br />
habe, wie etwa die Brockdorf-Entscheidung zeige, die<br />
den Gorleben-Treck 1979, die Bonner Friedensdemonstration<br />
1981 und die Süddeutsche Menschenkette 1983<br />
als Muster wünschenswerter behördlicher Kooperationsbereitschaft<br />
hervorhebt. 112[15] Trotz Widerspruchs im<br />
einzelnen hat die liberale Linie des BVerfG im großen<br />
und ganzen Beifall gefunden, eine Akzeptanz, die dazu<br />
beigetragen hat, ihm sein bemerkenswertes Ansehen<br />
zu verschaffen.<br />
Nun galten all diese Demonstrationen im Selbstverständnis<br />
ihrer Veranstalter, den Zuschreibungen der<br />
Medien und im allgemeinen Bewußtsein durchweg<br />
als „links“. Irgendwann vor der deutschen Wiedervereinigung,<br />
danach aber immer auffälliger, änderte sich<br />
das Bild, und man bekam es mit Demonstrationen,<br />
Kundgebungen, Aufrufen, Publikationen zu tun, die das<br />
„linke“ Monopol nicht mehr gelten ließen: Empörung<br />
und Frust über „die politische Klasse“ (vgl. Arnulf Baring<br />
in der FAZ vom 19. 11. 2002: „Bürger, auf die Barrikaden!<br />
Wir dürfen nicht zulassen, daß alles weiter bergab geht,<br />
hilfl ose Politiker das Land verrotten lassen …), demonstrative<br />
Mißachtung politischer „Korrektheit“, Betonung<br />
deutscher „nationaler“ Belange und Interessen, Protest<br />
gegen nationale „Leisetreterei“, „Überfremdung“ usw.<br />
Das war nicht mehr „links“! Also galt das alles als „rechts“,<br />
und dann bald auch als „rechtsradikal“.<br />
Hoffmann-Riem in o. a. Aufsatz: Zu den Errungenschaften<br />
des Rechtsstaats gehört, daß er inhaltlich neutral<br />
ist. Er darf Kritik nicht als erwünscht oder unerwünscht<br />
defi nieren und je nach dem Ergebnis dieser Defi nition<br />
rechtlich unterschiedlich behandeln. Wer meint, Grundrechte<br />
politisch einfärben zu dürfen, demontiert sie …Ein<br />
Grundrecht darf seine Fahne nicht nach dem politischen<br />
Wind richten. … Der Schutz des Grundrechts gilt für alle<br />
Versammlungen … und zwar ohne inhaltliche Bewertung<br />
des Anliegens oder gar seiner gesellschaftlichen Wünschbarkeit<br />
… Schutz besteht damit grundsätzlich auch für<br />
Versammlungen von Rechtsextremisten. Die Garantien<br />
des Rechtsstaates dürfen zu keiner Zeit einem politischen<br />
Trend oder einem politisch wünschenswerten Anliegen<br />
geopfert werden.<br />
Das war nicht nur die Meinung eines Verfassungsrichters,<br />
sondern die des zuständigen mit acht Richtern<br />
besetzten Ersten Senats 113[16] : Das Grundrecht der Meinungsfreiheit<br />
ist ein Recht auch zum Schutz von Minderheiten;<br />
seine Ausübung darf nicht … unter den Vorbehalt<br />
gestellt werden, daß die geäußerten Meinungsinhalte<br />
herrschenden sozialen oder ethischen Auffassungen nicht<br />
widersprechen … Die maßgebende Rechtsprechung,<br />
von der Rechtswissenschaft ganz überwiegend geteilt<br />
114[17] , ist also eindeutig. Die Verwaltungspraxis war<br />
eine andere, wie der Verfasser vielfach feststellen muß-<br />
112 [15] NJW 1985, 2398 zu III. 1.<br />
113 [16] Senatsentscheidung vom 23. 6. 2004: NJW 2004, 2814<br />
114 [17] Nachweise etwa bei Hoffmann-Riem, a. a. O.; Kniesel/Poscher:<br />
„Die Entwicklung des Versammlungsrechts 2000 – 2003“, NJW 2004,<br />
422 ff.
te. Daß Verwaltungen sich um verfassungsrechtliche<br />
Maßstäbe wenig scheren, macht fast jedes einschlägige<br />
Demonstrationsereignis (soweit darüber berichtet wird)<br />
augenfällig. Ein krasser Fall ist der spektakulär gescheiterte<br />
sog. „Anti-Islamisierungskongreß“ von Köln vom<br />
September letzten Jahres: Der Kongreß ist genehmigt,<br />
geht aber in riesigen Gegenkundgebungen unter, als<br />
deren Exekutoren sich als gewalttätige „Autonome“<br />
einfi nden, vor denen die Polizei schnell kapituliert und<br />
den Notstand ausruft: ihre Aufl ösungsverfügung sich<br />
also nicht gegen die „Störer“, sondern deren Kontrahenten<br />
richtet. „Kapitulation des Rechtsstaates!“ urteilt<br />
der Staatsrechtler Josef Isensee – gewiß zutreffend …<br />
Man könnte Beispiel um Beispiel anfügen; das wäre<br />
aber überfl üssig. 115[18]<br />
2. Antifa<br />
Wirklich bedenklich und für den Rechtsstaat gefährlich<br />
ist der Streit, den das OVG Münster mit missionarischer<br />
Leidenschaft gegen den Ersten Senat des BVerfG<br />
ausfi cht. Dem OVG, zumal seinem Präsidenten Michael<br />
Bertrams, zufolge gibt es Meinungen (etwa – wie es<br />
bei ihm heißt – rassistischen, ausländerfeindlichen,<br />
antisemitischen, faschistischen und ähnlichen Inhalts,<br />
„menschenverachtendes Gedankengut“), die nicht etwa<br />
nur „politisch mißliebig“, sondern von vornherein und<br />
schlechthin verfassungswidrig, verboten und verbietbar<br />
seien. Unsere „kämpferische Demokratie“ sei<br />
nämlich begründet im „historischen Gedächtnis“ einer<br />
antifaschistischen Verfassung, denen diese Maßstäbe<br />
zu entnehmen seien (= Art. 139 GG usw.) 116[19] Dieser<br />
Anspruch auf politische Vormundschaft des Staates<br />
über die Meinungsvielfalt der Bürger prägte dann<br />
einen Prozeß der Wochenzeitung Junge Freiheit, Berlin,<br />
gegen den Verfassungsschutz Düsseldorf. Dieser endete<br />
damit, daß die Karlsruher Verfassungsrichter die vom<br />
antifaschistischen Geist inspirierten Vorentscheidungen<br />
Düsseldorfs und Münsters kassierte und der Jungen<br />
Freiheit recht gab. 117[20]<br />
3. Volksverhetzung (§ 130 StGB)<br />
im Lichte der Verfassung<br />
Art. 1 (3) GG lautet: Die nachfolgenden Grundrechte<br />
binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung<br />
als unmittelbar geltendes Recht. Gesetze, die<br />
gegen die Verfassung verstoßen, sind daher rechtswidrig<br />
und können vom BVerfG aufgehoben werden. In<br />
Zusammenhang mit unserer Fragestellung sorgt eine<br />
Bestimmung des Strafgesetzbuches, die sogenannte<br />
115 [18] zur eignen Erfahrung in Bergedorf am 10. 02. 2007: Bertram<br />
MHR 1/007 S. 22, Fn. 18<br />
116 [19] M. Bertrams: Demonstrationsfreiheit für Neonazis? Zur Kontroverse<br />
zwischen dem OVG NRW und der 1. Kammer des Ersten<br />
Senats des BVerfG, Arndt-Festschrift 2002, S. 19 ff.<br />
117 [20] vgl. Bertram: Eine Lanze für die Pressefreiheit, NJW 2005, 2890,<br />
ders.: Hoheitliche Tugendwächter: Verfassungsschutz und „Neue<br />
Rechte“, NJW 2004, 344<br />
Volksverhetzung immer wieder und bis zur Stunde<br />
für Zündstoff und Debatten. § 130 StGB, der diese<br />
Bezeichnung trägt, trat 1960 an die Stelle des früheren<br />
§ 130, der die „Anreizung zum Klassenkampf“ mit Strafe<br />
bedroht und längst obsolet geworden war. 118[21] Der<br />
neue Text von 1960 lautete:<br />
Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öff entlichen<br />
Frieden zu stören,<br />
1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt<br />
oder zu Gewalt- oder<br />
Willkürmaßnahmen gegen sie auff ordert oder<br />
2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift,<br />
daß er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig<br />
verächtlich macht oder verleumdet,<br />
wird mit Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu fünf<br />
Jahren bestraft.<br />
Diese Bestimmung reichte aus, sowohl antisemitischen<br />
und fremdenfeindlichen Schmähreden, Verunglimpfungen<br />
usw. strafrechtlich zu begegnen. 119[22] Ich<br />
selbst war Berichterstatter in einer Hamburger Strafkammer,<br />
die es bald nach 1966 mit einer Episode des<br />
Bürgerschaftswahlkampfs zu tun bekam: Der Angeklagte<br />
hatte die Wahlplakate der SPD für ihren Kandidaten<br />
Bürgermeister Prof. Dr. Herbert Weichmann vielfach so<br />
überklebt, daß die Aufschrift lautete: „Hamburg wählt<br />
seinen Juden“ oder „…wählt seinen Juden Weichmann“.<br />
Die Strafkammer hat den Mann nach dem zitierten<br />
Paragraphen verurteilt, und der Bundesgerichtshof hat<br />
das Urteil bestätigt. 120[23] 30 Jahre später fand unter meinem<br />
Vorsitz in Hamburg das Strafverfahren gegen den<br />
US-Bürger Garry Lauck statt. Er hatte bald nach der Wiedervereinigung<br />
damit begonnen, seinen „NS-Kampfruf“,<br />
ein ziemlich übles antisemitisches Hetzblatt, das sich<br />
mit Vorliebe über die sog. Vergasungslüge verbreitete,<br />
Hitler pries und in diesem Sinn die Trommel rührte, massenhaft<br />
in die Neuen Bundesländer hineinzupumpen.<br />
Auch ihn haben wir nach § 130 StGB bestraft, und der<br />
BGH hat seine Revision verworfen. 121[24]<br />
118 [21] vgl. das 6. Strafrechtsänderungsgesetz, BGBl.1960, I 478<br />
119 [22] Zu den Motiven der Gesetzgebung und ihrer Veranlassung vgl.<br />
Joachim Jahn: Strafrechtliche Mittel gegen Rechtsextremismus – Die<br />
Änderung der §§ 130 und 86 a StGB als Reaktion auf fremdenfeindliche<br />
Gewalt im Licht der Geschichte des politischen Strafrechts in<br />
<strong>Deutschland</strong>, Diss. Univ. Hannover, Frankfurt 1998, S. 39 mit Anm.<br />
164; S. 130 f. mit Anm. 755, 756, zum „Fall Nieland“ vgl. BGH in NJW<br />
1959, 1593; Bertram: Der Rechtsstaat und seine Volksverhetzungsnovelle,<br />
NJW 2005, 1476, Ziffer III; Lohse NJW 1971, 1245 mit Anm.<br />
1–3<br />
120 [23] vgl. BGH v. 15. 11. 1967 = BGHSt. 21, 371 = NJW 1968, 309<br />
121 [24] LG Hamburg vom 22. 8. 1996; BGH-Beschluß 3 StR 10/97 v. 5. 3.<br />
1997<br />
dazu neulich Marc Coester: Hate Crimes, Dissertation Tübingen 2007,<br />
dort insb.: Hate speech und der Schutz der freien Meinungsäußerung,<br />
S. 91–115. Winfried Brugger: Verbot oder Schutz von Haßreden?<br />
Rechtsvergleichende Beobachtungen zum deutschen und amerikanischen<br />
Recht, Archiv des öffentlichen Rechts, 128. Band, Heft<br />
3 (Sept. 2003); ders.: Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit<br />
im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse,<br />
VVDStRL 63, Tagung Oktober 2003, S. 101–140, 202 ff.<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
35
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
36<br />
Natürlich wurde durch dieses Urteil die Meinungsfreiheit<br />
und Meinungsverbreitungsfreiheit von Lauck<br />
beschränkt. Aber hier waren Meinungen mit Aggressivität<br />
und Verletzungsvorsatz geäußert und verbreitet<br />
worden. Dieser § 130 StGB (1960, alter Fassung!) ist ein<br />
allgemeines Gesetz, das vor Art. 5 GG Bestand hat. Man<br />
mag rechtspolitisch darüber streiten, ob eine liberale<br />
demokratische Ordnung nicht doch besser daran täte,<br />
sogar solche Haßreden („hate speech“) zu dulden. 122[25]<br />
Diese Vorschrift war in <strong>Deutschland</strong> Gesetz, die darin<br />
ausgesprochene Beschränkung der Meinungsfreiheit<br />
entsprach dem Grundgesetz. Der Richter, der ja nicht<br />
Gesetzgeber ist, darf nicht fragen, ob er sie für politisch<br />
geboten und angemessen hält, was übrigens bei mir<br />
der Fall war und ist. Die sog. Auschwitz-Lüge (besser:<br />
-Leugnung), zumal mit polemischer Häme (etwa: „…<br />
nur jüdische Lüge zu Erpressungszwecken!“) vorgebracht,<br />
enthält einen Angriff auf die Menschenwürde der<br />
Juden nach § 130 Ziffer I. 2., war also Volksverhetzung.<br />
Das schiere Bestreiten des Massenmordes konnte den<br />
Umständen nach gegebenenfalls als Beleidigung (bis zu<br />
2 Jahren oder Geldstrafe) strafbar sein, nicht aber – viel<br />
strenger! – als Volksverhetzung. Auf der Basis dieser<br />
gefestigten Rechtsprechung hob der BGH am 15. 3.<br />
1994 eine Verurteilung des NPD-Funktionärs Deckert<br />
durch das LG Mannheim auf, weil in concreto im Urteil<br />
zwar eine Beleidigung dargelegt werde, nicht aber<br />
die besondere Voraussetzung der Volksverhetzung.<br />
Deckert war in einer Versammlung als Übersetzer und<br />
begeisterter Interpret für Fred Leuchter, einem bekannten<br />
Auschwitz-Leugner, tätig gewesen. 123[26] Der BGH<br />
hat die Auschwitz-Leugnung durchaus nicht gebilligt,<br />
sondern nur dem Gesetz entsprechend entschieden,<br />
daß es auf Deckerts Verhalten nicht zutraf. Diese Urteilsaufhebung<br />
geriet den Medien in den falschen Hals,<br />
Entrüstungsstürme im Medienzeitalter – der BGH und die<br />
„Auschwitz-Lüge“. Süddeutsche Zeitung v. 26. 6. 1994:<br />
Eine durch Mölln und Solingen, Lübeck, Hoyerswerda<br />
und Rostock hoch alarmierte Öffentlichkeit konnte den<br />
Ingo Pommerenig weist in „Historische Entwicklung der Political correctness<br />
in Amerika“, Bund Freiheit der Wissenschaft, 1. 6. 2006,<br />
darauf hin, daß die US-Gerichte sich, soweit ersichtlich, nicht vor<br />
den Wagen der PC („speech codes“ usw. usw.) spannen lassen,<br />
vielmehr auf die Verfassung pochen; aber ihnen weichen die Verwaltungen,<br />
Universitäten pp. tunlichst aus, vgl. a. a. O., S. 10, 11, 12.<br />
122 [25] Vgl. aus dem Urteil 627 Kls 7/96 vom 22. 8. 1996 gegen Gary/<br />
Gerhard Lauck, S 81:<br />
„Der Umstand, daß bei ihm zu Hause – soweit hier von Interesse – alles<br />
erlaubt ist, mildert für seine Person nur wenig: Er kannte die deutsche<br />
Rechtslage immerhin genau. Aber dieser Umstand lenkt das<br />
Auge – ganz unabhängig von der Person des Angeklagten – auf<br />
Unterschiede, die es zwischen rechtsstaatlich -liberalen Staaten<br />
gibt: Unterschiede, die … zwar überzeugend begründbar sind, die<br />
aber doch zu ständiger Prüfung nötigen, wieweit Verbote dort, wo<br />
andernorts Freiheit herrscht, unerläßlich oder noch vernünftig sind.<br />
Adressat dieser Frage ist zunächst der Gesetzgeber, dem der frühere<br />
Bundespräsident Gustav Heinemann einen ruhigen Gang in aufgeregten<br />
Zeiten anempfohlen hatte, dann der Gesetzesausleger und<br />
letztlich das strafzumessende Gericht…“<br />
123 [26] 1 StR 179/93, NJW 1994, 1421 – sog. 1. Deckert-Urteil. 2. Deckert-<br />
Urteil vom 22. 6.1994:<br />
NJW 1094, 2494; Beisel, Die Strafbarkeit der AL, NJW 1995, 997 Zi. II.<br />
1 (998 r. Sp.)<br />
vermeintlichen Freispruch für die „Auschwitz-Lüge“ nicht<br />
fassen. Waschkörbeweise kam Protest in die Karlsruher<br />
Herrenstraße, Telefone und Fax-Geräte standen tagelang<br />
nicht still. Pressesprecher Siol sah sich mit renommierten<br />
Anrufern aus Übersee konfrontiert, nach deren fester<br />
Überzeugung am höchsten deutschen Strafgericht wieder<br />
Nazis eingezogen waren. 124[27]<br />
Der Gesetzgeber, der in dieser heiklen Angelegenheit<br />
sich schon seit langem wechselnden Impulsen<br />
ausgesetzt gesehen hatte125[28] , hielt nun die Zeit zum<br />
Handeln für gekommen, zumal mit dem 8. Mai 1995 der<br />
40. Jahrestag der deutschen Kapitulation heranrückte,<br />
an dem die Augen der Welt vermutlich auf <strong>Deutschland</strong><br />
ruhen würden. Mit Gesetz vom 28. 10. 1994 fügte das<br />
Parlament dem § 130 einen Abs. III hinzu:<br />
Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren …<br />
wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des<br />
Nationalsozialismus begangene Handlung des<br />
Völkermords der in § 220 a Abs. 1 bezeichneten<br />
Art“ (Anmerkung: damit ist Völkermord usw.<br />
gemeint, später durch inhaltsgleichen Verweis<br />
auf § 6 I des Völkerstrafgesetzbuchs geändert)<br />
in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen<br />
Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung<br />
billigt, leugnet oder verharmlost.<br />
Entsprechendes galt dann auch für Druckschriften.<br />
Schon vor und erst recht nach der Novelle gab es in der<br />
juristischen Literatur gewichtige Zweifel, ob dieser neue<br />
Absatz rechtlich sinnvoll und praktikabel sei: Welches<br />
Rechtsgut schützt er? Die geschichtliche Wahrheit wohl<br />
kaum – oder soll der Strafrichter die historische Wissenschaft<br />
gängeln? 126[29] Das politische Klima? einen „gesellschaftlichen<br />
Grundkonsens“? „die kollektive Scham“ 127[30] ,<br />
124 [27] Die rhetorisch wenig geglückte, aber in der Sache ganz untadelige<br />
Rede Philipp Jenningers am 11. November 1988 („50 Jahre<br />
….“) vor dem Bundestag rief ähnliche Hysterien im In- und im<br />
Ausland hervor: „Hitler vom Bundestagspräsidenten entschuldigt<br />
/ Antisemitismus explodiert abermals im deutschen Parlament /<br />
Tumult wegen Hitlerverehrung“ vgl. näher Bertram: Die Kultur als<br />
Machtfrage, MHR 2003, 36 ff. (41 mit Fn. 20 und 21. Ignatz Bubis,<br />
Vorsitzender im Zentralrat der Juden <strong>Deutschland</strong>s, trug später,<br />
im November 1994, die Jenninger-Rede ohne Urheberbenennung<br />
als eigene vor: ohne jeden Protest. Zu allem Werner Hill WDR-Fs<br />
vom 11. 11. 1989, 3SAT v. 5. 11. 2003, vgl. MHR 4/2003, a. a. O.<br />
125 [28] Dazu Bertram NJW 1994, 2004 zu Ziffer 5. Vgl. weiterhin etwa<br />
Vogelsang: Die Neuregelung zur sog. „AL“ – Beitrag zur Bewältigung<br />
der Vergangenheit oder „widerliche Aufrechnung“? NJW 1985, 2386;<br />
Köhler: Zur Frage der Strafbarkeit des Leugnens von Völkermordtaten,<br />
NJW 1985, 2389; Beisel: Die Strafbarkeit der AL, NJW 1995, 997<br />
126 [29] „Historikerstreit“ …. Eben dies geschieht – immer wieder, wie<br />
Hunderte Einzelfälle beweisen. Man erfährt dazu auch groteske<br />
Details, vgl. etwa Lorenz Jäger: Drastik Risiken der Zeitgeschichte:<br />
Die Fälle Canfora und Irving, FAZ vom 21. 11. 2005, wo es heißt:<br />
„… Mancher hat sich in Kenntnis des Risikos, das ein direktes Zitat<br />
bedeuten würde, stillschweigend bei Irving bedient: in <strong>Deutschland</strong><br />
etwa Günter Grass, dessen Fontane-Roman „Ein weites Feld“ in<br />
Schilderung des Reichsluftfahrtministeriums auf Irvings Göring-<br />
Biographie zurückgriff, aber schamhaft nur von einem „britischen<br />
Historiker“ sprach. Nun wüßte man doch gern, welchen Reim sich<br />
die deutschen Voltaires auf die Verhaftung (erg. Irvings) machen …“<br />
127 [30] Dazu Fischer, StGB 56. Aufl . 2009 in Rz.24 zu § 130: „Die Ansicht,<br />
der Tatbestand (erg. III) schütze „die kollektive Scham“ über die<br />
Massenvernichtung … beschreibt eher ein normatives Postulat: Es
<strong>Deutschland</strong>s Ansehen in der Welt? Die Menschenwürde<br />
von Opfern? Diese ist aber bereits Schutzgut des Abs. I<br />
und wird im neuen III gar nicht erwähnt. Der öff entliche<br />
Friede? (zweifelhaft schon deshalb, weil er kaum mehr als<br />
eine rhetorische: durch Medien und Politik inszenierte<br />
Zuschreibung sein kann.) 128[31]<br />
Juristisch bereitet § 130 in dieser Form eigentlich<br />
unlösbare Schwierigkeiten. Art. 103 Abs. 2 GG verlangt<br />
vom Strafgesetz tatbestandliche Bestimmtheit. Ist<br />
„Verharmlosen“ überhaupt noch ein rechtlich faßbarer<br />
Begriff ? Wird der ohnehin schon schwierige Tatbestand<br />
nicht noch weiter verunklart durch eine scheinbar liberale<br />
Ausnahmeklausel, die alles an sich Verbotene dann<br />
für rechtens erklärt, wenn der Täter in guter Absicht<br />
gehandelt hat? 129[32] Straftaten setzen grundsätzlich<br />
Vorsatz voraus, § 15 StGB. Was muß der Vorsatz des<br />
Täters beim Leugnen/Verharmlosen umfassen? Ist<br />
nur der Agitator und bewußte Lügner sozusagen der<br />
„Tätertyp“? Oder auch der Irrende, der es nicht besser<br />
weiß, oder der „Unbelehrbare“, oder wer sonst noch „in<br />
revisionistischer Verblendung“ handelt (so BGH v. 10. 4.<br />
2002: NJW 2002, 115)? Der wohl führende Kommentar<br />
der Strafrechtspraxis eröff net seine einschlägige Randziff<br />
er dazu mit der Bemerkung: Kaum lösbare Probleme<br />
wirft hier die Frage des Vorsatzes auf. Ist Leugnen objektiv<br />
das In-Abrede-Stellen von etwas Wahrem, so kann vorsätzliches<br />
Leugnen, wie es Abs. 3 verlangt, nach allgemeinen<br />
Regeln nur ein In-Abrede-Stellen sein, dessen Unwahrheit<br />
der Täter kennt oder jedenfalls in Kauf nimmt, mag auch<br />
die fragliche Tatsache für die anderen noch so off enkundig<br />
sein … 130[33]<br />
Und schließlich die wichtigste Frage: Ist diese Norm<br />
mit der Garantie der Meinungsfreiheit vereinbar? Diese<br />
Freiheit fi ndet ihre Schranken in den Vorschriften allein<br />
der allgemeinen Gesetze. Und das heißt: das fragliche<br />
Gesetz darf zum ersten nicht lediglich auf eine bestimmte<br />
Situation gemünzt sein. Es muß zum zweiten<br />
„meinungsneutral“ sein, darf also nicht bestimmte An-<br />
kann nicht legitimerweise strafbar sein, sich nicht zu schämen oder<br />
andere durch Verbreiten falscher Ansichten davon abzuhalten, sich<br />
zu schämen.“<br />
128 [31] Abs. III. verlangt insoweit nur die „Eignung“ zur Friedensstörung<br />
(abstraktes Gefährdungsdelikt), die schwerlich eine empirische<br />
Gegebenheit ist: „In der Praxis beschränken sich Feststellungen …<br />
fast regelmäßig auf den Hinweis, sie stehe „außer Frage“, Fischer, a.<br />
a. O. Rz. 14 IV. hingegen setzt eine vollendete Störung voraus, die<br />
eigentlich empirisch würde festgestellt werden müssen mit der<br />
Folge, daß der Tatbestand leerlaufen würde. Sollte er das vielleicht,<br />
weil es nur auf seine Anwendung im Verwaltungsrecht ankam, in<br />
Kauf genommen haben? Vgl. Fischer, a. a. O., Rz. 40<br />
Eingehende Kritik, auch an der s. E. unschlüssigen Rechtsprechung<br />
des BVerfG („Tatsachen/Meinungen …“), bei Stefan Huster: Das<br />
Verbot der „Auschwitz-Lüge“, die Meinungsfreiheit und das BVerfG,<br />
NJW 1996, 487<br />
129 [32] Vgl. etwa Bertram: Grenzenlose Volksverhetzung – Lea Roshs<br />
Debattenbeitrag NJW 2002, 111<br />
130 [33] Lenckner/Sternberg-Lieben, Rz. 20 zu § 130 StGB in Schönke-<br />
Schröder, 27. Aufl age 2006; sehr kritisch, auch zur Rechtspr. des<br />
BGH („… in revisionistischer Verblendung negiert …“, BGHSt. 47, 278<br />
= NJW 2002, 2115) Fischer StGB, 56. Aufl age 2009, § 130 Rz. 42. Der<br />
BGH schiebt hier wie auch sonst wiederholt das Vorsatzproblem<br />
beiseite und hebt auf die Motive und Zwecke des historischen<br />
Gesetzgebers ab (wie Bubnoff in LK).<br />
schauungen kriminalisieren 131[34] wie katholisch, atheistisch,<br />
reaktionär, fortschrittlich, völkisch, kommunistisch,<br />
weltbürgerlich, deutschfreundlich/deutschfeindlich,<br />
philosemitisch/antisemitisch usw. Der Meinungsinhalt,<br />
ob wertvoll oder wertlos, rational oder emotional,<br />
begründet oder grundlos, edel oder verwerfl ich usw.<br />
geht die Obrigkeit – und den Gesetzgeber! – nichts an.<br />
Andernfalls, schreibt Richter am Bundesverfassungsgericht<br />
Grimm (NJW 1995, 1698), würde dem Staat eine Defi<br />
nitionskompetenz über erwünschte oder unerwünschte<br />
Meinungen eingeräumt.<br />
Das BVerfG hat bislang die Frage noch niemals<br />
entschieden, ob die oft vorgebrachten Bedenken gegenüber<br />
der Verfassungsmäßigkeit des § 130 III StGB<br />
durchgreifen. 132[35] Es hat allerdings schon zum „alten“<br />
§ 130 StGB eine Linie vorgezeichnet, auf der es den<br />
130 III StGB, freilich nur sehr eingeschränkt!, vielleicht<br />
würde „halten“ wollen: Ihr zufolge werden falsche Tatsachenbehauptungen<br />
von der Meinungsfreiheit nicht<br />
gedeckt – im Gegensatz zu „falschen Meinungen“, die<br />
den Schutz genießen, was allerdings für falsche Tatsachenbehauptungen<br />
wiederum insoweit und dann<br />
auch gelte, wenn sie Meinungselemente und -grundlagen<br />
darstellen. 133[36] Die Strafgerichte, auch der Bundesgerichtshof,<br />
stellen die Gültigkeit der Norm nicht in Frage<br />
und versuchen, irgendwie mit ihr zurechtzukommen.<br />
Hier wäre noch anzumerken, daß der o. g. Hoff mann-<br />
Riem nach seiner Pensionierung öff entlich erklärt hat,<br />
er halte – aus rechtspolitischer Sicht – den genannten<br />
Absatz 3 („Holocaust-Leugnung“) für verunglückt und<br />
schädlich 134[37] , was ihm empörten Widerspruch aber<br />
auch Zustimmung eingetragen hat. 135[38] Die Zweifel,<br />
ob die Bestrafung der Auschwitz-Leugnung (III) verfassungsrechtlich<br />
haltbar ist, verstärken und verdichten<br />
sich bei der jüngsten Novelle.<br />
§ 130 Abs. 4 sagt:<br />
Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit<br />
Geldstrafe wird bestraft, wer öff entlich oder in<br />
einer Versammlung den öff entlichen Frieden in<br />
einer die Würde der Opfer verletzenden Weise<br />
131 [34] So vom BVerfG schon im Lüth-Urteil herausgestellt, vgl. NJW<br />
1958, S. 258, Ziffer 3<br />
132 [35] Vgl. Bertram NJW 2005, 1476 (1477: Ziff er IV.1)<br />
133 [36] Der Irving-Beschluß vom 13. 4. 1994 (NJW 1994, 1779), der falsche<br />
Tatsachenbehauptungen für i. S. des Art 5 GG ungeschützt erklärt,<br />
anders als kritikwürdige Meinungen (Hitler: Kriegsschuldfrage),<br />
Beschl. v. 11. 1. 1994: NJW 1994, 1781, betrifft den alten § 130 (TZ<br />
1991). Die i. E. schwierige und fragwürdige Unterscheidung (dazu<br />
Grimm Die Meinungsfreiheit in der Rspr. des BVerfG, NJW 1995, 1699)<br />
gilt dann aber auch für § 130 III StGB von 1994. Überzeugende<br />
Kritik bei Stephan Huster: „Das Verbot der Auschwitz-Lüge, die<br />
Meinungsfreiheit und das BVerfG, NJW 1996, 487; Michael Köhler:<br />
Zur Frage des Leugnens von Völkermordtaten, NJW 1985, 2389 (Fazit<br />
1391 l. Sp.)<br />
134 [37] Vgl. FAZ vom 10. 7. 2008: Keine Märtyrer schaffen – früherer VerfRi.<br />
gegen Holocaust-Paragraphen.<br />
135 [38] Vgl. etwa OVGPr. Bertrams in FAZ vom 17. 7. 2008: Das BVerfG<br />
und die Neonazis; gegen ihn Bertram in FAZ v. 19. 8. 2008 Triftige<br />
Gründe<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
37
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
38<br />
dadurch stört, daß er die nationalsozialistische<br />
Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht<br />
oder rechtfertigt.<br />
Der offensichtliche Mangel an Präzision in dieser<br />
Vorschrift ist kein Kunstfehler: er ist gewollt. Demgemäß<br />
hat Justizministerin Zypries schon im Gesetzgebungsverfahren<br />
Auslegungshilfen gegeben und erklärt,<br />
„Verherrlichen“ liege auch dann vor, wenn NS-Unrechtsverhältnisse<br />
in einem positiven Bewertungszusammenhang<br />
erschienen, oder wenn dabei positive Wertakzente<br />
gesetzt würden; und strafbare Billigung könne auch unter<br />
Vorbehalt oder konkludent erfolgen. 136[39]<br />
Das ist eine kaum noch verhohlene Aufforderung an<br />
die Strafjustiz, die politische Vormundschaft über die<br />
Gesellschaft zu übernehmen.<br />
Überraschenderweise hat das BVerfG eine Verfassungsbeschwerde<br />
verworfen, mit der u. a. gerügt<br />
worden war, daß die neue Vorschrift schon deshalb<br />
gegen Art. 5 GG verstoße, weil sie als politisch gewollte<br />
einseitige Bestimmung kein „Allgemeines Gesetz“ sei.<br />
Das hat das BVerfG sogar als zutreffend konzediert,<br />
nicht aber die Konsequenz gezogen, die Vorschrift für<br />
verfassungswidrig zu erklären. Art. 5 II GG (Einschränkung<br />
der Meinungsfreiheit nur durch allgemeine) gelte<br />
nicht im Bereich von NS-Taten. Für das NS-Erbe hätten<br />
allgemeine Verfassungsregeln keine Geltung; dies – also<br />
ausnahmsweise Durchbrechung ihres Textes! – sei dem<br />
GG „immanent“, habe dort also noch nicht einmal erklärt<br />
werden müssen. Ein rein politischer Spruch mithin,<br />
ohne eigentlich rechtliche Substanz, für dessen Kritik<br />
hier kein Platz ist. 137<br />
IV. Der Appell von Blois – übergreifende<br />
Ursachen und Wirkungen<br />
Mitte Oktober 2008 schlugen eine Reihe international<br />
hochgeachteter Wissenschaftler, auch Historiker,<br />
öffentlich Alarm. Ihr Protest, der „Appell von Blois“,<br />
richtete sich gegen einen sog. Rahmenbeschluß der<br />
EU, der vor seiner Verabschiedung zu stehen schien.<br />
Worum ging es? Brigitte Zypries hatte sich während der<br />
deutschen EU-Ratspräsidentschaft als Vorsitzende des<br />
Justizministerrats für ihr altes Projekt ins Zeug gelegt,<br />
einer europaweiten „Erinnerungskultur“ strafrechtliche<br />
Verbindlichkeit zu verschaffen und zu diesem Zweck die<br />
deutschen Volksverhetzungsvorschriften als eine Art<br />
136 [39] Vgl. Bertram: Der Rechtsstaat und seine Volksverhetzungsnovelle,<br />
NJW 2005, 1476 zu Ziffer III. a. E.; unter Hinweis auf die Motive auch<br />
Lenckner/Sternberg-Lieben § 130 Rz. 22 b)<br />
39a vgl. etwa nur Bertram NJW-Aktuell 50/2009, S. XII (Standpunkt);<br />
Horst Meier, Sonderrecht gegen Neonazis? Merkur Juni <strong>2010</strong>, 733;<br />
Schaefer: Wieviel Freiheit für die Gegner der Freiheit?<br />
DÖV <strong>2010</strong>, 379; Benjamin Rusteberg: Die Schranken der Meinungsfreiheit<br />
gegen rechts, StudZR 2919, 159<br />
137 Vgl. etwa nur Bertram NJW-Aktuell 50/2009 S. XII (Standpunkt);<br />
Horst Meier, Sonderrecht gegen Neonazis? Merkur Juni <strong>2010</strong>. 733;<br />
Schaefer: Wieviel Freiheit für die Gegner der Freiheit?<br />
DÖV <strong>2010</strong>, 379; Benjamin Rusteberg: Die Schranken der Meinungsfreiheit<br />
gegen rechts, StudZR 2919, 159<br />
von Muster, aber erweiternd formuliert, allgemeinverbindlich<br />
zu machen. Die einschlägige Publizistik teilte<br />
im Mai 2007 mit, der EU-Ministerrat habe sich endlich<br />
auf einen „Rahmenbeschluß“ geeinigt, der die Staaten<br />
verpfl ichte, u. a. die öffentliche Billigung, Leugnung<br />
oder grobe Verharmlosung von Völkermordverbrechen,<br />
Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen<br />
unter Strafe bis zu drei Jahren zu stellen und<br />
außerdem bei Delikten jeglicher Art „rassistische und<br />
fremdenfeindliche Motive“ zu Strafverschärfungsgründen<br />
zu erklären. 138[40] Dieses Projekt schien in die europäische<br />
Landschaft sogar zu passen, denn memory laws, also<br />
Erinnerungsgesetze, waren in Europa längst ins Kraut<br />
geschossen: Arno Widmann hatte lt. FR vom 6. 11. 2008<br />
in fünfzehn Staaten derartige Gesetze – untereinander<br />
teils grotesk widersprechender Art! – ausgemacht. 139[41]<br />
Diese hatten auch zu Gerichtsverfahren und Strafen<br />
geführt. 140[42]<br />
138 [40] Näher Bertram: Wider die „Erinnerungspolizei“ – Der Appell von<br />
Blois, MHR 4/2008, 12 mit Literaturangaben. Vgl. auch Thorsten<br />
Hinz, a. a. O. (Anm. 18), S. 181: Zypries- Initiative<br />
139 [41] Reinhard Müller, FAZ vom 28. 2. 2009: Wo das Leugnen beginnt<br />
– Schon das „quantitative Bagatellisieren“ des Holocaust<br />
steht unter Strafe in <strong>Deutschland</strong>. Mit dem EU-Haftbefehl könnte<br />
der Arm des deutschen Gesetzes bis nach Großbritannien reichen<br />
– nennt Österreich, Frankreich, Spanien bis zur Entscheidung<br />
der dortigen Verfassungsgerichte (!!), Belgien, Luxemburg,<br />
Liechtenstein, Tschechien, Polen, Israel. Mit leichter Ironie zum<br />
Zypries’schen Haftbefehl gegen Richard Williamson … Vgl. auch<br />
Thomas Immannuel Steinburg vom 21. 10. 2008 (Internet, Schmidt-<br />
Polyglatt): Europäische Erinnerungspolizei in der Maske der Tugend,<br />
wo es heißt: „Frankreich erließ 1990 unangefochten ein Verbot der<br />
Leugnung der Vernichtung europäischer Juden und anderer 1945<br />
in Nürnberg defi nierter Verbrechen gegen die Menschheit. 1995<br />
wurde der Historiker Bernard Lewis auf dieser Grundlage von einem<br />
französischen Kriminalgericht verurteilt, weil er bestritten hatte, daß<br />
der Massenmord an den Armeniern als Völkermord einzustufen sei,<br />
… 2001 verfügte die Frz. Republik per Gesetz, daß Sklaverei ein Verbrechen<br />
gegen die Menschheit sei. Oliver Petre-Grenouilleau wurde<br />
daraufhin von frz. Staatsbürgern in Übersee vor Gericht gebracht; er<br />
hatte eine Forschungsarbeit über afrikanischen Sklavenhandel veröffentlicht.<br />
Von einem anderen Standpunkt aus schreibt inzwischen ein<br />
weiteres frz. Gesetz vor, daß Lehrpläne an Schulen die „positive Rolle<br />
Frankreichs“, „besonders in Nordafrika“ zu berücksichtigen hätten …“<br />
Dazu noch Karen Krüger in FAZ vom 19. 11. 2008: Die Beleidigung<br />
der türkischen Nation bleibt strafbar: Der türkische Justizminister<br />
verteidigt den Art. 301 (betr. des Verbots, vom armenischen Genozid<br />
zu sprechen).<br />
140 [42] Bemerkenswert eine Entscheidung des spanischen Verfassungsgerichtshofs<br />
vom Herbst 2007, nach der Art. 607.2 des StGB<br />
dahin zu ändern sei, daß zwar jede Rechtfertigung des Holocaust<br />
verboten bleibe, dessen pure Leugnung indessen von der Meinungsfreiheit<br />
umfasst werde, vgl. Junge Freiheit vom 16. 11. 2007:<br />
Holocaust-Leugnung nicht mehr strafbar<br />
Bertram: Den Punkt getroffen, JF 16. 11. 2007, S. 2
V. Alleinstellung der NS-Verbrechen<br />
Dennoch wäre der Zypries-Plan fast gescheitert:<br />
Polen, Slowenien und die baltischen Staaten hatten<br />
verlangt, wenn dergleichen schon gemacht werde,<br />
dann müßten Stalins Ausrottungsverbrechen strafrechtlich<br />
genauso wie andere, insb. die NS-Verbrechen,<br />
nachträglich verdammt, also ausdrücklich ins Gesetz<br />
einbezogen werden. Der Ministerrat indessen hatte<br />
sich in einer „sehr anstrengenden Sitzung“ (Brigitte<br />
Zypries) nur auf die Formel verständigen können, er<br />
„bedauere“ auch diese Verbrechen, wolle und könne sie<br />
aber nicht als „Völkermord“ qualifi zieren, mithin nicht<br />
einbeziehen. 141[43] „The Zypries List of horrors“ (Garton Ash<br />
in The Guardian) ist also nicht gedacht als ein generelles<br />
Verbot, Großverbrechen zu bestreiten, sondern das<br />
Projekt, allein den NS-Holocaust dem nun auch europaweiten<br />
Tabu zu unterwerfen. Daß dies die juristische<br />
Einkleidung eines geradezu religiösen Anliegens ist, hat<br />
wiederum Thorsten Hinz überzeugend begründet. Das<br />
Straßburger EU-Parlament hatte das Projekt dann im<br />
November 2007 abgesegnet; aber zur Zeit ist trotzdem<br />
offen, ob der „Parlamentsvorbehalt“ einiger osteuropäischer<br />
Staaten dort zur Geltung und das Projekt<br />
dadurch doch noch zum Scheitern gebracht wird. In<br />
dieser Lage, zu der die Dinge noch in der Schwebe sind,<br />
fi nden sich, wie eingangs bemerkt, Wissenschaftler aus<br />
Frankreich, Italien, Belgien, Holland, England, Polen u.<br />
a. Ländern, auch aus <strong>Deutschland</strong>, auf Einladung des<br />
Bürgermeisters und früheren Kulturministers Jack Lang<br />
im französischen Blois zusammen, um vor dieser neuen<br />
Inquisition, der „Erinnerungspolizei“, in letzter Minute zu<br />
warnen. Timothy Garton Ash formuliert die Erklärung,<br />
in der es heißt:<br />
In einem freien Staat ist es nicht die Aufgabe irgendeiner<br />
politischen Autorität zu defi nieren, was<br />
die historische Wahrheit sei, geschweige denn<br />
darf sie die Freiheit des Historikers mittels der<br />
Androhung von Strafsanktionen einschränken.<br />
Wir fordern die Historiker auf, in ihren Ländern<br />
ihre Kräfte zu sammeln und sich diesem Appell<br />
anzuschließen, um der Vermehrung von Erinnerungsgesetzen<br />
Einhalt zu gebieten. Die politisch<br />
Verantwortlichen bitten wir zu begreifen, daß es<br />
zwar zu ihren Aufgaben gehört, das kollektive<br />
Gedächtnis zu pfl egen, daß sie aber keinesfalls<br />
per Gesetz Staatswahrheiten institutionalisieren<br />
sollen (vgl. Robert Havemann: „HEW “ = „Hauptverwaltung<br />
ewige Wahrheiten!!).<br />
141 [43] Offenbar soll der abstrakte Text nur auf den Holocaust zutreffen;<br />
in diesem Sinne schon Milosz Matuchek in der SZ v. 30. 11. 2007:<br />
Europas Erinnerungsgesetz: „… Längst war überfällig, daß sich die<br />
Justizminister der EU-Staaten auf ein gemeinsames Vorgehen für<br />
einen Beschluß zur Holocaust-Leugnung einigen … Die EU würde<br />
ihrem Ziel näher kommen und neben Wirtschafts-, Währungs- und<br />
Wertegemeinschaft auch zu einer Erinnerungsgemeinschaft werden.“<br />
Ash kennt die Geschichte der DDR besser als die<br />
weiland „maßgebenden Deutschen, die schwerwiegende<br />
Konsequenzen für die Arbeit des Historikers und die<br />
intellektuelle Freiheit insgesamt haben können … „In einer<br />
Demokratie ist die Freiheit der Geschichte die Freiheit aller“.<br />
Erfreulicherweise ist der Protest unüberhörbar geworden<br />
142[44] , was freilich nicht heißt, daß man auf ihn hören<br />
wird. Übrigens wirft das Zypries-Projekt auch prekäre<br />
europarechtliche Fragen von der Art auf, wie der Zweite<br />
Senat des BVerfG sie im Lissabon-Termin verhandelt hat:<br />
die Frage nach den rechtlichen Kompetenzen europäischer<br />
Instanzen, ihren 27 Nationen eine einheitliche<br />
Erinnerungskultur strafrechtlicher Art zu oktroyieren. Es<br />
ist klar, daß der EG-Vertrag für eine solche Kompetenz<br />
schlechterdings nichts hergibt, und zwar trotz seiner<br />
textlichen Verwaschenheit: Art. 5 S. 2 EGV verlangt eine<br />
Einzelermächtigung, die nirgends erteilt wird. Hier wird<br />
einfach aus dem hohlen Bauch „Wertegemeinschaft“ herausgeschöpft<br />
und hervorgezaubert. 143[45] Die negative<br />
Antwort aber dürfte keinen der vielen EU-Funktionäre<br />
oder Straßburger Mandatsträger interessieren oder gar<br />
erschüttern; die deutschen Abgesandten in Ministerrat<br />
und Kommission am allerwenigsten. Sie sind es doch,<br />
die den Wechselbalg auf seine Reise geschickt haben.<br />
VI. Schluß<br />
Ich verabscheue, was Sie schreiben, aber ich würde<br />
mein Leben dafür hergeben, daß Sie es weiter schreiben<br />
können. Diese Formulierung dessen, was Aufklärung<br />
und Toleranz einmal bedeuten sollten (sie wird Voltaire<br />
zugeschrieben 144[46] , dürfte heute fast nirgends mehr<br />
auf Verständnis stoßen: nicht bei unseren politischen<br />
Akteuren, den Parteien, nicht in den Medien, Behörden,<br />
Volkshochschulen – und am allerwenigsten in<br />
den Ämtern, die den gesetzlichen Auftrag haben, die<br />
Verfassung, also auch die Meinungsfreiheit, zu schützen.<br />
Die Gerichte aber sind auf die Verfassung, ihren<br />
Text und Geist, verpflichtet. Ob dies innerhalb der<br />
Rechtsprechung so bleibt, und wenn es bleibt: ob das<br />
allein genügt, das immer enger werdende Korsett der<br />
Bevormundung und Gängelei zu sprengen, ist eine<br />
zur Zeit ganz offene Frage. Je weniger die Gesellschaft<br />
bereit ist, sich gängeln und bevormunden zu lassen, um<br />
so hoffnungsvoller die Aussicht, und umgekehrt leider:<br />
um so düsterer!<br />
142 [44] Vgl. etwa Marc Zitzmann in NZZ vom 22. 10. 2008: „Wider die<br />
„Staatswahrheit“, Jürg Altweg in FAZ vom 16. 10. 2008: Retro-Moral<br />
– Historiker kämpfen für die Freiheit der Geschichte; Arno Widmann<br />
in FR v. 6. 11. 2008: Der Kampf um die Erinnerung; Cora Stephan Eros<br />
der Freiheit, Der Spiegel 46/2008 S. 190; Thorsten Hinz Glasfassaden<br />
der Unfreiheit – Das deutsche Elend wird zum europäischen: Moralpolizisten<br />
sollen über die Geschichte wachen, JF 30. 11. 2008, S. 11<br />
143 [45] Vgl. dazu die köstliche Glosse Gerd Roelleckes: Antidiskriminierung<br />
auf europäisch, NJW 1996, 3261<br />
144 [46] Im Brief an A. M. Riche vom 6. 2. 1770<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
39
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
40<br />
Wahrheit als Hochverrat?<br />
Wer andere als die herrschenden Wahrheiten lehrt,<br />
begeht vor der Welt eine Art Hochverrat. Er macht sich<br />
strafbar. Nicht die jeweils herrschenden Wahrheiten<br />
sind schützenswert. Schutzgut ist die durch sie erzeugte<br />
Ruhe des Volkes, die jählings zerbrechen kann. Wahrheiten<br />
beunruhigen das Volk, denn sie zeigen ihm die<br />
Unsicherheit der Stelzen unserer Lebensbühne. Große<br />
Propheten wurden daher seit je gekreuzigt und verbrannt<br />
(Goethe/Faust). Ti estin aletheia – Was ist Wahrheit? Diese<br />
Pilatusfrage, nüchtern übersetzt, lautet: Wahrheit – gibt<br />
es die überhaupt? Goethe sagt einmal zu einem Historiker:<br />
Wie wenig enthält auch die ausführlichste Geschichte<br />
im Vergleich zum wirklichen Leben … Und von dem wenigen,<br />
wie weniges ist wahr? Und von dem Wahren, ist irgend<br />
etwas über allen Zweifel hinaus? Bleibt nicht vielmehr alles<br />
ungewiß, das Größte wie das Geringste?<br />
Dostojewski beschreibt in seiner berühmten Phantasie<br />
Großinquisitor, daß Christus auf die Erde zurückkehrt.<br />
ER sagt nichts, dennoch wird er erkannt. Hosianna, ruft<br />
das Volk wie ehedem. Auch der Kardinal Großinquisitor<br />
erkennt IHN, steckt den Finger aus und gebietet der Wache,<br />
IHN festzunehmen.<br />
Das Volk weicht angstvoll zurück und läßt es geschehen.<br />
Im Gefängnis spricht der Großinquisitor zu<br />
Christus: Weshalb bist du denn gekommen, uns zu stören?<br />
Hast du ein Recht dazu, uns auch nur eines der Geheimnisse<br />
zu enthüllen von jener Welt, von wo du gekommen<br />
bist? Der Großinquisitor bezweifelt also nicht, daß der<br />
wiedererschienene Christus im Besitz der objektiven<br />
Wahrheit ist, wie nur Gott sie kennt. Er bezweifelt<br />
aber, daß diese objektive Wahrheit jetzt schon für die<br />
Menschen paßt. Ich achte deine Wahrheiten, sagt der<br />
Großinquisitor, und auch ich warte auf das Heil, aber<br />
jetzt verwirrst du das Volk. Wisse: Jetzt und eben jetzt<br />
sind diese Menschen mehr als je davon überzeugt, daß sie<br />
völlige Freiheit genießen. Und dabei haben sie uns selber<br />
ihre Freiheit ergeben zu Füßen gelegt. Warum störst du<br />
uns? Wer verdiente wohl eher den Scheiterhaufen als du?<br />
Morgen werde ich dich verbrennen.<br />
Es ist also eine sehr ernste Frage, die sich stellt: Soll<br />
man für Wahrheit kämpfen? Welche Wahrheit?<br />
M.A.
Die Aff äre (1986/87) um den beim damaligen CDU-Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, Dr. Uwe Barschel,<br />
plazierten SPD-Spitzel Pfeiff er steht mit dem ungeklärten Tod Barschels in einem Genfer Hotelzimmer in Verbindung.<br />
Harms glaubt, Barschel habe Selbstmord begangen. Ich glaube an Mord, begangen durch die Stasi, unter helfendem<br />
Nicken von Engholm, welcher der SED sehr nahe stand. Nachdem die SPD die Früchte der Aff äre geerntet und die Wahl<br />
gewonnen hatte, hat ihr Generalstaatsanwalt alle Ermittlungen eingestellt. Höhepunkt des Skandals war die gerichtlich<br />
niemals geahndete nächtliche Übergabe von Schweigegeld an Pfeiff er durch den SPD-Sozialminister Janssen. Diese<br />
Machenschaften der SPD, einer demokratischen Partei, waren schlimm genug. Das wirklich Erschütternde an der Aff äre<br />
aber war die Treulosigkeit und Feigheit der CDU. Es rührte sich keine Hand! Weder Landespolitiker, die ihren Aufstieg<br />
z. T. Barschel verdankten, noch der damalige CDU-Vorsitzende Kohl. Feige bis ins Mark!<br />
Ich bin Herrn Harms dankbar für seinen Bericht. Er mahnt uns, nicht vorschnell zu richten! Eine Mahnung, die angesichts<br />
der Vorgänge um Th. Sarrazin (September <strong>2010</strong>) wieder einmal ungehört blieb. M.A.<br />
Uwe Barschel<br />
Richtigstellung eines Augenzeugen<br />
Rainer Ute Harms, Pinneberg 145•<br />
Einleitung<br />
Die Ereignisse um den schleswig-holsteinischen<br />
Ministerpräsidenten Dr. Dr. Uwe Barschel haben mich<br />
seit den Ereignissen 1987/88 nie losgelassen. Es war<br />
dabei weniger die Sache an sich, als vielmehr die Begleitumstände<br />
und alles, was danach passierte. Das hat<br />
mich bis heute nicht losgelassen. Deswegen will ich das,<br />
was ich damals als Landtagsabgeordneter persönlich<br />
erlebte, die damaligen Begegnungen mit Menschen<br />
in der eigenen Fraktion, mit <strong>Journal</strong>isten und Bürgern,<br />
hier schildern.<br />
De mortuis nihil nisi bene! Rede nicht schlecht über<br />
Tote. Für Uwe Barschel hat dieser Satz nie gegolten.<br />
Noch heute wird negativ auf Uwe Barschel Bezug<br />
genommen von Menschen, die wirklich nicht wissen,<br />
was vorgefallen ist. Die Äußerungen sind so, daß es als<br />
selbstverständlich angenommen wird, daß er ein übler<br />
Patron war, dessen Leben und Tun verwerfl iche Machenschaften<br />
gewesen wären. Noch heute werden unser<br />
damaliger Fraktionspressesprecher Günter Kohl oder z.<br />
B. der frühere Staatssekretär Dr. Hermann Schleifer für<br />
Dinge stigmatisiert, an denen sie keine Schuld haben<br />
und mit denen sie nichts zu tun haben. Sie wurden<br />
damals aber zusammen mit anderen als Bauernopfer<br />
auf dem Altar der Öff entlichkeit geschlachtet.<br />
Lassen Sie es mich vorwegnehmen: Ich glaube nicht,<br />
daß alles das, was so über die damaligen Ereignisse im<br />
Umlauf ist, richtig ist.<br />
145 • Damals CDU-Mitglied im schleswig-holsteinischen Landtag<br />
Meine gemeinsame Geschichte mit Barschel<br />
Um die Persönlichkeit, den Menschen Uwe Barschel<br />
beschreiben zu können, werde ich zunächst einige<br />
gemeinsame Erlebnisse mit ihm schildern. Ich kannte<br />
Uwe Barschel aus einigen Begegnungen Ende der 60er<br />
Jahre aus der Jungen Union in Schleswig-Holstein. Er<br />
war mein Landesvorsitzender. Da es meine (Eigen)<br />
art war, mich in der Politik nach den eigenen Empfi ndungen,<br />
der eigenen Meinung über Politik zu richten,<br />
hatten wir unsere erste kontroverse Begegnung in den<br />
Gremien der Jugendorganisation. Klaus Hensel (heute<br />
erster Stadtrat in Quickborn), Willi Klepper, Karla Heesen<br />
und ich, alle Junge Union Kreis Pinneberg, reisten 1970<br />
monatelang durch Schleswig-Holstein. Wir wollten<br />
dafür sorgen, daß der verdiente, damals aber umstrittene<br />
Ministerpräsident Helmut Lemke durch Gerhard<br />
Stoltenberg abgelöst wird.<br />
Ich erinnere mich noch, wie diese beiden Politiker<br />
mit hochrotem Kopf auf dem Landesparteitag im Kieler<br />
Schloß beieinander saßen. Mein erster wichtiger<br />
Auftritt auf diesem Parteitag zu Stoltenberg gewandt,<br />
der damals Kruppdirektor war: „Wenn Sie nicht bereit<br />
sind, in der Stunde der Not für die CDU Schleswig-<br />
Holsteins in unser Land zu kommen, dann können Sie<br />
das nächste Mal auf der Villa Hügel kandidieren.“ Ich<br />
bin sicher, es waren unsere monatelangen Aktivitäten,<br />
die bewirkten, daß Stoltenberg Spitzenkandidat wurde<br />
und wir ein fulminantes Wahlergebnis bekamen.<br />
Diese Episode erzähle ich aber nur deswegen, um Uwe<br />
Barschels politisches Gespür beleuchten zu können.<br />
Uwe Barschel war auf diesem denkwürdigen Parteitag<br />
nämlich krank. Er hat mir gegenüber immer bestritten,<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
41
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
42<br />
daß meine Unterstellung, er hätte eine „politische Krankheit“<br />
gehabt, richtig gewesen ist. Dennoch bin ich noch<br />
heute dieser Meinung, denn wäre er zugegen gewesen,<br />
hätte er sich für die Junge Union äußern müssen, deren<br />
Landesvorsitzender er war. Das hätte aber geheißen,<br />
Partei ergreifen zu müssen. Der kluge Uwe Barschel war<br />
schon damals ein guter politischer Stratege. Ich sehe das<br />
eben Beschriebene nicht als negativ an, hätte er anders<br />
gehandelt, wäre er politisch nicht eine so bedeutende<br />
Persönlichkeit geworden. Im Frühjahr des Jahres 1971<br />
kamen Uwe Barschel und ich dann gemeinsam in den<br />
Landtag. Er war, weil ein brillanter Kopf, politisch sofort<br />
ein Hoffnungsträger, der natürlich schnell Karriere<br />
machte. Er begann als parlamentarisch Beauftragter<br />
für Jugendfragen. Das brachte ihm eine Dotation, ein<br />
Auto mit Fahrer und ein Büro, so daß er sich politisch<br />
entfalten konnte.<br />
Als der Fraktionsvorsitzende Gerd Lausen damals<br />
Finanzminister wurde, war es nur natürlich, daß Uwe<br />
Barschel unser Fraktionsvorsitzender wurde. Er bekam<br />
ein exzellentes Wahlergebnis und leitete die Fraktion<br />
von allen, die ich als Vorsitzende kennengelernt habe,<br />
ohne Frage am fairsten, am besten und gegenüber der<br />
Regierung loyal, aber durchaus kritisch und durchsetzungsstark.<br />
Nicht um mich etwa rechtfertigen oder profi lieren<br />
zu wollen, es liegt ja alles ziemlich weit zurück, möchte<br />
ich doch meine damalige Haltung und Uwe Barschels<br />
aufrechte Haltung mir (und den ‚Freunden‘) gegenüber<br />
beschreiben. Vielleicht weil ich einen guten, sicheren<br />
Wahlkreis hatte, vielleicht auch wegen meines Demokratieverständnisses<br />
(ich wollte gewählt werden), hatte<br />
ich keinerlei Interessen an den kleinen und großen<br />
Machtspielchen in der Fraktion. Mich interessierte<br />
die Politik in und für Schleswig-Holstein und darüber<br />
hinaus.<br />
Vielleicht wegen meines ethischen Fundamentes,<br />
aber sicher auch deswegen, weil ich versuchte, Politik<br />
unter dem Gesichtspunkt zu begreifen‚ was für die<br />
Menschen heute und auch noch in zehn oder zwanzig<br />
Jahren gut ist. Ich fragte mich, was muß für <strong>Deutschland</strong><br />
getan werden und zwar nicht nur für die damalige<br />
Bundesrepublik (alt). Meine Ansichten etwa zum Umweltschutz<br />
oder zur Wiedervereinigung erschienen in<br />
der damaligen Betrachtung häufi g als ‚absurd‘, so daß<br />
ich bei vielen Kollegen als Querulant galt.<br />
Auf meine Anregung hin diskutierte unsere<br />
Fraktion 1986 auf ihrer Klausurtagung die Folgen<br />
der demografi schen Entwicklung. Stellen Sie sich<br />
vor, wir hätten damals Schlußfolgerungen aus<br />
den Erkenntnissen für die Politik gezogen. Die<br />
fi nanziellen Probleme des Landes sähen heute<br />
z. B. anders aus.<br />
Leidenschaftlich versuchte ich die Verantwortungsträger<br />
in meiner Partei davon zu überzeugen,<br />
daß die damalige DDR auch <strong>Deutschland</strong><br />
ist, das wir für die Millionen Menschen dort mit<br />
zu handeln hätten. Es war sicher auch mein Verdienst,<br />
daß wir damals die DDR und die früheren<br />
Ostgebiete <strong>Deutschland</strong>s bereisten. Das war für<br />
viele Politiker eine wichtige Nachhilfestunde in<br />
deutscher Politik.<br />
Ich beschreibe das so ausführlich, weil ich mich an<br />
die vielen Klausurtagungen der CDU-Landtagsfraktion<br />
erinnere. Man suchte sich einen feinen Ort in Schleswig-<br />
Holstein aus, es gab ein opulentes Essen, dann wurde<br />
kurz mit Reden des Ministerpräsidenten oder ähnlichen<br />
Würdenträgern getagt. Danach wurde getrunken. Viele<br />
konspirierten und fi elen dann angeheitert ins Bett. Ich<br />
bin immer nach Hause gefahren. Am nächsten Morgen,<br />
wenn Politik diskutiert wurde, sah ich in die müden,<br />
uninteressierten Augen der Kollegen (natürlich mit<br />
Ausnahmen), die sich sichtlich genervt fühlten, wenn<br />
der Harms dauernd redete. Nur einer hörte garantiert<br />
immer sehr aufmerksam zu, das war Uwe Barschel. Er war<br />
der einzige, der sich in die Argumente und Anregungen<br />
hineinzudenken und sie aufzunehmen versuchte.<br />
Mein Wunsch nach der Wiedervereinigung <strong>Deutschland</strong>s<br />
wurde von Uwe Barschel nachhaltig unterstützt.<br />
So hatten wir seinerzeit mit etwa 50 Personen (mehr<br />
waren nicht zu motivieren) am 17. Juni 1971 an der Zonengrenze<br />
bei Mustin demonstriert. Redner in Richtung<br />
DDR war Uwe Barschel. Er fuhr mit unserer Fraktion und<br />
auch mit kleineren Delegationen durch die DDR. Dieses<br />
Verhalten zeigte seine politische Weitsicht. Uwe Barschel<br />
hatte die Verpfl ichtung des Wiedervereinigungsauftrages<br />
erkannt und setze sie in aktive Politik um. Das war<br />
übrigens die Ursache für seine (und unsere) häufi gen<br />
Besuche in der DDR. Alles andere, was nachher hineingeheimnist<br />
wurde (Waffengeschäfte/Stasi) ist schlicht<br />
dummes Zeug.<br />
Übrigens war Gerhard Stoltenberg erst durch unsere<br />
Aktivitäten dazu gebracht worden, die DDR ebenfalls<br />
regelmäßig zu besuchen. Weil er noch nie in der DDR<br />
war, hatte ich schon zu organisieren begonnen, daß er<br />
mit mir zusammen einmal einen privaten Besuch bei<br />
meinen Verwandten in Sachsen machen sollte. Er hat<br />
dann Wege über die Kirche gefunden.<br />
Aber ich will hier noch ein anderes Erlebnis schildern,<br />
daß den Politiker Uwe Barschel wohl noch besser<br />
kennzeichnen kann. In der Fraktion war ich seinerzeit<br />
zeitweilig baupolitischer Sprecher, also zuständig für<br />
die Novellierung der Landesbauordnung. Als Bürgermeister<br />
meines kleinen Wohnortes kannte ich einerseits<br />
die Bauordnung, andererseits das, was wirklich bei uns<br />
gebaut wurde. Es gab Schwarzbauten. Woher sollten die<br />
Bürger auch wissen, daß das, was sie taten, gegen ein<br />
recht kompliziertes Gesetz verstößt. Nicht die Bürger<br />
seien zu bestrafen, so meinte ich, sondern die Vorschriften<br />
sind zu ändern. Der damalige Innenminister Uwe
Barschel war von mir eingeladen worden, zu einem<br />
bestimmten landespolitischen Thema bei uns im Dorf<br />
vor den Bürgermeistern der Region zu sprechen. Weil<br />
der Innenminister für die Landesbauordnung verantwortlich<br />
zeichnete, rief ich seine Sekretärin an und bat<br />
sie, den Minister zu bitten, doch eine halbe Stunde eher<br />
zu kommen (anonym), ich wollte ihm gerne mal die<br />
Schwarzbauten in meinem Dorf zeigen.<br />
Uwe Barschel rief mich damals an und sagte: „Rainer<br />
Ute, wenn ich als Minister sehe, daß es irgendwo<br />
Schwarzbauten gibt, dann muß ich sie als ‚Offi zialdelikte‘<br />
verfolgen und das kann nicht in deinem und meinem<br />
Sinne sein.“ Er kam pünktlich zur Veranstaltung, aber<br />
bei meinen Vorschlägen zur Landesbauordnung war er<br />
später besonders aufgeschlossen und hilfreich. Ich habe<br />
das so ausführlich beschrieben, weil ich damit die Persönlichkeit<br />
Uwe Barschels kennzeichnen möchte. Er war<br />
ein durch und durch korrekter, aber eben auch immer<br />
politisch klug denkender Mann, vor dessen Fähigkeiten<br />
ich auch heute noch rückblickend große Achtung habe.<br />
Da er diese Haltung seit 1971 in allen unseren unzähligen<br />
Begegnungen so vorlebte, sehe ich einfach<br />
keinen Grund, daran zu zweifeln, daß er so nicht auch<br />
bis zum Schluß handelte.<br />
Der Ablauf der Ereignisse<br />
Wie in jedem Wahlkampf hatte der Axel Springer<br />
Verlag einen führenden <strong>Journal</strong>isten abgestellt, der die<br />
Öff entlichkeitsarbeit der Regierung im Wahlkampf mit<br />
seinem Sachverstand unterstützen sollte. Diesmal war<br />
es Reiner Pfeiff er. Die Tätigkeit eines solchen Mannes<br />
bezog sich nie darauf, „der Mann fürs Grobe“ zu sein.<br />
Das wäre ja im übrigen auch ziemlich töricht. Wenn<br />
man so etwas überhaupt hätte tun wollen, wäre dies<br />
aus der Staatskanzlei heraus zu organisieren ein doppelt<br />
törichtes Verhalten. Nein, dieser Mann sollte den Wahlkampf<br />
begleiten und die Regierungsarbeit gegenüber<br />
der Landespresse positiv profi lieren, mehr nicht. Uwe<br />
Barschel zu unterstellen, er hätte diesem Mann einen<br />
anderen Auftrag gegeben, kann nur in den Köpfen von<br />
Menschen geboren sein, die glauben, daß Politik per<br />
se intrigant und schmutzig ist. Was man nicht wußte,<br />
Pfeiff er war bei Springer ein Auslaufmodell, mußte sich<br />
also Gedanken über seine berufl iche Zukunft machen,<br />
und er war alles, nur kein führender <strong>Journal</strong>ist.<br />
Irgendwann zu Beginn des Sommers 1987 rief mich<br />
dieser Pfeiffer zu Hause an. Mein einziges ‚Pfeiffer-<br />
Erlebnis‘ übrigens. Er fragte mich, ob ich etwas über<br />
Engholms Kirchenmitgliedschaft wüßte oder so. Zwar<br />
empfand ich diese Frage seltsam und sogar ziemlich<br />
abstrus, maß ihr aber nicht die Bedeutung zu, die sie<br />
hatte. Wohlgemerkt, das war zu einem Zeitpunkt, an<br />
dem der engste Mitarbeiter von Engholm (dem späteren<br />
Ministerpräsidenten), Herr Nielius, schon intensiven<br />
Kontakt mit Pfeiff er hatte. Hätte ich damals die Bedeu-<br />
tung erkannt und Alarm geschlagen, die Entwicklung<br />
wäre sicher eine andere gewesen.<br />
Heute gesicherte Tatsachen:<br />
1. Pfeiffer war zu einem „feindlichen U-Boot“ mutiert.<br />
Er spielte ein doppeltes Spiel. Einerseits<br />
sollte er die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung<br />
unterstützen, andererseits konstruierte er<br />
Verschwörungstheorien, die er nicht etwa den<br />
eigenen Leuten, sondern über Herrn Nielius der<br />
SPD-Opposition mitteilte.<br />
2. Es muß doch nachdenklich stimmen, warum<br />
Pfeiffer später durch den „Boten“ Nielius eine<br />
Geldprämie von Engholm und Sozialminister<br />
Jansen auf einer Autobahnraststätte überreicht<br />
bekam. Auch sollte man sich fragen, warum der<br />
ins Gerede gekommene Nielius (der treue Knecht<br />
ließ sich für den Herrn schlagen) über die Jahre<br />
von Engholm gestützt wurde.<br />
3. Engholm behauptet bis heute, er habe von den<br />
Machenschaften nichts gewußt. Ich denke, ich<br />
kenne das politische Geschäft gut genug, um zu<br />
wissen, daß alles stimmt, nur diese Behauptung<br />
nicht. Zumindest hat Engholm gewußt, daß<br />
Nielius mit Hilfe Pfeiffers einen Skandal plante,<br />
der vor der Wahl (wie geschehen) platzen sollte,<br />
um der SPD zum Sieg zu verhelfen. Die Veröffentlichung<br />
im Der Spiegel einen Tag vor der<br />
Wahl am 27. September hat uns alle überrascht<br />
und kalt getroffen, insbesondere Uwe Barschel.<br />
Die Intrige war also, wie geplant, erfolgreich,<br />
natürlich nicht für Uwe Barschel und die CDU,<br />
sondern für die SPD.<br />
4. ‚Aliquid semper haeret! Irgend etwas bleibt<br />
immer hängen! Die SPD-Strategie war aufgegangen.<br />
Wie bereits beschrieben, verstand es<br />
Uwe Barschel mit der ihm übertragenen Macht,<br />
klug umzugehen. Andererseits macht ein solches<br />
Amt auch einsam. Damit konnte Uwe Barschel<br />
nur schwer zurechtkommen.<br />
5. Nun passierte dieses Komplott. Barschel war<br />
ganz allein, denn selbst seine ‚eigenen Freunde‘<br />
begannen offensichtlich, an ihm zu zweifeln.<br />
6. Am 23. September 1987 besuchte der stellvertretende<br />
Ministerpräsident Dr. Henning Schwarz<br />
das Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium in Quickborn<br />
in meinem Wahlkreis. Es war der Tag der Namensgebung<br />
dieser Schule. Als wir gelegentlich<br />
allein waren, meinte ich zu ihm, daß wir als seine<br />
Freunde doch mehr für Uwe Barschel tun müßten,<br />
wir müßten ihm doch in jeder Beziehung<br />
helfen. Er meinte, daß doch mehr an der Sache<br />
dran sein könnte. Selbst Dr. Henning Schwarz,<br />
einen durch und durch anständigen, loyalen und<br />
korrekten Mann, plagten Zweifel.<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
43
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
44<br />
Für mich war damals gegen Ende September klar,<br />
daß Uwe Barschel als Ministerpräsident zurücktreten<br />
müsse, um so die politische Verantwortung zu übernehmen<br />
dafür, daß die Regierung den Herrn Pfeiff er eingestellt<br />
hatte. Er hätte damit die politische Verantwortung<br />
für dessen Machenschaften übernehmen müssen. Das<br />
ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist eigentlich<br />
eine Selbstverständlichkeit, daß nämlich alle, die mit<br />
Uwe Barschel zusammen Politik gemacht haben, die<br />
durch ihn eine große Karriere gemacht haben, alles<br />
tun, um ihm, aber auch der eigenen CDU, in Würde aus<br />
dieser Situation herauszuhelfen versuchen.<br />
Untersuchungsausschuß<br />
Für mich war selbstverständlich, daß der einzurichtende<br />
Untersuchungsausschuß das Gremium sein<br />
mußte, in dem die Aufklärung der Sachverhalte vorgenommen<br />
wird. Die Aufgabe der CDU-Leute in dem<br />
Ausschuß wäre es gewesen, alles zu tun, ihren Freund<br />
Uwe Barschel und die CDU in ihrer Gesamtheit so gut<br />
es ging zu schützen.<br />
Für mich wäre es auch dann selbstverständlich gewesen,<br />
so zu handeln, wenn Uwe Barschel alle die ihm<br />
unterstellten Dinge gemacht hätte. Was ich aber nicht<br />
von ihm glaubte. Es gebot also die ‚Freundschaft und<br />
Loyalität“, so zu handeln. Ich merkte auch, daß Uwe<br />
Barschel in seiner Einsamkeit in besonderer Weise die<br />
Hilfe, Solidarität und Freundschaft seiner „Freunde“ und<br />
Weggefährten brauchte und suchte.<br />
29. September 1987<br />
Wenn meine Erinnerung mich nicht trügt, hatten<br />
wir Ende September oder Anfang Oktober 1987 eine<br />
erste Parlamentssitzung. Wir wählten vermutlich den<br />
neuen Parlamentspräsidenten. Wichtiger war aber die<br />
Fraktionssitzung der CDU. Sie könnte am 29. September<br />
gewesen sein. In dieser Sitzung waren alle Mitglieder<br />
gemeinsam der Ansicht, daß ein Untersuchungsausschuß<br />
eingerichtet werden solle, um die im Zusammenhang<br />
mit den Machenschaften Pfeiff ers entstandenen<br />
Fragen zu klären.<br />
Wir versicherten zugleich Uwe Barschel unserer<br />
Freundschaft und Solidarität. Auch rieten wir ihm, erst<br />
einmal wegzufahren und sich von dem Streß zu erholen,<br />
um dann mit frischer Kraft und gemeinsam mit uns die<br />
Mühsal des Untersuchungsausschusses zu überstehen<br />
und den entstandenen Schaden für ihn und für die CDU<br />
insgesamt zu begrenzen.<br />
Wegen der unzähligen <strong>Journal</strong>isten, die uns förmlich<br />
belagerten, sollte niemand wissen, wohin Uwe Barschel<br />
in den Urlaub fuhr. Nur der Staatssekretär in der<br />
Staatskanzlei, Günter Hebbeln, hatte während dieser<br />
Zeit Kontakt zum Ministerpräsidenten, war quasi das<br />
Bindeglied zwischen Fraktion und Uwe Barschel.<br />
6. Oktober 1987<br />
Ich erinnere mich noch wie heute an die Fraktionssitzung<br />
am 6. Oktober 1987. Es war mein Geburtstag.<br />
Uwe Barschel hatte mir noch schriftlich dazu gratuliert.<br />
Anstatt daß wir damals Strategien für unser gemeinsames<br />
Vorgehen besprachen, erklärte der designierte<br />
Untersuchungsausschußvorsitzende Dr. Trutz Graf<br />
Kerssenbrock kategorisch und off ensichtlich mit Zustimmung<br />
des damaligen Fraktionsvorsitzenden Klaus<br />
Kribben, daß die Vorwürfe gegen Uwe Barschel zuträfen<br />
und man ihn aus der Partei ausschließen müsse. Ich<br />
traute meinen Ohren nicht. Gerade hatten wir in der<br />
letzten Sitzung einstimmig beschlossen, Uwe Barschel<br />
nachhaltig zu helfen, mit Mut und Zuversicht aus seinem<br />
Urlaub zurückzukehren. Kaum war er nun weg,<br />
wurde von Kerssenbrock sein Parteiausschluß gefordert.<br />
Kerssenbrock wäre doch als Jurist eigentlich dem<br />
Grundsatz verpfl ichtet: „In dubio pro reo“, im Zweifel für<br />
den Angeklagten. Außerdem war er nach der Systematik<br />
eines Untersuchungsausschusses nicht der „Ankläger“,<br />
sondern doch der „Verteidiger“.<br />
Ich fühlte mich damals zutiefst verletzt. Meine Familie<br />
hat sehr unter dem Dritten Reich gelitten. Der erste<br />
Mann meiner Mutter wurde bereits 1934 von den Nazis<br />
ermordet. Ich war stolz, ein frei gewählter Abgeordneter<br />
in einem demokratischen Parlament sein zu dürfen, und<br />
nun stand für einige führende Leute unserer Fraktion<br />
off ensichtlich das Urteil schon fest, bevor der Untersuchungsausschuß<br />
ein einziges Mal getagt hatte. Das war<br />
ein unglaublicher Vorgang – und für mich unfaßbar in<br />
einer Demokratie.<br />
Ich hielt deswegen in der Fraktion massiv dagegen.<br />
Zu meinem Entsetzen mußte ich feststellen, daß ich<br />
(von den älteren Parlamentariern) off ensichtlich der einzige<br />
war. Selbst gestandene Minister waren erkennbar<br />
bereit, Uwe Barschel voreilig zu verurteilen.<br />
8. Oktober 1987<br />
Am Donnerstag, dem 8. Oktober 1987, tagten wir<br />
wieder in der Fraktion. Die Diskussion ging wieder um<br />
den Parteiausschluß Uwe Barschels. Ich vermute noch<br />
heute, daß die werten Kollegen ihr Fell zu retten hoff -<br />
ten, indem sie die Schuld für alles Vorgefallene auf Uwe<br />
Barschel abzuladen versuchten und ein Parteiausschluß<br />
dies dokumentieren sollte. Was müssen dies für feige<br />
Gemüter gewesen sein. Ich schlug vor, bis Sonntag<br />
abend, bis zu Uwe Barschels Rückkehr, zu warten und<br />
dann zusammen mit ihm zu tagen und ihn mit dem<br />
Wunsch der Mehrheit der Fraktion zu konfrontieren.<br />
Davor hatte man Angst. Nein, man müsse dies sofort<br />
vollziehen. Ich verstand die Welt nicht mehr. Zumindest<br />
gab es an diesem Tag keinen Beschluß, wir vertagten<br />
uns auf den nächsten Tag.<br />
9. Oktober 1987<br />
Es war Freitag, der 9. Oktober 1987. Ein denkwürdiger<br />
Tag. Wieder wurde von Kerssenbrock und Kribben der<br />
Parteiausschluß gefordert, wieder wurde heftig disku-
tiert. Ich forderte diesmal, und dies sehr heftig: Wenn<br />
man dies schon wolle, dann sollte man wenigstens bis<br />
zur Rückkehr Uwe Barschels am Sonntag (11. Oktober)<br />
warten und ihm von Angesicht zu Angesicht die<br />
Chance zu einer Stellungnahme geben, ehe wir unsere<br />
Entscheidung fällen.<br />
Außer mir, so erinnere ich mich, gab es keinen unter<br />
den altgedienten Parlamentariern, der bereit war, für<br />
Uwe Barschel zu sprechen.<br />
Neben mir saß der Kultusminister Peter Bendixen. Im<br />
Gegensatz zu mir war er mit Uwe Barschel persönlich<br />
befreundet. Ich sagte ihm: „Peter, du bist doch Uwes<br />
Freund, sag du doch mal was!“ Er schien mir wie paralysiert.<br />
Sagte dann aber zaghaft tatsächlich etwas<br />
zugunsten Barschels.<br />
Die Fraktion beschloß gegen meinen erbitterten<br />
Widerstand den Parteiausschluß Uwe Barschels. Ich<br />
war schockiert. Als ob ich einen Holzhammer auf den<br />
Kopf bekommen hatte, fuhr ich nach Hause. Kurz hinter<br />
Kiel wäre ich beinahe gegen die Leitplanke gefahren,<br />
als ich im Radio hörte, daß unsere Fraktion einstimmig<br />
den Parteiausschluß Uwe Barschels beschlossen habe.<br />
Ich war verzweifelt.<br />
Am darauff olgenden Sonnabend mußte ich, obwohl<br />
mir nicht danach war, als Bürgermeister am Erntedankfest<br />
unseres Dorfes teilnehmen. Ich erinnere mich noch,<br />
wie eine liebe Bilsenerin, Magda Gülck, mir über die<br />
Wange streichelte und meinte: „Rainer du siehst aber<br />
schlecht aus.“ Am nächsten Nachmittag fuhr ich mit meinen<br />
Jungs auf der Langenhorner Chaussee in Hamburg,<br />
als ich im Rundfunk hörte, Uwe Barschel sei tot. Ich war<br />
irgendwie überhaupt nicht überrascht.<br />
Der besagte Herr Pfeiff er sagte damals in einem Interview:<br />
„Das habe ich nicht gewollt!“ Diese spontane<br />
unüberlegte Äußerung war wohl ehrlich gemeint. Man<br />
muß sich allerdings fragen, was Pfeiff er denn dann<br />
gewollt hatte. Nun, er wollte die Regierung Barschel<br />
stürzen. Sicher erhoff te er sich eine lukrative Beschäftigung<br />
in einer neuen Regierung Engholm, denn sein<br />
Springer-Vertrag lief ja aus. Weil das nun nichts werden<br />
konnte, gab es dann später wenigstens Schweigegeld.<br />
12. Oktober 1987<br />
Zurück nach Kiel. In der Fraktionssitzung am Montag<br />
nach Uwe Barschels Tod herrschte allgemeine Betroff enheit<br />
unter denselben Leuten, die Uwe Barschel gerade<br />
aus der Partei ausschließen wollten.<br />
Übrigens bestätigte mir der Fraktionsvorsitzende<br />
Kribben in dieser Sitzung ausdrücklich, daß ich nicht mit<br />
für den Parteiausschluß gestimmt hatte. Es kennzeichnet<br />
sein ‚Format’ und seinen ‚Charakter’, daß er sich nicht<br />
zu schade war, drei Tage vorher von „Einstimmigkeit“<br />
vor der Presse zu sprechen.<br />
Fraktionssitzungen der CDU<br />
Staatsekretär Günter Hebbeln nahm an den Fraktionssitzungen<br />
teil. Er hat Uwe Barschel sicher über die<br />
Vorgänge in unserer Fraktion in Kiel informiert: Obwohl<br />
die Fraktion Uwe Barschel noch vor zehn Tagen einmütig<br />
ihrer Solidarität und Hilfe versichert hatte, beschloß<br />
sie, kaum war er außer Sicht, seinen Parteiausschluß.<br />
Daß der „verrückte“ Harms dagegengehalten hatte, war<br />
für Uwe Barschel sicher kein Grund, mutig in die Zukunft<br />
zu sehen. Es ist übrigens davon auszugehen, daß Uwe<br />
Barschel mein Votum nie erfahren hatte. Vielmehr<br />
mußte er unterstellen, daß auch sein Ziehvater und<br />
Landesvorsitzender, Dr. Gerhard Stoltenberg, diesen<br />
Beschluß unterstützen würde.<br />
Man stelle sich vor, was in Uwe Barschel damals vorgegangen<br />
sein muß, als er erfuhr, daß seine engsten<br />
‚Freunde‘, die Minister, die doch durch ihn in Amt und<br />
Würden gekommen waren, ihn wie eine heiße Kartoffel<br />
fallengelassen hatten. Sie taten dies, weil sie wohl<br />
hoff ten, dadurch ihre eigene Haut retten zu können.<br />
Uwe Barschel war ganz sicher zutiefst verzweifelt. Und,<br />
wenn meine These stimmt, daß Uwe Barschel ein Mann<br />
der Ehre war, und zwar in einer sehr konservativen<br />
Interpretation, dann blieb ihm nur eine Konsequenz,<br />
zumal ja das Urteil des erst beginnenden Untersuchungsausschusses<br />
für seine „Freunde von der CDU“<br />
bereits feststand.<br />
Ich kannte Uwe Barschel nicht nur als einen äußerst<br />
intelligenten, korrekten Mann, sondern auch als einen<br />
liebenden Vater. Unsere Familien bekamen etwa zur<br />
gleichen Zeit ihre Kinder. Wir haben uns häufi g darüber<br />
unterhalten. Er liebte seine Familie und besonders seine<br />
Kinder über alles. Deswegen fl og Uwe Barschel nach<br />
Genf. Denn dort waren seine Mutter und seine Kinder<br />
bei Barschels Bruder zu Gast. Als sie damals nachmittags<br />
in den Zirkus gingen, hat er sie noch einmal – aus der<br />
Entfernung – gesehen und sich quasi von ihnen verabschiedet.<br />
Dann beendete er sein Leben.<br />
Graf Kerssenbrock<br />
Es scheint zu den menschlichen Eigenschaften zu<br />
gehören,<br />
• eigene Schuld oder sagen wir Verantwortung,<br />
wie bei Kerssenbrock und Kribben, von sich zu<br />
weisen und anderen zuzuschieben;<br />
• in den Tod Uwe Barschels etwas hineinzugeheimnissen,<br />
was nicht richtig ist. Es war weder<br />
ein „Waterkantgate“, noch Waff engeschäfte,<br />
sondern hier starb ein Mann durch eigene<br />
Hand, weil seine Freunde ihn verlassen hatten<br />
- er starb aus Verzweifl ung.<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
45
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
46<br />
Ich erinnere mich noch deutlich, wie sich Graf<br />
Kerssenbrock später darin gefi el, von den <strong>Journal</strong>isten<br />
hofi ert und zum ‚Retter der Demokratie‘ hochstilisiert<br />
zu werden.<br />
Mir war es schon peinlich, wie der Spiegel-Chefredakteur<br />
Böhme Kerssenbrock in fast jede seiner<br />
damaligen Talkshows bei SAT 1 einlud. Ich denke mir,<br />
auch er wollte dadurch Schuldgefühle rechtfertigen.<br />
Schließlich war die Spiegel-Berichterstattung Auslöser<br />
für diesen Skandal.<br />
Schlimmer noch war das eitle und unkameradschaftliche<br />
Verhalten Kerssenbrocks, der aber immer vom<br />
Fraktionsvorsitzenden Kribben unterstützt wurde. In<br />
der CDU-Fraktion machte sich im Laufe des Untersuchungsausschusses<br />
zunehmend ein Unwohlsein über<br />
Graf Kerssenbrock breit, der selbstherrlich Uwe Barschel<br />
verurteilte und sich in der Öff entlichkeit als „größter<br />
Demokrat aller Zeiten“ aufspielte. Kerssenbrock gab<br />
damals ein Interview im Kölner Express, in dem er in der<br />
Überschrift erklärte: „Es gibt bessere als Stoltenberg!“<br />
Das erregte die Gemüter, denn Gerhard Stoltenberg war<br />
als Landesvorsitzender in der damaligen schwierigen<br />
Zeit die Persönlichkeit, die als einzige unseren Landesverband<br />
der CDU zusammenzuhalten vermochte.<br />
Außerdem war er zwölf Jahre lang erfolgreicher Ministerpräsident<br />
unseres Landes gewesen, mit dem viele<br />
gerne zusammengearbeitet hatten.<br />
In der Fraktion in Sachen Kölner Express zur Rede<br />
gestellt, erklärte Kerssenbrock, daß er falsch zitiert<br />
worden sei. Dies erklärte er auch gegenüber anderen<br />
Zeitungen, wie z. B. der Welt. Durch Zufall erfuhr ich von<br />
einem Brief des Express-<strong>Journal</strong>isten an Kerssenbrock,<br />
in dem er ihn fragte, ob er nicht mehr zu dem von ihm<br />
autorisierten Interview stehe. Mir war auch bekannt,<br />
daß Fraktionsvorsitzender Kribben von diesem Vorgang<br />
wußte, aber in der Fraktion nichts dazu sagte. Ich rief<br />
daraufhin den <strong>Journal</strong>isten des Express an, der mir später<br />
auch schriftlich versicherte, daß Kerssenbrock ihm<br />
gerade noch einmal versichert habe, daß das Interview<br />
Wort für Wort korrekt sei. Er hatte also gegenüber der<br />
Fraktion die Unwahrheit gesagt.<br />
Ich informierte damals den durch das Interview<br />
zutiefst verletzten Gerhard Stoltenberg, der als Bundesverteidigungsminister<br />
in Bonn weilte. In der nächsten<br />
Fraktionssitzung mußte Kerssenbrock, nachdem er<br />
damit konfrontiert worden war, als Obmann im Untersuchungsausschuß<br />
endlich zurücktreten. Ursache<br />
für die Mißstimmung in der Fraktion war auch, daß<br />
Kerssenbrock in diesen Tagen wiederum in Hintergrundgesprächen<br />
mit <strong>Journal</strong>isten Uwe Barschel für<br />
in allen Teilen schuldig erklärte. Was mich noch heute<br />
verwundert, war der Wunsch des Fraktionsvorsitzenden<br />
Kribben, schon nach vierzehn Tagen Kerssenbrock wieder<br />
als Obmann zu installieren.<br />
Der Ausschußvorsitzende des Untersuchungsausschusses,<br />
Dr. Klingner, ein anständiger Jurist, tat mehr<br />
für die Aufklärung und damit für Uwe Barschel als<br />
der eigene Mann Kerssenbrock, der sich darin gefi el,<br />
Barschel vorab zu verurteilen und sich selbst als Retter<br />
der Demokratie (der große, schonungslose Aufklärer)<br />
zu gerieren.<br />
Mich erinnerte das verdächtig an Prozesse im Dritten<br />
Reich, in denen das Urteil schon vor Beginn des<br />
Prozesses feststand. So kennzeichnete ich einmal das<br />
Verhalten Kerssenbrocks gegenüber Professor Dall‘<br />
Asta mit einem Wort: „Freisler!“ Er riet mir, dies nicht<br />
laut zu sagen.<br />
Viele <strong>Journal</strong>isten haben damals diese Zusammenhänge<br />
nicht erkannt, weil ja ein „Waterkantgate“ eine<br />
spannendere Story ist als das Fehlverhalten mancher<br />
CDU–Politiker.<br />
Enttäuschungen<br />
Was für mich bleibt, ist eine tiefe, menschliche Enttäuschung,<br />
die übrigens bis heute anhält. In Kiel gibt<br />
es regelmäßige Treff en der ehemaligen CDU–Abgeordneten,<br />
zu denen auch ich eingeladen werde. Ich bin da<br />
nie hingegangen, denn ich könnte nicht diejenigen<br />
wiedersehen, deren Fehlverhalten zu solchen verheerenden<br />
Konsequenzen im menschlichen Bereich und<br />
für unsere Partei geführt haben.<br />
Ich bin als Autodidakt in die Politik gekommen. Ich<br />
war jung und begeistert und erwartete von ‚denen da<br />
oben‘, daß sie Menschen besonderer Qualität seien.<br />
Sie waren es nicht. Im Gegenteil, die Fraktion war in<br />
den CDU-Regierungsjahren zu einem Club der Jasager<br />
mutiert, die das ‚Politik-Machen‘ der Regierung<br />
überließen. Die einzelnen Abgeordneten gaben sich<br />
zufrieden, wenn sie den einen oder anderen ‚Bonsche<br />
oder Zückerchen’ für ihren Wahlkreis bekamen. In dem<br />
Moment, als es keine Regierung mehr gab, die sie führte,<br />
war es ein Club der Versager, manifestiert durch die Kribbens,<br />
Kerssenbrocks oder auch Aniols und Heisers. Eine<br />
menschlich hervorragende Persönlichkeit zeigt sich in<br />
der Stunde der Not, in der Bewährung in schwierigen<br />
Situationen. Die führenden Mitglieder der CDU-Fraktion<br />
in Kiel haben diese Bewährungsprobe nicht bestanden.<br />
Es war ihr Verhalten, das zum Tode Uwe Barschels geführt<br />
hat. Es hatte aber auch die Konsequenz, daß sich<br />
die CDU in unserem Bundesland 18 Jahre lang aus den<br />
Folgen dieser Fehlleistungen nicht lösen konnte.<br />
Was mich allerdings befriedigt, ist die Tatsache, daß<br />
so ein Mann wie Kerssenbrock, der seinerzeit als Politiker<br />
und Jurist versagt hatte, in der CDU Schleswig-Holsteins<br />
bis heute kein Bein mehr auf die Erde bekommen<br />
hat. Irgendwie haben die CDU-Mitglieder gefühlsmäßig
erkannt, bei wem opportunistischer Eigennutz über<br />
loyaler Menschlichkeit steht.<br />
Mein rosarotes Menschenbild von damals vor der<br />
Wahl 1987 mußte ich leider revidieren. Gut reden können<br />
muß noch lange nicht bedeuten, eine gebildete,<br />
integre Persönlichkeit zu sein, deren Handeln durch<br />
Ethik getragen ist. In Kiel war also wohl doch nur ein<br />
gewisses Mittelmaß versammelt. Etwas, was ich auch<br />
unter <strong>Journal</strong>isten beobachten konnte. Abgesehen von<br />
den unklugen eidesstattlichen Versicherungen, zu denen<br />
sich Uwe Barschel zum Schluß und in tiefer innerer<br />
Aufgewühltheit wohl gedrängt sah, war unser damaliger<br />
Ministerpräsident für mich immer eine ethisch und<br />
charakterlich über die anderen weit herausragende<br />
Persönlichkeit, dem bis heute Unrecht zugefügt wird.<br />
Menschen neigen dazu, das zu glauben, was sie<br />
gerne glauben möchten, und da sind Waterkantgate,<br />
Waff engeschäfte, Mord und Ähnliches der Stoff , aus<br />
denen Fantasien gespeist werden. So glaube ich inzwischen<br />
nicht mehr, daß meine Notizen dazu beitragen<br />
werden, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen.<br />
Vielleicht aber helfen sie dem Gebildeten, dem<br />
distanzierten und reflektierenden Zeitgenossen, in<br />
diesem Fall zumindest gewisse Zweifel an der ‚amtlichen<br />
Meinung‘ zu begründen.<br />
Epilog<br />
Ich denke immer wieder darüber nach, warum die<br />
Ehefrau von Dr. Barschel, Freya Barschel, vom ersten Tag<br />
an versuchte, eine Mord- und Verschwörungstheorie zu<br />
erhärten. Auch 2006 hat sie sich wieder in diesem Sinne<br />
eingelassen. Ich kann hier nur Vermutungen anstellen:<br />
Uwe Barschel glaubte, daß sie und vor allem die<br />
Kinder besser mit den Ereignissen umgehen können,<br />
wenn man an konspirierende Mordtheorien glauben<br />
kann. Deswegen hat Uwe Barschel seine Frau in diesem<br />
Glauben gelassen, als er sich von ihr verabschiedete,<br />
um damals nach Genf zu fl iegen. Was ich zu beschreiben<br />
versuche, war die große Verzweifl ung Barschels,<br />
weil seine sogenannten Freunde ihn verlassen hatten.<br />
Er sah keinen Ausweg mehr. Sollten seine Kinder dies<br />
heute lesen, dann sollten Sie wissen, daß ihr Vater ein<br />
charakterstarker, hochintelligenter Politiker war, dazu<br />
aber auch in besonderer Weise menschlich und empfi<br />
ndsam. Ein Mann, der seine Kinder über alles geliebt<br />
hat und der nach festen ethischen Grundsätzen lebte.<br />
Ich bin stolz, Uwe Barschel gekannt zu haben und<br />
daß ich zusammen mit ihm Politik machen durfte. Ich<br />
denke, die Kinder sollten wissen, daß sie stolz auf ihren<br />
Vater und seine Lebensleistung sein können.<br />
*<br />
1. Teil <strong>Deutschland</strong><br />
47
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
48<br />
Übers Niederträchtige<br />
Niemand sich beklage:<br />
Denn es ist das Mächtige,<br />
Was man dir auch sage.<br />
Goethe<br />
West- Östlicher Divan
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
Deutsche hatten an der Erschließung der Erde nur geringen Anteil. Aber die Entdeckung Nilquellen, die Beantwortung<br />
der seit der Antike berühmtesten geographischen Frage, gelang dem Deutschen Richard Kandt. Aus<br />
seinem Buch Caput Nili, 5. Aufl ., Berlin 1921, stammt der folgende Auszug.<br />
Caput Nili<br />
- die Entdeckung der Nilquelle<br />
Es waren herrliche Hochtäler, durch die wir dem allmählich<br />
auf eine Breite von 4 m und Knöcheltiefe gesunkenen<br />
Rukarara folgten. Wasserreiche Wiesengründe,<br />
aus denen Tausende, von Bienen umschwärmte, fast<br />
zwei Mann hohe Königskerzen aufragten, durchfl ossen<br />
von kristallklaren Bächen, die bald dichtes Gebüsch, bald<br />
nur zarte Mimosen begleiteten, zu beiden Seiten sanft<br />
geneigte Hügel, auf ihren Kamm der dunkle Urwald, der<br />
auch teilweise die Hänge bedeckt. Meist sind sie aber<br />
nur mit hellen Gräsern bekleidet, die sich scharf von<br />
den dunklen Partien des Waldes wie von der Talsohle<br />
abheben, deren Grün auf große Strecken unter einem<br />
Teppich von weißen, gelben und rosa Strohblumen<br />
begraben liegt. Zahlreiche Nebenschluchten führen<br />
dem Haupttal kleine Bäche zu, und je weiter stromaufwärts<br />
wir marschieren, um so rascher nimmt die<br />
Wassermenge des Rukarara ab. Die Abende in diesen<br />
herrlichen Tälern hatten einen besonderen Zauber. Den<br />
ganzen Nachmittag türmten die Träger Scheiterhaufen,<br />
die nach Sonnenuntergang entzündet wurden und<br />
die ganze Nacht hindurch das Tal und den Waldrand<br />
erleuchteten. Ich selbst schlief, weil es im Zelte zu kalt<br />
war, draußen zwischen zwei großen Feuern, in deren<br />
Mitte mein Bett gestellt war. Sobald es dunkel ward,<br />
sah man im Tal hie und da wie Irrlichter den Schein<br />
von Fackeln tanzen; es waren die Träger, die viele der<br />
Hunderte von Bienenhäusern, die in diesen Tälern von<br />
Bienenjägern aufgestellt waren, plünderten. Ich hätte<br />
es Ihnen vielleicht verboten, wenn das Spiel der durch<br />
die nebelerfüllten Täler wandernden Lichter nicht so<br />
schön und von geheimnisvollen Schauern erfüllt gewesen<br />
wäre.<br />
Es war das Ende eines solchen Teiles, das ich Mitte<br />
August 1898 mit meiner Karawane erreichte. Nur noch<br />
als 30 cm breites Rinnsal kam hier der Rukarara aus einer<br />
pfadlosen, mit Wald und üppigster Vegetation erfüllten<br />
Schlucht. In diese drang ich am nächsten Tage mit einem<br />
Eingeborenen und einigen meiner Leute ein. Es war eine<br />
schlimme Arbeit; für je 500 m brauchten wir fast eine<br />
Stunde. Aber mit Äxten und Haumessern brachen wir<br />
uns Bahn und oft im Morast bis zum Leib versinkend, oft<br />
auf allen Vieren in dem eiskalten Bach selber kriechend,<br />
durch Schluchten und Nebenschluchten langsam<br />
ansteigend, erreichten wir nach mühevollen Stunden,<br />
erschöpft, durchnäßt, von oben bis unten besudelt,<br />
einen kleinen feuchten Kessel am Ende einer Klamm,<br />
aus deren Boden die Quelle nicht sprudelnd, sondern<br />
Tropfen für Tropfen dringt: Caput Nili.<br />
War es wirklich die Quelle des Nils, die ich gefunden?<br />
Und hatte wirklich der Satz kein Recht mehr, den noch<br />
in den achtziger Jahren einer der größten Geographen<br />
Europas geschrieben hatte: On cherche encore la tete du<br />
Nil comme aux temps de Lucian; personne n`a eu la gloire,<br />
de voir la fl euve naissant? 146<br />
An e i n e m jedenfalls kann kein Zweifel mehr bestehen:<br />
darob, daß die Quelle des Rukarara die Quelle<br />
des Kagera, des Alexandra-Nils, ist. … Ist überhaupt<br />
der Kagera, wie die Eingeborenen zu Speke sagten, die<br />
„Mutter des Felsenstroms“, d. h. des Murchison-Nils?<br />
146 Noch immer sucht man die Quelle des Nils wie zur Zeit des Lukian;<br />
hatte niemand den Ruhm, den Fluß in seinem Ursprung zu erblicken?<br />
Übersetzung von M. A.<br />
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
49
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
50<br />
Ost – West<br />
Viele Aussprüche des Konfuzius können fast wörtlich<br />
in Parallele gesetzt werden zu abendländischen<br />
Weisheiten, zum Beispiel:<br />
Lernen und fortwährend üben, ist das denn nicht<br />
auch befriedigend?<br />
Goethe: Wer immer strebend sich bemüht, den<br />
können wir erlösen<br />
*<br />
Bei der Leitung eines Staates muß man ... die<br />
Menschen lieben<br />
Wie die Dinge kommen, so mußt du dich<br />
ihnen anpassen. Und die Menschen, mit denen<br />
du zusammengeführt wirst, die mußt du<br />
lieben; αλλ αληθινϖσ - aber auch wirklich!<br />
Marcus Aurelius<br />
*<br />
Irrlehren anzugreifen, schadet nur.<br />
Max Planck: Falsche Ansichten gehen nicht durch Widerlegung<br />
unter, sie sterben aus.<br />
*<br />
Was man weiß, als Wissen gelten lassen, was man nicht<br />
weiß, als Nichtwissen gelten lassen: das ist Wissen.<br />
Platon: oida ouk eidos – ich weiß, dass ich nichts weiß<br />
*<br />
Ein Mensch ohne Menschenliebe, was hilft dem die<br />
Form? Ein Mensch ohne Menschenliebe, was hilft dem<br />
die Musik?<br />
Paulus 1. Korinther 13: Wenn ich mit Menschen und mit<br />
Engelszungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre<br />
mir`s nichts nütze …<br />
*
Und ist der Victoriasee nur ein ruhender Punkt im Stromsystem des Nils, wie der Bodensee für den Rhein, oder<br />
selbst seine Quelle?<br />
Jeder Bürger des Staates ist ein geborener Verteidiger desselben (Scharnhorst). Dieses große Wort und die damit<br />
verbundenen Werte gehen dahin – und das schlimmste ist, daß unserer Volk und seine gewählten Vertreter<br />
darüber nicht einmal diskutieren.<br />
Die Wehrpfl icht ist praktisch abgeschaff t. Das wird demnächst auch in <strong>Deutschland</strong> zu Entwicklungen führen,<br />
wo private Kriegsdienstleister, zumeist anglo-amerikanische Investoren, Söldnertruppen weltweit vermieten. Es<br />
droht eine Ramboisierung des Militärs. Schwer vermittelbare junge Männer strömen schon jetzt in die Berufsarmeen,<br />
etwa in Spanien und England, die sich ohne ethische Bindung an Volk und Vaterland oder politische Werte<br />
wie Freiheit und Rechtsstaat von dem zum Krieg gebrauchen lassen, der am meisten zahlt.<br />
Bedingt abwehrbereit<br />
von<br />
General a. D. Reinhard Uhle-Wettler<br />
Timmendorfer Strand<br />
1. Bundeswehrstrukturreform<br />
Nach dem Willen des Bundesverteidigungsministers<br />
wird die Bundeswehr einer Strukturreform unterzogen,<br />
die alles Bisherige übertriff t. O-Ton von Karl-Theodor<br />
von und zu Guttenberg: „Die Grunddebatte ist doch<br />
die, haben wir eine Bundeswehr, die den sicherheits-<br />
und verteidigungspolitischen Herausforderungen der<br />
Gegenwart und der Zukunft überhaupt noch gerecht<br />
werden kann? Und das kann man leider nur mit einem<br />
Nein beantworten.“ (NDR Info, Streitkräfte und<br />
Strategien) Auslöser des forschen, weil etwas voreilig<br />
erscheinenden Neuansatzes sind die Sparaufl agen der<br />
Bundesregierung in Milliardenhöhe auf Grund der weltweiten<br />
Finanz- und Wirtschaftskrise sowie der Krise des<br />
EURO. Hinzu kommt die in vielen Jahren aufgewachsene<br />
Verschuldung der öff entlichen Hand, die mittlerweile<br />
das Ausmaß von 2 Billionen anzunehmen droht. Es muß<br />
also auf allen Ebenen gespart werden. Seit April <strong>2010</strong><br />
arbeitet eine 6köpfi ge Kommission unter der Leitung<br />
von Frank-Jürgen Weise, dem Leiter der Bundesagentur<br />
für Arbeit, an der neuen Konzeption. Unter den Mitgliedern<br />
ist immerhin wenigstens ein aktiver General. Bis<br />
Ende des Jahres sollen die organisatorischen Eckpunkte<br />
politisch entschieden sein. Wie bereits zur Jahresmitte<br />
aus dem Munde des Ministers zu erfahren war, geben<br />
die Einsatzbedingungen der „Armee im Einsatz“ die<br />
Richtung vor. Dabei sollen die Führungsfähigkeit, Effi<br />
zienz, Flexibilität und Wirtschaftlichkeit maßgeblich<br />
verbessert werden.<br />
Dies war im Grunde schon das Anliegen der Strukturkommission<br />
„Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der<br />
Bundeswehr“ unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundespräsidenten<br />
Richard v. Weizsäcker. Dessen Vorwort<br />
zu dem Bericht an die Bundesregierung vom 23. Mai<br />
2000 fordert u. a.: „In einer von Partnern umgebenen<br />
Lage bedarf unser Land einer bündniskonformen Bundeswehr,<br />
die mit einem umstrukturierten, nachhaltig<br />
verkleinerten Personalbestand grundlegend modernisiert<br />
werden muß.“ Die danach etwa seit dem Jahr 2002<br />
eingeleitete „Transformation“ der Bundeswehr in eine<br />
Einsatzarmee ist aus politischen und haushaltsmäßigen<br />
Gründen nicht vollendet worden.<br />
Auf Grund der nun bekanntgewordenen Daten ist<br />
mit der Aussetzung der allgemeinen Wehrpfl icht und<br />
einer wesentlichen Verringerung des Umfanges der<br />
Bundeswehr auf unter 200 000 Mann zu rechnen.<br />
Damit dürften „Die verteidigungspolitischen Richtlinien“<br />
vom 21. 5. 2003 sowie „Die Konzeption der<br />
Bundeswehr“ vom 9. 8. 2004 und die zu ihrer Verwirklichung<br />
eingeleiteten Maßnahmen der Transformation in<br />
wichtigen Teilen schon wieder überholt sein oder sich<br />
als nicht ausreichend erweisen.<br />
Es bleibt aber off enbar dabei, daß die Bundeswehr<br />
„Instrument einer umfassend angelegten, vorausschauenden<br />
Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ ist.<br />
Sie hat den Auftrag:<br />
- die außenpolitische Handlungsfähigkeit<br />
<strong>Deutschland</strong>s zu sichern,<br />
- einen Beitrag zur Stabilität im europäischen und<br />
globalen Rahmen zu leisten,<br />
- die nationale Sicherheit und Verteidigung zu<br />
gewährleisten und zur Verteidigung der Verbündeten<br />
beizutragen,<br />
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
51
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
52<br />
- die multinationale Zusammenarbeit und Integration<br />
zu fördern.<br />
Der Auftrag der Bundeswehr ist eingebettet in die<br />
gesamtstaatliche Vorsorgepflicht für die Sicherheit<br />
der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes und unseres<br />
Wertesystems sowie für die Wahrung unserer<br />
Interessen im europäischen und transatlantischen<br />
Zusammenhang.<br />
Aus dem Auftrag leiten sich die Aufgaben der Bundeswehr<br />
ab:<br />
- internationale Konfl iktverhütung und Krisenbewältigung<br />
einschließlich des Kampfes gegen den<br />
internationalen Terrorismus,<br />
- Unterstützung von Bündnispartnern,<br />
- Schutz <strong>Deutschland</strong>s und seiner Bürgerinnen<br />
und Bürger,<br />
- Rettung und Evakuierung,<br />
- Partnerschaft und Kooperation,<br />
- Hilfeleistungen der Bundeswehr im In- und Ausland<br />
(Amtshilfe, Naturkatastrophen, besonders<br />
schwere Unglücksfälle).<br />
Auftrag und Mittel in Übereinstimmung zu bringen,<br />
dürfte eine besonders schwere Aufgabe der politischen<br />
Leitung der Bundeswehr sein. Dies muß die Strukturkommission<br />
entsprechend berücksichtigen. Die Bundeswehrführung<br />
muß – notfalls durch Rücktritt – ein<br />
Zeichen setzen, sollte die Beschlußfassung über die<br />
Reform wiederum ein deutliches Auseinanderklaff en<br />
von Auftrag und Mitteln in Kauf nehmen.<br />
2. Versagen der Politik<br />
Der I. und II. Weltkrieg haben den deutschen Soldaten<br />
vor unlösbare Aufgaben gestellt. Beide Male hat<br />
es die Politik versäumt, ihm die erforderlichen Mittel<br />
zur Erfüllung seines Auftrages in die Hand zu geben.<br />
Der überstürzte und schlecht vorbereitete Aufbau<br />
der Bundeswehr setzte diese „Tradition“ fort. Eine Reform<br />
nach der anderen verhinderte die erforderliche<br />
Kontinuität für das Wachsen prägender Traditionen,<br />
starker Bindungen, sicherer Verhaltensweisen und<br />
gefestigten, eingeübten fachlichen Könnens, die eine<br />
Armee nun einmal braucht, allem voran jedoch das<br />
Vertrauen in eine kompetente politische Führung.<br />
Der Kommissionsbericht „Führungsfähigkeit und Entscheidungsverantwortung<br />
in den Streitkräften“, kurz<br />
„de Maizière-Bericht“ vom September 1981 mit einem<br />
Vorwort des damaligen Verteidigungsministers Hans<br />
Apel und einer Stellungnahme des Generals de Maizière<br />
stellt „das unausgewogene Verhältnis von Aufgaben<br />
und Mitteln als ein Zentralproblem der Streitkräfte“<br />
heraus. Verschärft werde dieses Problem, so der General,<br />
durch die aktuelle Finanzlage. Daran hat sich bis heute<br />
nichts geändert. „Die Bundeswehr ist mit veraltetem<br />
Material ausgestattet, hat Strukturen, die teilweise noch<br />
den Geist des Kalten Krieges atmen, ist dramatisch unterfi<br />
nanziert, über viele viele Jahre hinweg.“ O-Ton von<br />
zu Guttenberg (NDR Info, Streitkräfte und Strategien).<br />
Ähnliche Äußerungen waren wiederholt Sendungen<br />
des deutschen Fernsehens zu entnehmen, ohne daß<br />
sie besondere Reaktionen auslösten. Schwerwiegend ist<br />
außerdem das vom Wehrbeauftragten festgestellte und<br />
durch den Bundespräsidenten bestätigte „freundliche<br />
Desinteresse“ der „Gesellschaft“ an den Belangen der<br />
Bundeswehr. Dazu kommt der Mangel an Fachwissen<br />
und -können gemäß der Feststellung Helmut Schmidts<br />
aus den 60er Jahren über den „lähmenden ›strategischen<br />
Dilettantismus‹ der politischen Klasse, nachzulesen<br />
in „Einsatz ohne Ziel?“, Die Politikbedürftigkeit des<br />
Militärischen, von Dr. phil. Klaus Naumann (Hamburger<br />
Edition 2008, Seite 72). Als vor einigen Jahren einer der<br />
ranghöchsten Generale der Bundeswehr über seine<br />
Erfahrungen als NATO-Befehlshaber im ehemaligen<br />
Jugoslawien vor der Clausewitz-Gesellschaft vortrug,<br />
wurde er in der anschließenden Diskussion gefragt,<br />
ob er dies auch maßgeblichen Politikern gesagt habe.<br />
Unter dem „wissenden“ Gelächter der in den ersten<br />
Reihen sitzenden ranghöchsten Pensionäre lautete die<br />
Antwort: „Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, daß ich<br />
von einem einzigen Politiker nach meinen Erfahrungen<br />
befragt worden bin!“ Eine mögliche Erklärung hierzu<br />
kann General a. D. Klaus Naumann beitragen. Er schreibt<br />
auf Seite 245 seines Buches ›Frieden – der noch nicht<br />
erfüllte Auftrag‹: „Ich konnte von 1986 bis 1999 den<br />
Stellenwert des unverändert wichtigsten Instruments<br />
deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, der Bundeswehr,<br />
für die Parteien des deutschen Bundestages aus<br />
der Nähe beobachten. Ich kann daher sagen, daß er von<br />
den Regierenden aller Schattierungen, von relativ wenigen<br />
Ausnahmen und von vielen Lippenbekenntnissen<br />
abgesehen, als gering angesehen wurde.“<br />
Die Klagen der in Afghanistan eingesetzten Truppen<br />
über Ausrüstungsmängel und dem Einsatz unangepaßte,<br />
friedensmäßige bürokratische Bestimmungen und<br />
Dienstvorschriften sind mittlerweile unüberhörbar.<br />
Demgegenüber äußern zuständige Behörden und<br />
Dienststellen „Die Zulassungsnormen (für dringend<br />
benötigte Fahrzeuge und Gerät, Verf.) sind verbindlich.<br />
Eine bundeswehrspezifi sche Norm unterhalb dieser<br />
Vorschriften wird es nicht geben.“ (Preuß. Allg. Zeitung<br />
›PAZ‹ vom 7. 8. <strong>2010</strong>). So macht ein polemischer<br />
Soldatenspruch die Runde: „Mülltrennung geht vor<br />
Sicherheit!“ Der Verteidigungsminister klagt selbst<br />
über zu lange Wege in seinem Ministerium. Aus einer<br />
Armee für den Frieden darf aber keine Friedensarmee<br />
werden, die nicht für den Einsatz taugt. Von der Politik<br />
ist daher eine konsequente und verzugslose Auswertung<br />
und Umsetzung der Lehren und Erfahrungen aus<br />
Afghanistan und den anderen Auslandseinsätzen zu<br />
fordern. Das verlangt schon die Treuepfl icht gegenüber<br />
den Soldaten, die in der „Armee im Einsatz“ ihr Leben
einsetzen. „Staat und Soldaten sind durch gegenseitige<br />
Treue miteinander verbunden.“ (§ 1 SG)<br />
3. Allgemeine Wehrpfl icht<br />
Die bisherigen offi ziellen und inoffi ziellen Verlautbarungen<br />
zur geplanten Strukturreform sehen neben<br />
einer wesentlichen Kürzung der Umfangszahlen bei den<br />
Zeit- und Berufssoldaten, wenn nicht die Abschaff ung,<br />
so doch wenigstens die Aussetzung der Allgemeinen<br />
Wehrpfl icht vor. Dies zeigt den Ernst der Lage. Gehörte<br />
doch die allgemeine Wehrpfl icht über alle Stürme der<br />
Sicherheitspolitik hinweg zum demokratischen Selbstverständnis<br />
der Armee und der BRD als wehrhafter Demokratie.<br />
Allerdings ist es der Politik niemals gelungen,<br />
das Problem der Wehrgerechtigkeit hinlänglich zu lösen<br />
und den überaus großen Umfang der Kriegsdienstverweigerung<br />
und Drückebergerei ausreichend in den<br />
Griff zu bekommen. Während es die Massenmedien<br />
versäumt haben, das Problembewußtsein und eine ausreichende<br />
Sensibilität für die Erfordernisse deutscher<br />
Sicherheitspolitik im Volk zu wecken, fehlte es bei der<br />
politischen Klasse ganz off ensichtlich am Willen, die<br />
entsprechende Überzeugungsarbeit zu leisten. Dazu<br />
gehört natürlich unter anderem das eigene Vorbild<br />
durch Ableistung von Wehr- oder Ersatzdienst (Art.<br />
12a GG). Daran fehlt es weitgehend heute noch bis in<br />
die höchsten politischen Ränge. Den Streitkräften ist<br />
es dennoch bisher gelungen, aus den Wehrpfl ichtigen<br />
einen großen Teil der benötigten Berufs- und Zeitsoldaten<br />
zu gewinnen. Dies war ein wesentlicher Grund<br />
ihres Kampfes für den Erhalt der Wehrpfl icht. Die derzeit<br />
geltende Verkürzung auf 6 Monate ist unverantwortlich<br />
und muß von Fachleuten nicht diskutiert werden. Sie<br />
kann nur – polemisch ausgedrückt – zur Ausbildung<br />
von „Kanonenfutter“ führen.<br />
Am Rande sei erwähnt, daß nun natürlich auch der<br />
Ersatzdienst betroffen ist. Der bewährte Zivildienst<br />
in Krankenhäusern und Pflegeheimen wird sich in<br />
der bisherigen Form nicht halten lassen. Ob der bestehende<br />
Freiwillige Soziale Dienst die Lücke füllen<br />
können wird, ist sehr fraglich. Natürlich stellt sich mit<br />
gesundem Menschenverstand auch die Frage nach<br />
der Einrichtung einer allgemeinen Dienstpfl icht. Deren<br />
Einrichtung könnte viele Probleme, wie zum Beispiel die<br />
Gleichbehandlung von Männern und Frauen und die<br />
Wehrgerechtigkeit, lösen, wird aber zur Zeit kaum ernsthaft<br />
öff entlich diskutiert. Altbundespräsident Richard<br />
v. Weizsäcker ist vor einigen Jahren in einer Talk-Show<br />
des deutschen Fernsehens von einer Zuschauerin, die<br />
eine leitende Funktion bei der Caritas ausübte, unter<br />
sehr großem Beifall die Einführung der allgemeinen<br />
Dienstpfl icht u. a. zur Lösung des Mangels an Pfl egepersonal<br />
vorgeschlagen worden. Die Antwort lautete:<br />
„Liebe Frau X! Wenn Sie draußen für Ihren Vorschlag<br />
ebensolchen Beifall wie hier drinnen bekommen, bin<br />
ich Ihr Mann!“ Damit war das so wichtige Thema leider<br />
vorschnell und abrupt abgetan.<br />
Von besonderer Bedeutung ist im übrigen die mit<br />
dem Erlaß der Bundeswehrkonzeption von 2004 bestätigte<br />
Umstrukturierung der Bundeswehr unter der<br />
Bezeichnung: „Transformation“. Diese verlegte ohne<br />
viel Aufhebens den Schwerpunkt auf die Erfordernisse<br />
von Auslandseinsätzen anstelle des noch von den Erfordernissen<br />
der Ost-West-Konfrontation (kalter Krieg)<br />
geprägten Verteidigungsauftrages im Rahmen des<br />
NATO-Vertrages. So wurden nahezu die gesamten, in<br />
Jahrzehnten eingespielten territorialen Verteidigungskräfte,<br />
sowie einige voll funktionsfähige und bewährte<br />
Bundeswehrkrankenhäuser und zahlreiche Verbände<br />
und Stäbe der Sanitätstruppe, der ABC-Abwehr und<br />
dazugehörender Reserveformationen aufgelöst. Offensichtlich<br />
hat die Heimatverteidigung keinen hohen<br />
Stellenwert. Das ist ein schwerer Fehler und kann<br />
<strong>Deutschland</strong> im Zeitalter der „Neuen Kriege“ (Herfried<br />
Münkler) und der Massenvernichtungswaff en noch<br />
teuer zu stehen kommen!<br />
Schließlich müssen die Folgen der demographischen<br />
Entwicklung bedacht werden. Den in Gang befi ndlichen<br />
Kampf um qualifi ziertes Personal kann die Bundeswehr<br />
ohne Wehrpfl icht und bei mangelhafter fi nanzieller<br />
Ausstattung gegenüber der Industrie, gut zahlenden<br />
privaten Sicherheitsdiensten und Nichtregierungsorganisationen<br />
nur verlieren. Eine Freiwilligenarmee kann<br />
das erforderliche Personal nur bekommen, wenn man es<br />
besonders gut bezahlt und den Soldatenberuf auch in<br />
anderer Hinsicht attraktiv gestaltet. Das kostet vor allem<br />
viel Geld, das off ensichtlich nicht zur Verfügung steht.<br />
Daher sollte als Alternative die Einführung einer<br />
allgemeinen Dienstpflicht untersucht werden. Sie<br />
gehört zu den natürlichen Pfl ichten der weiblichen<br />
und männlichen Staatsbürger etwa zwischen dem 18.<br />
und 35. Lebensjahr. Sie ist den umfassenden staatsbürgerlichen<br />
Rechten und Freiheiten geschuldet, die<br />
der demokratische Rechtsstaat gewährt. Allgemeine<br />
Dienstpfl icht könnte geleistet werden: als Dienst in den<br />
Sicherheitsorganen, Wehrdienst, Sozialdienst, karitativer<br />
Dienst, besonders in der Kranken- und Altenpfl ege,<br />
in der Behindertenbetreuung, bei Feuerwehr, Katastrophenschutz<br />
und Technischem Hilfswerk. Mit Einschränkungen<br />
könnte der Dienst im Umwelt- und Naturschutz<br />
sowie in der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft anerkannt<br />
werden. Man stelle sich einmal vor, in welchem<br />
Umfang die gerade so heftig diskutierte Integration<br />
unserer Jugend und ihre Heranführung an die Aufgaben<br />
des „Staatsbürgers in Zivil“ gefördert werden könnte!<br />
Immerhin haben zum Thema „Allgemeine Dienstpfl icht“<br />
kürzlich der Saarländische Ministerpräsident Peter Müller<br />
und der ehemalige Ministerpräsident von Hessen,<br />
Roland Koch, wichtige Denkanstöße gegeben.<br />
4. Kriegsbild<br />
Wer für die künftige Sicherheitspolitik plant, muß sich<br />
ein möglichst wirklichkeitsnahes Bild von möglichen<br />
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
53
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
54<br />
Gefahren und Erscheinungsformen der Bedrohungen<br />
machen. Dabei sind die jüngsten Erfahrungen und<br />
mögliche Weiterentwicklungen zu berücksichtigen.<br />
Ideologische Festlegungen und idealistisches Wunschdenken<br />
über den ewigen Frieden führen in die Irre<br />
und zu nicht korrigierbaren Fehlern. Viele Menschen<br />
gehen noch von überholten Bildern konventioneller<br />
Kriege der jüngeren Geschichte aus, wie sie uns im<br />
Fernsehen vorgeführt werden. Die neuen Kriege der<br />
jüngsten Vergangenheit haben aber gezeigt, daß sich<br />
Krieg und Frieden nicht mehr wie früher sauber trennen<br />
lassen, und daß von einem erweiterten Begriff<br />
der Sicherheitspolitik ausgegangen werden muß. Im<br />
Zeichen der Globalisierung, kollektiver Sicherheitssysteme<br />
und einer weltweiten Migrationsbewegung<br />
gehen außen- und innenpolitische Gefahren und deren<br />
Abwehr oft ineinander über. Sicherheitspolitik geht also<br />
weit über das rein Militärische und die unmittelbaren<br />
Verteidigungsanstrengungen hinaus. Abwehr von Umweltgefahren,<br />
Beseitigung von Instabilitäten anderer<br />
Länder, Zugriff auf lebenswichtige Ressourcen und<br />
schwere Menschenrechtsverletzungen wie Völkermord,<br />
Vertreibungen und anderes mehr können Gegenstand<br />
von sicherheitspolitischen Maßnahmen sein.<br />
Nachfolgende Umstände und Ereignisse zwingen<br />
neben anderen, hier nicht aufgeführten, zu dieser<br />
Beurteilung:<br />
- die Entwicklung von Massenvernichtungswaff en<br />
(ABC), Raketentechnologie, intelligente Waff en,<br />
Kampfdrohnen und weitere moderne Waff ensysteme;<br />
- die Flugzeugattacken im September 2001 gegen<br />
die USA durch arabische Terroristen;<br />
- die irakischen Raketen auf Israel im 2. Golfkrieg;<br />
- die Vernichtung der irakischen Atomanlagen<br />
durch die Israelische Luftwaffe im Jahr 1981<br />
mitten im Frieden;<br />
- der Balkankrieg der NATO, ohne daß eines ihrer<br />
Mitglieder angegriff en worden ist;<br />
- der Krieg der NATO gegen die Taliban in Afghanistan;<br />
- schließlich die Tatsache, daß Kriege heutzutage<br />
in der Regel ohne förmliche Kriegserklärung<br />
begonnen und – wie im Falle des IRAK - ohne<br />
Friedensvertrag beendet werden;<br />
- Selbstmordattentäter;<br />
- die moderne Piraterie vor den Küsten Somalias,<br />
in der Straße von Magellan und andernorts;<br />
- die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen<br />
von Migrantengruppen, Jugendbanden und<br />
politischen Minderheiten in den Großstädten der<br />
westlichen, aber auch der östlichen Hemisphäre;<br />
- die gewalttätigen Machenschaften der organisierten<br />
Kriminalität und ihre mafi osen Strukturen,<br />
deren bedrohliche Ausmaße und Aktivitäten<br />
durch den <strong>Journal</strong>isten Jürgen Roth in zahlreichen<br />
Büchern, u. a. in „Mafi aland <strong>Deutschland</strong>“<br />
und „Ermitteln Verboten! Warum die Polizei den<br />
Kampf gegen die Kriminalität aufgegeben hat“<br />
beschrieben worden ist.<br />
Jürgen Roth ist der Meinung, daß der Kampf gegen<br />
die organisierte Kriminalität bereits verloren ist, weil<br />
der politische Wille zu einer durchschlagenden Bekämpfung<br />
fehle.<br />
Ähnliches war kürzlich in einem Interview der Zeitschrift<br />
dsmagazin Nr. 05/06 <strong>2010</strong> zu lesen. Hier äußert<br />
sich MdB Wolfgang Bosbach, Mitglied im Verein für off ene<br />
Aussprache, gegenüber dem Chefredakteur Joachim<br />
Schäfer über Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft<br />
von Migranten u. a. wie folgt: „ … aber ich weiß<br />
aus langjähriger berufl icher und politischer Erfahrung,<br />
daß es in <strong>Deutschland</strong> ausgesprochen schwierig ist,<br />
ausländische Straftäter selbst dann auszuweisen und<br />
abzuschieben, wenn sie schwere Straftaten begangen<br />
haben. Aber ich sehe im Deutschen Bundestag weit<br />
und breit keine Mehrheit für eine erleichterte Ausweisung<br />
von ausländischen Straftätern.“ Daraus läßt sich<br />
ableiten, daß es bei den hier anstehenden Fragen zur Sicherheitspolitik<br />
eben entscheidend auf den politischen<br />
Willen und nicht so sehr auf noch so richtige Argumente<br />
und nachprüfbare Tatsachen ankommt.<br />
Wenigstens in der mittelständischen Wirtschaft<br />
fanden wir eine deutliche Stimme, die Forderungen<br />
für die innere Sicherheit im Zusammenhang mit einem<br />
erwarteten „Crash“ des internationalen Finanzsystems<br />
aufstellte. Wer macht sich schon Gedanken darüber, daß<br />
die Polizei über keine Reservistenorganisation verfügt<br />
und schon heute in halbwegs „normalen“ Zeiten personell<br />
überfordert ist, wie ein hochrangiger Vertreter<br />
der Polizei in einer Arbeitsgruppe für das Buch von<br />
Eberhard und Eike Hamer „Was passiert, wenn der Crash<br />
kommt?“ feststellte. Die kräftemäßige Überforderung<br />
der Polizei im Falle bürgerkriegsähnlicher Verhältnisse<br />
in Notlagen ist bereits vorgegeben. Demgegenüber<br />
muten die vorgesehenen Stellenkürzungen bei den<br />
Polizeien der Länder geradezu abenteuerlich an. Man<br />
muß dabei zusätzlich bedenken, daß der Einsatz der<br />
Bundeswehr zu Aufgaben der inneren Sicherheit geradezu<br />
als Sakrileg gilt, für den sich niemand wirklich<br />
ernsthaft einzusetzen wagt. Also bestimmen in Fragen<br />
der Sicherheit eher ideologische Vorbehalte als nüchterne<br />
Analyse und Zusammenfassung der ohnehin<br />
(zu) schwachen Kräfte das Geschehen. Wie wenig ausgeprägt<br />
die Sensibilität für Sicherheitsfragen ist, kann<br />
man den öff entlichen Diskussionen entnehmen, die sich<br />
nahezu ausschließlich um Löhne und Gehälter, Renten<br />
und Steuergerechtigkeit drehen. Sicherheitspolitik steht<br />
nicht auf der Tagesordnung der Massenmedien und<br />
fi ndet daher auch nicht Eingang in das Bewußtsein der<br />
Bevölkerung. Dieser Mangel wird noch durch ehemals<br />
hochrangige und weithin bekannte Politiker, die sich<br />
öff entlich äußern, bestärkt. So thematisieren Friedrich<br />
Merz und Wolfgang Clement in ihrem herausragenden<br />
gemeinsam verfaßten Buch: „WAS JETZT ZU TUN IST“<br />
unter der Herausgeberschaft der renommierten Wirtschaftsjournalistin<br />
Dr. Ursula Weidenfeld die so wichtige
und zugleich kostenträchtige Sicherheitspolitik nicht<br />
einmal am Rande.<br />
5. Sicherheit im Bündnis<br />
Allen maßgeblichen sicherheitspolitischen Konzeptionen,<br />
Planungen und Maßnahmen des laufenden Jahrzehnts<br />
liegen bei Unterschieden und Versäumnissen im<br />
Einzelfall die nachfolgenden gemeinsamen Eckpunkte<br />
zu Grunde:<br />
- das atlantische Bündnis bzw. die transatlantische<br />
Partnerschaft;<br />
- die Konzeption der gemeinsamen Sicherheit<br />
und ihrer Stärkung in Europa; die Einsatzfähigkeit<br />
der deutschen Streitkräfte muß derjenigen<br />
der wichtigsten europäischen Bündnispartner<br />
entsprechen;<br />
- vorrangige Ausrichtung der Bundeswehr auf<br />
Auslandseinsätze zur Krisenvorsorge, Krisenbewältigung<br />
und „Nation building“;<br />
- Kampf gegen Terrorismus und asymmetrisch<br />
organisierte Gegner.<br />
Dazu sind Aufgaben- und Lastenteilung sowie Rüstungskooperation<br />
einschließlich Standardisierung zur<br />
Eff ektivität des Bündnisses und zur Kosteneinsparung<br />
unabdingbar. Außerdem muß deutsche Sicherheitspolitik<br />
bedenken, daß der Verzicht auf Besitz von A-Waff en<br />
im Rahmen des Atomwaff ensperrvertrages den atomaren<br />
Schutzschild seiner Verbündeten erfordert. Mangelhafte<br />
eigene Verteidigungsanstrengungen führen<br />
unabwendbar zum Verlust des Einfl usses im Bündnis<br />
und zum Vasallenstatus gegenüber der herrschenden<br />
Weltmacht USA. Sicher ist den meisten Bürgern der<br />
BRD gar nicht klar, daß die erforderlichen Verteidigungsanstrengungen<br />
bereits unter dem vereinbarten<br />
Maß liegen. „Der Verteidigungshaushalt beträgt in<br />
<strong>Deutschland</strong> 1,3% des Bruttosozialprodukts. Damit liegt<br />
<strong>Deutschland</strong> im Vergleich der NATO-Mitgliedstaaten auf<br />
einem hinteren Tabellenplatz und deutlich unter dem<br />
Wunschziel der NATO von 2 Prozent.“ (Dieter Farwick,<br />
PAZ v. 14. 8. <strong>2010</strong>)<br />
6. Stellung des Soldaten<br />
Die Probleme der Bundeswehr lassen sich fast regelmäßig<br />
an der Schnittstelle von Politik und Militär<br />
festmachen. Oft stammen sie noch aus der Aufbauzeit<br />
der Bundeswehr und den Auseinandersetzungen um<br />
die Wiederbewaff nung. Vieles beruht auf einem grundsätzlichen<br />
Mißverständnis. Die Kontrolle der Macht,<br />
auch der militärischen, ist eine Selbstverständlichkeit.<br />
Civil control kommt aus dem Angelsächsischen und<br />
bedeutet dort nicht etwa „zivile Kontrolle“, sondern<br />
Kontrolle durch das Parlament und die von diesem<br />
bestimmten demokratischen Gremien. Dennoch wird<br />
die falsche Deutung nur allzu gerne benutzt, um die<br />
erforderliche militärische Amtsgewalt einzuschränken.<br />
Dahinter steht ein unberechtigtes Mißtrauen, nachdem<br />
die Bundeswehr von Anfang an und nun über mehr<br />
als ein halbes Jahrhundert durch treuen Dienst ihre<br />
demokratische Zuverlässigkeit bewiesen hat. Ein Beispiel:<br />
Die Aufstiegschancen der hohen Generalität der<br />
Bundeswehr in politische Ämter sind nahezu bei Null.<br />
In 50 Jahren haben es 2(!) Generale zum Staatssekretär<br />
und einer von diesen zum Innenminister eines Bundeslandes<br />
gebracht. Ein Vergleich mit den USA oder gar mit<br />
Israel macht deutlich, was in diesen Demokratien möglich<br />
und vielleicht sogar üblich ist, nämlich der Aufstieg<br />
bewährter Generale in die höchsten politischen Ämter<br />
bis hin zum Staatspräsidenten. Ein anderes Beispiel:<br />
General Carl v. Clausewitz war der Ansicht, „der Feldherr“<br />
müsse Sitz und Stimme im Kabinett haben, um gehört<br />
zu werden (8. Buch Vom Kriege). In der BRD sind die 4<br />
Staatssekretäre dem Generalinspekteur vorgesetzt. Alle<br />
zaghaften Versuche, ihm diesen Rang zu verleihen, sind<br />
bisher abgeschmettert worden. Die Inspekteure der Teilstreitkräfte<br />
gar sind Abteilungsleitern der Ministerien,<br />
also Ministerialdirektoren gleichgestellt. Da ist von Amt<br />
und Würden wie dem unmittelbaren Vortragsrecht (Immediatrecht)<br />
des ehemaligen „Feldherrn“ nichts mehr<br />
übriggeblieben. Diese Beispiele lassen sich fortsetzen<br />
und auf die protokollarische Rangfolge ausdehnen, in<br />
der vor Jahren der Generalinspekteur hinter Landessuperintendenten<br />
und Landesrabbinern stand (BMVg, Fü S<br />
I 3 vom 16. Februar 1984). Die unterbewertete Stellung<br />
der militärischen Führungsspitze war 1970 durch den<br />
sogenannten „Blankeneser Erlaß“ Helmut Schmidts<br />
festgeschrieben worden. Daran hat auch die Ersetzung<br />
durch den „Berliner Erlaß“, „Weisung zur militärischen<br />
Spitzengliederung“ vom 21. Januar 2005 von Verteidigungsminister<br />
Peter Struck nichts grundsätzlich geändert.<br />
Die Stimme des Soldaten wird, wie eine 50jährige<br />
Erfahrung lehrt, nicht ausreichend gehört. Das führt zu<br />
unsachgerechten und oft auch fehlerhaften sicherheitspolitischen<br />
Beurteilungen und Entscheidungen sowie<br />
gefährlichen Verzögerungen und Führungsmängeln.<br />
Dies ist natürlich längst erkannt, wird aber nicht grundsätzlich<br />
geändert, weil Vorurteile, politische Bedenken<br />
und nicht zuletzt eine Beamtenschaft, die mit großer<br />
und langjähriger ministerieller Erfahrung ihre Positionen<br />
gegen jeden Soldaten mit aller Macht verteidigt,<br />
dagegenstehen. Es ist zu befürchten, daß an diesen<br />
Gegebenheiten auch künftig jeder auch noch so gute<br />
Verteidigungsminister scheitert. Es genügt jedenfalls<br />
nicht, die Bundeswehr wieder einmal zu reformieren,<br />
wenn nicht gleichzeitig der politische und ministerielle<br />
Einfl uß der militärischen Führungsspitze erweitert und<br />
verbessert wird.<br />
7. Wehrrecht und andere Hausaufgaben<br />
Eine „Armee im Einsatz“ braucht wie andere demokratisch<br />
verfaßte Staaten auch ein Wehrrecht für den<br />
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
55
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
56<br />
Einsatz. Das bedeutet konkret, daß endlich eine funktionierende<br />
Militärgerichtsbarkeit zu schaff en ist, die den<br />
Einsatzbedingungen gerecht wird, mit den Soldaten<br />
lebt und das Geschehen vor Ort beurteilen kann. Die<br />
Tatsache, daß sich Soldaten für ihr Verhalten im fernen<br />
Ausland unter „kriegsähnlichen Verhältnissen“ vor einer<br />
zivilen Gerichtsbarkeit im friedlichen Heimatland<br />
rechtfertigen müssen, ist so absurd, daß der gesunde<br />
Menschenverstand sich wehrt, dies zu glauben. Wie weit<br />
sich die politische Klasse trotz allen Geschwafels über<br />
Innere Führung von ihrer Treuepfl icht nach Soldatengesetz<br />
gegenüber dem Soldaten bereits entfernt hat, kann<br />
man der Rede des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt<br />
anläßlich einer Großvereidigung in Berlin entnehmen.<br />
Darin rief er den angetretenen Soldaten sinngemäß<br />
zu, sie hätten das Glück, in diesem demokratischen<br />
Rechtsstaat niemals mißbraucht zu werden. Das war<br />
sehr freimütig.<br />
War es doch der Altbundeskanzler Helmut Schmidt,<br />
der zuvor den Krieg gegen das Jugoslawien des Herrn<br />
Slobodan Milosevic wiederholt mündlich und schriftlich<br />
in schöner Gemeinschaft mit Herrn Henry Kissinger als<br />
völkerrechtswidrig bezeichnet hatte. Da das Völkerrecht<br />
gemäß Artikel 25 GG Bestandteil des Bundesrechtes ist<br />
und den Gesetzen, also auch dem Soldatengesetz vorgeht,<br />
hat die Bundesregierung unsere an diesem Krieg<br />
beteiligten Soldaten off enbar mißbraucht.<br />
Dies und viele andere Ungereimtheiten, die allesamt<br />
darauf hindeuten, daß die politische Klasse ihre sicherheitspolitischen,<br />
besonders die verteidigungs- und militärpolitischen<br />
Hausaufgaben sträfl ich vernachlässigt,<br />
kann in etlichen, von Soldaten verfaßten Büchern nachgelesen<br />
werden. Sie hatten allesamt nicht die erhoff te<br />
Wirkung, dokumentieren jedoch, daß die Soldaten nicht<br />
immer geschwiegen haben, wie man es unseren Vätern<br />
in der Wehrmacht vorwirft. Beispielhaft sei hier an die<br />
Bücher von Generalmajor Gerd Schultze-Rhonhof „Wozu<br />
noch tapfer sein?“, Generalleutnant Dr. Franz Uhle-<br />
Wettler „Rührt Euch!“ und Generalmajor Gerd-Helmut<br />
Komossa „<strong>Deutschland</strong> Heute“, Eine kritische Bilanz,<br />
aber auch an das Buch des international erfahrenen<br />
und bewährten Generals Klaus Naumann: „Frieden – der<br />
noch nicht erfüllte Auftrag“, nachdrücklich erinnert.<br />
8. Kosten<br />
Die geplante Strukturreform hat ihren Preis. Berufs-<br />
und Zeitsoldaten, die vorzeitig entlassen werden,<br />
sind abzufi nden. Standorte, die geschlossen werden,<br />
verlieren viele Arbeitsplätze und Einkünfte durch die<br />
Bundeswehr. Eine „Streichliste“ in der Rüstung, etwa bei<br />
ganzen Programmen oder zum Beispiel bei Stückzahlen<br />
des Eurofi ghters, des Kampfhubschraubers Tiger,<br />
des Schützenpanzers Puma, der Aufklärungsdrohnen<br />
oder bei anderen Rüstungsprojekten ist nicht umsonst<br />
zu haben. Laufende Verträge und internationale<br />
Kooperationsabkommen können nicht ohne weiteres<br />
aufgekündigt werden. Zusätzlich ist zu bedenken, daß<br />
die Rüstungsindustrie ihre Forschungs-, Entwicklungs-<br />
und Erprobungskapazitäten nicht so einfach ab- oder<br />
aufbauen kann. Sind sie einmal mangels Aufträgen<br />
verloren gegangen, werden sie bei dem vorhandenen<br />
Fachkräftemangel in andere Industrien abwandern und<br />
sind für die heimische Rüstung verloren. Bundeswehrstrukturen<br />
müssen daher Planungssicherheit gewähren<br />
und langfristige Planung ermöglichen. Einsparungen<br />
werden erst nach Ablauf von mehreren Jahren wirksam.<br />
Reformen kosten meist zunächst zusätzliche Finanzmittel.<br />
Bei allen erforderlichen Kosten-Nutzenanalysen<br />
und den Konsequenzen daraus darf im übrigen nicht<br />
übersehen werden, daß jede wesentliche Verkleinerung<br />
der Bundeswehr zugleich auch eine Verringerung der<br />
Berufsaussichten und Aufstiegschancen ihrer Angehörigen<br />
mit sich bringt. Damit ist ein wesentliches Problem<br />
der Inneren Führung bzw. der Menschenführung<br />
verbunden: „Der Mensch im Mittelpunkt!“ Mangelnde<br />
Berufszufriedenheit dürfte sich sehr negativ auf den<br />
Geist der der Truppe auswirken.<br />
9. Si vis pacem para bellum<br />
Dieser prägnante und kluge Leitsatz der Römer kann<br />
frei für die heutige Zeit etwa so übersetzt werden:<br />
„Wenn du Sicherheit willst, betreibe vorsorglich<br />
Gefahrenabwehr.“<br />
Sicherheit und Recht sind die beiden Hauptaufgaben<br />
des Staates, nicht Wohlstand und Soziales. Vorsorge, Bereitschaft<br />
und Übung in der Gefahrenabwehr sind vordringlich<br />
und unabdingbar gegenüber allen anderen<br />
staatlichen Aufgaben. Nachlässigkeit und Versäumnis<br />
führen zur Wehrlosigkeit und diese zur Rechtlosigkeit.<br />
Der Wehrlose fordert Gefahren geradezu heraus. Mit<br />
Israelis braucht man darüber nicht zu diskutieren. Sie<br />
wissen das und erfahren es täglich neu. Die Deutschen<br />
sollten das ebenfalls gelernt haben. Sie verfügen nicht<br />
erst seit Kaiser Napoleon über reichhaltige Erfahrungen<br />
eigener Wehrlosigkeit und fremder Besatzungstruppen.<br />
Nach dem Waff enstillstand im Mai 1945, als die Sieger<br />
die Deutschen vollständig entwaffneten, waren sie<br />
sogar vogelfrei und nahezu rechtlos. Heute sind die<br />
unsicheren Zustände im Lande immerhin schon wieder<br />
soweit gediehen, daß Polizisten und Polizeiwachen, also<br />
Männer und Einrichtungen im hoheitlichen Auftrag,<br />
von marodierenden Banden gewaltsam angegriff en<br />
werden. Ruft da niemand: „Wehret den Anfängen“?<br />
Es ist Aufgabe der politischen Klasse, den Volkssouverän<br />
umfassend zu informieren, im Verein mit den<br />
Massenmedien eine öff entliche, bundesweite Diskussion<br />
in Gang zu setzen und das sicherheitspolitische<br />
Problembewußtsein des Volkes und seiner Institutionen<br />
zu schärfen. Das ständige öff entliche Gerede darum,<br />
der Bürger müsse mehr Geld in der Tasche haben und<br />
angesichts der wieder angelaufenen Konjunktur „etwas<br />
vom Kuchen abbekommen“, lenkt von den wirklichen
Problemen ab. Notwendig ist zunächst der Wille, dem<br />
Vaterland treu zu dienen und sich gegen die Gefahren<br />
für die Sicherheit des Landes und seiner Bürger zu<br />
wappnen. Ist die Gefahr einmal eingetreten, ist es leicht<br />
zu spät für durchschlagende Gegenmaßnahmen, ähnlich<br />
den jüngsten Flut- und Brandkatastrophen in Pakistan<br />
und Rußland. Es ist höchste Zeit zu handeln. Dabei<br />
verdient die Tatsache hohe Aufmerksamkeit, daß von<br />
„Heimatverteidigung“ überhaupt nicht mehr gesprochen<br />
wird. Merkwürdig ist auch, daß die Öff entlichkeit<br />
nahezu nichts darüber zu hören bekommt, wie sich die<br />
politische Führung die Modernisierung der Armee vorstellt.<br />
Ein „Kaputtsparen“ der Bundeswehr darf es nicht<br />
geben! Ihre Einsatzbereitschaft geht uns alle an! Ohne<br />
den unbeirrbaren Willen der politischen Klasse einerseits<br />
und die allgemeine Dienstbereitschaft des Volkes<br />
zur Gefahrenabwehr andererseits wird allerdings eine<br />
durchschlagende wirkliche Bundeswehrreform nicht zu<br />
haben sein. Der Staatsbürger ist aufgerufen und eine<br />
willensstarke politische Führung. Mehr denn je bleibt<br />
wünschenswert, daß der Verteidigungsminister dem<br />
Bundestag eines Tages melden kann: „Abwehrbereit!“<br />
*<br />
In Kaiser Theodosius tritt nach zahlreichen<br />
fremdstämmigen Herrschern am Ende des<br />
Reiches noch einmal und zum letzten Male<br />
ein Geblütsrömer an die Spitze des Staates.<br />
So sammelte der preußische Adel sich am<br />
Ende des Deutschen Reiches noch einmal im<br />
20. Juli 1944.<br />
*<br />
Die Gelehrten der Perser behaupten, an der<br />
Zwietracht zwischen den Hellenen und Barbaren<br />
seien die Phoiniker schuld … Ich selber will nicht<br />
entscheiden, ob es so oder anders gewesen ist … Ich<br />
weiß, daß menschliche Größe und Herrlichkeit nicht<br />
von Bestand ist, und darum will ich der Schicksale<br />
beider in gleicher Weise gedenken.<br />
Herodot<br />
*<br />
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
57
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
58<br />
Weder in den Taten oberfl ächlich und nachlässig sein,<br />
noch im Umgang mit anderen Verwirrung stiften, noch<br />
in den Vorstellungen ziellos umherschweifen, noch mit<br />
der Seele sich ganz und gar hinreißen lassen noch im<br />
Leben keine Muße haben.<br />
Sie töten uns, zerfl eischen uns, verjagen uns unter<br />
Verwünschungen. Was bedeutet dies im Verhältnis<br />
dazu, dass die Seele rein, klug und gerecht bleibt?...<br />
Entwickle dich selbst jeden Tag zu einer Unabhängigkeit<br />
hin, die verbunden ist mit Freundlichkeit, Einfachheit<br />
und Taktgefühl.<br />
Marcus Aurelius Wege zu sich selbst.8. Buch, Nr. 51
<strong>Deutschland</strong> - das Land<br />
der Deutschen und der Türken?<br />
von Stefan Hug 147·<br />
„Was, wenn die Mehrheit der Türken sich gar nicht integrieren<br />
will? (...) Wenn sie, von Erdogan dazu angespornt,<br />
türkische Schulen und Universitäten in <strong>Deutschland</strong> verlangt?<br />
Wenn sie eigene Parteien fordert und das Türkische<br />
als Amtssprache in Berlin-Kreuzberg?“ 148<br />
Mit diesen Worten beschrieb die „Frankfurter Allgemeine“<br />
Anfang 2008 ein diff uses Gefühl des Mißtrauens<br />
gegenüber den Türken in <strong>Deutschland</strong>. Wer mit off enen<br />
Augen und Ohren durch das Leben geht, konnte schon<br />
viele Jahre früher die bedenkliche Tendenz zu türkischen<br />
Parallelgesellschaften ausmachen. Diese Tendenz<br />
verdichtet sich in letzter Zeit mehr und mehr, und sie<br />
wird durch zwei Faktoren verstärkt: durch eine immer<br />
ungeniertere Einfl ußnahme der Türkei in <strong>Deutschland</strong><br />
und eine im Gegenzug immer schwächer und zögerlicher<br />
werdende Reaktion des deutschen Staates.<br />
Türkische Staatsgewalt auf deutschem<br />
Boden<br />
Die zahlenmäßige Dominanz der Türken unter den<br />
Muslimen und den verschiedenen nichtdeutschen Nationalitäten<br />
in der Bundesrepublik wird in den letzten<br />
Jahrzehnten zunehmend bekräftigt durch die Tatsache,<br />
daß ihnen der off ensiv auftretende türkische Staat an<br />
147 · Leicht veränderter Auszug aus dem im September <strong>2010</strong> publizierten<br />
Buch von Stefan Hug: „Migrantengewalt. Wie sich unser<br />
Staat selbst entmachtet.“ (Verlag Siegfried Bublies, 304 Seiten,<br />
19,80 Euro).<br />
148 „Frankfurter Allgemeine“ vom 12. Februar 2008<br />
die Seite tritt. Die Türken in <strong>Deutschland</strong> werden durch<br />
die Türkei unterstützt, die über die NATO bereits seit<br />
Jahrzehnten mit der Bundesrepublik in einem von der<br />
politischen Führung als überaus wichtig betrachteten<br />
Pakt verbunden ist. Außerdem ist die Türkei seit Jahrzehnten<br />
auch Anwärter zum Beitritt in die Europäische<br />
Union. Das unterscheidet die Türken wesentlich von den<br />
Arabern, die aus vielen verschiedenen Staaten kommen,<br />
deren politische Verbundenheit mit <strong>Deutschland</strong> weniger<br />
intensiv ist.<br />
Die Türkei hat eine stark wachsende Bevölkerung,<br />
die an Zahl jene der deutschen in den nächsten<br />
Jahren übertreffen wird – es wird mehr Türken als<br />
Bundesdeutsche geben, wobei sich bereits jetzt in der<br />
bundesdeutschen Bevölkerung ca. drei Millionen aus<br />
der Türkei stammende Menschen befi nden! Darunter<br />
zählen Hunderttausende türkische Staatsbürger kurdischer<br />
Ethnie; doch die kurdischen Verbände in der<br />
Bundesrepublik werden nicht von einem kurdischen<br />
Staat protegiert und haben deswegen kaum ein politisches<br />
Gewicht. Durch einen EU-Beitritt der Türkei<br />
würden langfristig Millionen Türken zusätzlich nach<br />
<strong>Deutschland</strong> kommen. Sie träfen auf eine türkische Infrastruktur,<br />
die es jetzt schon ermöglicht, sich innerhalb<br />
<strong>Deutschland</strong>s in einer rein türkischen Welt zu bewegen.<br />
Nichts würde sie dazu animieren, Deutsch zu lernen<br />
und sich den Sitten und Gebräuchen unseres Landes<br />
anzupassen. Während die geostrategische Bedeutung<br />
<strong>Deutschland</strong>s mit der Wiedervereinigung gesunken ist<br />
und die Bundesrepublik zum sicheren Hinterland der<br />
NATO wurde, ist jene der Türkei mindestens gleich stark<br />
geblieben bzw. sogar noch gewachsen. Das Ende des<br />
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
59
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
60<br />
Ost-West-Konfl ikts hat die Bedeutung des Bosporus<br />
minimiert, da nun nicht mehr die Gefahr besteht, daß<br />
sowjetrussische Marineverbände in das östliche Mittelmeer<br />
durchbrechen und den Suezkanal bedrohen<br />
könnten. Andererseits grenzt die Türkei an viele Staaten,<br />
die in den strategischen Planungen der USA eine bedeutende<br />
Rolle spielen (Irak, Iran, Syrien), weshalb sie<br />
auf Drängen Washingtons auch am Golfkrieg 1990/91<br />
teilnahm. Die Waff enbrüderschaft beim Golfkrieg 2003<br />
verweigerte die inzwischen islamistische Führung der<br />
Türkei trotz heftigen Werbens der USA mit Hinweis auf<br />
die muslimische Bevölkerung des Irak. Dennoch besitzt<br />
die Türkei immense strategische Bedeutung und<br />
beherbergt auf ihrem Boden große Militärbasen der<br />
USA, auf die das Pentagon nicht verzichten will. Syrien<br />
und der Iran stehen im Fadenkreuz Washingtons, und<br />
beide Staaten haben gemeinsame Grenzen mit der<br />
Türkei. Unter US-amerikanischer Ägide arbeiteten bis<br />
vor kurzem sogar israelisches und türkisches Militär<br />
einträchtig zusammen!<br />
Diese Schlüsselstellung wird zusätzlich durch die<br />
wachsende Bedeutung der Türkei im Energiesektor<br />
unterstrichen. Zwar verfügt sie über keine eigenen<br />
Energiequellen, fungiert aber in den strategischen<br />
Planungen der US-Amerikaner als „Energiekorridor“<br />
für Erdöl und Erdgas aus Zentralasien. Damit sollen<br />
Rußland, China und der Iran umgangen werden. Eine Öl-<br />
Pipeline vom aserbaidschanischen Baku in die türkische<br />
Hafenstadt Ceyhan wurde bereits 2006 fertiggestellt.<br />
Die „Nabucco“-Pipeline soll Erdgas bis nach Österreich<br />
bringen. Das würde den potentiellen politischen Einfl uß<br />
Ankaras verstärken; die türkische Führung hat bereits<br />
bekundet, daß mit dieser Stellung im Energiesektor die<br />
Europäische Union nicht mehr länger die Tür für eine<br />
Mitgliedschaft der Türkei verschlossen halten könne<br />
und im Gegenteil der Beitrittsprozeß beschleunigt<br />
werden muß - die Pipeline wird von Ankara für eine politische<br />
Erpressung benutzt, noch bevor sie gebaut ist! 149<br />
Diesen globalen strategischen Entwicklungen läuft<br />
eine wachsende Einfl ußnahme der Türkei in <strong>Deutschland</strong><br />
selbst parallel. Der türkische Regierungschef<br />
Erdogan rief unbekümmert in einer Massenversammlung<br />
in Köln die Türken in <strong>Deutschland</strong> dazu auf, sich<br />
nicht zu assimilieren. In einem Interview bekundete er<br />
gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen“, daß sogar<br />
die Türken mit deutscher Staatsbürgerschaft beiden<br />
Staaten gegenüber loyal sein sollen! 150 Das direkte<br />
staatliche Handeln der Türkei wird ergänzt durch die<br />
DITIB. Die meisten in <strong>Deutschland</strong> errichteten Moscheen<br />
entstehen in Trägerschaft der „Diyanet Isleri Türk<br />
Islam Birligi“. Diese ist letztlich nichts anderes als ein<br />
Anhängsel des türkischen Staates, weil sie dem „Präsidium<br />
für Religionsangelegenheiten“ untersteht, einer<br />
staatlichen Behörde der Türkei! Bezeichnenderweise<br />
149 „Der Standard“ vom 20. Januar 2009<br />
150 „Frankfurter Allgemeine“ vom 12. März 2008<br />
sind viele Moscheen der DITIB mit der türkischen Fahne<br />
geschmückt - falls die deutsche Flagge überhaupt<br />
verwendet wird, ist sie oft kleiner als die türkische oder<br />
hängt niedriger als diese. 151<br />
Der türkische Staat besoldet zudem die Imame, die<br />
nach <strong>Deutschland</strong> geschickt und regelmäßig nach<br />
wenigen Jahren ausgetauscht werden, damit sie nicht<br />
„verdeutschen.“ Schon in den neunziger Jahren wurde<br />
eine starke Beeinfl ussung der deutschen Innenpolitik<br />
durch die sich zuspitzende Kurdenproblematik off enkundig.<br />
Die Auseinandersetzungen zwischen Kurden<br />
und Türken führten dazu, daß die kurdische Separatistenorganisation<br />
PKK ihren Krieg gegen die Türkei<br />
nicht nur in Ostanatolien führte, sondern auf deutschen<br />
Boden verlagerte, etwa mit Anschlägen gegen türkische<br />
Konsulate. Zugleich wurden Abweichler in den eigenen<br />
Reihen ermordet oder mit dubiosen Methoden Geld<br />
unter den kurdischen Landsleuten eingetrieben. Das<br />
trug dazu bei, daß die PKK in der Bundesrepublik als<br />
terroristische Organisation eingestuft und 1993 verboten<br />
wurde. Gegen den Führer der PKK, Öcalan, wurde in<br />
der Bundesrepublik ein Haftbefehl erlassen. 1999 mußte<br />
Öcalan Syrien verlassen, da die Türkei dem südlichen<br />
Nachbarn damit gedroht hatte, den Zufl uß des lebenswichtigen<br />
Euphratwassers zu drosseln. Der deutsche<br />
Haftbefehl wurde akut, als Öcalan nach seinem Weggang<br />
aus Syrien weltweit Zufl ucht suchte. Anfang 1999<br />
wurde er in Rom von der Polizei festgenommen. Mit<br />
Italien besteht ein Auslieferungsabkommen, so daß er<br />
an die Bundesrepublik hätte überstellt werden müssen.<br />
Doch der Generalbundesanwalt verzichtete; die<br />
Italiener ließen ihn daraufhin wieder frei, wenig später<br />
wurde er in Kenia von türkischen Geheimdienstlern<br />
angeblich mit Hilfe des israelischen Geheimdienstes<br />
gekidnappt und in die Türkei gebracht. Daraufhin<br />
kam es abermals zu bürgerkriegsähnlichen Szenen in<br />
<strong>Deutschland</strong>. In Berlin wollten Kurden das israelische<br />
Generalkonsulat stürmen. Doch die israelischen Sicherheitskräfte<br />
eröff neten im Gegensatz zu den deutschen<br />
Bewachern, welche den Angriff nicht abhielten, ohne<br />
Zögern das Feuer und töteten vier der Kurden. 152 Dr.<br />
Hans Plattner, in den neunziger Jahren Botschafter<br />
der Republik Österreich in der Türkei, kommentierte<br />
von außen das Geschehen trocken mit den Worten:<br />
„Die Türken in <strong>Deutschland</strong> beeinfl ussen schon jetzt die<br />
deutsche Innenpolitik.“ 153<br />
Daß <strong>Deutschland</strong> Öcalan nicht haben wollte, ist verständlich:<br />
zu heftig wären die Auseinandersetzungen<br />
gewesen, die sich Türken und Kurden während eines<br />
Prozesses um ihn geliefert hätten. Wahrscheinlich hätte<br />
auch der türkische Staat mit allen ihm zur Verfügung<br />
stehenden Mitteln versucht, ein Urteil in Ankaras Sinne<br />
oder sogar die Auslieferung in die Türkei zu erzwingen.<br />
151 Vgl. den Bericht über die Ingolstädter Moschee auf der Netzseite<br />
von „Politically Incorrect“ vom 18. Mai 2008<br />
152 „Der Spiegel“ vom 1. Juni 1999<br />
153 Plattner, Die Türkei, Eine Herausforderung für Europa, S. 76
All diesen unbequemen Szenarien ging die politische<br />
Führung der Bundesrepublik aus dem Weg. Um so<br />
unverständlicher, daß sie die unveränderte Problemlage<br />
zwischen Türken und Kurden kurz darauf sogar<br />
„eindeutschte“, als sie Hunderttausenden türkischen<br />
Staatsbürgern (und damit auch Kurden) die deutschen<br />
Pässe förmlich hinterher warf.<br />
Innenminister Schäuble hatte 1990 mit der Neuordnung<br />
des Staatsangehörigkeitsrechtes dafür gesorgt,<br />
daß dessen strenge Kriterien gelockert wurden. So<br />
konnten von 1990 bis 1997, vor der rot-grünen Regierungsübernahme,<br />
bereits fast 166 000 Türken die deutsche<br />
Staatsbürgerschaft erlangen, durchschnittlich über<br />
20 000 pro Jahr, wogegen über die achtziger Jahre hinweg<br />
die jährliche Einbürgerungsrate der Türken noch<br />
im dreistelligen und niedrigen vierstelligen Bereich<br />
gelegen hatte. Doch diese Steigerung war der Türken-<br />
Lobby zu wenig, sie stieß sich vor allem am Widerstand<br />
der CDU gegen die doppelte Staatsbürgerschaft.<br />
Fünf Wochen vor der Bundestagswahl 1998 rief der<br />
liberalkonservative Ministerpräsident der Türkei, Mesut<br />
Yilmaz, dazu auf, nicht die CDU zu wählen, weil die<br />
Partei gegen die doppelte Staatsbürgerschaft und den<br />
EU-Beitritt der Türkei sei. Sogar die Opposition Yilmaz’<br />
in der Türkei unterstützte seine Forderung. Die CHP,<br />
das türkische Pendant zur SPD, verschickte an jeden<br />
einzelnen wahlberechtigten Türken in <strong>Deutschland</strong><br />
einen Brief mit der Auff orderung, die SPD zu wählen,<br />
insgesamt 160 000 Schreiben. Bei der Bundestagswahl<br />
votierten dann die Türken mit deutschem Paß zu 70%<br />
für die SPD und verhalfen Rot-Grün mit zum knappen<br />
Sieg. Seitdem werden die „Deutsch-Türken“ von allen<br />
großen Parteien, zunehmend auch der CDU/CSU, als<br />
Wähler umworben. Und die Masseneinbürgerung<br />
wurde daraufhin erst so richtig ausgeweitet: In den<br />
Jahren von 1998 bis einschließlich 2004, vor dem Beginn<br />
der zweiten Großen Koalition, wurden fast eine halbe<br />
Million Türken eingebürgert. Die generelle Akzeptanz<br />
der doppelten Staatsangehörigkeit konnte allerdings<br />
nicht durchgesetzt werden, da Roland Kochs Wahlsieg<br />
in Hessen 1999 die Mehrheit im Bundesrat zugunsten<br />
der Konservativen veränderte.<br />
So gestalteten sich die deutlich sichtbaren, aber<br />
kaum skandalisierten Zugriff e türkischer Staatsgewalt<br />
auf deutschen Boden. Anfang 2008 fanden sie einen<br />
bisher unerreichten Höhepunkt. Am 3. Februar 2008 forderte<br />
ein Brand in einem von Türken bewohnten Haus<br />
in Ludwigshafen neun Tote. Sofort wurde der Verdacht<br />
laut, daß Deutsche bzw. „Rechte“ den Brand gelegt<br />
hatten – dieser Verdacht wurde nach den Anschlägen in<br />
Mölln und Solingen in den neunziger Jahren praktisch<br />
institutionalisiert. Doch die Ermittlungen ergaben keine<br />
eindeutig bestimmbare Brandursache. Brandstiftung<br />
wurde schließlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit<br />
ausgeschlossen, wohl aber hatte einer<br />
der türkischen Mieter im Keller, wo der Brand ausbrach,<br />
illegal Strom abgezapft!<br />
Die Türkei schickte kurz nach dem Brand eigene Ermittler<br />
nach Ludwigshafen. Der deutsche Innenminister<br />
und damit oberste Chef der Bundespolizei, Wolfgang<br />
Schäuble, ließ dazu nichts anderes verlauten als „Das<br />
würden wir selbstverständlich begrüßen. Die türkische<br />
Regierung kann das tun, auch wenn wir wissen, daß<br />
das Mißtrauen gegenüber unseren Polizeibehörden<br />
unbegründet ist.“ 154<br />
Damit hat der deutsche Staat seine volle Souveränität<br />
auf dem eigenen Territorium freiwillig in Frage gestellt<br />
und vor allem einen verhängnisvollen Präzedenzfall<br />
geschaffen – in Zukunft wird jeder Brand mit Toten in<br />
einem von Türken bewohnten Haus auf deutschem Boden<br />
dazu führen, daß der türkische Staat mit Hinweis auf<br />
Ludwigshafen eigene Ermittler senden will und kann! In<br />
einer anderen Hinsicht aber konstituiert Ludwigshafen<br />
ebenfalls einen – positiven – Präzedenzfall. Erstmals ließ<br />
die deutsche Bevölkerung sich nicht mehr dazu hinreißen,<br />
ohne begründeten Verdacht in großen Massen<br />
gegen „Rechts“ zu protestieren und in Lichterketten<br />
gegen einen imaginierten Feind zu demonstrieren. Die<br />
offene Berichterstattung verschwieg nicht, daß Türken<br />
deutsche Feuerwehrleute beleidigt und sogar tätlich<br />
angegriffen hatten, weil diese angeblich zu spät am<br />
brennenden Haus erschienen waren. 155 Offensichtlich<br />
haben sich die Wahrnehmung und das Problembewußtsein<br />
der deutschen Bevölkerung seit Beginn der<br />
neunziger Jahre stark verändert. Die unzähligen Fälle<br />
von Migrantengewalt, die ungeahndet blieben bzw.<br />
nicht politisiert oder skandalisiert wurden, haben ihre<br />
Wirkung genausowenig verfehlt wie die sich häufenden<br />
Falschmeldungen über ausländerfeindliche Taten, z.B.<br />
im sächsischen Sebnitz.<br />
Türkische Wähler als Königsmacher<br />
Auf der politischen Ebene hat die Einbürgerung<br />
Hunderttausender von Türken das Phänomen hervorgebracht,<br />
daß dieser Klientel zunehmend eine wahlentscheidende<br />
Qualität zugesprochen wird. 156 Dabei<br />
üben sie, gemessen an ihrer Zahl, unverhältnismäßig<br />
viel Einfl uß aus. Die faktische Rolle türkischer Wähler<br />
als „Königsmacher“ erinnert dabei an die FDP in der<br />
Bundesrepublik, die über viele Jahre einem gefl ügelten<br />
Wort zufolge „mit 5 % der Wählerstimmen 50 % der<br />
Politik“ machte. Schon 1998 galten vielen die Wähler<br />
türkischer Herkunft als entscheidendes Zünglein an der<br />
Waage, bei der Bundestagswahl 2002 hat sich dieser<br />
Trend noch einmal verstärkt, wobei eine eindeutige<br />
Neigung der Türken zu linken Parteien festzustellen<br />
154 „Frankfurter Allgemeine“ vom 5. Februar 2008<br />
155 „Der Spiegel“ vom 6. Februar 2008<br />
156 „Süddeutsche Zeitung“ vom 4. September 2009<br />
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
61
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
62<br />
war und ist. 157 Die CDU-Führung verstand das als Signal,<br />
vermehrt um Türken zu werben, womit sie sich immer<br />
stärker von der Parteibasis entfernte.<br />
Die Ergebenheitsadressen deutscher Spitzenpolitiker<br />
betreff end die zukünftige Präsenz türkischstämmiger<br />
Politiker im politischen Leben <strong>Deutschland</strong>s scheinen<br />
sich in den letzten Jahren fast zu überschlagen: so<br />
prognostizierte Wolfgang Schäuble, Innenminister<br />
der CDU, einen türkischstämmigen Bundeskanzler. 158<br />
Gerhard Schröder, ehemaliger SPD-Bundeskanzler,<br />
sah zu Beginn des Jahres 2009 mindestens einen türkischstämmigen<br />
Minister im nächsten Kabinett. 159 Die<br />
Grünen glänzen seit November 2008, der Wahl Cem<br />
Özdemirs, bereits mit einer zur Hälfte türkischen Spitze<br />
ihres doppelköpfi gen Parteivorsitzes.<br />
Die Linkspartei duldet die Relativierung des Genozids<br />
an den Armeniern durch ihr Mitglied, den Bundestagsabgeordneten<br />
Hakki Keskin. 160 Die FDP wirbt zwar nicht<br />
speziell um türkische Migranten, weitet aber ihren Liberalismus<br />
so weit aus, daß sie inzwischen nichts mehr<br />
gegen den EU-Beitritt der Türkei einzuwenden hat.<br />
Hat diese FDP einstmals als Partei der Zahnärzte und<br />
Rechtsanwälte mit 5 % der Wählerstimmen 50 % der<br />
Politik gemacht, deutet sich bei der türkischen Minderheit<br />
ein noch krasseres Mißverhältnis an. Dadurch,<br />
daß fast alle Parteien explizit um sie buhlen, können<br />
sie im Zweifelsfall 100 % der Politik mit weniger als 3%<br />
der Gesamtbevölkerung bestimmen, wobei in diesen<br />
3 % die nichtdeutschen, türkischen Staatsbürger mit<br />
eingerechnet sind. Die Bildung einer türkisch/muslimischen<br />
Partei, von vielen als „Worst-case“-Szenario an<br />
die Wand gemalt, wäre dagegen nur halb so schlimm.<br />
Eine solche Partei stünde einzig als Indiz dafür, daß<br />
die Türken bereits in solchen Massen vorhanden sind,<br />
daß sie sich – neben der Einfl ußnahme auf deutsche<br />
Parteien – eine „eigene“ Partei leisten könnten. Der<br />
schlimmste aller Fälle ist aber bereits mit dem Einfl uß<br />
auf eigentlich alle deutschen Parteien im Bundestag<br />
längst eingetreten …<br />
Diese fatale Entwicklung war klar vorhersehbar.<br />
Schon zu Beginn der achtziger Jahre warnte der Rechtswissenschaftler<br />
Quaritsch vor einer Masseneinbürgerung<br />
von Ausländern, ohne diese zuvor ausreichend<br />
assimiliert zu haben.<br />
„Gäbe es aber (...) eine relevante Wählergruppe türkischer<br />
Abstammung, dann stiege dieses Problem 161 zu<br />
einem Wahlkampfthema von hohem Rang auf. Da das<br />
bürgerliche und das sozial-liberale Lager fast gleich<br />
stark sind, würde der Mechanismus der Entscheidung<br />
durch Nichtentscheidung in Gang gesetzt, den wir aus<br />
157 „Süddeutsche Zeitung“ vom 4. September 2009<br />
158 „Focus“ vom 19. November 2008<br />
159 „Süddeutsche Zeitung“ vom 28. Januar 2009<br />
160 „junge welt“ vom 9. März 2006<br />
161 (Quaritsch bezieht sich auf die Freizügigkeit von Türken innerhalb<br />
Europas)<br />
allen Ländern nördlich der Alpen kennen, in denen<br />
die Wähler ebenso gleichgewichtig verteilt sind. Wo<br />
300 000 Stimmen die Frage beantworten können, wie<br />
der nächste Regierungschef heißt, dürfen auch kleine<br />
Minderheiten nicht vor den Kopf gestoßen werden.<br />
Objektiv notwendige Entscheidungen oder programmatische<br />
Aussagen dieser Art werden unterlassen, um<br />
die Macht zu erhalten oder die Macht zu erwerben. (...)<br />
Welche Partei riskierte dann den allfälligen Verdacht<br />
der Türken- und Fremdenfeindschaft (...)? Vor allem:<br />
welche Partei riskiert den Verzicht auf die Wähler dieser<br />
Gruppe? (...) Wie dem auch sei: Die Einbürgerung nicht<br />
assimilierter ethnischer Gruppen schlägt unmittelbar<br />
durch auf Innen- wie Außenpolitik.“ 162<br />
Die Präsenz türkischstämmiger Politiker in der<br />
deutschen Politik soll nach Ansicht von „Integrationsexperten“<br />
und der türkischen Interessenverbände die<br />
Gleichberechtigung und Emanzipation der türkischen<br />
Volksgruppe in der Bundesrepublik symbolisieren, in<br />
Augen der (noch) deutschen Führungselite steht sie<br />
stellvertretend für die „multikulturelle Gesellschaft“ an<br />
sich. Daß diese Kooptation zwar die Repräsentation<br />
innerhalb der Politik verändert, jedoch keine wirkliche<br />
Basis bei den Deutschen hat, wird nicht begriff en. Der<br />
Akt der Kooptation selbst läßt sich als Alibi der Eliten<br />
verstehen und ist für diese nicht weiter gefährlich, wenn<br />
die Zahl und die Macht der Kooptierten einen gewissen<br />
Grad nicht überschreiten. Selbst die Grünen verweigerten<br />
Özdemir ein sicheres Bundestagsmandat und lassen<br />
damit erkennen, daß sie außer dem Vorstandsvorsitz für<br />
ihren „Vorzeige-Türken“ keine weitere Macht türkischer<br />
Personen dulden.<br />
Anders als die USA haben wir in der Bundesrepublik<br />
kein Amalgam, das verschiedene Völker und Rassen<br />
zusammenschweißt, wie es der beständige Verweis auf<br />
den sozialen Aufstieg und die beständige Beschwörung<br />
der Nation im Alltag jenseits des Atlantiks konkretisiert.<br />
Die Führung der Bundesrepublik ist auf dem Wege – im<br />
krampfhaften Versuch, multikulturelle US-Muster zu<br />
kopieren – das eigene Volk zu vergessen, einen Staat<br />
ohne Staatsvolk zu repräsentieren. Dabei spricht das<br />
Grundgesetz explizit und nur vom „deutschen Volk“,<br />
von keiner anderen Volksgruppe. Sollten die Eliten<br />
der Bundesrepublik der Meinung sein, dieses vermischen<br />
zu können oder auch nur dem deutschen Volk<br />
eine „türkische Volksgruppe“ beizugesellen, sei ihnen<br />
empfohlen, dies schnellstmöglich in das Grundgesetz<br />
einzubringen - um so mehr, da ja inzwischen in allen<br />
Parteiführungen, selbst der Union, ein Konsens dafür<br />
besteht. Ein solcher Schritt würde jenen Deutschen,<br />
die anderer Meinung sind, die Gelegenheit geben, sich<br />
eindeutig zu positionieren.<br />
162 Quaritsch, Einwanderungsland Bundesrepublik <strong>Deutschland</strong>?,<br />
S. 64–65
Ankara regiert mit<br />
Der überproportionale politische Einfluß einer<br />
ethnisch-religiös defi nierten Wählergruppe ist nur eine<br />
Seite des Problems. Verschärfend kommt hinzu, daß<br />
ein türkischer Staat existiert, der diese Gruppe immer<br />
noch als seine Untertanen ansieht, selbst wenn sie die<br />
deutsche Staatsbürgerschaft besitzt – so äußerte sich,<br />
wie bereits erwähnt, der türkische Ministerpräsident<br />
im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen“ dahingehend,<br />
daß auch die Türken mit deutschem Paß der<br />
Türkei gegenüber loyal sein sollen. In diesem Interview<br />
lud er zudem die Bundeskanzlerin Merkel ein, mit ihm<br />
zusammen auf einer Veranstaltung wie in der Köln-<br />
Arena, in welcher Erdogan seine berüchtigte Rede hielt,<br />
aufzutreten. Süffi sant schrieb die „Frankfurter Allgemeine“<br />
dazu: „Erdogan lädt Merkel nach <strong>Deutschland</strong> ein.“ 163<br />
Wie die Staatsführung der Türkei die türkische<br />
Minderheit in <strong>Deutschland</strong> betrachtet, darüber geben<br />
folgende Sätze Auskunft: Angesichts der bestehenden<br />
Interessengegensätze in den Beziehungen zu <strong>Deutschland</strong><br />
muß die Türkei ein selbstverständliches Interesse daran<br />
haben, die türkische Bevölkerungsgruppe als strategisches<br />
außenpolitisches Instrument einzusetzen. Dies erfordert<br />
unausweichlich das Ziel, die Gruppe zu mobilisieren und<br />
zu politisieren, die dann als organisierte Minderheit in die<br />
Politik der Bundesrepublik eingreift. 164<br />
Der türkische Ministerpräsident Erdogan hat diese<br />
Analyse einer „deutsch-türkischen“ Akademikerin in<br />
seiner Kölner Rede bestätigt, einen Machtanspruch der<br />
Türken in <strong>Deutschland</strong> zugunsten der Türkei geradezu<br />
eingefordert und dabei indirekt auf die armenische<br />
Lobby in den USA als Vorbild angespielt. Das türkische<br />
Staatsoberhaupt sprach gegenüber den in <strong>Deutschland</strong><br />
lebenden, zu einem nicht geringen Teil über deutsche<br />
Pässe verfügenden Türken von „unseren Interessen“.<br />
Dieser klar ausgesprochenen Vereinnahmung kommt<br />
eine zunehmende „Hüter-Stellung“ des türkischen<br />
Staates seit den neunziger Jahren hinzu.<br />
Indem er sich in vielen praktischen Dingen als Fürsprecher<br />
der türkischen Minderheit einsetzt, will er die<br />
Türken auf deutschem Boden, auch die mit deutschem<br />
Paß, dauerhaft an sich binden.<br />
„In der Tat hat die türkische Politik und Diplomatie<br />
in den Verhandlungen mit der deutschen Regierung in<br />
den letzten Jahren die Belange ihrer Staatsangehörigen<br />
verstärkt thematisiert. Die türkischen Forderungen<br />
konzentrierten sich vor allem auf Themen wie Staatsangehörigkeitsfrage,<br />
wachsende Ausländerfeindlichkeit<br />
und Bildungspolitik. Für die politischen Verantwortungsträger<br />
in Ankara ist ein resoluter Einsatz für die<br />
vielschichtigen Probleme ihrer Bürger nicht nur eine<br />
moralische Verpfl ichtung, sondern sie liegt auch im<br />
staatlichen Eigeninteresse. Die Fähigkeit der Türkei, den<br />
Erwartungen der <strong>Deutschland</strong>-Türken entsprechende<br />
Dienstleistungen zu erbringen, werden die Bindung an<br />
163 „Frankfurter Allgemeine“ vom 13. März 2008<br />
164 Atilgan, Türkische Diaspora in <strong>Deutschland</strong>, S. 169<br />
sie stärken und folglich die Motivation und die Bereitschaft<br />
steigern, sich in der bundesdeutschen Politik für<br />
die Türkei einzusetzen.“ 165<br />
Die staatliche Führung der Türkei mischt sich also<br />
immer stärker und ungenierter in die deutsche Innenpolitik<br />
ein. Irrig ist die Vorstellung, sie täte das erst seit<br />
kurzem, um ihre Staatsbürger auf deutschem Boden<br />
vor Anfeindungen zu schützen. Bereits in den achtziger<br />
Jahren gab es Vorstöße aus Ankara, kurdischen Vereinen<br />
in <strong>Deutschland</strong> den Gebrauch der kurdischen Sprache<br />
zu verbieten!<br />
Die Einmischungen zeugten sich unverändert fort,<br />
denn ein Staat, der solchen Interventionen keine<br />
klare Grenze setzt, muß sich nicht über immer weiter<br />
gehendere Forderungen wundern. Im Bundesland<br />
Brandenburg ist seit 2002 der Völkermord der Osmanen<br />
an den Armeniern fakultativer Bestandteil des Lehrplans<br />
in Geschichte. Zu Beginn des Jahres 2005 nahm<br />
die Regierung in Potsdam auf Grund eines Vorstoßes<br />
des türkischen Generalkonsuls den Genozid aus dem<br />
Lehrplan. Sogar die linke „taz“ empörte sich darüber<br />
und bezeichnete dies als feigen und servilen Akt der<br />
Selbstzensur des brandenburgischen Ministerpräsidenten<br />
Matthias Platzeck. 166<br />
Auf Grund des starken Protests aus armenischen<br />
Kreisen, der evangelischen Kirche in Brandenburg, aber<br />
auch von Personen des öff entlichen Lebens wurde der<br />
Schritt rückgängig gemacht und der Völkermord wieder<br />
in den Lehrplan aufgenommen.<br />
Doch die Türken-Lobby läßt nicht locker und zeigt,<br />
wie das Muster in Zukunft aussehen wird: nicht mehr<br />
der türkische Staat selbst, sondern Mitglieder der<br />
Türken-Lobby melden sich zu Wort und werden über<br />
ihre Vertretungsmacht den türkischen Staat wirken<br />
lassen. Der Vorsitzende der „Türkischen Gemeinde in<br />
<strong>Deutschland</strong>“, Kenan Kolat, forderte 2009 erneut die<br />
Streichung des Genozids aus dem brandenburgischen<br />
Lehrplan, unter anderem mit der Begründung, das<br />
Thema setze die türkischstämmigen Schüler unter<br />
„psychologischen Druck“. Wie viele bzw. wie wenige<br />
türkischstämmige Schüler es in diesem mitteldeutschen<br />
Bundesland überhaupt gibt, erwähnte er nicht. Die<br />
„Frankfurter Allgemeine“ schrieb dazu, daß es Kolat<br />
„wohl weniger um das Wohlergehen der türkischen<br />
Schüler, als vielmehr um die Interessenwahrung des<br />
türkischen Staates geht.“ 167<br />
Die Einfl ußnahme steigert sich, wenn die deutsche<br />
Exekutive – quasi in vorauseilendem Gehorsam – in<br />
die Türkei reist, um den Zuspruch der türkischen Regierungsstellen<br />
auf Türken in <strong>Deutschland</strong> zu erbitten.<br />
2008 reiste der Arbeitsminister Nordrhein-Westfalens,<br />
Karl-Josef Laumann, nach Ankara. Einziger Zweck<br />
165 Atilgan, Türkische Diaspora in <strong>Deutschland</strong>, S. 172–173<br />
166 „taz“ vom 26. Januar 2005<br />
167 „Frankfurter Allgemeine“ vom 7. August 2009<br />
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
63
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
64<br />
seines Besuchs: er wollte die jungen Türken in seinem<br />
Bundesland dazu animieren, Berufsausbildungen zu<br />
machen, um so der Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken.<br />
Warum er sich dafür in die Türkei begab, sich mit seinem<br />
türkischen Amtskollegen traf und sein Anliegen<br />
nicht vor Ort an der Ruhr propagierte? „Viele türkische<br />
Familien bei uns hören eben immer noch mehr auf die<br />
türkische Obrigkeit als auf die deutsche.“ 168 Wieso sollte<br />
sich die offen ausgesprochene und praktizierte Politik<br />
der Türkei, türkische Volksgruppen in fremden Staaten<br />
massiv zu bevorteilen und zu instrumentalisieren bzw.<br />
zu „schützen“, nicht auch auf die Bundesrepublik erstrecken?<br />
Nur, weil <strong>Deutschland</strong> historisch nicht zum Siedlungsraum<br />
des Osmanischen Reiches gehörte? Durch<br />
die Intervention türkischen Militärs wurde 1974 die Insel<br />
Zypern geteilt und seitdem eine massive Ansiedlung<br />
von Festlandtürken betrieben; die türkische Staatsführung<br />
hat 2003 im Norden des Irak Truppen stationiert;<br />
nicht allein mit der Begründung, kurdische Separatisten<br />
zu bekämpfen, sondern auch turkmenische Minderheiten<br />
in diesem Gebiet zu schützen. Ankara hat über viele<br />
Jahrzehnte die Diskriminierung der türkischen Minderheit<br />
im griechischen Thrakien beklagt, im eigenen Land<br />
aber eine weitaus härtere Verfolgung der griechischen<br />
Minderheit betrieben, so daß diese in den fünfziger<br />
und sechziger Jahren größtenteils auswanderte. Die<br />
nach dem Ende des Kommunismus 1989 in Bulgarien<br />
entstandene „Bewegung für Rechte und Freiheiten“<br />
fungiert praktisch als Partei der türkischen Minderheit<br />
in Bulgarien, und Gerüchte wollen nicht verstummen,<br />
daß sie über versteckte Kanäle vom türkischen Staat<br />
subventioniert wird.<br />
Die deutschen Politiker denken wahrscheinlich<br />
immer noch, daß sie in Ankara einen Sonderstatus besitzen.<br />
Das trifft zwar zu, aber in völlig anderer Hinsicht,<br />
als sie es begreifen – der politische und ökonomische<br />
Status der Bundesrepublik ist nämlich weitaus höher<br />
einzuschätzen als der von kleinen und korrupten Balkanstaaten.<br />
In keiner Weise wird die Türkei deshalb davon absehen,<br />
ihre Minderheit hierzulande nicht für ihre Zwecke<br />
zu instrumentalisieren – dazu ist das Potential des<br />
möglichen Gewinns viel zu verlockend. Die Türkei wird<br />
eher danach trachten, ihre Landsleute auf deutschem<br />
Boden noch viel stärker zu vereinnahmen als jene in<br />
ihren unmittelbaren Nachbarstaaten – das ist der besondere<br />
Status <strong>Deutschland</strong>s in den Augen der türkischen<br />
Regierungen gleich welcher Couleur!<br />
Eine militärische Intervention ist nicht möglich, deshalb<br />
spielt man unter anderem virtuos auf der Klaviatur<br />
der Geschichtspolitik, um Druck auf die Deutschen und<br />
indirekt auch auf die Türken auf deutschem Boden<br />
auszuüben. Ein türkischer Generalkonsul in Nordrhein-<br />
Westfalen warnte 2008 im Gespräch mit oppositionellen<br />
türkischen Gruppierungen davor, auf den Schutz der<br />
168 „WAZ“, 28. November 2008<br />
Türkei zu verzichten – die Deutschen hätten braunes<br />
Blut in ihren Adern und würden im Zweifelsfall die<br />
Türken so behandeln wie die Juden im Dritten Reich. 169<br />
Hat die Regierung Kohl noch de facto den Zugang<br />
der Türkei nach Europa verschleppt, aber gegenüber<br />
Ankara das Gegenteil behauptet, bietet sich nun mit der<br />
zunehmenden Präsenz türkischstämmiger Politiker in<br />
<strong>Deutschland</strong> die Gelegenheit, über das wirtschaftsstarke<br />
<strong>Deutschland</strong> positiv auf die Beitrittsverhandlungen<br />
der Europäischen Union Einfl uß zu nehmen. Gerade in<br />
dieser Frage gibt es keine streng nach Parteien gegliederte<br />
Meinungsvielfalt der türkischstämmigen Funktionäre,<br />
sondern einen quasi „alltürkischen“ Konsens. So<br />
sprechen sich Bülent Arslan und Emine Demirbüken-<br />
Wegner, beide Funktionsträger innerhalb der CDU,<br />
vehement gegen das (noch) propagierte Modell der<br />
„Privilegierten Partnerschaft“ ihrer Partei aus und<br />
befürworten uneingeschränkt den Beitritt der Türkei!<br />
Der türkische Staat als hineinregierender und<br />
mitregierender Faktor in <strong>Deutschland</strong> wird weiter an<br />
Bedeutung zunehmen. Beide Seiten – Ankara und die<br />
sogenannten „Deutsch-Türken“ bzw. deren Interessenvertreter<br />
– arbeiten darauf hin. Ein maßgeblicher Teil der<br />
„Deutsch-Türken“ betrachtet die Türkei nach wie vor als<br />
hauptsächlichen Bezugspunkt ihres Lebens, selbst bei<br />
langdauerndem Aufenthalt in <strong>Deutschland</strong>. Vor allem<br />
vom Beitritt zur Europäischen Union versprechen sich<br />
beide Seiten ungeheure Vorteile. Für die „Deutsch-<br />
Türken“ ohne deutschen Paß hierzulande würde sich<br />
mit dem Status als EU-Bürger einiges verbessern, sie<br />
könnten z.B. frei innerhalb der EU reisen. Die Türkei<br />
sähe sich außenpolitisch aufgewertet und einen uralten<br />
Minderwertigkeitskomplex besänftigt, da sich ihre<br />
Führungsschicht seit Atatürks Zeiten geistig zu Europa<br />
zählt - allerdings nimmt die islamische Orientierung zur<br />
Zeit deutlich zu. Für die Pragmatiker in Ankara ist dies<br />
kein Widerspruch, sie schielen neben der symbolischen<br />
Aufwertung vor allem auf die materiellen Vorteile etwa<br />
in Form von Wirtschaftshilfen. So oder so: wie mit einer<br />
Nabelschnur ist die türkische Minderheit in <strong>Deutschland</strong><br />
mit der Türkei verbunden, und alles deutet darauf<br />
hin, daß die Nabelschnur zukünftig nicht durchtrennt,<br />
sondern von zusätzlichem Blut durchpulst wird. Der<br />
Orientalist Raddatz bringt es auf den Punkt: „Sprache,<br />
Familiennachzug, Reisen in die Heimat, türkisches<br />
Fernsehen, Besuche türkischer Politiker verdichten sich<br />
zu einer mentalen – und fi nanziellen – Nabelschnur.<br />
Durch sie schiebt sich die Türkei biologisch und geistig<br />
nach <strong>Deutschland</strong> vor und macht aus einer simplen<br />
Anwesenheit eine politische Einheit.“ 170<br />
Es sind im wesentlichen zwei Punkte, die ein beständiges<br />
und fast direktes Mitregieren Ankaras in der<br />
169 „Frankfurter Rundschau“ vom 28. April 2009<br />
170 Raddatz, Die türkische Gefahr?’ S. 224-225
deutschen Politik wahrscheinlich machen. Erstens ist es<br />
nach wie vor Strategie des türkischen Staates, die doppelte<br />
Staatsbürgerschaft von „Deutsch-Türken“ möglich<br />
zu machen bzw. als anerkannte Praxis zu etablieren.<br />
Die Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft ist in<br />
der Bundesrepublik zwar bei vielen anderen Staaten<br />
akzeptiert, wird aber zum Ausnahmefall, wenn allein<br />
die Zahl der möglichen Doppelstaatler aus der Türkei<br />
die Doppelstaatler aller anderen Nationen in der<br />
Bundesrepublik weit übersteigt – und weil viele dieser<br />
Doppelstaatler in ihrer Loyalität faktisch der Türkei den<br />
Vorrang geben.<br />
Zweitens existiert die DITIB, die letztlich nichts<br />
anderes ist als eine staatliche Behörde der Türkei,<br />
ursprünglich geschaff en in der Absicht, islamistische<br />
Bestrebungen zu unterbinden, spätestens mit der<br />
Machtergreifung der AKP in der Türkei selbst im Ruch,<br />
Islamisierung zu betreiben.<br />
Minderheitenstatus und Türkisch als<br />
Amtssprache<br />
Die Türken haben sich bereits „Türken-Ghettos“ auf<br />
deutschem Boden geschaffen, aber die Träume ihrer<br />
Funktionäre und Fürsprecher gehen noch weiter. Sie<br />
wollen für die Türken den Status einer anerkannten<br />
Minderheit erreichen, also Volksgruppenrechte für die<br />
Türken auf deutschem Boden. So drückt es Atilgan aus:<br />
„Für den Status der Türken in <strong>Deutschland</strong> ist die Defi<br />
nition des Hohen Kommissars der OSZE für Nationale<br />
Minderheiten als eine Gruppe „mit eigener Identität, die<br />
sich deutlich von der Identität der Mehrheit der Bevölkerung<br />
unterscheidet, darüber hinaus den dringenden<br />
Wunsch hat, die Identität zu behalten oder sogar zu festigen<br />
und/oder die Empfehlung der Parlamentarischen<br />
Versammlung des Europarates Nummer 1201 aus dem<br />
Jahr 1993 am aussagekräftigsten. Allerdings ist dieses<br />
Dokument nicht juristisch bindend, da die Versammlung<br />
nur empfehlen kann. Dieser Text defi niert eine Gruppe<br />
dann als nationale Minderheit, wenn sie eigenständige<br />
ethnische, kulturelle, religiöse oder sprachliche Merkmale<br />
aufweist, wenn sie hinreichend groß ist sowie den<br />
Willen hat, ihre Identität zu erhalten. Zusätzlich heißt<br />
es, die Angehörigen dieser Gruppe müßten mit dem<br />
betreffenden Staat langdauernd, fest und bleibend<br />
verbunden sowie dessen Staatsbürger sein.<br />
Nach dieser Defi nition befi ndet sich die türkische<br />
Bevölkerungsgruppe in <strong>Deutschland</strong> auf dem Weg<br />
zur Bildung einer Minorität. Sie hat die erforderlichen<br />
‚spezifi schen Eigenschaften‘, und ihr Vereinsleben zeigt<br />
den Willen zu ihrer Erhaltung. Ebenso ist die Gruppe<br />
hinreichend groß. Das letzte Kriterium der lang dauernden<br />
Präsenz ist zwar nicht genau defi niert, wird sich<br />
aber im Laufe der Zeit selbst erfüllen. Die relativ geringe<br />
Einbürgerungsquote der Türken in <strong>Deutschland</strong> war u.<br />
a. in der rechtlichen und konzeptionellen Geschlossenheit<br />
der deutschen Staatsangehörigkeit begründet, mit<br />
der Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes wird<br />
die Zahl der Einbürgerungen von türkischen Staatsbürgern<br />
jedoch voraussichtlich erheblich steigen. Das<br />
Zentrum für Türkeistudien rechnet auf der Grundlage<br />
von Hochrechnungen im Jahre 2003 mit 900 000 deutschen<br />
Staatsbürgern türkischer Abstammung. Es ist also<br />
durchaus davon auszugehen, daß es auf lange Sicht in<br />
<strong>Deutschland</strong> eine türkische Minderheit geben wird.“ 171<br />
Betrachtet man die gegenwärtig existierenden Minderheitenrechte<br />
in <strong>Deutschland</strong>, dann stellt man fest, daß<br />
es sich sowohl zahlenmäßig als auch gesamtpolitisch<br />
um marginale Erscheinungen in der Bundesrepublik<br />
handelt. Sorben in Brandenburg/Sachsen und Dänen<br />
in Schleswig-Holstein stellen selbst in ihren jeweiligen<br />
Bundesländern nur einen kleinen Teil der Bevölkerung;<br />
Schleswig-Holstein, Brandenburg und Sachsen<br />
sind zudem Länder mit zahlenmäßig schwacher Bevölkerung<br />
– deswegen auch geringer Bedeutung im<br />
Bundesrat – und ohne großes ökonomisches Gewicht.<br />
Sie beherbergen außerdem keine repräsentativen Millionenmetropolen.<br />
Wenn den Türken in <strong>Deutschland</strong> in absehbarer<br />
Zeit, nur auf Grund ihres drängenden Forderns und<br />
aus Angst vor einem Bürgerkrieg, Minderheitenrechte<br />
zugestanden würden, hätte dies dagegen unabsehbare<br />
Folgen für die territoriale Integrität der Bundesrepublik.<br />
Das sind keine Horrorszenarien von Rechtsradikalen,<br />
sondern logische Folgerungen aus der Geschichte jener<br />
Länder, in denen sich eine große türkische Minderheit<br />
befi ndet, die die Gesamtpolitik des Landes beeinfl ussen<br />
will – so etwa in Zypern vor 1974. Jeder anfangs höfl ich<br />
ausformulierte Anspruch auf „Partizipation“ wird auf<br />
Grund der historischen Erfahrung und dem Anspruchsdenken<br />
vieler Türken/Muslime – nämlich Herrschaft<br />
über Christen auszuüben – langfristig zumindest in<br />
der Forderung nach einem Sonderstatus für die eigene<br />
Volksgruppe, wahrscheinlich aber in bürgerkriegsähnlichen<br />
Zuständen enden. So prophezeit es Peter Scholl-<br />
Latour für <strong>Deutschland</strong> bei einer weiteren Zunahme der<br />
Muslime und einem Beitritt der Türkei zur Europäischen<br />
Union: „Die „multikulturelle“ Utopie weltfremder Ideologen<br />
liefe Gefahr, in Mord und Totschlag, in off enen<br />
Bürgerkrieg einzumünden.“ 172<br />
Es sei daran erinnert, daß die Türken auf Zypern in<br />
den sechziger Jahren ca. 30% der Sitze im Parlament<br />
zugestanden bekamen, obwohl sie nur 20% der<br />
Bevölkerung der Mittelmeerinsel stellten, zusätzlich<br />
garantierte die Verfassung ihnen ein Vetorecht, welches<br />
sie so exzessiv nutzten, daß Zypern unregierbar<br />
wurde. Da es im Gegensatz zu Dänen und Sorben keine<br />
historisch abgegrenzten Siedlungsgebiete von Türken<br />
in <strong>Deutschland</strong> gibt, würde die Türken-Lobby selbstverständlich<br />
versuchen, diese Volksgruppenrechte<br />
auf breitestmöglicher Ebene, nämlich bundesweit, zu<br />
verankern. Selbst wenn dies scheitern würde, wäre<br />
eine Verwurzelung von Sonderrechten in bestimmten<br />
171 Atilgan, Türkische Diaspora in <strong>Deutschland</strong>, S. 95<br />
172 Scholl-Latour, Allahs Schatten über Atatürk, S. 308<br />
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
65
2. Teil <strong>Deutschland</strong> und die Welt<br />
66<br />
Bundesländern und eine starke Beeinflussung der<br />
Bundespolitik immer noch möglich. Die zahlenmäßig<br />
größte türkische Gruppe lebt in Nordrhein-Westfalen,<br />
einem Land mit ökonomischer Potenz und Stärke im<br />
Bundesrat, da es über die höchste Einwohnerzahl aller<br />
Bundesländer verfügt. Die Zentrale der DITIB befi ndet<br />
sich ebenfalls dort. Dazu gesellen sich die besonders<br />
rührigen Gruppen der Türken-Lobby in solchen Metropolen<br />
wie Berlin, Hamburg und Köln, das ebenfalls in<br />
Nordrhein-Westfalen liegt. <strong>Deutschland</strong> würde einen<br />
binationalen Charakter bekommen, es wäre das Land<br />
der Deutschen und der Türken!<br />
Die sich jetzt bereits deutlich abzeichnenden Tendenzen<br />
in den „Türken-Ghettos“ weisen darauf hin, daß<br />
diese potentiellen Enklaven einen prinzipiell anderen<br />
Charakter besitzen, als etwa das sorbisch und dänisch<br />
besiedelte Gebiet. In Bautzen, Lübbenau und Flensburg<br />
käme niemand auf die Idee, die Hoheit des deutschen<br />
Staates in Frage zu stellen oder das Gewaltmonopol<br />
deutscher Polizisten anzuzweifeln. Mit einer staatsrechtlichen<br />
Emanzipation der „Türken-Ghettos“ hätten<br />
wir tatsächlich Enklaven in <strong>Deutschland</strong>, die sich nicht<br />
nur sprachlich, sondern auch religiös und kulturell gravierend<br />
vom deutschen Siedlungsgebiet unterscheiden<br />
würden – mit einer Tendenz zur Ausbreitung durch<br />
zunehmende Einwanderung aus Anatolien und zur<br />
„Protektion“ durch Ankara.<br />
Die mögliche Einführung von Türkisch als Amtssprache<br />
muß nicht unbedingt mit der Einführung von<br />
Volksgruppenrechten einhergehen, sondern hat einen<br />
eigenständigen Charakter. Seit Jahren versuchen Funktionäre<br />
der Türken-Lobby und ihre Parteigänger unter<br />
den Deutschen, die türkische Sprache aufzuwerten, obwohl<br />
diese international keinen Stellenwert besitzt. Die<br />
Absicht ist klar: das Manko der Türken, eine im weltweiten<br />
Maßstab unbedeutende Sprache als Muttersprache<br />
zu haben, soll durch die Anerkennung des Türkischen<br />
im deutschen Schul- und Bildungsbetrieb kompensiert<br />
werden. Eine Einführung von Türkisch als Amtssprache,<br />
von einer allgemeinen Einführung von Türkisch in<br />
Schulen befördert, würde aber die Chance einer jetzt<br />
schon ungewissen Integration durch Spracherwerb<br />
massiv verschlechtern. Es bestünde dann nicht mehr der<br />
geringste Anreiz, die deutsche Sprache zu erlernen und<br />
gut zu beherrschen. Die Bildung türkischer Exklaven<br />
würde zementiert, was der SPD-Bezirksbürgermeister<br />
Neuköllns, Heinz Buschkowsky, treff end kommentierte,<br />
als der türkische Ministerpräsident Erdogan <strong>2010</strong><br />
türkischsprachige Schulen in <strong>Deutschland</strong> forderte: „Es<br />
kann nicht die Aufgabe der deutschen Gesellschaft sein,<br />
den Jugendlichen Türkisch beizubringen (…) Wir sind<br />
keine Exklave der Türkei.“ 173<br />
Latent gefördert wird ein solcher Schritt aber<br />
dadurch, daß Türkisch de facto bereits in vielen<br />
Kommunen zur Amtssprache erhoben wurde. Es gibt<br />
innerhalb vieler Behörden Beschilderungen auf Türkisch,<br />
türkischsprachige Ausfüllhilfen für Formulare<br />
173 „Welt“ vom 28. März <strong>2010</strong><br />
und türkischsprachige Mitarbeiter. Mit Berufung darauf<br />
könnten die Funktionäre der Türken-Lobby drängen,<br />
aus einem „Gewohnheitsrecht“ einen formal anerkannten<br />
Status zu machen. Es ist bezeichnend, daß sich nicht<br />
nur die CDU-Spitze, sondern auch Türken- und Islam-<br />
Verbände dagegen aussprachen, als von der CDU-Basis<br />
ein Vorstoß gemacht wurde, Deutsch als Sprache der<br />
Bundesrepublik im Grundgesetz zu verankern. Daß<br />
die Türken-Lobby dagegen Sturm lief 174 , obwohl sie<br />
nicht direkt davon tangiert wäre, läßt nur einen Schluß<br />
zu: sie befürchtet, daß ein solcher Schritt zum gegenwärtigen<br />
Zeitpunkt Signalcharakter hätte und eine<br />
spätere Einführung des Türkischen erschweren bzw.<br />
verhindern würde. Es ist in ihren Augen taktisch besser,<br />
erst abzuwarten und dann nach Zuzug von weiteren<br />
Millionen Türken gegebenenfalls Deutsch und Türkisch<br />
im Grundgesetz zu verankern.<br />
Wenn <strong>Deutschland</strong> aber zu einem Land der Deutschen<br />
und der Türken wird, erleidet es über kurz oder<br />
lang das Schicksal Westarmeniens und Ostgriechenlands:<br />
die ursprünglichen Bewohner des Landes werden<br />
ausgelöscht oder vertrieben, so wie es in Konstantinopel,<br />
Smyrna und Adana geschah.<br />
Literatur<br />
Canan Atilgan: Türkische Diaspora in <strong>Deutschland</strong>.<br />
Chance oder Risiko für die deutsch-türkischen Beziehungen,<br />
Hamburg 2002<br />
Hans Plattner: Die Türkei. Eine Herausforderung für<br />
Europa, München 1999<br />
Helmut Quaritsch: Einwanderungsland Bundesrepublik<br />
<strong>Deutschland</strong>? 2. Aufl ., München 1982,<br />
Hans-Peter Raddatz: Die türkische Gefahr? Risiken<br />
und Chancen, München 2004<br />
Peter Scholl-Latour: Allahs Schatten über Atatürk.<br />
Die Türkei in der Zerreißprobe, 6. Aufl ., München 2001<br />
Walter Rathenau, von Nazis als Nichtarier und Jude<br />
verunglimpft und 1922 ermordet, schrieb: Der Inbegriff<br />
der Weltgeschichte ist die Tragödie des arischen Stammes.<br />
Ein blondes, wundervolles Volk erwächst im Norden …<br />
aber (es) quellen die Fluten der dunklen Völker immer näher.<br />
Eine orientalische Religion ergreift die Nordländer …<br />
174 „Süddeutsche Zeitung“ vom 3. Dezember 2008<br />
*
3. Teil Geschichte<br />
Immer öfter wird die Frage gestellt, warum wir Deutschen so erpicht darauf sind, die NS-Verbrechen als weltgeschichtliche<br />
Singularität zu bezeichnen. Waren sie das wirklich, oder liegen unerkannte psychologische Mechanismen<br />
zugrunde?<br />
Ihr Deutschen wollt wohl<br />
in allem die Größten sein<br />
– also auch bei Verbrechen<br />
Geschichte<br />
von<br />
Teil<br />
N. N. (Name dem Herausgeber bekannt) 3.<br />
Der zitierte Ausspruch stammt von meiner Kollegin<br />
Anneliese St. (Jahrgang 1921). Ich lernte Anneliese,<br />
inzwischen Ann-Lise, ca. 1990 in Paris bei einer Tagung<br />
„kritischer“ deutscher und französischer Psychoanalytiker<br />
kennen. Am zweiten Tagungstag hielt ich einen<br />
Vortrag, der inzwischen unter dem Titel „Kollektive<br />
Verbrechen und die Zweite Generation“ in der Festschrift<br />
für meinen ehemaligen Chef veröff entlicht ist.<br />
Ich wählte darin die Methode der Distanz, des Blicks<br />
auf das Eigene im Fremden. Mein Beispiel war die Vandalisierung<br />
eines jüdischen Friedhofs in Carpentras. Ein<br />
Blick über den Zaun, um einige Aspekte des Erbes der<br />
Zweiten Generation in Frankreich nach dem Algerienkrieg<br />
zu beleuchten.<br />
Während der Diskussion gab es einen ziemlichen<br />
Eklat, denn einige deutsche Kollegen warfen mir „Vergleich“<br />
zwischen Nationalsozialismus, Judenvernichtung<br />
und Frankreich, Algerienkrieg vor. Ein Kollege<br />
fiel ziemlich aus dem Rahmen und schrie mich an:<br />
„Mein Vater war in Lodz, Sie als Deutsche haben kein<br />
Recht, den Franzosen eine Lektion zu erteilen.“ Das war<br />
schon ziemlich verrückt.<br />
Meine französischen Kollegen waren etwas diff erenzierter,<br />
denn auch in Frankreich hatte die sog. „Vergangenheitsbewältigung“<br />
nach dem Algerienkrieg in<br />
einigen Kreisen bereits begonnen und treibt auch dort<br />
seltsame Blüten. Anneliese war telefonisch informiert<br />
worden und kritisierte die Reaktionen meiner deutschen<br />
Kollegen mit den Worten der Überschrift. Sie war<br />
als Zwölfj ährige nach der vorübergehenden Verhaftung<br />
ihres sozialistischen Vaters in ihrer Heimatstadt Mannheim<br />
mit den Eltern nach Frankreich ausgewandert und<br />
1938 eingebürgert worden. 1944 wurde sie, trotz guter<br />
falscher Papiere, eben durch Verrat, durch die Gendar-<br />
merie verhaftet und interniert. Von dort ging es nach<br />
Auschwitz etc. und 1945 zurück nach Frankreich, Arbeit<br />
mit traumatisierten Kindern, Analyse bei Francoise Dolte<br />
und Jaques Lacan, von dem sie sagt, daß er ihr wieder<br />
die deutsche Sprache „wert gemacht“ habe. Dadurch<br />
(Analyse, Sprache) fühle sie sich als Überlebende. Bei<br />
ihr habe ich keinen Haß kennengelernt, den hatte sie<br />
überwunden, der zerstöre die eigene Person.<br />
*<br />
Jacob Burckhardt beobachtet (in: Griechische Kulturgeschichte):<br />
Denn so sehr ist das Gemüt der Menschen<br />
von Ruhmsucht zerrüttet, daß sie lieber durch das größte<br />
Unglück berühmt als ohne Unglück obskur sein wollen.<br />
*<br />
Joachim Fest, Im Gegenlicht – Eine italienische<br />
Reise, Siedler Verlag Berlin 1988, S. 140, wendet diesen<br />
Gedanken auf uns Deutsche an: Manchmal denkt man,<br />
die fortgesetzte Aufgebrachtheit der Deutschen über die<br />
Hitlerjahre könnte weniger mit dem moralischen Entsetzen<br />
und der begriff enen geschichtlichen Lektion zu tun haben,<br />
als behauptet wird. Vielmehr macht sich darin der Versuch<br />
einer geistig auf vielen Bereichen unproduktiv gewordenen<br />
Nation geltend, wenigsten durch Hitler und die Greuel jener<br />
Jahre einige Aufmerksamkeit zu erregen … Oft klingt<br />
sogar etwas wie ein pervertierter Stolz darüber durch,<br />
wessen sie fähig waren. Bezeichnenderweise ist der Ort<br />
solcher Selbstanklagen fast durchweg die Vorderbühne,<br />
wo das Spektakel zu Hause ist: in Pamphleten, Fernsehshows.<br />
… So kann der Verdacht nicht ausbleiben, die<br />
Deutschen ahnten, daß sie der Welt durch nicht viel mehr<br />
als durch den Schatten interessant sind, den die Untaten<br />
jener Herrschaft werfen.<br />
67
3. Teil Geschichte<br />
68<br />
Der algerische Unabhängigkeitskrieg war grausam, und zwar wohl besonders auf französischer Seite. Im Jahre 2008<br />
hatte ich in Oran/Algerien Gelegenheit, mit dem aus Lothringen stammenden Bischof von Oran zu sprechen, der die<br />
letzte Phase des 1962 beendeten Krieges miterlebt hatte. Dieser überließ mir sein gedrucktes Tagebuch mit Widmung.<br />
Daraus ist die folgende Episode genommen.<br />
Das blonde Kind<br />
Aus dem Tagebuch des Bischofs von Oran<br />
aus der Zeit des Algerienkrieges<br />
Mittwoch, 26. Oktober 1960: Hier läuft ein kleiner<br />
Junge herum mit blonden Locken, etwa 6–7 Jahre alt.<br />
Er treibt sich ständig mit den Soldaten herum, ißt mit<br />
ihnen und schläft bei ihnen. Das wundert mich. Ich frage<br />
einen Soldaten: Was macht dieses … Kind hier eigentlich?<br />
A: Das ist ein kleiner Araber, den haben wir … mitgebracht.<br />
F: Wieso – mitgebracht? Und seine Eltern haben ihn einfach<br />
so gehen lassen?<br />
A: Der hat keine Eltern mehr. Die Kameraden unserer<br />
Kompanie haben kürzlich einen Trupp von Fallschirmjägern<br />
in die … transportiert. Die Fallschirmjäger haben da<br />
ein Massaker in einem Dorf angestellt und die gesamte<br />
Einwohnerschaft niedergemacht. Nach dem Einsatz hat<br />
einer unserer Kameraden diesen kleinen Jungen gefunden<br />
und ihn als Andenken hergebracht, weil er ihm so gefallen<br />
hat. Na ja, so ist er halt hier.<br />
F: Das kann doch nicht sein. A: Wieso denn nicht? Andere<br />
nehmen sich doch auch Andenken mit: Schmuckstücke,<br />
Töpfersachen, auch mal einen Hund …<br />
Der Autor sieht den kleinen Jungen seit einigen<br />
Tagen nicht mehr und fragt sich, wo er abgeblieben sei.<br />
Dienstag, 22. November: Ich habe jetzt die Erklärung<br />
für das Verschwinden des kleinen blonden Jungen. Als<br />
ich heute abend von meiner Arbeit aus Castiglione<br />
zurückkam, traf ich den Adjutanten der 2. Kompanie<br />
zusammen mit dem Adjutanten der CSS, die sich vor<br />
der Telefonzentrale in meinem Büro gefl äzt hatten.<br />
Eigentlich mehr aus Zufall frage ich den Adjutanten,<br />
was aus dem kleinen Kind geworden sei.<br />
A: Mach dir keine Sorge, der wird uns nicht weiter stören.<br />
F: Was soll das heißen? A: Na, ich hab ihn abgeschaff t.<br />
F: Wie das?<br />
A: Na, ich habe ihn in eine Schlucht gebracht, in einem<br />
kleinen Gehölz, und dann habe ich ihm mit meiner Pistole<br />
eine Kugel in den Kopf gegeben.<br />
F: Nein – das ist nicht wahr! Sie sind ein Krimineller!<br />
A: Was du nicht sagst! Das Kind wurde wirklich lästig.<br />
Ich konnte vor Bestürzung einige Augenblicke lang<br />
nichts sagen … Der Adjutant albert herum, schlägt dem<br />
anderen auf die Schultern und beide gehen hinaus –<br />
stolz über ihre Leistung.<br />
Das ist ja entsetzlich. Erbarmen, Herr Gott!<br />
Inschrift in der Kuppel der Kathedrale Notre<br />
Dame - d`Afriqe in Algiers (gesehen 2008 von M. A.<br />
im Rahmen eines Vespergottesdienstes, der von<br />
10 Personen besucht war, welche nach Auskunft<br />
des Priesters fast seine gesamte Gemeinde ausmachten):<br />
*<br />
Ste Marie, prie pour nous et pour les musulmans.<br />
Heilige Maria, bitte für uns und für die Muslime.
Der Geist des Warschauer Ghettos<br />
von<br />
Rabbi Stephen Wise 175•<br />
… Ich werde nicht versuchen, auf diesen Seiten auch<br />
nur eine Zusammenfassung der Eindrücke wiederzugeben,<br />
die ich während der Tage in Warschau (1936!)<br />
sammelte. Diese Eindrücke waren größtenteils ergreifend<br />
und traurig machend, obwohl sie auch ein Gefühl<br />
von unbezähmbarer mystischer Hoffnung vermittelten.<br />
Ich beschränke mich auf eine unvergeßliche Stunde und<br />
Szene, die mir viel über den Schrecken und die Größe<br />
des Lebens der polnischen Juden erzählte.<br />
Zu den Büroräumen der zionistischen Bewegung<br />
kam eine Gruppe von Männern aus Przytyk 176 , einer<br />
Stadt, die später noch berühmt wurde. Einige aus der<br />
Gruppe waren eingesperrt gewesen, einige freigesprochen<br />
und einige nur entlassen, aber nicht entlastet. Ihr<br />
Fall lag noch bei der Berufungsinstanz. Diese waren keine<br />
Bittsteller, noch weniger Klagende, obwohl in ihren<br />
anklagenden Reden Bitterkeit mitschwang. Nur wenige<br />
Monate zuvor hatte es sechshundert jüdische Familien<br />
in Przytyk gegeben, die so lebten, wie jüdische Familien<br />
eben größtenteils in kleineren polnischen Städten<br />
lebten; d. h., sie lebten in einigermaßen annehmbarer<br />
Armut. Es kam ein Tag, an dem diese Menschen fühlten,<br />
175 · Kap. XVI der Autobiographie „Challenging Years, Putnam’s Sons“,<br />
Newyork 1949; aus dem Englischen von Karl-Heinz Kuhlmann<br />
176 PRZYTYK, Stadt in Mittelpolen nahe Radom. 1936 waren 90 %<br />
ihrer 3000 Einwohner Juden. Przytyk wurde bekannt durch das<br />
Pogrom von 1936. Dieses wurde von der *Endecja party, deren<br />
Führer der Antisemit Roman Dmowski war, getragen. Drei Juden<br />
wurden getötet, 60 verwundet. Der von den Juden organisierten<br />
Selbstverteidigung fi el 1 Pole zum Opfer. Der betreff ende Jude<br />
wurde schuldig gesprochen und hart bestraft. Das führte zu<br />
landesweiten Protesten der Juden.<br />
daß, aus der allgemein wachsenden jüdischen Unruhe<br />
im Lande heraus, sie angegriffen werden würden. Ein<br />
Mitglied der Gruppe sagte mit Feuer in seiner Stimme<br />
und natürlich auf jiddisch: „Sie dachten, daß sie mit uns<br />
Juden alles machen könnten und daß wir Juden wie<br />
Lämmer unter der Hand eines Schlachters ohne Widerstand<br />
sterben würden. Aber wir leisteten Widerstand,<br />
und einer von ihnen (also ein Pole), der losstürmte, um<br />
unsere Frauen und Kinder zu ermorden, fi el.“<br />
Sie erzählten von der unglaublichen Ungerechtigkeit<br />
eines quasigerichtlichen Verfahrens, das die Pogrommacher<br />
freisprach und die jüdischen Verteidiger ihrer<br />
Gemeinde zu Gefängnisstrafen verurteilte. Einer nach<br />
dem anderen sprach mit leidenschaftlicher Anspannung,<br />
wobei ihre Hauptforderung war, irgendwie eine<br />
Milderung der über ihre Verwandten verhängten ungerechten<br />
Strafen zu erreichen. Einer sprach besonders für<br />
seinen sehr jungen Bruder, der schwer bestraft worden<br />
war. Sie bekannten ihr Verbrechen der Selbstverteidigung,<br />
einer Selbstverteidigung, die durch einen wilden<br />
und mörderischen Angriff provoziert worden war. Sie<br />
baten um mehr. Und die Führer der zionistischen Partei,<br />
die mit mir dort saßen, waren nicht weniger tief bewegt<br />
als ich. Der zentrale Punkt ihrer Petition lautete:<br />
Wir wollen keinen Gewinn aus unserem Unglück<br />
schlagen. Wie sind nicht gleich den Juden,<br />
die über Palästina erst dann nachdenken, wenn<br />
ihnen mit Vernichtung und Heimatlosigkeit<br />
gedroht wird. Wir waren und wir sind, alle von<br />
uns, Zionisten. Wir wissen, daß die noch unge-<br />
3. Teil Geschichte<br />
69
3. Teil Geschichte<br />
70<br />
fähr fünfhundert Familien unserer Gemeinde<br />
nicht nach Palästina gebracht werden können.<br />
Wir verdienen es nicht mehr als andere, und<br />
wir verstehen, daß, wenn es für alle (Ausreise-)<br />
Bescheinigungen geben würde, dann wäre alles,<br />
was die Polen zu tun brauchen würden, um ihre<br />
Juden loszuwerden, Pogrome in allen Städten<br />
und Dörfern zu beginnen. Wir wissen, daß wir<br />
bleiben müssen, wo wir sind, obwohl wir nicht<br />
wissen, wie wir über den Winter kommen sollen.<br />
Die Polizei tritt schon den Bauern entgegen, die,<br />
wenn sie könnten, den Hungrigen unter uns Essen<br />
bringen würden.<br />
„Aber“ – und hier lag das Herz ihres Hilferufes – „wir<br />
sind keine Zwangsjuden, wie einige andere Juden“, und<br />
sie bezeichneten sie nach den Wohngebieten. „Wenn wir<br />
in Palästina leben würden, dann würden wir uns selbst<br />
verteidigen. Wir sind bereit, für das jüdische Land zu<br />
sterben und für die jüdische Ehre zu leiden. Laßt einige<br />
von uns gehen.“ Dann nannten sie eine Zahl und sofort<br />
nannte ein anderer eine geringere Zahl. „Wenn auch nur<br />
so wenige“ – und es wurde eine höchst bescheidene<br />
Zahl genannt –, „wir fühlen, daß unser Leben uns nicht<br />
so viel gilt, und wenn wir sterben, dann wird es für das<br />
Land ISRAEL sein.“<br />
Mit tränenerstickter Stimme fragte ich: „Wie lange<br />
habt ihr in Przytyk gelebt?“ Schnell kam die Antwort: „Es<br />
gibt Steine auf unserem Friedhof, die sind sechshundert<br />
Jahre alt.“ Zwei Dinge waren klar: Erstens die tragische<br />
Demut der Juden, die ihre Geschichte von Jahrhunderten<br />
nach Grabsteinen datierten. Und zweitens: Diese<br />
moralische Größe, welche, mit der Geduld ihres ewigen<br />
Glaubens, „Ich werde nicht sterben, sondern leben“, die<br />
Werke Gottes wieder in seinem Land zu erzählen plant.<br />
Während ich in Warschau war, entdeckte ich, daß es die<br />
Anfänge einer Selbstverteidigungsbewegung, natürlich<br />
im Untergrund, gab. Und das Schönste von allem war,<br />
daß sie ein Zweig der palästinensischen Selbstverteidigung<br />
war. Diese Anfänge der Selbstverteidigung waren<br />
dazu bestimmt, mächtige und ruhmreiche Konsequenzen<br />
in der jüdischen Partisanenbewegung Polens zu<br />
haben, die dann ihren Höhepunkt in der Tragödie und<br />
dem Ruhm der Zerstörung Warschaus fanden. Die<br />
Verteidiger Warschaus, die gegen die nationalsozialistische<br />
Übermacht standen, haben ihren Platz neben<br />
den makkabäischen Verteidigern Judäas und nahmen<br />
die heroischen Leistungen der palästinensischen Hagana<br />
177 vorweg.<br />
Ich muß noch vom tiefsten Eindruck, den die Juden<br />
Polens auf mich machten, erzählen. Zum ersten Mal sah<br />
ich selbst etwas von der sagenhaften Frömmigkeit und<br />
der unsäglichen Armut der meisten Juden. Ich hatte ja<br />
177 Die Hagana war eine zionistische paramilitärische Untergrundorganisation<br />
während der britischen Besatzung Palästinas<br />
(1920–48).<br />
schon viele schmerzliche Einblicke in das New Yorker<br />
Ghetto vierzig bis fünfzig Jahre zuvor, als die Lebensumstände<br />
am niedrigsten waren. Ich habe etwas gesehen<br />
von den überfüllten, von Armut geplagten Ghettos in<br />
den großen Städten anderer Länder. Aber nichts, das ich<br />
vorher gesehen oder gewußt hatte, warf ein Licht auf<br />
das Leben in Warschau und ihre ärmsten Bewohner. Ich<br />
ging tiefer hinein, und man zeigte mir Kellerwohnungen,<br />
die unvorstellbar dunkelsten unterirdischen Löcher.<br />
Viele von diesen waren von großen Familien bewohnt<br />
und manchmal auch von zwei Familiengruppen, die sie<br />
tags- und nachtsüber wechselnd belegten. Indem ich<br />
meine Fragen so schüchtern wie nur möglich stellte,<br />
erfuhr ich, daß manche dieser Familien von fünfzehn<br />
bis zwanzig Zloty in der Woche lebten, was drei bis vier<br />
Dollar entspricht.<br />
Vielleicht sollte ich mich schämen, die Geschichte<br />
von einem elenden, hungrig aussehenden Familienoberhaupt,<br />
dem ich mich zuwandte, zu erzählen. Ich<br />
fragte ihn: „Wie kann man mit so wenig auskommen?“<br />
Schnell wie ein Blitz und so zuversichtlich kam die Antwort<br />
auf Jiddisch: „Gott wird schon helfen.“ Keine Klage,<br />
kein Jammern, keine Bitterkeit! Allein die Aussage eines<br />
unerschütterlichen Glaubens: Gott wird schon helfen.<br />
Das war nicht die Resignation einer dumpfen Frömmigkeit.<br />
Sie verkörperte den vollen und unerschütterlichen<br />
Glauben wie auch die Annahme der fürchterlichsten<br />
Trübsale des Körper und des Geistes als Ausdruck des<br />
göttlichen Willens und Zieles. Ich fühlte, daß ich auf<br />
die Verkörperung des Geistes der Frömmigkeit des<br />
Judentums gestoßen war, auf die Frömmigkeit eines<br />
nicht klagenden Märtyrertums, die Annahme eines<br />
solchen Märtyrertums als einer Phase des Lebenskampfes.<br />
Wie blaß und dünn und blutleer und veräußerlicht<br />
erscheint dagegen das religiöse Leben der Habenden,<br />
der Besitzenden, die ich alle in meinen Tagen kennengelernt<br />
habe.<br />
Ich werde nie aufhören, demütig dankbar zu sein<br />
für die Off enbarung, die Polen, d. h., die das polnische<br />
Judentum mir von der Innerlichkeit des jüdischen<br />
Glaubens und Lebens gewährt hat. Ich füge das Leben<br />
hinzu, weil außer einigen wenigen abweichenden<br />
Assimilierten diese polnischen Juden eins waren in<br />
ihrem Elend, in ihrem Leiden, in ihrem Heroismus, im<br />
Reichtum und Adel ihres Glaubens. Indem ich einen<br />
Blick davon erhalten habe, war ich nicht überrascht<br />
von der Verteidigung dieser Stadt Jahre später, tapfer<br />
und wundersam verlängert. Auch nicht vom Mut der<br />
nur halbbewaff neten jüdischen Partisanen gegen die<br />
stolzesten Armeen Europas! Mein Besuch in Polen<br />
war mehr als eine schicksalhafte Episode. Er war einer<br />
meiner mich am meisten bereichernden Erfahrungen<br />
aller meiner Tage.<br />
*
Jüdische Bevölkerung in Europa: Der französische<br />
Botschafter am Zarenhof während des 1. WK, Maurice<br />
Paleologue, beklagt in seinem Tagebuch die schweren<br />
Rechtsverletzungen gegenüber Juden im Zarenreich,<br />
insbesondere in Polen. Der russische Antisemitismus sei,<br />
wie er dem Zaren mehrfach darlegt, ein Haupthindernis<br />
für die USA, an der Seite Rußlands in den Krieg gegen<br />
<strong>Deutschland</strong> einzutreten. Zur Zahl der Juden vermerkt<br />
er am 5. September 1916:<br />
Die Gesamtzahl der über die ganze Erde verteilten<br />
Israeliten wird auf 12,5 Mio. geschätzt,<br />
davon 5,3 Mio. in Rußland. Und 2,2 Mio. in den<br />
Vereinigten Staaten. Mit Ausnahme dieser zwei<br />
Länder befi nden sich die größten Ansammlungen<br />
von Juden in Österreich-Ungarn (2,25 Mio.), in<br />
<strong>Deutschland</strong> (615.000), in der Türkei (485.000),<br />
in England (445.000), in Frankreich (345.000), in<br />
Rumänien (260.000) und in Holland (115.000).<br />
Von den genannten 5,3 Mio. Juden im Zarenreich<br />
lebte offenbar der größere Teil im späteren Polen.<br />
Großer Brockhaus 1970 Juden unter Bezug auf Yewish<br />
Yearbook 1929 nennt für damaliges Polen 3,5 Mio. und<br />
die Sowjetunion 2,7 Mio. Juden. Für etwa dasselbe<br />
Gebiet nennt der Der Neue Brockhaus (2. Aufl . Leipzig,<br />
1941) (Stichwort: Juden) etwa dieselben Zahlen.<br />
*<br />
3. Teil Geschichte<br />
71
3. Teil Geschichte<br />
72<br />
Alles, was du siehst, wird äußerst schnell vergehen,<br />
und diejenigen, die zusehen, wie es vergeht, werden<br />
auch selbst sehr schnell vergehen. Und wer im höchsten<br />
Alter stirbt, wird in den gleichen Zustand versetzt wie<br />
derjenige, der früh stirbt.<br />
Marcus Aurelius , 9. Buch Nr. 33
Der mit der japanischen Besetzung Burmas (1942) beginnende burmesische Unabhängigkeitskrieg wurde von<br />
diversen Aufstandsgruppen geführt. England hatte sich bereiterklärt, Burma zu einem off engelassenen Zeitpunkt in<br />
die Unabhängigkeit zu entlassen. Diesen wollten die Aufständischen nicht abwarten. Aus dieser Zeit stammt der folgende<br />
Bericht. Die von England praktizierte Hinrichtung durch den Strang ist wohl eine der am wenigsten grausamen.<br />
Der folgende Bericht berührt daher nicht durch die Grausamkeit des Geschehens, sondern fast noch mehr durch die<br />
nüchterne Klarheit des Hinrichtungsvorganges.<br />
Eine Hinrichtung – A Hanging<br />
Geschichte<br />
von<br />
Teil<br />
A. E. Blair (alias George Orwell) 3.<br />
Es war in Burma. Ein schmutziger Morgen der Regenzeit.<br />
Fiebriges Licht, wie gelbes Wellblech, ragte über<br />
die hohen Mauern in den Gefängnishof. Wir warten<br />
vor den Todeszellen, Verschläge in einer Reihe, vorne<br />
mit doppelten Balken, wie kleine Tierkäfi ge. Jede dieser<br />
Zellen maß etwa 10 x 10 Fuß und war völlig leer, bis auf<br />
eine Pritsche und einen Krug für Trinkwasser. In einigen<br />
saßen braune Männer, wortlos ans Gitter gedrängt, die<br />
Decken um ihren Leib geschlagen. Das waren die Verurteilten,<br />
die in der nächsten Woche oder so gehängt<br />
werden sollten.<br />
Ein Gefangener war aus seiner Zelle herausgebracht<br />
worden. Ein Hindu. Ein zierliches Männchen, mit geschorenem<br />
Kopf und glasigem, wäßrigem Blick. Er hatte<br />
einen dichten, starkwüchsigen Schurrbart, geradezu<br />
unsinnig groß bei seiner Statur, ein Schurrbart fast wie<br />
bei den Witzfi guren im Film. Sechs stämmige indische<br />
Wärter führten ihn und machten ihn galgenfertig. Zwei<br />
standen etwas abseits mit Gewehren und aufgesetzten<br />
Bajonetten. Die anderen legten ihm Handschellen an<br />
und zogen durch diese eine Kette, die sie an ihrem eigenen<br />
Gürtel befestigten. Seine Arme wurden an seinem<br />
Leib festgezurrt. Die Wärter blieben nah um ihn, sie<br />
hielten ihn sorgsam, fast liebevoll fest, so als wollten sie<br />
immer sicher sein, ob er auch noch da sei. So wie man<br />
einen Fisch hält, der noch lebt und vielleicht wieder<br />
ins Wasser springt. Er aber stand ohne Widerstand da,<br />
streckte seine Arme zur Fesselung entgegen, so als ob<br />
er kaum merkte, was geschah.<br />
Es schlug 8 Uhr, und von den entfernten Unterkünften<br />
tönte der Weckruf kläglich durch die feuchte Luft.<br />
Der Gefängnisleiter, etwas abseits von uns, rührte sinnierend<br />
mit seinem Stock im Sand herum, und hob bei<br />
dem Ton den Kopf. Er war ein Armeearzt, hatte einen<br />
grauen, bürstenartigen Schnauzbart und eine schnarrige<br />
Stimme: Mein Gott, Francis, nun mach mal zu – rief<br />
er ungehalten. Der Mann sollte eigentlich jetzt schon tot<br />
sein. Seid ihr immer noch nicht fertig?<br />
Francis, der Oberaufseher, ein fetter Drawide, also<br />
kein Hindu, in weißer Uniform und mit Goldbrille hob<br />
seine dunkle Hand. Jawohl, Sir, sofort! brachte er hervor.<br />
Alles iss z` Zufriedenheit färtig! Der Henker wartet schon.<br />
Kann losgehn.<br />
Also Marsch, aber fl ott. Die Gefangenen kriegen kein<br />
Frühstück, bevor wir diese Sache nicht hinter uns haben.<br />
Wir machten uns auf den Weg zum Galgen. Zwei<br />
Wächter an jeder Seite des Gefangenen, ihre Gewehre<br />
im Anschlag; weitere zwei gingen eng aufgeschlossen<br />
hinter ihm und hielten ihn an Arm und Schultern, ihn<br />
zugleich schiebend wie haltend. Wir anderen, Offi zielle<br />
und so weiter, hinterher. Es waren etwa 30 m bis zum<br />
Galgen. Ich schaute auf den bloßen braunen Rücken des<br />
Gefangenen, der da vor mir ging. Mit seinen zusammengebundenen<br />
Armen bewegte er sich ungeschickt, aber<br />
doch zügig, mit dem geduckten Gang der Inder, die ja<br />
ihre Knie nie durchstrecken. Bei jedem Schritt glitten<br />
seine Muskeln voran. Die Haarlocke auf seinem Schädel<br />
hüpfte auf und ab, seine Fußspuren drückten sich in den<br />
nassen Sand. Und plötzlich, ungeachtet der Männer, die<br />
ihn an jeder Schulter hielten, trat er etwas zur Seite, um<br />
einer Pfütze im Wege auszuweichen.<br />
73
74<br />
Merkwürdig. Aber bis zu diesem Augenblick war<br />
mir gar nicht bewußt gewesen, was es bedeutet, einen<br />
gesunden, geistig klaren Menschen zu zerstören. Als<br />
ich den Gefangenen zur Seite treten sah, um der Pfütze<br />
auszuweichen, erkannte ich das Ungeheuerliche,<br />
die unsägliche Verkehrtheit, ein Leben abzuscheiden,<br />
welches in voller Kraft steht. Dieser Mann war nicht<br />
sterbenskrank, er war lebendig wie wir. Seine Organe<br />
arbeiteten – sein Gedärm verdaute die Nahrung, seine<br />
Haut erneuerte sich und seine Fingernägel wuchsen<br />
und bildeten sich neu aus – alles nur zum Zwecke dieser<br />
feierlichen Ungeheuerlichkeit. Seine Nägel würden<br />
noch wachsen, wenn er auf der Falltür steht, und auch<br />
dann noch, wenn er ins Freie fällt und nur noch eine<br />
Zehntelsekunde leben wird. Seine Augen sahen den<br />
gelben Sandboden, die grauen Gefängnismauern,<br />
und sein Hirn erinnerte sich, schaute voraus und wog<br />
vernünftig ab – wegen einer Pfütze. Er und wir waren<br />
gemeinsam Menschen, zusammen einen Weg gehend,<br />
sehend, hörend, fühlend, verstehend dieselbe Welt;<br />
und in zwei Minuten mit einem jähen Schlag würde<br />
einer von uns weg sein – ein Wesen weniger, eine Welt<br />
weniger.<br />
Der Galgen stand in einem kleinen Hof, abseits vom<br />
Hauptfeld des Gefängnisses, seine Mauern stark mit<br />
Gestrüpp überwachsen. Es war ein Ziegelbau, an drei<br />
Seiten umschlossen wie ein Stall, oben mit einem Gerüst<br />
und darüber zwei Balken mit einem Querbalken, von<br />
dem das Seil herabhing. Der Henker, ein grauhaariger<br />
Gefangener in der weißen Gefängnisuniform, wartete<br />
neben seiner Maschine. Er grüßte uns mit einer servilen,<br />
tiefen Verbeugung, als wir eintraten. Auf ein Wort<br />
von Francis griff en die beiden Wärter den Gefangenen<br />
noch fester und führten halb, halb schoben sie ihn zum<br />
Galgen und halfen ihm etwas ungeschickt auf die Leiter.<br />
Dann stieg der Henker hinauf und legte das Seil um das<br />
Genick des Gefangenen.<br />
Wir standen keine 3 Meter entfernt und warteten. Die<br />
Wärter hatten sich in einer Art Halbkreis um den Galgen<br />
aufgestellt. Und dann, als die Schlinge um seinen Hals<br />
gelegt war, begann der Gefangene seinen Gott anzurufen.<br />
Es war ein hoher, sich wiederholender Ton: Ram!<br />
Ram! Ram! Nicht drängend oder ängstlich wie ein Gebet<br />
um Hilfe, aber inständig und rhythmisch, fast wie das<br />
Schlagen einer Glocke. Der Hund antwortete darauf mit<br />
Gewinsel. Der Henker, oben auf dem Gerüst, zog einen<br />
Sack aus Baumwolle, so eine Art Mehlsack, hervor und<br />
stülpte ihn dem Gefangenen über den Kopf. Aber der<br />
Ton, nur gedämpft durch das Tuch, dauerte an. Immer<br />
und immer wieder: Ram! Ram! Ram! Ram! Ram!<br />
Der Henker stieg herab und stand bereit, die Hand<br />
am Hebel. Minuten schienen zu vergehen. Das ständige<br />
gedämpfte Rufen des Gefangenen hörte nicht auf.<br />
Ram! Ram! Ram! – keinen Augenblick nachlassend. Der<br />
Gefängnisleiter, den Kopf nach vorn geneigt, stocherte<br />
langsam mit seinem Stock im Boden. Vielleicht zählte<br />
er die Rufe und hatte dem Gefangenen eine bestimmte<br />
Anzahl zugestanden – fünfzig, oder vielleicht, hundert.<br />
Allen hatte sich die Gesichtsfarbe verfärbt. Die Inder<br />
waren grau geworden wie schlechter Kaff ee, und ein<br />
oder zwei der Bajonette begannen zu zittern. Wir<br />
schauten auf den gebundenen, verhüllten Mann auf<br />
der Falltür und hörten auf seine Rufe. Ein jeder Ruf eine<br />
Sekunde Lebens; wir dachten alle dasselbe – oh, tötet<br />
ihn schnell, bringt es hinter euch, macht ein Ende mit<br />
dieser gräßlichen Ruferei!<br />
Plötzlich raff te sich der Gefängnisleiter zusammen. Er<br />
warf den Kopf auf, machte eine raschen Zug mit seinem<br />
Stock: Chalo! rief er fast wütend.<br />
Da war ein krächzendes Geräusch, und dann Todesstille.<br />
Der Gefangene war nicht mehr, und das Seil drehte<br />
sich um sich selbst. Ich ließ den Hund laufen, und er<br />
rannte sofort auf die Rückseite des Galgens. Dort blieb<br />
er mit einem Ruck stehen, bellte und verzog sich unter<br />
das Gestrüpp in einer Ecke des Hofes. Er schaute uns<br />
furchterfüllt an. Wir gingen um den Galgen, um den<br />
Körper des Gefangenen zu untersuchen. Er hing da<br />
mit ausgestreckten Zehen, drehte sich sehr langsam,<br />
tot wie ein Stein.<br />
Übersetzung von M. A.<br />
*
Lust am Leiden anderer 3. Teil Geschichte<br />
Die beklemmendste Ausprägung menschlicher Niedrigkeit<br />
ist wohl, wenn wir mit Jubel und Schadenfreude,<br />
oder nur zur Unterhaltung, fremdes Leid genießen.<br />
Wir Menschen haben Lust am Leiden anderer. Es wird<br />
richtiger sein, uns zu dieser Erbsünde zu bekennen, als<br />
daß wir den Splitter im Auge des anderen sehen und herausziehen<br />
wollen (Matth. 7,3). Diese Sünde hindert uns,<br />
an unserer eigenen Besserung zu arbeiten. Vielleicht ist<br />
sogar die folgende Blütenlese aus Lesefrüchten auch<br />
nicht mehr als Voyeurismus. Hauptsächlich sollen diese<br />
und viele andere mögliche Beispiele aber doch zeigen,<br />
was wir Menschen einander antun, und wo wir ansetzen<br />
sollten, wenn wir das Gute wollen.<br />
M.A.<br />
Erhängen<br />
Aus Pepy`s Tagebuch, 13. Oktober 1660: Ich ging nach<br />
Charing Cross hinaus, um zu sehen, wie Gen.-Major<br />
Harrison gehängt, geschleift und gevierteilt würde. Das<br />
wurde da vollzogen. Er sah so fröhlich aus (cheerful), wie<br />
man in dieser Lage nur aussehen kann. Er war gerade<br />
(d. h. vom Galgen) abgeschnitten worden; sein Kopf<br />
und sein Herz wurden dem Volk gezeigt, worauf große<br />
Freudenrufe gehört wurden … So habe ich also gesehen,<br />
wie der König (d. h. Karl I.) in White Hall enthauptet<br />
wurde, und auch das erste Blut, welches in Vergeltung<br />
für den King in Charing Cross fl oß. 178<br />
*<br />
178 Thomas Harrison war Parteigänger von Oliver Cromwell gewesen<br />
und hatte für die Hinrichtung von König Karl I. (1649) gestimmt.<br />
Nach der Restauration wurden die führenden Köpfe der Cromwellzeit<br />
hingerichtet.<br />
21. Jan. 1663.: Machte mich, nachdem ich meine<br />
Frau zu ihrer Tante geschickt hatte, auf, um einen Platz<br />
zu ergattern, um Turners Hinrichtung zuzuschauen<br />
… Für einen Schilling bekam ich einen Stehplatz auf<br />
einem Wagenrad, wo ich sehr unbequem über eine<br />
Stunde stand, bevor die Hinrichtung vollzogen wurde.<br />
Er (= Turner) hat die Sache durch lange Ansprachen<br />
und Gebete, eines immer nach dem anderen, ziemlich<br />
hingezogen, in der Hoffnung auf Begnadigung. Die<br />
kam aber nicht; schließlich wurde er, so wie er war, von<br />
der Leiter gestoßen. Er war ein gutaussehender Mann<br />
und hielt sich bis zum Schluß gut. Es tat mir leid, ihn so<br />
zu sehen. Da waren wohl an die 12–14 000 Menschen<br />
auf der Straße.<br />
Enthaupten<br />
Aus Aegerter (La Vie de Saint Just, Gallimard – Paris<br />
1929): Um 5 Uhr nachmittags besteigt Saint Just den<br />
ersten Karren, großartig in seinem Gleichmut, in seinem<br />
blauen, aufgeknöpften Rock über dem weißen<br />
Vorhemd. Es sind 18 Verurteilte … zusammen mit Robespierre<br />
und seinen drei Kollegen gepfercht auf den<br />
Karren. Das Schafott war in Eile zum Platz der Revolution,<br />
nahe der Freiheitsstatue, geschafft worden, auf dasselbe<br />
Pfl aster, welches Ludwig XVI. und Danton betreten<br />
hatten. Eine unzählige Menge säumte die Straße. Frauen<br />
in Sommerkleidern stellten Blumen in die Fenster …<br />
geschminkte Mädchen applaudierten dem vorüberziehenden<br />
gespenstischen Zug … Die Karren kamen<br />
langsam vorwärts. Der infame Carrier, der Mann der<br />
Massenertränkungen in Nantes, der sich nun gerettet<br />
75
3. Teil Geschichte<br />
76<br />
glaubte 179 , tanzte vor Freude und jubelte: A mort – aufs<br />
Schafott mit ihnen! ... Frauen tanzten wie die Furien um<br />
die zum Tode Geführten … Ungeheurer, frenetischer<br />
Beifall begrüßte jeden abgeschlagenen Kopf. Jählings<br />
befi el die Riesenmenge ein Schweigen. Saint Just stieg<br />
die Stufen empor…mit einer roten Blume im Knopfl och.<br />
Er starb ohne ein Wort zu sagen. Die Henkerknechte<br />
schoben ihn, das Beil fi el. Er hat vor dem Tode nicht<br />
gezittert, und der Henker zeigte der schweigenden<br />
Menge ein blasses Haupt mit weit geöffneten Augen<br />
… Die Revolution war vorbei.<br />
Rädern und Vierteilen<br />
Aus Hermann Kurz, Der Sonnenwirt: Mein Vater …<br />
ist zu Alpirsbach auf dem Schwarzwald gerädert worden,<br />
und ich hab als ein zwölfjähriger Bube hart dabei<br />
zusehen müssen … In meinem ganzen Leben vergess’<br />
ich’s nicht … Ich übe mein Gedächtnis, daß es mir die<br />
Stöße des schweren, mit Blei ausgefüllten Rades und<br />
das Krachen der Glieder immer wieder als gegenwärtig<br />
vorstellen muß: erst den rechten Fuß und den linken<br />
Vorderarm, dann den linken Fuß und den rechten Vorderarm,<br />
dann den rechten Schenkel und den linken<br />
Oberarm, dann den linken Schenkel und den rechten<br />
Oberarm, und endlich, wenn sie’s leidlich machen, den<br />
Gnadenstoß auf die Brust. Meinem Vater ist’s nicht so gut<br />
geworden: lebendig haben sie ihn aufs Rad gefl ochten,<br />
stundenlang ächzen und stöhnen lassen in der gräulichen<br />
Marter, bis sie ihm endlich den Kopf abgeschnitten<br />
und auf den Pfahl gesteckt haben. Und dabei haben die<br />
Pfaffen immerfort in ihn hinein geschrieen und ihm ihre<br />
Kreuze unter die Nase gestoßen. Das halt ich mir täglich<br />
vor, damit mich kein dummes Mitleid übermannt …<br />
179 Er wurde am 16. Dezember 1794 guillotiniert.<br />
Verbrennen<br />
Aus: Ulrich von Riechental Chronik des Konzils von<br />
Konstanz 1414–18: In dreifachem Verhör wurde Hus<br />
zum Widerruf aufgefordert. Hus blieb fest. Nach dem<br />
letzten Verhör am 8. Juli 1415 wurde er verurteilt und<br />
sofort verbrannt. (Der Vogt) rief die Ratsknechte und<br />
den Henker herbei, damit sie ihn hinausführten, um<br />
ihn zu verbrennen … Er trug eine weiße Bischofsmütze<br />
auf seinem Kopf, auf der waren zwei Teufel gemalt, und<br />
zwischen beiden stand, Heresiarcha, das heißt soviel wie<br />
Erzbischof aller Ketzer … (Hus will beichten) … Als er<br />
daraufhin anfangen wollte, deutsch zu predigen, wollte<br />
das Herzog Ludwig nicht leiden und befahl, ihn zu<br />
verbrennen. Da ergriff ihn der Henker und band ihn in<br />
seinem Gewand an einen Pfahl. Er stellte ihn auf einen<br />
Schemel. Legte Holz und Stroh um ihn herum, schüttete<br />
etwas Pech hinein und brannte es an. Da begann er<br />
gewaltig zu schreien und war bald verbrannt … Man<br />
führte alles, was man von der Asche fand, in den Rhein.<br />
Öffentliche Hinrichtung: Die letzte öffentliche<br />
Hinrichtung fand 1937 in Missouri/USA vor rd. 20 0000<br />
Zuschauern statt.<br />
*
4. Teil Grundwerte<br />
Die öff entliche Aufregung um die Thesen von Th. Sarrazin hat die Aufmerksamkeit auf ein Thema gelenkt, dem<br />
alle, Regierung und Bürger, seit Jahren ängstlich ausweichen. Man will nicht sehen, was auf uns nicht zukommt,<br />
sondern zurast. Es ist, als ob die westeuropäischen Staaten auf eine Art Wunder hoff ten, mit welchem das Problem<br />
der schleichenden Selbstaufgabe jählings gelöst wäre.<br />
Die unaufhaltsame Islamisierung<br />
Europas180·<br />
von<br />
M. Aden<br />
1. Ausgangspunkt<br />
Das Christentum eroberte das Römische Reich in<br />
dergleichen Geschwindigkeit wie heute der Islam<br />
<strong>Deutschland</strong> und Westeuropa. Beide Prozesse weisen<br />
große Ähnlichkeiten auf. Das aggressive Christentum<br />
fraß sich mit derselben Sturheit durch die Institutionen<br />
des Reiches, mit der sich auch der Islam, offenbar nicht<br />
weniger schnell, in die höheren Lagen des Staates<br />
durcharbeitet. Die von den antiken Christen oft nur<br />
vorgetäuschte Verfolgungssituation 181 schuf ihnen<br />
ein Anspruchsklima, in welchem, und zwar auf stetig<br />
steigendem Niveau, Gleichberechtigung eingefordert<br />
wurde. Anfangs verlangte man nur Toleranz; dann Teilhabe<br />
an den staatlichen Ämtern, dann diese überhaupt.<br />
Die in den meisten Fällen wohl nicht wirkliche Bedrohungslage<br />
der Christen schweißte diese zusammen und<br />
ließ Netzwerke und Einfl ußzonen entstehen, zu denen<br />
Nichtchristen keinen Zugang mehr hatten.<br />
Es ist anzunehmen, daß auch bei uns Netzwerke im<br />
Aufbau sind, die sich aus einer gefühlten oder vorgegebenen<br />
Verfolgungssituation speisen. Die im heutigen<br />
<strong>Deutschland</strong> und Westeuropa von islamischer Seite erhobenen<br />
Diskriminierungsvorwürfe halten nicht immer<br />
der näheren Überprüfung stand. Sie werden aber, wo sie<br />
doch einmal wahr sind, mit großem medialem Lärm aufbereitet,<br />
oder es wird, wie im Falle Sarrazin (September<br />
180 · Zum Thema: Aden, M., Christlicher Glaube – Kommentar zum<br />
christlichen Glaubensbekenntnis, www.dresaden.de unter D.<br />
181 v. Harnack, Die Mission und die Ausbreitung des Christentums,<br />
Nachdruck der Ausgabe von 1924, S. 508: Die Christen konnten sich<br />
dauernd als verfolgte Herde fühlen, und waren es doch in der Regel<br />
nicht; sie konnten sich in Gedanken alle die Tugenden des Heroismus<br />
zubilligen und wurden doch selten auf die Probe gestellt.<br />
<strong>2010</strong>), aus unglücklichen Formulierungen eine Diskriminierungsgesinnung<br />
der Noch-Mehrheit herausgelesen,<br />
deren Instrumentalisierung durch die Noch-Minderheit<br />
zu einem neuen Gleichberechtigungsschub führt. In der<br />
Antike endete die Toleranz des Heidentums gegenüber<br />
dem Christentum in bestürzend kurzer Zeit mit dem<br />
brutal durchgesetzten Verbot des Heidentums durch<br />
das siegreiche Christentum, obwohl die heidnische Religion<br />
immer noch die der Mehrheit der Reichsbewohner<br />
war. Das sei zur Beherzigung kurz dargestellt. Vestigia<br />
terrent. Oder mit Worten der Bibel (Matthäus 11, 15): Wer<br />
Ohren hat, der höre!<br />
2. Indifferenz des Bürgertums<br />
Im Frühjahr <strong>2010</strong> erschütterten Anklagen wegen<br />
sexueller Mißbräuche die katholische Kirche. Diese<br />
waren im Grundsatz leider oft berechtigt. Mehr als<br />
diese Vorfälle selbst mußte aber eigentlich auffallen die<br />
äußerst laue Solidarität anderer christlichen Kirchen mit<br />
ihrer katholischen Mutterkirche. Bestürzend geradezu<br />
waren die Lieblosigkeit, Häme, Hohn und Spott, womit<br />
unsere kulturtragenden Schichten, das Bürgertum,<br />
die ehrwürdigste Institution unseres Kulturkreises, die<br />
katholische Kirche, überschütteten und schmähten. Der<br />
christliche Glaube sagt den meisten nichts mehr. Noch<br />
ehrt der Staat den hergebrachten Kult. Parlamentseröffnungen<br />
und große Staatsakte werden mit ökumenisch<br />
genannten Gottesdiensten, die in Wahrheit ein Hybride<br />
aus verschiedenen Kultformen sind, eingeleitet, aber<br />
die Mehrheit der Teilnehmer sieht sich nur noch als<br />
Zuschauer einer nicht mehr verstandenen Zeremonie.<br />
4. Teil Grundwerte<br />
77
4. Teil Grundwerte<br />
78<br />
Der Glaube verdunstet und zieht sich in freikirchliche<br />
Gruppierungen und Konventikel zurück.<br />
Die kultur- und staatstragenden Schichten des spätantiken<br />
Kulturraumes, im wesentlichen identisch mit<br />
dem des Römischen Reiches um 250, das gebildete<br />
Bürgertum damals, waren der überkommenen antiken<br />
Religion ebenso entfremdet wie die bürgerlichen Kreise<br />
heute der christlichen Religion. Die staatlichen Kulte<br />
wurden weiter gefeiert und geachtet, aber sie trafen<br />
auf keinen Glauben mehr. Nach beendeter Kulthandlung<br />
schauten sich die Repräsentanten des Reiches<br />
ebenso selbstspöttisch an, wie heute die Parlamentarier<br />
nach beendetem „ökumenischen Gottesdienst“. Privat<br />
bildeten sich unter Mystagogen und Sektengründern<br />
Kleingruppen, die, wie es bei heutigen Sekten geschieht,<br />
Elemente der heidnischen und anderer Religionen<br />
zu oft sehr kurzlebigen neuen Formen mischten. Um<br />
250 waren die traditionellen Formen des Götterkultes<br />
Gegenstand der allgemeinen Mißachtung oft auch<br />
Verachtung geworden. Statt vieler sei auf Lukian (3. Jh.)<br />
verwiesen. Seine Göttergespräche zerreißen mit Hohn<br />
und Spott die etwa noch verbliebene Glaubensbereitschaft<br />
seiner Zeitgenossen. 182 Ganz ähnlich spricht eine<br />
zunehmende Anzahl unserer Bildungseliten heute über<br />
die Kirche, freilich, kulturell bedingt, in heutigen Formen<br />
und Bildern. Wenn sie diese überhaupt noch wahrnimmt.<br />
Auch Lukian hatte recht. Aber es scheint ihm nur<br />
um die eigenen Geistreicheleien zu gehen, nicht um<br />
die Sache selbst. So wenig wie unsere bürgerlichen<br />
„Eliten“ heute sahen er und seine Gesinnungsgenossen<br />
Veranlassung, das Erbe der Väter ggfs. durch Umformung<br />
zu verteidigen und zukunftsfähig zu machen.<br />
Das vordringende Christentum nahm man nur am<br />
Rande wahr. Lukian kennt das zu seiner Zeit schon<br />
ziemlich verbreitete Christentum, die Sekte der Galiläer,<br />
anscheinend überhaupt nicht. Die der hergebrachten<br />
Kultur daraus drohende Gefahr wurde nicht gesehen<br />
oder dadurch heruntergespielt, daß man die Christen<br />
zu kulturlosen Exoten erklärte. Diesen Weg scheinen<br />
auch wir heute in bezug auf den Islam zu gehen. Als<br />
exotische Erscheinung blieb dieser bis vor kurzem unterhalb<br />
der Wahrnehmungsschwelle: Seine aus unserer<br />
Sicht manchmal merkwürdigen Gebräuche erzeugten<br />
Kopfschütteln – und Wegschauen. Der (freilich fern<br />
der „besseren“ Wohnlagen sich vollziehende) Bevölkerungsaustausch<br />
in ganzen Stadtbezirken wird kaum,<br />
die allmähliche religiöse oder kulturelle Überfremdung<br />
immer noch nicht wahrgenommen. Erst der Bau größerer<br />
Moscheen weckte weitere Kreise auf. Ob freilich zu<br />
religiösem Eifer, stehe dahin. In der Antike endete diese<br />
Haltung mit dem Untergang der alten Religion und dem<br />
Ende des sie tragenden Staates eine Generation später.<br />
Für die christliche Religion ist ein ähnliches Ende zu<br />
befürchten, was dann auch die Frage nach der Zukunft<br />
unseres Staates eröffnet.<br />
182 Lukian, Sämtliche Werke – Übersetzt von Christoph Martin Wieland,<br />
Hrg. H. Floerke, 1911. Vielleicht kann man Lukian in seiner<br />
Kritik der heidnischen „Theologie“ mit David Friedrich Strauß<br />
vergleichen und der von ihm angestoßenen radikalen Kritik.<br />
3. Kampf gegen die neue Religion<br />
Der staatliche Widerstand gegen das Vordringen<br />
der Christen setzte in Rom erst spät ein. Schon Gibbon<br />
legt dar, daß die Kirche die Verfolgungen, denen ihre<br />
Religion bis zum endlichen Sieg ausgesetzt gewesen<br />
war, sehr übertrieben habe. Noch die heutige Kirche<br />
rühmt sich dieser Verfolgungen. Tatsächlich waren die<br />
Christenverfolgungen im Römischen Reich bis etwa<br />
um 250 nicht allzu schlimm. Christen aus dem mittleren<br />
Bürgerstand blieben im ganzen unbehelligt. Die Zahl der<br />
Märtyrer war klein und leicht zu zählen. 183 Erst zwischen<br />
249 und 258 kommt es zu ernst gemeinten und strategisch<br />
geplanten Verfolgungen unter den Kaisern Decius<br />
und Valerian. Dann ging 303 unter Diokletian (284–305)<br />
noch einmal eine heftige Verfolgungswelle über das<br />
Reich. Das war es dann auch schon. Auch die Gebildeten<br />
befaßten sich erst spät mit der Sekte der Galiläer, wie<br />
sie zumeist noch hieß. Celsus (Ende 2. Jhdt.) wollte sie<br />
geistig überwinden. Er ist nur indirekt bekannt durch<br />
die Gegenschrift des Origines. Der ernsthafteste und<br />
intellektuell redlichste Kämpfer gegen die neue Religion<br />
war Porphyrios (234 bis ca. 300). 184 Aber v. Harnack stellt<br />
fest: (Zwar ist) Porphyrios auch heute noch nicht widerlegt<br />
… Aber die Religion der Kirche war schon Weltreligion<br />
geworden; solche Weltreligionen vermag kein Professor<br />
mit Erfolg zu bekämpfen.<br />
Es zeigt sich also, daß Staat und staatstragende<br />
Schichten die schleichende Umwertung ihrer Religion<br />
und Kultur anfangs gar nicht zur Kenntnis nahmen oder<br />
nehmen wollten. Als man sich endlich zur Gegenwehr<br />
aufraffte, war die Entscheidung, ohne daß es noch<br />
jemand wußte, zugunsten des Christentums schon<br />
gefallen.<br />
4. Kampf für die alte Religion: Antike<br />
Einer Neuerung kann auch dadurch entgegengetreten<br />
werden, daß man das gefährdete Alte stärkt.<br />
Das ist gewiß eine edlere Form des Widerstandes als<br />
blutige Verfolgungen auszurufen oder in unseren Tagen<br />
mit Aufmärschen gegen den Bau von Moscheen<br />
zu polemisieren, welche, wenn wir ehrlich sind, nicht<br />
schlechter in unsere Städtebilder passen als in Berlin<br />
die Große Synagoge oder auch der Dom. 185 Diesen<br />
Weg ging ein Schüler des Porphyrios, Jamblichos (ca.<br />
250–330). Nicht Bekämpfung der neuen christlichen<br />
Religion war sein Ziel, sondern eine Neubestimmung<br />
der von uns „heidnisch“ genannten antiken Religion. 186<br />
Jamblichos gab nicht nur dem griechischen Glauben eine<br />
neue theoretische Begründung … er schuf auch eine ver-<br />
183 v. Harnack , FN 1, S. 504<br />
184 Vgl. die ausführliche Würdigung durch v. Harnack, a. a. O., S. 520f.<br />
185 Hierzu vgl. www.dresaden.de E 1 Nr. 195<br />
186 Jamblich – Pythagoras,Wbg. 2002, Reihe SAPERE; Vgl. Dillon,<br />
John, S. 295 f.: Vita Pythagorica – ein Evangelium, ähnlich dem<br />
des Johannes.
tiefte religiöse Praxis dadurch, daß er durch Gebet, Opfer,<br />
Kultus … verinnerlichte und sie als symbolischen Ausdruck<br />
seelischer Vorgänge betrachtete. 187 Das zeigt neben anderen<br />
Schriften dieses Mannes seine Vita Pythagorica,<br />
das Leben des Pythagoras. Diese wurde wie schon seine<br />
Schrift über Plotin in unseren Tagen ein antichristliches<br />
Evangelium genannt. Dillon nennt die Vita Pythagorica<br />
ein Evangelium nach Art des Johannesevangeliums,<br />
in welchem der Anspruch des Pythagoras bzw. seiner<br />
Schüler unterstrichen werde, ein griechisch-heidnisches<br />
Gegengewicht zu Jesus, eigentlich sogar sein Vorbild<br />
und Vorläufer, zu sein.<br />
Die auf Platon und letztlich Pythagoras (ca. 570–497)<br />
gestützte Religion der Spätantike 188 ist ein Beispiel für<br />
den geistigen Kampf. Auch Jamblichos lehrte in der<br />
Tradition des Pythagoras und Platon die Erlösung des<br />
Menschen. 189 Die komplizierten Lehrgebäude und<br />
schwierigen Praktiken der antiken Religionen oder<br />
Konfessionen stießen den nicht Eingeweihten zurück.<br />
Jamblichos schreibt in seinem Leben des Pythagoras<br />
(29,157): Von dem, was der menschlichen Erkenntnis<br />
überhaupt zugänglich ist, gibt es nichts, was in den Schriften<br />
des Pythagoras nicht erschöpfend dargelegt ist …<br />
Pythagoras war in allen zu Genüge in jeder Wissenschaft<br />
erfahren (ÜvV). Hieraus ergeben sich mystische Weiterungen<br />
merkwürdigster Art. Lehren mit immer feineren<br />
Vorschriften und eine Kosmologie, die dem Gläubigen<br />
am Ende zumutete, das Weltganze als Konstrukt aus<br />
183 Welten zu verstehen usw.<br />
Die von Jamblichos und ein wenig später von Kaiser<br />
Julian (362–365) und anderen unternommenen<br />
Versuche, die antike Religion geistlich aufzufrischen<br />
und wieder aufzurichten, waren ehrenwert, aber vergeblich.<br />
Was Pythagoras gelehrt haben mochte, oder<br />
was immer von den antiken Göttern zu erwarten war<br />
– all das war ebenso umgreifend in Christus als Person<br />
beschlossen (1. Kolosserbrief 1,16/17). Der Christ mußte<br />
keine besondere Lehren oder Sitten befolgen, sondern<br />
nur an Christus als den Erlöser glauben; vgl. Apg. 2,38.<br />
Das Christentum war einfacher und versprach ebenso<br />
viel, ja unendlich viel mehr, indem es gegen den Spott<br />
der Intellektuellen ganz kompromißlos die leibliche<br />
Auferstehung eines jeden im Glauben an Christus<br />
Verstorbenen predigte. Diese klare Einfachheit war<br />
vermutlich der entscheidende Wettbewerbsvorteil der<br />
neuen Religion gegenüber den Konkurrentinnen, welche,<br />
wie die Pythagoräer, statt leiblicher Auferstehung<br />
eine umständliche Reinkarnationslehre nach Art des<br />
Buddhismus lehrten.<br />
187 RGG 2. Aufl . 1929 Jamblichos<br />
188 Zu dieser „hellenistischen Mischreligion“ vgl. Aden, Apostolisches<br />
Gaubensbekenntnis, www.dresaden.de S. 81<br />
189 Lurje, M in Jamblich FN 4, S. 225: Philosophie des Pythagoras als<br />
Erlösungslehre.<br />
5. Kampf für die alte Religion: heute<br />
Die Aufgabe der christlichen Religion in allen ihren<br />
Ausprägungen wäre es heute, sich dem Islam geistlich<br />
und theologisch zu stellen und neuen Glauben zu<br />
entfachen.<br />
Als im 7. Jahrhundert der Islam auftrat, war das<br />
Christentum zu einer lehrhaft verfestigten Schrift- und<br />
Gelehrtenreligion geworden. Seither trifft der Wettbewerbsvorteil<br />
der Einfachheit auf den Islam zu. Heute ist<br />
es der Islam, der gegen den Spott der anderen kompromißlos<br />
die leibliche Auferstehung des Frommen in<br />
Aussicht stellt, während die christlichen Kirchen sich<br />
bei dieser Frage in wolkigen Ausfl üchten verlieren und<br />
in Wahrheit nicht mehr wissen, was sie dem frommen<br />
Christen jenseits des Grabes versprechen sollen. 190<br />
Gegenüber dem Islam hat das Christentum seit<br />
dessen Auftreten stets und ständig Anhänger verloren.<br />
Es ist umgekehrt bis heute niemals vorgekommen, daß<br />
das Christentum zu Lasten des Islam in größerer Zahl<br />
Anhänger gewinnen konnte. Die christliche Botschaft<br />
konnte sich in ihren Ursprungsländern im östlichen<br />
Mittelmeer nicht halten und verlor diese an den Islam,<br />
heute stößt sie auch in ihren europäischen Kernländern<br />
auf immer größere Verständnisschwierigkeiten. Sie ist<br />
von mythischen Bildern durchsetzt wie Erbsünde, Erlösung<br />
von Schuld, Opfer des Gerechten am Kreuz für<br />
die sündige Menschheit, leibhaftige Auferstehung von<br />
den Toten usw., welche selbst Kirchenobere kaum mehr<br />
verstehen. Der Islam ist dagegen ungeheuer einfach!<br />
Viel einfacher als das christliche Glaubensbekenntnis!<br />
Viele Deutsche sind Muslime geworden, weil sie das<br />
Christentum nicht verstehen.<br />
Es wäre aber billig, den Islam nur als einfach hinzustellen!<br />
Der Islam kann einen ungeheuren Reichtum<br />
entfalten. Christen müssen sich fragen, ob ihre Religion<br />
dieselben Höhen und Tiefen erschließt. Das Christentum<br />
steht in Gefahr, gegenüber dem Islam abzufallen. Es<br />
mutet dem Anfänger zu viel Gedankenarbeit zu und<br />
gibt dem fortgeschrittenen Suchenden zu wenig Raum<br />
für seelische Erhebung. Jeder Christ müßte dem zweiten<br />
Satzteil widersprechen. Der Verfasser nimmt ihn auch<br />
sofort zurück, freilich mit der Maßgabe: Das Christentum<br />
in seinen kirchlich verlautbarten Formen spricht die<br />
Herzen nur noch selten an. Wenn sich das nicht ändert,<br />
wird es dem Ansturm des Islam erliegen.<br />
6. Beschleunigung gesellschaftlicher<br />
Veränderungen<br />
Gesellschaftliche Veränderungen geschehen nicht<br />
plötzlich, sondern als dynamische Vorgänge in der Zeit.<br />
Sie benötigen vom Beginn bis zur allgemeinen Anerkennung<br />
einen gewissen Vollzugszeitraum. Die Dauer<br />
190 Aden , Apostolisches Glaubensbekenntnis, www.dresaden.de,<br />
S. 258 ff .<br />
4. Teil Grundwerte<br />
79
4. Teil Grundwerte<br />
80<br />
des Vollzugszeitraums ist von vielen, im einzelnen kaum<br />
benennbaren Umständen abhängig. Gesamtgeschichtlich<br />
kann aber ein Akzelerationsgesetz festgestellt<br />
werden, welches wohl hauptsächlich auf der ständigen<br />
Beschleunigung der Informationsübertragung beruht.<br />
Sucht man miteinander vergleichbare Neuerungen<br />
damals und heute auf und ermittelt den damals und<br />
heute erforderlichen Vollzugszeitraum, so ist er früher<br />
in der Regel deutlich länger als heute. Man könnte sogar<br />
versuchen, einen Akzelerationsfaktor zu errechnen, um<br />
welchen heutige Vollzugszeiträume schneller ablaufen<br />
als damals. Es soll aber hier keiner Mathematisierung<br />
geschichtlicher Verläufe das Wort geredet werden, welche<br />
in falscher Sicherheit Vorhersagen träfe. Wohl aber<br />
folgendes: Vergleichbare Vorgänge geschehen heute<br />
gegenüber der Antike in stark, vielleicht bis um das<br />
Zehnfache, verkürzten Vollzugszeiträumen. Das, was<br />
auf uns zukommt, wird also nicht in fernen Jahrzehnten<br />
geschehen, sondern wahrscheinlich bald. Wenn noch<br />
gehandelt werden soll, dann rasch!<br />
7. Vergleichende Chronologie<br />
Christentum damals/Islam heute<br />
Etwa um das Jahr 50 verschwindet der Völkerapostel<br />
Paulus. Seine Saat ging auf. Das Christentum begann,<br />
sich in der antiken Welt auszubreiten. Dieses Jahr kann<br />
man als Beginn der christlichen Religion ansetzen. Im<br />
Jahre 303 wurden Christen letztmalig verfolgt. Dann<br />
gelang ihm der Durchbruch zur praktisch herrschenden<br />
Religion (311: Toleranzedikt des Galerius). Um 400<br />
war die Sekte der Galiläer stark genug geworden, die<br />
Konkurrenzreligion verbieten zu lassen (392 Verbot der<br />
heidnischen Kulte). Der Zeitraum vom ersten Auftreten<br />
des Christentums bis zum Verbot der heidnischen Kulte<br />
durch das Christentum betrug ziemlich genau 350 Jahre.<br />
Für den heutigen westeuropäischen Christen stellt<br />
sich die Frage, wie lange es dauern wird, bis der Islam<br />
in Westeuropa in der Lage sein wird, die aus seiner Sicht<br />
heidnischen Kulte, also das Christentum, zu verbieten,<br />
wie er es in den Ländern seiner Dominanz heute tut.<br />
Alles kann nur Spekulation sein. Diese kann aber vielleicht<br />
doch wie folgt etwas eingegrenzt werden. Das<br />
vermutlich als Siegeszug endende Vordringen des<br />
Islam begann bei uns um 1970, als die ersten Türken<br />
kamen. Etwa ab 1990 begannen kritische Stimmen zu<br />
fragen, was denn angesichts der türkischen Einwanderung<br />
nach <strong>Deutschland</strong> eigentlich vor sich gehe. Ab<br />
etwa 2000 ist diese Stimmung in Westeuropa ziemlich<br />
allgemein geworden. Es kam zu ersten Widerstandshandlungen<br />
der Bevölkerung gegen Moscheebauten<br />
und Islamisierung. Wer will, kann diese Erscheinungen<br />
mit den Christenverfolgungen in Rom parallelisieren.<br />
Heute werden diese Gegenkräfte von den (noch<br />
christlichen) Behörden mit allem rechtlichen und<br />
ideologischen Aufwand unterdrückt. Die im April <strong>2010</strong><br />
durch einen CDU-Ministerpräsidenten vollzogene Er-<br />
nennung einer muslimischen Ministerin ist eindeutiges<br />
Zeichen dafür, daß die Anerkennung des Islam als dem<br />
Christentum gleichrangige Religion praktisch vollzogen<br />
ist. Derselbe Ministerpräsident hat, nun als Bundespräsident,<br />
den Islam als dem Christentum praktisch<br />
gleichrangige Religion in <strong>Deutschland</strong> bezeichnet. Die<br />
Diskussion um islamisch-theologische Fakultäten wird<br />
an unseren Universitäten erst seit etwa 2005 ernsthaft<br />
geführt. Im Oktober <strong>2010</strong> verlautete bereits, daß an drei<br />
Standorten solche Fakultäten eingerichtet werden sollen.<br />
Ausgerechnet Tübingen, eine der Hauptstätten der<br />
deutschen theologischen Wissenschaft, gehört dazu.<br />
Bei diesen wird es nicht bleiben. Die christlichen theologischen<br />
Fakultäten bluten mangels Studenten und des<br />
qualifi zierten wissenschaftlichen Nachwuchses immer<br />
mehr aus. In zehn bis fünfzehn Jahren werden diese<br />
weitgehend funktionslos geworden sein. Man wird –<br />
diese Voraussage sei gewagt – erst christlich-islamische<br />
Simultanfakultäten schaff en, die dann wegen des viel<br />
größeren Zulaufs von Imamschülern immer mehr zu<br />
muslimischen Fakultäten werden. Der Islam steht in<br />
<strong>Deutschland</strong> also heute dort, wo das Christentum 311<br />
mit dem Toleranzedikt des Galerius stand. Dafür brauchte<br />
die christliche Religion rund 250 Jahre; der Islam in<br />
<strong>Deutschland</strong> aber kaum 40 Jahre.<br />
8. Verbot des Christentums in<br />
Westeuropa?<br />
Es ist heute nicht mehr befremdlich, über ein Ende<br />
des Christentums in <strong>Deutschland</strong> und Westeuropa<br />
nachzudenken. Als noch nicht öff entlich gedacht, wird<br />
man aber den Gedanken zurückweisen, die christliche<br />
Religion werde einmal bei uns verboten werden. Absurd,<br />
darüber zu spekulieren, wann das der Fall sein<br />
könnte. Es sei hier doch gewagt: In 25 Jahren wird<br />
es keine christlich-theologischen Fakultäten mehr an<br />
unseren Hochschulen geben, wohl aber islamische.<br />
Das Christentum wird dann noch nicht durch Gesetz<br />
verboten sein, wohl aber derartig marginalisiert sein,<br />
daß es politisch unkorrekt sein wird, im öff entlichen<br />
Diskurs christliches Gedankengut zu zitieren.<br />
Das muß auf den unvorbereiteten Leser wie eine verstiegene<br />
Panikmache wirken. Aber die Geschichte hat<br />
keine Sympathie mit Verlierern. Im Weihnachtsgottesdienst<br />
im Breslauer Dom 1944 kam auch wohl niemand<br />
auf den Gedanken, daß dieses der letzte deutschsprachige<br />
Weihnachtsgottesdienst in dieser Kirche sei, und<br />
daß der Gebrauch der deutschen Sprache in dieser<br />
rein deutschen Stadt einmal verboten sein werde. Es<br />
geschah doch, und zwar ein halbes Jahr später.<br />
Das Christentum im späten Rom brauchte nach<br />
seiner förmlichen Gleichberechtigung im Jahre 311<br />
mit dem Heidentum weitere 80 Jahre, bis es den Spieß<br />
umdrehen und nun die heidnische Religion verfolgen<br />
und schließlich förmlich verbieten konnte (392: Widerruf<br />
des Toleranzediktes und Verbot der heidnischen Kulte).
Verteidigungsschriften zugunsten des Heidentums<br />
wurden öffentlich verbrannt, auch wenn sie von einem<br />
Kaiser stammten. 191 Setzt man einen Akzelerationsfaktor<br />
von etwa 6, dann entsprächen diesen 80 Jahren in der<br />
Antike heute etwa 15 Jahre. Der Islam wäre also etwa<br />
2025 stark genug, in <strong>Deutschland</strong> das zu tun, was er in<br />
den Ländern seiner bereits bestehenden Dominanz in<br />
oft sehr brutaler, sogar tödlicher Weise tut, nämlich die<br />
christliche Kirche und die Christen zu entrechten und<br />
zu verfolgen.<br />
Es wird hier nicht gesagt, daß es so kommen muß.<br />
Es wird auch nicht gesagt, daß irgend jemand im<br />
islamischen Bereich heute Gedanken hegt, wie hier<br />
beschrieben. Es wird freilich auch nicht gesagt, daß<br />
dieser Gedanke den führenden Muslimen fern liege.<br />
Muslime, die der Verfasser auf Reisen und auch hier<br />
kennengelernt hat, sind oft fromme Menschen. Viele<br />
von ihnen weisen den Gedanken zurück, bei uns eine<br />
religiöse Dominanz des Islam errichten zu wollen. Es<br />
sei ihnen geglaubt. Aber auch die christlich-frommen<br />
ersten Einwanderer nach Nordamerika, die Pilgerväter,<br />
dachten nicht entfernt daran, die ihnen freundlich<br />
entgegenkommende Urbevölkerung zu vernichten. Es<br />
geschah dann doch – irgendwie.<br />
Ergebnis<br />
Um 350 stand das Reich unter seinem jungen Kaiser<br />
Julian wieder einmal an allen Fronten siegreich da. Wer<br />
hätte denken können, daß das Palladium des Staates<br />
und seiner Macht, die Göttin Victoria, schon binnen<br />
einer Generation geschändet und entehrt sein würde?<br />
Mit Rührung und Mitgefühl verfolgen wir das Aufbäumen<br />
der alttreuen Anhänger der antiken Religion<br />
gegen die Unduldsamkeit der Christen. Die Tränen der<br />
Verzweifl ung, welche die letzte Vestalin über den an<br />
ihr begangenen Religionsfrevel der Christen vergoß,<br />
empfi nden wir noch. 192 Mit Beklemmung folgen wir<br />
Symmachus an den Kaiserhof, wo er 384 im Auftrage<br />
des römischen Senats Kaiser Gratian fl ehentlich bat, den<br />
Altar der Victoria wieder aufrichten zu dürfen. Symmachus<br />
legt dieser Göttin die beschwörenden Worte an<br />
den Kaiser in den Mund: Diese Religion hat die Welt unter<br />
meine Gesetze getan. Dieser Kult hat Hannibal von Rom<br />
und Kelten vom Kapitol vertrieben. 193 Umsonst. So kann<br />
es auch einmal den Kreuzen und Kruzifi xen in unseren<br />
Domen und Kathedralen ergehen! Und so ist es auch<br />
bereits passiert. Die älteste und ehrwürdigste Kirche<br />
der Christenheit, die Hagia Sophia in Konstantinopel<br />
ist seit 1453 ihrer christlichen Zeichen entkleidet und<br />
zur Moschee geworden. So wird es wohl kommen. Die<br />
meisten der heute lebenden Deutschen werden es noch<br />
191 Z. B. Kaiser Julians Schrift gegen die Galiläer<br />
192 Gregorovius, F., Geschichte der Stadt Rom, Buch 1. Nr. 2<br />
193 Gibbon, E. History of the Decline and Fall of the Roman Empire,<br />
London 1813, VI, S. 96 f.<br />
erleben, daß im Kölner Dom muslimische Gottesdienste<br />
gefeiert werden,<br />
Wahrscheinlich ist es schon zu spät, das Christentum<br />
in <strong>Deutschland</strong> zu retten.<br />
M. A.<br />
Stand: 17. 10. <strong>2010</strong><br />
*<br />
Papst Benedikt XVI. hat auf seiner Englandreise im<br />
September <strong>2010</strong> einen Vorschlag gemacht, der auf eine<br />
Doppelmitgliedschaft zwischen der anglikanischen und<br />
katholischen Kirche zielt. In diesem Vorschlag habe ich<br />
Gedanken wiedergefunden, welche ich als Privatmann<br />
Papst Benedikt in einem Brief v. 15. Mai 2006 vorgetragen<br />
habe. Mir liegt ein Antwortschreiben seines Büros<br />
vor. Vielleicht ist der Zeitpunk gekommen, diese Gedanken<br />
öff entlich zu machen. Der geistliche Zustand des<br />
Protestantismus, nicht nur der anglikanischen Staatskirche,<br />
ist von der Art, daß das Erbe Luthers bei den in<br />
der EKD verbundenen Landeskirchen weniger gut als<br />
in einer christlichen Weltkirche aufgehoben scheint.<br />
Der Brief, der hier zur Diskussion gestellt wird, lautet:<br />
Seiner Heiligkeit<br />
Papst Benedikt XVI.<br />
V a t i k a n<br />
15. Mai 2006<br />
500. Jahrestag der Reformation im Jahre 2017<br />
Euer Heiligkeit!<br />
Im Jahre 2017 wird sich die von Martin Luther ausgelöste<br />
Reformation zum 500. Male jähren. Dieses herausragende<br />
Datum ist geeignet, um mit einem kühnen Schritt<br />
die seither getrennten Teile der abendländischen Kirche<br />
zusammenzuführen. Hierzu erlaube ich mir folgende<br />
Überlegung:<br />
1. Martin Luther wird anlässlich des 500. Jahrestages<br />
der Reformation heiliggesprochen.<br />
2. Die katholische Kirche verlautbart anlässlich<br />
dieses Jahrestages einseitig eine Erledigungserklärung<br />
betreffend der Gründe, welche zur<br />
Kirchenspaltung geführt haben. Getaufte evangelische<br />
Christen gelten hinfort als katholisch,<br />
wenn sie nicht je für ihre Person widersprechen.<br />
Die einzuleitenden Schritte brauchen einen längeren<br />
Vorlauf. Es gibt viele schwierige, aber wohl nicht unlösbare,<br />
theologische und rechtliche Fragen. Es besteht daher<br />
schon heute Handlungsbedarf, wenn der Gedanke verfolgt<br />
werden soll.<br />
Zu 1: Heiligsprechung Martin Luthers.<br />
a. Luther wurde als Mitglied der einen Kirche geboren<br />
und getauft. Die längste und geistlich wirksamste Zeit<br />
4. Teil Grundwerte<br />
81
4. Teil Grundwerte<br />
82<br />
seines Lebens war Luther Mitglied der katholischen Kirche.<br />
Es ist wohl nicht einmal sicher, ob er in einem förmlichen<br />
Sinne jemals aufgehört hat, es zu sein. Die geltend gemachten<br />
Trennpunkte zwischen den evangelischen Kirchen und<br />
der Römischen Kirche sind dem christlichen Laien, gleich<br />
ob evangelisch oder katholisch, kaum nachvollziehbar.<br />
In der evangelischen Predigt spielen diese heute keinerlei<br />
Rolle. Die Wiedereingliederung Luthers in die Weltkirche<br />
als Heiliger entzöge den protestantischen Konfessionen<br />
und Glaubensgruppen die vielleicht wichtigste Geschäftsgrundlage<br />
für ihren Sonderweg.<br />
b. Die geistlichen Leistungen Luthers waren und sind für<br />
die katholische Kirche als in dem Maße herausragend, daß<br />
– wäre es nicht zur Kirchenspaltung gekommen – Luther<br />
nach den einschlägigen Vorschriften für eine Heiligsprechung<br />
ohne weiteres in Betracht käme. Das bis heute die<br />
katholische Kirche prägende Trienter Reformkonzil war,<br />
wenn zwar nicht Luthers bewusstes Werk, so doch dessen<br />
unmittelbare Folge. Der Vorwurf gegen Luther, die Kirchenspaltung<br />
herbeigeführt, jedenfalls in Kauf genommen zu<br />
haben, hat Gewicht. Die Kirchenspaltung war aber nach<br />
heute wohl einhelliger Ansicht auch Folge eines falschen<br />
Verhaltens der Kurie. Luther hat die Spaltung nicht betrieben,<br />
sondern von seinem Standpunkt aus als das geringere<br />
Übel hingenommen.<br />
2. Erledigungserklärung<br />
a. Die katholische Kirche stellt lehramtlich fest, daß es<br />
keinen theologischen Grund gebe, welcher die Fortdauer<br />
der Kirchenspaltung rechtfertige. Getaufte evangelische<br />
Christen können daher ohne Änderung ihres Glaubensstandes<br />
Glieder der katholischen Weltkirche sein. Die fortdauernde<br />
Spaltung gefährdet aber die Kirche Jesu Christi<br />
in der Welt. Sie ist auch in der Mission kontraproduktiv.<br />
Die Römische Kirche würde durch einen solchen Schritt<br />
alle Getauften als Angehörige der einen katholischen<br />
Kirche anerkennen. Katholisch ist danach, ohne weitere<br />
Formalitäten, ipso iure, wer christlich getauft ist.<br />
b. Es wird angeregt, den Mitgliedern evangelischer<br />
Kirchen (ausgenommen die gemäß näherer Defi nition<br />
als Sekten anzusehenden Gruppen) die Doppelmitgliedschaft<br />
mit der katholischen Kirche zuzuerkennen. Diese<br />
Christen werden damit katholisch, ohne konvertieren zu<br />
müssen. Diese können aber durch schlichte Mitteilung an<br />
die zuständige katholische Stelle die Doppelmitgliedschaft<br />
zurückweisen.<br />
Erwartete Folge: Die Hemmungen, die Konfession, in<br />
welcher man geboren ist, zu verlassen, würden weichen.<br />
Die evangelische Kirche würde einer sehr heiklen Darlegungs-<br />
und Beweislast unterworfen werden. Sie müsste<br />
ihren Mitgliedern darlegen, was das evangelische proprium<br />
sei, und warum dieses mit einer Doppelmitgliedschaft<br />
in der katholischen Kirche unvereinbar sei. Die geistliche<br />
Substanz der evangelischen Seite ist oft sehr ausgedünnt.<br />
Es ist daher anzunehmen, daß das Stadium der Doppelmitgliedschaft<br />
nach ein, zwei Generationen überwunden<br />
sein wird. Es wird nur noch eine Kirchenmitgliedschaft, die<br />
katholische, geben.<br />
c. Die Doppelmitgliedschaft ist mit keinen zusätzlichen<br />
Pfl ichten verbunden. Die Kirchensteuer fl ießt weiterhin an<br />
die Erstkirche. Das Doppelmitglied hätte aber das Recht,<br />
durch einfache schriftliche Erklärung seine Mitgliedschaft<br />
in der evangelischen Kirche zugunsten seiner Mitgliedschaft<br />
in der katholischen zu beenden.<br />
Ich bin Lutheraner wie meine Vorfahren seit jeher. Treue<br />
zu diesen würde mich wie viele meinesgleichen immer<br />
hindern zu konvertieren. Dinge, welche ich in meiner Kirche<br />
beobachte, sind nicht sehr ermutigend. Aufenthalte<br />
im auch außereuropäischen Ausland lassen mich fragen,<br />
ob wir Christen je an unserer Stelle genug tun, um das<br />
Eigentliche der christlichen Botschaft zu formulieren und<br />
in der Welt zu vertreten. Sie wollen mir daher die Kühnheit,<br />
Ihnen den obigen Gedanken nahezubringen, verzeihen.<br />
*
Wiedervereinigung<br />
der christlichen Kirchen?<br />
von<br />
Hinrich E. Bues, Hamburg<br />
Der historische Staatsbesuch von Papst Benedikt<br />
XVI. in Großbritannien im September <strong>2010</strong> könnte ein<br />
neues Kapitel für die Christenheit aufgeschlagen haben.<br />
Feindselige und aggressive Stimmen schlugen dem Besucher<br />
aus Rom zunächst entgegen. Während des viertägigen<br />
Besuches wandelte sich freilich die Stimmung<br />
vollständig. Historisch ist dieser Staatsbesuch nicht nur<br />
deswegen zu nennen, weil noch nie ein Papst in offi zieller<br />
Mission auf den britischen Inseln war, sondern auch<br />
auf Grund der besonderen Situation der anglikanischen<br />
Staatskirche. Sie verdankt ihre Gründung einer in der<br />
Kirchengeschichte einzigartigen Gewalttätigkeit durch<br />
König Heinrich VIII. im Jahr 1534, der die Schwäche der<br />
katholischen Kirche infolge der lutherischen Reformation<br />
nutzte und sich zum Oberhaupt der Kirche seines<br />
Landes machte.<br />
Die auf königlichem Machtmissbrauch aufgebaute<br />
Kirche ist heute geistlich offenbar ausgezehrt und<br />
auch organisatorisch ihrer Aufl ösung nahe. Zum einen<br />
verliert die ehemalige „Church of England“ in dramatischem<br />
Ausmaß Mitglieder und Pastoren an Freikirchen<br />
oder die katholische Kirche und krankt zum anderen<br />
an innerer Zustimmung ihrer noch verbleibenden Mitglieder.<br />
Zudem ist die anglikanische Weltgemeinschaft<br />
innerlich tief gespalten. In Amerika und Australien bereiten<br />
sich ganze Gemeinden und Teilkirchen auf einen<br />
Übertritt in die katholische Kirche vor.<br />
Auf dieser Grundlage ist der Vorstoß von Papst<br />
Benedikt zu sehen. In der Konstitution „Anglicanorum<br />
Coetibus“ vom Dezember 2009 besteht nun für Anglikaner<br />
eine völlig neue Möglichkeit des Übertritts zur<br />
katholischen Kirche. Es wird nicht mehr die Absage an<br />
die bisherige Glaubenspraxis gefordert, sondern nur<br />
noch die Anerkennung des katholischen Katechismus<br />
(KKK) sowie des Papstes. So leuchtet am Horizont – 470<br />
Jahre nach der Spaltung der Christenheit durch die<br />
Reformation – eine neue und von vielen unerwartete<br />
Möglichkeit der Kircheneinheit auf.<br />
Ganz in dieser Linie liegt eine zweite Entscheidung<br />
des römischen Gastes, die Seligsprechung von John<br />
Henry Kardinal Newman (1801-1890). Bei diesem Mann<br />
handelt es sich um den berühmtesten und anerkanntesten<br />
Theologen des Anglikanismus im 19. Jahrhundert.<br />
Er trat 1845 zur katholischen Kirche über und wurde<br />
1879 zum Kardinal ernannt. 120 Jahre nach seinem Tod<br />
erfolgte nun am 19. September seine Erhebung zur Ehre<br />
der Altäre, was Benedikt klugerweise als „Zeichen der<br />
Versöhnung“ mit der Anglikanischen Kirche deutete. So<br />
fühlten sich bei der Seligsprechungsfeier in Birmingham<br />
am 19. September nicht nur 55.000 katholische Gläubige,<br />
sondern auch eine Reihe anglikanischer Bischöfe<br />
und Pastoren willkommen.<br />
Insgesamt zeigt die Entwicklung der Kirche in<br />
England viele Parallelen zur deutschen Situation. Die<br />
Aufl ösungsescheinungen in den den deutschen evangelischen<br />
Landeskirchen sind wie in England Folge<br />
einer geistlichen Auszehrung sowie völlig überholter<br />
Srukturen, welche auf der territorialen Einteilung des<br />
Deutschen reiches vor 1806 zurückgehen.<br />
Vor 60 Jahren bezeichneten sich noch 42,2 Millionen<br />
als evangelisch, heute noch 24,5 Millionen. Der Mitgliederrückgang<br />
einer jahrhundertealten Institution<br />
um über 42 Prozent in diesem relativ kurzen Zeitraum<br />
ist einzigartig. Ähnliche Zerreißproben wie in England<br />
4. Teil Grundwerte<br />
83
4. Teil Grundwerte<br />
84<br />
sind auf theologischem Gebiet auch in <strong>Deutschland</strong> zu<br />
beobachten. Die katholische Kirche hat demgegenüber<br />
im gleichen Zeitraum ihre Mitgliederzahl seit 1950 von<br />
23,2 auf 24,9 Millionen Mitglieder steigern können, ein<br />
Plus von 7,3 Prozent.<br />
Will sich das Christentum gegen den andrängenden<br />
Islam halten, ist eine Vereinigung der Kirche dan das<br />
Gebot der Stunde.<br />
*<br />
Mohammed u. George Washington: Mohammed, der<br />
nicht nur den Islam, sondern auch das arabische Großreich<br />
gründete, und George Washington, der Gründer<br />
der USA, hatten Gemeinsamkeiten, die jeweils für ihre<br />
Karriere ausschlaggebend waren. Beide<br />
• stammten aus besseren, aber veramten Familien;<br />
• heirateten im etwa gleichen Alter von rd. 25 Jahren<br />
Witwen, die älter als sie und sehr reich waren.<br />
Die Heirat mit Khadija erlaubte Mohammed die<br />
Muße, seinen religiösen Eingebungen nachzugehen.<br />
Washington wurde durch seine Frau zu<br />
einem der reichsten Landbesitzer in Virginia, was<br />
ihm erlaubte, ab 1774 politisch tätig zu werden;<br />
• hatten einen starken Hang zu Frauen, aber keine<br />
Kinder. Washington hatte einige illegitime Kinder<br />
mit seinen Negersklavinnen; Mohammed hatte<br />
zwar mehrere Kinder, von denen aber nur eine<br />
Tochter, Fatima, überlebte;<br />
• besaßen große Beredsamkeit;<br />
• verdankten ihren epochalen Aufstieg ihren militärischen<br />
Leistungen, die sie zu Gründern jeweils<br />
ihrer Staaten machten.<br />
*
Gewissen und Verantwortung<br />
Zum Gewissen gehört die zuverlässige Information<br />
Grundwerte<br />
Von<br />
Teil<br />
Pater Lothar Groppe SJ 4.<br />
Fragestellung<br />
Artikel 4 (3) des Grundgesetzes bestimmt: „Niemand<br />
darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der<br />
Waff e gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“<br />
Der Text geht off enbar davon aus, daß jedermann<br />
hinlänglich bekannt ist, was Gewissensgründe<br />
und letztlich das Gewissen sind. Im täglichen Umgang<br />
sprechen wir ja von gewissenhaften und gewissenlosen<br />
Menschen. Angesichts ständig steigender Zahlen<br />
von Kriminaldelikten hat man bisweilen den Eindruck,<br />
es werde heutzutage ein wenig häufi g vom Gewissen<br />
gesprochen. „Wer allzu leicht das Gewissen im Munde<br />
führt, macht sich ähnlich verdächtig wie derjenige, der<br />
den heiligen Namen Gottes ins Gewöhnliche herabzerrt<br />
und damit Götzen- statt Gottesdienst treibt“, schrieb<br />
der damalige Kardinal Ratzinger bereits 1972 194 . Der<br />
Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen,<br />
der glaubt, den Dienst mit der Waffe nicht leisten<br />
zu dürfen, ohne per sönlich schuldig zu werden,<br />
kann sich dennoch zu Recht auf das Grundgesetz<br />
berufen.<br />
Als seinerzeit im Parlamentarischen Rat vor der Gründung<br />
der Bundesrepublik <strong>Deutschland</strong> über die Frage<br />
einer Kriegsdienst verweigerung aus Gewissensgründen<br />
beraten wurde, warnte der spätere Bundespräsident<br />
Theodor Heuß entschieden davor, diesen Artikel in<br />
das Grundgesetz aufzunehmen, da es zu einem ungeheuren<br />
Gewissensverschleiß kommen werde. Dabei<br />
war Professor Heuß alles andere als militärfromm. Die<br />
194 Internationale katholische Zeitschrift 1 (1972), S. 435.<br />
Folgezeit sollte seine Befürchtungen nur allzu sehr<br />
bestätigen. Steigende Zahlen von Wehrdienstverweigerern<br />
rechtfertigen noch nicht ohne weiteres den Schluß,<br />
die allgemeine Gewissenhaftigkeit habe erfreuliche<br />
Fortschritte gemacht. Nicht selten kann man sich des<br />
Eindrucks nicht erwehren, die Anträge auf Befreiung<br />
vom Wehrdienst könnten eher aus „gewissen“ als Gewissensgründen<br />
gestellt worden sein.<br />
Dem Seelsorger fällt immer wieder auf, daß echte<br />
Gewissens bildung nicht eben häufi g anzutreff en ist.<br />
Den Grund hierfür gab der Salzburger Pastoraltheologe<br />
Professor Dr. Gottfried Griesl auf der XXIII. Internationalen<br />
Pädagogischen Werktagung 1974 an. Er machte<br />
darauf aufmerksam, daß die Frage der Gewissensbildung<br />
von der wissenschaftlichen Pädagogik sehr<br />
stiefmütterlich behandelt werde. „Das Abschieben der<br />
Aufgabe der Gewissensbildung an den Pfarrer dürfte<br />
das öff entliche Fehlurteil verstärken, daß Gewissen<br />
nichts mit Wissen, sondern nur etwas mit glauben zu<br />
tun habe.“ Jedoch sei an der Gewissensfunktion die<br />
ganze Persönlichkeit mit Er kenntnis, Wertgefühl und<br />
tätiger Selbsterfahrung beteiligt.<br />
Die nachfolgenden Ausführungen sollen ein wenig<br />
zur Er hellung des Spannungsfeldes „Gewissen und<br />
Verantwortung“ beitragen.<br />
85
4. Teil Grundwerte<br />
86<br />
Der Begriff des Gewissens<br />
Was ist denn eigentlich das Gewissen? Ist es eine<br />
oder gar die höchste Berufungsinstanz im Bereich<br />
menschlicher Entschei dungen? Aber wenn dem so ist,<br />
wie kommt es dann, daß Menschen mit voneinander<br />
abweichenden oder gar einander widersprechenden<br />
sittlichen Urteilen sich darauf berufen können? Hat<br />
jeder Mensch ein eigenes Gewissen? Gibt es eine<br />
gemeinsame Basis für das Gewissen? Wenn wir den<br />
Begriff des Gewissens untersuchen, so unterscheiden<br />
wir zweierlei verschie dene Rücksichten: Im weiteren<br />
Sinn bedeutet Gewissen die Fähigkeit des menschlichen<br />
Geistes zur Erkenntnis der sittlichen Werte, Normen,<br />
Gebote und Verbote (Synderesis). Es ist dies die Gewissensanlage.<br />
Wir fi nden hierfür einen Hinweis im 1. Buch<br />
der Könige 3,9 – der Bitte Salomons an Gott: „Schenke<br />
also deinem Knecht ein gehorsames Herz, damit er<br />
dein Volk regieren und zwischen Gut und Böse unterscheiden<br />
könne.“ Interessant ist, daß der atheistische<br />
tschechische Philosoph Milan Machovec, der öfter Gast<br />
bei wissenschaftlichen Veranstaltun gen im Westen war,<br />
sich verblüff end ähnlich äußert: Die „Beurteilung der<br />
menschlichen Angelegenheiten vom Gesichts punkt<br />
der Unterscheidung des Guten vom Bösen“ leistet das<br />
Gewissen – und vermittelt „das Bewußtsein der Verantwortung<br />
einem anderen Menschen gegenüber“ 195 .<br />
Im engeren Sinn verstehen wir unter Gewissen das<br />
sittlich urteilende Selbstbewußtsein, das über das eigene,<br />
hier und jetzt zu vollziehende Handeln zu befi nden<br />
hat. Im 1. Korintherbrief des hl. Paulus fi nden wir im 11.<br />
Kapitel ein klassisches Beispiel hierfür. Es geht um die<br />
Frage der Würdigkeit, die Eucharistie zu empfangen:<br />
„Es prüfe ein jeder sich selbst, und so esse er von dem<br />
Brot und trinke von dem Kelch, denn wer unwürdig ißt<br />
und trinkt, der ißt und trinkt sich das Gericht, da er den<br />
Leib des Herrn nicht unterscheidet.“ Gemeint ist: nicht<br />
von gewöhnlicher Speise unterscheidet. Hier kommt<br />
klar zum Ausdruck, daß wir durchaus in der Lage sind,<br />
unser eigenes Tun und Lassen zu beurteilen.<br />
Mit dem Apostel Paulus kommt aus der stoischen<br />
Popular philosophie der im 1. Jahrhundert vor Christus<br />
in die Umgangs sprache eingebürgerte Fachausdruck<br />
„Syneidesis“, d. h. Ge wissensurteil, in das christliche<br />
Schrifttum.<br />
Es ist jene innere Instanz, die dem Menschen in einer<br />
ganz persönlichen, unüberhörbaren Weise kundtut,<br />
was er tun oder lassen soll. Er nimmt sie vor der Tat als<br />
anfeuernde, warnende, verbietende oder gebietende<br />
Stimme wahr, nach der Tat erfährt er sie als lobende,<br />
richtende, verurteilende Macht. Ein jeder von uns kennt<br />
die Gewissensbisse, die uns eindeutig sagen, daß wir<br />
schlecht, schäbig, gemein handelten. Aber wir erfuhren<br />
alle auch schon ein Gefühl der inneren Beglückung,<br />
wenn wir gut handelten, wenn wir jemandem eine<br />
Freude machten, ohne auf Belohnung unserer guten<br />
Tat zu hoff en.<br />
195 „Dialog als Menschlichkeit“, in: „Neues Forum“, 1967, S. 321 f.<br />
Der Gewissensbefehl<br />
Gemeinsam ist allen Gewissensregungen der innere<br />
Befehl: Tue das, was du als gut und richtig erkannt hast!<br />
Diese „Stimme“ gebietet uns allen, ausnahmslos, unser<br />
Denken, Reden und Tun mit dem als gut, richtig, wertvoll<br />
Erkannten in Überein stimmung zu bringen. Voraussetzung<br />
hierfür ist das Bemühen um die Erkenntnis des<br />
sittlich Guten. Nicht derjenige ist ja schon gewissenhaft,<br />
der sich mit der oberfl ächlichen Sicht der Dinge begnügt,<br />
der etwa das tut, was „man“ tut, der sich von der<br />
Masse als Mitläufer treiben läßt, sondern wer den Dingen<br />
auf den Grund geht, wer sich bemüht, zu erkennen,<br />
was hier und jetzt notwendig, was das Bessere mehrerer<br />
sich bietender Möglich keiten ist. Die Gewissensbildung<br />
muß aber nach objektiven Normen erfolgen. Wir fi nden<br />
sie in den 10 Geboten oder den Forderungen Christi.<br />
Die Pastoralkonstitution „Die Kirche in der Welt von<br />
heute“ sagt hierzu in Nr. 16: „Im Inneren seines Gewissens<br />
entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht<br />
selbst gibt, sondern dem er gehorchen muß und dessen<br />
Stimme ihn immer zur Liebe und zum Tun des Guten<br />
und zur Unter lassung des Bösen anruft, und, wo nötig,<br />
in den Ohren des Herzens tönt: Tu dies, meide jenes.<br />
Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem<br />
Herzen eingeschrieben ist und gemäß dem er gerichtet<br />
werden wird. Das Gewissen ist die ver borgenste Mitte<br />
und das Heiligtum im Menschen, wo er alleine ist mit<br />
Gott, dessen Stimme in seinem Innersten zu hören ist.<br />
Im Gewissen erkennt man in wunderbarer Weise jenes<br />
Gesetz, das in der Liebe zu Gott und dem Nächsten<br />
seine Erfüllung hat. Nicht selten jedoch geschieht es,<br />
daß das Gewissen aus unüberwind licher Unkenntnis<br />
irrt, ohne daß es dadurch seine Würde verliert. Das<br />
kann man aber nicht sagen, wenn der Mensch sich zu<br />
wenig darum bemüht, nach dem Wahren und Guten zu<br />
suchen, und das Gewissen durch Gewöhnung an die<br />
Sünde allmählich fast blind wird.“ Der Mensch ist also in<br />
seiner Gewissensbildung keineswegs autonom – denn<br />
dies hieße, der Willkür Tür und Tor öff nen –, sondern er<br />
ist, jedenfalls als Christ, auf die Off enbarung und das<br />
kirchliche Lehramt angewiesen. Wenn man bisweilen,<br />
wörtlich oder doch sinngemäß, selbst von Priestern<br />
hören kann, der Mensch sei Schöpfer seiner Moral, so<br />
ist das vielleicht ehrliche Überzeugung, aber letztlich<br />
unchristlich und anti kirchlich.<br />
Nun können zwar weder Off enbarung noch kirchliches<br />
Lehramt jemandem eine Entscheidung abnehmen.<br />
Wohl vermögen sie, ihm zu einem sach- und<br />
situationsgerechten Gewissensurteil zu verhelfen.<br />
Hierzu sagt die Pastoralkonstitution weiter: „Durch die<br />
Treue zum Gewissen sind die Christen mit den übrigen<br />
Menschen verbunden im Suchen nach der Wahrheit<br />
und zur wahrheitsgemäßen Lösung all der vielen moralischen<br />
Probleme, die im Leben der einzelnen wie<br />
im gesellschaftlichen Zu sammenleben entstehen. Je<br />
mehr also das rechte Gewissen sich durchsetzt, desto<br />
mehr lassen die Personen von der blinden Willkür ab
und suchen sich nach den objektiven Normen der Sittlichkeit<br />
zu richten.“ Das Streben nach Wahrheits- und<br />
Wert erkenntnis und die Orientierung am Willen Gottes<br />
gehören unausweichlich zur Gewissenhaftigkeit.<br />
Gewissen und Verantwortung<br />
Wenngleich das Gewissen einem jeden Menschen<br />
befi ehlt, sein Denken, Reden und Tun in Übereinstimmung<br />
zu bringen mit dem, was er als gut, richtig und<br />
wertvoll erkennt, so ist doch die Intensität dieser Gewissensregung<br />
sehr verschieden. Das Ge wissen kann<br />
noch schwach entwickelt, es kann zart gebildet, aber<br />
auch völlig abgestumpft sein. Aber in einer Hinsicht<br />
kann – bei aller Möglichkeit, objektiv zu irren – das<br />
Gewissen nicht in die Irre gehen: Niemals fühlt sich<br />
jemand verpfl ichtet, gegen seine bessere Erkenntnis zu<br />
handeln. Dort, wo es keinen Drang mehr gibt, nach dem<br />
als sittlich gut Erkannten zu handeln, ist das Gewissen<br />
erstorben. Aber niemand hält diesen Zustand für normal<br />
und identifi ziert sich mit dem „gewissenlosen“, mit dem<br />
„bösen“ Menschen. Der Hl. Schrift ist das Phänomen der<br />
Gewissensstumpfheit wohl bekannt, aber sie qualifi ziert<br />
es sogleich ab, wenn sie sagt: „Der Tor spricht in seinem<br />
Herzen: Es gibt keinen Gott!“ (Psalm 14,1). Im Sprachgebrauch<br />
der Schrift ist der „Tor“ gleichbedeutend mit<br />
dem „Gottlosen“.<br />
Das Alte Testament kennt, abgesehen vom Buch der<br />
Weisheit (17,11) – wo der Einfl uß der griechischen Zeitphilosophie<br />
spür bar wird – das Wort „Gewissen“ nicht.<br />
Als Ersatzbezeichnung dient das Wort „Herz“, das im<br />
biblischen Sprachgebrauch Inbegriff des inneren Menschen,<br />
seiner seelischen und geistigen Fähigkeiten ist.<br />
So heißt es etwa im 24. Kapitel des 2. Buches Samuel im<br />
10. Vers: „David schlug das Herz, weil er das Volk zählen<br />
ließ“. Das mag uns etwas sonderbar erscheinen, denn<br />
eine Volkszählung ist bei uns – schon allein wegen der<br />
damit ver bundenen Kosten – zwar nicht gerade alltäglich,<br />
aber ein ganz normaler Vorgang. Ganz anders im<br />
Orient. Dort diente eine Volkszählung in erster Linie der<br />
Feststellung der wehrfähigen Männer. Man machte einen<br />
Überschlag, ob die eigenen Kräfte wohl ausreichten,<br />
über den Nachbarn herzufallen, und kam man zu einem<br />
entsprechenden Ergebnis, so schlug man los. Vgl. auch<br />
das 14. Kapitel bei Lukas, wo der Herr sagt: „Wenn ein<br />
König gegen einen anderen König in den Krieg ziehen<br />
will, setzt er sich dann nicht zuvor hin und überlegt, ob<br />
er mit 10 000 Mann dem entgegentreten könnte, der<br />
mit 20 000 gegen ihn heranzieht? Kann er das nicht, so<br />
läßt er jenen, solange er noch fern ist, durch eine Gesandtschaft<br />
um Frieden bitten.“ (31 f.) Gott hat seinem<br />
auserwählten Volk unter Androhung schwerster Strafe<br />
verboten, eine Volkszählung abzuhalten. Zur Strafe für<br />
Davids Unge horsam ließ er eine Pest über Israel kommen,<br />
der 70 000 Menschen zum Opfer fi elen.<br />
Verschiedene Beurteilungsmaßstäbe<br />
Wie ist es aber möglich, daß durchaus auch gewissenhafte<br />
Menschen in der gleichen Sache einen<br />
verschiedenen oder gar entgegengesetzten Gewissensanspruch<br />
anmelden? Jedoch hier geht es nicht um den<br />
Drang nach gewissenhaftem Handeln an sich, sondern<br />
vielmehr um den Inhalt der sittlichen Erkenntnis. Verschiedene<br />
Arten von Sittlichkeit gibt es nicht, denn das<br />
Reich der sittlichen Werte muß notwendigerweise eins<br />
sein, wenn es alle Menschen binden will. Sonst gäbe<br />
es tatsächlich keine für alle verbindliche Moral. Dann<br />
wäre auch kein geordnetes Mit einander in Gesellschaft<br />
und Staat möglich, und die Einhaltung bestimmter<br />
Verhaltensnormen wäre nicht durch die Einsicht der<br />
Staatsbürger, sondern lediglich durch Strafandrohung<br />
zu erreichen. Dann käme es nur darauf an, sich nicht<br />
„erwischen“ zu lassen. Freilich ist der Inhalt der sittlichen<br />
Erkenntnis nicht jedermann in gleicher Weise zugänglich.<br />
Der Philosoph Karl Jaspers sagt einmal etwas<br />
boshaft: „Die Durchschnittsbegabung der Menschheit<br />
ist schwache Idiotie!“ Artur Schopenhauer formulierte<br />
es so: „Das Gewissen setzt sich zusammen aus 1/5 Menschenfurcht,<br />
1/5 Frömmigkeit, 1/5 Vorurteil, 1/5 Eitelkeit<br />
und 1/5 Gewohnheit.“<br />
Voraussetzungen einer verantwortlichen<br />
Gewissensentscheidung<br />
Man darf nicht übersehen, daß die klare Erkenntnis<br />
des Guten und Richtigen grundsätzlich und auch in<br />
der konkreten Situation von einer ganzen Reihe von<br />
Voraussetzungen ab hängt: einmal von der eigenen<br />
Urteilsfähigkeit, sodann von der vorbehaltlosen Ehrlichkeit<br />
im Suchen nach dem sittlich Guten und Erlaubten.<br />
Denken wir etwa an das allzu wahre Wort des<br />
Volksmundes: Was man wünscht, das glaubt man gern!<br />
Schließlich spielen Erziehung und Umwelt, öffentliche<br />
und veröffentlichte Meinungen, auch das, was „man“ tut,<br />
das, was „in“ ist, wie man heute sagt, und nicht zuletzt<br />
Sitte und Gewohn heit eine nicht zu unterschätzende<br />
Rolle in der Gewissensent scheidung.<br />
Es ist unzweifelhaft, daß eine sittlich hochstehende<br />
Umgebung eine richtige Gewissensentscheidung erleichtert.<br />
Aber dort, wo das Ellenbogendenken oder das<br />
gewissenlose Karrierestreben, das „Vorwärts-kommen-<br />
Wollen“ um jeden Preis stark ausgeprägt sind, muß der<br />
einzelne alle sittliche Energie zusammenballen, um den<br />
Ruf seines Gewissens zu hören und ihm zu folgen. Deshalb<br />
„ist es von großer Bedeutung, daß allen die Möglichkeit<br />
geboten wird, in sich die rechte menschliche<br />
Verantwortung zu bilden, die sich am göttlichen Gesetz<br />
orientiert und die jeweiligen Verhältnisse berücksichtigt.<br />
Das erfordert aber, daß weithin die erzieherischen<br />
und sozialen Bedingungen verbessert werden und vor<br />
allem, daß eine religiöse Bildung oder wenigstens eine<br />
umfassende sittliche Unterweisung geboten wird“, wie<br />
4. Teil Grundwerte<br />
87
4. Teil Grundwerte<br />
88<br />
die Pastoralkonstitution „Die Kirche in der Welt von<br />
heute“ in der Nr. 87 sagt.<br />
Die Frage nach dem Gewissen ist eine Zentralfrage<br />
des sittlich-religiösen Lebens. Das Gewissen ist oberste<br />
Richtschnur des sittlichen Handelns, der Kompaß für<br />
das Tun und Lassen eines Menschen. Papst Pius XII. sagt<br />
hierzu in einer Ansprache zum Tag der Familie: „Hier<br />
entscheidet sich der Mensch für das Gute oder Böse.<br />
Hier wählt er zwischen dem Weg des Sieges und der<br />
Niederlage. Auch, wenn er wollte, könnte der Mensch<br />
es niemals abschütteln. Mit ihm, mag er es loben oder<br />
verwerfen, wird er den ganzen Weg des Lebens durchlaufen,<br />
und ebenso wird es sein wahrhaftiger und unbestechlicher<br />
Zeuge sein, wenn er sich vor dem Gerichte<br />
Gottes stellt“ (23. 3. 1952). Für das Gewissen gelten<br />
die Worte des Herrn: „Das Auge ist die Leuchte deines<br />
Leibes. Ist dein Auge gesund, so hat dein Leib Licht, ist<br />
es aber krank, so ist dein ganzer Leib in Finsternis. Sieh<br />
also zu, daß das Licht in dir nicht Finsternis sei! Ist dein<br />
Leib ganz erhellt und kein Teil davon dunkel, so wird<br />
er ganz hell sein, wie wenn ein Licht mit seinem Glanz<br />
dich erleuchtet.“ (Lk 11,34 ff.) In diesem Sinne schreibt<br />
Paulus: „Alles, was nicht aus Überzeugung geschieht, (d.<br />
h. aus dem Gewissen) ist Sünde.“ (Röm. 14,23)<br />
Niemand ist eine Insel<br />
Der Menschen Tun ist nie in sich isoliert, es reicht<br />
hinein in die Gemeinschaft, etwa die Familie, eine<br />
Schulklasse, einen Betrieb, ins öffentliche Leben. Welch<br />
psychologische Zwänge und Ab hängigkeiten gibt es<br />
da häufi g, auch wenn man sich dessen vielfach nicht<br />
bewußt ist und diese Tatsache oft zu verdrängen sucht.<br />
Je größer der Kreis von Mitmenschen, desto weiter<br />
reichend ist die Wirkung seines Tun und Lassens zum<br />
Wohl oder Schaden der Gemeinschaft. Um so schwerer<br />
wiegt dann etwa die Verantwortung der Akademiker<br />
und Professoren (nicht zuletzt der Theologen!), die sich<br />
der Wirkung ihrer Worte und Schriften in der breiten<br />
Öffentlichkeit bewußt sein sollten.<br />
Das Gewissen als Uranlage des Menschen<br />
Die Gewissensanlage ist unabhängig von Religion,<br />
Rasse, Kultur und Volk. Im November 1964 hielt Kardinal<br />
König, der Erz bischof von Wien, einen Vortrag vor der<br />
El-Azhar-Universität in Kairo, der höchsten Bildungsstätte<br />
des Islam. In seiner Dank adresse sagte der Rektor:<br />
„Es gibt zwischen Christen und Moslems dogmatische<br />
Unterschiede, doch keine Unterschiede der sittlichen<br />
Werte und des sozialen Verhaltens.“ Auch der Ungläubige,<br />
auch der, dem die Offenbarung aus welchem Grund<br />
auch immer verschlossen blieb, weiß, daß er das Gute<br />
tun und das Böse meiden muß. Paulus macht im 2. Kapitel<br />
des Römer briefes hierauf aufmerksam. Da geht es um<br />
das Gericht am Jüngsten Tag. Gerichtet wird nicht auf<br />
Grund der äußeren Zuge hörigkeit zum auserwählten<br />
Volk Gottes – denn Gott kann dem Abraham aus den<br />
Steinen Kinder erwecken –, sondern nach dem Maß<br />
der Beobachtung des göttlichen Gesetzes nach dem<br />
Zeugnis des Gewissens: „Wenn nämlich die Heiden, die<br />
das Gesetz nicht haben, von Natur aus die Vorschriften<br />
des Gesetzes erfüllen, so sind sie, die das Gesetz nicht<br />
haben, sich selbst Gesetz.“ (Röm. 2,14) Nach Paulus<br />
tragen auch die Heiden, die keine göttliche Offenbarung<br />
kennen, das göttliche Gesetz in ihrem Herzen. So<br />
fi nden sich etwa im Codex Hammurapi, in der Mitte<br />
des 20. Jahr hunderts vor Christus, einige dem Dekalog<br />
sehr ähnliche Vorschriften. „Sie zeigen, daß das Werk<br />
des Gesetzes in ihrem Herzen geschrieben steht“, fährt<br />
Paulus im Römerbrief fort (2,15). Plastisch schildert der<br />
Apostel den Hergang des Gerichtes. Da treten Ankläger<br />
und Verteidiger des Menschen auf. Das sind die guten<br />
und bösen Ansichten und Gedanken, die sein Tun und<br />
Lassen im Leben bestimmten: „Ihre Gedanken werden<br />
sich untereinander anklagen oder verteidigen an dem<br />
Tage, da Gott das Verborgene im Menschen richten<br />
wird.“ Gerade weil es sich hier um das Verborgene im<br />
Menschen handelt, muß ein unbe stechlicher Zeuge<br />
aussagen, was an diesen Gedanken und Absichten gut<br />
oder böse war. Dieser Zeuge ist das Gewissen: „Wobei<br />
ihr Gewissen ihnen Zeugnis ablegen wird.“ (15)<br />
Sittliche Zentralfunktion im Menschen<br />
Wie ist das möglich? Das Gewissen ist eben die sittliche<br />
Zentral funktion im Menschen. Es hat ihm das ins<br />
Herz geschriebene Gesetz Gottes vorgelegt. Es hat die<br />
Gesinnungen und Absichten des Menschen begleitet<br />
und hat nach der Tat sein Urteil gefällt. So ist es ein<br />
unbestechlicher Zeuge über das verborgene Gute und<br />
Böse des Menschen, wenn dieser vor das Gericht Gottes<br />
tritt. Wer das formale Gesetz Gottes nicht kennt, erkennt<br />
in sich selbst das Gesetz, vorausgesetzt, daß er nicht<br />
die Stimme des Gewissens in sich zum Verstummen<br />
gebracht hat.<br />
Allerdings gibt es neben dem natürlich-sittlichen<br />
Gesetz des Heiden noch ein anderes Gesetz, unter das<br />
wir Christen gestellt sind, das Gesetz Christi. Wer Christi<br />
Namen kennt, muß sein Leben nach ihm ausrichten:<br />
„Brüder, seid gesinnt wie Christus Jesus“, schreibt Paulus<br />
im Philipperbrief (2,5). Für jeden Menschen gibt es<br />
außerdem noch eine persönliche Führung Gottes. Jeder<br />
hat von Gott einen bestimmten Auftrag, eine Sendung,<br />
die nur er verwirklichen kann. Deshalb sprechen wir<br />
vom „Beruf“, weil, wenigstens im Idealfall, der Mensch<br />
dem Ruf folgt zu einem Handeln, zu einer Lebensaufgabe,<br />
zu der er „berufen“ ist. Aber nur, wer sein Gewissen<br />
schulte, wird diesen Anruf Gottes vernehmen. Deshalb<br />
ist es für uns wichtig, unser Gewissen zu bilden und<br />
zu schärfen. Hierbei könnten uns etwa die ??? „GewissensDer<br />
Spiegel“ ??? aus dem „Gotteslob“ wirksame<br />
Hilfe leisten.
Äußere Hilfen und Hindernisse<br />
„Die Wandlungen von Denkweisen und Strukturen<br />
stellen häufi g überkommene Werte in Frage, zumal bei<br />
der jüngeren Generation, die nicht selten ungeduldig, ja<br />
angsthaft rebellisch wird … Die von früheren Generationen<br />
überkommenen Institutionen, Gesetze, Denk- und<br />
Auffassungsweisen scheinen den wirklichen Zuständen<br />
von heute nicht mehr in jedem Fall gut zu entsprechen.<br />
So kommt es zu schweren Störungen im Ver halten und<br />
sogar in den Verhaltensnormen.“ 196<br />
Es ist heutzutage ungleich schwerer als in früheren<br />
Zeiten, immer und in allem das rechte Verhalten zu<br />
fi nden, da ehedem das äußere Leben durch Sitte und<br />
Brauchtum, gemeindliche und staatliche Verordnungen<br />
und Gesetze geregelt war und zwar nach christlichen<br />
Grundsätzen.<br />
Wenngleich diese auch keineswegs immer befolgt<br />
wurden, so waren sie doch allgemein anerkannt. Man<br />
nannte das Gute gut und das Böse schlecht, während<br />
heute der Begriffsinhalt vieler Worte häufi g umgebogen<br />
und umgelogen wird. Man denke bloß etwa an den<br />
Slogan: Kann denn Liebe Sünde sein?, wobei man mit<br />
der „Liebe“ selbstverständlich nicht selbstlose Hingabe<br />
an ein Du, sondern sexuelle Zügellosigkeit meint. In<br />
der vorigen Generation etwa wäre es völlig undenkbar<br />
gewesen, daß ein junger Mann mit einem jungen<br />
Mädchen allein auf Reisen ging. Gemeinsames Zelten<br />
gar hätte ihre Vorstellungskraft völlig gesprengt, während<br />
sich heute „auch unter katholischen Schrift stellern<br />
eine romantische Verideologisierung der Sexualität“<br />
ausbreitet, wie Kardinal Höffner in seinem Hirtenbrief<br />
über „Ehe und Familie im Licht des Glaubens“ vom<br />
Dezember 1969 fest stellt. Jaques Maritain spricht im<br />
„Bauer von Garonne“ von der „katholischen Verehrung<br />
des Fleisches“ (S. 63). Während eine Reihe von Bischöfen<br />
in ihren Hirtenbriefen der letzten Jahre betonten,<br />
es widerspreche der christlichen Auffassung von der<br />
menschlichen Geschlechtlichkeit und Ehe, vor der Ehe<br />
die geschlechtliche Hingabe einzuüben und sei eine<br />
Mißachtung der menschlichen Personenwürde – eine<br />
Lehre, die im Hirtenbrief aller deutschen Bischöfe zu<br />
Fragen der menschlichen Geschlechtlich keit vom März<br />
1973 bestätigt wurde –, glaubte beispielsweise ein<br />
Autor, der aber zweifelsohne nicht vereinzelt dasteht<br />
und auch immer wieder selbst von katholischen Zeitschriften<br />
herange zogen wird, in einem katholischen<br />
Publikationsorgan 197 keine Bedenken gegen „Zelten mit<br />
17 zu zweit“ anmelden zu müssen. Wenn das Paar sich<br />
über seine Gefühle klar sei, füreinander Verantwortung<br />
trage und auch in der Empfängnisverhütung zu einer<br />
verantwortlichen Lösung gekommen sei, dann könnten<br />
ihre „Leiber kommunizieren“. Selbst vor dieser geradezu<br />
blasphemischen Bezeichnung eines Verhältnisses, das<br />
in der katholischen Moral sonst schlicht als Unzucht<br />
bezeichnet wird, scheut man nicht zurück.<br />
196 Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“, Nr. 7, Text des 2. Vatikanischen<br />
Konzils.<br />
197 „Neue Gespräche“, September/Oktober 1973.<br />
Man muß sich darüber klar sein, daß solche Veröffentlichungen<br />
gerade in einem katholischen Publikationsorgan<br />
leicht verhäng nisvolle Folgen haben können, da<br />
sie besonders von nicht gefestigten Persönlichkeiten<br />
zumindest als mögliche Verhaltens form christlicher<br />
Lebensgestaltung betrachtet werden könnten. Die<br />
Berufung auf das eigene Gewissen vermag hier nicht<br />
weiter zuhelfen, denn was man wünscht, das glaubt<br />
man gern. Die deutschen Bischöfe betonten in ihrem<br />
Hirtenwort vom März 1973 zu Recht, daß zu „einem<br />
guten Gewissen immer auch eine zuverlässige Information<br />
gehört. Sie kann nicht darin bestehen, daß eine<br />
mehr oder minder große Zahl anderer in gleicher Lage<br />
dasselbe tun. Das wäre billiges Mitläufertum.“ Noch vor<br />
wenigen Jahrzehnten gehörte es, zumindest in vielen<br />
katholischen Gegenden, zum guten Ton, sonntags zum<br />
Gottesdienst zu gehen. Zweifellos ermunterte nicht immer<br />
nur Frömmigkeit zum Kirchgang. Soziale „Zwänge“<br />
spielten nicht selten eine erheb liche Rolle. Immerhin<br />
war eine Folge des mehr oder minder regelmäßigen<br />
Gottesdienstbesuches – man denke etwa auch an<br />
die ehedem weit verbreiteten Fastenpredigten und<br />
Volks missionen –, daß im allgemeinen erheblich mehr<br />
religiöses Wissen vorhanden war als heute und die<br />
Menschen, die den religiösen Unterweisungen folgten,<br />
ein besseres Unterschei dungsvermögen besaßen als<br />
heutzutage. Dieses wiederum und eine im ganzen doch<br />
stärkere religiöse Prägung bewahrten vor mancher<br />
Kurzschlußhandlung, wie sie einem Areligiösen leichter<br />
widerfährt. So stimmen die Statistiken der Länder<br />
überein, daß etwa Selbstmorde bei praktizierenden<br />
Christen erheblich seltener sind als bei religiös nicht<br />
gebundenen Menschen. Es dürfte weitgehend auf das<br />
Konto der immer stärkeren Entchristlichung unseres<br />
Kontinents zurückzuführen sein, wenn die Weltgesundheitsorganisation<br />
in Genf mehr als 150 000 Selbstmorde<br />
jährlich in Europa registriert 198 .<br />
Es läßt sich nicht leugnen, daß die Öffentlichkeit<br />
heutzutage weitgehend entchristlicht ist. Zu diesem<br />
Phänomen sagt die Pastoralkonstitution „Die Kirche<br />
in der Welt von heute“ in der Nr. 7: „Breite Volksmassen<br />
geben das religiöse Leben praktisch auf. Anders als in<br />
früheren Zeiten sind die Leugnung Gottes oder der Religion<br />
oder die völlige Gleichgültigkeit ihnen gegenüber<br />
keine Ausnahme und keine Sache nur von einzelnen<br />
mehr. Heute wird eine solche Haltung gar nicht selten<br />
als Forderung des wissenschaftlichen Fortschritts und<br />
eines sogenannten Humanismus ausgegeben.“ Der einzelne<br />
wird nicht mehr von außen auf die rechte Fährte<br />
geführt, sondern vielfach davon abgezogen.<br />
So muß der einzelne durch eigene Überlegung<br />
und selbständige Entscheidung das Rechte finden<br />
und wählen. Die Verhältnisse sind heute oft so unübersichtlicht,<br />
die Zusammenhänge in Wirtschaft,<br />
Technik und Politik häufi g derart kompliziert, daß es<br />
dem einzelnen oft sehr schwer wird, zu entscheiden,<br />
was für ihn hier und jetzt sittlich geboten oder erlaubt,<br />
198 Statistik der WHO von <strong>2010</strong><br />
4. Teil Grundwerte<br />
89
4. Teil Grundwerte<br />
90<br />
was zu tun oder zu unterlassen, was das Bessere oder<br />
doch wenigstens das geringere Übel ist. Der Einfl uß<br />
der öffentlichen und mehr noch der veröffentlichten<br />
Meinung, die keineswegs mehr christlich sind, und<br />
die öffentliche Meinung bestimmende Faktoren, wie<br />
Rund funk, Fernsehen, Film und Presse erschweren weitgehend<br />
die Bildung einer selbständigen christlichen<br />
Entscheidung. Es soll nun keineswegs in den Klageruf<br />
eingestimmt werden, heute sei alles viel schlimmer als<br />
früher. Jedoch, wenn die Menschen – jedenfalls in der<br />
großen Mehrheit – sich im wesentlichen wohl gleich<br />
bleiben dürften, so scheint es doch, daß sie vielfach<br />
den Orientierungssinn verloren haben. Der moderne<br />
Mensch weiß vielfach nicht mehr, was des Interesses<br />
wert ist und was nicht. Viele vermögen nicht mehr<br />
zwischen echten und Ersatzwerten zu unterscheiden.<br />
Das schon fast psychopathisch zu nennende Interesse<br />
der Bevölkerung an Massenveranstaltungen jeder Art,<br />
der geradezu alberne Kult mit Fußballgrößen, Film- und<br />
Rockstars legen diesen Gedanken zumindest nahe.<br />
Mit Millionen Zeitgenossen ist während Fußballweltmeisterschaften<br />
nichts anzufangen, ganz abgesehen<br />
von der maßlosen Überbewertung eines gewonnenen<br />
Spiels. Manche Sensationsprozesse bieten wochen- und<br />
monatelang Gesprächs- und Lesestoff für ein breites<br />
Publikum. Als seinerzeit Rosemarie Nitribitt, „des deutschen<br />
Wirtschaftswunder liebstes Kind“, ermordet<br />
wurde, rissen sich die Filmgewaltigen darum, diesen<br />
makabren Stoff verfi lmen zu dürfen. Der Geist der heutigen<br />
Menschen gleicht vielfach einem Trödlerladen, in<br />
dem alles kreuz und quer durcheinander – oder doch<br />
gleichberechtigt nebeneinander liegt: Die Giftmischerin<br />
und der Politiker, der Forscher und der Fußballstar, das<br />
Film sternchen und die Krankenschwester, die Tag und<br />
Nacht bei ihren Patienten ausharrt. Viele besitzen kein<br />
Unterscheidungs vermögen, keine objektiven Maßstäbe<br />
mehr. Der Instinkt für wahr und falsch, echt und unecht,<br />
zu dem im wesentlichen nur die lebendige Bindung<br />
an Gott befähigt, ist verkümmert oder ganz abhanden<br />
gekommen. „Der Mensch von heute, auch jener, der<br />
noch religiös und christlich sein will, hat weithin das<br />
Gespür für die Sünde verloren ...“ Papst Pius XII. nannte<br />
es geradezu „die größte Sünde unserer Zeit, daß die<br />
Menschen das Gespür für die Sünde preisgegeben<br />
hätten“ 199 . Das Gebet Salomons: „Schenke also deinem<br />
Knecht ein gehorsames Herz, damit er zwischen Gut<br />
und Böse unterscheiden könne“, stößt vielfach nicht<br />
mehr auf Verständnis, wird nicht mehr als existentielles<br />
Anliegen begriffen.<br />
Persönliche Verantwortung<br />
Und doch bleibt jeder letztlich für sein eigenes Tun<br />
verant wortlich. Der Mensch weiß, daß er diese Verantwortung<br />
nicht auf andere abwälzen kann, und<br />
199 Bacht, Heinrich: Weltnähe oder Weltdistanz, Frankfurt a. M., 1962,<br />
S. 47.<br />
deshalb gewöhnt er sich weitgehend ab, über sein<br />
Tun und Lassen nachzudenken. Deshalb vielfach auch<br />
diese ständige Selbstbetäubung durch pausenloses<br />
Radio- und Musikhören, das stundenlange Hocken vor<br />
der „Flimmer kiste“, der ununterbrochene Rummel, der<br />
einen nicht mehr zu sich selbst kommen läßt, die Flucht<br />
vor der Stille, das Hineinfl üchten in den Tröster Alkohol,<br />
der die Sorgen, aber auch die Gewissen ersäuft. Selbst<br />
diejenigen, die sich in Exerzitien begeben, bringen es<br />
häufi g nicht mehr fertig, einige Tage in der Stille zuzubringen.<br />
„Wir treff en nicht darum nie auf Gott, weil er<br />
abwesend wäre in der Welt und im Leben, sondern weil<br />
wir ständig abwesend sind! Hören wir auf mit der steten<br />
Flucht vor uns selber, wir fl iehen damit auch vor Gott!“ 200<br />
Viele Menschen jagen ihren Wunschvorstellungen und<br />
Träumen nach, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen,<br />
ob diese auch verantwortbar sind.<br />
Ein klassischer Vertreter dieser Gruppe ist „Des Teufels<br />
General“. Als der junge Leutnant Hartmann, dem die<br />
Welt seiner Ideale zerbrochen ist, seinen väterlichen<br />
Freund Harras fragt: „Glauben Sie an Gott“, da muß<br />
dieser erst überlegen, die Frage kam zu unvermutet.<br />
Doch dann sagt er: „Ich weiß es nicht. Aber das lag<br />
an mir. Ich wollte ihm nicht begegnen. Er hätte mich<br />
vor Ent scheidungen gestellt, denen ich ausweichen<br />
wollte ... Die größte Findung aller Zeiten habe ich nicht<br />
erkannt. Sie heißt Gott. Der Mensch träumt nichts, was<br />
nicht ist und war und sein wird. Wenn er Gott geträumt<br />
hat – dann gibt es Gott. Ich kenne ihn nicht. Aber ich<br />
kenne den Teufel. Den hab ich gesehen – Auge in Auge.<br />
Drum weiß ich, daß es Gott geben muß. Mir hat er sein<br />
Angesicht verhüllt. Ich habe seine Hand nicht ergriff en.<br />
Ich habe – die andere gewählt.“<br />
Harras wählte die andere Hand in klarer Erkenntnis,<br />
daß es die falsche war. Er wollte den Entscheidungen<br />
ausweichen. Aber es gibt keinen Menschen, der ungestraft<br />
der Entscheidung, der sittlichen Verantwortung<br />
ausweichen kann. Darin liegt die tragische Schuld von<br />
Harras: Obwohl er das Dritte Reich durch schaute und<br />
verachtete, hat er sich doch seiner bedient. Nicht so sehr<br />
des Ruhmes wegen, nicht einmal der Macht und des<br />
Geldes wegen, denen so viele Menschen verfallen. Aber<br />
er wollte seine Gaben entfalten, um große technische<br />
Erfi ndungen zu machen, um seine geliebte Fliegerei<br />
aufzubauen. Sein Gewissen sagte ihm klar, was er zu<br />
tun hätte. Er war sich seiner Verantwortung durchaus<br />
bewußt. Aber um der Fliegerei willen entschied er sich<br />
– wissend – gegen Gott.<br />
Der Christ muß sich vielfach im Gegensatz zur öff entlichen<br />
Meinung und im Widerstreit mit den Einfl üssen<br />
seiner Umgebung entscheiden, und in Zukunft wird<br />
dies voraussichtlich noch viel mehr gelten. Darum<br />
bedarf es eines hohen Maßes an Selbständigkeit, Verantwortungsbewußtsein<br />
und Verantwortungsfreude. Es<br />
bedarf heute wohl mehr denn je der Zivilcourage, des<br />
Mutes, gegen den Strom zu schwimmen.<br />
200 Ders.(Hg.): Tage des Herrn, Frankfurt a. M., o. J., S. 93.
Ein überzeugter Christ, der aus seinem Glauben<br />
leben will, hat in der freien Welt – im Gegensatz zu<br />
Diktaturen – nicht mit Gefängnis oder gar Schwererem<br />
zu rechnen. Er wird sich aber darauf gefaßt machen<br />
müssen, nicht für voll genommen oder mitleidig belächelt<br />
zu werden. Das scheint vielen noch schwerer<br />
erträglich als regelrechte Verfolgung, die wenigstens<br />
den Glorien schein des Märtyrers verheißt.<br />
Gewissenlosigkeit im persönlichen Bereich hat oft<br />
nur Folgen für den einzelnen, und dieser muß sie vor<br />
Gott verantworten. Aber Gewissenlosigkeit im öff entlichen<br />
Bereich, die nichts von einer Verantwortung vor<br />
Gott weiß oder wissen will, kann leicht zu katastrophalen<br />
Folgen für ungezählte Menschen führen. Deshalb<br />
sagte Generaloberst Beck am 16. Juli 1938 in seinem<br />
Vortrag vor Generalen: „Es stehen hier letzte Entscheidungen<br />
über den Bestand der Nation auf dem Spiel. Die<br />
Geschichte wird die militärischen Führer mit einer Blutschuld<br />
belasten, wenn sie nicht nach ihrem fachlichen<br />
und staatspolitischen Wissen und Gewissen handeln.“<br />
Der ehemalige Rüstungsminister Speer hat in den langen<br />
Jahren seiner Gefangenschaft über seinen Anteil<br />
am Niedergang des Bewußtseins sittlicher Verantwortung<br />
für die Folgen des eigenen Handelns nachgedacht<br />
und kommt in seinen „Erinnerungen“ zu folgendem<br />
Ergebnis: „Im Grunde nutzte ich das Phänomen der<br />
kritiklosen Verbundenheit des Technikers mit seiner<br />
Aufgabe aus. Die scheinbare moralische Neutralität der<br />
Technik ließ bei ihnen die Besinnung aufs eigene Tun<br />
gar nicht erst aufkommen. Je technischer unsere vom<br />
Krieg diktierte Welt wurde, um so gefährlicher wirkte<br />
sich dieses Phänomen aus, das dem Techniker keine<br />
direkte Beziehung zu den Folgen seines anonymen Tuns<br />
vermittelte.“ (S. 226)<br />
Keine Patentrezepte<br />
Es lassen sich keine Patentrezepte geben. Jede Situation<br />
unter scheidet sich in oft wesentlichen Details von<br />
der anderen, und bekanntlich steckt der Teufel im Detail.<br />
Worauf es ganz wesent lich ankommt, ist, sein Gewissen<br />
an den Prinzipien zu orien tieren, die uns in den Geboten<br />
Gottes, in der Hl. Schrift und vom Lehramt der Kirche an<br />
die Hand gegeben werden. Es kommt ferner auf ein gehöriges<br />
Maß an Sachkenntnis an, denn Prinzipien allein<br />
können uns nicht weiterhelfen, weil sie zu allgemein<br />
sind. Schließlich hat Gott uns auch noch den Verstand<br />
gegeben, den zu gebrauchen keineswegs sündhaft ist.<br />
Es liegt aber nicht im Belieben des einzelnen, sich mit<br />
den sittlichen Prinzipien der katholischen Lehre vertraut<br />
zu machen und sich die gehörigen Sachkenntnisse zu<br />
erwerben. Darum mahnt das Konzil die Gläubigen, „genau<br />
unterscheiden zu lernen zwischen den Rechten und<br />
Pfl ichten, die sie haben, insofern sie zur Kirche gehören,<br />
und denen, die sie als Glieder der menschlichen Gesellschaft<br />
haben. Beide sollen sie harmonisch miteinander<br />
verbinden suchen und daran denken, daß sie sich auch<br />
in jeder zeitlichen Angelegenheit vom christlichen<br />
Gewissen führen lassen müssen: keine menschliche<br />
Tätigkeit, auch in weltlichen Dingen nicht, läßt sich ja<br />
der Herrschaft Gottes entziehen.“ 201<br />
Mündiges Gewissen<br />
Seit dem Konzil weisen nicht wenige Christen immer<br />
wieder auf ihre Mündigkeit hin. Hierbei ist aber sehr zu<br />
beachten, daß Mündigkeit keineswegs bedeutet, sich<br />
nach Belieben bestehen den Verpfl ichtungen zu entziehen<br />
oder sich seine Privatmoral oder seinen eigenen<br />
Katechismus zurechtzulegen. Mündigkeit bedeutet,<br />
auf Grund eigenen Nachdenkens und gründlichen<br />
Studiums der Lehre der Kirche in Eigenverantwortung<br />
selb ständige Entscheidungen zu fällen. Wenn man<br />
früher vielleicht zu sehr immer wieder auf ein Wort<br />
der Kirche zu aktuellen Anlässen wartete, sollte man<br />
heute mehr und mehr fähig werden, auch ohne einen<br />
Hirtenbrief zu einer echten Gewissensent scheidung zu<br />
kommen. „Bei ihrer Gewissensbildung müssen jedoch<br />
die Christgläubigen die heilige und sichere Lehre der<br />
Kirche sorgfältig vor Augen haben. Denn nach dem<br />
Willen Christi ist die katholische Kirche die Lehrerin der<br />
Wahrheit; ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit, die Christus<br />
ist, zu verkündigen und authentisch zu lehren, zugleich<br />
auch die Prinzipien der sittlichen Ordnung, die aus dem<br />
Wesen des Menschen selbst hervorgehen, autoritativ<br />
zu erklären und zu bestätigen“ 202 .<br />
Mündigsein im christlichen Sinn bedeutet, herangewachsen<br />
zu sein, zur Fülle des Mannesalters Christi<br />
(Epheser 4,13), sich die Gesinnung Christi (Phil. 2,5) zueigen<br />
gemacht zu haben. Ohne Studium und Betrachtung<br />
der Hl. Schrift kann niemand zu dieser Geisteshaltung<br />
gelangen, deshalb sagt das Konzil: „Der Jünger hat<br />
gegenüber Christus, dem Meister, die Pfl icht, die von<br />
ihm empfangene Wahrheit immer vollkommener<br />
kennenzu lernen, in Treue zu verkünden und kraftvoll<br />
zu verteidi gen ...“ 203<br />
Mehr als in früheren Zeiten muß uns bewußt sein,<br />
daß es nicht nur gilt, die eigene Seele zu retten, sondern<br />
Verantwortung zu tragen auch für die anderen: „So stark<br />
ist in diesem Leib die Ver bindung und der Zusammenhalt<br />
der Glieder (vgl. Eph. 4,16), daß man von einem<br />
Glied, das nicht nach seinem Maß zum Wachstum des<br />
Leibes beiträgt, sagen muß, es nütze weder der Kirche<br />
noch sich selber.“ 204<br />
Wissen, Gewissen und Verantwortung stehen dicht<br />
nebenein ander, ja sind unlöslich miteinander verwoben.<br />
Zwar macht ein waches Gewissen die Entscheidung<br />
schwerer, aber es allein gibt dem Leben Würde und<br />
201 Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“, Nr. 36, Text des 2. Vatikanischen<br />
Konzils.<br />
202 Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis Humanae“, Nr. 14,<br />
Text des 2. Vatikanischen Konzils.<br />
203 Ebenda.<br />
204 Dekret über das Laienapostolat „Apostolicam Actuositatem“, Nr.<br />
2, Text des 2. Vatikanischen Konzils.<br />
4. Teil Grundwerte<br />
91
4. Teil Grundwerte<br />
92<br />
Klarheit, es allein ermöglicht uns letzten Endes ein<br />
menschenwürdiges Dasein.<br />
Die Frage nach der christlichen Verantwortung für<br />
unser eigenes Leben und den Bereich, in dem wir in<br />
Familie, Beruf und Öffentlichkeit tätig sind, ist heute<br />
drängender als früher, weil die Öffentlichkeit weitgehend<br />
die christlichen Prinzipien ignoriert, ja bekämpft.<br />
Der Christ muß sich an Christus und seinen Forderungen<br />
aus richten. Der Katholik erhält darüber hinaus<br />
durch das Lehr amt der Kirche in vielen Fragen von<br />
Bedeutung Orientierungs hilfen für eine christliche<br />
Lebensführung. So auch für das kom plexe Gebiet der<br />
Friedenssicherung und -förderung. Bereits im November<br />
1981 veröffentlichten die österreichischen Bischöfe<br />
eine Erklärung zur Friedensproblematik. Sie ist des halb<br />
von besonderer Bedeutung, weil sie von den Oberhirten<br />
eines neutralen Staates stammt:<br />
„Der Einsatz für den Frieden hat seine Wurzeln im<br />
Evangelium Jesu Christi, der seinen Jüngern den Auftrag<br />
zur Brüderlich keit gegeben und diese durch seine<br />
Menschlichkeit begründet hat. Er hat der Welt den<br />
Frieden versprochen, wie sie ihn selbst nicht geben<br />
kann. So sehen wir in den ehrlichen Bemühungen um<br />
den Frieden eine Verwirklichung der Nachfolge Christi<br />
in einer Welt, die anders denkt.<br />
Dies verpfl ichtet uns aber auch, ernsten, kritischen<br />
und zum Teil ungelösten Fragen nicht auszuweichen:<br />
So muß gefragt werden, wie sich Frieden, Gewaltlosigkeit<br />
einerseits und berechtigte Not wehr anderseits<br />
zueinander verhalten. Das führt zur Frage, welche<br />
Werte auch unter Opfern verteidigungswürdig sind, ja,<br />
verteidigt werden müssen. Zu undifferenziert erscheint<br />
uns die öfter geäußerte Meinung, als dürften staatliche<br />
Unabhängigkeit, Freiheit und Menschenrechte unter<br />
allen Umständen nur durch absolute Gewaltlosigkeit<br />
verteidigt werden. Weder aus der Hl. Schrift noch aus<br />
der Lehre der Kirche kann abgeleitet werden, daß Beruf<br />
und Dienst des Soldaten in sich unehrenhaft seien ...<br />
Die Friedensbewegung unserer Tage birgt großen Idealismus<br />
und zugleich mitunter auch Kurzsichtigkeiten<br />
in sich und könnte in Gefahr sein, politisch mißbraucht<br />
zu werden.“<br />
Die Kirche darf die Gläubigen in den oft schwierigen<br />
Problemen des gesellschaftlichen wie privaten Lebens<br />
nicht allein lassen. Sie kommt aber dieser Verpfl ichtung<br />
neben einer Fülle von Stellungnahmen ihrer verantwortlichen<br />
Repräsentanten auch in den Massenmedien<br />
mit zahlreichen Hirtenbriefen zu aktuellen Fragen nach.<br />
Aus der großen Bandbreite dieser Publikationen<br />
seien einige Veröffentlichungen in Erinnerung gerufen:<br />
„Zur gesellschaftspolitischen Entwicklung in der Bundesrepublik“;<br />
„Gegen Gewalt und Terror in der Welt“; „Zur<br />
Sorge um die straffällig gewordenen Mitbürger“, „Gesellschaftliche<br />
Grundwerte und menschliches Glück“; „Zu<br />
Fragen der menschlichen Geschlechtlichkeit“; „Zur Seelsorge<br />
an Be hinderten“ oder das Hirtenwort „Gerechtigkeit<br />
schafft Frieden“. In ihm betonen die Bischöfe, daß<br />
es dem kirchlichen Amt aufgetragen ist, „die Prinzipien<br />
und Normen des sittlich Verpfl ichtenden in Fragen des<br />
Friedens zu verkündigen, sei es gelegen oder ungelegen.<br />
Dadurch werden dem Gewissen der Gläubigen und<br />
aller Menschen guten Willens Orientierungs hilfen für<br />
das Handeln gegeben. Die Verantwortung für die Anwendung<br />
moralischer Grundsätze trägt der Handelnde<br />
selbst, sie kann ihm nicht abgenommen werden.“ (S. 64<br />
f.) „Militärischer Dienst ist nur sinnvoll zur Sicherung und<br />
Erhaltung, notfalls zur Wiederherstellung des Friedens.<br />
Spätestens seit den Über fällen auf Kambodscha und<br />
Afghanistan scheint es klar zu sein, daß ein Volk ohne<br />
bewaffnete Streitkräfte und den ent schlossenen Willen<br />
zur notfalls bewaffneten Verteidigung ver brecherischen<br />
Angriffen seitens Dritter schutzlos ausgeliefert ist. Wer<br />
trotz dieser Erkenntnis aus ehrlicher Gewissensüberzeugung<br />
glaubt, nicht Soldat werden zu dürfen, ohne<br />
persön lich schuldig zu werden, ist nach unserer Verfassung<br />
berechtigt und nach dem Sittengesetz verpfl ichtet,<br />
den Waffendienst zu verweigern. Allerdings muß er<br />
zu einem anderen Dienst an der Gemeinschaft bereit<br />
sein, denn bloße Wehrdienstverweigerung allein ist<br />
noch kein positiver Beitrag zum Frieden. Soldaten und<br />
Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen sollten<br />
sich um mehr Verständnis und Toleranz für den jeweils<br />
anderen Standpunkt bemühen, vorausgesetzt, daß<br />
es sich bei beiden um eine echte Gewissensentscheidung<br />
handelt. Soldatsein wie auch Verweigerung des<br />
Wehrdienstes müssen ja vor dem eigenen Gewissen<br />
verantwortet werden.“ 205<br />
Wer sich von seinem Gewissen leiten läßt, wer seine<br />
Bindung an Gott immer enger zu knüpfen sucht, um sich<br />
von ihm führen zu lassen, der wird auch die Kraft und<br />
Hilfe dessen an sich erfahren, der uns verheißen hat, bei<br />
uns zu sein alle Tage bis ans Ende der Welt.<br />
P. Lothar Groppe SJ, geb. 1927 in Münster, ist Militärpfarrer<br />
a. D. und war u. a. als Dozent und Militärdekan<br />
an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg<br />
tätig. Daneben hielt er Vorlesungen und Seminare für die<br />
österreichischen Generalstabslehrgänge. Eine Zeitlang<br />
leitete er die deutsche Sektion des Radio Vatikan. Ferner ist<br />
er publizistisch tätig und veröffentlicht vielfältige Aufsätze,<br />
u. a. in der „Jungen Freiheit“ und in „Soldat im Volk“. Zur<br />
Zeit arbeitet er als Seelsorger in einer kirchlichen Mutter-<br />
Kind-Einrichtung.<br />
Dieser Aufsatz ist zuerst erschienen in: IBW-<strong>Journal</strong>, Informationsdienst<br />
des Deutschen Instituts für Bildung und<br />
Wissen, Paderborn, September 1983. Er wurde für die vorliegende<br />
Ausgabe geringfügig redaktionell überarbeitet.<br />
205 Groppe, Lothar: Müssen Christen die Waff en niederlegen? In „Auftrag“,<br />
Nr. 122/123, August 1982, S. 45. Vgl. hierzu auch die Veröffentlichungen<br />
des Verfassers in „Theologisches“, „Friedens dienste<br />
mit und ohne Waff en“, 6/1982; „Was sagt das 11. Vati kanische<br />
Konzil zum soldatischen Dienst und zur Verteidigung?“ in: „Die<br />
Ethik des Soldaten in der Gesellschaft von Morgen“, Weltforum<br />
Verlag, München 1978, S. 85 f.; „Wenn Soldaten nach Lourdes<br />
ziehen?“ in „Publik“, 4. 9. 1970.
5. Teil Bücher<br />
1. Die SWG hat ein Buch angeregt wie folgt:<br />
Prof. Dr. Harald Seubert, »Was wir wollen können«.<br />
Bürgerliche Identität am Beginn des 21. Jahrhunderts.<br />
Aus dem Expose:<br />
In jüngster Zeit wird die Forderung nach dem konservativen<br />
Element der Politik in <strong>Deutschland</strong> wieder<br />
verstärkt erhoben. Unübersehbare ungelöste Probleme,<br />
u. a. im Zusammenhang der Integrationspolitik,<br />
machen deutlich, daß Politik und Medien sich den<br />
Realitäten kaum mehr stellen. Diese „Apperzeptionsverweigerung“<br />
(H. von Doderer) ging in den letzten zwei<br />
Jahrzehnten mit einer zunehmenden Zurückdrängung<br />
bürgerlicher Denkweisen einher. Umgekehrt wird aber<br />
auch deutlich, daß der Begriff des Konservativen bzw.<br />
Bürgerlichen nicht klar ist. Noch weniger deutlich ist,<br />
was ein moderner Konservatismus auf der Höhe des 21.<br />
Jahrhunderts sein kann. Diese Unschärfe macht es dem<br />
Gegner leicht, bürgerliche Kreise als rückwärtsgewandte,<br />
„rechts“ und sogar „rechtsextrem“ zu verunglimpfen.<br />
Dadurch, daß (seit dem Sarrazin-Buch und der anschließenden<br />
„Debatte“) das Konservatismus-Thema<br />
im Zusammenhang der Frage der Meinungsfreiheit<br />
debattiert wird, und dies in einem breiten intellektuellen<br />
Diskurs (Einlassungen von Baring, aber auch <strong>Journal</strong>isten<br />
wie Broder und Thea Dorn), deutet sich eine<br />
Kehrtwende an. Um so wesentlicher ist es, daß sich ein<br />
moderner Konservatismus heute zu artikulieren – und<br />
nicht nur zu reagieren – vermag. Ein entscheidender<br />
Schlüssel für konservatives Selbstverständnis ist der<br />
Begriff des Bürgertums und der bürgerlichen Identität.<br />
Ihm wird eine schmale Monographie (von ca. 80 Manuskriptseiten)<br />
gewidmet, die sich indirekt zugleich als Positionsbestimmung<br />
konservativer Grundlagen versteht.<br />
(1) In dem einführenden Kapitel wird eine begriff s-<br />
und problemgeschichtliche Bestimmung von Bürgertum<br />
und Bürgerlichkeit gegeben. Damit muß in diesem<br />
Kapitel auch von Untergang und Zerstörung des Bürgertums<br />
im Sog des linken und rechten Totalitarismus die<br />
Rede sein. Sowohl der Bolschewismus als auch der Nationalsozialismus<br />
zielen explizit auf die Zerstörung der<br />
bürgerlichen Welt. Indessen nistete auch in ihr selbst der<br />
Keim der Selbstzerstörung. Das Décadence-Bewußtsein<br />
und seine Deutung durch Nietzsche und Thomas Mann<br />
muß zur Kenntnis nehmen, wer in der Moderne an den<br />
Begriff des Bürgerlichen anschließen will.<br />
(2) Das zweite Kapitel wird der Aktualität, aber<br />
zugleich der notwendigen Transformation des Bürgertums<br />
nach dem Ende des totalitären Zeitalters<br />
gewidmet sein. Die deutsche Situation unterscheidet<br />
sich hier durchaus von jener in Frankreich oder England,<br />
insofern die „Angestelltenkultur“ der sechziger Jahre im<br />
Westen, die DDR-Ideologie im Osten eine Aushöhlung<br />
bürgerlichen Selbstverständnisses und bürgerlicher<br />
Selbstverständlichkeiten bedeutete. Dennoch war es<br />
gerade eine (nie gänzlich zerstörte) bürgerliche Lebenswelt,<br />
die die „friedliche Revolution“ von 1989 auslöste.<br />
Man muß sich zwanzig Jahre später auch fragen, wo<br />
ihre Impulse im geeinten <strong>Deutschland</strong> geblieben sind.<br />
Von heute her legt sich ein sehr ambivalenter Eindruck<br />
nahe: Zum einen ist gerade in der jüngeren Generation<br />
eine starke Neigung zu bürgerlichem Habitus und<br />
seinen Lebensformen zu erkennen, auch wenn er sich<br />
nicht durchgehend politisch artikuliert. Zum anderen<br />
haben, durch unverhältnismäßigen medialen und politischen<br />
Einfl uß (Noelle-Neumann: „Schweigespirale“),<br />
5. Teil Bücher<br />
93
5. Teil Bücher<br />
94<br />
die Ideologen der „Kulturrevolution“ von 1968 auf den<br />
Feldern von Geschichts-, Familien- und Genderpolitik,<br />
aber auch im sozial- und gesellschaftspolitischen Sinn<br />
die bürgerliche Mitte vermeintlich besetzt. Tatsächlich<br />
ist diese Mitte damit erodiert und unkenntlich geworden,<br />
sehr zum Schaden der „Freiheit in der Republik“.<br />
(3) Diese Diagnose muß im dritten und letzten Kapitel<br />
des Buches auf den Rahmen einer Therapie hin<br />
fortgeschrieben werden. Hier wird vor dem Hintergrund<br />
der globalen Welt gefragt, wie Bürgerlichkeit, als ein<br />
singuläres Proprium europäischer Identität, am Beginn<br />
des 21. Jahrhunderts Leitfaden für die Politik und das<br />
2. Die SWG ist Mitherausgeberin des folgenden Buches<br />
Die missbrauchte Republik<br />
*<br />
Selbstverständnis eines liberalen Konservatismus sein<br />
kann. Besonderes Augenmerk gilt der Universitäts- und<br />
Bildungspolitik. Auch wird die Bedeutung des Christentums<br />
und eines Patriotismus, der nach Kant zugleich<br />
die Weltbürgerlichkeit garantiert, für jene bürgerliche<br />
Identität herausgearbeitet. Und nicht zuletzt ist zu<br />
fragen, was Bürgerlichkeit für den geforderten „fl exible<br />
man“ des globalen Zeitalters bedeuten kann?<br />
Es wird sich zeigen, daß es eine freie Republik und<br />
eine wirklich politische Dimension des Gemeinwesens<br />
ohne bürgerliche Identität nicht geben kann. Zugleich<br />
wird deutlich werden, wie weit wir davon heute entfernt<br />
sind.<br />
Aufklärung über die Aufklärer (Hrsg. Späth/Aden) Verlag Inspiration Un Ltd Hamburg/London <strong>2010</strong><br />
Seit AnfangFrühjahr <strong>2010</strong> sieht sich die bundesdeutsche<br />
Gesellschaft mit einer beispiellosen Welle<br />
von Enthüllungen über den Missbrauch von Kindern<br />
und Jugendlichen konfrontiert. Aus der häufi g veröff<br />
entlichten und durch bestimmte gesellschaftliche<br />
Kreise gestützten Meinung, der sexuelle Missbrauch<br />
von Kindern sei eine Art römisch-katholisches Problem,<br />
wurde, wie Umfragen zeigten, schnell öff entliche Meinung.<br />
Die nackten Fakten polizeilicher Kriminalstatistik<br />
zeigten freilich ein völlig anderes Bild: „„Den einigen<br />
hundert bisher bekannten Übergriff en in katholischen<br />
Einrichtungen seit den fünfziger Jahren... stehen ca.<br />
16.000 Übergriff e jährlich in der gesamten Gesellschaft<br />
gegenüber.“ Diese Feststellung ist nur eine von vielen<br />
wichtigen Korrekturen, die das neue Buch „Die missbrauchte<br />
Republik – Aufklärung über die Aufklärer“ in<br />
der aktuellen Missbrauchsdebatte anbringt. Während<br />
in dieser Zeitschrift sonst meist Veröff entlichungen<br />
von dritter Seite besprochen werden, ist in diesem<br />
Falle die Staats- und Wirtschaftspolitische Gesellschaft<br />
selbst Herausgeberin – zusammen mit der evangelischkonservativen<br />
„Kirchlichen Sammlung um Bibel und<br />
Bekenntnis in Bayern e.V.“ und ihrem Vorsitzenden<br />
Andreas Späth.“<br />
In dem neuen Buch geht es, wie Prof. Menno Aden<br />
in der Einleitung des Buches darstellt, nicht nur um Kindesmissbrauch.<br />
Es geht um die von der 68er-Bewegung<br />
proklamierte sogenannte „sexuelle Revolution“ und<br />
damit um deren Gesellschaftspolitik insgesamt, die<br />
seit jeher im Fokus der kritischen Aufmerksamkeit der<br />
SWG steht.<br />
So furchtbar jeder einzelne Fall gerade in der Kirche<br />
ist, so heuchlerisch war der Aufstand der vermeintlich<br />
Anständigen. Sexueller Missbrauch ist in unserem Land<br />
ein Thema, das zwar strafrechtlich klar defi niert ist, über<br />
das sich jedoch bestimmte Kreise - merkwürdigerweise<br />
mitunter dieselben, die nun auf die katholische Kirche<br />
einprügeln -– in den Jahren nach 1968 und teilweise<br />
bis weit in die neunziger Jahren hinein - ein sehr<br />
eigenwilliges Bild gemacht hatten, das von massiver<br />
Verharmlosung der Pädosexualität bis zu deren off ener<br />
Befürwortung reicht und dieses propagierten, wie in<br />
dem neuen Buch in eindrucksvoller Weise nachgewiesen<br />
wird..
So waren es nicht nur Pädophilenverbände, sondern<br />
auch Greminen von Parteien und sogenannter<br />
Bürgerrechtsbewegungen wie der Humanistischen<br />
Union, der wiederum zahlreiche Politiker aus FDP, SPD<br />
und Bündnis90/Die Grünen angehören, die sich nicht<br />
entblödeten, für ein angebliches „„Recht der Kinder<br />
auf Sexualität“„ einzutreten. Der Vorstand der Humanistischen<br />
Union warnte noch vor wenigen Jahren vor<br />
einer Kriminalisierung und Dämonisierung von Pädophilen,<br />
und Pro Familia, sowie die Bundeszentrale für<br />
gesundheitliche Aufklärung förderten bis vor kurzer Zeit<br />
mit Steuermitteln Broschüren, in denen Erzieher und<br />
Familienmitglieder im Rahmen sogenannter Sexualerziehung<br />
im Grunde off en zu pädophilen Handlungen<br />
aufgefordert wurden.<br />
Diese Tatsachen und die fast schon refl exartigen<br />
Anklagen antiklerikaler und antikirchlicher Kreise waren<br />
die beiden Impulse für die Aufnahme zu den Arbeiten<br />
am das oben genannten Buch. Es gliedert sich grob in<br />
zwei Teile, wobei der erste Teil Der erste Teil besteht<br />
aus Aufsätzen von Kurt J. Heinz, Weihbischof Prof. Dr.<br />
Andreas Laun, Dr. Gerard van den Aardweg, Andreas<br />
Späth, Gabriele Kuby, Christa Meves, Dr. Albert Wunsch<br />
und Jürgen Liminskiin denen das Phänomen der<br />
Pädosexualität in allen Facetten beleuchtet wird: Welchen<br />
Umfang hat die Pädophilie in den verschiedenen<br />
Bereichen der Gesellschaft? Welchen Zusammenhang<br />
gibt es mit dem Zölibat und mit Homosexuellen im<br />
Priesteramt? Was ist von der griechischen „Knabenliebe“<br />
zu halten, auf die sich neuzeitliche Verharmloser und<br />
Förderer der Pädophilie so gern berufen? Ab wann<br />
begann die Infi zierung der im frühen 20. Jahrhundert<br />
aufgekommen Reformpädagogik mit dem „Virus“ der<br />
Pädophilie? Warum haben maßgebliche Vordenker der<br />
68er-Bewegung sexuelle Kontakte von Erwachsenen<br />
mit Kindern oft verharmlost und teilweise sogar off ensiv<br />
befürwortet? Wie kann die Pädophilie am besten zurückgedrängt<br />
werden? Was ist vom „Runden Tisch“ der<br />
Bundesregierung zu halten, der vor wenigen Wochen<br />
seine Tätigkeit aufgenommen hat? Auf alle diese und<br />
viele weitere Fragen geben Autoren wie Kurt J. Heinz,<br />
Weihbischof Prof. Dr. Andreas Laun, Dr. Gerard van<br />
den Aardweg, Andreas Späth, Gabriele Kuby, Christa<br />
Meves, Dr. Albert Wunsch und Jürgen Liminski klar und<br />
umfassend Antwort.<br />
Interessant ist, wie sehr Organisationen, die sich nun<br />
ganz besonders über Sünden im Bereich der Kirche<br />
ereifern, es selbst waren, die diese Sünden einst am<br />
liebsten zu einer Art Freiheitsrecht erklären wollten.<br />
Dies wird im zweiten Teil des Buches besonders<br />
deutlich, und der zweite Teil einer Dokumentation,<br />
die dem Leser immer wieder die Sprache verschlagen<br />
kann. Minutiös dokumentieren die Autoren des Buches<br />
anhand von Originalzitaten in der Sachverhalte und<br />
Texte veröff entlicht werden, die die Aktivitäten der ie<br />
Apologeten sexueller Handlungen von Erwachsenen an<br />
Kindern und deren Wirken in Kirche und Gesellschaft<br />
in erschütternder Deutlichkeit der Öff entlichkeit zu-<br />
gänglich machen. Insbesondere in den Jahren 1968<br />
bis etwa 1998, teilweise aber bis in die jüngste Zeit<br />
hinein, gab es einfl ussreiche gesellschaftliche Kräfte,<br />
die pädosexuelle Kontakte strafl os stellen wollten oder<br />
sogar als für das Kindeswohl nützlich propagierten. Mit<br />
Schaudern erfährt der Leser, wie die Pädophilenlobby<br />
nicht ohne Erfolg versucht hat, Kinderschutz-Verbände<br />
zu unterwandern und für ihr im Wortsinne perverses<br />
Anliegen auch noch Steuergelder zu bekommen. Das<br />
Buch belegt Querverbindungen dieser Kräfte – etwa zur<br />
Jugendarbeit der EKD, zur „feministischen Theologie“,<br />
zur Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, zur<br />
Zeitschrift „Bravo“ oder zu Homosexuellenverbänden –<br />
über die andere Publikationen zum Pädophilie-Skandal<br />
heute lieber schweigen.<br />
Abgerundet wird der Band durch philosophische<br />
Überlegungen von Prof. Dr. Harald Seubert zu den<br />
„emanzipatorischen Quellen des Bösen“, aus denen sich<br />
der gesellschaftliche Umgang mit der vorher betrachteten<br />
Missbrauchsproblematik speist. Nicht uninteressant<br />
ist dabei, wie sehr Organisationen, die sich nun<br />
in höchstem Maße über Sünden in der katholischen<br />
Kirche ereifern, es selbst waren, die diese Sünden einst<br />
am liebsten zu einer Art Freiheitsrecht erklären wollten.<br />
Fachaufsätze und Dokumentation zeigen durch Einblicke<br />
auch in szenerelevante Kreise, wo die eigentlichen<br />
Probleme liegen - sowohl qualitativ, als auch quantitativ.<br />
Das die Problematik - zumindest des Missbrauchs an<br />
Jungen - wohl eher brisanter wird, zeigt ein erschütternder<br />
Aufsatz des niederländischen Therapeuten<br />
Gerard van den Aardweg, dem wir tiefe Einblicke in die<br />
Zusammenhänge von Pädophilie und Homosexualität<br />
verdanken. Die Autoren sind dem heißen Eisen nicht<br />
ausgewichen, sondern haben zupackend die Situation<br />
unserer Gesellschaft aus verschiedensten Blickwinkeln<br />
analysiert.Dabei werden auch die Hinter- und Abgründe<br />
ausgeleuchtet und die schier unglaubliche Dreistigkeit<br />
selbsternannter Aufklärer aufgedeckt. Eine kleine Zahl<br />
bestens vernetzter Pädo-Aktivisten hat in den verschiedensten<br />
Bereichen – von den Universitäten über die<br />
Justiz bis zur Gesetzgebung im Ehe- und Familienrecht<br />
– unheilvoll gewirkt. Eine Schlüsselfi gur ist dabei der im<br />
Jahr 2008 verstorbene Professor für Sozialpädagogik<br />
Helmut Kentler: Besonders bedauerlich ist in diesem<br />
Zusammenhang, dass wo immer man sich mit der<br />
Apologie sogenannter Kindersexualität beschäftigt<br />
hat, sei es bei „Pro Familia“„, der Bundeszentrale für<br />
gesundheitliche Aufklärung oder entsprechend einschlägigen<br />
Organisationen stößt man auch seinen<br />
auf den Namen des Sozialpädagogen Helmut Kentler<br />
stößt. Er war es, der hofiert von der evangelischen<br />
Kirche, insbesondere verschiedener Einrichtungen<br />
der Jugendarbeit, die Frühsexualisierung von Kindern<br />
propagierte und Sexualität zwischen Minderjährigen<br />
und Erwachsenen verteidigte, ja sogar stolz verkündete,<br />
im Rahmen seiner Gutachtertätigkeit für den Berliner<br />
Senat einräumte bewirkt zu haben, dass Jugendliche bei<br />
wegen Missbrauchs vorbestraften Päderasten unterge-<br />
5. Teil Bücher<br />
95
5. Teil Bücher<br />
96<br />
bracht zu habwerden -– im vollen Wissen, ja sogar mit<br />
der Begründungwohl wissend, dass diese Verkehr mit<br />
den ihnen Anvertrauten haben würdätten (was dann<br />
off enbar auch tatsächlich der Fall war).<br />
Aber auch der zwischenzeitlich ebenfalls verstorbene<br />
Gerald Becker und sein Lebensgefährte Hartmut<br />
von Hentig waren in ein evangelisch-landeskirchliches<br />
Beziehungsgefl echt eingebunden, dass ihrem pädagogischen<br />
und sonstigem Treiben gegenüber Politik und<br />
breiter Öff entlichkeit den Nimbus der Seriosität, ja des<br />
moralisch Hochstehenden verlieh. Heute können auch<br />
noch so warme Worte von kirchlichen Vertretern nicht<br />
beispielsweise über die kaum aussprechbarenschockierende<br />
Verstrickungen des evangelischen Theologen Gerold<br />
Becker in den vermutlich größten systematischen<br />
Missbrauchsskandal der bundesdeutschen Geschichte<br />
hinwegtäuschen. Zur Wahrheit über die „chronique<br />
scandaleuse“ des bundesdeutschen Pädophiliedebatte<br />
gehört übrigens, dass es Figuren wir Kentler und Becker,<br />
die ganz off en die Pädosexualität bis in den kirchlichen<br />
Bereich hinein salonfähig machen wollten, auf katholischer<br />
Seite nicht gab.<br />
Getäuscht hatten sich aber vielleicht auch Täter vom<br />
Schlage Beckers selbst. Womöglich glaubten er und<br />
andere im Laufe der Jahre den zum Teil selbst in Umlauf<br />
gebrachten Lügen, über angebliche sexuelle Bedürfnisse<br />
von Kindern. In diesem Klima fortschreitender kollektiver<br />
Gehirnerweichung, in dem weite gesellschaftliche<br />
Kreise Sex mit Kindern nicht mehr verwerfl ich fi nden<br />
wollten, gab es einen Fels in der Brandung, den auch<br />
mächtigste Interessenverbindungen wohl abzuschleifen,<br />
aber nicht aufzulösen vermochten - das Strafrecht.<br />
So wundert es nicht, dass einschlägig engagierte Persönlichkeiten,<br />
darunter auch Politikern und (oft selbst<br />
3. Kirsten Heisig:<br />
Das Ende der Geduld<br />
Herder-Verlag, 205 Seiten, 14,95 Euro<br />
ISBN 978-3-451-30204-6<br />
Dr. med. Patricia Aden, Essen<br />
Vorsitzende des Landesfrauenrates NW<br />
Wie kommt es, daß ein Buch über kriminelle Jugendliche<br />
in Berlin, über heruntergekommene Schulen und<br />
sich wiederholende Jugendgerichtsverfahren zum<br />
Bestseller wird? Hier geht es nicht um ein lokales Phänomen<br />
oder bedauerliche Einzelfälle. Vielmehr wird die<br />
Symptomatik einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung<br />
anschaulich beschrieben. Die Erosion der staatlichen<br />
Ordnung ist so weit fortgeschritten, daß nur sofortige<br />
und konsequente Maßnahmen ein endgültiges Abgleiten<br />
verhindern können. So ist bereits der Titel als Auf-<br />
*<br />
einschlägig interessierten!) Wissenschaftlern so viel<br />
von der (teilweisen oder sogar vollständigen) Entkriminalisierung<br />
der Pädophilie schwadronierten. Dass es<br />
allerdings auch in Paragraphen „gegossenes“ Unrecht<br />
gibt, zeigen nicht nur viele Gesetze der NS-Zeit und der<br />
DDR, sondern auch der bundesdeutsche § 218. , so als<br />
ob sich durch das Verdrehen von Worten aus Unrecht<br />
Recht machen ließe...Das neue Buch belegt, wie zäh und<br />
hartnäckig fast 30 Jahre lang in <strong>Deutschland</strong> versucht<br />
wurde, sexuellen Kindesmissbrauch für rechtmäßig zu<br />
erklären. Erst Mitte/Ende der 1990er Jahre ist dieser<br />
Anschlag auf unsere Rechtsordnung angesichts einer<br />
durch schreckliche Verbrechen alarmierten Öff entlichkeit<br />
(vorerst) gescheitert.<br />
Abgerundet wird der Band durch philosophische<br />
Überlegungen von Prof. Dr. Harald Seubert zu den<br />
„emanzipatorischen Quellen des Bösen“, aus denen sich<br />
der gesellschaftliche Umgang mit der zuvor betrachteten<br />
Missbrauchsproblematik speist. An dem neuen Buch<br />
wird die bundesdeutsche Pädophiliedebatte kaum<br />
vorbeigehen können. Auch all denjenigen, die eine<br />
grundsätzliche Auseinandersetzung mit der sogenannten<br />
68er Bewegung für notwendig halten, liefert dieses<br />
Buch frappierende neue Erkenntnisse und Argumente.<br />
A.S./K.B.<br />
Das Buch kann bei der SWG bezogen werden. Da die<br />
SWG als gemeinnütziger Verein keine kaufmännische<br />
Tätigkeit entfalten darf und will, werden wir dieses Buch<br />
zum Selbstbezugpreis von 6 Euro/Stück abgeben. Wir<br />
würden es aber als Bestätigung unserer Arbeit ansehen,<br />
wenn Sie uns überdies eine Spende in Höhe von<br />
6 Euro (= Diff erenz zum Ladenpreis von 11.80 Euro )<br />
zukommen lassen.<br />
schrei zu verstehen: Das Ende der Geduld. Die Autorin<br />
Kirsten Heisig war Jugendrichterin am Amtsgericht<br />
Berlin-Tiergarten. Sie beschreibt aus ihrer täglichen<br />
Erfahrung Täterkarrieren. Eigentlich sind alle jungen<br />
Täter Opfer einer verfehlten Erziehung. Sie kommen<br />
aus Familien, in denen Alkohol und Videos den Alltag<br />
bestimmen, aus Wohlstandsverwahrlosung und aus<br />
Migrantenfamilien, die sich weigern, irgend etwas für<br />
die Zukunft ihrer Kinder zu tun.
Um eine Täterkarriere zu vermeiden, muß man beim<br />
ersten Regelverstoß schnell und konsequent reagieren.<br />
Dazu aber ist unser Staat nicht in der Lage. Zu viele<br />
Instanzen sind beteiligt, und entsprechend langsam<br />
und wirkungslos sind die Bemühungen, die Täter auf<br />
den Weg von Recht und Ordnung zurückzuführen.<br />
Besonders eindrucksvoll ist die Schilderung libanesischkurdischer<br />
Großfamilien (mit zehn und mehr Kindern),<br />
die mit ungeklärter Staatsangehörigkeit hier einwandern,<br />
Sozialhilfe beziehen und sich jeder Maßnahme<br />
der Integration widersetzen. Die Autorin plädiert dafür,<br />
in solchen Fällen delinquente Jugendliche zu ihrem<br />
eigenen Schutz aus ihren Familien zu nehmen, da sie<br />
sonst unweigerlich in die Kriminalität gedrängt werden.<br />
Es gibt gewisse Ansätze zur Hilfe, wie z. B. das Neuköllner<br />
Modell. Aber einzelne Projekte verlieren sich,<br />
wenn sie nicht von einem politischen Konzept und<br />
dem Willen zur Veränderung getragen werden. Dazu<br />
muß man das Ausmaß der Verwilderung erkannt haben.<br />
4. Schenk, Fritz/ Siebeke, Friedrich- Wilhelm<br />
Der Fall Hohmann<br />
Ein Deutscher Dreyfus<br />
Dokumentation eines Medien- und Rechtsskandals<br />
Universitas 3. Überrbeitete und ergänzte Aufl age <strong>2010</strong><br />
Martin Hohmann, damals CDU MdB, hielt in seinem<br />
Wahlkreis zum Tag der deutschen Einheit 2003 eine<br />
Rede. Darin hat er, in Entgegnung zu der damals (vgl.<br />
D. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker) neu entfachten<br />
Tätervolk-Debatte folgenden Gedanken entwickelt:<br />
An der bolschewistischen Oktoberrevolution<br />
und an den nachfolgenden Verbrechen im Sowjetkommunismus<br />
seien, was völlig unstreitig<br />
ist, sehr viele Täter jüdischer Herkunft beteiligt<br />
gewesen. Aber diese Täter seien keine wirklichen<br />
Juden (mehr) gewesen, weil sie sich von ihrem<br />
Judentum losgesagt hätten und in die Gottlosigkeit<br />
gefallen seien. In ähnlicher Weise seien auch<br />
die NS-Verbrechen von Menschen begangen<br />
worden, die ihrer Religion abgesagt hätten. Das<br />
zeige, dass Gottesferne und Religionsverlust der<br />
Nährboden für die schlimmsten Verbrechen sei,<br />
nicht aber die Zugehörigkeit zu einem bestimmten<br />
Volk. Wie es abwegig wäre, die Juden als Tätervolk<br />
der Verbrechen im Sowjetkommunismus<br />
zu bezeichnen, so liege es fern, das deutsche Volk<br />
als Tätervolk der NS-Verbrechen zu bezeichnen.<br />
Darin wurde Antisemitismus gesehen. Braungeist –<br />
Bandstifter – charakterloser Lump waren die Ausdrücke,<br />
die nun auf den völlig Überraschten niederprasselten.<br />
*<br />
Kriminalstatistiken täuschen darüber hinweg – so die<br />
Autorin –, daß die Intensität der Gewalt und der Anteil<br />
der Intensivtäter zugenommen haben. Andere Länder<br />
haben die gleichen Probleme wie wir und gehen damit<br />
anders und erfolgreicher um. Das wird am Beispiel von<br />
Rotterdam gezeigt. <strong>Deutschland</strong> ist europäischen Nachbarländern<br />
aber in einem Punkt voraus: Bei uns gibt<br />
es eine eigene Jugendgerichtsbarkeit, was in anderen<br />
Ländern nicht der Fall ist.<br />
Kirsten Heisig schreibt mit erkennbar innerer Beteiligung,<br />
dennoch sachlich und an eigenen Erfahrungen<br />
orientiert. Vielleicht ist das der Grund, warum ihre Aussagen<br />
nicht sofort zerrissen wurden. Ein anderer ist der,<br />
daß die Autorin nicht mehr lebt.<br />
Als Todesursache wird Selbstmord angegeben, Ende<br />
Juni, kurz vor dem Erscheinen ihres Buches. Frau Heisigs<br />
Tod ist ein Verlust für den Rechtsstaat. Ihr Buch sollte<br />
uns aufrütteln.<br />
Es entstand der Fall Hohmann. Niemand trat für ihn ein.<br />
Auch die katholische Kirche, welcher Hohmann eng<br />
verbunden war, stand schweigend beiseite. Hohmann<br />
wurde aus der CDU ausgeschlossen. Dagegen wehrte<br />
er sich durch alle Instanzen mit allen Rechtsmitteln, die<br />
ihm aber nicht halfen.<br />
Fritz Schenk von 1971-88 zuerst Co-Moderator,<br />
zuletzt Redaktionsleiter im ZDF-Magazin, schrieb die<br />
1. und 2. Aufl age des vorliegenden Buches. Friedrich-<br />
Wilhelm Siebeke (Jahrgang 1922) , erfolgreicher Anwalt<br />
in Düsseldorf und viele Jahre Mitglied des Bundesparteigerichts<br />
der CDU besorgte nun die 3. Aufl age. Dem<br />
2006 verstorbenen Schenk gilt ein ehrendes Andenken.<br />
Siebeke verdient höchste Anerkennung dafür, dass er<br />
sich die Mühe gemacht hat, das Verfahren gegen Hohmann<br />
von Anfang bis Ende rechtlich auszuleuchten.<br />
Das Buch hat in der 3. Aufl age vom Verlag den Untertitel<br />
bekommen Ein deutscher Dreyfus. Man muss<br />
als Deutscher beschämt dazu ausrufen: Wenn es doch<br />
so wäre! Dreyfus wurde vor dem 1. Weltkrieg in einer<br />
aufgehetzten Atmosphäre zu Unrecht des Landesverrats<br />
zugunsten <strong>Deutschland</strong>s bezichtigt und in einem<br />
formal richtigen Strafverfahren verurteilt. Als aber das<br />
Unrecht erkannt worden war, hat die französische Regierung<br />
Dreyfus rehabilitiert, entschädigt und in volle<br />
Ehren wieder eingesetzt. Dafür verdient Frankreich Respekt.<br />
Die völlige Unschuld Hohmanns ist längst, nicht<br />
5. Teil Bücher<br />
97
5. Teil Bücher<br />
98<br />
erst durch dieses Buch, erwiesen. Niemand von der CDU<br />
hat aber die Größe, sich bei Hohmann zu entschuldigen<br />
und ihn zu rehabilitieren. Auch die Bundeskanzlerin<br />
nicht. Das ist schändlich von ihr und beschämend für<br />
alle Deutschen. Hohmann ist wie Autor Siebeke privat<br />
berichtet, heute von allen verlassen und menschlich<br />
völlig zerbrochen.<br />
Schenk hatte hohen SED-Funktionären gedient,<br />
ehe er 1957 in die Bundesrepublik fl oh. Er sagte aus<br />
Erfahrung im Vorwort zur 1. Auflage: Zu den ersten<br />
Gewaltmaßnahmen jeder Diktatur gehören die Unterdrückung<br />
und schließlich die Beseitigung der Meinungsfreiheit.<br />
Er erinnert an den Skandal um den damaligen<br />
Bundestagspräsidenten Jenninger, der aufgrund einer<br />
unseligen Rede sein Amt verlor und fortan als Ausgestoßener<br />
lebte – und daran, dass der Vorsitzende des<br />
Zentralrates der Juden, Ignaz Bubis, (ohne Jenningers<br />
Namen zu nennen) genau die gleiche Rede gehalten<br />
hat und dafür allgemeine Zustimmung erfuhr. Jenninger<br />
wurde trotzdem nicht rehabilitiert! Zur 2. Aufl age<br />
(2004) sagt Schenk: Der Fall Hohmann ist… ist zu einem<br />
Politikum höchsten Ranges geworden. .. und spricht von<br />
der öff entliche Verdammnis, der Hohmann preisgegeben<br />
wurde, wie sie bisher kaum ihresgleichen hatte. Schenk<br />
zeichnet den Verlauf des Verfahrens akribisch nach. Karl<br />
Feldmeyer (FAZ-Redakteur a.D.) im Geleitwort zur 3. Auflage<br />
kann in der Rede Hohmanns (natürlich) nichts Antisemitisches<br />
erkennen. Das Thema, das sich Hohmann<br />
gewählt hatte, war die Forderung nach Gerechtigkeit für<br />
<strong>Deutschland</strong> (S. 13). Auch wenn man das Ergebnis nicht<br />
wüsste – man fühlt mit von Seite zu Seite wachsender<br />
Beklemmung, welche unsinnige Forderung Hohmann<br />
hier gestellt hat, man sieht ihn förmlich – wie Laokoon<br />
mit den Schlangen – in einem aussichtlosen Kampf<br />
mit linken Intriganten und feigen Parteifreunden, in<br />
welchem er untergehen wird.<br />
Das Uhrwerk der linken Meinungsmacher (S. 37 f)<br />
beschreibt Wirkweise der linken Seilschaften, die sich<br />
locker die Bälle zuwerfen. Der Ablauf des so genannten<br />
Skandals zeigt vor allem, wie das Räderwerk der Political<br />
Correctness im deutschen Pressewesen läuft. Obwohl<br />
Hohmanns Rede noch praktisch unbekannt war, keilten<br />
die Zeitungen bereits los. Berliner Zeitung: Charakterloser<br />
Lump! Usw. Wir haben dasselbe im September<br />
<strong>2010</strong> wieder bei Sarrazin erlebt. Bundespräsident,<br />
Bundeskanzlerin, höchste Repräsentanten des Staates<br />
schämen sich nicht, ein vernichtendes Urteil über ein<br />
Buch abzugeben, das sie zugeben, gar nicht gelesen zu<br />
haben. Das Buch ist erschütternd und erregend – aber<br />
leider auch von der Art, dass ein freiheitlicher Bürger<br />
es kaum erträgt, weiter zu lesen. Alle, alle schwenken<br />
in die vorgegebene Linie ein, auch die sich freiheitlich<br />
gebende FAZ (S. 44). Hohmann hatte keine Chance! Die<br />
CDU – Granden, taub für jedes sachliche Wort, lassen<br />
Hohmann fallen, ehe sie noch wissen, was er gesagt,<br />
gedacht oder getan hat. Wie bei Barschel - feige bis ins<br />
Mark. Siebeke hat als Mitglied im erkennenden Bundesparteigericht<br />
der CDU entsetzt zusehen müssen,<br />
wie Hohmann gegen alles Recht mißhandelt wurde. In<br />
einem Sondervotum hat er gegen den Parteiausschluß<br />
Hohmanns gestimmt. Alle zum Fall Hohmann ergangenen<br />
zehn (!) bis zum BVerfG ergangenen Entscheidungen<br />
hat er zusammen mit seinem Sondervotum und<br />
der hierzu vom verstorbenen FAZ-Redakteur Fromme<br />
verfaßten Anmerkung in der 3. Aufl age veröff entlicht.<br />
Zusammen mit hier erstmals veröff entlichten Entscheidungen<br />
zum Fall ist das eine in der bundesdeutschen<br />
Rechtsgeschichte einmalige Dokumentation!<br />
Es will etwas heißen, wenn der hoch betagte Anwalt<br />
es als Verpfl ichtung beschreibt, diese Dokumentation<br />
vorzulegen, und wenn er sagt: Das Hohmann- Verfahren<br />
war kein “gerechtes Verfahren“ ( S. 185). Auf S. 186 f gibt<br />
Siebeke ein Verzeichnis der von den verschiedenen<br />
Instanzen gemachten Verfahrensfehler. Diese werden<br />
auf den Seiten 181-272 darlegt und erläutert. Auch der<br />
juristische Laie kann oft nur den Kopf schütteln, und<br />
der Jurist fragt sich betroff en: Haben wir Deutschen aus<br />
zwei Diktaturen, aus NS- Zeit und DDR nichts gelernt?<br />
Herrscht dieselbe Feigheit? Dieselbe Duckmäuserei?<br />
Dieselbe nassforsche Missachtung des Rechtes auch<br />
bei uns unter dem Grundgesetz? Das wird man leider<br />
so sehen müssen, jedenfalls immer dann, wenn es um<br />
bestimmte Themen geht.<br />
Das Buch sollte jeder freiheitliche Bürger lesen. Und<br />
wenn er es vor lauter Empörung nicht zuende liest –<br />
dann möge er es für seine Kinder und Enkel hinstellen,<br />
und folgende Belehrung hinzufügen: So fängt die<br />
Unfreiheit an!<br />
M.A.<br />
12.11.10
Zum Schluß<br />
Odysseus<br />
Wie elend stillzusitzen, abzuschließen,<br />
zu Rost verwittern, alt und ungebraucht.<br />
Als ob es Leben wäre, nur zu atmen!<br />
Doch Alter hat noch Würde und Bestimmung.<br />
Der Tod schließt alles. Doch bevor er naht,<br />
sei etwas noch des Ruhmes wert getan.<br />
Die Sterne glitzern schon vom Bergeskamm,<br />
der Tag zerfl ießt, es steigt der Mond gemach,<br />
und aus dem Meer raunt es mit tausend Stimmen.<br />
Kommt, Freunde, auf! Noch ist es nicht zu spät,<br />
uns eine Welt, die neuer ist, zu suchen.<br />
Stoßt ab, und schlagt in klarem Takt die Ruder.<br />
Denn jenseits, wo die Sonne untergeht,<br />
und jenseits aller Sterne dort im Westen,<br />
da muß ich hin, soweit, bis daß ich sterbe. 206·<br />
206 · Nach ägyptischer und griechischer Vorstellung lagen das Totenreich<br />
oder die Inseln der Seligen jenseits der Säulen des Herkules<br />
im Westen.<br />
sei das Gedicht Ulysses – Odysseus von Alfred Lord<br />
Tennyson (Auszug) eingerückt. Viele unserer Leser<br />
haben ihre Berufsjahre hinter sich, schauen etwas<br />
resigniert auf die Entwicklungen und meinen, es sei<br />
zu spät, uns eine Welt, die neuer ist, zu suchen. So ist es<br />
nicht. Der Tod schließt zwar alles. Doch bevor er naht, sei<br />
etwas noch des Ruhmes wert getan … Sie können uns<br />
eine Spende zukommen lassen oder die SWG auch in<br />
Ihrem Testament bedenken.<br />
Mag sein, daß uns die Brecher unterspülen.<br />
Mag auch sein, und wir sehen jene Inseln<br />
der Seligen und sehen auch Achill,<br />
den Helden, den wir kannten, noch einmal.<br />
Und sind wir gleich nicht mehr so stark wie einst,<br />
da wir die Erde und den Himmel faßten,<br />
so sind wir doch noch immer, die wir sind:<br />
ein Bündnis heißer, gleichgestimmter Herzen,<br />
zwar schwach durch Alter und durch manchen Schlag,<br />
doch stark in einem ungebeugten Willen,<br />
zu streben, suchen, fi nden und nicht weichen.<br />
(gekürzt; übersetzt aus dem Englischen von M. Aden.<br />
Das ungekürzte Gedicht übersetzt unter: www.<br />
dresaden.de B III Nr. 2 Englisch)<br />
Zum Schluß<br />
99
100<br />
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