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Einstehen für Deutschland nach innen und außen

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Harald Seubert<br />

<strong>Einstehen</strong> <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong> <strong>nach</strong> <strong>innen</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>außen</strong> 1<br />

Das Thema meines Vortrags könnte man kaum besser<br />

als mit dem folgenden Zitat bezeichnen: „Wir wollen<br />

aufhören, die Narren der Fremden zu sein <strong>und</strong> zusammenhalten<br />

zu einem einigen, unteilbaren, starken<br />

freien deutschen Volk“. Das schrieb in den Jahren um<br />

1848 Friedrich Engels. 2<br />

I. Eine längere Vorrede: Vergangenheitspolitik<br />

Fragen wir uns zunächst, weshalb dieses <strong>Einstehen</strong> im<br />

heutigen <strong>Deutschland</strong> nicht selbstverständlich ist, so wie in anderen Ländern.<br />

Das würde die Akzeptanz des Schmerzes <strong>und</strong> Schrecklichen der eigenen<br />

Geschichte nicht ausschließen. Zugleich aber bedeutete es, ihre Größe <strong>und</strong><br />

ihr bleibendes Erbe zu achten <strong>und</strong> zu bewahren.<br />

Karl Jaspers, immerhin in der NS-Zeit seiner jüdischen Frau wegen seines<br />

Lehrstuhls enthoben <strong>und</strong> ohne Publikationsmöglichkeiten, der mit einer<br />

Zyankali-Kapsel im Mantel wie ein Schatten seiner selbst in Heidelberg<br />

überwinterte, 3 war einer der tiefsten <strong>und</strong> schärfsten Kritiker der Heuchelei,<br />

die sich unmittelbar <strong>nach</strong> 1945 durchsetzte. Deutsche, die es nicht mehr sein<br />

wollten, die sich den Alliierten als den neuen Herren andienten, erregten bei<br />

diesem wahrhaft unverdächtigen Zeugen Widerwillen <strong>und</strong> Ekel.<br />

In ihnen sah Jaspers eines nicht: eine wirkliche Umkehr <strong>und</strong> Besinnung.<br />

Er erkannte vielmehr, wie der charakterliche <strong>und</strong> intellektuelle Bodensatz<br />

<strong>nach</strong> oben geschleudert <strong>und</strong> ein unerträgliches Klima der Bespitzelung in<br />

Gang gesetzt würde. Auch in den Spruchkammerverfahren zeigte sich diese<br />

Tendenz vielfach.<br />

1 Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die geringfügig modifi zierte Fassung des<br />

Vortrags, den ich am 27. 2. 2010 vor der SWG in Hamburg gehalten habe. Dabei wurde der<br />

Vortragsstil weitgehend beibehalten. Demgemäß begrenze ich mich auf die wichtigsten Fußnoten.<br />

2 Zit. <strong>nach</strong> H. Diwald, Mut zur Geschichte. Bergisch Gladbach 1983, S. 247 f.<br />

3 Vgl. zu Jaspers’ Erfahrungen: D. Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken<br />

bei Martin Heidegger, Ernst Jünger <strong>und</strong> Friedrich Georg Jünger 1920-1960. Göttingen 2007, S.<br />

370 ff.<br />

47


Dieser Ungeist veranlasste Jaspers wenige Jahre später <strong>Deutschland</strong> <strong>für</strong> immer<br />

den Rücken zu kehren <strong>und</strong> seine letzten Lebensjahre in der freieren Civitas<br />

Basels zu verbringen. 4<br />

Dass mit der Heuchelei der ersten Nachkriegszeit kein vorübergehendes Übergangsphänomen<br />

bezeichnet ist, sondern eine Gr<strong>und</strong>struktur, die eben dazu<br />

führt, dass das Eintreten <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong> <strong>nach</strong> <strong>innen</strong> <strong>und</strong> <strong>außen</strong> nicht stattfi<br />

ndet, kann man an späteren öffentlichen <strong>und</strong> medial vermittelten Debatten<br />

erkennen. Es spricht <strong>für</strong> sich, dass jene charaktergewaschenen Deutschen ihren<br />

Kindern bevorzugt jüdische Namen wie Rahel, Leah <strong>und</strong> Rebekka gaben. Der<br />

inquisitorische Aufstand der 68er Kinder gegen ihre Eltern, schreibt diese selbe<br />

unselige Tradition fort. Götz Aly, einst ein Funktionär der 68er-Bewegung,<br />

hat darauf jüngst in seinem Buch ‚Unser Kampf’ hingewiesen. 5<br />

Man kann heute klarer sehen, wenn man nur will, wie gebrochen die immer<br />

von moralisch höherem Gelände aus beanspruchte Widerständigkeit der Exponenten<br />

eines linksliberalen Establishment in den Nachkriegsjahren tatsächlich<br />

gewesen ist. Biographien wie die von Peter Wapnewski, Günter Grass, von<br />

dem tragischen Fall Walter Jens nicht zu reden, sind bei näherem Hinsehen<br />

keinesfalls von der Makellosigkeit, die sie beanspruchten. Erst in den letzten<br />

Jahren wurde deutlich, dass Historiker wie Theodor Schieder oder Werner<br />

Conze an der Grenzlanduniversität Königsberg wesentlich an der Ostpolitik<br />

der NS-Regierung beteiligt waren – <strong>und</strong> gerade damit Forschungen in Gang<br />

brachten, die die wirtschafts- <strong>und</strong> sozialhistorische Prägung des späteren linksliberalen<br />

Establishments der Bielefelder Schule (H.-U. Wehler) bestimmten. 6<br />

Signifi kant <strong>für</strong> den verleugnenden Umgang mit der Vergangenheit ist es, sich<br />

Identitäten zu erborgen. Einer meiner akademischen Lehrer, ein gebürtiger<br />

Pommer: „Ich traue den Deutschen nicht“. Dies ist die verräterische Crux:<br />

Man verstand sich selbst nicht als Deutscher (!), mit dem Vorzug, aber auch<br />

der psychopathologischen Folge einer Identifi zierung mit den Siegermächten.<br />

In der ehemaligen DDR war dies Staatsdoktrin. Frei <strong>nach</strong> Freud lässt sich<br />

ein ‚Unbehagen an der eigenen Nation’ konstatieren. Der Altmeister der<br />

Psychoanalyse kann auch lehren, dass solches Unbehagen immer unges<strong>und</strong>,<br />

ja im Todestrieb endet. .<br />

4 Vgl. dazu: H. Arendt-Karl Jaspers. Briefwechsel 1926-1969. München, Zürich 1985, insbes.<br />

S. 145 ff.<br />

5 G. Aly, Unser Kampf- 1968. Ein irritierter Blick zurück. Frankfurt/Main 2008.<br />

6 Eine in jeder Hinsicht rühmliche Sonderstellung hat Hans Rothfels inne. Dazu: K. Hornung,<br />

Hans Rothfels <strong>und</strong> die Nationalitätenfrage in Ostmitteleuropa 1926-1934, in: E. Conze, U. Schlie,<br />

H. Seubert (Hgg.), Geschichte zwischen Wissenschaft <strong>und</strong> Politik. Festschrift <strong>für</strong> Michael Stürmer<br />

zum 65. Geburtstag. Baden-Baden 2003, S. 71 ff.<br />

48


Wenn man die Prägungen dieser noch immer aktuellen Lage erkennen will,<br />

sollte man auf luzide, wenn auch in die Jahre gekommene Analysen zurückgreifen:<br />

Armin Mohler legte seine Studie zur ‚Vergangenheitsbewältigung’<br />

erstmals 1968 vor: Er nennt die Signaturen der Vergangenheitsbewältigung,<br />

die geistig längst tot sei, aber gleichwohl faktisch fortlebe, ja sich immer mehr<br />

verstärke. 7 Dabei hebt Mohler unter anderem die folgenden Aspekte hervor:<br />

Die Vergangenheitsbewältigung beziehe alle Gegenwart auf eine verengte, zurechstilisierte<br />

Geschichte. Damit untergrabe sie das Verhältnis zur wirklichen<br />

Geschichte. Eine solche Geschichtspolitik, die historisch begründetes Handeln<br />

unmöglich macht, bedeute aber letztlich eine Erhöhung politischer Unsicherheit<br />

<strong>nach</strong> <strong>innen</strong> <strong>und</strong> <strong>außen</strong>. Sie drohe von der unangenehmen Gegenwart<br />

abzulenken. Der Schatten der Vergangenheit wird jederzeit als Sündenbock<br />

abrufbar, um realpolitisches Versagen zu verschleiern. 8 In der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

sei die Vergangenheitsbewältigung zur politischen Routine <strong>und</strong> Konvention<br />

erstarrt, so dass die Gesellschaft wie unter einem permanenten Alibi-Zwang<br />

steht. Diese Bewältigungsmaschinerie sei weiter dadurch kompromittiert, dass<br />

es in ihrer Logik nicht darauf ankomme, was man unter Hitler getan hätte.<br />

Denn nur wer sich dem Konformismus unterwirft, könne dem Ritual entgehen<br />

– eine sehr tiefe Diagnose, die sich bruchlos dem Jaspersschen Bef<strong>und</strong><br />

der Heuchelei einfügt! Der Sinn <strong>für</strong> Außenpolitik <strong>und</strong> deutsche Interessen sei<br />

auf diese Weise verkümmert. Mehr noch: Vergangenheitsbewältigung drohe<br />

durch fehlende Aufrichtigkeit <strong>und</strong> Gesinnungsschnüffelei gerade hervorzurufen,<br />

was sie zu bekämpfen vorgibt, zumal der historische Hitler durch einen<br />

zeitlosen Hitler ersetzt worden sei. Eben dies tritt ein, wenn Joschka Fischer<br />

den ‚Mythos Auschwitz’ als Gründungslegende der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong><br />

begreift. Mythen entziehen sich dem Vergleich <strong>und</strong> der Erkenntnis. An<br />

ihnen ist nicht zu rütteln. Es ist aber auch unverkennbar, dass der Verweis<br />

auf Mythen auf einen voraufgeklärten, vorpolitischen Raum verweist. Mohler<br />

konstatierte schon seinerzeit, dass jene Vergangenheitsbewältigung nicht<br />

aufrüttle, sondern abstumpfe – <strong>und</strong> ihre leerlaufende Dynamik, die leeren<br />

Wiederholungsfl oskeln rufen, zu Recht, im Ausland Ekel hervor, wie es der<br />

häßlichste Deutsche nicht vermöchte.<br />

Die „Wege aus den Sackgassen“, die Mohler anzeigt, sieht er unter anderem<br />

darin, dass die moralisierende Verfolgung politischer Ansichten, der Gesinnungsterror,<br />

mit aller Entschiedenheit abgewiesen werden müssen. Solche<br />

Argumentationen stehen in einem unseligen Zusammenhang. Denn er schreibt<br />

7 A. Mohler, Vergangenheitsbewältigung. Von der Läuterung zur Manipulation. Stuttgart-<br />

Degerlochh 1968.<br />

8 Zum Sündenbockmechanismus gr<strong>und</strong>sätzlich: R. Girard, Das Ende der Gewalt. Analyse des<br />

Menschheitsverhängnisses. München 2008.<br />

49


sich selbst unmittelbar vom Dritten Reich her. Die Suche <strong>nach</strong> geschichtlicher<br />

Wahrheit <strong>und</strong> historischer Gerechtigkeit dürfe, so hat Mohler hinzugefügt,<br />

keinesfalls den Extremisten überlassen werden, die nicht in Freimut <strong>und</strong><br />

möglichster Vorurteilsfreiheit <strong>nach</strong> jener Wahrheit suchen.<br />

Eine liberale Demokratie muss auf dem Gr<strong>und</strong>satz fußen, dass die Wahrheit<br />

dem Menschen zumutbar ist. Mithin dürfe politische Bildung nicht auf abstrakten<br />

Soll-Vorstellungen beruhen, sondern müsse zu einer realistischen<br />

Konfl ikt-K<strong>und</strong>e fortgeschrieben werden. 9 Mohler hat auch darauf hingewiesen,<br />

dass auf dem Weg der Vergangenheitsbewältigung die scharfe, offene<br />

Auseinandersetzung zwischen Rechts <strong>und</strong> Links unmöglich gemacht werde.<br />

Deshalb fordert er, seinerzeit sicher strittig, eine rechtliche Generalamnestie:<br />

amnesia <strong>und</strong> amnestia waren seit je die Mittel, um Krieg <strong>und</strong> Bürgerkrieg zu<br />

beenden.<br />

Schon drei Jahre früher verfaßte Caspar von Schrenck-Notzing sein Buch<br />

‚Charakterwäsche’. 10 Schrenck-Notzing benannte im einzelnen sehr genau<br />

die amerikanischen Hintergründe <strong>und</strong> Verfahrensweisen jener Charakteräsche;<br />

vor allem aber unterschied er von der ersten Entnazifi zierung eine zweite, die<br />

Ende der fünfziger Jahre in Gang kam <strong>und</strong> in den sechziger Jahren ihren Kulminationspunkt<br />

fand: Sie wird immer abstrakter <strong>und</strong> zieht die gesamte deutsche<br />

Vergangenheit in den Orkus hinein. Die großen Linien deutscher Geschichte<br />

von den Befreiungskriegen oder gar von Luther her sollen mehr oder minder<br />

linear auf Hitler zulaufen. Erst recht galt dies <strong>für</strong> die strategisch-militärische<br />

Dimension der Macht in der Mitte Europas. Schrenck-Notzing zeigt, wie<br />

vermeintliche Charakterdefi zite der Deutschen <strong>und</strong> eine aufklärungsfeindliche<br />

Tradition konstruiert werden. Ein Topos dabei ist, dass die Deutschen keine<br />

Freiheit kennten. Marxistische Propaganda, wie jene von Georg Lukács in<br />

dem Buch ‚Die Zerstörung der Vernunft’ mit der These eines durchgehenden<br />

deutschen Irrationalismus verbindet sich mit dem Interesse des CIA, <strong>für</strong> den<br />

unter anderem der radikale Vertreter der Frankfurter Schule Herbert Marcuse<br />

tätig war. Auch der späte Thomas Mann hieb teilweise in diese Kerbe. All<br />

dies bedeutete: Kappung aller Verbindung zu der eigenen genuin deutschen<br />

geistigen <strong>und</strong> kulturellen Tradition.<br />

Zwei Jahrzehnte später: am Ende der bipolaren Konstellation sehen wir in<br />

den Jahren 1986/87 den Historikerstreit, eine geschichtspolitische Debatte,<br />

in der es nicht um Erkenntnis der Geschichte geht, schon gar nicht um die<br />

penible Rekonstruktion, „wie es eigentlich gewesen“, sondern, wie Jürgen<br />

9 Mohler, Vergangenheitsbewältigung, a.a.O., S. 70 ff.<br />

10 C. von Schrenck-Notzing, Charakterwäsche. Die Re-education der Deutschen <strong>und</strong> ihre<br />

bleibenden Auswirkungen. Erweiterte Neuausgabe. Graz 2 2005.<br />

50


Habermas seinerzeit offen sagte, darum, dass eine positiv Vergangenheit, eine<br />

Legitimation auch aus <strong>und</strong> durch Geschichte, selbst in der fest im westlichen<br />

Bündnis verankerten Weise von Michael Stürmer, der sich damals als NATO-<br />

Historiker denunziert sah, nicht statthaft sein sollte. 11 Zulässig wäre nur ein<br />

wurzelloser Universalismus. Einzig, wenn sie sich nicht mehr als Deutsche<br />

verstünden, könnten sich die Deutschen exkulpiert fühlen.<br />

Allenfalls noch von „Verfassungspatriotismus“, von „postkonventioneller<br />

Identität“ durfte die Rede sein. Heute mag Habermas etwas anders denken<br />

<strong>und</strong> die Grenzen jener universalistischen Wertorientierungen sehen. Es bedarf<br />

einer tieferen Wurzel, die er aber eher von der Religion als von der Nation<br />

her erkennt. 12 Gerade wenn man die heutige umfassende Welt-Unordnung in<br />

den Blick nimmt, wird deutlich, dass die abstrakte Diskurswelt nichts ist als<br />

ein veralteter Traum.<br />

Immerhin aber hatte derselbe Habermas 1989 geschrieben: „als Nachgeborene,<br />

die nicht wissen können, wie sie sich unter den Bedingungen der politischen<br />

Diktatur verhalten hätten, tun wir gut daran, <strong>und</strong> in der moralischen Bewertung<br />

von Handlungen <strong>und</strong> Unterlassungen während der NS-Zeit zurückzuhalten“.<br />

Nicht einmal diese Klausel fi ndet im heutigen öffentlichen Diskurs noch Gehör.<br />

Schon Anfang der sechziger Jahre schrieb Hans Buchheim, einer der großen<br />

Zeithistoriker der frühen B<strong>und</strong>esrepublik, was heute in noch viel stärkerem<br />

Maße zutrifft: „Alles in allem muss man also leider feststellen, dass mit zunehmendem<br />

zeitlichem Abstand vom Dritten Reich die Vorstellungen über<br />

jene Zeit nicht etwa zutreffender werden, sondern vielmehr immer abwegiger“<br />

(S-N., S. 273). 13 Und Buchheim hat dann präzisiert, dass die „Moralität<br />

des Urteils in dem Maße zunimmt, in dem alle Aspekte eines Problems auf<br />

einen Aspekt konzentriert werden – nämlich den des Verbrechens.“ 14 Neuere<br />

Lehrpläne auch im auf acht Schuljahre verkürzten Gymnasium in Bayern<br />

zeigen heute leider, dass dieser Trend sich noch weiter durchgesetzt hat, dass<br />

es einzig <strong>und</strong> allein um jenen Verbrechenscharakter geht. Verstehen ist weder<br />

erwünscht noch tunlich!<br />

Im Historikerstreit sollte die Hegemonie der These, die eine tausendjährige<br />

Geschichte auf Verbrechen reduziert, letztgültig durchgesetzt werden. Man<br />

muss heute leider sagen, dass dies mit fast fl ächendeckendem Erfolg gesche-<br />

11 Vgl. dazu: „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit<br />

der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München 1987, der gr<strong>und</strong>legende Beitrag von<br />

Nolte, S. 13ff., Michael Stürmer, S. 36ff., <strong>und</strong> Habermas, S. 62ff.<br />

12 Vgl. dazu unter anderem Habermas, Glauben <strong>und</strong> Wissen. Frankfurt/Main 2001 <strong>und</strong> ders.,<br />

Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Frankfurt/Main 2009.<br />

13 Zit. <strong>nach</strong> Schrenck-Notzing, Charakterwäsche, a.a.O., S. 273.<br />

14 Ibid.<br />

51


hen ist. Rudolf Augstein konnte damals einen hochkarätigen Historiker wie<br />

Andreas Hillgruber, der einen Band mit dem Titel „Zweierlei Untergang“<br />

vorgelegt hatte, „einen konstitutionellen Nazi“ nennen. 15 Hier deutet sich<br />

nichts anderes an als eine massive Eingrenzung von Forschungsfreiheit, die<br />

sich heute noch weitergehend durchgesetzt hat.<br />

Immerhin ist damals eine gr<strong>und</strong>legende Differenz über die Auffassung von<br />

deutscher Geschichte noch einmal aufgebrochen. Mittlerweile ist in der<br />

Schweigespirale (E. Noelle-Neumann), aber auch in einem ‚historischen<br />

Analphabetismus’ (Alfred Heuss), die offene Diskussion verstummt. Die<br />

Habermas-Seite <strong>und</strong> die Stimmen der Denunzianten politisch inkorrekter<br />

Geschichtsauffassung scheinen sich umfassend durchgesetzt zu haben.<br />

Noch vor dem Historikerstreit hat Hellmut Diwald, wegen seiner ‚Geschichte<br />

der Deutschen’ aufs schlimmste denunziert, in Einlassungen auf erstaunlich<br />

hohem Niveau, damals noch in der WELT publiziert, <strong>und</strong> im Jahr 1986<br />

unter anderem bemerkt, man müsse individuelle <strong>und</strong> allgemeine Schuld<br />

voneinander unterscheiden. So lasse sich „aus der pauschalen Zuweisung<br />

allgemeinen Verschuldens allenfalls in einem metaphysisch-theologischen<br />

Schlußverfahren die Gewissenslast eines ‚Schuldigseins’ folgern [...]. Das<br />

aber fällt in die Zuständigkeit der Theologen, nicht in jene der praktischen<br />

Politik oder der historischen Arbeit.“ 16 Diese Unterscheidung hätte, so Diwald<br />

weiter, vom ersten Tag der so oft beredeten St<strong>und</strong>e Null an geklärt werden<br />

müssen. Jaspers hatte mit seinen Arbeiten zur Schuldfrage eben auf dieser<br />

Unterscheidung bestanden.<br />

Noch einmal Diwald: „Denn die Forderungen der Alliierten waren damals<br />

denkbar handfest. Sie hatten im Februar 1945 auf der Krimkonferenz in Jalta<br />

beschlossen, ein <strong>für</strong> alle mal den deutschen Militarismus <strong>und</strong> Faschismus<br />

auszurotten. Bis heute lebt die dazugehörige Deutung unserer Geschichte<br />

als eines Weges, der zwangsläufi g zu diesem Ergebnis führen musste, unterschwellig<br />

fort <strong>und</strong> damit ihre Disqualifi kation. Die Absicht der Sieger mag<br />

vom Prinzip her rechtschaffen gewesen sein, möglicherweise sogar auch die<br />

Einsicht der Besiegten. Die Praxis jedoch war verheerend. Sie schuf gerade<br />

kein geläutertes Verhältnis zu unserer Geschichte, sondern bewirkte ein total<br />

verwahrlostes Geschichtsbewußtsein“. 17<br />

Immer wieder hat Diwald im Sinn dieser Einsicht darauf verwiesen, dass der,<br />

der ein Volk kriminalisiert, es krank macht.<br />

15 Zit. <strong>nach</strong> ibid., S. 283.<br />

16 Dazu H. Diwald, Immer noch schlechte Zeiten <strong>für</strong> den aufrechten Gang. In: DIE WELT 30.<br />

8. 1986, GEISTIGE WELT. Vgl. auch ders., Mut zur Geschichte, pass., vor allem S. 197 ff.<br />

17 Diwald, Immer noch schlechte Zeiten, a.a.O.-<br />

52


Doch eine wirkliche Aufklärung über Ursachen <strong>und</strong> Dimensionen des<br />

Nationalsozialismus wurde auf diesem Wege gerade unterb<strong>und</strong>en. Günter<br />

Rohrmoser hat in einem tiefer reichenden philosophischen Erklärungsversuch<br />

die NS-Diktatur als Teil der Geschichte der Moderne begriffen <strong>und</strong><br />

von ‚<strong>Deutschland</strong>s Tragödie’ gesprochen. Dass es auch die Abtrennung der<br />

Deutschen von der christlichen Herkunftsreligion <strong>und</strong> einem unbedingten<br />

Wertegefüge gewesen sei, die das Verderben beförderte, hebt Rohrmoser<br />

exemplarisch hervor. 18 Ernst Noltes monumentales Werk zu europäischen<br />

Faschismus <strong>und</strong> zum Totalitarismus zeigt, wie aus dem Vergleich überhaupt<br />

erst Erkenntnis kommen kann. 19 Rohrmoser <strong>und</strong> Nolte stimmen darin überein,<br />

dass die Totalitarismen aufeinander <strong>und</strong> auf die Geschichte der Moderne<br />

bezogen werden müssen. Sie werfen daher auch das Problem einer Pathologie<br />

dieser Moderne auf, der fehlenden Fähigkeit, eine ‚Ordnung der Freiheit’<br />

(Hayek) zu schaffen. Solche Ansätze haben mehr zu einer Erkenntnis unserer<br />

Geschichte beigetragen als die stumpfe Vergangenheitsbewältigungsrhetorik.<br />

Gerade aus im Mainstream verketzerten, Studien: ist wirkliche Erkenntnis zu<br />

gew<strong>innen</strong>. Und man darf nicht vergessen, dass es der nationalkonservative<br />

jüdische Emigrant Hans Rothfels war <strong>und</strong> Gerhard Ritter, der der Berliner<br />

Mittwochsgesellschaft nahestand, die die ersten großen Monographien über<br />

den Nationalsozialismus vorlegten – keinesfalls die 68er-Ideologen.<br />

Historische Erkenntnis ist auch eine patriotische Pfl icht, <strong>und</strong> sie wird sich<br />

denkbar weit von jenen stumpfen Bußritualen entfernen, die nirgends überzeugen,<br />

auch nicht in den Schulen! Hier ließe sich noch die Stimme eines<br />

Dissidenten nennen, der in keinem System heimisch sein konnte, eines leicht<br />

spintisierenden, aber sehr deutschen metaphysischen Denkers – Rudolf Bahro,<br />

der in seinem Buch ‚Logik der Rettung’ 1987 bemerkte: „Ich halte die Frage<br />

<strong>nach</strong> dem Positiven, das vielleicht in der Nazibewegung verlarvt war <strong>und</strong> dann<br />

immer gründlicher pervertiert wurde, <strong>für</strong> eine aufklärerische Notwendigkeit,<br />

weil wir sonst von Wurzeln abgeschnitten bleiben, aus denen jetzt Rettendes<br />

erwachsen könnte“. 20 Anders gesagt: die Fragen <strong>und</strong> Krisen, die im Nazismus<br />

ein verhunztes, verbrecherisches Gesicht fanden, müssen wir wieder erkennen.<br />

Schweigespiralen <strong>und</strong> Denkverbote aber halten dumm!<br />

Es scheint deshalb unabdingbar, einige Schritte zurück zu gehen, die Schritte<br />

<strong>nach</strong> vorne sein könnten. In dem Sinne hat Günter Rohrmoser gedacht, frei<br />

18 G. Rohrmoser, <strong>Deutschland</strong>s Tragödie. Der geistige Weg in den Nationalsozialismus. München<br />

2002.<br />

19 Zu Noltes im Ausland, vor allem in der romanischen Welt, hochgeschätzten Werk vgl. jetzt<br />

S. Gerlich, Ernst Nolte. Portrait eines Geschichtsdenkers. Schnellroda 2009.<br />

20 Zit. <strong>nach</strong> U. Fröschle, Th. Kuzias, Alfred Baeumler <strong>und</strong> Ernst Jünger. Dresden 2008, Motto<br />

auf dem Frontispiz.<br />

53


<strong>nach</strong> dem Walter Benjamin zugeschriebenen Wort, auch das Ziehen der Notbremse<br />

könne ein revolutionärer Akt sein.<br />

Von hier her ist zu fragen:<br />

II. Was heißt <strong>Einstehen</strong> <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong> <strong>nach</strong> <strong>innen</strong>?<br />

1. Es bedeutet zuerst, die großen Traditionen deutscher Geschichte, insbesondere<br />

auch Geistesgeschichte, wieder aus sich <strong>und</strong> ihren Kontexten heraus<br />

zu verstehen. Da<strong>für</strong> ist es unerlässlich, das Handeln der Menschen in ihrer<br />

Zeit zu begreifen. Es reduziert sich nicht auf zwölf Jahre mit Hitlerschen<br />

Verbrechen. Es gibt eine große <strong>und</strong> bedeutende deutsche Freiheitsgeschichte<br />

– in den teutschen Libertäten des Alten Reiches, 21 <strong>und</strong> es gibt eine großartige<br />

Staatsidee: Preußen, als Kulturstaat <strong>und</strong> sittlicher Staat, der <strong>nach</strong> Hegel Voraussetzung<br />

<strong>für</strong> eine allgemeine Friedensordnung ist. 22 Preußen brachte das<br />

bleibende Erbe der Kantischen Philosophie mit dem kategorischen Imperativ<br />

hervor, <strong>und</strong> aus dieser Wiege formte sich dann der deutsche Idealismus. Die<br />

Humboldtsche Universität, in ihrer Einheit von Forschung <strong>und</strong> Lehre, ist ein<br />

bleibendes Vermächtnis. Da<strong>für</strong> wäre einzutreten. Doch eben dies geschieht<br />

nicht. Eine ökonomistisch globale Politik <strong>und</strong> die Selbstvergessenheit der<br />

Deutschen hat die Abschaffung dieser Universität, die zwei Totalitarismen<br />

(zwar nicht unbeschädigt aber doch) überdauert hat, besiegelt. 23 Hierher gehört<br />

auch die Lektion, dass sich aus Geist <strong>und</strong> Kultur in Phasen der äußerlichen<br />

Unterdrückung die deutsche Identität immer wieder geformt hat – etwa in der<br />

Epoche der Befreiungskriege.<br />

Die hohe Staatsklugheit, das Wissen um die Fragilität dieser Linie deutscher<br />

Politik von Bismarck her, gehört auch wesentlich in diese Geschichte. Auch <strong>für</strong><br />

dieses Erbe sollten wir eintreten, statt einem globalistischen Universalismus<br />

der Gutmenschen das Wort zu reden.<br />

Die Tiefe des deutschen Geistes, die noch heute in alle Welt ausstrahlt,<br />

insbesondere <strong>nach</strong> Rußland <strong>und</strong> in fernöstliche Länder ist eine tiefe Quelle<br />

unserer Identität. Und nicht weniger die Dichtung: Patriotismus war in der<br />

großen deutschen Kultur immer mit dem Universalismus verb<strong>und</strong>en. Gerade<br />

21 Dazu u.a. Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- <strong>und</strong> Verwaltungslehre. München 2009<br />

(Neuausgabe) <strong>und</strong> G. Oestreich, Geist <strong>und</strong> Gestalt des frühmodernen Staates. Berlin 1969.<br />

22 Dazu G. Rohrmoser <strong>und</strong> H. Seubert, Jenseits von Sozialismus <strong>und</strong> Liberalismus. München,<br />

Gräfelfi ng 2010 (im Erscheinen).<br />

23 Vgl. dazu H. Seubert, Vom Elend der ‚Bologna’-Universität, in: Junge Freiheit, 29. 1. 2010,<br />

S. 18. FORUM<br />

54


der große Kant lehrt uns, dass eine wirkliche Humanität in der Liebe zum<br />

eigenen Land verankert ist. 24<br />

Aufklärung in Verbindung mit Religion zeichnete Preußen aus. Mit Selbstbewusstsein<br />

haben wir darauf hinzuweisen, dass dies von höchster Bedeutung<br />

auch <strong>für</strong> unsere Zeit ist. Preußische Geschichte lehrt exemplarisch, wie<br />

Integrationen gelingen können. Im Verhältnis zu Polen ist zu klären, wie<br />

viel fruchtbare Transkulturalität es gegeben hat, auch in Anerkenntnis der<br />

Andersheit bei Spannungen. Nur wenn deutsche Patrioten ihre eigene Geschichte<br />

sachgemäß darzulegen wissen, werden sie anderen ungebrochenen<br />

Kulturnationen auf derselben Augenhöhe begegnen.<br />

Deutsche gewordene Geschichte spiegelt sich in der Vielfalt deutscher Kulturlandschaften,<br />

der Prägung der Städte. Welcher Reichtum, welche Vielheit,<br />

die nicht einer globalistischen Indifferenz anheimfallen darf.<br />

Und damit richtet sich das Eintreten <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong> auf das ganze <strong>Deutschland</strong>.<br />

Man darf nicht ohne Trauer über die Stalinsche Westverschiebung <strong>und</strong><br />

die Verluste hinweggehen: schon der Begriff der kulturellen Nation umfaßt<br />

auch deutsche <strong>und</strong> preußische Traditionen im einstigen West- <strong>und</strong> Ostpreußen,<br />

vom deutschen Orden an. Damit ist kein Revanchismus verb<strong>und</strong>en. Man<br />

erinnere sich, dass Präsident Putin den Zerfall der Sowjetunion als die größte<br />

Katastrophe der Weltgeschichte betrachtete. Wären vergleichbare Aussagen<br />

von einem deutschen Politiker denkbar? Die W<strong>und</strong>e bleibt offen, dass Landschaften,<br />

die <strong>für</strong> 700 Jahre genuin deutsch gewesen sind, verloren wurden.<br />

Junge Polen lernen heute diese Traditionslinien wieder neu kennen. Indem sie<br />

dies erkennen, lösen sie sich übrigens von dem jahrzehntelangen stalinistisch<br />

nationalen Ideologem, Masuren oder Westpreußen seien ur-polnisch gewesen.<br />

Immerhin hat Marion Gräfi n Dönhoff, eine der Ikonen des linksliberalen<br />

Establishments, im Jahr 1962 geschrieben, sie zweifl e in ihrem Gewissen,<br />

ob es ihrer Generation gestattet sei, jene Kernlande ein <strong>für</strong> allemal preiszugeben.<br />

Und die tiefe Trauer schwingt durch ihre schönen Erinnerungsbücher,<br />

ebenso wie durch die Bücher von Hans Graf Lehndorff 25 <strong>und</strong> vielen anderen.<br />

Der eigentliche Skandal des gegenwärtigen Meinungsklimas besteht darin,<br />

dass ähnliche Äußerungen heute schon als ‚rechts’, vulgo: ‚rechtsextrem’<br />

desavouiert würden.<br />

24 Vgl. dazu: M. Riedel, Menschenrechtsuniversalismus <strong>und</strong> Patriotismus. Kants politisches<br />

Vermächtnis an unsere Zeit, in: Allgemeine Zeitschrift <strong>für</strong> Philosophie 18.1, 1993, S. 1 ff. , mit<br />

zahlreichen weiteren Nachweisen.<br />

25 H. Graf von Lehndorff, Ostpreußisches Tagebuch. Aufzeichnungen eines Arztes aus den<br />

Jahren 1945-1947. München 1961. Zahlreiche weitere Erinnerungsbücher wären hinzuzufügen.<br />

Vgl. dazu heute facettenreich <strong>und</strong> knapp: A. Kossert, Damals in Ostpreußen. München 2008.<br />

55


Ist nicht gerade heute die Chance einer freien europäischen Auseinandersetzung<br />

<strong>und</strong> Zwiesprache unter Patrioten gegeben?. Doch es besteht die<br />

große Gefahr, dass sie nicht genutzt werden wird, weil es keine deutschen<br />

Gesprächspartner gibt, die ihr eigenes Wort führen, ihre eigene Sache vertreten<br />

können. Es führt kein Weg, jedenfalls kein heilsamer, von der jahrh<strong>und</strong>ertelangen<br />

europäischen Geschichte in die wurzellose Nicht-Identität<br />

des ‚global village’.<br />

Stattdessen erleben wir heute allenthalben, zumal unter sogenannten Eliten,<br />

eine das Eigene herabsetzende, alles folkloristisch Fremde verherrlichende<br />

Gr<strong>und</strong>haltung. Die heutigen wurzellosen Intellektuellen wähnen sich in der<br />

Welt zuhause – mit Spott <strong>für</strong> das eigene Land. Doch es bleibt wahr, dass es<br />

ohne Herkunft keine Zukunft gibt, die nicht ins Phantastische abgleitet, dass<br />

es ohne geschichtliche Vorbilder keine Maßstäbe gibt <strong>für</strong> eigenes Handeln.<br />

Da<strong>für</strong> gibt es bemerkenswerte Indizien:<br />

Die eigene Sprache, eine der größten Kultursprachen, wird schamhaft im<br />

eigenen Land diskriminiert , so als sei sie die Sprache einer zurückgebliebenen<br />

Minderheit.<br />

Preise, die <strong>nach</strong> den bedeutendsten Geistern unserer Tradition benannt sind:<br />

Hegel, Kant, Meister Eckhart, Nietzsche: werden gerade nicht an Persönlichkeiten<br />

vergeben, die dieses Denken fortsetzen oder sich zumindest in seiner<br />

Tradition sehen, sondern – mit einiger Systematik – an solche, die sie zerstören,<br />

quer zu ihnen zu stehen scheinen, in jenem relativistischen Gratis-„Mut“.<br />

2. <strong>Einstehen</strong> <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong> wäre in besonders elementarer <strong>und</strong> brennender<br />

Weise <strong>für</strong> das Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungssystem entscheidend. Wir haben eines<br />

der besten Bildungssysteme unterhöhlt – nicht erst seit der Bologna-Reform,<br />

sondern seit der rigiden Aufweichung der Standards <strong>und</strong> des Niveaus seit<br />

dem Jahr 1968.<br />

Für <strong>Deutschland</strong> einzustehen heißt im Horizont der Bildung deshalb auch,<br />

einen deutschen Wesenszug nicht zu belächeln, den Richard Wagner einmal<br />

auf die Formel brachte: Deutsch sein heiße, eine Sache um ihrer selbst willen<br />

zu tun: Gemeint ist damit eine Zugangsweise zur Welt, die sich nicht in<br />

Pragmatismus, Utilitarismus <strong>und</strong> Ökonomismus erschöpft. Es ist ein genuin<br />

deutsches Erbe, dass Elite mit Dienen zu tun hat<br />

Dass eine solche Tugend mißbraucht werden konnte, besagt doch keineswegs,<br />

dass sie keine Tugend wäre. Aus ihrem Stoff <strong>und</strong> aus dem Stoff einer Elite<br />

war auch der Widerstand des 20. Juli 1944.<br />

Für <strong>Deutschland</strong> einzustehen, hieße deshalb auch den alten Begriff von Eliten<br />

in einer RE-FORMATIO, die den Namen verdient, wiederzugew<strong>innen</strong>. Ich<br />

nenne nur einige Berufsfelder: die evangelische Kirche, die sich weitgehend<br />

56


aus dem Geist Luthers <strong>und</strong> der Zwei-Reiche-Lehre entfernte <strong>und</strong> sich dem<br />

Zeitgeist angebiedert hat; das Berufsbild des Universitätslehrers, der sich<br />

leichthin dem Zeitgeist der Massenuniversität anbiedert; ein <strong>nach</strong>haltiges<br />

Unternehmertum, anstelle der Blasen produzierenden Gier-Ökonomie. Nahezu<br />

alles wäre daran gelegen, dass wir überhaupt wieder zu einem Elitebegriff<br />

kommen, der über die Kapital- <strong>und</strong> Medien-Schickeria hinausweist.<br />

Ein <strong>nach</strong> <strong>innen</strong> besonders schützenswertes Erbe ist die deutsche <strong>und</strong> preußische<br />

militärische Tradition. Wenn man alte Ausgaben der ‚Truppenführung’ durchsieht,<br />

erkennt man noch in den fünfziger Jahren die Präsenz des deutschen<br />

Geistes. Hier wird greifbar, dass der Offi zierberuf ein klassischer geistiger<br />

Beruf gewesen ist. Nicht das Befehls-, sondern das Auftragsprinzip war leitend.<br />

Eine der absurdesten Erfahrungen in jüngster Zeit ist es, dass sich Teile der<br />

verfaßten Studentenschaft dagegen wehren, dass den Männern des 20. Juli,<br />

vor allem Stauffenberg, Namengeber eines Lehrstuhls werden. Weiter kann<br />

man die vollständige Geschichtsvergessenheit <strong>und</strong> den jakobinischen Gesinnungsterror<br />

kaum treiben: Diejenigen, die ihr Leben einsetzten, genügen uns<br />

nicht, weil sie nicht in der Weise relativistische, politisch korrekte Demokraten<br />

gewesen sind, wie wir es sein möchten. Dagegen gilt es zu zeigen: der 20. Juli<br />

gehört zu den besten Traditionen, in denen wir nur stehen können: Wenn das<br />

‚geheime <strong>Deutschland</strong>’ gegen die ‚Niedrigkeit der Herzen’ der Jugend Maß<br />

<strong>und</strong> Vorbild gäbe, wäre viel gewonnen. Wenn wir nicht <strong>für</strong> dieses Vermächtnis<br />

einstehen, sondern es an den Zeitgeist verraten, so werden diese Lebenszusammenhänge<br />

späteren Generationen unverständlich sein.<br />

3. <strong>Einstehen</strong> <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong> bedeutet auch – <strong>und</strong> vielleicht zuerst – <strong>für</strong> die<br />

deutsche Sprache einzutreten: <strong>für</strong> diese w<strong>und</strong>erbare Sprache in ihrer metaphysischen<br />

Kraft, ihrer dichterischen Weite, die Martin Opitz, ein Schlesier,<br />

in seinem ‚Buch von der deutschen Poeterey’ (1624) erstmals als gleichberechtigt<br />

– wenn nicht überlegen den romanischen Sprachen bezeichnete. Und<br />

dann trat die barocke Literatur mit Gryphius, Simon Dach, Grimmelshausen<br />

<strong>und</strong> vielen anderen den glanzvollen Beweis an, dass es so ist. Die lächerlichen<br />

Anglizismen, die noch lächerlicheren Versuche, wenn sich Deutsche zu einer<br />

Konferenz versammeln <strong>und</strong> dabei Englisch stottern (das macht jene Konferenz<br />

wohl international), legt nahe, dass man sich dieser Sprache schämt. Zumindest<br />

ebenso schlimm ist es, in welcher Verkümmerungs- <strong>und</strong> Schw<strong>und</strong>stufe<br />

sie inzwischen in Medien <strong>und</strong> Politik gesprochen <strong>und</strong> geschrieben wird. Mir<br />

scheint es kaum denkbar, dass in einem anderen zivilisierten Land Lehrer<br />

bek<strong>und</strong>en können, die bedeutendsten Zeugnisse der eigenen Nationalliteratur,<br />

wie bei uns Goethes FAUST seien von gestern, <strong>und</strong> sich brüsten, diese<br />

Werke nicht mehr lesen <strong>und</strong> erst recht vermitteln zu müssen. In <strong>Deutschland</strong><br />

57


geschieht dergleichen ständig. Man denke sich einen solchen Umgang mit<br />

Dante in Italien, Tolstoi oder Dostojewski in Rußland...<br />

„<strong>Deutschland</strong> einig Deppenland“ heißt eine nicht ganz ernst gemeinte glossierende<br />

Schrift zweier Journalisten über den beklagenswerten intellektuellen<br />

Zustand unserer Nation. Doch in der Tat: Es gibt einen linearen Weg von der<br />

Selbstmißachtung, der Destruktion aller Traditionen zu der Verdummung<br />

einer manipulierbaren Masse, wie sie uns heute auf zu vielen Fernsehsendern<br />

begegnet, als dass dies nur Zufall sein könnte. Das ist auch das Gegenteil<br />

der Habermas’schen Chimäre von postkonventionellen Weltbürgern. Eine<br />

bürgerliche Kultur des Rechtsstaates, der Freiheit würdig, auf der Höhe der<br />

großen Herausforderungen dieses beg<strong>innen</strong>den 21. Jahrh<strong>und</strong>erts, wie wir sie<br />

dringend benötigen würden, kann daraus nicht hervorgehen. 26<br />

Dass Europa sein unverlierbares Antlitz in der globalen Welt behält, dies hängt<br />

wesentlich auch davon ab, dass dieses Europa ein Gesicht hat, das aus besten<br />

deutschen Traditionen mitgeformt wurde. Ein Europa der Vaterländer wäre<br />

etwas anderes als der bürokratische Moloch, der uns von Brüssel her begegnet.<br />

Karl Albrecht Schachtschneider hat darauf immer wieder mit Überzeugung<br />

<strong>und</strong> Entschiedenheit hingewiesen.<br />

4. Gibt es Anzeichen, dass sich ein <strong>Einstehen</strong> <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong> auch in der<br />

öffentlichen Debatte wieder abzeichnet? Man nennt die Fahnen bei der<br />

Fußball WM 2006, man nennt die Bücher von mehr oder weniger stumpf<br />

links sozialisierten Journalisten, die sich zu einem neuen Konservatismus<br />

bekennen, oder Gründe nennen, weshalb man auf <strong>Deutschland</strong> stolz sein<br />

dürfte. Oder man nennt einige lapidare Einzelaussagen, die die Überdehnung<br />

des Sozialstaats <strong>und</strong> die daraus resultierenden Probleme heute beim Namen<br />

nennen. Über all das will ich nicht arrogant hinweggehen: Aber es ist ein<br />

sehr leichter Patriotismus, der nicht mehr zu sagen weiß, als dass die Welt zu<br />

Gast bei Fre<strong>und</strong>en sei. Doch wer die Fre<strong>und</strong>e sind, das bleibt ungeklärt. Nur<br />

Gastgeber zu sein, ist sehr wenig.<br />

Für <strong>Deutschland</strong> einzutreten, ist eine Liebe, die den Schmerz nicht scheut. Man<br />

muss doch mehr zu sagen wissen, als dass man guter Gastgeber sein möchte.<br />

5. Wir müssen auch <strong>für</strong> die wiedergewonnene Deutsche Einheit <strong>nach</strong> 1989<br />

einstehen. Dass sie ‚<strong>nach</strong> <strong>innen</strong>’ noch längst nicht befriedigend gelungen<br />

ist, dass sie kaum gefeiert wird, hat auch damit zu tun, dass ein eindeutiger<br />

antitotalitärer Konsens auf der Basis des Gr<strong>und</strong>gesetzes preisgegeben wurde<br />

– zugunsten eines ideologiestaatlichen ‚Kampfes gegen rechts’. Jenes Zusam-<br />

26 Vgl. dazu den Beitrag von K. A. Schachtschneider in vorliegender Dokumentation weiter<br />

oben.<br />

58


menwachsen, von dem Willy Brandt 1990 sprach, geschieht auch deshalb so<br />

schleppend – oder es bleibt aus, weil es intellektuelle westdeutsche Haltung<br />

war, dass einem die Toscana näher sei als Dresden oder Greifswald. Dabei<br />

ist jene Revolution, besser: Reformation deutscher Freiheit, die die zweite<br />

Diktatur hinwegfegte, durchaus bemerkenswert. In der DDR erwachte damals<br />

wie selbstverständlich wieder eine freie Sprache <strong>und</strong> mit ihr verb<strong>und</strong>en ein<br />

selbstverständlicher Patriotismus: „<strong>Deutschland</strong> einig Vaterland“. Es entfaltete<br />

sich eine Revolution, die sich in bemerkenswerter Weise gegen die Blutspur der<br />

Französischen <strong>und</strong> Russischen Revolution, der beiden schrecklichen Mütter<br />

aller modernen Revolutionen, absetzt, <strong>und</strong> die, noch bemerkenswerter, die<br />

Signatur der verschiedenen mitteldeutschen Landstriche trug. Hier re-formierte<br />

sich auch das alte, vielgliedrige föderale <strong>Deutschland</strong>. 27<br />

Was <strong>nach</strong> 20 Jahren daraus geworden ist, mit den Rankünen der Partei Die<br />

LINKE, den Verzagtheiten in der Politik der anderen Parteien, dem weitgehenden<br />

Vergessen dieses stillen, aber entschiedenen Heldentums <strong>und</strong> dieser<br />

patriotischen Euphorie, wird eher mit Trauer erfüllen. Viele Fassaden glänzen<br />

wieder, doch welcher Kleinmut! Doch wir hatten gehofft, dass die besten<br />

Traditionen hier wieder entstehen würden, in einer Freiheit von der 68er-<br />

Hegemonie. Diese Erwartung ist weitgehend enttäuscht worden.<br />

6. Ein Verweis auf <strong>Einstehen</strong> <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong>, den Sie von einem Philosophieprofessor<br />

klassischen Zuschnitts vielleicht nicht erwarten würden: Die<br />

Rapperin Dee Ex erklärt in einem Interview mit der Jungen Freiheit: Ein<br />

Deutscher ist kein Nazi. Einen vernünftigen Patriotismus möchte sie als<br />

Stachel im Fleisch bestehen lassen. Es ist bemerkenswert, wie diese junge<br />

Frau aus der Popszene die Forderung <strong>nach</strong> Wahrhaftigkeit auch der eigenen<br />

Geschichte gegenüber aufgreift <strong>und</strong> sich im Namen ihrer Generation gegen<br />

eine phrasenhafte Verdummung wendet, die den öffentlichen politischen<br />

‚Diskurs’ bestimme. Mit Arnulf Baring konstatiert sie, wir lebten zunehmend<br />

in einer ‚DDR light’.<br />

7. Ganz entscheidend zeigt sich ein Eintreten <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong> <strong>nach</strong> <strong>innen</strong> in<br />

der Frage von Zuwanderung <strong>und</strong> Integration: das Wort von der ‚Leitkultur’,<br />

seinerzeit von Bassam Tibi <strong>und</strong> im Anschluss daran von Friedrich Merz<br />

formuliert, mag das geistige Kaliber nicht gehabt haben, das erforderlich<br />

ist. Die Einbürgerungstests waren zum Teil von einer naiven Unbedarftheit.<br />

Durchlässigkeit, Libertinage schien alles, was man zu bieten <strong>und</strong> daher auch<br />

abzufragen hatte – ein reichlich dürftiger Islamisten-Filter. Damit macht man<br />

27 Vgl. dazu meinen Beitrag: Die ‚friedliche Revolution von 1989’: Refl exionen <strong>nach</strong> 20 Jahren,<br />

in: Burschenschaftliche Blätter 4 / 2009, S. 154 ff.<br />

59


sich gut lächerlich. Und Konservatismuspapiere, in noblen Berliner Cafés<br />

abgefasst, in der Erwartung eines raschen Wählerfangs, sind rasch wieder<br />

verpufft – die Substanz fehlte, <strong>und</strong> es war den Exponenten auch gar nicht<br />

deutlich, was diese Substanz ausmachen sollte.<br />

In öffentlichen Diskussionen um den Moscheebau in Köln wurde deutlich,<br />

dass Vertreter des Islam, namentlich der DITIB, Goethe zitierten, die Gegner<br />

oftmals in der Kenntnis ihrer eigenen Kultur nicht standhalten konnten. Vertreter<br />

des Islamrates sind es, die zur Wahrung der abendländischen Tradition<br />

<strong>und</strong> damit der Kruzifi xe in deutschen Gerichten aufrufen. Welche Absurdität<br />

zeigt sich hier!<br />

Integrationskraft kann nur eine Nation haben, die Kulturachtung vor sich selbst<br />

kennt. Wenn Juristen im vorauseilenden Gehorsam die Scharia implizit mit zur<br />

Anwendung bringen <strong>und</strong> damit die in islamischen Kreisen gängige Überlegung<br />

stützen, dass die ‚Scharia’ sehr wohl <strong>für</strong> eine gewisse Zeit mit dem Gr<strong>und</strong>gesetz<br />

in koexistieren könne, so ist dies das Gegenteil von souveräner Integrationspolitik<br />

<strong>und</strong> es zeigt sich nur, wie weit wir davon entfernt sind. Fareed Zakharia,<br />

ein kluger amerikanischer Chefkommentator, mit Migrationshintergr<strong>und</strong>, 28<br />

lobt Amerika als großartiges Land, dem er alles verdanke. Solche Aussagen<br />

werden wir von jungen Türken kaum zu erwarten haben.<br />

Und dies ist umso weniger der Fall, je mehr <strong>und</strong> je länger die Tendenz zu<br />

schleichenden vorauseilendem Kotau vor den islamischen Zuwanderern sich<br />

auf allen Kanälen durchsetzt Tatsachen werden nicht zur Kenntnis genommen,<br />

in der Gleichbehandlung des Ungleichen: Wenn man, wie der Wissenschaftsrat<br />

unter Professor Strohschneider, empfi ehlt, an deutschen Universitäten Islamische<br />

Fakultäten zu errichten <strong>und</strong> bei der Besetzung islamische Organisationen<br />

mitbestimmen zu lassen – die Details würden sich dann gleichsam von selbst<br />

regeln (!) – so ist dies fahrlässig. Man kann <strong>und</strong> sollte heute wissen, dass der<br />

Islam eine völlig andere Gr<strong>und</strong>struktur als das Christentum hat. Die Verbindung<br />

von Glaube <strong>und</strong> Vernunft ist <strong>für</strong> den Islam nie dauerhaft kodifi ziert<br />

worden, die Einheit von Religion <strong>und</strong> Politik (dwin-d-aula) ist hingegen <strong>für</strong><br />

den Islam konstitutiv. 29 Man muss kein Prophet sein, um die ungeheuren<br />

Verwerfungen vorherzusehen, die jene Mitbestimmung bedeuten wird. 30<br />

28 F. Zakharia, Der Aufstieg der anderen. München 2008, insbes. S. 200 ff.<br />

29 Vgl. dazu: Kleine-Hartlage, Das Dschihad-System. München, Gräfelfi ng 2010. Siehe auch G.<br />

Küenzlen, Die Wiederkehr der Religion. Lage <strong>und</strong> Schicksal in der säkularen Moderne. München<br />

2003.<br />

30 Im Falle des islamwissenschaftlichen Lehrstuhls in Münster <strong>und</strong> einer ähnlichen Institution<br />

in Frankfurt am Main zeigte sich, dass die Annäherung an europäische Wissenschaftsstandards<br />

massive Proteste zumindest von Teilen der islamischen Welt zur Folge hatte. Dies reicht bis zu<br />

Morddrohungen an die unliebsamen Professoren. Man wird sich hier auf einiges gefasst machen<br />

können.<br />

60


<strong>Einstehen</strong>en <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong> bedeutet auch, sich einem solchen chimärenhaften<br />

Illusionismus zu widersetzen. Es liegt nur auf der Linie einer solchen<br />

Politik, wenn durch ein „Antidiskriminierungsgesetz“ die Rechtsgleichheit<br />

des Gr<strong>und</strong>gesetzes unterhöhlt wird, dabei aber die Diskriminierung deutscher<br />

Staatsbürger ungestraft bleibt.<br />

8. Ich berühre nur knapp ein Feld, das in einem Bereich zwischen dem<br />

<strong>Einstehen</strong> <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong> <strong>nach</strong> <strong>innen</strong> <strong>und</strong> <strong>nach</strong> <strong>außen</strong> liegt: das Gedenken<br />

an die eigenen Toten, an Flucht <strong>und</strong> Vertreibung. Erst in den letzten Jahren<br />

beginnt sich der Schleier zu lösen. Leid <strong>und</strong> massenhafte Vernichtung sind<br />

nicht aufzurechnen. Jede derartige Mathematik ist in sich schwere Barbarei<br />

<strong>und</strong> Verletzung der Würde der Getöteten.<br />

Man kann nicht umhin, von hier her auf die Causa Steinbach zu stoßen: Es<br />

mag so sein, dass man die Selbstpreisgabe, die der Außenminister einforderte,<br />

in Polen zunächst begrüßt. Langfristig dient eine solche Politik aber einem<br />

Opportunismus, der sich vor dem Ressentiment verneigt. Die alte kommunistische<br />

Partei hat in Polen Identitäten sichern können, indem sie die Schuld der<br />

Deutschen verewigte <strong>und</strong> die Geschichte in ihren vielfachen, differenzierteren<br />

Frontverläufen überging. Dies erbrachte gerade in ländlichen Gebieten Wählerstimmen.<br />

Deshalb bedienen sich bedauerlicherweise auch vernünftige liberal<br />

konservative Politiker, wie der ehemalige Außenminister Bartoszewski, dieser<br />

Scheinargumente, um auf keinen Fall als schlechte Patrioten zu gelten. Polnische<br />

Patrioten aber werden die Westerwellesche Verhaltensweise nicht verstehen<br />

<strong>und</strong> erst recht nicht <strong>nach</strong>vollziehen können. Letztlich wird dergleichen<br />

unter der ‚deutschen Hysterie’ verbucht. .. Dass ein deutscher Außenminister<br />

sich derart exponiert <strong>und</strong> abweichende Stimmen als ‚rechts <strong>außen</strong>’ disqualifi<br />

ziert, ist anderen Nationen, zumal solchen mit einer intakten patriotischen<br />

Gr<strong>und</strong>haltung, schwer verständlich zu machen; wie übrigens die Argumente<br />

der Einbindung, die vermeintlich von unseren Nachbarn gefordert war, <strong>nach</strong><br />

1990 von deutscher Seite kamen – <strong>und</strong> eher auf Unverständnis stießen. Der<br />

Historiker Michael Stürmer glossierte damals, was würde man von einem Gast<br />

halten, der permanent auf seine latente Gefährlichkeit verweist <strong>und</strong> darum<br />

bittet, eingehegt zu werden. Vertrauen hätte man zu einem solchen habituellen<br />

Wahnsinnigen kaum <strong>und</strong> seine Gesellschaft würde man schwerlich suchen!<br />

9. <strong>Einstehen</strong> <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong> scheint auch in der Familienpolitik dringend<br />

geboten. Wir sehen heute eine massive Aushöhlung der tradierten Familie vor<br />

uns, dieser ersten <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legenden Form der Sittlichkeit. 31 Die Zerstörung<br />

der Familie, in der sich Kapitalismus <strong>und</strong> Sozialismus übrigens gleichen, ist<br />

31 Vgl. G. Rohrmoser, Kulturrevolution in <strong>Deutschland</strong>. München, Gräfelfi ng 2008.<br />

61


mehr als eine Kulturrevolution. Dies ist eine ‚anthropologische Revolution’,<br />

die auf der Meinung beruht, Lebensformen ließen sich beliebig kreieren. Es<br />

ist ein tiefreichendes Krisensymptom, wenn eine Gesellschaft davon ausgeht,<br />

der Staat sei der eigentliche Erzieher. Hier ist die Taktik des Gender-Mainstreaming<br />

nur zu erwähnen, das die Konstruiertheit geschlechtlicher Identität<br />

zum Programm erhebt, sich dabei schleichend <strong>und</strong> weitgehend unbemerkt,<br />

darum aber umso wirksamer vollzieht. 32<br />

Umgekehrt erleben wir durch Geburtenrückgang <strong>und</strong> die großzügige Toleranz<br />

von Abtreibungsregelungen eine schleichende Selbstauslöschung der genuinen<br />

deutschen Bevölkerung – mit der hybriden Vorstellung, das, was dabei<br />

wegbreche, könne <strong>und</strong> müsse durch Zuwanderung kompensiert werden, so<br />

als könne man sich eine Bevölkerungsstruktur einkaufen. Man muss sich die<br />

Groteskheit der Situation klar machen: solche existentiellen Fragen werden<br />

mit libertärer Gleichgültigkeit behandelt während wir ansonsten ein geradezu<br />

allgegenwärtiges Hineinregieren in das Privatleben des Einzelnen: durch<br />

Kindeserziehung <strong>und</strong> eine nahezu jakobinische Gesinnungspolitik erfahren.<br />

Zu dieser Identität gehört auch, im Konzert der Nationen das eigene Gedächtnis<br />

lebendig zu halten. Die eigene Niederlage zu feiern, ist eine mehr als<br />

fragwürdige Angelegenheit. Sie verhöhnt das Ringen deutscher Patrioten <strong>für</strong><br />

<strong>Deutschland</strong>, auch derer, die wie die Männer vom 20. Juli ihren Patriotismus<br />

als eine der wesentlichen Motivationen des Widerstands gegen Hitler begriffen.<br />

Lange vor Richard von Weizäckers Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes,<br />

die wegen ihrer Beschönigung deutscher Leiden <strong>und</strong> der Absichten der Sieger<br />

zu Recht vielfach empörte, hat Theodor Heuss zur Ambivalenz des 8. Mai<br />

zutreffend bemerkt, die Deutschen seien „erlöst <strong>und</strong> vernichtet in einem“<br />

gewesen. Aber auch Weizsäcker gab zu Protokoll, dass dieses Datum keinen<br />

Anlass zu Siegesfeiern gebe. Dies ist heute längst nicht mehr Konsens im<br />

politischen <strong>und</strong> medialen Establishment.<br />

III. Was heißt <strong>Einstehen</strong> <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong> <strong>nach</strong> <strong>außen</strong>?<br />

Auch hier können nur einige wenige Eckpunkte hervorgehoben werden:<br />

1. Das erste Problemfeld betrifft die ‚nationalen Interessen’.<br />

Die Bündnisverpfl ichtung, das atlantische Erbe <strong>und</strong> die Westverankerung, die<br />

alles in allem mit der Erfolgsgeschichte der alten B<strong>und</strong>esrepublik <strong>Deutschland</strong><br />

eng verb<strong>und</strong>en sind, können <strong>und</strong> sollen im Gr<strong>und</strong>sätzlichen nicht revidiert<br />

werden. Für <strong>Deutschland</strong> heute einzutreten, heißt gerade nicht einer Schau-<br />

32 Dazu jetzt: B. Rosenkranz, MenschInnen. Gender Mainstreaming. Auf dem Weg zum<br />

geschlechtslosen Menschen. Graz 2008. Auch die Journalistin Gabriele Kuby hat sich größte<br />

Verdienste bei der Aufklärung über diese Strategie erworben.<br />

62


kelpolitik das Wort zu reden. Dass der Blick <strong>nach</strong> Osten auch immer zur<br />

deutschen Staatsraison gehörte, ist unverkennbar – <strong>und</strong> man wird gut tun,<br />

sich daran wieder vermehrt zu erinnern. Doch dies ist nur aufgr<strong>und</strong> einer<br />

eindeutigen Verankerung im Westen möglich. Doch ebenso ist deutlich,<br />

dass seit dem Fall des Eisernen Vorhangs der Ost-West-Blockgegensatz als<br />

organisierendes Prinzip zerbrochen ist, das die Westbindung bestimmte hatte.<br />

Die Weltpolitik durchläuft eine höchst fragile defi nitorische Phase, nationale<br />

politische Interessen sind vermehrt auf die Agenda gelangt. 33 Damit hatten<br />

die Deutschen erkennbar Schwierigkeiten. Ein abstrakter Universalismus, der<br />

vom ‚postnationalen Zeitalter’ träumt, kann eigene Interessen nicht defi nieren.<br />

Wichtig bleiben transatlantische Beziehungen. Doch sie fi nden sich selbst in<br />

einer defi nitorischen Phase, <strong>und</strong> dies macht es notwendig, die eigenen nationalen<br />

Interessen zu defi nieren. In der Weltpolitik kann es keine ‚uneingeschränkte<br />

Solidarität’ geben. Wie rasch sie sich ins Gegenteil verkehrt, konnte man an<br />

der rot-grünen Politik sehen.<br />

Die gegenwärtige Afghanistan-Debatte, die überfällig ist, offenbart vor allem<br />

die immense Schwierigkeit, eine eigenständige politische Linie zu fi nden.<br />

Mit Implikationen im Inneren: sich hinter die eigenen Soldaten zu stellen.<br />

Von dem Desaster dieses Einsatzes kann man in den einschlägigen Artikeln<br />

von Peter Scholl-Latour lesen. 34 Ohne dass man hier in die Details gehen<br />

könnte, gibt es doch eine belastbare Leitlinie: Wen historisch geostrategische<br />

Wirklichkeit <strong>und</strong> Wahrheit nicht interessiert, der ist zumeist auch unfähig zur<br />

Wahrnehmung der Gegenwart!<br />

Politische Klugheit <strong>und</strong> das Völkerrecht müssen die Leitlinien abgeben,<br />

nicht die fatale jakobinische Moralpolitik eines Joschka Fischer, geradezu<br />

das fratzenhafte Zerrbild des moralistischen Politikers, von dem Kant als<br />

Gegenbild wahrer Moralität in seiner Friedensschrift handelt. 35 Dieser falsche<br />

Moralismus bestimmt auch den EU-Beitritt der Türkei, der kaum mehr<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich in Frage gestellt werden darf, der aber die Stabilität der EU<br />

endgültig zerstören würde. .<br />

Dass es keine patriotischen Normen <strong>für</strong> die Interessenwahrnehmung in<br />

<strong>Deutschland</strong> gibt, macht die Politik tatsächlich unberechenbar. Es bleibt also<br />

zutreffend, was Armin Mohler vor über vierzig Jahren konstatiert hatte. So<br />

wird offensichtlich auch nicht in den langen Prägungen der Geschichte gedacht,<br />

wie es in Frankreich Rußland oder Großbritannien, aber auch in Polen<br />

noch immer möglich ist. Die gegenwärtige Welt ist in Unordnung geraten,<br />

33 Vgl. dazu die hervorragende Analyse bei M. Stürmer, Welt ohne Weltordnung? Wer wird<br />

die Erde erben?. Hamburg 2006.<br />

34 Vgl. jüngst ders., Die Angst des weißen Mannes. Eine Welt im Umbruch. München 2010.<br />

35 I. Kant, Zum ewigen Frieden. Anhang 1. Königsberg 1795, Reprint Berlin 1987, S. 66 ff.<br />

63


weil es weder einen Hegemon noch ein wirksames Gleichgewicht gibt. Wir<br />

sehen, dass sich die Tektonik auf außereuropäische Potenzen verlagert Wie<br />

will man dieser Tendenz standhalten?<br />

Kann Außenpolitik überhaupt stattfi nden, wo moderiert wird, wo EU-Vorgaben<br />

exekutiert werden <strong>und</strong> die eigenstaatliche Souveränität zurückgedrängt wird?<br />

Oder ist dies schon Indiz einer ‚Welt<strong>innen</strong>politik’, die man in den Sechziger<br />

Jahren, etwa in Einlassungen von Carl Friedrich von Weizsäcker, als Friedensgaranten<br />

feierte. Auch gegenüber dieser Tendenz wäre an die größere Weisheit<br />

des alten Kant zu erinnern, der im Weltstaat die Tendenz zu Tyrannis <strong>und</strong><br />

Despotie als fast unvermeidlich sah. Über solche Fragen muss gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

debattiert werden, weshalb wir uns die schleichende Schweigespirale schon<br />

aus Gründen der Staatsraison nicht länger erlauben können!<br />

2. Das <strong>Einstehen</strong> <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong> zeigt sich, worüber ich hier nicht mehr viel<br />

sagen muss, <strong>nach</strong> dem glänzenden staatsrechtlichen Vortrag von Herrn Kollegen<br />

Schachtschneider gerade gegenüber der EU: einem Zentralismus, der<br />

Souveränität untergräbt. Dem gegenüber ist unmißverständlich das Telos, das<br />

Ziel der Eigenstaatlichkeit <strong>und</strong> Souveränität der Deutschen festzuhalten. Dass<br />

<strong>Deutschland</strong> bei aller Integration ein eigenständiger Nationalstaat ist, wurde<br />

durch den Gleichtakt von Souveränitätszuwachs <strong>und</strong> europäischer Einbindung<br />

im Prozess der Wiedervereinigung eher verdeckt. Zudem ließ die ‚Suche<br />

<strong>nach</strong> Sicherheit’ bei eingegrenzter Souveränität (Eckart Conze) in der alten<br />

B<strong>und</strong>esrepublik diese Dimension in den Hintergr<strong>und</strong> treten. Heute erweist sie<br />

sich als wesentlich: als Forderung des Lebensrechtes des deutschen Staates.<br />

Würde die EU bei uns einen Aufnahmeantrag stellen, so müsste man ihn wegen<br />

des Demokratiedefi zits verweigern, so sagte es einmal Günter Verheugen <strong>und</strong><br />

fügte hinzu, dass die EU aber kein Staat sei.<br />

Die geistige <strong>und</strong> Identitätsleere eines Sachwalters der Globalisierung, eines<br />

Durchzugslandes – die extreme Mittellage sei eingetauscht worden durch eine<br />

Lage, umgeben von Fre<strong>und</strong>en, so umschrieb Helmut Kohl die europäische<br />

Integration. Doch eben dies müsste die Chance <strong>für</strong> eine handlungsfähige Außenpolitik<br />

eröffnen. Sie ist noch immer gesichtslos. Sollte sie je ein Gesicht<br />

bekommen, so müsste es auch von den deutschen Interessen bestimmt sein.<br />

Die politische <strong>und</strong> konzeptionelle Schwäche Europas rächt sich eben jetzt.<br />

Dieses Defi zit hat ältere Wurzeln: in der Diskreditierung jedes geostrategischen<br />

politischen Denkens <strong>und</strong> der Dialektik von Staatskunst <strong>und</strong> Kriegshandwerk<br />

(G. Ritter), damit aber in der Zerschlagung bester Traditionen, etwa des deutschen<br />

Generalstabs, in dem Sog des Hitlerismus.<br />

Die unbegrenzte Erweiterungspolitik, die eine kulturelle <strong>und</strong> geistige Identität<br />

Europas unmöglich macht, infrage zu stellen, ist ein wesentliches Moment<br />

dieses <strong>Einstehen</strong>s <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong> – <strong>nach</strong> <strong>außen</strong>.<br />

64


Dabei müsste man sich auch damit auseinandersetzen, dass europäische<br />

Identitäten nicht zunehmen, dass vielmehr eine hybride Eurokratie an die<br />

Stelle politischer Führung tritt. Mehr als in anderen europäischen Staaten hat<br />

man diesen Eindruck in <strong>Deutschland</strong>. Meinhard Miegel hat über dieses bloße<br />

Moderiertwerden bemerkt: „Wir streben von Ausnahmen abgesehen – keine<br />

Ziele mehr an, sondern werden wie Autoscooter durch den Zusammenstoß<br />

in irgendeine Richtung gedrängt. Die Aufrechterhaltung demokratischer<br />

Strukturen unter Bedingungen sich verschärfender Verteilungskämpfe bei<br />

insgesamt moderatem Wirtschaftswachstum versteht sich nicht von selbst. 36<br />

Diese Tendenz ist aber hochriskant. Wir hören heute nicht ohne Gr<strong>und</strong> vermehrt<br />

von den Gefahren einer post-demokratischen Gesellschaft (C. Crouch).<br />

Der verdiente Rechtsgeschichtler Michael Stolleis hatte um 1990 vorgeschlagen,<br />

den Föderalismus des alten Reiches als ein Paradigma , ein Muster <strong>für</strong><br />

die Europäische Union zu wählen: mit Checks <strong>und</strong> Balances. Man könnte<br />

mit vielleicht noch mehr Recht heute sagen, es sei in der Welt am Beginn des<br />

21. Jahrh<strong>und</strong>erts entscheidend, jene Staatsidee, die sich Preußen verdankt,<br />

wieder zu erneuern: Der Rationalstaat, der Staat als Schiedsrichter über den<br />

Interessen, ein starker <strong>und</strong> eben darum auf seine Kernkompetenzen begrenzter<br />

Staat; diese Gr<strong>und</strong>züge der preußischen Staatsidee werden innerstaatlich, aber<br />

auch in den zwischenstaatlichen Beziehungen von Bedeutung sein. Da<strong>für</strong> ist<br />

es unabdingbar, die Norm eines sittlichen Staates <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong> wiederzugew<strong>innen</strong>.<br />

Dazu gehören zu allererst die Wurzeln eines sittlichen Staates in<br />

<strong>Deutschland</strong>. Die Trennung von Kirche <strong>und</strong> Staat ist dabei vorausgesetzt. Sie<br />

bedeutet aber nicht staatliche Indifferenz <strong>und</strong> religiöse Neutralität, sondern<br />

die Verpfl ichtung auf eine tiefere, christliche Wahrheit.<br />

Hegel hat gezeigt, wie der sittliche Staats über den Not- <strong>und</strong> Verstandesstaat<br />

hinausgeht <strong>und</strong> eine Ordnung der Freiheit, jenseits von Sozialismus <strong>und</strong><br />

Liberalismus überhaupt erst schaffen kann!. 37 Als der maßgebliche Unterschied<br />

erweist sich dabei, im Sinne klassischer politischer Philosophie seit<br />

Sokrates <strong>und</strong> Platon, ob ein Staat zwischen seinen Fre<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Feinden zu<br />

unterscheiden weiß.<br />

3. Die skizzierten <strong>außen</strong>- <strong>und</strong> weltpolitische Defi zite bringen die massive Schwäche<br />

hervor, dass man eher Gejagter der Globalisierung ist. Die maßlose Freigabe<br />

der Kreditmärkte um der Modernisierung willen ist ein Indiz. Freiheitliche Öko-<br />

36 Dazu M. Miegel, Globalisierung – Und was dann?, in: Tamen! Gegen den Strom. Günter<br />

Rohrmoser zum 80. Geburtstag, hgg. von Ph. Jenninger, R. W. Peter, H. Seubert. Stuttgart 2007,<br />

S. 283 ff.<br />

37 Rohrmoser, Seubert, Jenseits von Sozialismus <strong>und</strong> Liberalismus. München, Gräfelfi ng 2010.<br />

65


nomie setzt Rahmenbedingungen voraus. Trotz aller staatsinterventionistischen<br />

Eingriffe ist dies bis heute unterblieben, im Unterschied zu Amerika. Krankes<br />

Geld <strong>und</strong> kranke Welt bedingen einander, <strong>und</strong> es steht zu be<strong>für</strong>chten, dass die<br />

Wahnspirale auf eine Hyperinfl ation sich ungebremst fortsetzt. 38<br />

Hier hätte <strong>Deutschland</strong> mit seiner freien Marktwirtschaft <strong>und</strong> mit einer großen<br />

ökonomischen Tradition die Möglichkeit, der maßlosen Infl ation des billigen<br />

Geldes <strong>und</strong> Keynesianischen Nachfrageorientierung dezidiert Paroli zu bieten.<br />

Henry Kissinger wird das Wort zugesprochen, dass das geteilte <strong>Deutschland</strong><br />

seine Ökonomie auf der Suche <strong>nach</strong> einem Daseinszweck sei. Daran hat sich<br />

auch seit dem Ende des Kalten Krieges nichts geändert, nur dass die Ökonomie<br />

selbst gefährdet ist. Daran hat sich wenig geändert – <strong>und</strong> dies hat eben tiefere<br />

Wurzeln: ohne Identität, die darüber hinausgeht, Einwanderungsland zu sein,<br />

wird man sich schwer positionieren können.<br />

Der illusionäre Versuch, in postnationalen Konstellationen aufzugehen, ein<br />

neuer Internationalismus, wäre die Flucht aus der eigenen Geschhichte der<br />

Deutschen.<br />

IV. Freiheit – Demokratie – Rechtsstaatlichkeit. Eine besorgte Abschlussüberlegung<br />

Die Frage, unter der die heutige Tagung steht, ist von meiner Seite, was Sie<br />

nun nicht mehr weiter überraschen wird, sehr skeptisch zu beantworten:<br />

„Wie geht unsere Politik mit <strong>Deutschland</strong> um? Freiheitlich, demokratisch,<br />

rechtsstaatlich?“<br />

Dazu im einzelnen:<br />

1. Freiheit<br />

Freiheit kann nicht nur Laissez-faire Freiheit sein, nicht ein abstrakter Liberalismus,<br />

der letztlich in das Tierreich einer ungefi lterten Konkurrenz, einer<br />

Scheinindividualität, ohne Wertbindung zurückführt. Es bedarf der ‚Ordnung<br />

der Freiheit’. Zu der positiven Gestaltung <strong>und</strong> Formung von Freiheit gehört<br />

wesentlich auch der Patriotismus. Freiheit manifestiert sich aber vor allem in<br />

der freien Rede, dem freien Gedanken, der freien Publizistik. Die deutsche<br />

Freiheitsgeschichte ist eine Geschichte des Kampfes gegen Zensur, <strong>für</strong> Meinungsfreiheit.<br />

PARRHESIA bedeutet in der Weisheit der griechischen Sprache:<br />

Freiheit <strong>und</strong> Zuversicht in einem. Deshalb wird man mit Besorgnis sehen<br />

müssen, dass die Ressourcen dieser Freiheit im gegenwärtigen <strong>Deutschland</strong><br />

38 Dazu aus der Flut der gegenwärtigen Literatur: G. Hochreiter, Krankes Geld, Kranke Welt.<br />

Analyse <strong>und</strong> Therapie der globalen Depression. Mit einem Vorwort von R. Baader. München,<br />

Gräfelfi ng 2010, <strong>und</strong>: R. Hank, Der amerikanische Virus. Wie verhindern wir den nächsten Crash?<br />

München 2009.<br />

66


durch einen matten Common Sense <strong>und</strong> vor allem die Sprachregelungen der<br />

Political Correctness leiden. Dies war keinesfalls nur das vorübergehende<br />

Symptom der Großen Koalition. Die Benennung, Diagnose <strong>und</strong> Therapie der<br />

realen Probleme wird damit sträfl ich ver<strong>nach</strong>lässigt.<br />

Es muss uns auch alarmieren, wenn zunehmend freiwillig Freiheit <strong>und</strong> Privatsphäre<br />

abgegeben oder doch minimiert werden, weil sie gegen andere Güter<br />

abgewogen <strong>und</strong> <strong>für</strong> geringer gewichtig bef<strong>und</strong>en werden.<br />

2. Demokratie <strong>und</strong> Rechtsstaat<br />

Die großen bewegenden Aufgaben der Politik des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts, im globalen<br />

Sinne, in den Rahmensetzungen einer globalen Ökonomie, werden nicht<br />

in den mikrologischen Kompromissen von Berufspolitikern gelöst werden<br />

können – zumal wenn man bedenkt, wie stark ein Lobbyismus <strong>und</strong> eben<br />

nicht das deutsche Interesse hier bestimmend ist. Hans Herbert von Arnim<br />

hat, deutlich wie kein zweiter, den Finger in diese W<strong>und</strong>e gelegt: „Es gilt als<br />

ganz normal <strong>und</strong> selbstverständlich, dass ein Abgeordneter neben seinem<br />

Einkommen, das er vom Steuerzahler bezieht, auch noch Einkommen von<br />

an der Gesetzgebung interessierten Unternehmen oder Verbänden bezieht,<br />

sich also quasi in die bezahlten Dienste eines Lobbyisten begibt, obwohl<br />

es eigentlich ein Skandal ist“. „Wenn sich ein Politiker in die Dienste eines<br />

Interessenten begibt, sich von ihm bezahlen lässt, manchmal sehr hoch, ist<br />

das <strong>für</strong> mich eine Form der Korruption“. Oder auch: „Jeder Deutsche ist frei,<br />

Politikern zu huldigen, die kein Bürger je gewählt hat, <strong>und</strong> sie üppig zu versorgen<br />

– mit seinen Steuergeldern, über deren Verwendung er niemals befragt<br />

wurde. Insgesamt sind Staat <strong>und</strong> Politik in einem Zustand, von dem nur noch<br />

Berufsoptimisten oder Heuchler behaupten können, er sei aus dem Willen<br />

der Bürger hervorgegangen“. Auch wenn man nicht so weit gehen will, mit<br />

von Arnim zu sagen, dass das eigentliche Problem unserer Demokratie darin<br />

bestehe, dass sie keine Demokratie sei, wird hier doch in schöner Deutlichkeit<br />

auf ein Dekadenzphänomen hingewiesen. 39<br />

Demokratie ist eine höchst anspruchsvolle Staatsform. Sie ist, wie Schachtschneider<br />

immer wieder hervorgehoben hat, tatsächlich die einzige Staatsform<br />

in der der Mensch das gute Leben fi nden kann. 40 Deshalb wiegt es schwer,<br />

dass sie heute durch Meinung erzeugende Medien, durch einen omnipräsenten<br />

Lobbyismus, der nicht das Gemeinwohl des eigenen Landes ins Zentrum<br />

stellt, aber auch durch einen Parteienstaat, der zur Beute wird (hier sind<br />

39 Dazu jüngst ders., Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Demokratie. München 2009.<br />

40 Vgl. die großen substanzreichen Bücher: ders., Res publica res populi. Gr<strong>und</strong>legung einer<br />

Allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechts- <strong>und</strong> Staatslehre. Berlin 1994,<br />

ders., Freiheit in der Republik. Berlin 2007, ders.,Prinzipien des Rechtsstaates. Berlin 2006.<br />

67


wieder die Diagnosen von Arnims einschlägig), überformt wird. Kant hielt<br />

fest, dass eine Demokratie sehr wohl zum Despotismus werden könnte, wenn<br />

sie die Gewaltenteilung, das republikanische Prinzip, missachte. 41 Dies ist<br />

der eigentliche Unterschied zwischen Republik <strong>und</strong> Tyrannis, wobei Kant<br />

hinzufügt, dass nur unter republikanischen Staaten ein dauerhafter, ewiger<br />

Friede gestiftet werden können. Kant unterschied ihn sehr scharf von einer<br />

Weltregierung – <strong>und</strong> er hätte ihn wohl auch von einem Gebilde wie der heutigen<br />

EU unterschieden. Bemerkt er doch, dass solche übergroßen Territorien<br />

geradezu strukturell zum Despotismus neigen.<br />

Kants Schrift zum Ewigen Frieden proklamierte deshalb keineswegs eine<br />

Weltregierung, sondern ein Gleichgewichtssystem, wozu auch gehört, dass<br />

der Status des Weltbürgers durch ein Besuchsrecht, nicht aber ein Bleiberecht<br />

gewährleistet werden kann.<br />

<strong>Deutschland</strong> <strong>und</strong> seine Interessen stehen, so müssen wir auf die Frage des<br />

heutigen Seminartags hin festhalten, heute oftmals nicht mehr in erster Linie<br />

im Fokus der Politik: Es kommt nicht zur Einheit der Willensbildung, sondern<br />

zu zersplitternden Interessen. Der Kompromiss bedarf des Blicks auf<br />

ein Urbild. Er fragt <strong>nach</strong> dem möglichen Besten. Wenn man nur auf Schatten<br />

<strong>und</strong> Chimären schaut: woher soll die Orientierung kommen?<br />

Eine Sorge um <strong>Deutschland</strong> heute ist also mehr als angebracht. Doch es geht<br />

nicht nur um Klage, vielleicht auch Anklage, sondern um einige weiterführende<br />

Perspektiven. So wird man fragen, was getan werden soll? Dazu nur<br />

einige Hinweise.<br />

1. Es ist unerlässlich, die Schweigespirale zu durchbrechen, die uns von einem<br />

vertieften Nachdenken über die Probleme <strong>und</strong> ihre Lösung abschneidet. Vor<br />

allem ist es entscheidend, die Deutungshoheit nicht länger den Acht<strong>und</strong>sechzigern<br />

<strong>und</strong> ihren Epigonen zu überlassen. In diesem Zusammenhang ist es von<br />

Bedeutung, dass wir den antitotalitären Konsens wieder gew<strong>innen</strong>, dass wir<br />

nicht länger die einseitige Hetze gegen „rechts“, die Verketzerung alles dessen,<br />

was freiheitlichen Konservatismus ausmacht, hinnehmen. . Die Situation ist<br />

heute sehr viel schwieriger, als etwa noch vor fünfzehn Jahren: institutionell<br />

<strong>und</strong> auch personell. Zugleich aber wird man mit nüchternem Optimismus<br />

feststellen können, dass Patriotismus <strong>und</strong> freiheitlicher Konservatismus in<br />

der ausgedörrten ideologischen Landschaft attraktiver sind als noch vor einigen<br />

Jahren. Deshalb ist es geboten, dass konservative Gruppierungen <strong>und</strong><br />

Initiativen Netzwerke <strong>und</strong> Leuchttürme bilden <strong>und</strong> damit einen Fokus fi nden,<br />

41 Kant, Zum ewigen Frieden, 21ff. <strong>und</strong> S. 92 ff.<br />

68


der beides zugleich sein muss: Multiplikator in die Mitte der Gesellschaft,<br />

dem Bürgertum, das den Ernst der Lage noch längst nicht erkennt, wie mir<br />

scheint, <strong>und</strong> Think Tank. Hier werden auch Eitelkeiten zurückstehen müssen.<br />

2. Für <strong>Deutschland</strong> einzutreten, setzt ein Geschichtsverständnis voraus, das<br />

nicht reduziert, das mit Karl Jaspers zwischen rechtlicher, persönlicher, moralischer,<br />

metaphysischer <strong>und</strong> religiöser Schuld zu unterscheiden weiß. Es kann<br />

keinem vernünftigen Konservativen, keinem sittlichen Menschen <strong>und</strong> keinem<br />

aufgeklärten deutschen Patrioten je um Minderung der NS-Verbrechen gehen.<br />

Unser Geschichtsbild muss sie anerkennen, doch dazu ist es unabdingbar, die<br />

NS-Geschichte im Kontext ihrer Zeit <strong>und</strong> der deutschen Geschichte insgesamt<br />

zu begreifen. Konrad Löw hat in seinem großen <strong>Deutschland</strong>-Essay zurecht<br />

darauf hingewiesen, dass diese geschichtliche Refl exion <strong>und</strong> Erkenntnis, die<br />

nicht mit den Ritualen der ‚Vergangenheitsbewältigung’ zu verwechseln ist,<br />

auch ein Gr<strong>und</strong> zu recht verstandenem Selbstbewusstsein wäre. Die Lebenslüge<br />

einer Generation der Heuchelei, die jeden Patriotismus unter Verdacht<br />

stellt, muss durchbrochen werden.<br />

Deshalb muss die deutsche Geschichte aber in ihrer ganzen Tiefe, ihrer Größe<br />

<strong>und</strong> ihren Grenzen im Konzert der Mächte erkannt werden, auch in ihrer<br />

Geistesgeschichte, der zutiefst humanen Verbindung von Patriotismus <strong>und</strong><br />

Universalismus. Normativität: Maßstäbe aus diesen bedeutenden Zeiten um<br />

1800. Mithin brauchen wir wieder eine Politik, die aus der Geschichte heraus<br />

denkt <strong>und</strong> handelt, wie es bei den großen Politikern der alten B<strong>und</strong>esrepublik<br />

wie selbstverständlich der Fall war, <strong>und</strong> die nicht im Autoscooter blind<br />

umherkurvt. Mir scheint es entscheidend, dass dazu eine neue Elite erforderlich<br />

ist, nicht die der selbsternannten Geld- <strong>und</strong> Medieneliten. Bildung <strong>und</strong><br />

Erziehung haben daher hohe Priorität, weil es darum geht, solche Eliten zu<br />

fördern <strong>und</strong> zu stärken.<br />

Es bedarf in der heutigen unübersichtlichen Gegenwart der festen Richtschnur,<br />

der bleibenden Orientierungen: Wer mit sich selbst zerfallen ist, besitzt keine<br />

Identität. Aus dem Zeitalter der Nationalstaaten sollten wir gelernt haben, dass<br />

es nicht nur inhaltlich fi xierbare, in der Tat universale Menschenrechte gibt,<br />

sondern auch unbedingte <strong>und</strong> verbindliche Gr<strong>und</strong>rechte <strong>für</strong> ganze Völker –<br />

darauf muss man insistieren, denn anders hört ein Volk auf zu bestehen. Goethe<br />

hat zu Recht bemerkt: Wer sich nicht vor dreitausend Jahren Rechenschaft<br />

abzulegen wisse, müsse unerfahren in allen Lebenslagen bleiben <strong>und</strong> sei auf<br />

das Hier <strong>und</strong> Heute beschränkt.<br />

3. Wir leben in gefährdeten Zeiten, in Krisenzeiten, in denen man sich den<br />

Selbsthaß <strong>und</strong> die Selbstzerstörung nicht länger erlauben kann. Zum Teil<br />

wird die junge Generation den Klang der Gr<strong>und</strong>worte Freiheit – Demokratie<br />

– Rechtsstaatlichkeit wieder lernen müssen.<br />

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Eintreten <strong>für</strong> die Wahrheit in Freiheit (Jaspers) <strong>und</strong> <strong>Einstehen</strong> <strong>für</strong> <strong>Deutschland</strong><br />

versteht sich <strong>für</strong> Patrioten von selbst. Doch wir müssen jenen freiheitlichen<br />

Konservatismus heute in einer Zeit, in dem ihm weitgehend die Institutionen<br />

weggebrochen sind, auch denken, auf hohem Niveau, nicht rückwärtsgewandt.<br />

Es bedarf eines positiven <strong>und</strong> substantiellen Begriffs dessen, was<br />

konservativ ist.<br />

Der große Hugo von Hofmannsthal schrieb einmal im Mai 1922 an C. J.<br />

Burckhardt: „Wir unglückselige Deutsche sind doch beständig auf der Suche<br />

<strong>nach</strong> unserer eigenen Nation“ –dies macht das Schmerzliche der eigenen<br />

Geschichte aus, das uns in eine große Nähe mit anderen Völkern bringt, auch<br />

mit einstigen Kriegsgegnern, wie den slawischen Völkern.<br />

Meine Damen <strong>und</strong> Herren, Dies war eine politische Fastenpredigt, wie sie<br />

zur Zeit der Freiheitskriege gehalten wurden. Ihre Summe ist: „Wach auf,<br />

wach auf du deutsches Land!“ Dabei verbinde ich im Sinne des griechischen<br />

Wortes PARAKLESE, das beim Apostel Paulus eine große Rolle spielt,<br />

Mahnung mit Zuspruch!<br />

In Hamburg <strong>und</strong> angesichts der Hanseatischen Freiheit, der die Verbindung von<br />

Patriotismus <strong>und</strong> Universalismus besonders nahesteht, mag es angebracht sein,<br />

mit Heinrich Heine zu schließen, der noch als Emigrant Patriot war, in Liebe<br />

<strong>und</strong> Schmerz, <strong>und</strong> der sein Vaterland mit sich trug. Sie kennen seine Verse:<br />

„Denk ich an <strong>Deutschland</strong> in der Nacht, / Dann bin ich um den Schlaft gebracht,<br />

/ Ich kann nicht mehr die Augen schließen / <strong>und</strong> meine heißen Tränen<br />

fl ießen.// <strong>Deutschland</strong> hat ewigen Bestand / Es ist ein kernges<strong>und</strong>es Land.“<br />

Oder das w<strong>und</strong>ervolle Gedicht ‚In der Fremde’:<br />

„Ich hatte einst ein schönes Vaterland. / Der Eichenbaum / Wuchs dort so<br />

hoch, die Veilchen nickten sanft. / Es war ein Traum. // Das küßte mich auf<br />

deutsch <strong>und</strong> sprach auf deutsch / (Man glaubt es kaum, wie gut es klang) /<br />

das Wort ‚Ich liebe dich!’ / Es war ein Traum“.<br />

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