Aktenanalyse als erhebungsmethode
Aktenanalyse als erhebungsmethode
Aktenanalyse als erhebungsmethode
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FORSCHuNG<br />
Datenquelle Sozialhilfedossiers –<br />
<strong>Aktenanalyse</strong> <strong>als</strong> <strong>erhebungsmethode</strong><br />
Die <strong>Aktenanalyse</strong> ist eine bisher noch kaum angewandte <strong>erhebungsmethode</strong> zur<br />
erforschung von Risikogruppen in der Sozialhilfe. Im Rahmen eines Forschungsprojekts<br />
zur Situation von älteren Sozialhilfebeziehenden wurden auf den städtischen<br />
Sozialdiensten Basel, Winterthur und luzern 286 Sozialhilfedossiers erfasst und<br />
wichtige erfahrungen mit dieser Methode gemacht.<br />
Sarah Neukomm<br />
Projektleiterin und wissenschaftliche<br />
Mitarbeiterin<br />
sarah.neukomm@econcept.ch<br />
22<br />
impuls Juni 2011<br />
Renate Salzgeber<br />
Projektleiterin und wissenschaftliche<br />
Mitarbeiterin<br />
renate.salzgeber@bfh.ch<br />
Über die konkrete Situation und die Pro-<br />
blemlagen von Personen zwischen 45 und<br />
65 Jahren in der Sozialhilfe ist wenig bekannt.<br />
Im Rahmen des Forschungsprojekts<br />
«Situation älterer Sozialhilfebeziehender:<br />
Individuelle Problemlagen und Massnahmen<br />
zur sozialen und wirtschaftlichen<br />
Integration» des Fachbereichs Soziale<br />
Arbeit werden erstm<strong>als</strong> fundierte Erkenntnisse<br />
zu dieser Risikogruppe in der Sozialhilfe<br />
bereitgestellt. Als Datengrundlage<br />
dienten Sozialhilfedossiers aus drei grossen<br />
städtischen Sozialdiensten. Ziel war<br />
es, auf Basis dieser Daten vertiefte und<br />
verallgemeinerbare Einsichten zum Profil<br />
und zur Dynamik des Sozialhilfebezugs<br />
dieser Altersgruppe zu gewinnen.<br />
Grenzen herkömmlicher<br />
Datenquellen und<br />
<strong>erhebungsmethode</strong>n<br />
Für die Auseinandersetzung mit einzelnen<br />
Risikogruppen in der Sozialhilfe wurde<br />
in Forschungsprojekten <strong>als</strong> Datenquelle<br />
bisher vor allem die Sozialhilfestatistik<br />
hinzugezogen. Viele Fragen zu den individuellen<br />
Problemlagen von Sozialhilfe-<br />
beziehenden lassen sich jedoch mit diesen<br />
anonymisierten Querschnittsdaten, die<br />
gesamtschweizerisch erst ab 2004 ver-<br />
fügbar sind, nicht beantworten. Insbesondere<br />
können kaum Angaben über die<br />
zeitlichen Verläufe des Sozialhilfebezugs<br />
gemacht werden. Gerade solche Informa-<br />
tionen sind jedoch im Zusammenhang mit<br />
älteren Sozialhilfebeziehenden zentral,<br />
da sie häufig zu den Langzeitbeziehenden<br />
gehören und sich oft nur schwierig von<br />
der Sozialhilfe ablösen können. Auch die<br />
gesundheitliche Situation der Sozialhilfe-<br />
beziehenden – bei den älteren Personen<br />
ein Kernthema in Bezug auf deren Verbleib<br />
in der Sozialhilfe – ist in der Sozialhilfe-<br />
statistik nicht erfasst (Neukomm und Salzgeber<br />
2011: 29f.).<br />
Angesichts fehlender öffentlich zugänglicher<br />
Datengrundlagen und neuer, noch<br />
wenig erforschter Fragestellungen wurde<br />
in bestehenden Studien daher häufig auf<br />
Interviews <strong>als</strong> Erhebungsmethode zurückgegriffen.<br />
Ausführliche Interviews können<br />
sehr gute Einblicke in konkrete Problem-<br />
lagen von betroffenen Personen geben.<br />
Durchführung, Transkription und Auswertung<br />
solcher Interviews beinhalten jedoch<br />
einen grossen Arbeitsaufwand. Auch<br />
können sich nicht zuletzt angesichts heikler<br />
Themen Rekrutierungsprobleme stellen<br />
oder in der Interviewsituation Sprach- oder<br />
Verständigungsprobleme auftreten. Es<br />
ist deshalb in der Regel nicht möglich, eine<br />
repräsentative Zahl von Klientinnen und<br />
Klienten zu interviewen.<br />
Analyse von Sozialhilfeakten<br />
<strong>als</strong> Alternative<br />
Um den Unzulänglichkeiten der herkömm-<br />
lichen Datenquellen zu begegnen, wurde<br />
im Forschungsprojekt mit Blick auf die interessierenden<br />
Fragestellungen zu den 45-<br />
bis 65-jährigen Sozialhilfebeziehenden auf<br />
die <strong>Aktenanalyse</strong> <strong>als</strong> Erhebungsmethode<br />
zurückgegriffen. Für alle unterstützten Fälle<br />
liegen in den Sozialdiensten ausführliche<br />
Sozialhilfedossiers in grosser Zahl vor.<br />
Sie eignen sich damit <strong>als</strong> Grundlage für<br />
eine repräsentative Auswahl von Sozialhilfebeziehenden<br />
der interessierenden<br />
Altersgruppe. Die Akten enthalten zudem<br />
eine breite Palette von Fakten und Informationen<br />
zur Situation der unterstützten<br />
Familienmitglieder, so auch zu der für die<br />
45- bis 65-Jährigen besonders relevanten<br />
Frage der Gesundheit. Auch der zeitliche<br />
Verlauf des Sozialhilfebezugs kann an-<br />
hand der Dossiers nachgezeichnet werden.<br />
Ebenso können Veränderungen der<br />
persönlichen (Trennung, Heirat, Geburt<br />
eines Kindes) oder sozioökonomischen<br />
Situation (Aufnahme Erwerbsarbeit, Arbeitslosigkeit,<br />
Bezug von anderen Sozialleistungen)<br />
und kritische Lebensereignisse<br />
(Tod eines Angehörigen, Krankheiten,<br />
persönliche Krisen) identifiziert werden.
Mehrstufiges Vorgehen<br />
in enger Kooperation mit<br />
den Sozialdiensten<br />
Im Rahmen des Projektes wurden 286<br />
Sozialhilfedossiers analysiert. Die systematische<br />
Aufbereitung der benötigten Angaben<br />
aus den Dossiers erfolgte in einem<br />
längeren Erhebungsprozess, welcher auch<br />
der jeweils spezifischen Akten- und Fallführung<br />
auf dem Sozialdienst Rechnung<br />
zu tragen hatte (z.B. Datenerfassungsricht-<br />
linien, Fallverwaltungssysteme, Historisierung<br />
der Daten). Entsprechend gliederten<br />
sich die Vorbereitung und Durchführung<br />
der <strong>Aktenanalyse</strong> in den drei Städten<br />
Basel, Winterthur und Luzern in mehrere<br />
Arbeitsschritte, zu denen die beteiligten<br />
Sozialdienste entscheidende Beiträge<br />
leisteten (vgl. Abbildung):<br />
1. Organisation und Planung:<br />
Kontaktaufnahme mit dem Sozialdienst,<br />
Klärung der zeitlichen, räumlichen und<br />
administrativen Rahmenbedingungen,<br />
Einführung ins jeweilige Fallverwaltungssystem<br />
und Freigabe des Zugriffs für<br />
das Erfassungsteam, Klärung der<br />
notwendigen Unterstützungsleistungen<br />
durch den Sozialdienst, Klärung des<br />
Vorgehens betreffend Einhaltung der<br />
Datenschutzbestimmungen<br />
2. Erarbeitung des Erhebungsrasters:<br />
Erarbeitung eines Fragerasters auf Grundlage<br />
der Theorie, Verfeinerung und Bereinigung<br />
nach dem Einblick ins Fallverwaltungssystem<br />
und in die jeweils<br />
geltende Fallbewirtschaftungspraxis,<br />
Programmierung in Form eines elektronischen<br />
Fragebogens<br />
3. Stichprobenziehung und Pretest:<br />
Ziehung einer Zufallsstichprobe aus der<br />
Grundgesamtheit sämtlicher in einem<br />
definierten Stichmonat aktiven Unter-<br />
stützungsfälle in der Zielgruppe (d.h.<br />
Dossiers mit mindestens einer Person<br />
im Alter von 45 bis 65 Jahren), Test<br />
des Erhebungsrasters anhand einzelner<br />
Fälle, Anpassung des Erhebungsrasters<br />
4. Datenerhebung und -erfassung:<br />
Identifikation der Fälle in der Stichprobe<br />
im Fallverwaltungssystem vor Ort auf<br />
dem Sozialdienst, Bereitstellung von<br />
Papierakten bei Dossiers mit langem<br />
Bezug, Zusammentragen der relevanten<br />
Informationen aus dem Fallverwaltungssystem<br />
und der Papierakten entlang des<br />
elektronischen Fragebogens, laufende<br />
Abklärung von Fragen zur konkreten<br />
Praxis des Sozialdienstes resp. zu den<br />
geltenden Rahmenbedingungen und<br />
Richtlinien für die Sozialhilfeunterstützung<br />
Die Bereitschaft des Sozialdienstes, sich<br />
über sein grundsätzliches Einverständ-<br />
nis hinaus für die <strong>Aktenanalyse</strong> zu engagieren<br />
und eng mit dem Erfassungsteam<br />
zusammenzuarbeiten, ist <strong>als</strong> kritischer<br />
Faktor für den Erfolg der Erhebungsmethode<br />
anzusehen. Ebenfalls von grosser<br />
Bedeutung ist ein gemeinsames Grundverständnis<br />
innerhalb des Erfassungs-<br />
teams bezüglich Art und Umfang der zu<br />
den einzelnen Fragen des Rasters zu<br />
erhebenden Informationen.<br />
Herausforderungen<br />
im umgang mit der reichhaltigen<br />
Datenquelle<br />
Zur Beantwortung der interessierenden<br />
Forschungsfragen zu den 45- bis 65-jährigen<br />
Sozialhilfebeziehenden erwiesen sich die<br />
Sozialhilfeakten <strong>als</strong> äusserst ergiebige<br />
Datenquelle. Die bereits vorliegenden<br />
Resultate zur Situation der Altersgruppe<br />
verdeutlichen, dass die <strong>Aktenanalyse</strong><br />
eine adäquate Datengewinnungsmethode<br />
darstellt. Auch beinhaltet die Methode<br />
ein erhebliches Potenzial, weitergehende<br />
Fragestellungen noch vertieft zu bearbeiten.<br />
Dem Erhebungsteam stellten sich<br />
jedoch auch verschiedene Herausforderungen:<br />
Eine Schwierigkeit bestand im Um -<br />
gang mit der enormen Informationsfülle.<br />
Nicht selten handelte es sich um sehr dicke<br />
Akten, da sich die Erwartung bestätigte,<br />
dass viele Angehörige der untersuchten<br />
Altersgruppe zu den Langzeitbeziehenden<br />
gehören. Neben der elektronischen Fallverwaltung<br />
mussten folglich auch Papierakten<br />
beigezogen werden, die in einigen<br />
Fällen sehr umfangreich waren.<br />
Gerade bei solch umfangreichen Akten<br />
zeigte sich die zentrale Bedeutung eines<br />
in Abgleich mit den elektronischen Fallverwaltungssystemen<br />
aller beteiligten Sozialdienste<br />
verfeinerten und gut strukturierten<br />
Erhebungsinstruments. Ein stringentes,<br />
sich an der Logik der Aktenverwaltung<br />
orientierendes und dabei aber auf<br />
die wesentlichen Untersuchungsfragen<br />
beschränkendes Raster erleichtert eine<br />
zielführende Erhebung der relevanten Angaben.<br />
Erschwerend kommt jedoch hinzu,<br />
dass die Fallverwaltung auf Sozialdiensten<br />
in der Regel sehr unterschiedlich organisiert<br />
ist. Sie verwenden unterschiedliche<br />
Fallverwaltungssoftware und halten sich<br />
an divergierende Grundsätze bei der Dossierführung.<br />
Für das Erhebungsteam<br />
bedingt die Aufarbeitung der Daten folglich<br />
immer ein Eindenken in verschiedene<br />
Logiken und Praktiken der Fallführung.<br />
Mit Blick auf die besonders interessierende<br />
Thematik der gesundheitlichen Situation<br />
von älteren Sozialhilfebeziehenden<br />
hat sich schliesslich gezeigt, dass die<br />
Sozialdienste der Erfassung des Gesundheitszustands<br />
ihrer Klientel bislang eher<br />
wenig Aufmerksamkeit schenken. Die Angaben<br />
zur gesundheitlichen Situation der<br />
untersuchten Fälle waren oft rudimentär<br />
und mussten vom Erhebungsteam teilweise<br />
in unstrukturierten Aktennotizen aufwendig<br />
zusammengesucht werden. Angesichts<br />
der Ergebnisse des Projektes, dass rund<br />
80 bis 90 Prozent der Sozialhilfebeziehen-<br />
den zwischen 45 und 65 Jahren gesundheitliche<br />
Probleme haben, dürfte sich eine<br />
strukturierte Aufarbeitung und Darstellung<br />
der gesundheitlichen Situation in den<br />
Dossiers für die Zukunft aufdrängen. Denkbar<br />
wäre, für die einheitliche Abklärung<br />
des Gesundheitszustands auf den Sozialdiensten<br />
ein ähnliches Raster einzuführen,<br />
wie es zur Feststellung der Arbeitsfähigkeit<br />
bereits existiert.<br />
Der Schlussbericht zum Forschungsprojekt<br />
liegt seit Ende Mai 2011 vor.<br />
Weitere Informationen finden Sie unter<br />
www.soziale-arbeit.bfh.ch/forschung.<br />
Literatur:<br />
Neukomm, S.; Salzgeber, R. (2011): Diagnose:<br />
nicht vermittelbar. In: SozialAktuell 2/2011, S. 29-30.<br />
Ablaufschema und Aufgaben der Beteiligten bei einer <strong>Aktenanalyse</strong><br />
Organisation<br />
und planung<br />
erarbeitung des<br />
erhebungsrasters<br />
Stichprobenziehung<br />
und pretest<br />
Datenerhebung<br />
und -erfassung<br />
erhebungsteam Sozialdienst<br />
– Anfrage des Sozialdienstes und<br />
Klärung der Rahmenbedingungen<br />
– Erarbeitung und Programmierung<br />
des Fragerasters<br />
– Test des Erhebungsrasters und<br />
Anpassung des Fragerasters<br />
– Zusammentragen relevanter<br />
Informationen und Eingabe in<br />
das elektronische Erhebungstool<br />
– Einführung ins Fallverwaltungssystem<br />
– Zugangsberechtigung<br />
– Datenschutzbestimmungen<br />
– Ziehung der Zufallsstichprobe<br />
– Bestimmung der Auskunfts-<br />
personen<br />
– Bereitstellung der Daten, insbesondere<br />
auch der Papierakten<br />
– Auskunft bei Fragen der<br />
Dossierverwaltung<br />
impuls Juni 2011<br />
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