NS-Staatsterror trieb Lindauer Juden 1934 in den Tod
NS-Staatsterror trieb Lindauer Juden 1934 in den Tod
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<strong>NS</strong>-<strong>Staatsterror</strong> <strong>trieb</strong> <strong>L<strong>in</strong>dauer</strong> <strong>1934</strong> <strong>Ju<strong>den</strong></strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />
<strong>Tod</strong><br />
Vom Schicksal der Gebrüder Alfons und Julius Herzberger<br />
Der 9. November ist <strong>in</strong> Deutschland <strong>in</strong> verschie<strong>den</strong>er H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong> Ge<strong>den</strong>ktag. An ihm<br />
wird auch an die <strong>NS</strong>-Reichspogromnacht des Jahres 1938 gedacht, als der<br />
antisemitische Terror des Regimes deutschlandweit rund 7 000 jüdische Geschäfte<br />
zerstörte und be<strong>in</strong>ahe alle Synagogen, 91 jüdische Menschen ermordet und rund 30 000<br />
meist jüdische Menschen verhaftet wur<strong>den</strong>.<br />
Die ehemals <strong>in</strong> L<strong>in</strong>dau leben<strong>den</strong> jüdischen Geschäftsleute Alfons und Julius Herzberger<br />
erlebten dieses Pogrom nicht mehr <strong>in</strong> L<strong>in</strong>dau. Beide flohen bereits im März 1933 aus der<br />
Stadt, nachdem bei <strong>den</strong> Reichstagswahlen vom 5. März <strong>in</strong> L<strong>in</strong>dau die <strong>NS</strong>DAP mit rund<br />
4600 Stimmen Wahlsieger<strong>in</strong> wurde und bereits am 1. März bei hiesigen Kommunisten<br />
und am 11. März bei Sozialdemokraten die ersten Hausdurchsuchungen und<br />
Verhaftungen stattgefun<strong>den</strong> hatten.<br />
Am 8. April meldete L<strong>in</strong>daus Stadtverwaltung nach Augsburg, das hier noch „16<br />
Israeliten“ lebten. Die jüdischen Gebrüder Alfons und Julius Herzberger, letzterer 1866 im<br />
hessischen Zw<strong>in</strong>genberg geboren, hatten zu Beg<strong>in</strong>n der 20er-Jahre <strong>in</strong> L<strong>in</strong>dau Häuser<br />
gekauft, um von hier aus noch für e<strong>in</strong>ige Jahre ihre Firma Josef Levy, Witwe, AG im<br />
saarländischen Neunkirchen zu leiten und zusammen mit ihren Familien hier e<strong>in</strong>en<br />
Großteil ihres Lebensabends zu verbr<strong>in</strong>gen.<br />
Alfons Herzberger bewohnte <strong>den</strong> alten „Hal<strong>den</strong>hof“ mit der heutigen Adresse<br />
Bäuerl<strong>in</strong>shalde 42. Er war im 1. Weltkrieg als deutscher Soldat und Vizefeldwebel mit<br />
dem EK 1-Or<strong>den</strong> ausgezeichnet und zum Reserve-Offizier befördert wor<strong>den</strong>. Se<strong>in</strong> zum<br />
Der Hal<strong>den</strong>hof auf der Bäuerl<strong>in</strong>shalde im Sommer 2007, e<strong>in</strong>st das Wohnhaus von Alfons<br />
Herzberger. Foto: Schweizer<br />
evangelischen Glauben übergetretener Bruder Julius hatte die 1879 <strong>in</strong> Breslau (Wrozlaw)<br />
geborene evangelische Cäcilie Kassel geheiratet und bewohnte zusammen mit dieser <strong>in</strong><br />
L<strong>in</strong>dau das Landhaus <strong>in</strong> der Schöngartenstraße 21. Julius war <strong>in</strong>zwischen Mitglied des<br />
<strong>L<strong>in</strong>dauer</strong> SPD-Ortsvere<strong>in</strong>s gewor<strong>den</strong>.
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Während Alfons im März 1933 direkt <strong>in</strong> das bis 1935 französisch verwaltete Saarland<br />
floh, besuchte Julius zuerst se<strong>in</strong>e Frau, welche sich damals <strong>in</strong> Zielschlacht bei<br />
Romanshorn <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Sanatorium von e<strong>in</strong>er schweren Erkrankung erholte. Danach reiste<br />
auch er nach Neunkirchen.<br />
Ab Juli 1933 wur<strong>den</strong> L<strong>in</strong>daus <strong>NS</strong>-Behör<strong>den</strong> aktiv, um sich der emigrierten Brüder zu<br />
bemächtigen. Doch diese kamen nicht zurück, weil sie wie e<strong>in</strong>e Aktennotiz es festhielt,<br />
befürchteten, „bei e<strong>in</strong>em Übertritt über die Grenze verhaftet und nach Dachau geschickt<br />
zu wer<strong>den</strong>.“ L<strong>in</strong>daus 1. Bürgermeister Friedrich Siebert schaltete <strong>in</strong>zwischen unter e<strong>in</strong>er<br />
Deckadresse <strong>den</strong> <strong>NS</strong>DAP-Kreis-Propagandaleiter <strong>in</strong> Saarbrücken e<strong>in</strong>, um Erkundigungen<br />
e<strong>in</strong>zuziehen. Am 25. August beantragte er beim <strong>L<strong>in</strong>dauer</strong> Postamt erfolgreich die<br />
Aufhebung des Briefgeheimnisses der Flüchtl<strong>in</strong>ge und deren <strong>in</strong> L<strong>in</strong>dau verbliebenen<br />
Hausangestellten.<br />
Diese waren am Tag zuvor von Bürgermeister und Polizei zu Verwaltern der bei<strong>den</strong><br />
<strong>in</strong>zwischen beschlagnahmten Häuser bestimmt wor<strong>den</strong>. Allerd<strong>in</strong>gs trauten ihnen die <strong>NS</strong>-<br />
Stellen nicht ganz, wie Bürgermeister Siebert notierte: „Beide wer<strong>den</strong> weiter von der<br />
Polizei beobachtet; außerdem wurde bei der Post die Aufhebung des Briefgeheimnisses<br />
bereits mündlich beantragt. Sollte die Wahrnehmung gemacht wer<strong>den</strong>, dass sie nicht<br />
zuverlässig genug s<strong>in</strong>d, wird es sich notwendig erweisen, e<strong>in</strong>en SA oder SS-Mann <strong>in</strong><br />
jedem der bei<strong>den</strong> Anwesen unterzubr<strong>in</strong>gen.“ Zusätzlich wur<strong>den</strong> der frisch e<strong>in</strong>gesetzten<br />
Verwalter<strong>in</strong> und dem Verwalter jeweils per Brief eröffnet, „e<strong>in</strong>e Benachrichtigung des<br />
Herrn Herzberger von vorstehender vorläufiger Beschlagnahme ist Ihnen verboten. Bei<br />
Zuwiderhandlung machen Sie sich e<strong>in</strong>er Beihilfe schuldig und strafbar.“<br />
Beim Reichs<strong>in</strong>nenm<strong>in</strong>isterium <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und dem bayerischen Innenm<strong>in</strong>isterium <strong>in</strong><br />
München beantragten L<strong>in</strong>daus <strong>NS</strong>-Behör<strong>den</strong> zwischenzeitlich die nach e<strong>in</strong>em <strong>NS</strong>-Gesetz<br />
vom Juli 1933 ermöglichte Wiederaberkennung der Staatsangehörigkeit für die Gebrüder<br />
Herzberger. Beim Grundbuchamt des Amtsgerichtes und beim Notariat wurde beantragt,<br />
e<strong>in</strong>en eventuellen Verkauf der bei<strong>den</strong> Grundstücke durch ihre Besitzer nicht amtlich<br />
Die ehemalige Villa von Cäcilie und Julius Herzberger <strong>in</strong> der Schöngartentrasse 21 im<br />
Sommer 2007. Seit Ende der 1980er-Jahre dient das Haus als Unterkunft von<br />
Flüchtl<strong>in</strong>gen aus aller Welt.. Foto: Schweizer
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e<strong>in</strong>zutragen, bzw. nicht zu verbriefen. Als Begründung diente amts<strong>in</strong>tern der Vorwand,<br />
die bei<strong>den</strong> Geschäftsleute wür<strong>den</strong> im Saarland Spen<strong>den</strong>gelder für die SPD und die KPD<br />
sammeln, was se<strong>in</strong>e Grundlage <strong>in</strong> entsprechen<strong>den</strong> Anschuldigungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em der<br />
<strong>NS</strong>DAP-Spitzelberichte aus Saarbrücken hatte. Mitte Oktober bestätigte die Politische<br />
Polizei <strong>in</strong> München die Beschlagnahme jeglichen Besitzes der bei<strong>den</strong> Emigranten <strong>in</strong><br />
Deutschland.<br />
Auch die Vorsprachen e<strong>in</strong>es städtischen Gutsverwalters aus Neunkirchen, e<strong>in</strong>es<br />
befreundeten jüdischen Kaufmannes aus Ulm und e<strong>in</strong> Schreiben e<strong>in</strong>es Kölner<br />
Rechtsanwaltes für die Interessen der Gebrüder Herzberger konnten <strong>den</strong><br />
Vernichtungswillen der <strong>L<strong>in</strong>dauer</strong> Behördeleiter und der sie tragen<strong>den</strong> <strong>NS</strong>DAP nicht<br />
bremsen. Allerd<strong>in</strong>gs ermöglichten die L<strong>in</strong>dauaufenthalte der befreundeten Fürsprecher<br />
diesen, im Anschluss an ihre jeweiligen L<strong>in</strong>daubesuche die verfolgten Brüder über <strong>den</strong><br />
Stand der Entwicklung wenigstens halbwegs zu <strong>in</strong>formieren. Auch bemerkte die<br />
Politische Polizei <strong>in</strong> L<strong>in</strong>dau erst im November, dass die Haushälter<strong>in</strong> von Julius<br />
Herzberger bereits im August das <strong>in</strong> dessen Banksafe bei der Vere<strong>in</strong>sbank verwahrte<br />
Hochzeitssilber treuhändig an die jüdischen Freun<strong>den</strong> der Familie <strong>in</strong> Ulm übergeben<br />
hatte. Das verbliebene Geld von rund 38 Mark beschlagnahmte allerd<strong>in</strong>gs die Polizei.<br />
Julius Herzberger zog im November <strong>in</strong> die „Casa Bellania“ <strong>in</strong> Ascona. Dort traf er se<strong>in</strong>e<br />
Schwester Maria und deren Mann. Montags traf sich hier damals e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Kreis<br />
deutscher Flüchtl<strong>in</strong>ge im Haus von Kunstmäzen Bernhard Mayer. Noch im Januar<br />
schrieb Herzberger an e<strong>in</strong>en freundschaftlich verbun<strong>den</strong>en Bauern <strong>in</strong> L<strong>in</strong>dau-<br />
Schöngarten e<strong>in</strong>en zuversichtlich kl<strong>in</strong>gen<strong>den</strong> Brief, welchen die Postzensur allerd<strong>in</strong>gs<br />
abf<strong>in</strong>g.<br />
Doch nachdem es L<strong>in</strong>daus Bürgermeister Siebert Anfang Februar <strong>1934</strong> gelang, <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong><br />
über die dortige Polizei auch noch verbliebene 80 Mark sowie Aktien im Wert von 3400<br />
Mark beim Bankhaus Bett, Simon & Co. zu beschlagnahmen, sah Julius Herzberger<br />
immer weniger die Möglichkeit e<strong>in</strong>er für ihn und se<strong>in</strong>e Frau menschenwürdigen Lösung.<br />
Am 22. Februar berichtet die Tess<strong>in</strong>er Zeitung „Il Cittad<strong>in</strong>o“: „Gestern Morgen<br />
gegen acht Uhr nahm sich e<strong>in</strong> Herr, der Ausländer H.J., 67 Jahre alt, mit e<strong>in</strong>em<br />
Revolverschuss <strong>in</strong> die Schläfe das Leben … Möglicherweise nahm sich Herr H. das<br />
Leben, weil er sich mit e<strong>in</strong>er schweren Nervenkrankheit quälte.“<br />
Se<strong>in</strong>e Frau, Cäcilie Herzberger, lebte 1935 wieder im Haus <strong>in</strong> der Schöngartenstraße 21<br />
und zog 1939 nach Reichenbach im Eulengebirge. Ihr weiteres Schicksal ist bisher<br />
unbekannt.<br />
Bruder Alfons Herzberger erreichte vorbei an <strong>den</strong> Machenschaften der <strong>L<strong>in</strong>dauer</strong><br />
Machthaber, dass e<strong>in</strong> Mitarbeiter der Reichsnährstandsbehörde <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> <strong>den</strong> alten<br />
Hal<strong>den</strong>hof oberhalb des Wannentals kaufen konnte, nachdem die<br />
Beschlagnahmeverfügung der Politischen Polizei <strong>in</strong> München im Juli <strong>1934</strong> wieder<br />
aufgehoben wurde. Die notarielle Verbriefung fand im saarländischen Neukirchen statt,<br />
welches erst im Januar 1935 Bestandteil von <strong>NS</strong>-Deutschland wurde.<br />
© Karl Schweizer<br />
Quellen und Literatur:<br />
• Stadtarchiv L<strong>in</strong>dau: Bayerische Akten II, Sign. BII/93/17 Beschlagnahme des<br />
Herzbergischen Guts auf der Bäuerl<strong>in</strong>shalde“.<br />
• Stadtarchiv Neunkirchen: Altakten A II Nr. 64, p.291 und „Alternativer<br />
Stadtrundgang zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht im November 1988 <strong>in</strong><br />
Neunkirchen“.<br />
• Archivio di Stato del Cantone Tic<strong>in</strong>o: Sechs Zeitungen mit der jeweiligen<br />
<strong>Tod</strong>esmeldung zu Julius Herzberger am 22. 2. <strong>1934</strong>.