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Signale aus dem Off der Gesellschaft - Fen.ch

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o<strong>der</strong> extremes Risikoverhalten in einer<br />

Peer-Group einen Aspekt <strong>der</strong> Gruppenidentität<br />

darstellen 7 , dann steht für die<br />

zwangsläufig ihre soziale Akzeptanz auf<br />

<strong>dem</strong> Spiel, wenn sie si<strong>ch</strong> den entspre<strong>ch</strong>enden<br />

Gruppenritualen entziehen<br />

wollen.<br />

In Hinblick auf die Erwa<strong>ch</strong>senen ist in<br />

diesem Zusammenhang wi<strong>ch</strong>tig, dass<br />

Respekt ni<strong>ch</strong>t mit einer unverbindli<strong>ch</strong>en<br />

Toleranz glei<strong>ch</strong>gesetzt wird. Es<br />

geht ni<strong>ch</strong>t darum, An<strong>der</strong>sartigkeit einfa<strong>ch</strong><br />

hinzunehmen, son<strong>der</strong>n darum,<br />

dass man si<strong>ch</strong> aktiv mit ihr <strong>aus</strong>einan<strong>der</strong><br />

setzt. Das beinhaltet einerseits<br />

Werts<strong>ch</strong>ätzung und Unterstützung,<br />

an<strong>der</strong>erseits aber au<strong>ch</strong> die Thematisierung<br />

und Dur<strong>ch</strong>setzung von geltenden<br />

Regeln. Zentral dabei ist, dass si<strong>ch</strong> die<br />

(bisweilen dur<strong>ch</strong><strong>aus</strong> notwendige) Kritik<br />

auf klar bestimmte Verhaltensweisen<br />

bezieht und ni<strong>ch</strong>t in <strong>der</strong> Form von<br />

moralisierenden Urteilen die ganze<br />

Person abwertet.<br />

Strukturelle Massnahmen<br />

Wenn wir den Blick auf weitere Bedingungen<br />

<strong>der</strong> Mögli<strong>ch</strong>keit bes<strong>ch</strong>ränkter<br />

Inklusions<strong>ch</strong>ancen von Jugendli<strong>ch</strong>en<br />

werfen, dann stossen wir auf beinahe<br />

unzählige Einflussfaktoren, die angegangen<br />

werden können. Im direkten<br />

Umfeld <strong>der</strong> Jugendli<strong>ch</strong>en (in Frankrei<strong>ch</strong><br />

etwa in den Banlieues) wären<br />

etwa vielfältige Massnahmen zu Verbesserung<br />

<strong>der</strong> Lebensqualität denkbar<br />

– sei es dur<strong>ch</strong> städtebauli<strong>ch</strong>e Verän<strong>der</strong>ungen,<br />

sei es dur<strong>ch</strong> einen Aufbau von<br />

Angeboten, wel<strong>ch</strong>e die Jugendli<strong>ch</strong>en<br />

beim Aufbau einer geordneten Tagesstruktur<br />

unterstützen. Es steht <strong>aus</strong>ser<br />

Frage, dass sol<strong>ch</strong>e Angebote so partizipativ<br />

wie irgend mögli<strong>ch</strong> gestaltet<br />

sein sollten. Wi<strong>ch</strong>tig ist dabei, dass si<strong>ch</strong><br />

die Partizipation ni<strong>ch</strong>t auf eine reine<br />

Teilnahme bes<strong>ch</strong>ränkt. Wirkli<strong>ch</strong>e Partizipation<br />

kann langfristig nur funktionieren,<br />

wenn die konstruktiven Aktivitäten<br />

<strong>der</strong> Jugendli<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t zur<br />

reinen Bes<strong>ch</strong>äftigungstherapie verkommen,<br />

son<strong>der</strong>n die politis<strong>ch</strong>en Ents<strong>ch</strong>eidungen<br />

na<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong> ziehen, die für na<strong>ch</strong>haltige<br />

strukturelle Verän<strong>der</strong>ungen<br />

unverzi<strong>ch</strong>tbar sind. Erweitert man<br />

den Horizont sinnvoller Massnahmen,<br />

dann ers<strong>ch</strong>einen Interventionen auf<br />

<strong>dem</strong> Arbeitsmarkt (S<strong>ch</strong>affung von Arbeitsplätzen<br />

und Lehrstellen) genau so<br />

im Blickfeld, wie Reformen im S<strong>ch</strong>ulsystem<br />

(kleinere Klassen, besser <strong>aus</strong>gebildete<br />

Lehrkräfte, mögli<strong>ch</strong>st späte<br />

Su<strong>ch</strong>tMagazin 3/06<br />

Selektion etc.) o<strong>der</strong> umfassende Massnahmen<br />

gegen den wa<strong>ch</strong>senden Rassismus<br />

in Organisationen und in <strong>der</strong><br />

Öffentli<strong>ch</strong>keit.<br />

Das ökonomis<strong>ch</strong>e Argument<br />

Wie immer, wenn die Prävention mehr<br />

sein will als ein Tranquilizer für eine<br />

beunruhigte <strong>Gesells<strong>ch</strong>aft</strong>, wird ihr von<br />

<strong>der</strong> Politik entgegen gehalten, dass diese<br />

Massnahmen zu viel kosteten und<br />

dass man sie si<strong>ch</strong> in wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong><br />

s<strong>ch</strong>wierigen Zeiten ni<strong>ch</strong>t leisten könne<br />

– s<strong>ch</strong>on gar ni<strong>ch</strong>t, wenn man den<br />

«Wohlfahrtsstaat» ohnehin abspecken<br />

und <strong>dem</strong> Einzelnen mehr Verantwortung<br />

übertragen mö<strong>ch</strong>te. Man muss<br />

ni<strong>ch</strong>t in <strong>der</strong> Sozialen Arbeit tätig sein<br />

um zu erkennen, dass es immer mehr<br />

Mens<strong>ch</strong>en au<strong>ch</strong> mit einem hohen Mass<br />

an Eigenverantwortung ni<strong>ch</strong>t gelingt,<br />

si<strong>ch</strong> eine angemessene Lebensqualität<br />

zu erhalten – denken wir nur an die<br />

stetig wa<strong>ch</strong>sende Zahl an «Working<br />

Poor» o<strong>der</strong> an die vielen allein erziehenden<br />

Eltern, die mit ihren Kin<strong>der</strong>n<br />

an o<strong>der</strong> unter <strong>der</strong> Armutsgrenze leben.<br />

S<strong>ch</strong>aut man nur ein wenig über die<br />

Zeitdauer von politis<strong>ch</strong>en Wahlperioden<br />

hin<strong>aus</strong>, dann zählt au<strong>ch</strong> das ökonomis<strong>ch</strong>e<br />

Argument ni<strong>ch</strong>t mehr. Der<br />

Grund dafür ist ein einfa<strong>ch</strong>er: Mens<strong>ch</strong>en<br />

können zwar <strong>aus</strong> vielen Systemen<br />

<strong>aus</strong>ges<strong>ch</strong>lossen und in Exklusionsberei<strong>ch</strong>e<br />

wie die Banlieues abgedrängt<br />

werden; ganz <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Gesells<strong>ch</strong>aft</strong> <strong>aus</strong>s<strong>ch</strong>liessen<br />

kann man sie ni<strong>ch</strong>t. Das<br />

bedeutet, dass alle, die früh <strong>aus</strong> <strong>der</strong><br />

S<strong>ch</strong>ule fallen, keine Ausbildung haben,<br />

keine Stelle finden, si<strong>ch</strong> «sozial auffällig»<br />

benehmen o<strong>der</strong> ni<strong>ch</strong>t angemessen<br />

am öffentli<strong>ch</strong>en Leben partizipieren<br />

können, si<strong>ch</strong> gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> früher<br />

o<strong>der</strong> später wie<strong>der</strong> bemerkbar ma<strong>ch</strong>en<br />

– als Kranke, als Sü<strong>ch</strong>tige, als Sozialfälle,<br />

als Re<strong>ch</strong>tsbre<strong>ch</strong>er o<strong>der</strong> – wie in<br />

Frankrei<strong>ch</strong> – als Krawallma<strong>ch</strong>er. Die<br />

Diskussionen um die Gesundheitskosten,<br />

die Riesendefizite <strong>der</strong> Sozialversi<strong>ch</strong>erungen,<br />

die Kosten in <strong>der</strong> Sozialhilfe<br />

und im Strafvollzug zeigen, dass<br />

die Behandlung dieser Probleme bei<br />

weitem teurer kommt als <strong>der</strong> Versu<strong>ch</strong>,<br />

die Chance für das Auftreten sol<strong>ch</strong>er<br />

Probleme dur<strong>ch</strong> die Beseitigung von<br />

Einflussfaktoren zu verringern.<br />

Abs<strong>ch</strong>liessende Bemerkungen<br />

Niemand behauptet, dass umfassende<br />

präventive Massnahmen zur Verhinde-<br />

rung von sozialen Problemen wie den<br />

Jugendunruhen in Frankrei<strong>ch</strong> einfa<strong>ch</strong><br />

o<strong>der</strong> gar billig seien. Es behauptet au<strong>ch</strong><br />

niemand, dass si<strong>ch</strong> die Probleme <strong>der</strong><br />

mo<strong>der</strong>nen <strong>Gesells<strong>ch</strong>aft</strong> auf die Jugend<br />

o<strong>der</strong> auf Frankrei<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>ränken. Weltweit<br />

kann <strong>der</strong> internationale Terrorismus<br />

wie die Zerstörungsakte <strong>der</strong> Jugendli<strong>ch</strong>en<br />

als blindwütige Mitteilung<br />

einer Bots<strong>ch</strong>aft an eine namenlose <strong>Gesells<strong>ch</strong>aft</strong><br />

verstanden werden, in <strong>der</strong><br />

unter den wehenden Bannern <strong>der</strong> «Demokratie»<br />

und <strong>der</strong> «Mens<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>te»<br />

ganze Volksgruppen und Religionsgemeins<strong>ch</strong>aften<br />

systematis<strong>ch</strong> ohne Respekt<br />

behandelt werden und ein Fünftel<br />

<strong>der</strong> Bevölkerung an Hunger leidet,<br />

obwohl Nahrung im Überfluss vorhanden<br />

wäre 8 . Und au<strong>ch</strong> bei uns in<br />

<strong>der</strong> S<strong>ch</strong>weiz gibt es <strong>aus</strong>rei<strong>ch</strong>end Anlass<br />

dazu, Jugendgewalt, Vandalismus,<br />

Hooliganismus und Selbstzerstörung<br />

dur<strong>ch</strong> Essstörungen, Selbstverletzungen,<br />

Su<strong>ch</strong>tmittelmissbrau<strong>ch</strong> o<strong>der</strong> übertriebenes<br />

Risikoverhalten als <strong>Signale</strong><br />

<strong>aus</strong> <strong>dem</strong> «<strong>Off</strong>» <strong>der</strong> <strong>Gesells<strong>ch</strong>aft</strong> wahrzunehmen:<br />

«Hey, wir sind au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong><br />

da!» ■<br />

Literatur<br />

• Fu<strong>ch</strong>s, Peter; S<strong>ch</strong>nei<strong>der</strong>, Dietri<strong>ch</strong>, 1995:<br />

Das Hauptmann-von-Köpenick-Syndrom,<br />

Überlegungen zur Zukunft funktionaler Differenzierung.<br />

In: Soziale Systeme 1, H.2:<br />

203-224<br />

• Fu<strong>ch</strong>s, Peter, 1997: Adressabilität als Grundbegriff<br />

<strong>der</strong> soziologis<strong>ch</strong>en Systemtheorie. In:<br />

Soziale Systeme 3 (1997) Heft 1:57-79<br />

• Hafen, Martin, 2002: Internationaler Terrorismus<br />

und Jugendgewalt – ein Verglei<strong>ch</strong> von<br />

zwei s<strong>ch</strong>einbar unverglei<strong>ch</strong>baren Phänomenen.<br />

In: Sozialpädagogik 1/2002: 18-24<br />

• Hafen, Martin, 2005: Systemis<strong>ch</strong>e Prävention<br />

– Grundlagen für eine Theorie präventiver<br />

Massnahmen. Heidelberg<br />

• Hafen, Martin, 2005b: Rau<strong>ch</strong>en als Aspekt<br />

<strong>der</strong> Gruppenidentität. Systemtheoretis<strong>ch</strong>e<br />

Überlegungen zu einem kaum bea<strong>ch</strong>teten<br />

Aspekt. Ms. Luzern (eingerei<strong>ch</strong>t bei Wiener<br />

Zeits<strong>ch</strong>rift für Su<strong>ch</strong>tfors<strong>ch</strong>ung)<br />

• Luhmann, Niklas, 1994: Soziale Systeme –<br />

Grundriss einer allgemeinen Theorie. 5.<br />

Aufl., Frankfurt am Main<br />

• Luhmann, Niklas, 1995: Inklusion und Exklusion.<br />

In: <strong>der</strong>s., 1995: Soziologis<strong>ch</strong>e Aufklaerung<br />

6. Die Soziologie und <strong>der</strong> Mens<strong>ch</strong>.<br />

Opladen: 237-264<br />

• Luhmann, Niklas, 1997: Die <strong>Gesells<strong>ch</strong>aft</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Gesells<strong>ch</strong>aft</strong>. Frankfurt am Main<br />

Fussnoten<br />

1 Vgl. für die Grundlagen Luhmann (1994)<br />

2 Luhmann (1997)<br />

3 Vgl. Luhmann (1995)<br />

4 Zum Begriff und zur Bedeutung <strong>der</strong> «sozialen<br />

Adresse» vgl. Fu<strong>ch</strong>s (1997)<br />

5 Fu<strong>ch</strong>s/S<strong>ch</strong>nei<strong>der</strong> (1995)<br />

6 Vgl. dazu grundsätzli<strong>ch</strong> Hafen (2005)<br />

7 Hafen (2005b)<br />

8 Vgl. zum Verglei<strong>ch</strong> von Terrorismus und Jugendgewalt<br />

Hafen (2002)<br />

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