Abstract downloaden - Frühkindliche Mehrsprachigkeit
Abstract downloaden - Frühkindliche Mehrsprachigkeit
Abstract downloaden - Frühkindliche Mehrsprachigkeit
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
`Üêáëí~=háÉÑÉêäÉ=C=aêK=_ÉêåÜ~êÇ=k~ÖÉä<br />
Wege zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong>:<br />
Literacy in der Familie und in den Kitas<br />
===<br />
INTERNATIONALER KONGRESS<br />
FRÜHKINDLICHE MEHRSPRACHIGKEIT<br />
MULTILINGUISME PRÉCOCE<br />
MULTILINGUALISM IN EARLY CHILDHOOD<br />
CONGRESSHALLE SAARBRÜCKEN · 17./18. SEPTEMBER 2007<br />
Teil I<br />
Christa Kieferle<br />
1. Migration und Bildung<br />
Wenn von <strong>Mehrsprachigkeit</strong> gesprochen wird, sollte immer von der Heterogenität dieses Begriffs in Bezug<br />
auf den Kontext ausgegangen werden, der einerseits durch geografisch-politische Gegebenheiten<br />
andererseits durch Migrationsbewegungen und sozio-ökonomische Bedingungen bestimmt ist. Der<br />
bildungspolitische und gesellschaftliche Kontext, in dem sich eine Erziehung zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong> derzeit in<br />
Deutschland vollzieht, ist bestimmt durch Zu- und Abwanderungen von Arbeitsmigranten, Zuwanderung von<br />
Asylbewerbern, Kriegsflüchtlingen und Aussiedlern. Iin den vergangenen und kommenden Jahren wird auch<br />
eine vermehrte Zu- und Abwanderung durch europapolititsche Veränderungen stattfinden.<br />
In nächster Zukunft wird es also sicherlich keine Beruhigung der Wanderungsbewegungen in Europa geben.<br />
Demnach kann der Rückzug auf eine Einsprachigkeitsvorstellung keine Antwort auf die bildungspolitischen<br />
Herausforderungen sein. Das heißt in allen europäischen Ländern wird <strong>Mehrsprachigkeit</strong>, wenn dies nicht<br />
sowieso schon der Fall ist, als Normalität aufgefasst und die entsprechenden bildungspolitischen Grundlagen<br />
für eine mehrsprachige Erziehung in den Bildungseinrichtungen geschaffen werden müssen, denn „bereits im<br />
Jahr 2010 wird jeder dritte Schüler einen Migrationshintergrund haben, in den Stadtstaaten sogar jeder<br />
zweite“ (vgl. KMK-Präsident Zöllner, Berlin, 19.01.2007).<br />
In klassischen Einwanderungsländern wie Australien, England, Kanada und Neuseeland ist der ISEI<br />
(International Sozio-Economic Index of Occupational Status => Status von Berufen hinsichtlich Bildung und<br />
Einkommen – Mittelwert beider Elternteile) der im Ausland geborenen Einwanderer höher als der der<br />
Einheimischen. Einwanderer in diese Staaten sind meist hoch qualifizierte Arbeitskräfte, die zu Hause nicht<br />
unbedingt die Landessprache sprechen, aber ihre Kinder zweisprachig erziehen. Die Situation in Deutschland<br />
ist eine andere. Die Migranten in Deutschland verfügen - auch wenn sich in den letzten Jahren eine leichte<br />
Trendwende andeutet - im Vergleich zu Einheimischen über einen relativ niedrigen sozio-ökonomischen<br />
Status. Dieser korreliert sehr hoch mit der Tatsache, dass zu Hause nicht Deutsch gesprochen wird. Betrachtet<br />
man aber den Unterschied zwischen den Migrantengruppen, die zu Hause die Landessprache sprechen und<br />
denen, die das nicht tun, so zeigt sich, dass der ISEI bei denen, die zu Hause Deutsch sprechen höher ist als in<br />
der anderen Gruppe. Migranten in Deutschland haben den größten Nachteil gegenüber den Einheimischen,<br />
allenfalls in Frankreich lassen sich ähnliche Verhältnisse vorfinden.<br />
Der sozio-ökonomische Status spielt in allen an der Pisastudie beteiligten Ländern eine entscheidende Rolle<br />
für die Leistung der Schüler.<br />
In amerikanischen Studien zum Einfluss des sozio-ökonomischen Status auf die Schulfertigkeiten zeigten sich<br />
erhebliche Differenzen zwischen Kindern aus Familien mit sehr niedrigem sozio-ökonomischen Status und<br />
den Mittelschichts- bzw. Oberschichtskindern sowohl in Hinsicht auf ihre kognitiven Fähigkeiten (Jencks &<br />
Phillips, 1998) als auch in Hinsicht auf expressive und rezeptive Sprachfertigkeiten (Denton, West & Walston,<br />
2003; Vellutino et al., 1996), in der Fähigkeit Anfangslaute und Buchstaben zu erkennen, sowie in der<br />
Fähigkeit Farben und Zahlen zu benennen. Während aber den Oberschichtskindern bis zum<br />
Kindergarteneintritt rund 1000 Stunden vorgelesen wurde, kamen die Kinder aus den ärmsten Verhältnissen<br />
gerade einmal auf 25 Stunden (Hard & Risley, 2003).<br />
Christa Kieferle & Dr. Bernhard Nagel: Wege zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong>: Literacy in der Familie und in den Kitas
INTERNATIONALER KONGRESS<br />
FRÜHKINDLICHE MEHRSPRACHIGKEIT<br />
MULTILINGUISME PRÉCOCE<br />
MULTILINGUALISM IN EARLY CHILDHOOD<br />
CONGRESSHALLE SAARBRÜCKEN · 17./18. SEPTEMBER 2007<br />
Tab.1 Schulfertigkeiten von Kindern zu Beginn des Kindergartenbesuchs nach sozio-ökonomischem<br />
Status: Aus: Neuman, Susan, B. 2006. The Knowledge Gap. Implications for Early Education. In: Dickinson,<br />
David & Neuman, Susan, B. (Hrsg.). Handbook of Early Literacy Research. Vol 2. Guilford Press. S. 30.<br />
Fähigkeiten / Wissen / Bildung<br />
der Kinder<br />
niedrigster<br />
sozio-ökonomischer Status<br />
höchster<br />
sozio-ökonomischer<br />
Status<br />
Buchstabenerkennen Alphabet 39% 85%<br />
Laute in Wörtern identifizieren 10% 51%<br />
Identifikation der Primärfarben 69% 90%<br />
Bis 20 zählen 48% 68%<br />
Den eigenen Namen schreiben 54% 76%<br />
Menge der Zeit, die vor dem Kiga-<br />
Besuch vorgelesen wurde<br />
25 Stunden 1.000 Stunden<br />
Angehäufte Erfahrung mit Wörtern 13 Mio Wörter 45 Mio Wörter<br />
Möglicherweise noch bedeutender als die Fähigkeitsdefizite sind die Wissensdefizite, die sich für Kinder<br />
auftun, die wenig Zugang zu Informationen während der alltäglichen Interaktionen haben - wie Susan<br />
Neuman in ihrer Arbeit „The Knowledge Gap“ annimmt (Neuman, 2006). Die Entwicklung von formalen<br />
Fertigkeiten getrennt von bedeutungsvollen Inhalten haben nur begrenzte Brauchbarkeit oder bleibende Kraft<br />
für jüngere Kinder. Begrenztes Inhaltswissen scheint letztlich zu späteren Verständnisschwierigkeiten zu<br />
führen (Vellutino et al., 1996) oder bei älteren Kindern zu Denkschwierigkeiten höherer Ordnung. Folglich<br />
wird sich der Abstand zwischen den sozio-ökonomischen Statusgruppen mit jedem Schuljahr vergrößern,<br />
wenn von klein auf die Entwicklung des konzeptuellen Wissens einem Fokus auf die relativ geringe Zahl<br />
notwendiger prozeduraler Fähigkeiten untergeordnet wird. Prozedurale Fähigkeiten sind natürlich<br />
außerordentlich wichtig, sie setzen Handlungsstrategien, Lernstrategien und Kontrollstrategien voraus und sie<br />
helfen durch das Erreichen routinierter Abläufe unser Tun zu steuern, deshalb wäre es ein fataler Fehler, diese<br />
von der Erziehung auszuklammern, es ist nur wichtig zu sehen, dass beide Bereiche, konzeptuelles Wissen<br />
und die Entwicklung prozeduraler Fähigkeiten, gleichermaßen gefördert werden müssen.<br />
Wie in den USA wird auch in Deutschland viel darüber diskutiert, ob spezielle Interventionen wie<br />
Sprachförderprogramme und heilpädagogische Maßnahmen in der Lage sind, die Literacy-Fertigkeiten der<br />
Kinder zu verbessern und zu stärken. Aber es sieht so aus, als ob der wirkliche Einfluss nicht in solchen kurzen<br />
episodischen Maßnahmen liegt. Vielmehr scheint es die in den ersten Lebensjahren beginnende<br />
kontinuierliche, systematische und tägliche Art und Weise zu sein, mit der Erwachsene die Kinder dazu<br />
ermuntern, neues Wissen und neue Informationen zu erwerben.<br />
In einer Studie über Programme mit nachhaltiger Effektivität für Kinder aus Armutsverhältnissen, verweist<br />
Frede (1998) auf Curriculumsinhalte und Lernprozesse, die Wissen und Fertigkeiten ausbilden - mit Betonung<br />
auf die Sprachentwicklung. Kinder, die eine breite Basis von Erfahrung in domänenspezifischem Wissen<br />
hatten, waren schneller in der Lage, auch komplexe Fähigkeiten zu erwerben, so Frede.<br />
Lesen bedeutet Zugang zu Wissen. Auch deshalb ist die Förderung der Sprachkompetenz von zentraler<br />
Bedeutung in der frühen Kindheitserziehung und dies gilt gerade für die Erziehung zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong><br />
sowohl für die deutschen Kinder als auch für die Kinder, die eine andere Familiensprache sprechen.<br />
2. Sprachkompetenz<br />
Sprachkompetenz ist eine der wichtigsten Grundlagen für die Schul- und Bildungschancen von Kindern.<br />
Deshalb ist eine systematische Begleitung der Entwicklung von Kindern in Kindertageseinrichtungen dringend<br />
notwendig und zwar lange vor der Einschulung (Ulich, 2003). Wenn wir von Sprachkompetenz sprechen,<br />
dann sprechen wir von etwas sehr Vielschichtigem, was das unten stehende Modell von Bachman<br />
verdeutlicht.<br />
Christa Kieferle & Dr. Bernhard Nagel: Wege zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong>: Literacy in der Familie und in den Kitas
Abb.1: Sprachkompetenz (nach Bachman, 1990)<br />
INTERNATIONALER KONGRESS<br />
FRÜHKINDLICHE MEHRSPRACHIGKEIT<br />
MULTILINGUISME PRÉCOCE<br />
MULTILINGUALISM IN EARLY CHILDHOOD<br />
CONGRESSHALLE SAARBRÜCKEN · 17./18. SEPTEMBER 2007<br />
Quelle: Nach Bachman, L. F. (1990) Fundamental Considerations in Language Testing. (Oxford<br />
Applied Linguistic Series). London: OUP. In: Brown,G. et al. (Hrsg.). (1994). Language and Understanding.<br />
London: OUP. S. 229<br />
Stellen Sie sich vor, ein Kind möchte in einer kleinen Gesprächsrunde eine Geschichte erzählen. Haben Sie<br />
schon einmal überlegt, welche sprachlichen und nicht-sprachlichen Fähigkeiten es hiefür braucht? Es sind<br />
eine ganze Menge – einige werde ich Ihnen im Folgenden erläutern:<br />
Zunächst einmal muss das Kind wissen, was eine Geschichte ist, wie sie anfängt, wie sie spannend gemacht<br />
wird, wie eine Geschichte enden kann. Dann muss es über einen so großen Wortschatz verfügen, dass es<br />
auch alles sagen kann, was es ausdrücken möchte. Der Wortschatz alleine genügt nicht, der Erzähler muss<br />
auch wissen, wie man einen Satz baut und damit dieser verständlich wird, muss er z.B. auch wissen, welche<br />
Endungen die Wörter haben müssen. Schließlich muss das Kind noch wissen, in welcher Sprache die anderen<br />
Zuhörer sprechen und in der gleichen Sprache sprechen, damit es alle verstehen.<br />
Und das Kind muss in der Lage sein, von etwas zu erzählen, das gar nicht im Hier und Jetzt ist, von etwas<br />
Fernem.<br />
Aber stellen Sie sich vor, dieses Kind würde nur flüstern, oder die Geschichte schreien oder die Anderen<br />
beleidigen oder auch nur auf die eigenen Füße starren ohne die Anderen anzuschauen - das wäre ein sehr<br />
auffälliges Verhalten. Als Erzähler muss man also auch wissen, wie man in dieser Situation angemessen<br />
spricht und merken, wenn z.B. keiner mehr zuhört.<br />
Sprachkompetenz ist ein sehr komplexer Begriff. Er bezeichnet eine Fülle von sprachlichen und nicht<br />
sprachlichen Fertigkeiten, die dazu dienen, dass Menschen miteinander erfolgreich auf allen sprachlichen<br />
Ebenen kommunizieren zu können. Außer grammatischen und pragmatischen Kompetenzen erfordert dies<br />
natürlich auch persönlichkeitsbezogene Kompetenzen, wie z.B. Einstellung, Motivation, Wertvorstellungen,<br />
ein gewisses Maß an Lernfähigkeit und Sprachlernbewusstsein, aber auch Weltwissen und soziales Wissen.<br />
Sprache besteht aus vielen Teilbereichen; denn in Wirklichkeit gibt es die Sprachkompetenz nicht, sondern<br />
ganz unterschiedliche Kompetenzen in verschiedenen Teilbereichen der Sprache, die allerdings nicht immer<br />
gleich gut entwickelt sind.<br />
Es gibt ganz unterschiedliche Sprachstile und Sprachebenen in der gesprochenen Sprache und in der<br />
Schriftsprache. Dabei gelten die Unterschiede sowohl für die sprachstrukturellen Anforderungen (Grammatik)<br />
als auch für den Wortschatz.<br />
Wenn Sie an Jugendsprache denken - so unterscheidet sie sich zum Teil ganz erheblich von der Sprache der<br />
Erwachsenen. Mit einem Lehrer spricht man in der Regel anders als mit der besten Freundin. Es besteht ein<br />
Unterschied zwischen Dialekt und Standardsprache ebenso wie zwischen der Schulsprache, die im Unterricht<br />
gesprochen wird, und der Alltagssprache, die zum Beispiel zu Hause in der Familie benutzt wird.<br />
Auch auf der schriftsprachlichen Ebene gibt es Unterschiede, verschiedene Textsorten: Eine<br />
Gebrauchsanweisung für die Bedienung eines Haushaltsgerätes hat vom Stil her mit einem Grimm’schen<br />
Märchen ebenso wenig gemeinsam wie eine Unfallberichtserstattung in der Zeitung mit einem lyrischen<br />
Gedicht von Goethe. In einem wissenschaftlichen Text werden meist sehr komplexe Sätze mit vielen<br />
fachsprachlichen Fremdwörtern verwendet, während in einem Bilderbuch eher kurze Sätze mit Wörtern aus<br />
Alltagsituationen vorkommen.<br />
Warum ist es denn wichtig, dass Kinder sowohl in der gesprochenen als auch in der Schriftsprache gefördert<br />
werden? Was unterscheidet denn gesprochene Sprache von der Schriftsprache? Hier nur ein paar Aspekte zu<br />
diesem Thema: Wenn wir z.B. mit Nachbarn zusammensitzen und diskutieren, dann kennen wir den<br />
Diskussionsgegenstand in der Regel. Wir müssen ihn meist nicht näher beschreiben. Auch ist es nicht<br />
notwendig, dass wir alle Sätze immer vollständig bilden, um verstanden zu werden, schließlich können wir<br />
auch noch körpersprachliche Mittel einsetzen wie Mimik und Gestik, um etwas zu verdeutlichen oder unsere<br />
Einstellung mitzuteilen. Wenn wir aber z.B. eine Geschichte schreiben, müssen wir genau angeben, wann<br />
und wo das Ereignis stattgefunden hat, wer dabei war, usw. Außerdem braucht die Geschichte eine Struktur<br />
Christa Kieferle & Dr. Bernhard Nagel: Wege zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong>: Literacy in der Familie und in den Kitas
INTERNATIONALER KONGRESS<br />
FRÜHKINDLICHE MEHRSPRACHIGKEIT<br />
MULTILINGUISME PRÉCOCE<br />
MULTILINGUALISM IN EARLY CHILDHOOD<br />
CONGRESSHALLE SAARBRÜCKEN · 17./18. SEPTEMBER 2007<br />
- eine Einführung, einen Höhepunkt und einen Schluss. Und die Sätze müssen in einer logischen Reihenfolge<br />
stehen, damit der Inhalt verständlich wird. Die Geschichte muss so geschrieben sein, dass sie jeder versteht,<br />
denn unser Leser kann ja nicht nachfragen, wenn er etwas nicht verstanden hat.<br />
Wenn jemand zum Erzähler wird, wenn er von Ereignissen und Situationen erzählt, die der Gesprächspartner<br />
nicht kennt, verwendet er dekontextualisierte Sprache. Dekontextualisierung bedeutet das Erzählen von<br />
Fernem, das Sich-lösen vom Hier und Jetzt, das über die eigene Erfahrung und über die reale Welt<br />
Hinausgehen und sie erfordert die wichtige Fähigkeit abstrahieren zu können.<br />
Auch das gehört zu einer umfassenden Sprachkompetenz, wie sie für einen erfolgreichen Bildungsweg nötig<br />
ist, und deshalb ist im Vorschulbereich die Förderung von Erzählkompetenz, d.h. einer längeren Erzählung<br />
folgen, selbst eine Geschichte erzählen können, sehr wichtig. Ebenso wichtig ist natürlich auch die Förderung<br />
des Textverständnisses, d.h. sprachlich vermittelte Zusammenhänge verstehen zu können.<br />
Jim Cummins hat zwischen zwei Typen von Sprache unterschieden: den „basic interpersonal communication<br />
skills“ (BICS) und der „cognitive academic language proficiency“ (CALP). Untersuchungen haben gezeigt,<br />
dass der Durchschnittslerner die dialogorientierte Sprachkompetenz (BICS) innerhalb von zwei bis fünf Jahren<br />
erreichen kann. Aber die Entwicklung von Sprachkompetenz in einer mehr formalen Schulsprache (CALP)<br />
kann zwischen vier und sieben Jahren brauchen, abhängig von vielen Variablen wie dem Grad der<br />
Sprachfertigkeit, dem Alter und der Zeit des Eintritts in eine Institution usw., aber auch abhängig vom Grad<br />
der Unterstützung sich diese Fertigkeiten anzueignen (Cummins, 1981, 1996; Hakuta, Butler, & Witt, 2000;<br />
Thomas & Collier, 1997).<br />
Stellen Sie sich vor, Sie haben ihre Freundin zum Essen eingeladen. Ihr Kind sieht, wie Ihre Freundin nach den<br />
Keksen greift, und sagt: „Es ist besser, du nimmst die Kekse nicht, sonst wirst du noch fetter!“ Es ist Ihnen<br />
natürlich sehr peinlich, dass Ihr Kind so unanständig daherredet. Sie sollten aber bedenken, dass Ihr Kind<br />
möglicherweise nicht weiß, wie man Sprache in sozialen Situationen angemessen verwendet, also noch keine<br />
pragmatische Kompetenz erworben hat und sich bei solchen Äußerungen gar nichts denkt. Pragmatische<br />
Kompetenzen zeigen Sie jeden Tag, wenn Sie Sprache für ganz unterschiedliche Zwecke benutzen, z.B. beim<br />
Grüßen, wenn Sie jemanden informieren, etwas befehlen, etwas versprechen oder auch erbitten.<br />
Sie zeigen pragmatische Kompetenzen auch dann, wenn Sie Sprache den Bedürfnissen des Zuhörers und der<br />
Situation angemessen wechseln und z.B. mit einem Erwachsenen anders sprechen als mit einem Kind oder<br />
wenn Sie in der Kindertageseinrichtung anders sprechen als zu Hause. Pragmatische Kompetenzen zeigen<br />
Kinder z.B. in einer Gesprächsrunde, wenn sie auf die Beiträge von anderen Kindern eingehen oder sich im<br />
Tonfall und in der Lautstärke auf verschiedene Gesprächspartner und Situationen einstellen können oder<br />
wenn sie Höflichkeitsformen verwenden.<br />
Bei jedem Gespräch ist Ihnen unbewusst klar, welche Regeln Sie in einem Gespräch einhalten müssen. Wenn<br />
Sie z.B. im Gespräch einen Sprecherwechsel einleiten, also meist durch Gestik und Mimik anzeigen, dass der<br />
nächste dran ist, haben Sie pragmatische Kompetenz bewiesen. Dasselbe gilt, wenn Sie beim Thema bleiben<br />
können oder bei Missverständnissen das Gesagte neu formulieren.<br />
Bei der pragmatischen Kompetenz wird nach Bachmans Modell zwischen illokutionärer und<br />
soziolinguistischer Kompetenz unterschieden. Zur illokutionären Fähigkeit zählen die Ausführung ritueller,<br />
informativer, erkenntnissuchender, problemlösender Sprechakte, ebenso die Planung des Effekts der<br />
Äußerung auf den Gesprächspartner, also ein bewusster Einsatz von Sprache mit manipulierender Funktion<br />
und natürlich auch die Verarbeitung der Äußerung des Gesprächspartners.<br />
Wenn zum Beispiel der Bürgermeister in eine Kindertageseinrichtung kommt, dann wird er in der Regel<br />
formal begrüßt: „Guten Tag Herr Bürgermeister! Wir fühlen uns sehr geehrt, dass Sie sich die Zeit genommen<br />
haben….“. Wenn Sie aber eine Freundin treffen, werden Sie nicht zu ihr sagen „Guten Tag Frau Maier!“<br />
(außer im Spaß), sondern Sie werden eher sagen: „Ja, hallo! Schön, dich zu sehen! Na, wie geht’s?“ Den<br />
Bürgermeister würden Sie nicht fragen: „Na, wie geht’s?“ – dieses Wissen ist soziolinguistische Kompetenz,<br />
also die Fähigkeit, Sprache in unterschiedlichen Umgebungen angemessen anzuwenden, d.h. nach den<br />
jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Normen. Es ist die soziolinguistische Kompetenz, die uns erlaubt,<br />
in einer Situation angemessen höflich zu sein und uns in die Lage versetzt, auf die Absichten von anderen zu<br />
schließen. In unserem Alltagsleben passen wir die Art der Sprache der geforderten Formalität oder<br />
Christa Kieferle & Dr. Bernhard Nagel: Wege zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong>: Literacy in der Familie und in den Kitas
INTERNATIONALER KONGRESS<br />
FRÜHKINDLICHE MEHRSPRACHIGKEIT<br />
MULTILINGUISME PRÉCOCE<br />
MULTILINGUALISM IN EARLY CHILDHOOD<br />
CONGRESSHALLE SAARBRÜCKEN · 17./18. SEPTEMBER 2007<br />
Vertrautheit an. Wir drücken z.B. Verbundenheit gegenüber Gruppen aus, zu denen wir gehören oder<br />
gehören wollen und drücken Achtung gegenüber Menschen aus, die wir nicht gut kennen. Die sprachlichen<br />
Mittel, die wir hierbei einsetzen, sind ganz unterschiedlich: z.B. Höflichkeitsformen, Dialekte und Ethnolekte<br />
(z.B. das so genannte Türken-Deutsch) und bestimmte Sprachstile.<br />
3. Literacy-Entwicklung<br />
Um Sprache in allen ihren Dimensionen verstehen und benutzen zu können, ist es notwendig eine möglichst<br />
hohe schriftsprachliche Kompetenz zu erwerben, da sich Schriftsprache einerseits in wesentlichen Dingen von<br />
der gesprochenen Alltagssprache unterscheidet, andererseits wird über Schriftsprache sehr viel Wissen<br />
vermittelt. In vielen wissenschaftlichen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass die Kinder, denen die Eltern<br />
schon von klein auf viel vorgelesen haben, die schon früh Erfahrungen mit Schriftsprache gemacht haben und<br />
die in einer sprachanregenden Umgebung aufgewachsen sind, in der Schule erfolgreicher sind.<br />
Für den Begriff Literacy gibt keine deutsche Übersetzung, wir können nur den Inhalt beschreiben. Literacy<br />
bedeutet ganz allgemein, eine Reihe von Fähigkeiten, um die herrschenden symbolischen Systeme einer<br />
Kultur verstehen und benutzen zu können, also lesen, schreiben und aktiv zuhören zu können. Zum Inhalt<br />
dieses Begriffs gehören aber auch das Verständnis mathematischer Konzepte und Medienkompetenz, d.h. die<br />
Fähigkeit in einer breiten Spanne von Technologien und Medien kommunizieren und diese benutzen zu<br />
können.<br />
Diese Fähigkeiten müssen Kinder aber erst entwickeln. Das Konzept der Literacy-Erziehung im Vorschulalter<br />
ist nicht gleichbedeutend mit vorgezogenem Schriftspracherwerb (Ulich, 2003). Es bezieht sich vielmehr auf<br />
die Förderung von:<br />
• Vertrautheit mit Buch- und Schriftkultur<br />
• Interesse an Schreiben und Schrift<br />
• Dekontextualisierung von Sprache<br />
• Erzählkompetenz und -freude<br />
• Bewusstsein für verschiedene Sprachstile und Textsorten<br />
• Kompetenzen und Interessen im Bereich von Laut- und Sprachspielen, Reimen u. Gedichten<br />
Früher ist man davon ausgegangen, dass die Literacy-Entwicklung erst mit dem Schriftspracherwerb beginnt.<br />
Heute weiß man, dass sie schon ganz früh parallel zum Spracherwerb verläuft und dass diese beiden<br />
Fähigkeiten sich gegenseitig beeinflussen. Im Alter von vier Jahren haben Kinder in der Regel die<br />
grundlegenden Strukturen ihrer Muttersprache erworben. Dennoch braucht es noch Jahre, bis sie alle<br />
Aspekte der Sprache gelernt haben und das gelingt umso leichter, je besser Literacy- und Sprachentwicklung<br />
miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig verstärken.<br />
Die Literacy-Entwicklung ist mit der Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten und mit<br />
Wahrnehmungskompetenzen wie phonologischer Bewusstheit und visueller Wahrnehmung verbunden.<br />
Wichtig ist aber nicht nur die Erkenntnis, dass gesprochene Wörter aus kleineren Sprecheinheiten<br />
zusammengesetzt sind, oder die Erkenntnis, dass Buchstaben diese Laute repräsentieren. Eine zentrale Rolle<br />
bei der Literacy-Entwicklung spielen auch die Umgebungsfaktoren, einschließlich der materiellen Ressourcen<br />
und die Qualität der häuslichen Umgebung (Neuman, 2006). Diese Faktoren tragen viel zur Entwicklung von<br />
Hintergrundwissen, Konzepten und Wortschatz bei und ebenso zur Vertrautheit mit Syntax und Semantik<br />
und letztlich auch zur Entwicklung von Fähigkeiten des verbal-logischen Denkens. Man muss also aufpassen,<br />
dass man sich in der Pädagogik nicht darauf beschränkt, zu sehen, wie Kinder lernen, sondern man muss sich<br />
auch darüber Gedanken machen, was sie lernen sollen.<br />
Sprachförderung als zentrales Thema der Bildungsarbeit in der Kindertageseinrichtung muss verbunden sein<br />
mit der Förderung der sozial-emotionalen Fähigkeiten; auch diese haben einen starken Einfluss auf die<br />
Literacy-Entwicklung. Eine nachhaltige Literacy-Entwicklung erfordert mehr als den Erwerb von linguistischen,<br />
kognitiven Fertigkeiten und Wahrnehmungsfähigkeiten.<br />
Kinder müssen ebenso die Fertigkeiten entwickeln, die das soziale und affektive Verhalten steuern, d.h.<br />
„Selbststeuerung/Rücksichtnahme“ (eigene Wünsche zurückstellen, sich in die Situation Anderer versetzen<br />
und Rücksicht nehmen), ebenso wie „Aufgabenorientierung“ (Aufgaben selbstständig und zielstrebig<br />
bearbeiten) und „Stressregulierung“ (in Belastungssituationen ansprechbar bleiben, Fassung bewahren oder<br />
wieder finden, emotionale Ausgeglichenheit). Diese Fertigkeiten sind wichtig, um eine gute Beziehung zu<br />
Erziehern bzw. Lehrern und Gleichaltrigen aufzubauen, schwierige Aufgaben bearbeiten zu können und um<br />
Christa Kieferle & Dr. Bernhard Nagel: Wege zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong>: Literacy in der Familie und in den Kitas
INTERNATIONALER KONGRESS<br />
FRÜHKINDLICHE MEHRSPRACHIGKEIT<br />
MULTILINGUISME PRÉCOCE<br />
MULTILINGUALISM IN EARLY CHILDHOOD<br />
CONGRESSHALLE SAARBRÜCKEN · 17./18. SEPTEMBER 2007<br />
die Motivation zu entwickeln, ein autarker Lerner zu werden. Eine zufrieden stellende Theorie der frühen<br />
Literacy-Entwicklung muss also die Zusammenhänge zwischen Sprachentwicklung und Entwicklung<br />
schriftsprachlicher Fertigkeiten und der Interaktion zwischen sozialer Entwicklung, Selbstregulation und<br />
Motivationsprozessen beachten (Dickinson et al., 2006).<br />
Als Bildungsziel ist es nicht ausreichend, dass jemand so viel schriftsprachliche Fertigkeiten erwirbt, dass er in<br />
seiner Umgebung gut zurecht kommt, d.h. Straßennamen lesen, die Preise im Supermarkt zusammenzählen<br />
oder den Sportteil in der Zeitung lesen kann. Vielmehr muss Ziel der Bildungsarbeit das Beherrschen der<br />
Sprache und Schriftsprache in allen ihren Dimensionen sein. Dazu gehören: Erzählkompetenz, sprachliche<br />
Abstraktionsfähigkeit, Sprachbewusstsein, Schriftkultur und Textverständnis. Und diese Fertigkeiten-<br />
Entwicklung beginnt ganz früh im Elternhaus.<br />
Literacy ist ein Beispiel dafür, dass sich die Kapazitäten und Fertigkeiten von Kindern durch die Erwachsenen-<br />
Kind-Beziehung herausbilden (Pianta, 2006). Literacy ist ein Niederschlag solcher Interaktionen. Am<br />
häufigsten wurde diese Interaktion beim Bilderbuchbetrachten von Müttern oder Lehrern mit Kindern<br />
untersucht (u.a. Zevenbergen & Whitehurst, 2003). Es ist ganz klar, dass die Interaktion mit Erwachsenen<br />
eine viel größere und nachhaltigere Rolle in der Literacy-Entwicklung spielt als nur ein Setting mit<br />
Bilderbuchlesen. Beziehung unterstützt Literacy durch Sprachanregung und Konversation,<br />
Aufmerksamkeitsregelung, Aktivierung des Nervensystems, Interesse, emotionale Erfahrung, direkte<br />
Übermittlung von phonologischer Information und Inhalt sowie die Motivation etwas zu verstehen, was auch<br />
das kulturelle Verständnis fördert (vgl. u.a. Whitehurst & Lonigan, 1998). Im Kontext der Beziehung zu<br />
Erwachsenen tritt die Erfahrung mit Literacy auf mehreren Ebenen über mehrere Domänen hinweg auf,<br />
indem sie sowohl die Motivations- und Vorstellungssysteme aktivieren, die ein Interesse an schriftlichen<br />
Worten, die Meinungen und Informationen enthalten, als auch kognitive, linguistische und<br />
aufmerksamkeitssteuernde Mechanismen, die Regeln übermitteln, z.B. wie Phoneme und Grapheme<br />
aufeinander abgestimmt sind.<br />
4. Zweitspracherwerb<br />
Es gibt keine einfache Erklärung dafür, dass manche Menschen erfolgreich eine zweite Sprache lernen und<br />
manche nicht. Sozialisation und Bildung, Erfahrung, Unterschiede der Einstellungen, der Persönlichkeit, des<br />
Alters und der Motivation, alle diese Faktoren spielen eine Rolle (vgl. u.a. Bialstock & Hakuta, 1994, Tabors,<br />
1997).<br />
Um eine zweite Sprache zu lernen, muss es für das Lernen der neuen Sprache einen Antrieb geben. Das<br />
reicht aber nicht aus, der Lerner muss auch in der Lage sein, Sprache zu verarbeiten, also über ein<br />
Sprachvermögen verfügen: z.B. Laute unterscheiden und bilden, Schallfolgen z.B. „Hase“ mit Objekten<br />
verknüpfen und sich das auch merken können, einzelne Wörter zu größeren Einheiten zusammenfügen usw.<br />
Das sind wichtige Voraussetzungen, sie nutzen aber nicht viel, wenn das lernende Kind keinen Zugang zur<br />
Sprache hat, wie dies bei einer Kommunikation in seiner Umgebung oder auch beim Unterricht der Fall wäre.<br />
Sprachentwicklung ist ein Prozess, der mit anderen Entwicklungs- und Reifeprozessen einhergeht. Sie hängt<br />
einerseits von biologischen Faktoren ab wie z.B.:<br />
- Sprachlernfähigkeit, d.h. der Fähigkeit Sprache zu verarbeiten – sprachliche Äußerungen zu bilden<br />
und zu verstehen<br />
- sprechmotorischen Voraussetzungen<br />
- Merkfähigkeit<br />
- Motivation und Interesse<br />
Dies sind Fähigkeiten, die das Kind gewissermaßen selbst „mitbringen“ (entwickeln) muss. Was Erwachsene<br />
aber zu einer gelingenden Sprachentwicklung beitragen können, das sind Lerngelegenheiten. Das können<br />
sowohl Interaktionen mit Erwachsenen oder Gleichaltrigen sein als auch die Auseinandersetzung mit Bild und<br />
Schrift. Wichtig ist die Menge, Fülle und die Qualität von sprachlicher Anregung und von Gelegenheiten zu<br />
kommunizieren. Je mehr Gelegenheiten das Kind also hat, sprachlich aktiv zu werden, je mehr komplexe und<br />
interaktiv ausgerichtete sprachliche Anregungen es bekommt, desto schneller schreitet der Erwerbsprozess<br />
voraussichtlich voran. Hier gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, die in den Kindergartenalltag eingeflochten<br />
werden können, zum Beispiel: Informative Gespräche mit den Kindern führen, Diskussionen und Dialoge in<br />
Christa Kieferle & Dr. Bernhard Nagel: Wege zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong>: Literacy in der Familie und in den Kitas
INTERNATIONALER KONGRESS<br />
FRÜHKINDLICHE MEHRSPRACHIGKEIT<br />
MULTILINGUISME PRÉCOCE<br />
MULTILINGUALISM IN EARLY CHILDHOOD<br />
CONGRESSHALLE SAARBRÜCKEN · 17./18. SEPTEMBER 2007<br />
Kleingruppen führen, Reime verwenden, sprachgebundene Spiele spielen, Vorlesen – nicht nur Prosa, auch<br />
Poesie, gemeinsame tägliche Vorleserituale, Geschichten nacherzählen, Rollenspiele (Restaurant, Post, Schule<br />
usw.), Briefe schreiben….<br />
Viele Kinder haben von ihren Eltern keine Literacy-Erziehung erhalten. Umso wichtiger ist es, dass vor allem<br />
die Migrantenkinder, die eine zweite Sprache lernen müssen, besonders viel Sprachanregung und besonders<br />
viele Sprechanlässe brauchen, bei denen Sie die neue Sprache und die pragmatischen Kompetenzen<br />
trainieren können.<br />
5. <strong>Mehrsprachigkeit</strong> und kulturelle Identität<br />
<strong>Mehrsprachigkeit</strong>, also Aufwachsen mit mehreren Sprachen, ist für die meisten Kinder in der heutigen Welt<br />
völlig selbstverständlich. Auch in vielen europäischen Ländern ist Zweisprachigkeit Normalität. Deutschland<br />
aber hat eine eher monolinguale Sprachtradition und tut sich im Bildungssystem noch schwer, eine<br />
mehrsprachige Perspektive einzunehmen. Mehrsprachiges Aufwachsen wird immer noch als Ausnahme und<br />
als Ursache von mancherlei Problemen gesehen.<br />
Dabei ist Zweisprachigkeit kein Risikofaktor für die Sprachentwicklung – im Gegenteil, Kinder können ohne<br />
Probleme mehrere Sprachen nebeneinander lernen. Heute geht man davon aus, dass ein früher Kontakt mit<br />
anderen Sprachen die kognitiven Fähigkeiten fördert. Mehrsprachige Kinder lernen z.B. leichter als<br />
monolinguale Kinder, dass es verschiedene „Sprachcodes“ gibt, die man je nach Situation wechseln kann.<br />
Bereits 5-Jährige wissen, welche Sprachen sie sprechen und für die meisten mehrsprachigen Kinder in<br />
Deutschland ist der Sprachenwechsel neben der deutschen Sprache das zweitwichtigste<br />
Verständigungsmittel.<br />
Mehrsprachige Kinder entwickeln mit der Zeit eine Art „Sprach-Entscheidungssystem“: Sie wählen zuerst die<br />
Sprache, die die Person verwendet, mit der sie sprechen. Außer der Sprache des Gesprächspartners spielt<br />
aber auch noch die Situation und die Funktion der Kommunikation eine Rolle: Z.B. wenn die Sprache<br />
gefühlvoll sein soll, dann werden eher Begriffe aus der Sprache verwendet, in der der Sprecher eher Gefühle<br />
ausdrücken kann. Mehrsprachige Kinder in Deutschland haben nach Untersuchungen eher nicht-deutsche<br />
Freunde. Mit diesen unterhalten sie sich in der Regel auf Deutsch oder sie mischen Erst- und Zweitsprache (=<br />
vgl. Ethnolekt z.B. Türkendeutsch). Dies tun sie aber nicht willkürlich, sondern bestimmten Regeln folgend.<br />
Sie sind sich sehr wohl bewusst, wann sie welche Sprache einsetzen und mischen die Sprachen nicht, wenn<br />
sie sich mit einsprachigen Menschen unterhalten.<br />
Immer wieder kann man in der Kindertageseinrichtung beobachten, dass sich bilinguale Kinder weigern, in<br />
der Öffentlichkeit mit ihrer Mutter in der Familiensprache zu sprechen. Manchmal schämen sie sich für diese<br />
Sprache. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn diese in der Umgebung einen niedrigen Stellenwert hat und<br />
nicht genug Wertschätzung erfährt. Auch wenn die Sprache des Kindes geschätzt wird, kommt es durchaus<br />
vor, dass ein Kind phasenweise seine Erstsprache verweigert.<br />
McLaughlin stellte fest, dass die Aufrechterhaltung von zwei Sprachen von einer ganzen Reihe von Faktoren<br />
abhängt, wie das Prestige einer Sprache, kultureller Druck, Motivation, Möglichkeiten des Gebrauchs – aber<br />
nicht das Alter (McLaughlin, 1994, S. 73). Es ist eher selten, dass beide Sprachen gleich gut beherrscht<br />
werden. Kinder beherrschen beide Sprachen nur dann gleich gut, wenn sie dies als wertvoll oder nützlich<br />
wahrnehmen. Kinder haben ihre Einstellungen zur Erstsprache ebenso wie sie sie zur Zweitsprache und deren<br />
Sprechern gegenüber haben. Diese Einstellungen sind wichtig für den Erwerbserfolg in der zweiten Sprache,<br />
aber auch für den Erhalt der Erstsprachfähigkeiten (Colliers, 1995).<br />
In beiden Erst- und Zweitspracherwerb unterstützt eine anregende und sprachlich reichhaltige Umgebung die<br />
Sprachentwicklung. Wie oft und wie gut Eltern mit ihren Kindern kommunizieren ist ein starker Prädiktor<br />
dafür, wie schnell Kinder ihre sprachlichen Fähigkeiten entwickeln. Indem man Kinder dazu ermuntert, ihre<br />
Wünsche, Gedanken und Gefühle entweder in beiden oder in nur einer Sprache auszudrücken, erweitern<br />
Kinder ihre sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten.<br />
Kleine Kinder werden bilingual, wenn es eine wirkliche Notwendigkeit gibt, in beiden Sprachen zu sprechen<br />
und sie werden sehr schnell wieder monolingual, wenn es nicht mehr notwendig ist, beide Sprachen zu<br />
verwenden. Wenn die Interaktionen der Kinder außerhalb der Familie nur in einer Sprache stattfinden,<br />
Christa Kieferle & Dr. Bernhard Nagel: Wege zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong>: Literacy in der Familie und in den Kitas
INTERNATIONALER KONGRESS<br />
FRÜHKINDLICHE MEHRSPRACHIGKEIT<br />
MULTILINGUISME PRÉCOCE<br />
MULTILINGUALISM IN EARLY CHILDHOOD<br />
CONGRESSHALLE SAARBRÜCKEN · 17./18. SEPTEMBER 2007<br />
werden sie sehr schnell in diese Sprache wechseln und werden ihre erste Sprache nur noch vorwiegend<br />
rezeptiv beherrschen.<br />
Wenn Kinder nur wenige Gelegenheiten haben, Sprache zu verwenden und nicht mit einem reichhaltigen<br />
Erfahrungsfundament versorgt wurden, dann werden sie die zweite Sprache nicht gut lernen und gleichzeitig<br />
werden sie ihre Erstsprache auch nicht weiterentwickeln.<br />
Das Lernen einer Sprache erfolgt nicht linear - und formaler Unterricht beschleunigt den Lernprozess nicht.<br />
Spracherwerb ist ein dynamischer Prozess – Sprache muss bedeutungsvoll sein und es bedarf vieler<br />
Gelegenheiten, sie auch einsetzen zu können (Krashen, 1996).<br />
In vielen wiss. Arbeiten wird dargelegt, dass Kinder keine vollständige Literalität und Bildung in der zweiten<br />
Sprache erreichen, wenn sie ihre erste Sprache nicht vollständig erwerben (Collier & Thomas, 1995). Die<br />
interaktive Beziehung zwischen Sprachentwicklung und kognitiver Entwicklung ist nicht zu unterschätzen und<br />
das Erhalten und Ausbauen der Familiensprache unterstützt die Fortsetzung der kognitiven Entwicklung:<br />
Alles, was ein Kind in der Erstsprache erworben hat – Literacy-Entwicklung, schulbezogene Fähigkeiten, die<br />
Ausbildung von Konzepten, Fachwissen und Lernstrategien werden in die zweite Sprache übertragen.<br />
Gelesen wird in allen Sprachen gleich und Lesen wird in allen Sprachen gleich vermittelt.<br />
Wenn Kinder alle neuen Informationen und Fertigkeiten nur auf Deutsch erhalten, wird ihre erste Sprache<br />
stagnieren und nicht mit dem neuen Wissen Schritt halten können. Das kann zu einem begrenzten<br />
Bilingualismus führen. Die Förderung nur der deutschen Sprache vermittelt den Kindern den Eindruck, dass<br />
verschiedene Sprachen und Kulturen nicht wertgeschätzt werden.<br />
Gesellschaftlich ist die Zweisprachigkeit von Kindern z.B. türkischer, pakistanischer oder albanischer<br />
Herkunftssprachen häufig nicht als kultureller Wert und Bereicherung anerkannt, wie das z.B. bei der so<br />
genannten „Elite-Zweisprachigkeit" der Fall ist, also etwa bei Englisch oder Französisch, sondern es besteht<br />
ein Anpassungsdruck in Richtung auf eine Einsprachigkeit in der Zweitsprache. Die Erstsprache ist aber ein<br />
wichtiger Teil der Identität der nicht deutschsprachig aufwachsenden Kinder und alle Kinder brauchen die<br />
Wertschätzung ihrer Person als Ganzes. Viele Kinder haben nicht zu wenig Motivation, eine zweite Sprache<br />
zu lernen, sondern zu wenig Selbstvertrauen, dies zu versuchen.<br />
In vielen Kindertageseinrichtungen sind so viele unterschiedliche Sprachen vertreten, dass es unmöglich ist,<br />
jedes Kind individuell in seiner Erstsprache zu fördern; das ist einerseits Aufgabe der Eltern, die ihren Kindern<br />
eine positive Einstellung zu beiden Kulturen vermitteln und ihnen eine sprachanregende Umgebung in der<br />
Erstsprache bieten sollten: sich mit den Kindern unterhalten, Ihnen Dinge erklären, Geschichten erzählen und<br />
sich zusammen mit Büchern beschäftigen. Andererseits ist es die Aufgabe der Erzieherin, die Kinder vor allem<br />
durch Wertschätzung und Interesse zu ermuntern, beide Kulturen und Sprachen als gleichwertig zu<br />
erkennen. Wenn wir eine neue Sprache lernen, lernen wir nicht nur einen neuen Wortschatz und eine neue<br />
Grammatik, sondern wir lernen auch neue Arten der Organisation von Konzepten, neue Arten des Denkens<br />
und neue Wege eine Sprache zu lernen (Bialstock & Hakuta, 1994, 122).<br />
Kinder mit Migrationshintergrund leben meist in zwei Kulturen – Familien- und Umgebungskultur. Unter<br />
einer bikulturellen Identität wird eine persönliche und ganzheitliche Identität verstanden, die<br />
Kommunikations- und Handlungsfähigkeit in zwei kulturellen und sprachlichen Bezugssystemen beinhaltet.<br />
Migrantenkinder müssen diese Identität erst entwickeln. Sie erfahren, dass sie zu einer Minderheit in der<br />
Gesellschaft gehören und eine andere Sprache sprechen; sie haben deshalb oft das Gefühl des Andersseins.<br />
Das Hauptziel einer interkulturellen Erziehung muss sein, dass sich die Kinder in beiden Kulturen wohl fühlen.<br />
Deshalb ist es sehr wichtig, dass Erziehrinnen ihre eigenen Einstellungen, Konzepte und Handlungen im<br />
Bereich der interkulturellen Erziehung immer wieder kritisch reflektieren.<br />
Es ist wichtig, einen positiven Unterschiedsbegriff aufzubauen, der von der Gleichwertigkeit der Kulturen<br />
ausgeht, so dass sich das Kind allmählich mit beiden Kulturen identifizieren kann. Identität ist eng verknüpft<br />
mit der familiären und gesellschaftlichen Sozialisation. Wenn die Eltern eines Kindes kein Problem haben, sich<br />
in eine Gesellschaft zu integrieren, viel Kontakt zu anderen Kulturen pflegen und vielleicht noch mehrere<br />
Sprachen sprechen, dann werden auch ihre Kinder keine Probleme mit einer bikulturellen Identität haben.<br />
Das Aufwachsen eines Migrantenkindes in der deutschen Umgebung ohne "Identitätsverlust" oder<br />
Christa Kieferle & Dr. Bernhard Nagel: Wege zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong>: Literacy in der Familie und in den Kitas
INTERNATIONALER KONGRESS<br />
FRÜHKINDLICHE MEHRSPRACHIGKEIT<br />
MULTILINGUISME PRÉCOCE<br />
MULTILINGUALISM IN EARLY CHILDHOOD<br />
CONGRESSHALLE SAARBRÜCKEN · 17./18. SEPTEMBER 2007<br />
"kulturelle Zerrissenheit" gelingt nur, wenn das Kind auch erlebt, dass es keine Kultur gibt, die besser oder<br />
schlechter als eine andere ist, sondern dass die Kulturen einfach nur unterschiedlich sind.<br />
Zum Beispiel kann neben dem Thema „Weihnachten“ auch einmal das islamische „Bayram“ besprochen und<br />
gefeiert werden, so dass die muslimischen Kinder in gleichem Maße wie die christlichen etwas über ihre Feste<br />
erfahren und sehen, es gibt da zwar große Unterschiede, aber beide sind gleich schöne Feste für die Kinder.<br />
Oder nicht-deutsche Eltern können dem Kind ein deutsches Buch in der deutschen Sprache vorlesen - das<br />
können auch Eltern, die noch nicht so gut Deutsch sprechen. Die Eltern sollten sich aber über die Geschichte<br />
in der Familiensprache unterhalten und auch die Fragen der Kinder in dieser Sprache beantworten. So erfährt<br />
das Kind eine gleiche Wertschätzung beider Sprachen.<br />
Ganz gleich, ob die Erst- oder die Zweitsprache gefördert werden soll, nötig sind Formen der sprachlichen<br />
Bildung, die sehr früh anfangen und die sich längerfristig auf die Sprachentwicklung auswirken.<br />
Das Konzept der Literacy-Erziehung im Vorschulalter bezieht sich auf die Förderung von Lesebereitschaft,<br />
Erzählkompetenz und Schriftspracherwerb und die damit verbundenen „Kulturtechniken“, Interessen und<br />
Kompetenzen, wie z.B. die spielerische Begegnung mit Bilderbüchern, Erzählungen und Schriftkultur, der<br />
Förderung von Interesse an sprachlichen Mitteilungen, von Spaß an Sprache oder der Förderung von<br />
„Textverständnis“ und Erzählkompetenz.<br />
Schon bei der Förderung der Vorläuferfertigkeiten des Schriftspracherwerbs sollten sich pädagogische<br />
Fachkräfte nicht einseitig auf die deutsche Sprache einengen, sondern auch Kompetenzen aus anderen<br />
Sprach- und Schriftkulturen aufgreifen. Einsprachig aufwachsende Kinder erfahren dadurch ebenfalls einen<br />
Lernzugewinn - hier erfahren sie im täglichen Umgang, dass man seine Gedanken auch in ganz anderen<br />
Gesten, Lauten und Worten darstellen kann und dass Laute mit ganz unterschiedlichen Zeichen verbunden<br />
werden können.<br />
Erzieher können bilinguale Texte verwenden oder Geschichten, in denen die Kultur eines Kindes vorkommt;<br />
sie können den Gruppenraum mit Postern oder Gegenständen dekorieren, die die unterschiedlichen Kulturen<br />
widerspiegeln. Sie können auch ganze Projekte organisieren, die sich mit den einzelnen kulturellen Inhalten<br />
befassen und dabei auch die Familien der Kinder oder andere Personen mit dem gleichen kulturellen<br />
Hintergrund mit einbeziehen. Die Wichtigkeit, die Heimkultur der Kinder in den Alltag mit einzubeziehen ist<br />
ein gut dokumentiertes Konzept in der bilingualen Erziehung (Doherty, Hilberg, Pinal, & Tharp, 2003).<br />
Kulturelle Projekte können viele Fertigkeiten einbeziehen, einschließlich lesen, schreiben, sprechen, etwas<br />
vorführen oder Bilder malen. Solche kulturellen Projekte können auch mit anderen Konzepten kombiniert<br />
werden, zum Beispiel mit projekt-basiertem oder kooperativem Lernen und sie können an schon erworbenes<br />
Wissen geknüpft werden. Immer geht es darum, den Kindern die kulturellen Unterschiede einerseits<br />
wahrnehmbar zu machen aber diese auch gleichzeitig wertzuschätzen.<br />
Geschichtenerzählen ist eine andere Möglichkeit Sprache und Kultur einzubeziehen. Vielleicht kann ein<br />
älteres Kind eine Geschichte oder ein Märchen aus seinem Kulturkreis erzählen – einmal auf Deutsch, ein<br />
anderes Mal in der Herkunftssprache. Es können aber auch die Eltern oder andere Angehörige des jeweiligen<br />
Kulturkreises in die Einrichtung kommen und Geschichten erzählen - dies ist vor allem dann sinnvoll, wenn es<br />
keine schriftsprachlichen Materialen für eine bestimmte Sprache gibt. Diese Erfahrung kann Kindern helfen<br />
Selbstvertrauen aufzubauen und sie stellt gleichzeitig eine kulturelle Wertschätzung dar.<br />
Größere Kinder können auch einen Gegenstand oder etwas Essbares mitbringen, alles was ihre Kultur<br />
repräsentiert, und etwas über dessen Gebrauch, über die Herkunft erzählen oder darüber erzählen wie und<br />
woraus er gemacht wurde.<br />
Sie sehen, es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, kulturelle Unterschiede zu thematisieren und sie<br />
gleichermaßen wertzuschätzen. Damit dies aber möglich ist, muss man allerdings auch wissen, zu welchem<br />
Kulturkreis das Kind überhaupt gehört und welche Sprache in seiner Familie überhaupt gesprochen wird.<br />
Christa Kieferle & Dr. Bernhard Nagel: Wege zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong>: Literacy in der Familie und in den Kitas
Teil II.<br />
Dr. Bernhard Nagel<br />
INTERNATIONALER KONGRESS<br />
FRÜHKINDLICHE MEHRSPRACHIGKEIT<br />
MULTILINGUISME PRÉCOCE<br />
MULTILINGUALISM IN EARLY CHILDHOOD<br />
CONGRESSHALLE SAARBRÜCKEN · 17./18. SEPTEMBER 2007<br />
6. Erfassung der sprachlichen Kompetenzen und familiäre Hintergründe<br />
Wichtig für eine erfolgreiche Sprachförderung ist eine breite Erfassung der Sprachkompetenz des Kindes. Bei<br />
Zweitsprachlernern spielen das Alter, in dem begonnen wird, die zweite Sprache zu lernen, und die Dauer des<br />
bisherigen Erwerbsprozesses eine Rolle.<br />
Sprachstandserhebungen sollten nicht erst kurz vor der Einschulung durchgeführt werden, wenn gar keine<br />
Zeit mehr für eine angemessene Förderung der Sprache bleibt. Spracherwerb braucht Zeit, er bedarf einer<br />
sprachanregenden Umgebung und regelmäßig angebotener Aktivitäten. <strong>Mehrsprachigkeit</strong> und bikulturelle<br />
Identität umfassen mehr als das funktionale Beherrschen der jeweiligen Sprachen, sie beeinflussen auch das<br />
allgemeine Sprachverhalten.<br />
Familiensprache und die Familie des Kindes<br />
Für das Erlernen einer Zweitsprache sind das familiäre Umfeld und die Qualität der in der Familie<br />
gesprochenen Sprache von großer Bedeutung. So können sich die Sprachbiographien von Migrantenfamilien<br />
je nach Herkunftsregion ihres Heimatlandes deutlich von einander unterscheiden. Auch die<br />
Bildungsbiographien sind sehr unterschiedlich.<br />
Bei der Förderung von Zweisprachigkeit von Kindern im vorschulischen Bereich ist die „Fördersituation“, die<br />
„pädagogische Situation“ natürlich eine andere als in der Familie oder später in der Schule.<br />
- Die Gruppensituation ist sehr heterogen:<br />
- Die Sprachbiographien unterscheiden sich<br />
- die Motive eine Zweitsprache zu erwerben differieren<br />
- die Förderung in der Familie ist unterschiedlich<br />
- der Sprachstand in der Erst- und / oder Zweitsprache ist nicht gleich<br />
- es gibt unterschiedliche „Sprachumfelder“<br />
Der Zweitspracherwerb ist bei Kindern wie der Erwerb der Erstsprache ein natürlicher Spracherwerb und als<br />
Teil der Gesamtentwicklung zu betrachten.<br />
Wie bei allen Entwicklungsprozessen nutzen Kinder bewusst oder unbewusst ihr Vorwissen.<br />
Die pädagogische Kraft, welche die Zweitsprache fördert ist deshalb auf zahlreiche Informationen<br />
angewiesen, um die gerade bei kleinen Kindern notwendige individuelle, am Sprachstand, der Entwicklung<br />
und dem familiären Umfeld orientierte Förderung zu gewährleisten.<br />
Eine Unterstützung des Zweitspracherwerbs in Kitas setzt Wissen über die Kinder voraus:<br />
- über ihre Familien und deren Familiensprache,<br />
- über die Sprach- und Bildungsbiographie der Familie, und<br />
- über den Sprachstand des Kindes<br />
Es ist nicht immer ganz einfach, die Herkunftssprache der Familie zu ermitteln. Wie eine soziolinguistische<br />
Begleitstudie zur „Sprachstandserhebung in multikulturellen Volksschulklassen“ in Wien zeigt, gibt es eine<br />
große Divergenz zwischen den offiziellen Angaben über die Familiensprache und dem tatsächlichen<br />
Sprachgebrauch vor allem bei der türkischen Migrantengruppe (Karpf et al., 2006). Die Antworten darauf,<br />
warum denn bei der Schuleinschreibung andere Angaben gemacht wurden, waren sehr vielfältig. Zum Teil<br />
deuteten die Gründe auf ein sehr geringes Selbstwertgefühl bezüglich der ethnischen Herkunft hin. In dieser<br />
Begleitstudie wurde mit Tiefeninterviews gearbeitet, nur so konnten die wirklichen Migrationshintergründe<br />
und die tatsächliche sprachliche Situation in Erfahrung gebracht werden. Das heißt, es braucht vor allem Zeit<br />
für ein einfühlsames Elterngespräch - unter Umständen mit einem Übersetzer, der aus der näheren Verwandt-<br />
oder Bekanntschaft kommen kann. Wenn nicht klar ist, welche Sprache in der Familie tatsächlich gesprochen<br />
wird, kann es passieren, dass auch in einer wohlmeinenden, multikulturell ausgerichteten<br />
Kindertageseinrichtung von einem Kind das z.B. vermeintlich türkisch spricht, bei der Förderung immer etwas<br />
Türkisches erwartet wird, obwohl es z.B. kurdischer Herkunft ist.<br />
Ohne dieses vielfältige Wissen ist der pädagogische Leitgedanke „den Menschen da abzuholen, wo er steht“<br />
nicht umzusetzen. Dieses Wissen muss individuell im Elterngespräch herausgearbeitet werden und dazu<br />
Christa Kieferle & Dr. Bernhard Nagel: Wege zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong>: Literacy in der Familie und in den Kitas
INTERNATIONALER KONGRESS<br />
FRÜHKINDLICHE MEHRSPRACHIGKEIT<br />
MULTILINGUISME PRÉCOCE<br />
MULTILINGUALISM IN EARLY CHILDHOOD<br />
CONGRESSHALLE SAARBRÜCKEN · 17./18. SEPTEMBER 2007<br />
bedarf es einer interkulturellen Handlungskompetenz, d.h. es geht darum, sich mit Neugier und Offenheit<br />
empathisch einzufühlen, sich in die Lage des anderen versetzen zu können, zuzuhören, dem anderen<br />
Wertschätzung entgegenzubringen und eine tragfähige Kommunikationsbeziehung aufzubauen ohne<br />
Wertung der anderen Kultur und mit Respektierung einer anderen Meinung. Ohne diese Fähigkeiten würde<br />
das reine Ansammeln von Wissen über die Migrantenfamilie nicht sehr viel nutzen. Für das eigene<br />
professionelle Handeln ist es zudem wichtig, das eigene Handeln zu reflektieren und sich mit den eigenen<br />
Vorurteilen, Ängsten und Unsicherheiten auseinanderzusetzen.<br />
Die Förderung der Zweitsprache kann wie die Entwicklung der Familiensprache nur im Kontext der<br />
Gesamtentwicklung eines Kindes gesehen werden. Informationen zum Sprachstand und zur Sprachkultur in<br />
der Familie sind wichtige Ausgangspunkte für Erfolg versprechende Fördermaßnahmen.<br />
Ein wichtiger Faktor für alle Förderansätze ist das Klima, in dem diese erfolgen. Kinder reagieren sehr<br />
empfindlich auf „Rückmeldungen“ der Erzieherinnen, sie wollen Spaß haben und Erfolg erleben.<br />
Grundlagen für praktische Fördermaßnahmen sind:<br />
- systematische Beobachtung der einzelnen Kinder<br />
- eine sprachanregende Umgebung und sprachanregende Situationen<br />
- Bezug zum pädagogischen Angebot<br />
- interessierte und motivierte Kinder<br />
Der Beobachtungsbogen sismik unterstützt als eine anregende Beobachtungshilfe, die an konkreten<br />
pädagogischen und Lernsituationen unter Berücksichtigung der Individualität des einzelnen Kindes und seines<br />
familiären und kulturellen Hintergrundes ansetzt, eine kind- und entwicklungsgemäße Sprachförderung des<br />
Kindes.<br />
Christa Kieferle & Dr. Bernhard Nagel: Wege zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong>: Literacy in der Familie und in den Kitas
Literatur:<br />
INTERNATIONALER KONGRESS<br />
FRÜHKINDLICHE MEHRSPRACHIGKEIT<br />
MULTILINGUISME PRÉCOCE<br />
MULTILINGUALISM IN EARLY CHILDHOOD<br />
CONGRESSHALLE SAARBRÜCKEN · 17./18. SEPTEMBER 2007<br />
Bachman, L. F. (1990). Fundamental Considerations in Language Testing. (Oxford Applied Linguistic Series).<br />
London: OUP.<br />
Brown,G. et al. (Hrsg.). (1994). Language and Understanding. London: OUP.<br />
Bialstock, E. & Hakuta, K. (1994). In Other words. New York: Basic Books.<br />
Collier, V.P. (1995). Promoting academic success for ESL students. Jersey City: New Jersey Teachers of English<br />
to Speakers of Other Languages-Bilingual Educators.<br />
Collier, V.P. & Thomas, W. (1995). Language minority student achievement and program effectiveness.<br />
Research summary on ongoing study. Fairfax, VA: George Mason University.<br />
Cummins, J. (1996). Negotiating identities: Education for empowerment in a diverse society. Ontario:<br />
California Association for Bilingual Education.<br />
Denton, K., West, J., & Walston, J. (2003). Reading — Young children’s achievement<br />
and classroom experiences: Special Analysis on the Condition of Education. Washington, DC. National Center<br />
of Educational Statistics.<br />
Dickinson, D. K. & Neuman, S. B.(Hrsg.). (2006). Handbook of early literacy research. Vol. 2. New York:<br />
Guiford Press.<br />
Dickinson, D. K. & McCabe, A. & Essex, M. J. (2006). A Window of Opportunity We Must Open to All: The<br />
Place for Preschool with High-Quality Support for Language and Literacy. In: Dickinson, D. K. & Neuman, S.<br />
B.(Hrsg.). (2006). Handbook of early literacy research. Vol. 2. New York: Guiford Press. S. 12-13.<br />
Doherty, R. W., Hilberg, R. S., Pinal, A., & Tharp, R. G. (2003). Five standards and student achievement. NABE<br />
Journal of Research and Practice, 1(1), 1-24.<br />
Freeman, D. E. & Freeman, Y. S. (2002). Between Worlds: Access to Second Language Acquisition (Second<br />
Edition). In: Teaching English as a Second or Foreign Language. Vol. 5, No. 4. Portsmouth, NH: Heinemann.<br />
Hakuta, K., Goto Butler, Y., & Witt, D. (2000). How Long Does It Take English Learners to Attain Proficiency?<br />
University of California Linguistic Minority Research Institute Policy Report 2000-1.<br />
Hart, B. and Risley, T. (2003). “The Early Catastrophe,” American Educator, 27, 4. S. 6-9.<br />
Jencks, C. & Phillips, M. (1998). The black-white test score gap: An introduction. In Jencks, C. & Phillips, M.<br />
(Hrsg.). The black-white test score gap. Washington, DC: Brookings Institution Press.<br />
Krashen,S.D. (1996). Under attack: The case against bilingual education. Culver City, Ca: Language Education<br />
Associates.<br />
Maas, U. & Mehlem, U. (2003). Qualitätsanforderungen für die Sprachförderung im Rahmen der Integration<br />
von Zuwanderern. In: IMIS-Beiträge, Heft 21. Osnabrück.<br />
Neuman, S. B. (2006). The Knowledge Gap. Implications for Early Education. In: Dickinson, D. K. & Neuman,<br />
S. B. (Hrsg.) Handbook of early literacy research. Vol. 2. New York: Guiford Press.<br />
Christa Kieferle & Dr. Bernhard Nagel: Wege zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong>: Literacy in der Familie und in den Kitas
INTERNATIONALER KONGRESS<br />
FRÜHKINDLICHE MEHRSPRACHIGKEIT<br />
MULTILINGUISME PRÉCOCE<br />
MULTILINGUALISM IN EARLY CHILDHOOD<br />
CONGRESSHALLE SAARBRÜCKEN · 17./18. SEPTEMBER 2007<br />
Pianta, R.C. (2006). Teacher-Child Relationship and Early Literacy. In: Dickinson, D. K. & Neuman, S.B. (Hrsg.)<br />
Handbook of early literacy research. Vol. 2. New York: Guiford Press.<br />
Szagun, Gisela (1991). Sprachentwicklung beim Kind. München: Psychologie-Verlagsunion<br />
Tabors, P. (1997). One child, two languages. Baltimore, MD: Paul H. Brooks. (ERIC Document No.ED405987).<br />
Thomas, W. P. & Collier, V. P. (1997). School Effectiveness for Language Minority Students. National<br />
Clearinghouse for Bilingual Education (NCBE) Resource Collection Series, No. 9, December.<br />
Ulich, M. (2003). Sprachentwicklung systematisch begleiten. Kindergarten heute, 10,<br />
S.16–20.<br />
Ulich, M./Mayr, T. (2003). Beobachtungsbogen Sismik – Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei<br />
Migrantenkindern in Kindertageseinrichtungen. Freiburg: Herder.<br />
ISBN 3-451-28270-4.Vertrieb: Bestellservice@herder.de<br />
Ulich, M./Oberhuemer, P. (2003). Interkulturelle Kompetenz und mehrsprachige Bildung. In Fthenakis,<br />
W. E. (Hrsg.) Elementarpädagogik nach Pisa. (S. 152-168). Freiburg: Herder. ISBN 3-451-28062-0.<br />
Ulich, M. (2003). Literacy und sprachliche Bildung im Elementarbereich. in. S. Weber (Hrsg.). Die<br />
Bildungsbereiche im Kindergarten, Basiswissen für Ausbildung und Praxis. Freiburg, Basel, Wien. Herder , S.<br />
106 – 124.<br />
Vellutino, F.R., Scanlon, D.M., Sipay, E.R., Small, S.G., Pratt, A., Chen, R.S., & Denckla, M.B. (1996). Cognitive<br />
profiles of difficult to remediate and readily remediated poor readers: Early intervention as a vehicle for<br />
distinguishing between cognitive and experiential deficits as basic causes of specific reading disability. Journal<br />
of Educational Psychology, 88, 601-638.<br />
Whitehurst, G.J. & Lonigan, C.J. (1998). Child development and emergent literacy. Child Development, 69,<br />
848-872.<br />
Zevenbergen, A.A., Whitehurst, G. J. and Zevenbergen, J.A. (2003). Effects of a shared-reading intervention<br />
on the inclusion of evaluative devices in narratives of children from low-income families. Applied<br />
Developmental Psychology, 24, 1-15.<br />
Christa Kieferle & Dr. Bernhard Nagel: Wege zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong>: Literacy in der Familie und in den Kitas