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Abstract downloaden - Frühkindliche Mehrsprachigkeit

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Wege zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong>:<br />

Literacy in der Familie und in den Kitas<br />

===<br />

INTERNATIONALER KONGRESS<br />

FRÜHKINDLICHE MEHRSPRACHIGKEIT<br />

MULTILINGUISME PRÉCOCE<br />

MULTILINGUALISM IN EARLY CHILDHOOD<br />

CONGRESSHALLE SAARBRÜCKEN · 17./18. SEPTEMBER 2007<br />

Teil I<br />

Christa Kieferle<br />

1. Migration und Bildung<br />

Wenn von <strong>Mehrsprachigkeit</strong> gesprochen wird, sollte immer von der Heterogenität dieses Begriffs in Bezug<br />

auf den Kontext ausgegangen werden, der einerseits durch geografisch-politische Gegebenheiten<br />

andererseits durch Migrationsbewegungen und sozio-ökonomische Bedingungen bestimmt ist. Der<br />

bildungspolitische und gesellschaftliche Kontext, in dem sich eine Erziehung zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong> derzeit in<br />

Deutschland vollzieht, ist bestimmt durch Zu- und Abwanderungen von Arbeitsmigranten, Zuwanderung von<br />

Asylbewerbern, Kriegsflüchtlingen und Aussiedlern. Iin den vergangenen und kommenden Jahren wird auch<br />

eine vermehrte Zu- und Abwanderung durch europapolititsche Veränderungen stattfinden.<br />

In nächster Zukunft wird es also sicherlich keine Beruhigung der Wanderungsbewegungen in Europa geben.<br />

Demnach kann der Rückzug auf eine Einsprachigkeitsvorstellung keine Antwort auf die bildungspolitischen<br />

Herausforderungen sein. Das heißt in allen europäischen Ländern wird <strong>Mehrsprachigkeit</strong>, wenn dies nicht<br />

sowieso schon der Fall ist, als Normalität aufgefasst und die entsprechenden bildungspolitischen Grundlagen<br />

für eine mehrsprachige Erziehung in den Bildungseinrichtungen geschaffen werden müssen, denn „bereits im<br />

Jahr 2010 wird jeder dritte Schüler einen Migrationshintergrund haben, in den Stadtstaaten sogar jeder<br />

zweite“ (vgl. KMK-Präsident Zöllner, Berlin, 19.01.2007).<br />

In klassischen Einwanderungsländern wie Australien, England, Kanada und Neuseeland ist der ISEI<br />

(International Sozio-Economic Index of Occupational Status => Status von Berufen hinsichtlich Bildung und<br />

Einkommen – Mittelwert beider Elternteile) der im Ausland geborenen Einwanderer höher als der der<br />

Einheimischen. Einwanderer in diese Staaten sind meist hoch qualifizierte Arbeitskräfte, die zu Hause nicht<br />

unbedingt die Landessprache sprechen, aber ihre Kinder zweisprachig erziehen. Die Situation in Deutschland<br />

ist eine andere. Die Migranten in Deutschland verfügen - auch wenn sich in den letzten Jahren eine leichte<br />

Trendwende andeutet - im Vergleich zu Einheimischen über einen relativ niedrigen sozio-ökonomischen<br />

Status. Dieser korreliert sehr hoch mit der Tatsache, dass zu Hause nicht Deutsch gesprochen wird. Betrachtet<br />

man aber den Unterschied zwischen den Migrantengruppen, die zu Hause die Landessprache sprechen und<br />

denen, die das nicht tun, so zeigt sich, dass der ISEI bei denen, die zu Hause Deutsch sprechen höher ist als in<br />

der anderen Gruppe. Migranten in Deutschland haben den größten Nachteil gegenüber den Einheimischen,<br />

allenfalls in Frankreich lassen sich ähnliche Verhältnisse vorfinden.<br />

Der sozio-ökonomische Status spielt in allen an der Pisastudie beteiligten Ländern eine entscheidende Rolle<br />

für die Leistung der Schüler.<br />

In amerikanischen Studien zum Einfluss des sozio-ökonomischen Status auf die Schulfertigkeiten zeigten sich<br />

erhebliche Differenzen zwischen Kindern aus Familien mit sehr niedrigem sozio-ökonomischen Status und<br />

den Mittelschichts- bzw. Oberschichtskindern sowohl in Hinsicht auf ihre kognitiven Fähigkeiten (Jencks &<br />

Phillips, 1998) als auch in Hinsicht auf expressive und rezeptive Sprachfertigkeiten (Denton, West & Walston,<br />

2003; Vellutino et al., 1996), in der Fähigkeit Anfangslaute und Buchstaben zu erkennen, sowie in der<br />

Fähigkeit Farben und Zahlen zu benennen. Während aber den Oberschichtskindern bis zum<br />

Kindergarteneintritt rund 1000 Stunden vorgelesen wurde, kamen die Kinder aus den ärmsten Verhältnissen<br />

gerade einmal auf 25 Stunden (Hard & Risley, 2003).<br />

Christa Kieferle & Dr. Bernhard Nagel: Wege zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong>: Literacy in der Familie und in den Kitas


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Tab.1 Schulfertigkeiten von Kindern zu Beginn des Kindergartenbesuchs nach sozio-ökonomischem<br />

Status: Aus: Neuman, Susan, B. 2006. The Knowledge Gap. Implications for Early Education. In: Dickinson,<br />

David & Neuman, Susan, B. (Hrsg.). Handbook of Early Literacy Research. Vol 2. Guilford Press. S. 30.<br />

Fähigkeiten / Wissen / Bildung<br />

der Kinder<br />

niedrigster<br />

sozio-ökonomischer Status<br />

höchster<br />

sozio-ökonomischer<br />

Status<br />

Buchstabenerkennen Alphabet 39% 85%<br />

Laute in Wörtern identifizieren 10% 51%<br />

Identifikation der Primärfarben 69% 90%<br />

Bis 20 zählen 48% 68%<br />

Den eigenen Namen schreiben 54% 76%<br />

Menge der Zeit, die vor dem Kiga-<br />

Besuch vorgelesen wurde<br />

25 Stunden 1.000 Stunden<br />

Angehäufte Erfahrung mit Wörtern 13 Mio Wörter 45 Mio Wörter<br />

Möglicherweise noch bedeutender als die Fähigkeitsdefizite sind die Wissensdefizite, die sich für Kinder<br />

auftun, die wenig Zugang zu Informationen während der alltäglichen Interaktionen haben - wie Susan<br />

Neuman in ihrer Arbeit „The Knowledge Gap“ annimmt (Neuman, 2006). Die Entwicklung von formalen<br />

Fertigkeiten getrennt von bedeutungsvollen Inhalten haben nur begrenzte Brauchbarkeit oder bleibende Kraft<br />

für jüngere Kinder. Begrenztes Inhaltswissen scheint letztlich zu späteren Verständnisschwierigkeiten zu<br />

führen (Vellutino et al., 1996) oder bei älteren Kindern zu Denkschwierigkeiten höherer Ordnung. Folglich<br />

wird sich der Abstand zwischen den sozio-ökonomischen Statusgruppen mit jedem Schuljahr vergrößern,<br />

wenn von klein auf die Entwicklung des konzeptuellen Wissens einem Fokus auf die relativ geringe Zahl<br />

notwendiger prozeduraler Fähigkeiten untergeordnet wird. Prozedurale Fähigkeiten sind natürlich<br />

außerordentlich wichtig, sie setzen Handlungsstrategien, Lernstrategien und Kontrollstrategien voraus und sie<br />

helfen durch das Erreichen routinierter Abläufe unser Tun zu steuern, deshalb wäre es ein fataler Fehler, diese<br />

von der Erziehung auszuklammern, es ist nur wichtig zu sehen, dass beide Bereiche, konzeptuelles Wissen<br />

und die Entwicklung prozeduraler Fähigkeiten, gleichermaßen gefördert werden müssen.<br />

Wie in den USA wird auch in Deutschland viel darüber diskutiert, ob spezielle Interventionen wie<br />

Sprachförderprogramme und heilpädagogische Maßnahmen in der Lage sind, die Literacy-Fertigkeiten der<br />

Kinder zu verbessern und zu stärken. Aber es sieht so aus, als ob der wirkliche Einfluss nicht in solchen kurzen<br />

episodischen Maßnahmen liegt. Vielmehr scheint es die in den ersten Lebensjahren beginnende<br />

kontinuierliche, systematische und tägliche Art und Weise zu sein, mit der Erwachsene die Kinder dazu<br />

ermuntern, neues Wissen und neue Informationen zu erwerben.<br />

In einer Studie über Programme mit nachhaltiger Effektivität für Kinder aus Armutsverhältnissen, verweist<br />

Frede (1998) auf Curriculumsinhalte und Lernprozesse, die Wissen und Fertigkeiten ausbilden - mit Betonung<br />

auf die Sprachentwicklung. Kinder, die eine breite Basis von Erfahrung in domänenspezifischem Wissen<br />

hatten, waren schneller in der Lage, auch komplexe Fähigkeiten zu erwerben, so Frede.<br />

Lesen bedeutet Zugang zu Wissen. Auch deshalb ist die Förderung der Sprachkompetenz von zentraler<br />

Bedeutung in der frühen Kindheitserziehung und dies gilt gerade für die Erziehung zur <strong>Mehrsprachigkeit</strong><br />

sowohl für die deutschen Kinder als auch für die Kinder, die eine andere Familiensprache sprechen.<br />

2. Sprachkompetenz<br />

Sprachkompetenz ist eine der wichtigsten Grundlagen für die Schul- und Bildungschancen von Kindern.<br />

Deshalb ist eine systematische Begleitung der Entwicklung von Kindern in Kindertageseinrichtungen dringend<br />

notwendig und zwar lange vor der Einschulung (Ulich, 2003). Wenn wir von Sprachkompetenz sprechen,<br />

dann sprechen wir von etwas sehr Vielschichtigem, was das unten stehende Modell von Bachman<br />

verdeutlicht.<br />

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Abb.1: Sprachkompetenz (nach Bachman, 1990)<br />

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Quelle: Nach Bachman, L. F. (1990) Fundamental Considerations in Language Testing. (Oxford<br />

Applied Linguistic Series). London: OUP. In: Brown,G. et al. (Hrsg.). (1994). Language and Understanding.<br />

London: OUP. S. 229<br />

Stellen Sie sich vor, ein Kind möchte in einer kleinen Gesprächsrunde eine Geschichte erzählen. Haben Sie<br />

schon einmal überlegt, welche sprachlichen und nicht-sprachlichen Fähigkeiten es hiefür braucht? Es sind<br />

eine ganze Menge – einige werde ich Ihnen im Folgenden erläutern:<br />

Zunächst einmal muss das Kind wissen, was eine Geschichte ist, wie sie anfängt, wie sie spannend gemacht<br />

wird, wie eine Geschichte enden kann. Dann muss es über einen so großen Wortschatz verfügen, dass es<br />

auch alles sagen kann, was es ausdrücken möchte. Der Wortschatz alleine genügt nicht, der Erzähler muss<br />

auch wissen, wie man einen Satz baut und damit dieser verständlich wird, muss er z.B. auch wissen, welche<br />

Endungen die Wörter haben müssen. Schließlich muss das Kind noch wissen, in welcher Sprache die anderen<br />

Zuhörer sprechen und in der gleichen Sprache sprechen, damit es alle verstehen.<br />

Und das Kind muss in der Lage sein, von etwas zu erzählen, das gar nicht im Hier und Jetzt ist, von etwas<br />

Fernem.<br />

Aber stellen Sie sich vor, dieses Kind würde nur flüstern, oder die Geschichte schreien oder die Anderen<br />

beleidigen oder auch nur auf die eigenen Füße starren ohne die Anderen anzuschauen - das wäre ein sehr<br />

auffälliges Verhalten. Als Erzähler muss man also auch wissen, wie man in dieser Situation angemessen<br />

spricht und merken, wenn z.B. keiner mehr zuhört.<br />

Sprachkompetenz ist ein sehr komplexer Begriff. Er bezeichnet eine Fülle von sprachlichen und nicht<br />

sprachlichen Fertigkeiten, die dazu dienen, dass Menschen miteinander erfolgreich auf allen sprachlichen<br />

Ebenen kommunizieren zu können. Außer grammatischen und pragmatischen Kompetenzen erfordert dies<br />

natürlich auch persönlichkeitsbezogene Kompetenzen, wie z.B. Einstellung, Motivation, Wertvorstellungen,<br />

ein gewisses Maß an Lernfähigkeit und Sprachlernbewusstsein, aber auch Weltwissen und soziales Wissen.<br />

Sprache besteht aus vielen Teilbereichen; denn in Wirklichkeit gibt es die Sprachkompetenz nicht, sondern<br />

ganz unterschiedliche Kompetenzen in verschiedenen Teilbereichen der Sprache, die allerdings nicht immer<br />

gleich gut entwickelt sind.<br />

Es gibt ganz unterschiedliche Sprachstile und Sprachebenen in der gesprochenen Sprache und in der<br />

Schriftsprache. Dabei gelten die Unterschiede sowohl für die sprachstrukturellen Anforderungen (Grammatik)<br />

als auch für den Wortschatz.<br />

Wenn Sie an Jugendsprache denken - so unterscheidet sie sich zum Teil ganz erheblich von der Sprache der<br />

Erwachsenen. Mit einem Lehrer spricht man in der Regel anders als mit der besten Freundin. Es besteht ein<br />

Unterschied zwischen Dialekt und Standardsprache ebenso wie zwischen der Schulsprache, die im Unterricht<br />

gesprochen wird, und der Alltagssprache, die zum Beispiel zu Hause in der Familie benutzt wird.<br />

Auch auf der schriftsprachlichen Ebene gibt es Unterschiede, verschiedene Textsorten: Eine<br />

Gebrauchsanweisung für die Bedienung eines Haushaltsgerätes hat vom Stil her mit einem Grimm’schen<br />

Märchen ebenso wenig gemeinsam wie eine Unfallberichtserstattung in der Zeitung mit einem lyrischen<br />

Gedicht von Goethe. In einem wissenschaftlichen Text werden meist sehr komplexe Sätze mit vielen<br />

fachsprachlichen Fremdwörtern verwendet, während in einem Bilderbuch eher kurze Sätze mit Wörtern aus<br />

Alltagsituationen vorkommen.<br />

Warum ist es denn wichtig, dass Kinder sowohl in der gesprochenen als auch in der Schriftsprache gefördert<br />

werden? Was unterscheidet denn gesprochene Sprache von der Schriftsprache? Hier nur ein paar Aspekte zu<br />

diesem Thema: Wenn wir z.B. mit Nachbarn zusammensitzen und diskutieren, dann kennen wir den<br />

Diskussionsgegenstand in der Regel. Wir müssen ihn meist nicht näher beschreiben. Auch ist es nicht<br />

notwendig, dass wir alle Sätze immer vollständig bilden, um verstanden zu werden, schließlich können wir<br />

auch noch körpersprachliche Mittel einsetzen wie Mimik und Gestik, um etwas zu verdeutlichen oder unsere<br />

Einstellung mitzuteilen. Wenn wir aber z.B. eine Geschichte schreiben, müssen wir genau angeben, wann<br />

und wo das Ereignis stattgefunden hat, wer dabei war, usw. Außerdem braucht die Geschichte eine Struktur<br />

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- eine Einführung, einen Höhepunkt und einen Schluss. Und die Sätze müssen in einer logischen Reihenfolge<br />

stehen, damit der Inhalt verständlich wird. Die Geschichte muss so geschrieben sein, dass sie jeder versteht,<br />

denn unser Leser kann ja nicht nachfragen, wenn er etwas nicht verstanden hat.<br />

Wenn jemand zum Erzähler wird, wenn er von Ereignissen und Situationen erzählt, die der Gesprächspartner<br />

nicht kennt, verwendet er dekontextualisierte Sprache. Dekontextualisierung bedeutet das Erzählen von<br />

Fernem, das Sich-lösen vom Hier und Jetzt, das über die eigene Erfahrung und über die reale Welt<br />

Hinausgehen und sie erfordert die wichtige Fähigkeit abstrahieren zu können.<br />

Auch das gehört zu einer umfassenden Sprachkompetenz, wie sie für einen erfolgreichen Bildungsweg nötig<br />

ist, und deshalb ist im Vorschulbereich die Förderung von Erzählkompetenz, d.h. einer längeren Erzählung<br />

folgen, selbst eine Geschichte erzählen können, sehr wichtig. Ebenso wichtig ist natürlich auch die Förderung<br />

des Textverständnisses, d.h. sprachlich vermittelte Zusammenhänge verstehen zu können.<br />

Jim Cummins hat zwischen zwei Typen von Sprache unterschieden: den „basic interpersonal communication<br />

skills“ (BICS) und der „cognitive academic language proficiency“ (CALP). Untersuchungen haben gezeigt,<br />

dass der Durchschnittslerner die dialogorientierte Sprachkompetenz (BICS) innerhalb von zwei bis fünf Jahren<br />

erreichen kann. Aber die Entwicklung von Sprachkompetenz in einer mehr formalen Schulsprache (CALP)<br />

kann zwischen vier und sieben Jahren brauchen, abhängig von vielen Variablen wie dem Grad der<br />

Sprachfertigkeit, dem Alter und der Zeit des Eintritts in eine Institution usw., aber auch abhängig vom Grad<br />

der Unterstützung sich diese Fertigkeiten anzueignen (Cummins, 1981, 1996; Hakuta, Butler, & Witt, 2000;<br />

Thomas & Collier, 1997).<br />

Stellen Sie sich vor, Sie haben ihre Freundin zum Essen eingeladen. Ihr Kind sieht, wie Ihre Freundin nach den<br />

Keksen greift, und sagt: „Es ist besser, du nimmst die Kekse nicht, sonst wirst du noch fetter!“ Es ist Ihnen<br />

natürlich sehr peinlich, dass Ihr Kind so unanständig daherredet. Sie sollten aber bedenken, dass Ihr Kind<br />

möglicherweise nicht weiß, wie man Sprache in sozialen Situationen angemessen verwendet, also noch keine<br />

pragmatische Kompetenz erworben hat und sich bei solchen Äußerungen gar nichts denkt. Pragmatische<br />

Kompetenzen zeigen Sie jeden Tag, wenn Sie Sprache für ganz unterschiedliche Zwecke benutzen, z.B. beim<br />

Grüßen, wenn Sie jemanden informieren, etwas befehlen, etwas versprechen oder auch erbitten.<br />

Sie zeigen pragmatische Kompetenzen auch dann, wenn Sie Sprache den Bedürfnissen des Zuhörers und der<br />

Situation angemessen wechseln und z.B. mit einem Erwachsenen anders sprechen als mit einem Kind oder<br />

wenn Sie in der Kindertageseinrichtung anders sprechen als zu Hause. Pragmatische Kompetenzen zeigen<br />

Kinder z.B. in einer Gesprächsrunde, wenn sie auf die Beiträge von anderen Kindern eingehen oder sich im<br />

Tonfall und in der Lautstärke auf verschiedene Gesprächspartner und Situationen einstellen können oder<br />

wenn sie Höflichkeitsformen verwenden.<br />

Bei jedem Gespräch ist Ihnen unbewusst klar, welche Regeln Sie in einem Gespräch einhalten müssen. Wenn<br />

Sie z.B. im Gespräch einen Sprecherwechsel einleiten, also meist durch Gestik und Mimik anzeigen, dass der<br />

nächste dran ist, haben Sie pragmatische Kompetenz bewiesen. Dasselbe gilt, wenn Sie beim Thema bleiben<br />

können oder bei Missverständnissen das Gesagte neu formulieren.<br />

Bei der pragmatischen Kompetenz wird nach Bachmans Modell zwischen illokutionärer und<br />

soziolinguistischer Kompetenz unterschieden. Zur illokutionären Fähigkeit zählen die Ausführung ritueller,<br />

informativer, erkenntnissuchender, problemlösender Sprechakte, ebenso die Planung des Effekts der<br />

Äußerung auf den Gesprächspartner, also ein bewusster Einsatz von Sprache mit manipulierender Funktion<br />

und natürlich auch die Verarbeitung der Äußerung des Gesprächspartners.<br />

Wenn zum Beispiel der Bürgermeister in eine Kindertageseinrichtung kommt, dann wird er in der Regel<br />

formal begrüßt: „Guten Tag Herr Bürgermeister! Wir fühlen uns sehr geehrt, dass Sie sich die Zeit genommen<br />

haben….“. Wenn Sie aber eine Freundin treffen, werden Sie nicht zu ihr sagen „Guten Tag Frau Maier!“<br />

(außer im Spaß), sondern Sie werden eher sagen: „Ja, hallo! Schön, dich zu sehen! Na, wie geht’s?“ Den<br />

Bürgermeister würden Sie nicht fragen: „Na, wie geht’s?“ – dieses Wissen ist soziolinguistische Kompetenz,<br />

also die Fähigkeit, Sprache in unterschiedlichen Umgebungen angemessen anzuwenden, d.h. nach den<br />

jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Normen. Es ist die soziolinguistische Kompetenz, die uns erlaubt,<br />

in einer Situation angemessen höflich zu sein und uns in die Lage versetzt, auf die Absichten von anderen zu<br />

schließen. In unserem Alltagsleben passen wir die Art der Sprache der geforderten Formalität oder<br />

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Vertrautheit an. Wir drücken z.B. Verbundenheit gegenüber Gruppen aus, zu denen wir gehören oder<br />

gehören wollen und drücken Achtung gegenüber Menschen aus, die wir nicht gut kennen. Die sprachlichen<br />

Mittel, die wir hierbei einsetzen, sind ganz unterschiedlich: z.B. Höflichkeitsformen, Dialekte und Ethnolekte<br />

(z.B. das so genannte Türken-Deutsch) und bestimmte Sprachstile.<br />

3. Literacy-Entwicklung<br />

Um Sprache in allen ihren Dimensionen verstehen und benutzen zu können, ist es notwendig eine möglichst<br />

hohe schriftsprachliche Kompetenz zu erwerben, da sich Schriftsprache einerseits in wesentlichen Dingen von<br />

der gesprochenen Alltagssprache unterscheidet, andererseits wird über Schriftsprache sehr viel Wissen<br />

vermittelt. In vielen wissenschaftlichen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass die Kinder, denen die Eltern<br />

schon von klein auf viel vorgelesen haben, die schon früh Erfahrungen mit Schriftsprache gemacht haben und<br />

die in einer sprachanregenden Umgebung aufgewachsen sind, in der Schule erfolgreicher sind.<br />

Für den Begriff Literacy gibt keine deutsche Übersetzung, wir können nur den Inhalt beschreiben. Literacy<br />

bedeutet ganz allgemein, eine Reihe von Fähigkeiten, um die herrschenden symbolischen Systeme einer<br />

Kultur verstehen und benutzen zu können, also lesen, schreiben und aktiv zuhören zu können. Zum Inhalt<br />

dieses Begriffs gehören aber auch das Verständnis mathematischer Konzepte und Medienkompetenz, d.h. die<br />

Fähigkeit in einer breiten Spanne von Technologien und Medien kommunizieren und diese benutzen zu<br />

können.<br />

Diese Fähigkeiten müssen Kinder aber erst entwickeln. Das Konzept der Literacy-Erziehung im Vorschulalter<br />

ist nicht gleichbedeutend mit vorgezogenem Schriftspracherwerb (Ulich, 2003). Es bezieht sich vielmehr auf<br />

die Förderung von:<br />

• Vertrautheit mit Buch- und Schriftkultur<br />

• Interesse an Schreiben und Schrift<br />

• Dekontextualisierung von Sprache<br />

• Erzählkompetenz und -freude<br />

• Bewusstsein für verschiedene Sprachstile und Textsorten<br />

• Kompetenzen und Interessen im Bereich von Laut- und Sprachspielen, Reimen u. Gedichten<br />

Früher ist man davon ausgegangen, dass die Literacy-Entwicklung erst mit dem Schriftspracherwerb beginnt.<br />

Heute weiß man, dass sie schon ganz früh parallel zum Spracherwerb verläuft und dass diese beiden<br />

Fähigkeiten sich gegenseitig beeinflussen. Im Alter von vier Jahren haben Kinder in der Regel die<br />

grundlegenden Strukturen ihrer Muttersprache erworben. Dennoch braucht es noch Jahre, bis sie alle<br />

Aspekte der Sprache gelernt haben und das gelingt umso leichter, je besser Literacy- und Sprachentwicklung<br />

miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig verstärken.<br />

Die Literacy-Entwicklung ist mit der Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten und mit<br />

Wahrnehmungskompetenzen wie phonologischer Bewusstheit und visueller Wahrnehmung verbunden.<br />

Wichtig ist aber nicht nur die Erkenntnis, dass gesprochene Wörter aus kleineren Sprecheinheiten<br />

zusammengesetzt sind, oder die Erkenntnis, dass Buchstaben diese Laute repräsentieren. Eine zentrale Rolle<br />

bei der Literacy-Entwicklung spielen auch die Umgebungsfaktoren, einschließlich der materiellen Ressourcen<br />

und die Qualität der häuslichen Umgebung (Neuman, 2006). Diese Faktoren tragen viel zur Entwicklung von<br />

Hintergrundwissen, Konzepten und Wortschatz bei und ebenso zur Vertrautheit mit Syntax und Semantik<br />

und letztlich auch zur Entwicklung von Fähigkeiten des verbal-logischen Denkens. Man muss also aufpassen,<br />

dass man sich in der Pädagogik nicht darauf beschränkt, zu sehen, wie Kinder lernen, sondern man muss sich<br />

auch darüber Gedanken machen, was sie lernen sollen.<br />

Sprachförderung als zentrales Thema der Bildungsarbeit in der Kindertageseinrichtung muss verbunden sein<br />

mit der Förderung der sozial-emotionalen Fähigkeiten; auch diese haben einen starken Einfluss auf die<br />

Literacy-Entwicklung. Eine nachhaltige Literacy-Entwicklung erfordert mehr als den Erwerb von linguistischen,<br />

kognitiven Fertigkeiten und Wahrnehmungsfähigkeiten.<br />

Kinder müssen ebenso die Fertigkeiten entwickeln, die das soziale und affektive Verhalten steuern, d.h.<br />

„Selbststeuerung/Rücksichtnahme“ (eigene Wünsche zurückstellen, sich in die Situation Anderer versetzen<br />

und Rücksicht nehmen), ebenso wie „Aufgabenorientierung“ (Aufgaben selbstständig und zielstrebig<br />

bearbeiten) und „Stressregulierung“ (in Belastungssituationen ansprechbar bleiben, Fassung bewahren oder<br />

wieder finden, emotionale Ausgeglichenheit). Diese Fertigkeiten sind wichtig, um eine gute Beziehung zu<br />

Erziehern bzw. Lehrern und Gleichaltrigen aufzubauen, schwierige Aufgaben bearbeiten zu können und um<br />

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die Motivation zu entwickeln, ein autarker Lerner zu werden. Eine zufrieden stellende Theorie der frühen<br />

Literacy-Entwicklung muss also die Zusammenhänge zwischen Sprachentwicklung und Entwicklung<br />

schriftsprachlicher Fertigkeiten und der Interaktion zwischen sozialer Entwicklung, Selbstregulation und<br />

Motivationsprozessen beachten (Dickinson et al., 2006).<br />

Als Bildungsziel ist es nicht ausreichend, dass jemand so viel schriftsprachliche Fertigkeiten erwirbt, dass er in<br />

seiner Umgebung gut zurecht kommt, d.h. Straßennamen lesen, die Preise im Supermarkt zusammenzählen<br />

oder den Sportteil in der Zeitung lesen kann. Vielmehr muss Ziel der Bildungsarbeit das Beherrschen der<br />

Sprache und Schriftsprache in allen ihren Dimensionen sein. Dazu gehören: Erzählkompetenz, sprachliche<br />

Abstraktionsfähigkeit, Sprachbewusstsein, Schriftkultur und Textverständnis. Und diese Fertigkeiten-<br />

Entwicklung beginnt ganz früh im Elternhaus.<br />

Literacy ist ein Beispiel dafür, dass sich die Kapazitäten und Fertigkeiten von Kindern durch die Erwachsenen-<br />

Kind-Beziehung herausbilden (Pianta, 2006). Literacy ist ein Niederschlag solcher Interaktionen. Am<br />

häufigsten wurde diese Interaktion beim Bilderbuchbetrachten von Müttern oder Lehrern mit Kindern<br />

untersucht (u.a. Zevenbergen & Whitehurst, 2003). Es ist ganz klar, dass die Interaktion mit Erwachsenen<br />

eine viel größere und nachhaltigere Rolle in der Literacy-Entwicklung spielt als nur ein Setting mit<br />

Bilderbuchlesen. Beziehung unterstützt Literacy durch Sprachanregung und Konversation,<br />

Aufmerksamkeitsregelung, Aktivierung des Nervensystems, Interesse, emotionale Erfahrung, direkte<br />

Übermittlung von phonologischer Information und Inhalt sowie die Motivation etwas zu verstehen, was auch<br />

das kulturelle Verständnis fördert (vgl. u.a. Whitehurst & Lonigan, 1998). Im Kontext der Beziehung zu<br />

Erwachsenen tritt die Erfahrung mit Literacy auf mehreren Ebenen über mehrere Domänen hinweg auf,<br />

indem sie sowohl die Motivations- und Vorstellungssysteme aktivieren, die ein Interesse an schriftlichen<br />

Worten, die Meinungen und Informationen enthalten, als auch kognitive, linguistische und<br />

aufmerksamkeitssteuernde Mechanismen, die Regeln übermitteln, z.B. wie Phoneme und Grapheme<br />

aufeinander abgestimmt sind.<br />

4. Zweitspracherwerb<br />

Es gibt keine einfache Erklärung dafür, dass manche Menschen erfolgreich eine zweite Sprache lernen und<br />

manche nicht. Sozialisation und Bildung, Erfahrung, Unterschiede der Einstellungen, der Persönlichkeit, des<br />

Alters und der Motivation, alle diese Faktoren spielen eine Rolle (vgl. u.a. Bialstock & Hakuta, 1994, Tabors,<br />

1997).<br />

Um eine zweite Sprache zu lernen, muss es für das Lernen der neuen Sprache einen Antrieb geben. Das<br />

reicht aber nicht aus, der Lerner muss auch in der Lage sein, Sprache zu verarbeiten, also über ein<br />

Sprachvermögen verfügen: z.B. Laute unterscheiden und bilden, Schallfolgen z.B. „Hase“ mit Objekten<br />

verknüpfen und sich das auch merken können, einzelne Wörter zu größeren Einheiten zusammenfügen usw.<br />

Das sind wichtige Voraussetzungen, sie nutzen aber nicht viel, wenn das lernende Kind keinen Zugang zur<br />

Sprache hat, wie dies bei einer Kommunikation in seiner Umgebung oder auch beim Unterricht der Fall wäre.<br />

Sprachentwicklung ist ein Prozess, der mit anderen Entwicklungs- und Reifeprozessen einhergeht. Sie hängt<br />

einerseits von biologischen Faktoren ab wie z.B.:<br />

- Sprachlernfähigkeit, d.h. der Fähigkeit Sprache zu verarbeiten – sprachliche Äußerungen zu bilden<br />

und zu verstehen<br />

- sprechmotorischen Voraussetzungen<br />

- Merkfähigkeit<br />

- Motivation und Interesse<br />

Dies sind Fähigkeiten, die das Kind gewissermaßen selbst „mitbringen“ (entwickeln) muss. Was Erwachsene<br />

aber zu einer gelingenden Sprachentwicklung beitragen können, das sind Lerngelegenheiten. Das können<br />

sowohl Interaktionen mit Erwachsenen oder Gleichaltrigen sein als auch die Auseinandersetzung mit Bild und<br />

Schrift. Wichtig ist die Menge, Fülle und die Qualität von sprachlicher Anregung und von Gelegenheiten zu<br />

kommunizieren. Je mehr Gelegenheiten das Kind also hat, sprachlich aktiv zu werden, je mehr komplexe und<br />

interaktiv ausgerichtete sprachliche Anregungen es bekommt, desto schneller schreitet der Erwerbsprozess<br />

voraussichtlich voran. Hier gibt es eine Fülle von Möglichkeiten, die in den Kindergartenalltag eingeflochten<br />

werden können, zum Beispiel: Informative Gespräche mit den Kindern führen, Diskussionen und Dialoge in<br />

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Kleingruppen führen, Reime verwenden, sprachgebundene Spiele spielen, Vorlesen – nicht nur Prosa, auch<br />

Poesie, gemeinsame tägliche Vorleserituale, Geschichten nacherzählen, Rollenspiele (Restaurant, Post, Schule<br />

usw.), Briefe schreiben….<br />

Viele Kinder haben von ihren Eltern keine Literacy-Erziehung erhalten. Umso wichtiger ist es, dass vor allem<br />

die Migrantenkinder, die eine zweite Sprache lernen müssen, besonders viel Sprachanregung und besonders<br />

viele Sprechanlässe brauchen, bei denen Sie die neue Sprache und die pragmatischen Kompetenzen<br />

trainieren können.<br />

5. <strong>Mehrsprachigkeit</strong> und kulturelle Identität<br />

<strong>Mehrsprachigkeit</strong>, also Aufwachsen mit mehreren Sprachen, ist für die meisten Kinder in der heutigen Welt<br />

völlig selbstverständlich. Auch in vielen europäischen Ländern ist Zweisprachigkeit Normalität. Deutschland<br />

aber hat eine eher monolinguale Sprachtradition und tut sich im Bildungssystem noch schwer, eine<br />

mehrsprachige Perspektive einzunehmen. Mehrsprachiges Aufwachsen wird immer noch als Ausnahme und<br />

als Ursache von mancherlei Problemen gesehen.<br />

Dabei ist Zweisprachigkeit kein Risikofaktor für die Sprachentwicklung – im Gegenteil, Kinder können ohne<br />

Probleme mehrere Sprachen nebeneinander lernen. Heute geht man davon aus, dass ein früher Kontakt mit<br />

anderen Sprachen die kognitiven Fähigkeiten fördert. Mehrsprachige Kinder lernen z.B. leichter als<br />

monolinguale Kinder, dass es verschiedene „Sprachcodes“ gibt, die man je nach Situation wechseln kann.<br />

Bereits 5-Jährige wissen, welche Sprachen sie sprechen und für die meisten mehrsprachigen Kinder in<br />

Deutschland ist der Sprachenwechsel neben der deutschen Sprache das zweitwichtigste<br />

Verständigungsmittel.<br />

Mehrsprachige Kinder entwickeln mit der Zeit eine Art „Sprach-Entscheidungssystem“: Sie wählen zuerst die<br />

Sprache, die die Person verwendet, mit der sie sprechen. Außer der Sprache des Gesprächspartners spielt<br />

aber auch noch die Situation und die Funktion der Kommunikation eine Rolle: Z.B. wenn die Sprache<br />

gefühlvoll sein soll, dann werden eher Begriffe aus der Sprache verwendet, in der der Sprecher eher Gefühle<br />

ausdrücken kann. Mehrsprachige Kinder in Deutschland haben nach Untersuchungen eher nicht-deutsche<br />

Freunde. Mit diesen unterhalten sie sich in der Regel auf Deutsch oder sie mischen Erst- und Zweitsprache (=<br />

vgl. Ethnolekt z.B. Türkendeutsch). Dies tun sie aber nicht willkürlich, sondern bestimmten Regeln folgend.<br />

Sie sind sich sehr wohl bewusst, wann sie welche Sprache einsetzen und mischen die Sprachen nicht, wenn<br />

sie sich mit einsprachigen Menschen unterhalten.<br />

Immer wieder kann man in der Kindertageseinrichtung beobachten, dass sich bilinguale Kinder weigern, in<br />

der Öffentlichkeit mit ihrer Mutter in der Familiensprache zu sprechen. Manchmal schämen sie sich für diese<br />

Sprache. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn diese in der Umgebung einen niedrigen Stellenwert hat und<br />

nicht genug Wertschätzung erfährt. Auch wenn die Sprache des Kindes geschätzt wird, kommt es durchaus<br />

vor, dass ein Kind phasenweise seine Erstsprache verweigert.<br />

McLaughlin stellte fest, dass die Aufrechterhaltung von zwei Sprachen von einer ganzen Reihe von Faktoren<br />

abhängt, wie das Prestige einer Sprache, kultureller Druck, Motivation, Möglichkeiten des Gebrauchs – aber<br />

nicht das Alter (McLaughlin, 1994, S. 73). Es ist eher selten, dass beide Sprachen gleich gut beherrscht<br />

werden. Kinder beherrschen beide Sprachen nur dann gleich gut, wenn sie dies als wertvoll oder nützlich<br />

wahrnehmen. Kinder haben ihre Einstellungen zur Erstsprache ebenso wie sie sie zur Zweitsprache und deren<br />

Sprechern gegenüber haben. Diese Einstellungen sind wichtig für den Erwerbserfolg in der zweiten Sprache,<br />

aber auch für den Erhalt der Erstsprachfähigkeiten (Colliers, 1995).<br />

In beiden Erst- und Zweitspracherwerb unterstützt eine anregende und sprachlich reichhaltige Umgebung die<br />

Sprachentwicklung. Wie oft und wie gut Eltern mit ihren Kindern kommunizieren ist ein starker Prädiktor<br />

dafür, wie schnell Kinder ihre sprachlichen Fähigkeiten entwickeln. Indem man Kinder dazu ermuntert, ihre<br />

Wünsche, Gedanken und Gefühle entweder in beiden oder in nur einer Sprache auszudrücken, erweitern<br />

Kinder ihre sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten.<br />

Kleine Kinder werden bilingual, wenn es eine wirkliche Notwendigkeit gibt, in beiden Sprachen zu sprechen<br />

und sie werden sehr schnell wieder monolingual, wenn es nicht mehr notwendig ist, beide Sprachen zu<br />

verwenden. Wenn die Interaktionen der Kinder außerhalb der Familie nur in einer Sprache stattfinden,<br />

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werden sie sehr schnell in diese Sprache wechseln und werden ihre erste Sprache nur noch vorwiegend<br />

rezeptiv beherrschen.<br />

Wenn Kinder nur wenige Gelegenheiten haben, Sprache zu verwenden und nicht mit einem reichhaltigen<br />

Erfahrungsfundament versorgt wurden, dann werden sie die zweite Sprache nicht gut lernen und gleichzeitig<br />

werden sie ihre Erstsprache auch nicht weiterentwickeln.<br />

Das Lernen einer Sprache erfolgt nicht linear - und formaler Unterricht beschleunigt den Lernprozess nicht.<br />

Spracherwerb ist ein dynamischer Prozess – Sprache muss bedeutungsvoll sein und es bedarf vieler<br />

Gelegenheiten, sie auch einsetzen zu können (Krashen, 1996).<br />

In vielen wiss. Arbeiten wird dargelegt, dass Kinder keine vollständige Literalität und Bildung in der zweiten<br />

Sprache erreichen, wenn sie ihre erste Sprache nicht vollständig erwerben (Collier & Thomas, 1995). Die<br />

interaktive Beziehung zwischen Sprachentwicklung und kognitiver Entwicklung ist nicht zu unterschätzen und<br />

das Erhalten und Ausbauen der Familiensprache unterstützt die Fortsetzung der kognitiven Entwicklung:<br />

Alles, was ein Kind in der Erstsprache erworben hat – Literacy-Entwicklung, schulbezogene Fähigkeiten, die<br />

Ausbildung von Konzepten, Fachwissen und Lernstrategien werden in die zweite Sprache übertragen.<br />

Gelesen wird in allen Sprachen gleich und Lesen wird in allen Sprachen gleich vermittelt.<br />

Wenn Kinder alle neuen Informationen und Fertigkeiten nur auf Deutsch erhalten, wird ihre erste Sprache<br />

stagnieren und nicht mit dem neuen Wissen Schritt halten können. Das kann zu einem begrenzten<br />

Bilingualismus führen. Die Förderung nur der deutschen Sprache vermittelt den Kindern den Eindruck, dass<br />

verschiedene Sprachen und Kulturen nicht wertgeschätzt werden.<br />

Gesellschaftlich ist die Zweisprachigkeit von Kindern z.B. türkischer, pakistanischer oder albanischer<br />

Herkunftssprachen häufig nicht als kultureller Wert und Bereicherung anerkannt, wie das z.B. bei der so<br />

genannten „Elite-Zweisprachigkeit" der Fall ist, also etwa bei Englisch oder Französisch, sondern es besteht<br />

ein Anpassungsdruck in Richtung auf eine Einsprachigkeit in der Zweitsprache. Die Erstsprache ist aber ein<br />

wichtiger Teil der Identität der nicht deutschsprachig aufwachsenden Kinder und alle Kinder brauchen die<br />

Wertschätzung ihrer Person als Ganzes. Viele Kinder haben nicht zu wenig Motivation, eine zweite Sprache<br />

zu lernen, sondern zu wenig Selbstvertrauen, dies zu versuchen.<br />

In vielen Kindertageseinrichtungen sind so viele unterschiedliche Sprachen vertreten, dass es unmöglich ist,<br />

jedes Kind individuell in seiner Erstsprache zu fördern; das ist einerseits Aufgabe der Eltern, die ihren Kindern<br />

eine positive Einstellung zu beiden Kulturen vermitteln und ihnen eine sprachanregende Umgebung in der<br />

Erstsprache bieten sollten: sich mit den Kindern unterhalten, Ihnen Dinge erklären, Geschichten erzählen und<br />

sich zusammen mit Büchern beschäftigen. Andererseits ist es die Aufgabe der Erzieherin, die Kinder vor allem<br />

durch Wertschätzung und Interesse zu ermuntern, beide Kulturen und Sprachen als gleichwertig zu<br />

erkennen. Wenn wir eine neue Sprache lernen, lernen wir nicht nur einen neuen Wortschatz und eine neue<br />

Grammatik, sondern wir lernen auch neue Arten der Organisation von Konzepten, neue Arten des Denkens<br />

und neue Wege eine Sprache zu lernen (Bialstock & Hakuta, 1994, 122).<br />

Kinder mit Migrationshintergrund leben meist in zwei Kulturen – Familien- und Umgebungskultur. Unter<br />

einer bikulturellen Identität wird eine persönliche und ganzheitliche Identität verstanden, die<br />

Kommunikations- und Handlungsfähigkeit in zwei kulturellen und sprachlichen Bezugssystemen beinhaltet.<br />

Migrantenkinder müssen diese Identität erst entwickeln. Sie erfahren, dass sie zu einer Minderheit in der<br />

Gesellschaft gehören und eine andere Sprache sprechen; sie haben deshalb oft das Gefühl des Andersseins.<br />

Das Hauptziel einer interkulturellen Erziehung muss sein, dass sich die Kinder in beiden Kulturen wohl fühlen.<br />

Deshalb ist es sehr wichtig, dass Erziehrinnen ihre eigenen Einstellungen, Konzepte und Handlungen im<br />

Bereich der interkulturellen Erziehung immer wieder kritisch reflektieren.<br />

Es ist wichtig, einen positiven Unterschiedsbegriff aufzubauen, der von der Gleichwertigkeit der Kulturen<br />

ausgeht, so dass sich das Kind allmählich mit beiden Kulturen identifizieren kann. Identität ist eng verknüpft<br />

mit der familiären und gesellschaftlichen Sozialisation. Wenn die Eltern eines Kindes kein Problem haben, sich<br />

in eine Gesellschaft zu integrieren, viel Kontakt zu anderen Kulturen pflegen und vielleicht noch mehrere<br />

Sprachen sprechen, dann werden auch ihre Kinder keine Probleme mit einer bikulturellen Identität haben.<br />

Das Aufwachsen eines Migrantenkindes in der deutschen Umgebung ohne "Identitätsverlust" oder<br />

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"kulturelle Zerrissenheit" gelingt nur, wenn das Kind auch erlebt, dass es keine Kultur gibt, die besser oder<br />

schlechter als eine andere ist, sondern dass die Kulturen einfach nur unterschiedlich sind.<br />

Zum Beispiel kann neben dem Thema „Weihnachten“ auch einmal das islamische „Bayram“ besprochen und<br />

gefeiert werden, so dass die muslimischen Kinder in gleichem Maße wie die christlichen etwas über ihre Feste<br />

erfahren und sehen, es gibt da zwar große Unterschiede, aber beide sind gleich schöne Feste für die Kinder.<br />

Oder nicht-deutsche Eltern können dem Kind ein deutsches Buch in der deutschen Sprache vorlesen - das<br />

können auch Eltern, die noch nicht so gut Deutsch sprechen. Die Eltern sollten sich aber über die Geschichte<br />

in der Familiensprache unterhalten und auch die Fragen der Kinder in dieser Sprache beantworten. So erfährt<br />

das Kind eine gleiche Wertschätzung beider Sprachen.<br />

Ganz gleich, ob die Erst- oder die Zweitsprache gefördert werden soll, nötig sind Formen der sprachlichen<br />

Bildung, die sehr früh anfangen und die sich längerfristig auf die Sprachentwicklung auswirken.<br />

Das Konzept der Literacy-Erziehung im Vorschulalter bezieht sich auf die Förderung von Lesebereitschaft,<br />

Erzählkompetenz und Schriftspracherwerb und die damit verbundenen „Kulturtechniken“, Interessen und<br />

Kompetenzen, wie z.B. die spielerische Begegnung mit Bilderbüchern, Erzählungen und Schriftkultur, der<br />

Förderung von Interesse an sprachlichen Mitteilungen, von Spaß an Sprache oder der Förderung von<br />

„Textverständnis“ und Erzählkompetenz.<br />

Schon bei der Förderung der Vorläuferfertigkeiten des Schriftspracherwerbs sollten sich pädagogische<br />

Fachkräfte nicht einseitig auf die deutsche Sprache einengen, sondern auch Kompetenzen aus anderen<br />

Sprach- und Schriftkulturen aufgreifen. Einsprachig aufwachsende Kinder erfahren dadurch ebenfalls einen<br />

Lernzugewinn - hier erfahren sie im täglichen Umgang, dass man seine Gedanken auch in ganz anderen<br />

Gesten, Lauten und Worten darstellen kann und dass Laute mit ganz unterschiedlichen Zeichen verbunden<br />

werden können.<br />

Erzieher können bilinguale Texte verwenden oder Geschichten, in denen die Kultur eines Kindes vorkommt;<br />

sie können den Gruppenraum mit Postern oder Gegenständen dekorieren, die die unterschiedlichen Kulturen<br />

widerspiegeln. Sie können auch ganze Projekte organisieren, die sich mit den einzelnen kulturellen Inhalten<br />

befassen und dabei auch die Familien der Kinder oder andere Personen mit dem gleichen kulturellen<br />

Hintergrund mit einbeziehen. Die Wichtigkeit, die Heimkultur der Kinder in den Alltag mit einzubeziehen ist<br />

ein gut dokumentiertes Konzept in der bilingualen Erziehung (Doherty, Hilberg, Pinal, & Tharp, 2003).<br />

Kulturelle Projekte können viele Fertigkeiten einbeziehen, einschließlich lesen, schreiben, sprechen, etwas<br />

vorführen oder Bilder malen. Solche kulturellen Projekte können auch mit anderen Konzepten kombiniert<br />

werden, zum Beispiel mit projekt-basiertem oder kooperativem Lernen und sie können an schon erworbenes<br />

Wissen geknüpft werden. Immer geht es darum, den Kindern die kulturellen Unterschiede einerseits<br />

wahrnehmbar zu machen aber diese auch gleichzeitig wertzuschätzen.<br />

Geschichtenerzählen ist eine andere Möglichkeit Sprache und Kultur einzubeziehen. Vielleicht kann ein<br />

älteres Kind eine Geschichte oder ein Märchen aus seinem Kulturkreis erzählen – einmal auf Deutsch, ein<br />

anderes Mal in der Herkunftssprache. Es können aber auch die Eltern oder andere Angehörige des jeweiligen<br />

Kulturkreises in die Einrichtung kommen und Geschichten erzählen - dies ist vor allem dann sinnvoll, wenn es<br />

keine schriftsprachlichen Materialen für eine bestimmte Sprache gibt. Diese Erfahrung kann Kindern helfen<br />

Selbstvertrauen aufzubauen und sie stellt gleichzeitig eine kulturelle Wertschätzung dar.<br />

Größere Kinder können auch einen Gegenstand oder etwas Essbares mitbringen, alles was ihre Kultur<br />

repräsentiert, und etwas über dessen Gebrauch, über die Herkunft erzählen oder darüber erzählen wie und<br />

woraus er gemacht wurde.<br />

Sie sehen, es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, kulturelle Unterschiede zu thematisieren und sie<br />

gleichermaßen wertzuschätzen. Damit dies aber möglich ist, muss man allerdings auch wissen, zu welchem<br />

Kulturkreis das Kind überhaupt gehört und welche Sprache in seiner Familie überhaupt gesprochen wird.<br />

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Teil II.<br />

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6. Erfassung der sprachlichen Kompetenzen und familiäre Hintergründe<br />

Wichtig für eine erfolgreiche Sprachförderung ist eine breite Erfassung der Sprachkompetenz des Kindes. Bei<br />

Zweitsprachlernern spielen das Alter, in dem begonnen wird, die zweite Sprache zu lernen, und die Dauer des<br />

bisherigen Erwerbsprozesses eine Rolle.<br />

Sprachstandserhebungen sollten nicht erst kurz vor der Einschulung durchgeführt werden, wenn gar keine<br />

Zeit mehr für eine angemessene Förderung der Sprache bleibt. Spracherwerb braucht Zeit, er bedarf einer<br />

sprachanregenden Umgebung und regelmäßig angebotener Aktivitäten. <strong>Mehrsprachigkeit</strong> und bikulturelle<br />

Identität umfassen mehr als das funktionale Beherrschen der jeweiligen Sprachen, sie beeinflussen auch das<br />

allgemeine Sprachverhalten.<br />

Familiensprache und die Familie des Kindes<br />

Für das Erlernen einer Zweitsprache sind das familiäre Umfeld und die Qualität der in der Familie<br />

gesprochenen Sprache von großer Bedeutung. So können sich die Sprachbiographien von Migrantenfamilien<br />

je nach Herkunftsregion ihres Heimatlandes deutlich von einander unterscheiden. Auch die<br />

Bildungsbiographien sind sehr unterschiedlich.<br />

Bei der Förderung von Zweisprachigkeit von Kindern im vorschulischen Bereich ist die „Fördersituation“, die<br />

„pädagogische Situation“ natürlich eine andere als in der Familie oder später in der Schule.<br />

- Die Gruppensituation ist sehr heterogen:<br />

- Die Sprachbiographien unterscheiden sich<br />

- die Motive eine Zweitsprache zu erwerben differieren<br />

- die Förderung in der Familie ist unterschiedlich<br />

- der Sprachstand in der Erst- und / oder Zweitsprache ist nicht gleich<br />

- es gibt unterschiedliche „Sprachumfelder“<br />

Der Zweitspracherwerb ist bei Kindern wie der Erwerb der Erstsprache ein natürlicher Spracherwerb und als<br />

Teil der Gesamtentwicklung zu betrachten.<br />

Wie bei allen Entwicklungsprozessen nutzen Kinder bewusst oder unbewusst ihr Vorwissen.<br />

Die pädagogische Kraft, welche die Zweitsprache fördert ist deshalb auf zahlreiche Informationen<br />

angewiesen, um die gerade bei kleinen Kindern notwendige individuelle, am Sprachstand, der Entwicklung<br />

und dem familiären Umfeld orientierte Förderung zu gewährleisten.<br />

Eine Unterstützung des Zweitspracherwerbs in Kitas setzt Wissen über die Kinder voraus:<br />

- über ihre Familien und deren Familiensprache,<br />

- über die Sprach- und Bildungsbiographie der Familie, und<br />

- über den Sprachstand des Kindes<br />

Es ist nicht immer ganz einfach, die Herkunftssprache der Familie zu ermitteln. Wie eine soziolinguistische<br />

Begleitstudie zur „Sprachstandserhebung in multikulturellen Volksschulklassen“ in Wien zeigt, gibt es eine<br />

große Divergenz zwischen den offiziellen Angaben über die Familiensprache und dem tatsächlichen<br />

Sprachgebrauch vor allem bei der türkischen Migrantengruppe (Karpf et al., 2006). Die Antworten darauf,<br />

warum denn bei der Schuleinschreibung andere Angaben gemacht wurden, waren sehr vielfältig. Zum Teil<br />

deuteten die Gründe auf ein sehr geringes Selbstwertgefühl bezüglich der ethnischen Herkunft hin. In dieser<br />

Begleitstudie wurde mit Tiefeninterviews gearbeitet, nur so konnten die wirklichen Migrationshintergründe<br />

und die tatsächliche sprachliche Situation in Erfahrung gebracht werden. Das heißt, es braucht vor allem Zeit<br />

für ein einfühlsames Elterngespräch - unter Umständen mit einem Übersetzer, der aus der näheren Verwandt-<br />

oder Bekanntschaft kommen kann. Wenn nicht klar ist, welche Sprache in der Familie tatsächlich gesprochen<br />

wird, kann es passieren, dass auch in einer wohlmeinenden, multikulturell ausgerichteten<br />

Kindertageseinrichtung von einem Kind das z.B. vermeintlich türkisch spricht, bei der Förderung immer etwas<br />

Türkisches erwartet wird, obwohl es z.B. kurdischer Herkunft ist.<br />

Ohne dieses vielfältige Wissen ist der pädagogische Leitgedanke „den Menschen da abzuholen, wo er steht“<br />

nicht umzusetzen. Dieses Wissen muss individuell im Elterngespräch herausgearbeitet werden und dazu<br />

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bedarf es einer interkulturellen Handlungskompetenz, d.h. es geht darum, sich mit Neugier und Offenheit<br />

empathisch einzufühlen, sich in die Lage des anderen versetzen zu können, zuzuhören, dem anderen<br />

Wertschätzung entgegenzubringen und eine tragfähige Kommunikationsbeziehung aufzubauen ohne<br />

Wertung der anderen Kultur und mit Respektierung einer anderen Meinung. Ohne diese Fähigkeiten würde<br />

das reine Ansammeln von Wissen über die Migrantenfamilie nicht sehr viel nutzen. Für das eigene<br />

professionelle Handeln ist es zudem wichtig, das eigene Handeln zu reflektieren und sich mit den eigenen<br />

Vorurteilen, Ängsten und Unsicherheiten auseinanderzusetzen.<br />

Die Förderung der Zweitsprache kann wie die Entwicklung der Familiensprache nur im Kontext der<br />

Gesamtentwicklung eines Kindes gesehen werden. Informationen zum Sprachstand und zur Sprachkultur in<br />

der Familie sind wichtige Ausgangspunkte für Erfolg versprechende Fördermaßnahmen.<br />

Ein wichtiger Faktor für alle Förderansätze ist das Klima, in dem diese erfolgen. Kinder reagieren sehr<br />

empfindlich auf „Rückmeldungen“ der Erzieherinnen, sie wollen Spaß haben und Erfolg erleben.<br />

Grundlagen für praktische Fördermaßnahmen sind:<br />

- systematische Beobachtung der einzelnen Kinder<br />

- eine sprachanregende Umgebung und sprachanregende Situationen<br />

- Bezug zum pädagogischen Angebot<br />

- interessierte und motivierte Kinder<br />

Der Beobachtungsbogen sismik unterstützt als eine anregende Beobachtungshilfe, die an konkreten<br />

pädagogischen und Lernsituationen unter Berücksichtigung der Individualität des einzelnen Kindes und seines<br />

familiären und kulturellen Hintergrundes ansetzt, eine kind- und entwicklungsgemäße Sprachförderung des<br />

Kindes.<br />

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Literatur:<br />

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