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<strong>Georg</strong> <strong>Horcicka</strong>, Klagenfurt<br />
»LE NOZZE DI FIGARO« - EIN GLÜCKSFALL DER<br />
MUSIKGESCHICHTE*<br />
Mozarts Suche nach einem Stoff<br />
Von Johannes Brahms ist zu MOZARTs »Figaro« die Äußerung (an Theodor<br />
Billroth) überliefert, 1 es sei ihm »... absolut unverständlich, wie jemand etwas so<br />
vollkommenes schaffen kann«. Generationen von Musikern, Kenner wie Laien,<br />
mochten Ähnliches erkannt oder gefühlt haben, denn »Le nozze di Figaro« ragt<br />
sogar unter MOZARTs »Meisteropern« noch hervor, wie »aus einem Guss«,<br />
makellos, ohne entscheidende Schwäche – vollkommen eben, oder soll man sagen:<br />
ein Wunder? - Vielleicht das einzig zutreffende Wort.<br />
Wunder ereignen sich bekanntlich selten, aber sie ereignen sich. So ist die<br />
Entwicklung von »Le nozze di Figaro« einer einmaligen Konjunktion im Ablauf<br />
der Geistesgeschichte zu verdanken, da drei Genies zusammengeführt wurden: Ein<br />
genialer Komödiendichter erfindet in einer geistig eruptiven Zeit, fußend auf der<br />
großen literarischen Tradition seiner französischen Muttersprache, eine der geistreichsten<br />
Komödien der Weltliteratur. Ein italienischer Librettist, genial auch er<br />
und wie jener eine typische Gestalt seines Jahrhunderts, verfertigt aus der Komödie<br />
einen Operntext, bis zu Richard Wagner und Hugo von Hofmannsthal wohl den<br />
besten, den es gibt. Und dieses Textbuch vertont dann der größte Musikdramatiker<br />
während der glücklichsten Zeit seiner Wiener Jahre, Ende 1785/86, in einer - heute<br />
noch zu besichtigenden - Wohnung im 1. Stock des sog. »Camesina«-Hauses der<br />
(ehemals Großen) Schulerstraße (heute Nr. 8). Das Ergebnis heißt »Le nozze di<br />
Figaro«.<br />
Über die Entstehungsgeschichte sind wir, auch ein Glücksfall, relativ gut informiert:<br />
Am 7. Mai 1783 noch schreibt MOZART an seinen Vater nach Salzburg:<br />
2 »...ich habe leicht 100 – Ja wohl mehr bücheln durchgesehen – allein – ich<br />
habe fast kein einziges gefunden mit welchem ich zufrieden seyn könnte; [. . .] und<br />
ich möchte gar zu gerne mich auch in einer Welschen opera zeigen.«<br />
Kommt diese kritische Zurückhaltung überraschend? Ja – und nein.<br />
MOZART hatte bisher meist schwache, ja auch schlechte Textbücher vertont, war<br />
aber, da es sich um Auftragswerke handelte, in der Wahl seiner Textdichter nicht<br />
*) Gekürzte Fassung eines Vortrages im Wissenschaftlichen Beirat der Gesellschaft für Ganzheitsforschung,<br />
März 2003<br />
1 ) Zitiert von Anton NEUMAYR: Musik und Medizin. Edition Wien. 2. Aufl. 1988, 73.<br />
2 ) BAUER-DEUTSCH III. Nr. 745. 268. Z. 9 – 10, 20 – 21.<br />
59
frei. Solcherart gebunden, dürfte er dennoch schon in seinen frühen Jahren auf die<br />
Gestaltung der Texte Einfluss genommen haben, insbesondere auf deren dramatische<br />
Qualität. Gesichert sind seine intensive Mitwirkung am Text des<br />
»Idomeneo«, die sogar zu einem Verdruss mit dem Librettisten Varesco führte,<br />
sowie die gleichfalls nicht spannungsfreie Zusammenarbeit mit Johann Gottlieb<br />
Stephanie d.J., dem Textautor der »Entführung aus dem Serail«. Die Briefe<br />
MOZARTs an seinen Vater aus dieser Zeit 3 bieten als eine biographische Quelle<br />
ersten Ranges ein Porträt des reifenden Musikdramatikers. Von einer mangelnden<br />
Textkritik MOZARTs kann also überhaupt keine Rede sein.<br />
Trotzdem beginnt MOZART etwa um die Jahresmitte 1783 die Komposition<br />
von »Lo sposo deluso« mit dem Text eines unbekannt gebliebenen Autors und<br />
dann gegen Jahresende noch des Buches zu »L’oca del Cairo«, das neuerlich vom<br />
Salzburger Hofkaplan Varesco stammte. War für die Wahl dieser beiden überaus<br />
banalen Texte wohl jener – brieflich dokumentierte – Wunsch nach einer<br />
»Welschen opera« maßgebend, so für den Abbruch der Komposition die spätere<br />
Einsicht in deren Minderwertigkeit. Man staunt nur, dass MOZART, nachdem er,<br />
wie erwähnt, »leicht 100 bücheln« durchgesehen hatte, diese Arbeiten überhaupt<br />
begann.<br />
MOZART stand offensichtlich wieder an einem Wendepunkt seiner künstlerischen<br />
Entwicklung: nun an der Schwelle seiner Meisterschaft, die an Vorbildern<br />
gewachsen und im eigenen Schaffen gereift war. Seiner musikdramatischen Fähigkeiten<br />
völlig sicher geworden, wollte er sich bezeichnenderweise »an einer<br />
Welschen opera« zeigen, also an einer Opera buffa, die in Wien gerade in den Jahren<br />
1783/84 von den großen Italienern Salieri, Cimarosa, Sarti, Anfossi,<br />
Gazzaniga, Guglielmi oder Paisiello zu neuer Blüte geführt wurde und die dem<br />
Musikdramatiker ungleich größere Möglichkeiten bot als der stereotype Wechsel<br />
von Rezitativ und Arie in der mittlerweilen antiquierten Seria. Daher das jahrelange<br />
Suchen MOZARTs nach einem geeigneten Stoff und daher auch die nun –<br />
verzögert – angewandte Sorgfalt in der Textwahl, die freilich auch dadurch ermöglicht<br />
wurde, dass die endlich folgende Oper – erstmals – zunächst ohne konkreten<br />
Auftrag entstand.<br />
Über die Entstehung von »Le nozze di Figaro« besitzen wir einen sehr anschaulichen<br />
und auch detaillierten Bericht des Textdichters Lorenzo DA PONTE in<br />
seinen Lebenserinnerungen, 4 die allerdings erst Jahrzehnte später (1823ff)<br />
niedergeschrieben wurden und deren Zuverlässigkeit auch daran leidet, dass DA<br />
PONTE offensichtlich bestrebt war, sein Verdienst am Zustandekommen des Wer-<br />
3 ) BAUER-DEUTSCH III. 12 – 92 (zu »Idomeneo«); 160 – 168 (zu «Entführung«).<br />
4 ) Lorenzo DA PONTE: Mein abenteuerliches Leben. Die Memoiren des Mozart-Librettisten.<br />
Deutsche Neufassung von Walter KLEFISCH. (Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft,<br />
6). Reinbek bei Hamburg 1960.<br />
60
kes und insbesondere an dessen Aufführung über Gebühr hervorzuheben. Umso<br />
bedeutungsvoller ist daher seine Erwähnung, dass die grundsätzliche Entscheidung,<br />
die Komödie »La Folle journée ou Le Mariage de Figaro« des französischen Dichters<br />
BEAUMARCHAIS zur Vorlage eines Operntextes zu nehmen, von MOZART<br />
getroffen wurde. 5 Anderenfalls hätte DA PONTE Jahrzehnte später, als der Erfolg<br />
der Oper längst feststand, gewiss nicht gezögert, auch damit seinen Ruhm zu<br />
mehren.<br />
Beaumarchais<br />
Was mochte MOZART zu dieser Wahl bewogen haben und wer war dieser<br />
BEAUMARCHAIS? Ein blendender Literat jedenfalls, aber auch noch vieles<br />
mehr. Seine Biographie 6 liest sich als eine geradezu atemberaubende Aneinanderreihung<br />
von Erfolgen wie Misserfolgen in vielen und doch sehr unterschiedlichen<br />
Bereichen, aber auch von Skandalen, Prozessen, Ehrenhändeln und Auseinandersetzungen<br />
jeglicher Art, von Phasen des Reichtums und der Armut, hohen gesellschaftlichen<br />
Ansehens wie gerichtlicher Verfolgung. Man bestaunt eine unbestreitbare<br />
Genialität, die Kunst und Leben in einer seltsamen Weise zu vermengen<br />
verstand, eine Persönlichkeit, die von hoher Intelligenz und künstlerischer Sensibilität,<br />
von literarischer Bildung und Begabung ebenso ausgezeichnet war wie auch<br />
getrübt von abenteuerlichem Wagemut und skrupelloser Geschäftstüchtigkeit –<br />
eine schillernde, zwielichtige, aber immer faszinierende Gestalt, wie sie vorzugsweise<br />
das 18. Jahrhundert hervorbrachte, im Wesen verwandt einem Casanova,<br />
Cagliostro oder - DA PONTE (der sich ihm ja auch via MOZART literarisch verband).<br />
Doch als BEAUMARCHAIS 1799 in Paris stirbt, nennt ihn die Todesanzeige<br />
einen »homme de lettres«, wohl in klarer Erkenntnis dessen, was aus seinem<br />
Leben Bestand haben sollte: das literarische Werk.<br />
Sein Meisterwerk: »La Folle journée«<br />
Das tragende Gerüst der Handlung in »La Folle journée« 7 ist eine kunstvolle<br />
Technik der verwickelten und verwirrenden Intrigendramaturgie, die nicht selten<br />
5 ) a.a.O., 87.<br />
6 ) (a) Art. Beaumarchais in: MGG 2 / Personenteil. Bd. 2, Sp. 584 – 588. (b) Norbert MILLER: »Die<br />
Schule der Intrige oder der Bürger als Parvenu. Zur Figaro-Trilogie von Pierre Augustin Caron de<br />
Beaumarchais«, in: Beaumarchais. Figaros Hochzeit. (insel taschenbuch, 228), Frankfurt/M. 1976,<br />
347 – 394.<br />
7 ) Alle Darlegungen nach: Pierre Caron DE BEAUMARCHAIS: La Folle journée ou Le Mariage de<br />
Figaro. Hgg. v. Annie UBERSFELD, Paris 1968 (Les classiques du peuple).<br />
61
einem Schachspiel ähnelt. Lüge, Täuschung, Heuchelei, Verstellung, Verkleidung<br />
und ähnliche Mittel dienen dem Vorantreiben der Handlung, spiegeln sich aber<br />
auch in der Psyche der handelnden Personen. So macht auch die »Folle journée«<br />
ihrem Titel alle Ehre, der ja nicht von ungefähr »Le Mariage de Figaro« hintansetzt.<br />
Die Ereignisse des »tollen Tages« sind das tragende Handlungselement, jenes<br />
in einem atemberaubenden Tempo abrollende Geschehen, das immer wieder neue<br />
Verwicklungen bringt, die ihrerseits zu immer neuen Wendungen führen und dennoch<br />
nicht im allgemeinen Chaos enden. Bei aller Turbulenz bleiben sie doch übersichtlich<br />
und logisch erklärbar, sogar dann, wenn der Zufall einen Plan durchkreuzt<br />
und den mit List und Tücke agierenden Personen die Fäden aus der Hand nimmt.<br />
Diese spielerisch anmutende Leichtigkeit des dramatischen Ablaufes, der sich wie<br />
von selbst ergibt und nicht die Spur irgendeiner Gewaltsamkeit aufweist, begründet<br />
im Verein mit dem geistreichen und witzigen Dialog, der in geschliffenen Pointen<br />
funkelt und durch hintergründige Anspielungen verblüfft, den hohen dichterischen<br />
Wert des Stückes wie den schon zeitgenössischen Ruhm des Autors.<br />
Ein neues Kennzeichen der »Folle journée« ist auch die Wandlung der zuvor<br />
in der »Commedia dell’arte« nur typenhaft agierenden Personen zu echten Menschen<br />
- freilich von einem ganz bestimmten Zuschnitt: Sie sind – fast alle – sehr<br />
geistvoll und witzig, sie beherrschen eine gehobene Lebens- wie Redensart, sie<br />
üben virtuos die Kunst der Intrige, Verstellung und versteckten Bosheiten, sie sind<br />
immer bereit und bestrebt, den eigenen Vorteil, auf wessen Kosten auch immer, zu<br />
suchen, nur eines sind sie nicht: liebenswert. Freilich muss man hiervon Chérubin<br />
und Suzanne ausnehmen, aber sogar sie, die reife Suzanne noch mehr als der<br />
Halbwüchsige (eine der zauberhaftesten Gestalten des europäischen Theaters!),<br />
tragen manchmal zwei Gesichter, lassen manchmal befürchten, dass ihre offensichtlichen<br />
Vorzüge auch ins Gegenteil umschlagen könnten. Und sie alle führen<br />
einen so eigenartig gefühllosen Dialog, der auch die beiden echt Liebenden,<br />
Suzanne und Figaro, nicht ganz verschont. Da brillieren Witz und Geist, blitzen<br />
vollendete Formulierungen und geschliffene Pointen, aber es gibt so selten Äußerungen<br />
tiefen Gefühls, wohl aber dunkle Leidenschaft, Macht- und Besitzgier,<br />
Lüge als Lebenselement, Hinterlist, Bosheit, Schimpfworte jeglicher Art.<br />
Aus diesen Elementen der Komödie erwächst noch ein weiteres ihrer wesentlichen<br />
Merkmale: die gesellschaftskritische Satire auf die sterbende Gesellschaft<br />
des ancien régime. Das mit Witz und Geist gezeichnete Aufbegehren des<br />
dritten Standes gegen den verrotteten Adel ist ein wesentliches Merkmal des<br />
Stückes, aber nicht seine eigentlich tragende Idee. Diese kommt vielmehr in den<br />
Ereignissen des »tollen Tages« zum Ausdruck, die sich ja nicht in einem gesellschaftlichen<br />
Vakuum abspielen können, sondern eines konkreten Rahmens bedürfen,<br />
eben jener aristokratisch dominierten Gesellschaftsordnung. Wie wäre es denn<br />
überhaupt möglich, die dramatische Keimzelle des Stückes, das erotische Begehren<br />
des Grafen nach Suzanne, zu entwickeln, gäbe es nicht alle die Missbräuche und<br />
62
Missstände adeliger Machtausübung, gegen die Figaro und Suzanne ankämpfen?<br />
Es ist wichtig, diesen dramaturgischen Vorrang zu beachten und nicht den äußeren<br />
Rahmen mit dem dargestellten Bild zu verwechseln. Keiner der beiden Gegenspieler,<br />
der Graf wie Figaro, die zugleich Konkurrenten um Liebesglück wie Exponentialfiguren<br />
der beiden einander widerstreitenden sozialen Stände sind, denkt im<br />
Ernst daran, irgendetwas an der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung zu verändern.<br />
Sie bekämpfen einander mit den verfügbaren Mitteln und Strategien, aber<br />
nicht existenziell.<br />
Nichts wäre daher irriger, als die »Folle journée« als ein »Revolutionsdrama«<br />
anzusehen, obwohl dies immer wieder geschah und geschieht. Die ausgeprägt sozialkritischen<br />
Züge der Komödie stehen freilich außer Zweifel, denn immer wieder<br />
stößt man auf versteckte Anspielungen wie unverhüllte Feindseligkeiten dieser Art.<br />
Besonders die große Gerichtsszene des IV. Aktes gerät zu einer unbarmherzigen<br />
Parodie auf richterliche Dummheit und Bestechlichkeit, in die BEAUMARCHAIS<br />
zweifellos auch seine eigene reiche Prozesserfahrung einbrachte.<br />
Königliche Aufführungsverbote, mehrfach ausgesprochen und zurückgenommen,<br />
doch von BEAUMARCHAIS in geschickter Weise genützt, sicherten<br />
dem Stück ein ständig wachsendes Interesse, bis endlich in der denkwürdigen Uraufführung<br />
am 27. April 1784 in der Pariser »Comédie-Française» das vorwiegend<br />
adelige Publikum seine eigene Verspottung bejubelte. Die »Folle journée« wurde<br />
dann rasch ein Welterfolg. Das satirische Bild der vorrevolutionären französischen<br />
Gesellschaft kam ja der zeitbedingt erwachenden Neigung zur Gesellschaftskritik<br />
unmittelbar entgegen, nicht minder freilich taten dies auch der freche Witz und die<br />
provozierende Freizügigkeit, ja Unmoral der dargestellten Liebesbeziehungen. Und<br />
vielleicht wandte sich die Kritik des Hofes und etablierter Kreise auch nicht in<br />
erster Linie gegen die satirischen Angriffe, sondern gegen den Zynismus des<br />
BEAUMARCHAIS, gegen einen Geist, dem nichts heilig schien. Und in diesem,<br />
einem viel tieferen Sinne, war die »Folle journée« wirklich ein »Revolutionsstück«,<br />
denn die französische Revolution entband ja doch in politischer Manifestation<br />
auch eine neue Geisteshaltung, die radikale Nach-Außen-Wendung des europäischen<br />
Menschen, deren Ursprung in einem einzigen Datum nicht zu fixieren, in<br />
der Komödie des BEAUMARCHAIS aber keimhaft vorhanden ist.<br />
»La Folle journée« als Vorlage zu «Le nozze di Figaro«<br />
Von Paris aus trat die »Folle journée« einen beispiellosen Siegeszug an und<br />
nach knapp einem Jahr gab es bereits mehrere deutsche Übersetzungen. Eine von<br />
ihnen, bei Johann Rautenstrauch in Wien verlegt, wollte – man staune! – ausgerechnet<br />
Emanuel Schikaneder, der kluge und allem zugkräftig Neuen aufgeschlos-<br />
63
sene Theatermann, im Feber 1785 mit seiner Truppe in Wien aufführen. 8 Ein Exemplar<br />
dieser Rautenstrauch-Übersetzung fand sich in MOZARTs Nachlass. 9 Es<br />
kann daher, auch im Hinblick auf das frühe Erscheinungsdatum, als gesichert gelten,<br />
dass MOZART die »Folle journée« mittelbar durch Schikaneder kennenlernte<br />
und so seine Entscheidung treffen konnte, daraus die neue Oper zu machen. Eine<br />
sonderbare Fügung beteiligt also den Textdichter der »Zauberflöte« auch an der<br />
Entstehung des »Figaro«.<br />
Mozarts Motive für die Stoffwahl<br />
Welche Motive, so ist zu fragen, könnten MOZART zu dieser glücklichen<br />
Wahl bewogen haben? In der Literatur wird, gewiss zu Recht, die faszinierende<br />
Aktualität der gesellschaftskritischen Komödie vermutet, wodurch erstmals in der<br />
Operngeschichte ein zeitnahes Thema zur Grundlage einer Opernhandlung gemacht<br />
wurde. Es konnte daher mit einem außergewöhnlichen Publikumsinteresse<br />
gerechnet werden, das durch die Skandale in Paris wie durch das heimische Verbot<br />
zusätzlichen Auftrieb erhielt. Die Tendenz des Stückes entsprach aber auch, worauf<br />
Volkmar Braunbehrens hinweist, 10 der Reformpolitik Kaiser Joseph II., die auf<br />
Abschaffung adeliger Privilegien und rechtliche Gleichstellung aller Untertanen<br />
gerichtet war. Eine gewisse Bedeutung könnte auch das Vorbild der Oper »Il<br />
Barbiere di Siviglia ovvero La Precauzione inutile« des Giovanni Paisiello, nach<br />
einem Text von Giuseppe Petrosellini, gehabt haben, dem der erste Teil der<br />
Beaumarchais-Trilogie, »Le Barbier de Séville«, als Vorlage diente. Die Oper<br />
wurde im September 1782 in St. Petersburg uraufgeführt und erlebte danach in<br />
Wien einen geradezu sensationellen Publikumserfolg, so dass MOZART mit<br />
großer Wahrscheinlichkeit eine ähnliche Resonanz auch für einen Opernstoff erwarten<br />
durfte, der die Handlung des »Barbiere di Siviglia« thematisch fortsetzt.<br />
Dennoch: entscheidend kann für MOZARTs Wahl – dieser Befund drängt<br />
sich, wenngleich natürlich spekulativ, geradezu auf – nur die Dramaturgie der Komödienhandlung<br />
gewesen sein, zeigt sich doch diese als ein Meisterwerk schlechthin.<br />
Mit höchster Kunstfertigkeit wird hier eine Handlung entwickelt, die sich in<br />
zwangloser Selbstverständlichkeit wie von selbst ergibt, die zwar kompliziert ist,<br />
aber niemals verworren, vielschichtig, aber dennoch klar, logisch und in sich geschlossen.<br />
Zwei Elemente liegen ihr zugrunde: die Intrige als Gerüst und die Erotik<br />
als psychologische Motivierung. Die Impulse mehrfacher Intrigen und Gegen-In-<br />
8 ) NMA/II/5/16,1: Le nozze di Figaro. Vorwort (Ludwig FINSCHER), VII.<br />
9 ) (a) DEUTSCH, Dokumente, 499. (b) Ulrich KONRAD und Martin STAEHELIN: allzeit ein buch.<br />
Die Bibliothek Wolfgang Amadeus Mozarts. (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek,<br />
66), Wolfenbüttel 1991, 16 u. 86f.<br />
10 ) Volkmar BRAUNBEHRENS: Mozart in Wien. München-Zürich, Piper 1986, 230ff.<br />
64
trigen, die sich miteinander verschränken, treiben das Geschehen unablässig voran<br />
und sorgen mit immer wieder neuen Wendungen wie mit zufälligen Verwicklungen<br />
für die gleichsam atemlose Turbulenz des »tollen Tages«. Dieses virtuose Konzept<br />
muss den Musikdramatiker MOZART einfach fasziniert haben! Nicht minder freilich<br />
auch die subtile, lebendige Charakterisierung der handelnden Personen,<br />
durchaus nicht frei von hintergründiger Doppeldeutigkeit, sowie die meist sogar<br />
mehrseitig erotischen Beziehungen zwischen ihnen, die ein dichtes Spannungsfeld<br />
der Gefühle entstehen lassen. Alles dies dürfte MOZARTs nunmehr geschärftem<br />
Blick die Möglichkeiten einer musikdramatischen Realisierung gezeigt haben –<br />
und vielleicht auch die Chance, dem Vorbild in seinem Geiste und in seiner<br />
musikalischen Sprache noch andere Dimensionen zu erschließen.<br />
Da Ponte - Mozart<br />
Der einmal getroffenen Stoffwahl folgte nun jene des Textdichters. Der<br />
Mann, dem die Aufgabe zufiel, nach dem Originaltext des BEAUMARCHAIS ein<br />
Opern-»Büchl« zu verfassen, hieß bekanntlich Lorenzo DA PONTE, den<br />
MOZART im Hause des Bankiers und Kunstmäzens Baron Raimund Wetzlar von<br />
Plankenstern in Wien um 1783 kennen lernte.<br />
Obwohl DA PONTEs Platz in der Musikgeschichte in erster Linie auf der<br />
Zusammenarbeit mit MOZART gründet, war er dessen ungeachtet einer der bedeutendsten<br />
Librettisten des Jahrhunderts, von umfassender literarischer Bildung,<br />
das metrische wie stilistische Repertoire der italienischen Dichtung souverän beherrschend<br />
und mit allen Erfordernissen und Praktiken des Theaterlebens vertraut.<br />
Er war sicher kein »professioneller« Abenteurer und führte doch in einem ständigen<br />
Auf und Ab von Erfolgen und Misserfolgen, Wohlstand und Armut, ein an<br />
Abenteuern überreiches Leben, - vielleicht wider Willen, da im Grunde nach Geborgenheit<br />
und Ruhe suchend, was seine meist langjährigen Partner- und Freundschaften<br />
andeuten.<br />
Die Entstehung von »Le nozze di Figaro«<br />
Es ist durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass DA PONTE mit seinem<br />
sicheren Instinkt für erfolgversprechende Projekte MOZART in der Wahl des<br />
Stoffes der »Folle journée« bestärkte. Ob DA PONTE sich MOZART zu gemeinsamer<br />
Arbeit antrug, oder MOZART ihn hierzu aufforderte, ist unbekannt, aber<br />
unerheblich; beide dürften gewusst haben, wen sie vor sich hatten. Die größte<br />
Schwierigkeit, die sich der gemeinsamen Arbeit zunächst entgegenstellte, war das<br />
Fehlen eines konkreten Auftrages, bei den damaligen Verhältnissen des Opernbetriebes<br />
ein enormes Risiko. DA PONTE, der damals gerade die Gunst des Kaisers<br />
65
genoss, dürfte MOZARTs Bedenken zerstreut haben. Es lag aber auch das Anerbieten<br />
des Barons Wetzlar vor, den Textdichter – und wohl auch den Komponisten<br />
– finanziell schadlos zu halten, sollte eine Aufführung in Wien, allenfalls auch in<br />
Paris oder London, nicht zustande kommen. Zweifellos war die letztendliche Erlangung<br />
des kaiserlichen Auftrages dem diplomatischen Geschick DA PONTEs<br />
zuzuschreiben, wie immer man auch den Wahrheitsgehalt seiner Lebenserinnerungen<br />
bewerten mag, die uns als einzige authentische Quelle für die Entstehungsgeschichte<br />
von »Le nozze di Figaro« zur Verfügung stehen. »Wir arbeiteten Hand in<br />
Hand...«, erinnert sich DA PONTE, »Sobald ich eine Szene fertig hatte, setzte<br />
Mozart sie in Musik, und in sechs Wochen war alles fertig.« 11 Daran sind zwei<br />
Aspekte wichtig: (1) Die enge Zusammenarbeit zwischen Textdichter und Komponist,<br />
die man auch in dem Sinne interpretieren kann, ja muss, dass MOZART sowohl<br />
auf die dramatische Gestaltung Einfluss nahm wie auf Einzelheiten des Textes,<br />
soweit die Vertonung sie erforderte. Eine briefliche Äußerung Leopold<br />
Mozarts, 12 sogar aus der Entstehungszeit des »Figaro«, bestätigt dies überzeugend:<br />
»... an der Musik zweifle ich nicht. das wird ihm eben vieles Lauffen und<br />
disputiern kosten, bis er das Buch so eingerichtet bekommt, wie ers zu seiner<br />
Absicht zu haben wünschet ...« (2) Die zweite Aussage erwähnt die berühmten<br />
»sechs Wochen«. Es bedarf keiner langen Erörterung, dass eine derartige Partitur<br />
innerhalb von sechs Wochen nicht vollständig zu bewältigen ist. Tatsächlich dürfte<br />
MOZART die Komposition unmittelbar nach Vollendung des Klavierquartettes<br />
KV 478, das mit 16. Oktober 1785 datiert ist, begonnen und endgültig mit der<br />
Niederschrift der Ouvertüre am 29. April 1786, zugleich das Eintragungsdatum in<br />
sein »Verzeichnüß aller meiner Werke«, beendet haben. Das ist ein Zeitraum von<br />
etwa einem halben Jahr. Von November 1785 bis April 1786 hat MOZART jedoch<br />
nachweislich fertiggestellt: am 5. und 21. November das Quartett KV 479 und das<br />
Terzett KV 480 für Francesco Bianchis »La villanella rapita«; ebenfalls noch im<br />
November die »Maurerische Trauermusik« KV 477; am 12. Dezember die Sonate<br />
für Klavier und Violine KV 481; am 16. Dezember das Es-Dur Klavierkonzert KV<br />
482; im Dezember außerdem noch die Freimaurergesänge KV 483 und KV 484<br />
(samt Fragmenten); am 10. Jänner das Klavierrondo KV 485; zwischen 18. Jänner<br />
und 3. Feber auf Befehl des Kaisers den »Schauspieldirektor« KV 486; am 2. März<br />
das A-Dur Klavierkonzert KV 488; am 10. März die »Idomeneo«-Einlagen KV<br />
489 und KV 490; sowie am 24. März das c-Moll Klavierkonzert KV 491. Bedenkt<br />
man diese Menge der Werke, die MOZART während der Intensivphase der<br />
»Figaro«-Arbeit nicht komponiert haben konnte, und stellt man ferner in Rech-<br />
11 ) Lorenzo DA PONTE, a.a.O., 87. Italienischer Originaltext in: DEUTSCH, Dokumente, 466.<br />
12)<br />
An seine Tochter in St. Gilgen vom 11. November 1785. BAUER-DEUTSCH III. Nr. 897. 443f.<br />
Z. 13 – 16.<br />
66
nung, dass MOZART die Ouvertüre meist erst kurz vor der Uraufführung niederzuschreiben<br />
gewohnt war, obwohl er sie längst konzipiert hatte (im »Figaro«-<br />
Autograph suggeriert dies auch der schriftliche Duktus), dann bleibt für die eigentliche<br />
Komposition des »Figaro« der Zeitraum von Mitte Oktober 1785 bis Ende<br />
November 1785, also tatsächlich von nur etwa sechs Wochen. 13 Diese ungeheure<br />
Arbeitsleistung ist kaum zu begreifen und zeigt die »Figaro«-Partitur auch in dieser<br />
Sicht als ein »Wunder«.<br />
Noch während, jedenfalls aber nach Abschluss der Komposition galt es, den<br />
Kaiser für das Projekt zu gewinnen, d.h. konkret, das für die »Folle journée« ja<br />
noch geltende Verbot indirekt aufheben zu lassen und einen Auftrag zur Aufführung<br />
der Oper zu erwirken. Wir folgen hierzu am besten – in großen Zügen – DA<br />
PONTEs anschaulichem Bericht: »Ich bot [...] den ›Figaro‹ dem Kaiser persönlich<br />
an. / ›Wie‹, sagte er, ›Sie wissen doch, daß Mozart zwar ganz ausgezeichnet in der<br />
Instrumentalmusik ist, aber bis jetzt nur eine Oper geschrieben hat, die dazu noch<br />
keinen besonderen Wert hat‹. [!] / ›Ich selbst‹, erwiderte ich ehrerbietig, ›hätte<br />
ohne die gnädige Huld Eurer Kaiserlichen Majestät auch nur eine Oper in Wien<br />
geschrieben.‹ / ›Das ist wahr, aber diese ›Hochzeit des Figaro‹ habe ich schon der<br />
Gesellschaft des deutschen Theaters verboten.‹ / ›Ich weiß es, aber da ich eine<br />
Oper (dramma per musica) und nicht eine Komödie geschrieben habe, mußte ich<br />
mehrere Szenen ganz weglassen und viele andere stark kürzen. Ich habe dabei alles<br />
weggelassen, was gegen den Anstand und die Sitte verstößt und ungehörig sein<br />
könnte in einem Theater, in dem die höchste Majestät selbst anwesend ist. Was<br />
aber die Musik betrifft, so halte ich sie, soweit ich dies beurteilen kann, für ganz<br />
außerordentlich schön.‹ / ›Gut, wenn sich die Sache so verhält, verlasse ich mich<br />
hinsichtlich der Musik auf Ihren guten Geschmack und hinsichtlich des Textes auf<br />
Ihre Klugheit und Geschicklichkeit. Lassen Sie gleich die Partitur dem Kopisten<br />
übergeben.‹ / Ich lief eiligst zu Mozart, aber noch bevor ich ihm diese frohe Nachricht<br />
ganz mitgeteilt hatte, überbrachte schon ein Lakai ein Billet mit dem kaiserlichen<br />
Befehl, sogleich mit der Partitur ins Schloß zu kommen. Mozart gehorchte<br />
sofort und spielte einige Stücke aus dem ›Figaro‹ vor, die dem Kaiser sehr gefielen<br />
...« 14<br />
Die Uraufführung 15 am 1. Mai 1786 im Hofburgtheater (Michaelerplatz, 1888<br />
abgerissen) war allem Anschein nach kein besonderer Erfolg, eher schon die dritte<br />
Vorstellung am 8. Mai, nach welcher die oftmalige Wiederholung von Ensemblestücken<br />
beschränkt werden musste. Der Präsident der Wiener Hofrechnungskammer<br />
Johann Karl Graf Zinzendorf fand die Premiere »langweilig« (»l’opera<br />
13 ) NMA/II/5/16,1: Le nozze di Figaro. Vorwort, IXf.<br />
14) a.a.O. 87f. Italienischer Originaltext in: DEUTSCH, Dokumente, 466f.<br />
15 ) Das hierzu Folgende nach: DEUTSCH, Dokumente, 240ff.<br />
67
m’ennuya«), die Zeitungsberichte, überwiegend positiv, betonten das Neuartige<br />
und die Schwierigkeiten der Komposition. Nach einer Serie von neun (oder zehn)<br />
Aufführungen und einer Aufführung im Laxenburger Schlosstheater verschwand<br />
der »Figaro« vorläufig vom Spielplan des Burgtheaters, wozu wohl auch der große<br />
Erfolg von Martín y Soler’s Oper »Una cosa rara« beitrug, die am 17. November<br />
erstmals gegeben wurde und in der Gunst des Publikums MOZARTs Oper sofort<br />
übertraf.<br />
Prag<br />
Im Dezember 1786 übernahm Prag mit einigen Aufführungen 16 des »Figaro«<br />
durch die private Operntruppe des Pasquale Bondini jene bedeutsame Rolle,<br />
welche diese Stadt in MOZARTs Opernschaffen noch spielen sollte. Schon die<br />
erste Vorstellung muss nach dem Bericht der »Prager Oberpostamtszeitung« vom<br />
12. Dezember ein ungeheurer Erfolg gewesen sein. Als dann MOZART, wie der<br />
zitierte Zeitungsbericht schon vermutet hatte, am 11. Jänner 1787 tatsächlich mit<br />
Konstanze und Franz Hofer, dem Ehemann seiner Schwägerin Josepha, persönlich<br />
in Prag eintraf, empfing ihn eine Welle der Sympathie und Begeisterung. Er besuchte<br />
die Vorstellung am 17. Jänner, dirigierte dann am 22. Jänner selbst und<br />
äußerte sich brieflich 17 an (Emilian) Gottfried von Jacquin voll Stolz, dass der Erfolg<br />
des »Figaro« in Prag jenen in Wien beträchtlich übertraf.<br />
Diese allgemeine »Figaro«-Begeisterung bewahrte die Bondini-Truppe zunächst<br />
vor der geplanten Auflösung und schuf so auch die Voraussetzung, an<br />
MOZART einen neuen Opernauftrag zu erteilen, dem noch im selben Jahr der<br />
»Don Giovanni« entsprang. Obwohl nach den überlieferten Quellen das künstlerische<br />
Niveau der Wiener Aufführungen, nicht aber deren Erfolg, höher war als in<br />
Prag, so begünstigte doch der – ein wenig provinzielle – Prager »Figaro«-Taumel<br />
die rasche Verbreitung der Oper über das ganze musikalische Europa, nicht zuletzt<br />
durch die prompte Anfertigung von Klavierauszügen und instrumentalen Bearbeitungen.<br />
Wien 1789<br />
Drei Jahre nach der Uraufführung wurde (1789) der »Figaro« in Wien wieder<br />
aufgenommen 18 und von MOZART in zwei Nummern verändert: Wahrscheinlich<br />
auf Wunsch der Sängerin Ferrarese del Bene ersetzte er Susannas Juwel »Deh vieni<br />
16<br />
) Das hierzu Folgende nach: (a) DEUTSCH, Dokumente, 246ff. und (b) NMA/II/5/16,1. Vorwort,<br />
Xf.<br />
17) Am 15. Jänner 1787: BAUER-DEUTSCH IV. Nr. 1022. 10. Z. 17 – 22.<br />
18) NMA/II/5/16,1. Vorwort, XII.<br />
68
non tardar« durch das Bravourstück »Al desio di chi t’adora« KV 577 und ihre<br />
Arie »Venite inginocchiatevi«, da darstellerisch sehr schwierig, durch die Ariette<br />
»Un moto di gioia mi sento» KV 579. Der Premiere am 29. August unter der Leitung<br />
Joseph Weigls folgten im selben Jahr noch acht Aufführungen, im Jahr 1790<br />
sogar fünfzehn und Anfang 1791 noch drei. Hatte Prag den »Don Giovanni« induziert,<br />
so führte nun die Wiener »Figaro«-Fassung von 1789 zum kaiserlichen Kompositionsauftrag<br />
für »Così fan tutte«.<br />
In den folgenden Jahren verbreitete sich die Oper rasch auf den Bühnen<br />
Europas, teilweise freilich in abenteuerlichen Bearbeitungen, ja sogar Verstümmelungen.<br />
Interessanterweise waren es aber gerade die Singspielfassungen mit gesprochenen<br />
Dialogen, die sich im deutschen Sprachraum noch bis zum Ende des<br />
19. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreuten. Ein Kapitel für sich, leider kein<br />
ruhmvolles, sind die deutschen Übersetzungen, die aber dem Siegeszug des Werkes<br />
auch nicht schaden konnten. Seit der »Figaro« 1824 auch den Sprung über den<br />
Ozean getan hatte, gehört er zum Musiktheater der Welt und in seiner je veränderten<br />
Aufführungspraxis spiegeln sich überdeutlich auch alle Stilrichtungen der Inszenierungsgeschichte<br />
im Verlauf von etwa 200 Jahren.<br />
Mozarts Opernästhetik<br />
Da Pontes Textbuch<br />
Grundsätzliches hierzu, das auch die Zusammenarbeit mit DA PONTE verstehen<br />
lässt, überliefert ein Brief MOZARTs an seinen Vater, als »Die Entführung<br />
aus dem Serail« entstand: »... bey einer opera muß schlechterdings die Poesie der<br />
Musick gehorsame Tochter seyn. – warum gefallen denn die Welschen kommischen<br />
opern überall? – mit allem dem Elend was das buch anbelangt! [...] weil da<br />
ganz die Musick herscht – und man darüber alles vergisst. – um so mehr muß Ja<br />
eine opera gefallen wo der Plan des Stücks gut ausgearbeitet; die Wörter aber nur<br />
blos für die Musick geschrieben sind, und nicht hier und dort einem Elenden Reime<br />
zu gefallen [...] verse sind wohl für die Musick das unentbehrlichste - aber Reime –<br />
des reimens wegen das schädlichste; [...] da ist es am besten wenn ein guter komponist<br />
der das Theater versteht, und selbst etwas anzugeben im stande ist, und ein<br />
gescheider Poet, als ein wahrer Phönix, zusammen kommen.« 19 Zwei Jahre später<br />
dann die subjektive Bekräftigung: »... daß kann ich ihm [gemeint ist der<br />
Textdichter Varesco] versichern daß sein Buch gewis nicht gefällt, wenn die<br />
Musique nicht gut ist. - die Musique ist also die Haubtsache bey jeder opera; - und<br />
19<br />
) Brief MOZARTs aus Wien vom 13. Oktober 1781. BAUER-DEUTSCH III. Nr. 633. 167. Z. 26 –<br />
28, 29 – 33, 36 – 37, 40 – 42.<br />
69
wenn es also gefallen soll [...] so muß er mir sachen verändern und umschmelzen<br />
so viel und oft ich will ...« 20<br />
Diese Kernsätze der MOZART’schen Opernästhetik enthalten drei Prinzipien:<br />
(1) den Vorrang der Musik vor dem Text; (2) den Vorrang des dramatischen<br />
Aufbaues vor Poesie um ihrer selbst willen; (3) die notwendige Einflussnahme des<br />
Komponisten auf die Arbeit des Textdichters und das Zusammenwirken beider im<br />
Idealfall.<br />
Dass MOZART »etwas anzugeben im stande« war, steht ebenso außer Zweifel<br />
wie die Berechtigung, DA PONTE als »gescheiden Poeten« zu qualifizieren, ja<br />
sogar als den »wahren Phönix«, den MOZART damals nach den Erfahrungen mit<br />
Varesco und Stephanie beschworen hatte, ohne zu ahnen, ihn mit Lorenzo DA<br />
PONTE endlich zu finden. Man darf daher auch annehmen, dass DA PONTE auf<br />
MOZARTs Intentionen bereitwillig eingegangen ist, dass er »verändert« und »umgeschmolzen«<br />
hat, wann immer MOZART es verlangte (»wir arbeiteten Hand in<br />
Hand« [s.o.]). Vielleicht lag auch DA PONTEs allergrößte Leistung gerade darin,<br />
MOZARTs Größe erkannt und verstanden zu haben, was dieser von ihm wollte.<br />
Original und Operntext<br />
Mit nur unwesentlichen Abweichungen blieb der Handlungsverlauf des Originals<br />
erhalten. DA PONTE zog die fünf Akte der »Folle journée« auf vier zusammen,<br />
ließ einige Nebenpersonen weg, wandelte den Dorfrichter Don Gusman<br />
Brid’Oison zum gleichfalls stotternden Don Curzio und Fanchette zu Barbarina,<br />
behielt aber alle anderen Hauptpersonen – mit teilweise italianisierten Namen –<br />
bei: Suzanne = Susanna, Chérubin = Cherubino, Bartholo = Bartolo, Marceline =<br />
Marcellina, Basile = Basilio.<br />
Das Textbuch zu »Le nozze di Figaro« folgt aber nicht allein im größten Teil<br />
seines szenischen Baues dem Original, sondern verwendet auch über weite<br />
Strecken der Rezitative einen nur geringfügig veränderten, meist gekürzten Text,<br />
sodass MOZART insoweit eine italienische Fassung der »Folle journée« vertont<br />
hat. Dies ist gewiss kein Mangel und auch nicht im mindesten eine Kritik an DA<br />
PONTEs Leistung, wohl aber eine Warnung, im »Figaro«-Text insgesamt eine<br />
Neuschöpfung zu sehen. DA PONTE selbst spricht ja in eher ungewohnt bescheidener<br />
Weise davon, die »Bearbeitung« des Textes übernommen zu haben.<br />
Aus einem kritischen Vergleich der beiden Texte und aus DA PONTEs eigenen<br />
Bemerkungen, die er dem italienischen und deutschen Textbuch voranstellte, 21<br />
sind vier Grundsätze ableitbar, die DA PONTE bei seiner Arbeit beachtet haben<br />
20<br />
) Brief MOZARTs aus Wien an seinen Vater vom 21. Juni 1783. BAUER-DEUTSCH III. Nr. 753.<br />
275. Z. 17 – 21.<br />
21) DEUTSCH, Dokumente, 239 f.<br />
70
könnte: (1) Die Neufassung des Textumfanges durch Streichung, Straffung oder<br />
auch Erweiterung; (2) die je zweckdienliche Auflösung des Komödiendialoges und<br />
der vereinzelten Monologe in Rezitative und Musikstücke mit eher betrachtendem<br />
Inhalt (Arien) oder dramatischer Funktion (Ensembles); (3) die nahezu wortgetreue<br />
Übernahme (Übersetzung) des Originaltextes an geeigneten Stellen; und (4) die<br />
Eignung des Textes zur Komposition.<br />
Streichung<br />
Die gegenüber dem Original anzustrebende Verkürzung erreichte DA<br />
PONTE am wirkungsvollsten selbstverständlich durch das vollständige Weglassen<br />
jener inhaltlich und/oder szenisch abgrenzbaren Teile, die ihm entweder (1) unwichtig,<br />
(2) einen anderen Schwerpunkt setzend, (3) eine Person anders charakterisierend<br />
oder aber (4) für die Vertonung überhaupt ungeeignet erschienen. Hierzu<br />
nur zwei Beispiele: Durch das Weglassen der Szenen 6 und 7 sowie 12 bis 15 des<br />
III. Aktes, welche die Vorbereitung und Durchführung des Gerichtsverfahrens (das<br />
Heiratsversprechen Figaros an Marceline betreffend) breit ausspielen, setzte DA<br />
PONTE einen anderen Handlungsschwerpunkt, da die gesellschaftskritischen Elemente<br />
im allgemeinen und jene Parodie auf das feudale Gerichtswesen im besonderen<br />
zugunsten der Verwirrungen des »tollen Tages« zurücktreten sollten. Dieser<br />
Zielsetzung entsprachen nicht nur die Untauglichkeit politischer Ressentiments für<br />
die musikalisch-komödiantische Gestaltung, sondern natürlich auch die Rücksichtnahme<br />
auf die Wiener Verhältnisse, um die Aufführung nicht zu gefährden.<br />
Für eine musikalische Realisierung ungeeignet waren gewiss auch alle jene<br />
Szenen, die den für BEAUMARCHAIS so typischen Esprit und Witz enthielten,<br />
freilich auch den nicht minder »unmusikalischen« Zynismus, der dem Grundkonzept<br />
des »Figaro« widersprach. Was z.B. der Graf und Figaro in der B-Szene III/5<br />
einander in virtuoser Könnerschaft an den Kopf werfen, obwohl sie es eigentlich<br />
nicht sagen, bildet aus jenem »Esprit« so sehr ein Konzentrat, dass DA PONTE die<br />
ganze Szene bezeichnenderweise einfach weggelassen hat.<br />
Straffung<br />
In den (44) inhaltlich übereinstimmenden Szenen hat DA PONTE den Dialog<br />
– und die vereinzelten Monologe – der »Folle journée« auf die wichtigsten Elemente<br />
der Handlung, gleichsam deren »tragende Pfeiler«, reduziert, um so die notwendigen<br />
Freiräume für die Komposition zu schaffen, die mit ihren – musikalischen<br />
– Mitteln die Charakterisierungen und jene dramatischen Feinheiten und<br />
Verdichtungen ersetzen muss, welche durch die Kürzung verloren gingen. Und in<br />
der Tat liest sich das »Figaro«-Textbuch ohne die Musik (im Ohr zu haben) phasenweise<br />
wie eine glanzlose Amputation des Originals.<br />
71
Mit der Streichung unwichtiger und/oder minder wichtiger Passagen des Originals<br />
sind allerdings manchmal auch dessen logische Begründungen und<br />
psychische Motivationen unterblieben, wodurch die Opernhandlung gegenüber der<br />
Komödie doch einiges an Folgerichtigkeit eingebüßt hat, beispielsweise in der mit<br />
B-I/4 korrespondierenden Szene 3 im I. »Figaro«-Akt: Man erfährt nämlich dort<br />
nur andeutungsweise von Marcellinas Absicht, mit Doktor Bartolos Unterstützung<br />
die Hochzeit Figaros zu verhindern und selbst gleichartige Ansprüche geltend zu<br />
machen, wofür es offensichtlich eine vertragliche Absicherung geben muss. All<br />
dies wirkt sehr unvermittelt, zumal das Entscheidende der Beziehung zwischen<br />
Bartolo und Marcellina unerwähnt bleibt. - BEAUMARCHAIS hingegen baut den<br />
Dialog sehr sorgsam auf und gibt sodann Marceline die Möglichkeit, die »langweilige<br />
Leidenschaft« Basiles für sie zu nützen, um Bartholo an das eigene Eheversprechen,<br />
vor allem aber daran zu erinnern, dass beider Sohn, der »kleine Emmanuel«,<br />
eigentlich Grund genug gegeben hätte, es einzulösen. Dadurch ist nicht nur<br />
die Partner- und Komplizenschaft der beiden ausreichend motiviert, sondern auch<br />
die spätere Erkennung Figaros als Kind jener »vergessenen Liebe« plausibel vorbereitet,<br />
die bei DA PONTE den Hörer völlig überrascht und daher einer gewissen<br />
Gewaltsamkeit nicht entbehrt.<br />
Es sei aber nochmals betont: Ein Operntext und ein Komödientext des<br />
Sprechtheaters sind verschiedene Dinge. Der weitestgehende Verzicht auf den<br />
geistsprühenden und auch subtilen Dialog, von dem die turbulente Komödienhandlung<br />
lebt, bedeutet zwar ein ganz entscheidendes Abgehen vom Original, das<br />
aber DA PONTE in voller Kenntnis der Tragweite dieser Unterschiede, eben im<br />
Interesse des Primates der Musik, vollziehen musste, um deren Freiräume zu<br />
sichern. Eine kritische Würdigung des Da Ponte-Textes zielt auf seine Eignung für<br />
MOZARTs Vertonung, doch keinesfalls auf einen qualifizierenden Vergleich mit<br />
dem französischen Original.<br />
Erweiterung<br />
Da 4 Szenen in DA PONTEs Textbuch (III/7-8; IV/1,7) keine Entsprechung<br />
im Original finden, liegt insoweit sogar eine Ausdehnung des Textumfanges vor,<br />
die allerdings nicht auf den Handlungsfortschritt im engeren Sinne zu beziehen ist,<br />
da sie auch den Text für zwei große Arien (Gräfin, Basilio) und eine Cavatine<br />
(Barbarina) enthält.<br />
Einheit im Wechsel von Rezitativen und Gesangstücken<br />
Den Fortgang der Handlung nicht allein den Rezitativen zuzuweisen, sondern<br />
im durchgehenden Wechsel mit den Gesangstücken die Einheit des dramatischen<br />
Ablaufes zu sichern, war ein neuer Gedanke, der dem »Figaro«-Text einen ent-<br />
72
scheidenden Vorzug vor den älteren, aber auch zeitgenössischen Beispielen der<br />
Gattung brachte. Die Musiknummern sind daher keineswegs nur retardierende<br />
Elemente, sondern meist voll funktionierende Bestandteile des dramatischen Geschehens,<br />
insbesondere natürlich die drei Finali – das zweite wurde auch von<br />
MOZART nie mehr übertroffen - , die 6 Duette, 2 Terzette und das Sextett. Sie alle<br />
stellen, so Stefan Kunze, 22 sogar die »Schwerpunkte der Aktion« dar, in denen die<br />
einzelnen Situationen gleich »Knotenpunkten der Handlung« kulminieren. Sogar<br />
die Arien (und Cavatinen) müssen aus dieser Beurteilung nicht genommen werden,<br />
weil sie mehrheitlich entweder in eine Ensemblesituation einbezogen sind oder sich<br />
in alter Komödienmanier »ad spectatores« wenden. Nur drei Arien sind rein<br />
monologisch: die beiden der Gräfin (Nr. 11, Nr. 20) und die Arie des Grafen (Nr.<br />
18), also bezeichnenderweise jene der beiden hochgestellten Persönlichkeiten, die<br />
allein eine derartige Auszeichnung genießen.<br />
Die phasenweise Übersetzung<br />
Es spricht für die Qualität der Originaldialoge, aber auch für DA PONTEs<br />
Sprachgefühl, dass er in sein Textbuch auch eine mehr oder minder wortgetreue<br />
Übersetzung ins Italienische jener Stellen einfließen ließ, die ihm schon in ihrer<br />
französischen Originalversion für eine Vertonung geeignet erschienen. Sehr viele<br />
Szenen des »Figaro«-Textes enthalten daher trotz ihres gestrafften Umfanges immer<br />
wieder nahezu wortgetreue Passagen aus der «Folle journée«. DA PONTE hat<br />
offensichtlich ganz bewusst nach dem Prinzip gehandelt, Geeignetes unverändert<br />
zu übernehmen, freilich nur in die Rezitative und auch dort nur phasenweise, da ja<br />
ansonsten die erstrebte Straffung des äußeren Umfanges nicht erreichbar gewesen<br />
wäre. Die musikalische Eigengesetzlichkeit der Gesangnummern verbot selbstverständlich<br />
ein derartiges Verfahren, und zwar auch dort, wo DA PONTE nicht<br />
eigene Texte gedichtet hat, sondern, z.B. in den Ensembles, dem Vorbild inhaltlich-dramatisch<br />
gefolgt ist.<br />
Die Rezitative<br />
Die Rezitative kleidete DA PONTE in frei rhythmisierte, meist 11- oder 7-<br />
silbige Verse, die nicht selten in Reimen enden. Häufig sind Reim-Entsprechungen<br />
in den Schlusszeilen, um dort den Übergang in die strengere Form der Gesangnummer<br />
zu markieren, so z.B. »palazzo – pazzo« vor Cherubinos Arie (Nr. 6);<br />
»gente – serpente« vor dem Chor (Nr. 8 = 9); »vuole – parole« vor Cherubinos<br />
zweiter Arie (Nr. 12); »stesso – adesso« vor dem Terzett (Nr. 14); oder »andiamo –<br />
torniamo« vor dem Duettino (Nr. 15). Fast immer sind die Rezitative dialogisch, in<br />
22 ) Stefan KUNZE: Mozarts Opern. Stuttgart, Reclam 1984, 237, 239, 252.<br />
73
Szene II/4 (Susanna), III/1 (Graf), IV/4 (Marcellina) und in IV/5 (Barbarina) jedoch<br />
je solistisch bestrittene Elemente der Handlung.<br />
Die Gesangstücke<br />
Stefan Kunze hat in den Gesangstücken fünf Kriterien für die außergewöhnlich<br />
hohe Eignung des »Figaro«-Textes zur Vertonung gefunden. 23 (1) Die zahlreichen<br />
Versformen (Quinario, Senar, Settenario, Ottonario bis zum Deca- und<br />
Endecalillabo, dem klassischen Elfsilber) werden entsprechend der jeweiligen<br />
Situation und Rede angewendet: Eher seltene Versformen vermögen überraschende<br />
Zusammenhänge aufzudecken, z.B. zwischen Cherubinos Arie (Nr. 6) »Non so più<br />
cosa son, cosa faccio« und Figaros Arie (Nr. 10) »Non più andrai farfallone<br />
amoroso«, welche jenen wie atemlos sprudelnden Zehnsilber Cherubinos in höhnischer<br />
Anrede wieder aufnimmt. Der kürzeste aller Verse, der Fünfsilber (Qinario),<br />
ist in Figaros tänzerischer Cavatine (Nr. 3) »Se vuol ballare« oder in Cherubinos<br />
»Voi che sapete«, einem Stück mit liedhaft schlichtem Charakter, zu finden. Der in<br />
Gesangnummern eher seltene Elfsilber dient Susannas Arie (Nr. 28) »Deh vieni<br />
non tardar, oh gioia bella«, die als verkapptes Ständchen (gegenüber Figaro) mit<br />
der Canzonetta Don Giovannis »Deh vieni alla finestra, o mio tesoro« nicht nur das<br />
Versmaß, sondern auch die beiden Anfangsworte teilt. (2) Für die Vertonung sehr<br />
wichtig und daher auch mit zahlreichen Beispielen belegbar sind die sogenannten<br />
»Brechungen«, Änderungen des Versmaßes und des Rhythmus innerhalb einer<br />
Arie oder eines Ensembles, wofür der italienische Vers ein vielfältiges Instrumentarium<br />
bietet: in Cherubinos Arie (Nr. 6) «Non so più cosa son, cosa faccio« als<br />
Umschlag der Zehnsilber in Settenari ab »Parlo d’amor vegliando«, verbunden mit<br />
einem Übergang vom anapästisch steigenden zum daktylisch fallenden Rhythmus;<br />
oder im letzten Finale (Nr. 29), wo die anapästisch veränderten Zehnsilber des<br />
»Pace pace, mio dolce tesoro« eine (inhaltlich kongruente) Brechung gegenüber<br />
den Unregelmäßigkeiten der vorangehenden Acht- und Sechssilber bedeuten. (3)<br />
Aus DA PONTEs Kunstgriff, den Versrhythmus als charakterisierendes Element<br />
einzusetzen, hat MOZART auch musikalisches Kapital gewonnen, wenn z.B. in<br />
Cherubinos schon mehrfach erwähnter Arie (Nr. 6) »Non so più cosa son, cosa<br />
faccio« die lebhaften Zehnsilber des ersten Teiles die verwirrenden Erlebnisse des<br />
Pagen wiedergeben, im zweiten Teil die ruhigeren Settenari aber seine träumerischen<br />
Gedanken (»all’acque, all’ombre, ai monti«); oder wenn in Figaros Arie (Nr.<br />
10) nach den anfänglichen Zehnsilbern des »Non più andrai farfallone amososo«<br />
die Schrecknisse des Soldatenlebens (»Tra guerrieri poffar Bacco!«) in abgehackten<br />
Ottonari adäquaten Ausdruck erhalten. Besonders eindrucksvoll illustrieren<br />
auch im Duettino Susanna – Cherubino (Nr. 15) die atemlos skandierten<br />
23 ) Stefan KUNZE: Poesie als gehorsame Tochter. Notizen über das Opernlibretto im 18. Jahrhundert<br />
sowie über Mozart, Da Ponte und Schikaneder, in: Neue Zürcher Zeitung (24.10.1986), 37.<br />
74
Settenari den in äußerster Bedrängnis ausgeführten Fenstersprung. (4) Susannas<br />
Arie (Nr. 13) »Venite inginocchiatevi« bietet ein Beispiel für DA PONTEs Kunst,<br />
die szenische Situation der beteiligten Personen - hier der Gräfin, der Susanna und<br />
des Cherubino - in prägnanteste Textform zu bringen, damit in nüchternen Worten<br />
der momentane äußere Vorgang (das Verkleiden des Pagen) ohne jede dichterische<br />
Gehobenheit eine buchstäblich gestische Aktualisierung finde. (5) Den (großen)<br />
Arien, jenen Stücken also, welche den seelischen Zustand der betreffenden Person<br />
wie in einem Brennpunkt sammeln, vermochte DA PONTE auch einen poetischen<br />
Inhalt zu geben mit prägnanten Sprachgebilden eigener Dichtung, jedoch offen für<br />
alle Ausdrucks- und Gestaltungsmöglichkeiten der Musik. Nicht zuletzt auch darin<br />
wurzelt ihre Schönheit.<br />
Reime<br />
Als Synonym für einen zur Vertonung geeigneten Text sind »Reime« auch<br />
im Sinne der MOZARTschen Opernästhetik keinesfalls das »schädlichste«, sondern<br />
ein konstruktives Element. Sämtliche Gesangstücke des »Figaro«-Textes, die<br />
Solonummern wie die Ensembles, verwenden den Endreim in zahlreichen Varianten,<br />
wodurch insbesondere die strophisch geordneten Stücke ein zusätzliches Element<br />
der Vereinheitlichung erhalten, z.B. Cherubinos »Voi che sapete« durch das<br />
Schema a – b – a - b jeder vierzeiligen Strophe.<br />
Ein auch funktionell sehr wichtiges Mittel bildet das – schon bei Metastasio<br />
anzutreffende – Schema der »geschweiften Reime«, das die jeweils letzten Verse<br />
einer Strophe oder – in den Ensembles – der beteiligten Stimmen miteinander verbindet<br />
und durch die solcherart erzielte Verknüpfung längerer Perioden auf die<br />
musikalische Gestaltung einwirkt: im Terzett Susanna – Basilio – Graf (Nr. 7)<br />
durch die vereinheitlichende Klammer des Reimes auf –or in der jeweils zweiten<br />
Zeile, bis der Graf mit seinem Bericht von der (erstmaligen) Entdeckung des Pagen<br />
eine inhaltlich wie musikalisch veränderte Phase beginnt; oder im großen Finale<br />
des II. Aktes (Nr. 16), wo eine derart homogenisierende Wirkung selbstverständlich<br />
noch wichtiger ist als in einem Sologesang, z.B. in der Arie des Grafen (Nr.<br />
18) »Vedrò mentre io sospiro«, mit dem Endreim –a der jeweils letzten Strophenzeile<br />
(»dovrà«, »ha«, »infelicità«, »fa«).<br />
Da die häufige Betonung der Wortendungen - eine Eigenheit der italienischen<br />
Sprache – dem Gesang überaus willkommen ist, etwa für einen längeren Notenwert<br />
oder eine aus mehreren Noten gebildete Phrase, hat DA PONTE diese Möglichkeit<br />
dem Komponisten immer wieder offeriert und derartige Worte, etwa auf –or, -ar<br />
oder –ir endend, eingefügt.<br />
Neben dem Endreim bietet gerade das Italienische noch mannigfache Chancen<br />
für vokale Assonanzen, wodurch die Singbarkeit natürlich ebenfalls gewinnt:<br />
Die Cavatine der Gräfin »Porgi amor« erhielt z.B. einen aus dunklen Vokalen<br />
75
(Vorrang: -o-) und hellen Vokalen (Vorrang: -i-) klingenden Text, dessen »Zweifärbigkeit«<br />
- und dies verblüfft - die Vertonung in beiden Teilen nahezu (mathematisch!)<br />
ausgewogen auf die Notenwerte übertrug. Mit seinen vokalen und konsonantischen<br />
Alliterationen bietet der Text zu Susannas Arie (Nr. 28) »Deh vieni<br />
non tardar, oh gioia bella« mit dem vorausgehenden Accompagnato »Giunse alfin<br />
il momento« das wohl schönste Beispiel inhärenter Musikalität.<br />
»Esprit«<br />
Die Unterschiede gegenüber der Vorlage<br />
Wenn DA PONTE in seinem – schon mehrfach zitierten – Vorwort bedauert,<br />
»viele schöne anmuthige Scherze, und witzige Gedanken« weggelassen zu haben,<br />
dann hat er natürlich erkannt, dass jener in einer Geisteshaltung typisch französischer<br />
Prägung wurzelnde Witz sich der musikalischen Gestaltung zwangsläufig<br />
entzieht, da deren Gesetzmäßigkeiten vom Librettisten eben «andere Gedanken,<br />
und für die Musik schikliche Wörter« erfordern. Musik ist in einem anderen Bereich<br />
des Geistursprünglichen angesiedelt als das gesprochene Wort, weshalb die<br />
Feststellung, dass man im Da Ponte-Text den köstlichen »Esprit« der Originaldialoge<br />
vermisst, überhaupt nicht abwertend verstanden werden darf. Andererseits<br />
lässt aber gerade dieses Defizit des »Figaro«-Textes auch erkennen, welcher<br />
Reichtum dann seiner Vertonung entströmt.<br />
Revolution<br />
Ist die gesellschaftskritische Tendenz einmal als das nicht zentrale Thema der<br />
»Folle journée« erkannt, dann gilt dies umso eher für »Le nozze di Figaro«, deren<br />
Entstehungsgeschichte ja schon in eine ganz andere Richtung weist, konnte DA<br />
PONTE doch das kaiserliche Einverständnis nur mit der Versicherung erlangen, er<br />
habe die Provokationen des Vorbildes weggelassen. Dieser Zwang von außen, der<br />
zu beachten war, wenn die Oper überhaupt zur Aufführung kommen sollte, traf<br />
sich aber auch voll mit der vorrangig intendierten Konzeption DA PONTEs - und<br />
wohl auch MOZARTs - , die in der »Folle journée« ständig wechselnden Situationen<br />
der virtuos gebauten Handlung in eine für die musikdramatische Gestaltung<br />
optimal geeignete Textgrundlage zu gießen.<br />
Ein Textvergleich vermisst bei DA PONTE so gut wie alle »politisch« interpretierbaren<br />
Stellen, verkappte oder unverhohlene Spitzen gegen das gesellschaftliche<br />
System wie gegen einzelne seiner Repräsentanten. Dahinter muss zweifellos<br />
eine konkrete Absicht gestanden haben, die besonders schwer wiegt, wenn man die<br />
große »Gerichtsszene« in III/15 der »Folle journée« dagegen hält, jene unbarmher-<br />
76
zige Satire auf eine von Bestechlichkeit, Dummheit und feudaler Willkür getragene<br />
»Rechtspflege«, die DA PONTE restlos gestrichen hat und (in III/5) nur im Ergebnis<br />
wirksam werden ließ: Don Curzio: »È decisa la lite. O pagarla, o sposarla, ora<br />
ammutite.« Oder wenn man den großen Monolog Figaros in B-V/3 bedenkt, die<br />
zentrale gesellschaftskritische Attacke der »Folle journée«, die in DA PONTEs<br />
analoger Szene (IV/8) einer vergleichsweise harmlosen Reaktion eines eifersüchtigen<br />
und durch die vermeintliche Untreue seiner Braut enttäuschten Liebhabers<br />
gewichen ist.<br />
Freilich fehlt auch im »Figaro« die gesellschaftskritische Komponente nicht<br />
ganz: Das ius primae noctis und seine de facto-Erneuerung durch den Grafen provozieren<br />
als Wurzeln der Handlung genug an derartiger Motivation. Aber – und<br />
das ist entscheidend - : Der Kampf, den Figaro um die geliebte Frau aufzunehmen<br />
gewillt ist, gilt dem Rivalen als Mann und nicht dem Feudalherrn. Und er gedenkt<br />
auch nicht, diesen Kampf als Revolutionär gegen das gesellschaftliche System zu<br />
führen, sondern gerade mit den dieser bestehenden Ordnung eigen-typischen Waffen:<br />
mit Geist, Witz und schlauer Intrige. Zum Tanz will er ja dem Grafen aufspielen,<br />
nach seiner eigenen Melodie und auf einem Instrument, das Revolutionäre<br />
kaum je zur Hand nahmen. Mit seinem »Se vuol ballare signor Contino« lässt<br />
Figaro schon zu Beginn der Oper gleichsam als Motto erkennen, auf welcher<br />
Ebene und in welchem Geist die künftigen Ereignisse vor sich gehen werden. Dass<br />
in MOZARTs Vertonung auch ein drohendes Aufbegehren nicht zu überhören ist,<br />
macht die Interpretation dieser Cavatine so schwierig und ist einmal mehr als Beweis<br />
für den Vorrang der Musik zu verstehen und nicht als Widerspruch gegen den<br />
Text.<br />
Erotik<br />
In der Komödie wie in der Oper sind alle Hauptpersonen und zwei Nebenpersonen<br />
zumindest je zweifach in erotische Beziehungen gestellt, die insgesamt ein<br />
vielfältiges Netz wechselseitiger Verbindungen ergeben, ein erotisches Spannungsfeld<br />
gleichsam, dem die Impulse entspringen, welche in »feldartiger Vernetzung« -<br />
um im Bild zu bleiben - die Handlung motivieren und vorantreiben. (Graphik). Im<br />
Zentrum wirken die Bezüge Graf – Gräfin und Figaro – Susanna, die einander auch<br />
optisch symbolhaft durchkreuzen, weil des Grafen Interesse für Susanna deren<br />
Beziehung zu Figaro und seine eigene zur Gräfin nachhaltig stört. Dieser Schnittpunkt<br />
markiert daher den eigentlichen Kern des dramatischen Geschehens, der die<br />
Intrigen und Gegenintrigen ebenso provoziert wie alle dabei mittelbar erwachsenden<br />
Verwicklungen. Als Um-»Feld« wirken dann alle hiervon »induzierten« Relationen,<br />
insgesamt also zehn wechselseitige Bezüge zwischen acht Personen (Personennamen<br />
der Oper):<br />
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Graf – Gräfin / Graf – Susanna / Graf – Barbarina;<br />
Figaro – Susanna / Figaro – Marcellina;<br />
Cherubino – Gräfin / Cherubino – Susanna / Cherubino – Barbarina;<br />
Bartolo – Marcellina / Bartolo – Gräfin.<br />
Die auch in der »Folle journée« unwichtige Beziehung Marceline – Basile<br />
hat DA PONTE überhaupt weggelassen und die in den »Barbier de Séville« zurückreichenden<br />
Aspirationen des Doktor Bartholo auf die Hand seines damaligen<br />
Mündels Rosine, nunmehr Gräfin Almaviva, nur noch rudimentär eingeflochten.<br />
Le Comte / Il Conte<br />
Der Graf, als Handlungsträger fast allgegenwärtig, bleibt in allen Situationen<br />
ein Edelmann und weitab jeder Karikatur, ein Egoist freilich, der seine Machtmittel<br />
bei BEAUMARCHAIS noch schonungsloser einsetzt als bei DA PONTE. Seine<br />
Gattin irritiert er durch seine Untreue wie durch seine Eifersucht, die allerdings so<br />
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unbegründet, wir werden es sehen, auch nicht ist. Seine Begehrlichkeit nach<br />
Susanna scheint aber doch auf einer echten Leidenschaft zu beruhen, denn wäre sie<br />
nur Teil aristokratischer Unterhaltung, würde er sich doch nicht all den Bedrängnissen<br />
aussetzen, in die er fortwährend gerät. Seine große Arie (Nr. 18) »Vedrò<br />
mentre io sospiro« in III/4 mit vorausgehendem Accompagnato »Hai già vinta la<br />
causa!« ist ein großartiges Charakterbild eines in echter Leidenschaft und heftiger<br />
Eifersucht entbrannten Mannes, der es nicht verwinden kann, bei der Person seines<br />
Begehrens keine Gegenliebe zu finden. Seinen Rivalen betrachtet er trotz des Standesunterschiedes<br />
auf dem Spielfeld der Liebe als ebenbürtig, was ihn charakterlich<br />
zwar auszeichnet, seine Position aber erschwert.<br />
Figaro<br />
Denn Figaro, Susannas Bräutigam und daher der eigentliche Gegenspieler<br />
des Grafen, ist insbesondere in der Komödie der gerissene Fallensteller par<br />
excellence, immer im Zentrum des turbulenten Geschehens, das er aber nicht beherrscht,<br />
sondern nur deshalb besteht, weil er sich in keiner Situation aufgibt. Mit<br />
den ideologischen Attributen des dritten Standes ausgestattet, personalisiert er vorrangig<br />
das sozialkritische Element, in der Oper jedoch viel schwächer, da hier seine<br />
zweifellos echte Liebe zu Susanna dominiert. Deren vermeintliche Untreue bereitet<br />
ihm Schmerz, ja Verzweiflung (»Oh Susanna, Susanna, qanta pena mi costi...«: Nr.<br />
27) und die Szenen der beiden, die so schwer um ihr Glück kämpfen müssen, sind<br />
voll lauteren Gefühls (»Pace pace, mio dolce tesoro, io conobbi la voce che adoro<br />
...«: Finale IV).<br />
Suzanne/Susanna<br />
Sie ist ja auch ein wahres Prachtexemplar einer liebenswerten Frau! Man versteht<br />
Figaros Verliebtheit, aber man versteht auch den Grafen, der offensichtlich<br />
ein Kenner ist. Mit allen Waffen weiblicher Koketterie begabt, redegewandt,<br />
schlau, auch berechnend, vor allem aber so richtig weiblich und noch hübsch dazu<br />
– man kann sich Figaros Rolle als Ehemann in etwa vorstellen. Dass sie ihn ehrlich<br />
liebt, will man ihr gerne glauben, aber sie liebt ihn eben auf ihre Art, die<br />
BEAUMARCHAIS drastischer zeichnet als DA PONTE: ein wenig oberflächlich,<br />
ein wenig eigensüchtig, ein wenig unaufrichtig. Und wer weiß, wie es ausginge,<br />
wollte es der Graf nach einiger Zeit nochmals bei ihr versuchen? Aber danach ist,<br />
jedenfalls in der Oper, nicht zu fragen.<br />
Chérubin / Cherubino<br />
Cherubino, eine Gestalt von einzigartig erotischem Flair, wohl eine der bezauberndsten<br />
des Operntheaters überhaupt, ist zwar nicht BEAUMARCHAIS’<br />
eigene Erfindung, da es bereits bei Marc Antoine Jacques Rochon de Chabannes,<br />
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Jean François Marmontel und Alain René Lesage Vorbilder gibt, 24 er ist aber sogar<br />
in der kühleren Atmosphäre der Komödie ein Hort ungetrübter Poesie.<br />
BEAUMARCHAIS selbst charakterisiert ihn im Vorwort 25 (deutsch übersetzt) als<br />
ein »... Kind von dreizehn Jahren mit seiner ersten Herzensregung, das noch alles<br />
sucht, ohne sich schon irgend etwas klarmachen zu können [...] Alle Schlossbewohner<br />
lieben ihn; lebhaft, mutwillig und leidenschaftlich wie alle aufgeweckten<br />
Kinder durchkreuzt er allein durch seine Unrast zehnmal die bösen Pläne des Grafen.<br />
Junger Liebling der Natur! [...] Vielleicht ist er kein Kind mehr; aber er ist<br />
noch kein Mann. Und diesen Augenblick habe ich gewählt, damit er Interesse erweckt,<br />
ohne irgend jemand zum Erröten zu bringen.«<br />
Für Cherubinos erste Arie (Nr. 6) »Non so più cosa son, cosa faccio«) fand<br />
DA PONTE in B-I/7 einen Text mit Chérubins unverhülltem Bekenntnis seiner<br />
pubertären Drangsal, aber auch mit deren Abstrahierung zur Poesie anmutiger Naturbilder,<br />
woraus dann der poetisch ebenso anspruchsvolle wie meisterhaft charakterisierende<br />
Arientext entstand. Den Anlass zu diesem Bekenntnis – DA PONTE<br />
folgte dramaturgisch der Vorlage 26 - gab eine von Cherubino selbst gedichtete<br />
Canzonette / Romance, die der Gestalt des jungen Pagen einen weiteren Charakterzug<br />
anfügt, einen sehr ausdrucksstarken noch dazu, denn worin könnte sich jugendliche<br />
Verliebtheit schöner und edler zeigen als in der poetischen Verklärung<br />
selbst geschaffener Verse? Mit dieser zu Recht berühmten Canzonette (eigentlich:<br />
Arietta), die Cherubino in II/2 vor der Gräfin und Susanna gleichsam als inhaltliche<br />
Ausdeutung seiner ersten Arie singt, erreichte DA PONTE einen Höhepunkt, ja<br />
vielleicht überhaupt den poetischen Gipfel seiner »Figaro«-Dichtung, gelang ihm<br />
ein knappes Stück Poesie von ungetrübter Schönheit und zugleich eine kongeniale<br />
Grundlage für MOZARTs Musik. Das eher altertümlich stilisierte Pathos bei<br />
BEAUMARCHAIS – es fällt beinahe schwer, den munteren Chérubin damit zu<br />
identifizieren - hat DA PONTE durch eine Liebeslyrik ersetzt, deren Formeln und<br />
Bilder auf Petrarca und Dante, seine bewunderten Vorbilder, hinweisen. Noch<br />
wichtiger aber als der poetische Vorzug gegenüber der Romance des Chérubin ist<br />
DA PONTEs Leistung, das vorgegebene Thema eines vom Pagen selbst verfassten<br />
Liebesliedes in einer Weise verarbeitet zu haben, die dramatisch bedeutsamer ist<br />
und die Charaktere der beteiligten Personen behutsamer zeichnet als das Vorbild.<br />
24<br />
) (a) Jürgen PETERSEN: Die Hochzeit des Figaro, a.a.O., 18 u. 143f; (b) Stefan KUNZE: Mozarts<br />
Opern, a.a.O., 246.<br />
25) BEAUMARCHAIS: Préface, 70.<br />
26) In der B-Szene II/4 singt Chérubin seine Romance vor der Comtesse und Suzanne. Die<br />
Regieanweisung hiezu lautet (deutsch übersetzt): Die Gräfin behält »... den Text in der Hand, um ihm<br />
zu folgen. Suzanne steht hinter ihrem Sessel, während sie über die Gräfin hinweg auf die Noten sieht.<br />
Der kleine Page steht mit gesenkten Augen vor der Gräfin. Dieses Bild entspricht genau dem Stich<br />
Die spanische Konversation von Van Loo.«<br />
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Denn auch die erotische Beziehung zwischen Cherubino und der Gräfin wird, anders<br />
als in der Vorlage, durch die allgemeine Widmung dieses Gedichtes gleich zu<br />
Beginn und in den noch folgenden Szenen auf eine andere Ebene behutsamer Sublimierung<br />
gestellt. Vielleicht ist gerade deshalb jenes optische Bild, da der junge<br />
Page sein »Voi che sapete« singt, vor der Gräfin stehend und von Susanna auf der<br />
Gitarre begleitet, auch zu einem Sinn-Bild der ganzen Oper geworden, im Herzen<br />
der Verstehenden bewahrt und ein unvergängliches Szenar im Operntheater der<br />
Welt.<br />
La Comtesse / La Contessa<br />
Von den Hauptpersonen bleibt noch die Gräfin zu erwähnen, die in der Oper<br />
die stärkste Veränderung gegenüber der Komödie erfahren hat, jedoch hier wie dort<br />
durch drei Hauptzüge charakterisiert ist: (1) die Liebe zu ihrem Gatten und den<br />
Schmerz über sein erkaltetes Gefühl; (2) die Neigung und auch Fähigkeit zur Intrige;<br />
(3) die erotische Beziehung zu Cherubino. Zweifellos liebt die Gräfin ihren<br />
Mann, dessen Gefühle für sie aber, zu ihrem großen Schmerz, in den Jahren der<br />
Ehe erkaltet sind. Die gegen den Grafen gerichteten Aktionen, um Susanna aus<br />
seinen Nachstellungen herauszunehmen und deren Hochzeit mit Figaro zu ermöglichen,<br />
dienen daher nicht zuletzt auch der ersehnten Wiedergewinnung des Gatten.<br />
Es ist sehr bezeichnend, dass der Operntext, eindeutiger noch als die Komödie,<br />
diese Gattenliebe der Contessa zu ihrem tragenden Charakterzug gemacht hat, denn<br />
sowohl ihre Auftrittscavatine (Nr. 11) »Porgi amor« wie ihre große Arie (Nr. 20)<br />
»Dove sono i bei momenti« mit dem vorausgehenden Accompagnato »E Susanna<br />
non vien« sind, freilich erst in MOZARTs Musik, untrügliche Zeugnisse einer tiefen<br />
und unwandelbaren Liebe, die sogar eher den Tod herbeisehnt als ohne die<br />
Liebe des Gatten zu bleiben. Man sieht aber auch in den komödienhaften Situationen,<br />
dass die Gräfin, anders als ihr Vorbild, mit großer Zurückhaltung agiert und<br />
eine Beschämung des Grafen verhindert.<br />
Ihre Talente zur Intrige, welche die Rosina des »Barbier« so virtuos beherrschte,<br />
sind mittlerweile freilich auch der Gräfin nicht ganz abhanden<br />
gekommen. Allerdings meistert die »Figaro«-Gräfin heikle Situationen – und diese<br />
gibt es ja in Fülle – nicht mit derselben Kaltblütigkeit wie die Comtesse. Wenn es<br />
aber um die Wiedergewinnung ihres Gatten geht, zeigt sie Mut, ja sogar eigene<br />
Initiative, indem sie den Plan entwirft, in den Kleidern Susannas selbst zum<br />
abendlichen Rendezvous mit dem Grafen zu gehen.<br />
Es gibt aber noch eine Seite ihres Charakters, die in der »Folle journée« breit<br />
ausgespielt wird, in der Oper aber eher nebensächlich bleibt: die erotische Beziehung<br />
zu Chérubin/Cherubino. Scheint die Comtesse gefährlich nahe an den Rand<br />
einer verzehrenden Leidenschaft zu geraten, was insbesonders die Episode um das<br />
Haarband erkennen lässt, so bleibt die Contessa zwar auch nicht unbewegt von den<br />
Verlockungen jenes jugendlichen Ungestüms, ja sie kommt ihnen sogar entgegen,<br />
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freilich ohne je die Grenze zu überschreiten, die ihr die Dominanz der Gattenliebe<br />
zieht. Gerade diese – soll man sagen - »Affäre« mit Cherubino bewahrt aber die<br />
»Figaro«-Gräfin vor dem Missverständnis einer Idealgestalt, sondern zeigt sie als<br />
eine zu echter, weil auch zu sinnlicher Liebe fähige Frau, deren unbedingte Hinwendung<br />
zum Grafen so erst ganz verständlich wird.<br />
Am Schluss der Oper, da der Graf seine Lektion erhalten hat, zögert auch sie<br />
nicht, sofort und freudigen Herzens zu verzeihen. Sie übernimmt aus dessen Verzeihungsbitte,<br />
dem berühmten »Contessa perdono!«, den melodischen Grundriss<br />
als Zeichen der ungebrochenen Verbundenheit mit ihm und überträgt das schon in<br />
ihrer Auftrittscavatine »Porgi amor« exponierte Persönlichkeitssymbol auch noch<br />
dem Ensemble bis zum endgültig abschließenden Allegro assai: »Questo giorno di<br />
tormenti, / di capricci, e di follia, / in contenti e in allegria / solo amor può terminar.<br />
/ Sposi, amici, al ballo, al gioco, / alle mine date foco! / Ed al suon di lieta<br />
marcia / corriam tutti a festeggiar!«<br />
Schlusswort<br />
In seinem Aufsatz »Mozarts Größe« schreibt Othmar Spann: 27 »Worin geht<br />
aber Mozart den andern Meistern seiner Art und andern schöpferischen Männern<br />
vor? Wir antworten: Seine Musik ist keine irdische, sondern eine überirdische, und<br />
das nicht im bildlichen, sondern im wörtlichen Sinne. [. . .] Mozart zeigte die<br />
himmlische Heiterkeit [. . .] Er zeigte sie [. . .] als das, was immer da ist, als das<br />
Blut des Lebens, den Atem des Geistes. Er zeigte sie [. . .] immer als sein<br />
Eigenstes, [. . .] so vor allem im gesamten F i g a r o vom Vorspiel bis zum<br />
Ende.«<br />
27 ) Othmar SPANN: Kämpfende Wissenschaft, Gesamtausgabe, Bd. 7, 335 u. 338.<br />
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