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H.T. Hakl.pdf - Zeitschrift für Ganzheitsforschung

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H.T. <strong>Hakl</strong>, Graz<br />

ERANOS IM SPIEGEL DER GEISTESGESCHICHTE DES<br />

20. JAHRHUNDERTS *<br />

Seit nunmehr beinahe siebzig Jahren (mit der einzigen Ausnahme von 1989) werden im<br />

schweizerischen Ascona die geistesgeschichtlich so bewegenden, aber in der breiten Öffentlichkeit<br />

kaum bekannten Eranostagungen abgehalten. Der Tod der Begründerin Olga FRÖBE-KAPTEYN<br />

sowie der maßgeblichen Initiatoren der ersten Jahre haben – außer an der äußeren Form – nichts daran<br />

geändert. Warum trotz zahlreicher Probleme – ich erinnere nur an den Zweiten Weltkrieg – diese<br />

Tagungen einen so lang andauernden Erfolg hatten, wird uns noch beschäftigen. Daß sie jedenfalls<br />

etwas ganz Besonderes darstellen, beweisen die folgenden Stellungnahmen.<br />

Der wohl bekannteste Religionshistoriker des 20. Jahrhunderts, Mircea ELIADE, bezeichnete im<br />

Vorwort zum zweiten Bande seines Tagebuches 1 den "Geist von Eranos" als "eine der<br />

schöpferischsten Kulturerfahrungen in der modernen westlichen Welt. An keinem anderen Ort findet<br />

man ein vergleichbares anhaltendes Bemühen von Gelehrten, den Fortschritt, der auf den<br />

verschiedensten Fachgebieten errungen wird, in eine alles umfassende Perspektive zu integrieren." Ja,<br />

in einem den Eranostagungen gewidmeten Themenheft der schweizerischen <strong>Zeitschrift</strong> Du 2 vergleicht<br />

er diese Tagungen gar mit "gewissen 'Kreisen' der italienischen Renaissance oder der deutschen<br />

Romantik, d.h. (mit) 'Gruppen', die in einem bestimmten historischen Augenblick die fruchtbarste und<br />

am weitesten fortgeschrittene geistige Bewegung verkörpern". Auch der berühmte Psychologe C.G.<br />

JUNG schrieb am 30. März 1957 3 "vom Licht des europäischen Geistes, das von Eranos in diese Zeit<br />

des Dunkels <strong>für</strong> so viele Jahre ausgegangen ist". Sein Schüler, der Tiefenpsychologe Erich<br />

NEUMANN aus Tel Aviv, ging noch weiter und meinte gar 4 : "Unscheinbar und abseits, und doch ein<br />

Nabel der Welt, kleines Glied der Goldenen Kette", wobei er auf die mythische "Goldene Kette" der<br />

Weisheitslehrer anspielt, die mit dem legendären Hermes TRISMEGISTOS ihren Anfang nimmt. Und<br />

es gibt noch zahlreiche weitere ähnlich lobende Aussprüche anderer Geistesgrößen.<br />

Das Wesen von Eranos kann - zumindest in den ersten zwanzig Jahren - nicht unabhängig von<br />

der Gründerin Olga FRÖBE-KAPTEYN verstanden werden. Selbst ein so skeptischer Geist wie der<br />

Kabbalaforscher Gershom SCHOLEM hat 1979 nach drei Jahrzehnten(!) der Eranosteilnahme über sie<br />

folgendes geschrieben: 5 "Als wir, Adolf Portmann, Erich Neumann, Henry Corbin, Ernst Benz, Mircea<br />

Eliade, Karl Kerényi und viele andere, Religionswissenschaftler, Psychologen, Philosophen, Physiker<br />

und Biologen, versuchten bei Eranos mitzuwirken, war <strong>für</strong> uns die Gestalt von Olga Fröbe, hinter<br />

ihrem Rücken allgemein als 'die große Mutter' bekannt, maßgeblich. Olga Fröbe war eine Figur, die<br />

unvergeßlich <strong>für</strong> alle ist, die hier öfter oder einmal längere Zeit geweilt haben."<br />

Henry CORBIN, der große Kenner des esoterischen Islam widmete ihr sogar ein sehr hieratisch<br />

gehaltenes Gedicht voller alchimistischer und mystischer Anspielungen und nannte sie darin:<br />

* ) Dieser Aufsatz ist die leicht überarbeitete schriftliche Fassung des Vortrages auf der Jahrestagung der Gesellschaft <strong>für</strong><br />

<strong>Ganzheitsforschung</strong> (Filzmoos, 20.9.2002) und beruht auf dem Buch des Autors Der verborgene Geist von Eranos –<br />

Unbekannte Begegnungen von Wissenschaft und Esoterik – Eine alternative Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, Scientia<br />

Nova, Bretten 2001.<br />

1 ) Mircea ELIADE, Journal II, 1957 - 1969, University of Chicago Press, Chicago 1989, xiii, ursprünglich unter dem Titel<br />

No Souvenirs, Harper & Row, New York 1977, veröffentlicht. Hier zitiert in der Übersetzung des Aufsatzes "Eliade und<br />

Jung. Der Geist von Eranos" von Guilford Dudley ILL in Hans Peter DUERR (Hg.), Die Mitte der Welt, Suhrkamp, Frankfurt<br />

1984, 36.<br />

2 ) Du, Zürich, April 1955, 60.<br />

3 ) Faksimile in Aniela JAFFÉ, C.G. Jung in Wort und Bild, Olten 1977, 187. Das vollständige Zitat ist auch dem Heft Olga<br />

FRÖBE (Hg.), 25 Jahre Eranos, Rhein-Verlag, Zürich 1957 vorangestellt.<br />

4 ) Zitiert nach dem Eranos-Tagungsband 44 (1975), Brill, Leiden 1977, 5.<br />

5 ) Gershom SCHOLEM , Identifizierung und Distanz - Ein Rückblick in Eranos 48 - 1979, Insel Verlag, Frankfurt/M. 1981,<br />

463.


"Diejenige, die aus dem Zentrum den Ruf erließ und das Wunder wirkte und die den Seelen das<br />

Göttliche Geschenk zufließen ließ". 6<br />

Olga FRÖBE hatte zwar holländische Eltern wurde aber 1881 in London geboren. Ihre Mutter<br />

war eine philosophische Anarchistin, die mit dem Fürsten Kropotkin bekannt war und ihr Vater leitete<br />

die europäische Niederlassung des amerikanischen Westinghouse-Konzerns. Sie war kurz mit dem<br />

Österreicher Iwan Fröbe verheiratet, der jedoch bald nach der Hochzeit bei einem Flugzeugabsturz<br />

ums Leben kam. Von 1915 an lebte sie in der Schweiz und war dort kunstgewerblich tätig. Sie war<br />

aber ebenso eine ausgezeichnete Kunstreiterin wie erfolgreiche Skifahrerin und gehörte zu den ersten<br />

Frauen, die die Gefahren und Anstrengungen einer Montblanc-Besteigung auf sich nahmen.<br />

Anläßlich eines Kuraufenthaltes im auf Naturheilkunde spezialisierten Monte Verità-Sanatorium<br />

bei Ascona lernten Olga FRÖBE und ihr Vater das malerisch gelegene Städtchen kennen. Da ihnen<br />

der Ort gut gefiel, kaufte Herr KAPTEYN in unmittelbarer Nähe in Moscia, direkt am Ufer des Lago<br />

Maggiore, die Villa Gabriella, in der später die Eranostagungen stattfinden sollten. Frau FRÖBE zog<br />

schließlich im April 1920 <strong>für</strong> ständig dort ein. Mit dem von ihrem Vater einige Jahre später ererbten<br />

Geld konnte sie dann Künstler, Dichter sowie esoterisch interessierte Menschen zu sich einladen und<br />

ihren religiös-philosophischen Neigungen nachgehen. Auch Kontakte zur Theosophischen<br />

Gesellschaft pflegte sie und könnte dabei sogar deren damalige Präsidentin Annie BESANT und den<br />

von der theosophischen Spitze auserkorenen "Weltenlehrer" KRISHNAMURTI kennengelernt haben.<br />

Ihr Freundeskreis umfaßte insbesondere den Dichter Ludwig DERLETH, der zu den Münchner<br />

Kosmikern um Stefan GEORGE gehörte. 1928 baute sie dann auf ihrem Grundstück den später bei<br />

Eranos eine "Hauptrolle" spie lenden großen Vortragssaal.<br />

Zuerst benutzt wurde er 1930 im Rahmen einer Sommerakademie, in der Olga FRÖBE <strong>für</strong> die<br />

ehemalige Theosophin und Leiterin der sogenannten Arkanschule, Alice BAILEY, aber auch andere,<br />

wie den Groß<strong>für</strong>st ALEXANDER von RUSSLAND und den Begründer der esoterisch ausgerichteten<br />

Psychosynthese, Roberto ASSAGIOLI, Vorträge organisierte. Im Vordergrund stand, wie sie in einem<br />

Einladungsbrief schrieb, das Studium "der Theosophie, der Mystik, der esoterischen Wissenschaften<br />

und Philosophien sowie aller Formen des spirituellen Forschens". Mit den lebensreformerischen und<br />

politisch alternativen Aktivitäten rund um den nahen Monte Verità wollte Frau FRÖBE hingegen<br />

nichts zu tun haben. Eine Neigung fühlte sie viel eher <strong>für</strong> die Schule der Weisheit des Grafen Hermann<br />

KEYSERLING, wo sie auch den <strong>für</strong> die späteren Eranos-Tagungen ungemein wichtigen Carl Gustav<br />

JUNG kennengelernt haben dürfte und von wo sie sicherlich Ideen <strong>für</strong> ihre eigenen Tagungen<br />

übernahm. Nachdem die Schule der Weisheit, die in Darmstadt ihren Sitz hatte, nach 1933 wegen<br />

Schwierigkeiten mit dem Nationalsozialismus ihre Pforten schließen mußte, kam Frau FRÖBE gerade<br />

recht, um in der neutralen Schweiz, eine ähnliche Tagungsreihe aufzubauen.<br />

Den Namen Eranos hatte Olga FRÖBE nach eigener Aussage vom Religions forscher Rudolf<br />

OTTO erhalten, den sie im November 1932 in Marburg an der Lahn besuchte, um mit ihm ihr<br />

Vorhaben der Organisation einer abgeänderten, mehr akademischen Sommerakademie zu besprechen.<br />

Unter Eranos ist im altgrie chischen Sinn ein Gastmahl zu verstehen, zu dem jeder Geladene eine<br />

bestimmte Gabe mitzubringen hat, im Falle unserer Tagungen eben die vorbereiteten Reden. Als<br />

berühmtestes Beispiel <strong>für</strong> einen Eranos könnte man das Symposium von PLATON anführen.<br />

Im August 1933 fand die erste – als solche benannte – Eranostagung statt, an der 40–50 Leute<br />

teilgenommen haben sollen und die ca. zwei Wochen dauerte. Das Thema lautete: "Yoga und<br />

Meditation im Osten und im Westen". An Sprechern sind neben C.G. JUNG u.a. der Indologe<br />

Heinrich ZIMMER und der Sinologe Erwin ROUSSELLE zu nennen, der über die seelische Führung<br />

im lebenden Taoismus sprach. Auch der bedeutende Religionswissenschaftler und protestantische<br />

Theologe Friedrich HEILER hielt einen Vortrag. Eine echte Zäsur zur vorhergehenden<br />

Sommerakademie ist aber noch nicht wahrzunehmen und auch Frau FRÖBE selbst hat die sogenannte<br />

"Eranoszeit" nicht genau mit 1933 beginnen lassen. Erst im Laufe der kommenden Jahre setzte sich<br />

dann der mehr wissenschaftliche Charakter der Zusammenkünfte deutlicher durch, was ich dem<br />

Einfluss von C. G. JUNG zuschreiben möchte, dem alles "Theosophische" suspekt war. So nahm er<br />

bis in die fünfziger Jahre einen großen Einfluß auf die Auswahl der Vortragenden, denn er wollte ja<br />

keineswegs seinen damals noch ungefestigten Ruf riskieren.<br />

6 ) Christian JAMBERT (Ed.), Henry Corbin, L’Herne, Paris 1981, 264.


Schon an dieser ersten Tagung kann man sehr gut einige der Besonderheiten von Eranos<br />

erkennen. Eranos war auf Grund der Vorgeschichte von Frau FRÖBE ursprünglich als<br />

Begegnungsstätte zwischen östlicher und westlicher Geistigkeit geplant, was man am schon erwähnten<br />

ersten Tagungsthema Yoga deutlich sehen kann Die Entwicklung führte aber weit darüber hinaus und<br />

der Gedankenaustausch umfaßte in den späteren Jahren neben Psychologie und<br />

Religionswissenschaften ebenso Kunstgeschichte, Musik, Philosophie, Altertumswissenschaften, aber<br />

auch Politologie, Physik und Biologie. Durch den langen gemeinsamen Aufenthalt von ein bis zwei<br />

Wochen kam es da natürlich zu äußerst anregenden Gesprächen zwischen den Vortragenden. Dazu<br />

trug sicherlich auch die heitere Atmosphäre bei, die das italienisch beeinflußte Ascona ausströmte.<br />

Diese Interdisziplinarität, die damals in universitären Kreisen eher unüblich war, brachte es mit<br />

sich, daß die Redner ihren Fachjargon sehr einschränkten. Dazu kam natürlich, daß die Vorträge<br />

öffentlich waren und zahlendes Publikum anlocken sollten. Auch das trug dazu bei, daß fachmäßige<br />

Spitzfindigkeiten, reine Faktenaufzählungen und Detailverliebtheit bei Eranos keinen Platz hatten, ein<br />

intelligentes Publikum interessierende wissenschaftliche Themen, neue Entdeckungen und Theorien<br />

sowie ein lebhafter Vortrag jedoch starken Anklang fanden. Viele Hörer wollten sich mitreißen lassen<br />

oder gar "ergriffen" sein. Und ergriffen ist man, wenn nicht nur das Hirn tätig wird, sondern auch die<br />

Seele. Rein positivistische, ausschlie ßlich von der Ratio getragene und bloß historizistische<br />

Darlegungen mögen zwar <strong>für</strong> ein Fachpublikum aufschlußreich sein, lassen aber ein großes Publikum<br />

kalt. So wurde bei Eranos fast schon erwartet, daß sich die Vortragenden, die zwar durchwegs<br />

Universitätsprofessoren waren, etwas über ihre streng akademischen Konventionen hinauswagten und<br />

neben den wissenschaftlichen Erkenntnissen auch persönliche Erfahrungen, Hypothesen,<br />

Vermutungen und vielleicht sogar Ahnungen mit dem Publikum teilten. Dabei half, daß sie <strong>für</strong> ihre<br />

Vorträge zwei Stunden zur Verfügung hatten und daher auch hier nicht in ein enges Korsett geschnürt<br />

waren.<br />

Vorträge über Mythen, Symbole, alte und fremde Religionen eigneten sich natürlich in ganz<br />

besonderem Maße <strong>für</strong> eine solche Veranstaltung. Das ging soweit, daß auch, heute würde man sagen,<br />

"esoterische" oder "hermetische" Themen, wie Alchimie, Kabbala , Astrologie, Tarot und antike<br />

Mysterien angesprochen wurden. Man wollte eben nicht ausschließlich bloße Gelehrsamkeit<br />

vermitteln, sondern, wie schon angedeutet, gleichfalls (was natürlich nicht auf alle Teilnehmer zutrifft)<br />

eine mögliche geistige "Transformation" des Menschen mitanklingen lassen. Sowohl der rationale als<br />

auch der "mythische" Anteil im Menschen sollten zu ihrem Recht kommen. Der Biologe und spätere<br />

langjährige Leiter von Eranos, Adolf PORTMANN drückte es so aus: 7 "Die Eranostagungen haben<br />

immer einem Leben im Mediokosmos (die spirituelle Zwischenwelt zwischen Makrokosmos-<br />

Universum und Mikrokosmos-Mensch, Anm. HTH) dienen wollen. Sie haben das archaische<br />

Geistesgut nicht um des Irrationalen schlechthin aufgesucht und erschlossen, nicht in einer<br />

prinzipiellen Gegenstellung zum rationalen Weiterleben. Die Pflege dieser archaischen Weltsicht<br />

geschah, weil hier die Harmonie von rationalem und irrationalem Erleben reicher und reiner sich zeigt,<br />

weil hier die schöpferischen Mächte in ihren mächtigsten Zeugnissen von der Größe des Geistigen<br />

künden und so auf Heilkräfte hinweisen, die zu verlieren wir in Gefahr sind - ja, die viele Menschen<br />

des Abendlandes in erschreckendem Ausmaß bereits aus dem Blick ... verloren haben. .... Eranos (läßt)<br />

so wieder ahnen, was eine Sakralisierung des ganzen Lebens und des Kosmos an Geborgenheit und<br />

Größe des Lebensgefühls zu schenken vermag."<br />

Dieses Streben hat sich bis in die letzte Zeit von Eranos hin erhalten. In einer programmatischen<br />

Zusammenfassung der sogenannten Amici di Eranos, die nach dem erwähnten Unterbruch 1989 die<br />

Weiterführung der hergebrachten Konferenzen auf sich nahmen und die von Erik HORNUNG und<br />

Tilo SCHABERT stammt 8 , steht folgendes: "Das Leben von Eranos kommt aus der inspirierten<br />

Wissenschaft seiner Redner. Bei deren Auswahl folgte Olga Froebe-Kapteyn einer klaren Vorstellung.<br />

'Wer bei Eranos redet (so Frau Fröbe), schaut in die Fülle seiner inneren Gesichte und sucht sie in<br />

einer wissenschaftlichen Form zu bändigen.' Diese Verbindung von imaginativ-schöpferischem und<br />

streng wissenschaftlichem Denken blieb <strong>für</strong> Eranos das gültige Prinzip."<br />

7 ) Eranos 30 - 1961, Rhein Verlag, Zürich 1962, 25 u. 27.<br />

8 ) Eranos – Einige Erläuterungen.


Eranos will nicht, daß der Mensch zwischen den entgegengesetzten Polen Logos und Mythos<br />

zerrissen wird, sondern strebt etwas Drittes an: den Menschen als ein Wesen des Sowohl-als-Auch und<br />

eben nicht des unversöhnlichen Entweder – Oder. Eranos hält augenscheinlich ein Tertium datur <strong>für</strong><br />

möglich, das beides, Intellekt und sagen wir es ruhig "Heils"-erwartung, in sich faßt. Donna und<br />

Charles SCOTT von der Vanderbilt University in Nashville nennen das eine "Rationalität, die nicht<br />

einschränkt und zerstückelt, was sie sieht, sondern die bereichert, Synthesen bildet und Widerhall<br />

hervorruft". 9<br />

Auch Mircea ELIADE bestätigt, daß neben der Interdisziplinarität das "Interesse an spirituellen<br />

Disziplinen und mystischen Techniken von Anfang an einer der typischen Aspekte von Eranos war". 10<br />

Er betont aber, daß es sich dabei nicht um eine bloße Faszination <strong>für</strong> das "Okkulte" und um "billige<br />

Spiritualität" handle, sondern daß man darin heute vergessene existentielle Dokumente des<br />

Menschseins erkennen müsse. Sie seien von "unermeßlichem Wert, da sie Gipfelleistungen des<br />

menschlichen Geistes" darstellen. Und sie seien aus zwei Gründen wic htig: Erstens könne der Mensch<br />

einfach nicht mehr unendlich lange von einem wesentlichen Teil seines Seins getrennt weiterleben und<br />

zweitens sei nur über ein Verständnis dieser Spir itualität ein echter Dialog mit Asien und mit<br />

traditionellen, d.h. früher "primitiv" genannten Völkerschaften möglich.<br />

Eranos war damit die erste regelmäßige Tagungsreihe, die sich wissenschaftlich mit diesen<br />

zentralen spirituellen Fragen beschäftigte. Wouter HANEGRAAFF, Inhaber eines Lehrstuhls <strong>für</strong> die<br />

Geschichte der hermetischen Wissenschaften, weist in einem Aufsatz 11 übrigens deutlich darauf hin,<br />

daß die Eranostagungen eine entscheidende Rolle bei der Aufnahme von esoterischen Themen in den<br />

akademischen Diskurs gespielt haben. Die Tatsache, daß in Ascona über Jahrzehnte hinweg solche<br />

Themen von berühmten Gelehrten abgehandelt wurden, hätte eindeutig den Weg da<strong>für</strong> geebnet, daß<br />

heute bereits zwei universitäre Lehrstühle <strong>für</strong> esoterische Geschichte in Europa bestehen 12 und sich in<br />

religionswissenschaftlichen Fachvereinigungen Spezialgruppen mit dem Einfluß esoterischer<br />

Denkformen auseinandersetzen.<br />

Daß es Eranos gelungen ist, die akademische Welt davon zu überzeugen, die tiefinnere religiöse<br />

Sehnsucht des Menschen nach Ganzheit und Heil, die in der Esoterik ihren Ausdruck findet, auch<br />

wissenschaftlich ernst zu nehmen, gehört zweifellos zu den bleibenden Ergebnissen aus den<br />

Tagungen. Allein damit hat sich Eranos einen Platz in der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts<br />

gesichert.<br />

Aber das ist nicht der einzige Grund, warum diesen Tagungen ein solcher Platz gebührt. Wer die<br />

Geschichte der Psychologie studiert, wird bald sehen, daß eine der heute einflußreichsten Richtungen<br />

der Tiefenpsychologie, nämlich die analytische oder auch komplexe Psychologie genannt, ohne<br />

Eranos kaum eine so breite Resonanz gefunden hätte. Das trifft natürlich insbesondere auf deren Begründer<br />

Carl Gustav JUNG zu. Trotz seines anfänglichen Zögerns mitzumachen, erkannte JUNG sehr<br />

bald, welche Plattform sich da <strong>für</strong> seine bahnbrechenden Gedanken auftat. Nicht nur, daß er seine<br />

Theorien vor ihrer Veröffentlichung mit Fachleuten aus anderen <strong>für</strong> ihn wichtigen Gebieten<br />

diskutieren konnte, er war sich sicher, daß sie auf diese Weise auch weit verbreitet würden. Zu Eranos<br />

kamen ja Vortragende und Publikum aus den USA, aus Asien und ganz Europa. Dazu gab es noch die<br />

Jahrbücher, wo die Tagungen dokumentiert waren und die Vorträge in ausgearbeiteter Form publiziert<br />

wurden. JUNGs Gedanken zur Parallelität von Alchimie und Individuationsprozeß oder zum<br />

Phänomen der Synchronizität wurden übrigens erstmals bei Eranosvorträgen an die Öffentlichkeit<br />

gebracht.<br />

Andererseits formten JUNGs Vorstellungen auch einen wesentlichen Teil des<br />

Selbstverständnisses von Eranos (und von Frau FRÖBE). Besonders wichtig dabei waren seine Lehren<br />

von den Archetypen und dem Individuationsprozeß. Wie bekannt, unterscheidet JUNG im Gegensatz<br />

9 ) Sh. ihren Aufsatz Eranos and the Eranos Jahrbücher in Religious Studies Review, vol. 8, no. 3, July 1982, 229.<br />

10 ) Mircea ELIADE and Ira PROGROFF, About the Eranos Conferences, Sonderdruck, Ascona o.J..<br />

11 ) Wouter HANEGRAAFF, "Beyond the Yates Paradigm: The Study of Western Esotericism between Counterculture and<br />

New Complexity" in der Neufassung von ARIES, vol.1, issue 1 (2001), 5-37.<br />

12 ) In Paris an der Ecole Pratique des Hautes Etudes (Sorbonne) und in Amsterdam an der Theologischen Fakultät der<br />

Universität.


zu FREUD zwischen einem individuellen Unbewußten, das auf die Einzelpersönlichkeit beschränkt<br />

bleibt und einem kollektiven Unbewußten, das allen Menschen gemeinsam zu eigen ist. Der<br />

Archetypus ist nun nach JUNG eine der menschlichen Psyche innewohnende, unsichtbare aber äußerst<br />

wirksame Struktur, die das seelische Erleben selbsttätig um sich ordnet. Dieser Archetypus ist nach<br />

JUNG psychoid, also sowohl körperlich begründet wie auch psychisch und geht über die individuelle<br />

Persönlichkeit hinaus. Interessant ist dabei vor allem, daß die archetypische Struktur eine <strong>für</strong> alle<br />

Menschen, unabhängig von Rasse, Religion oder Kultur, gültige ist und z.B. in den weltweit<br />

anzutreffenden Urbildern vom weisen alten Mann, der Großen Mutter oder des Helden zum Ausdruck<br />

kommt.<br />

Mögen die Mythen der einzelnen Kulturen und Völker auch verschieden ausgeprägt sein, so<br />

haben sie in der archetypischen Struktur doch dieselbe gemein same Basis. Diese wiederum bildet eine<br />

echte Grundlage <strong>für</strong> eine tatsächliche Ein heit des Menschseins. Daraus leitet sich auch der Versuch<br />

von Eranos ab, eine allen Menschen und Kulturen gemeinschaftliche Plattform zu bilden, indem man<br />

westliche wie östliche, antike wie moderne und künstlerische wie religiöse Thematiken<br />

zusammenbrachte, um in ihrem tiefstinneren Gleichklang den Weg zu einem neuen Humanismus 13<br />

und einem integralen Menschenbild zu erkunden. Entscheidend dabei ist auch, daß das Unbewußte<br />

und die archetypische Struktur ein vom individuellen Wollen schöpferisches Eigensein aufweisen, die<br />

den Menschen in eine gewissermaßen "vorgeformte" Richtung dirigieren.<br />

Damit ist auch schon eine zweite wichtige Lehre JUNGs angesprochen, nämliche diejenige von<br />

der Individuation. Darunter ist ein Vorgang zu verstehen, bei dem die Archetypen selbsttätig den<br />

Menschen zu seiner innersten Erfüllung hinführen. Dazu ist es allerdings nötig, die tagtägliche Maske<br />

– die Persona – abzulegen, um zu dem zu werden, was man tatsächlich in seinem innersten Wesen ist.<br />

Die Archetypen, die nach JUNG allesamt eigentlich nur Facetten des sogenannten Selbst sind, also<br />

des Archetypus, der das "endgültige" Ziel der geistigen Entwicklung darstellt, würden sich dabei<br />

schlußendlich zu einem wunderbaren harmonischen Mandala formen, das die psychischen Gegensätze<br />

nicht auflösen will, sondern sie so in sich birgt, daß sie nicht länger schmerzen (coincidentia oder<br />

complexio oppositorum).<br />

Diese Gedanken bildeten auch die theoretische Grundlage von JUNG und anderen Vortragenden<br />

<strong>für</strong> die Beschäftigung mit den vorhin angesprochenen esoterischen Themen. So wurde z.B. der<br />

alchimistische Prozeß der Metallverwandlung zum Individuationsprozeß in Beziehung gesetzt. Dessen<br />

Ziel, den über den Einzelmenschen hinausgehenden Archetyp des Selbst als wahre Lebensachse zu<br />

setzen, wurde mit dem alchimistischen Ziel, den Stein der Weisen zu erlangen, symbolisch<br />

gleichgesetzt. Ebenso damit gleichzusetzen sei die Einheit mit Jesus Christus, die der Mystiker<br />

anstrebt. Ja Eranos selbst wurde gleichsam als Archetypus, d.h. als ein hinter den Tagungen wirkendes<br />

psychoides Phänomen angesehen. Verkörpert wurde es im "verborgenen Geist von Eranos", dem<br />

sogenannten genius loci ignotus, dem der Bildhauer Paul SPECK im Garten neben dem Vortragssaal<br />

eine Stele errichtete. Der Auftrag da<strong>für</strong> kam von C.G. JUNG, dem holländischen Theologen Gerardus<br />

van der LEEUW und von Frau FRÖBE.<br />

Frau FRÖBE war von all diesen Vorstellungen so durchdrungen, daß sie das allmähliche<br />

Wachsen von Eranos gar mit ihrem eigenen Individuationsprozeß gleichsetzte. Sie sah also die äußere,<br />

aber auch geistige Entwicklung der Tagungen als Spiegel ihrer eigenen inneren Entwic klung. Beide<br />

mußten ihrer Ansicht nach, um erfolgversprechend zu sein, parallel gehen, was manche<br />

Entscheidungen auslöste, die <strong>für</strong> Außenstehende unverständlich waren.<br />

Man sieht hier, daß Eranos viel tiefer drang als es akademische Vorträge normalerweise<br />

vermögen. Das hat auch eine Menge Kritiken eingetragen, allen voran die sicherlich folgenreic hste im<br />

Aufsatz Eranos - eine moderne Pseudo-Gnosis 14 des marxistischen Philosophen Hans Heinz HOLZ.<br />

Zusammenfassend sieht HOLZ in Eranos eine konservative spätbürgerliche Weltfluchtbewegung, die<br />

durch die egozentrische Konzentration auf Selbsterlösung wegführt vom politischen Engagement <strong>für</strong><br />

eine bessere Welt. In dem Zusammenhang fallen auch härtere Worte wie "sektiererischer Eindruck"<br />

(250) oder "säkularisierte Mysterien-Sekte" (251). Ebenso taucht immer wieder der Vorwurf auf,<br />

13 ) In einem Brief vom 2.8.1956 an ihren großen Gönner Paul MELLON spricht Frau FRÖBE beim Versuch Eranos zu<br />

definieren als von "dem Konzept einer Wiedergeburt des Humanismus".<br />

14 ) In Jacob TAUBES (Hg.), Religionstheorie und Politische Theologie. Band 2: Gnosis und Politik, München-Paderborn<br />

1984, 249 - 263.


Eranos sei eigentlich eine neugnostische Bewegung im Sinne von Hans JONAS oder Eric<br />

VOEGELIN.<br />

Da wir jetzt doch schon einen gewissen Einblick in die Leitideen von Eranos gewonnen haben,<br />

möchte ich nur ganz kurz die weitere äußere Geschichte der Tagungen bis zum Tode von Frau FRÖBE<br />

skizzieren. Die Vorgeschichte habe ich ja eher ausführlich behandelt, da sie me iner Meinung nach <strong>für</strong><br />

ein Verständnis der Gesamtidee von Eranos unerläßlich ist. Schon nach den ersten drei Tagungen von<br />

1933-1935 war der Erfolg bei Rednern und Zuhörern offensichtlich und der kurzfristige Plan von Frau<br />

FRÖBE, sie nicht mehr weiterzuführen, kam nicht zum Tragen. Das Eigenleben des "Geistes" von<br />

Eranos war schon zu stark. Die Kriegsjahre brachten zwar Einschränkungen, aber keinen Unterbruch.<br />

Nach Kriegsende kamen zu den Geisteswissenschaften auch die Naturwissenschaften dazu, die mit<br />

dem Namen des Basler Biologen Adolf PORTMANN verbunden sind. Finanzielle Schwierigkeiten<br />

hätten aber bald dem gesamten Unternehmen ein Ende gesetzt. Der amerikanische Multimillionär Paul<br />

MELLON und seine Frau Mary, die beide bei JUNG Analysanden waren, sprangen jedoch ein und<br />

garantierten sogar die Finanzierung der Tagungen und vieler dort Sprechender bis in die sechziger<br />

Jahre. Ein Zusammenschluß mit einer vom Philosophen Walter Robert CORTI geplanten Akademie<br />

im PLATON'schen Sinne, den Frau FRÖBE anstrebte, um die Weiterführung der Konferenzen nach<br />

ihrem Tode zu regeln, ging jedoch völlig schief. 1962 starb Frau FRÖBE und übergab die Leitung<br />

dem schon erwähnten Adolf PORTMANN und dem Psychoanalytiker Rudolf RITSEMA.<br />

In dieser Zeit sprachen so viele bekannte Wissenschaftler und Gelehrte bei Eranos, daß ich nur<br />

die wichtigsten aufzählen kann: der Indologe Jakob Wilhelm HAUER, der Psychologe Gustav Richard<br />

HEYER, der Judaist und Philosoph Martin BUBER, der Islamkenner und Mystiker Louis<br />

MASSIGNON, der Gräzist Wilhelm Friedrich OTTO, der Philosoph Hans LEISEGANG, der<br />

Mythenforscher Karl KERÉNYI, der jesuitische Theologe Hugo RAHNER, der Physiker und<br />

Nobelpreisträger Erwin SCHRÖDINGER, der Gnosisforscher Gilles QUISPEL, der Rabbiner Leo<br />

BAECK, der Psychologe Erich NEUMANN, der Theologe und Politiker Gerardus van der LEEUW,<br />

der Religionshistoriker Raffaele PETTAZZONI, der Soziologe Helmuth PLESSNER, der Tibetologe<br />

Giuseppe TUCCI, der Kunsthistoriker Herbert READ, der Zengelehrte Daisetz Teitaru SUZUKI, der<br />

Kardinal Jean DANIÉLOU, dann der Theologe Ernst BENZ, der Musikologe und Pythagoreer Hans<br />

KAYSER, der durch Tonkassetten und Fernsehen weltberühmt gewordene amerikanische<br />

Mythenforscher Joseph CAMPBELL usw. usw. Vier der bedeutendsten und prägendsten<br />

Vortragenden sind hier allerdings nicht erwähnt. Einen davon, C.G. JUNG, habe ich schon<br />

besprochen. Dreier weiterer möchte ich mich jetzt etwas näher annehmen: Gershom SCHOLEM,<br />

Mircea ELIADE und Henry CORBIN. Diese drei, die Eranos in den fünfziger Jahren zu einer<br />

regelrechten Blüte führten, können nämlich als Beispiele <strong>für</strong> die dort grundlegende Geisteshaltung<br />

dienen. Und da alle drei zu den berühmtesten Geisteswissenschaftlern des vergangenen Jahrhunderts<br />

zählen, sind sie zusätzlich hervorragend geeignet, um den stark unterschätzten Einfluß der Tagungen<br />

auf die heutige Geistesgeschichte unter Beweis zu stellen.<br />

Gershom SCHOLEMs großes Verdienst war es, als erster Wissenschaftler das riesige hebräische<br />

Schrifttum zur Kabbala, der esoterischen Tradition des Judentums, durchforstet und daraus eine<br />

eigenständige akademische Disziplin gemacht zu haben. Trotzdem war er selbst kein Esoteriker im<br />

engeren Sinne des Wortes, sondern befleißigte sich in seinen Arbeiten einer streng philologischen und<br />

historischen Methode.<br />

SCHOLEM wollte zwar dem Denken des Eranos so stark bestimmenden C.G. JUNG<br />

ausdrücklich nicht anhängen, aber dessen Einsicht, wonach der Mensch zwei Pole, eben Rationalität 15<br />

und Mythos in sich trüge, die immer ein Gleichgewicht zu erlangen trachten, teilte er ebenfalls. Ja,<br />

SCHOLEM war der Meinung, daß die Vitalität des Judentums nachgerade in diesem Konflikt<br />

zwischen Mythos (d.h. seinen kabbalistischen Strömungen) und Antimythos (seinem strengen<br />

Gesetzescharakter) läge. In einem Interview sagt er dazu: "Mich hat die Frage sehr beschäftigt, ob eine<br />

rein halachische, eine rein gesetzesmäßige Auffassung des Judentums aus sich selbst imstande<br />

gewesen wäre, genügend Vitalität herzugeben unter den Stürmen der Geschichte und der Verfolgung<br />

15 ) Obwohl sich SCHOLEM selbst zu den "Bewunderern der Vernunft" zählte, war er doch davon überzeugt, daß die<br />

Vernunft vor allem ein Instrument der destruktiven Kritik sei. Für länger währende Institutionen seien nämlich Moral und<br />

damit Religion notwendig. Sh. Elisabeth HAMACHER, Gershom Scholem und die Allgemeine Religionsgeschichte, Berlin,<br />

Walter de Gruyter 1999, 58.


<strong>für</strong> diese Gruppe, dieses Volk, diese Gemeinschaft der Juden. ... Ich meine, da hat die Kabbala eine<br />

bedeutende Rolle gespielt, und gerade <strong>für</strong> die, die religiös am empfänglichsten waren. Denen gab sie<br />

eine Antwort, eine sehr eindrucksvolle und zum Teil sehr erfolg reiche Antwort, die <strong>für</strong> die Existenz<br />

der Juden in der geschichtlichen Welt etwas bedeutete, nämlich ihnen diese Existenz symbolisch<br />

deutete als Darstellung irgendeiner tieferen Wirklichkeit." 16<br />

In dreißig Jahren Vortragstätigkeit bei Eranos hat SCHOLEM nun seine kabbalistischen Studien<br />

einer interessierten Zuhörerschaft und durch die Jahresbände auch Leserschaft zugänglich gemacht.<br />

Besonders anzumerken ist hier, daß SCHOLEM damit ein hauptsächlich nicht jüdisches Publikum<br />

ansprach und es so <strong>für</strong> diese spezifisch jüdisch-mystische Strömung zu sensibilisieren vermochte. Ich<br />

würde sogar so weit gehen zu sagen, daß die heutige Kenntnis kabbalistischer Grundbegriffe z.B. in<br />

der New Age Bewegung ohne Gershom SCHOLEM keine so große Verbreitung gefunden hätte. Aber<br />

auch in einem viel profaneren Sinne hat Eranos zu den Arbeiten von SCHOLEM beigetragen. Über<br />

diese Tagungen kam er nämlich mit der amerikanischen Bollingen-Stiftung von Paul und Mary<br />

MELLON in Kontakt, die schon Eranos so tatkräftig unterstützt hatten und die nun auch ihn über<br />

Jahre hinweg mit großzügigen Stipendien bedachten, so daß er sorglos seinen Forschungen nachgehen<br />

konnte.<br />

Wie sich Gershom SCHOLEM mit der jüdischen Mystik beschäftigte, so bestand das<br />

Hauptanliegen von Henry CORBIN in der islamischen Mystik, dem sogenannten Sufismus. CORBIN<br />

hat sich zudem intensiv mit Franz von BAADER, Friedrich SCHELLING und Johann Georg<br />

HAMANN auseinandergesetzt. Er wurde deswegen ironischerweise sogar als der letzte "deutsche"<br />

Romantiker angesprochen. 17 Martin HEIDEGGER kannte er persönlich und übersetzte unter anderem<br />

seine Schrift Was ist Metaphysik? ins Französische.<br />

Seine eigene philosophische Position bezeichnet CORBIN als phänomenologisch und auf das<br />

"Verstehen" ausgerichtet. CORBIN geht noch weiter und erläutert seine Methode als "ein Wegziehen<br />

des Schleiers", womit im Sufismus, der Weg zur letztgültigen Wahrheit und zu einer realen<br />

spirituellen Welt gemeint ist. Seine Auffassung von Philosophie schließt also auch das mit ein, was<br />

man vielleicht "traditionale" Weisheit oder "sophia" im antiken Sinn nennen könnte. Eben deswegen<br />

ist sein Interesse in der Islamistik vorrangig auf deren esoterische Seite gerichtet. Damit aber sind<br />

seine philosophischen Arbeiten nicht bloße Beschreibungen, sondern werden vielmehr<br />

Aufforderungen zu einer geistigen Wiedergeburt. Ein kurzes Zitat aus dem Vorwort seiner<br />

Übersetzung von Sohrawardi–Traktaten unter dem Titel L’Archange Empourpré 18 wird das klar<br />

machen: "Die Philosophie, die sich nicht zu einer spirituellen Erfahrung entwickelt, ist ein leerer<br />

Zeitverlust. Umgekehrt ist jede mystische Erfahrung, der nicht eine seriöse philo sophische Ausbildung<br />

vorangeht, Illusionen, Verirrungen und anderen Krankheiten der Seele ausgeliefert."<br />

CORBIN setzte sich zudem <strong>für</strong> eine universale spirituelle "Ritterschaft" ein, deren Aufgabe es<br />

sein solle, das geistig-religiöse Erbe der Menschheit zu bewahren und gegen Modernismus,<br />

Verweltlichung und eine bloß historizistische Weltauffassung zu verteidigen. Den Anfang der<br />

Moderne, die ihren endgültigen Ausdruck in der Trennung von Materie und Geist durch DESCARTES<br />

findet, setzt CORBIN im 12. Jahrhundert an, als im Westen die auf ARISTOTELES beruhende, rein<br />

rationale Philosophie des AVERROES das mit der orphischen und platonischen Tradition verbundene<br />

Denken des AVICENNA verdrängte. Dieses war auf Selbsterkenntnis ausgerichtet, um so einen Weg<br />

zur Transzendenz zu finden.<br />

CORBINs zentrales Konzept, dessen Wichtigkeit <strong>für</strong> ein Verständnis des Spirituellen meiner<br />

Meinung nach gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, ist der sogenannte mundus imaginalis,<br />

die "imaginale" Welt. 19 Diese bildet nach ihm den Mittler zwischen dem absolut unerkennbaren Gott<br />

16 ) Gershom SCHOLEM , "...und alles ist Kabbala" – Gershom Scholem im Gespräch mit Jörg Drews, Text + Kritik,<br />

München 1980, 7.<br />

17 ) Steven WASSERSTROM, Religion after Religion, Princeton University Press, Princeton 1999, 54.<br />

18 ) Shihaboddin Yahya SOHRAVARDI, Shaykh AL-ISHRAQ, L’Archange empourpré – Quinze traités et récits mystiques,<br />

traduits du persan et de l’arabe par Henry Corbin, Fayard, Paris 1986, 12.<br />

19 ) Sh. vor allem seinen grundlegenden Aufsatz Mundus imaginalis – L’imaginaire et l’imaginal in den Cahiers<br />

internationaux de symbolisme, no. 6, 3-26 sowie sein Werk L’Imagination créatrice dans le Soufisme d’Ibn Arabi,<br />

Flammarion, Paris 1976 und insbesondere den zweiten Teil des Buches ab 139. Ebenso sein Werk La philosophie iranienne


und unserer irdischen Welt. Damit stellt sie das "Zwischenreich" dar, das in der Antike und in anderen<br />

Hochkulturen immer im Mittelpunkt des Interesses stand, denn nur über dieses Zwischenreich<br />

vermögen die göttlichen Kräfte auf unsere Erde herabzuwirken und wir zur göttlichen Welt<br />

hinaufzugelangen. Die imaginale Welt ist nach CORBIN auch der Bereich, in dem unsere "Seele" lebt,<br />

sie ist die Welt der "Engel" als Mittler des Göttlichen ebenso wie der Raum sakralen Geschehens und<br />

auf ihre Art ist sie ebenso "real" wie die Welt der sinnlichen Wahrnehmung "unter" ihr und die universal-göttlich-geistige<br />

"über" ihr. Ebenso aber ist in dieser Sicht der mundus imaginalis gleichzeitig<br />

der mundus archetypalis, also die Welt der "Seele", wo die Archetypen als "imaginale" Wesenheiten<br />

verankert sind. Diese Archetypen erscheinen als Bilder, die wiederum über eine besondere<br />

Wahrnehmungsmethode zugänglich sind, die als "aktive" oder "wahre Imagination" bezeichnet wird,<br />

um sie von der bloßen Phantasie zu unterscheiden. Dieser wahren Imagination kommt nach CORBIN<br />

ein im höchsten Sinne umfassender Erkenntniswert (ein noetischer Wert) zu und es geht dabei um<br />

einen spirituellen Sinngehalt, der keinesfalls mit einer bloßen Bildhaftigkeit verwechselt werden<br />

darf. 20<br />

Um diese aktive Imagination nun in Gang zu setzen, brauchen wir "Bilder". Das können<br />

Mandalas, Symbole oder aber auch Tarotkarten sein. Ebenso natürlich Bilder, die durch entsprechende<br />

poetische oder meditative Texte in uns aufsteigen. Erst durch die Mittlerfunktion dieser "aktiven<br />

Imagination", einer Funktion des "Herzens" 21 , sei uns der Kontakt mit der reinen, aber prinzipiell<br />

unerkennbaren Welt des Höchsten Geistes sowie echtes, erfahrbares religiöses und mystisches Erleben<br />

überhaupt möglich. Deshalb ist CORBIN auch davon überzeugt, daß "mit dem Verlust der Imaginatio<br />

vera und des Mundus imaginalis der Nihilismus und Agnostizismus beginnen". 22<br />

Das alles mag bei einem ersten Hören oder Lesen verwirrend wirken und die Eranos-Vorträge<br />

CORBINs waren alles andere als leichtverständlich. Und doch hat sich um ihn – ausgehend von<br />

Eranos – ein Kreis von Gleichgesinnten gebildet, der in der Université Saint-Jean de Jérusalem und<br />

nach deren Ende im Groupe d’Etudes Spirituelles seine Ziele auch noch heute weiterverfolgt. In<br />

Frankreich war und ist dieser Zirkel bis in die Jetztzeit in bedeutenden akademischen Positionen zu<br />

finden. Einige Namen der ersten Generation, die hier zu nennen wären, sind Antoine FAIVRE, Gilbert<br />

DURAND und Jean SERVIER. Henry CORBIN dürfte von den langjährigen Eranos-Rednern<br />

übrigens der am stärksten esoterisch ausgeprägte gewesen sein.<br />

Daß so etwas bei Eranos jedoch nicht automatisch eine Außenseiterposition bedeutete, zeigt ein<br />

Brief von Gershom SCHOLEM, der interessanterweise allge mein ans andere Ende des Spektrums<br />

gesetzt und als Kritiker der Esoterik einge stuft wird. Anläßlich des Todes von CORBIN schrieb<br />

SCHOLEM also an dessen Witwe Stella: "Für mich war er (d.h. Corbin) nicht nur ein Freund und<br />

Kamerad, sondern ein Mann, der sein Leben da<strong>für</strong> gewidmet hat, eine Welt zu verstehen und als<br />

islamique aux XVII et XVIII siècles, Buchet/Chastel, Paris 1981, 103ff. Arbeiten über das Konzept des Imaginalen sind sehr<br />

zahlreich. Für Beispiele sh. das Kapitel Logique de l’Imaginal in der genauen Arbeit von Christian JAMBET, La logique des<br />

Orientaux – Henry Corbin et la science des formes, Editions du Seuil, Paris 1983, 31 – 99, Gilbert DURAND (CORBINs<br />

Schüler und ebenfalls Eranosredner) The Imaginal in Mircea ELIADE (Ed.), The Encyclopedia of Religions, aaO., vol. 7,<br />

109f., Stéphane MASSONET, Henry Corbin et la conquête de l’imaginal in Antaios 14 (Printemps 1999), 98 – 110 sowie<br />

das kritischere und mit verschiedenen Diskussionsansätzen versehene Kapitel La doctrine islamique de l’Imaginal in Patrick<br />

GEAYs Buch Hermés trahi – Impostures philosophiques et néo-spiritualisme d’après l’oeuvre de René Guénon, Dervy, Paris<br />

1996, 189 – 206. Eine kurze, aber klare Übersicht gibt Joscelyn GODWIN in seinem Artikel The Arts of the Imagination,<br />

(Folge 10 der Annals of the Invisible College) in Lapis 10, 71 – 74. Der Aufsatz des Jungianers J. Marvin SPIEGELMAN,<br />

Active Imagination in Ibn Arabi and C.G. Jung in J. Marvin SPIEGELMAN with Pir Vilayat Inayat KHAN and Tasnim<br />

FERNANDEZ , Sufism, Islam and Jungian Psychology, New Falcon Publications, Scottsdale 1991, 104 – 118, klärt die<br />

Verbindungsstellen zur jungianischen Lehre.<br />

20 ) Für CORBIN ist diese Imagination eine so rein spirituelle Fähigkeit, daß sie sogar "unabhängig vom physischen<br />

Organismus ist und nach dessen Ableben weiterzubestehen vermag". Sh. den Aufsatz Mundus imaginalis, aaO., 13. Zur<br />

zentralen Bedeutung der Imagination in der Esoterik allgemein sh. das Kapitel Exercises d’Imagination in Antoine FAIVRE,<br />

Accès de l’ésotérisme occidental II, Editions Gallimard, Paris 1996, 171 – 240, wo auch CORBIN ausführlich zur Sprache<br />

kommt und Alain GODET, "Nun was ist die Imagination anderst als ein Sonn im Menschen"- Studien zu einem<br />

Zentralbegriff des magischen Denkens, ADAG, Zürich 1982.<br />

21 ) So hat James HILLMAN CORBINs Vorlesungen als Ausdruck eines Herzdenkens bezeichnet.<br />

22 ) Sh. sein Prélude à la deuxième édition - Pour une charte de l’Imaginal in Henry CORBIN, Corps spirituel et Terre<br />

céleste – De l’Iran mazdéen à l’Iran shi’ite, Buchet-Chastel, Paris 1979, 13.


Forscher zu durchdringen, die so nahe derjenigen war, der ich mein Leben gewidmet habe, wie ich mir<br />

das nur überhaupt vorstellen kann. Wir waren im wahr sten Sinne ehrlich und vielleicht die ersten<br />

akademischen Ausgräber in der Welt der esoterischen Imagination, wie sie die islamische und die<br />

jüdische Gnosis darstellt. Von allen Sprechern beim Eranos, war er es, zu dem ich die größte Wesensverwandtschaft<br />

spürte. Er allein hatte jene Art von innerer Sympathie, die es ihm ermöglichte, die<br />

dunklen und schwierigen Pfade der mystischen Welt zu erleuchten, die ich als absolut notwendig<br />

erachtete, um wirklich bedeutende und gleichzeitig auch akademische Arbeit in diesen Sphären zu<br />

betreiben. Sein Tod bedeutet <strong>für</strong> mich den Verlust eines geistigen Bruders." 23<br />

1950 brachte Henry CORBIN den wahrscheinlich mit Abstand einflußreichsten<br />

Religionswissenschaftler des 20. Jahrhunderts zu Eranos, nämlich Mircea ELIADE, von dem ich<br />

ebenfalls einige Grundgedanken skizzieren möchte:<br />

Im Aufsatz Krisis und Erneuerung der Religionswissenschaft in der von ihm und Ernst JÜNGER<br />

herausgegebenen bedeutenden <strong>Zeitschrift</strong> Antaios 24 bringt er sein Anliegen vor: "Die<br />

Religionswissenschaft ist nicht nur eine historische Disziplin wie zum Beispiel die Archäologie oder<br />

die Numismatik. Sie ist ebenso sehr eine Gesamthermeneutik (Kursivsetzung von Eliade). Sie ist<br />

berufen, jede Art der Begegnung des Menschen mit dem Heiligen von der Vorgeschichte bis heute zu<br />

entziffern und zu deuten. Aus Bescheidenheit oder vielleicht auch aus Überängstlichkeit ... scheuen<br />

sich die Religionswissenschaftler, die Ergebnisse ihrer Forschungen kulturell ins richtige Licht zu<br />

setzen." Seit Beginn des Jahrhunderts bis heute könne man daher "einen zunehmenden Verlust an<br />

schöpferischer Kraft und einen damit einhergehenden Verlust an deutender kultureller Synthese<br />

zugunsten einer fragmenthaften, analytischen Forschung beobachten".<br />

Und einige Seiten später schreibt er im selben Aufsatz: "Zu guter Letzt ändert (Kursivsetzung<br />

durch Eliade selbst) die schöpferische Hermeneutik den Menschen; sie ist mehr als Belehrung, sie ist<br />

darüber hinaus eine geistige Technik, die es erlaubt, das Dasein selbst zu verändern. Das gilt vor allem<br />

<strong>für</strong> die historisch-religiöse Hermeneutik. 25 Ein gutes religionswissenschaftliches Buch sollte den Leser<br />

aufrütteln". Damit könne auch die Basis <strong>für</strong> einen "Neuen Humanismus" entstehen. ELIADE geht es<br />

also um eine totale Hermeneutik, eine möglichst weit gehende Deutung der existentiellen Stellung des<br />

modernen Menschen, zu der ihm die Religionswissenschaft die Grundlagen liefern könne, da jeder<br />

Mensch im Wesen ein "homo religiosus" sei. Das "Heilige" müsse in der heutigen entsakralisierten<br />

Welt wiederum eine zentrale Stellung bekommen. Daher auch die ungemeine Bedeutung, die ELIADE<br />

dem "Mythos" zuschreibt, wozu insbesondere dessen spezifische religiöse Funktion gehört, "die<br />

Erfahrung des Heiligen zu übermitteln, zu garantieren, also auch die Kontinuität und Identität einer<br />

bestimmten Religion zu bewahren". 26<br />

Und eben deswegen auch die bei ELIADE immer wiederkehrende Gegenüberstellung zwischen<br />

traditionsgebundenem Menschen, der im Rahmen einer archaischen Kultur lebt und dem modernen,<br />

der ohne dieses geistige Band auskommen muß. Denn während der traditionsgebundene Mensch sich<br />

eins fühle mit dem Kosmos sowie den kosmischen Rhythmen und sein Dasein damit mit höchstem<br />

Sinn erfüllt sehe, laufe der moderne Mensch Gefahr, sein Leben als absurd zu empfinden, was im<br />

Nihilismus enden könne. Ebenso sei <strong>für</strong> den traditionsgebundenen Menschen die Geschichte in eine<br />

sinngebende höhere metaphysische Ebene eingebettet, <strong>für</strong> die Moderne hingegen sei Geschichte mit<br />

all ihren Schrecken bloß ein zufallsbedingter Vorgang, dem der Mensch einfach unterworfen sei, ohne<br />

daß er ein höheres Ziel zu erkennen vermöge.<br />

Allein diese kurzgefaßte Erörterung der vier hier vorgestellten Eranosredner und weltweit<br />

anerkannten Wissenschaftler, JUNG, SCHOLEM, CORBIN und ELIADE zeigt, welch großen Einfluß<br />

23 ) Gershom SCHOLEM , Briefe III, 1971-1982, C.H. Beck, München 1999, 193.<br />

24 ) Antaios IX, Klett-Verlag, Stuttgart 1968, 5. Dieser Aufsatz ist jetzt im Sammelband Mircea ELIADE, Das Okkulte und<br />

die moderne Welt – Zeitströmungen in der Sicht der Religionsgeschichte; Der Magische Flug – Aufsatzsammlung, AAGW,<br />

D-76547 Sinzheim 2000 (numerierte Privatedition) 197 – 215, neu aufgelegt worden.<br />

25 ) Zur Hermeneutik ELIADEs vgl. auch die Aufsätze von Julien RIÈS, Histoire des religions, phénoménologie,<br />

herméneutique – un regard sur l’oeuvre de Mircea Eliade und von David RASMUSSEN, Herméneutique structurale et<br />

philosophie, beide in Constantin TACOU (Ed.), Mircea Eliade, aaO., 81 – 87 bzw. 97 – 104.<br />

26 ) So Jürgen MOHN in seinem Buch Mythostheorien, Wilhelm Fink, München 1998, 121.


diese Tagungen auf die weitere geistesgeschichtliche Entwicklung des letzten Jahrhunderts hatten.<br />

Denn viele ihrer grundle genden Gedanken sind bei Eranos entweder das erste Mal vorgetragen worden<br />

oder zum Teil sogar aus den dort stattfindenden Gesprächen und Diskussionen entstanden.<br />

Doch nun zum letzten Teil der äußeren Geschichte von Eranos. Der Tod von Frau FRÖBE 1962<br />

und von C.G. JUNG 1961 brachte keinen Unterbruch und auch als Paul MELLON 1967 seine<br />

Zahlungen <strong>für</strong> Eranos endgültig einstellte, ging es, wenn auch mit Schmerzen, weiter. Eine geistige<br />

Nachfolge JUNGs trat James HILLMAN an, der in seiner archetypischen Psychologie gemeinsam mit<br />

dem Religionswissenschaftler David MILLER gegen den bisher bei Eranos vorherrschenden<br />

Monotheismus einen expliziten Polytheismus propagierte. Ein kurzer Einblick in seine Gedankenwelt<br />

gibt mehr Klarheit.<br />

Wie die menschliche Existenz durch Vielschichtigkeit und Vielfalt gekennzeichnet ist, so ist es<br />

ebenso die Seele. Nach HILLMAN ist es daher nur folgerichtig, wenn auch die Religion diese<br />

seelische Vielfalt widerspiegelt. Das bedeutet Polytheismus. Aber der archetypischen Psychologie<br />

geht es nicht darum, einfach irgendwelche Götter anzubeten oder an sie zu glauben. Diese sind<br />

vielmehr bloße Metaphern <strong>für</strong> seelische Erfahrungs- und Erlebensweisen. So kann sich der Mensch<br />

genau die "Götter" aussuchen, die zu seiner Seelenform passen und muß sich nicht mehr, wie im<br />

Monotheismus, einer einzigen Anschauungsweise unterwerfen.<br />

In der archetypischen Psychologie darf die Seele aber nicht mit dem verwechselt werden, was in<br />

der Literatur, der christlichen Religion oder allgemein in der Psychologie darunter verstanden wird.<br />

Sie geht bei HILLMAN weit über den Menschen hinaus und sogar in die neuplatonische Weltseele<br />

über und wird deswegen auch nie genau definiert. In dieser Sichtweise ist es also das einzelne Individuum,<br />

das sich im Feld der Seele bewegt und nicht umgekehrt die Seele, die in dem Körper des<br />

Menschen eingeschlossen ist. Gleichermaßen sei der Traum nicht im Menschen, sondern der Mensch<br />

in die Träume gebettet. Gedanken, wie man sieht, an die man sich erst gewöhnen muß, auch wenn es<br />

durchaus indische und antike Vorläufer dazu gibt (Neuplatoniker).<br />

1988 trat dann bei Eranos eine große Zäsur ein. Rudolf RITSEMA, der nach dem Tode Adolf<br />

PORTMANNs allein die Geschicke der Tagungen leitete, verkündete, daß in Zukunft keine<br />

Konferenzen im alten Stil mehr stattfinden würden und nur noch das I Ging, das chinesische Buch der<br />

Wandlungen, im Mittelpunkt der weiteren Studien stehen würde. Dagegen lehnten sich fast alle<br />

Vortragenden auf und unter der Führung des Politologen Tilo SCHABERT und des Ägyptologen Erik<br />

HORNUNG wurden die sogenannten Amici di Eranos begründet, die dann bis zum Jahr 2001<br />

wiederum Tagungen im alten Stil organisierten. Berühmte Leute wie Annemarie SCHIMMEL, Jan<br />

ASSMANN, Moshe IDEL, Ilya PRIGOGINE und Elémire ZOLLA wurden zu Vorträgen und<br />

Diskussionen eingeladen. Auch die alte Eranos-Stiftung um Rudolf RITSEMA machte wieder<br />

Tagungen, allerdings nur im kleinen Kreis und auf das I Ging beschränkt. Im Jahre 2000 gab es dann<br />

leider eine weitere Trennung zwischen Tilo SCHABERT und Erik HORNUNG, der sich mit dem<br />

analytischen Psychologen Andreas SCHWEIZER zusammentat, um zumindest kle inere Konferenzen<br />

möglich zu machen.<br />

2002 fiel die Tagung der Amici di Eranos leider aus. Doch 2003 kam es wieder zu einer<br />

Zusammenkunft, wo sogar der berühmte italienische Philosoph Gianni VATTIMO sprach. Der Druck<br />

der Gemeinde Ascona, die unterschiedlichen Eranos-Tagungen wieder zusammenzuführen, wurde<br />

allerdings größer, denn nur in einem solchen Falle wolle man weiterhin finanzielle Unterstützung<br />

leisten. Auf die aber sind die Amici angewiesen. Die Tagungen der Gruppe um Erik HORNUNG und<br />

Andreas SCHWEIZER wurden 2002 und 2003 ebenfalls erfolgreich abge halten und selbst <strong>für</strong> 2004<br />

sind sie schon fixiert. Das ist der Vorteil einer unabhängigen Finanzierung, die durch die<br />

Tagungsteilnehmer selbst sowie großzügige Sponsoren erfolgt. Auch Moscia gelang es noch,<br />

Zusammenkünfte in italienischer Sprache abzuhalten. Was allerdings 2004 sein wird, ist in ihrem Fall<br />

noch völlig offen.<br />

Was waren also nochmals zusammenfassend die Leistungen der Tagungen? Der Gedanke der<br />

Interdisziplinarität hatte sich als sehr fruchtbar erwiesen und wurde damit zum Anstoß auch auf ganz<br />

anderen Gebieten, ähnliches zu unternehmen. Daß über Eranos, die akademische Beschäftigung mit<br />

spirituellem, mythologischem und sogar esoterischem Gedankengut sozusagen hoffähig gemacht<br />

wurde, habe ich mehrmals betont. Wichtig war ebenso, daß von angesehenen Wissenschaftlern die<br />

lineare Vorstellung, nur Fortschritt um jeden Preis könne die Welt verbessern, hinterfragt wurde.


Positivismus und Historizismus wurden bei den Tagungen gleichfalls auf ein ihnen zustehendes Maß<br />

zurückgeführt. Die Wissenschaft bekam dadurch menschlichere Züge und man brachte auch ganz<br />

anders gelagerten geistigen und spirituellen Bestrebungen wiederum Achtung entgegen, so daß bei<br />

Eranos gar das Wort von einem neuen Humanismus umging. Die Hochschätzung von Ethik und<br />

Weisheit, wie sie sich in der Antike und bei Naturvölkern zeigt, ging damit Hand in Hand. Ein freies<br />

geistiges Nebeneinander unterschiedlichster Kulturen und Denkansätze war damit viel leichter<br />

möglich. Westlicher oder modernistischer Überheblichkeit wurde eine Absage erteilt. Allgemein<br />

könnte man sagen, daß der Geist - verstanden in einem "höheren" Sinn und nicht eingeschränkt auf die<br />

rein menschliche Ratio - wiederum in den Mittelpunkt gestellt wurde und die Einzelwissenschaften<br />

darum wie um eine Achse angeordnet waren.<br />

Und wie schon erwähnt, die Ausstrahlung von Eranos war nicht allein durch die öffentlichen<br />

Vorträge gewährleistet. Viel weiter wirkten noch die Jahresbände der Tagungen, die inzw ischen auf<br />

weit über 60 Stück angewachsen sind. Und meiner Ansicht nach ganz besonders wichtig: Die<br />

Vortragenden, die ja durchwegs Professoren an Universitäten verschiedenster Länder waren,<br />

vermittelten dieses Gedankengut an ihre Studenten und damit an eine geistige Elite weiter, die später<br />

häufig Spitzenpositionen in der Öffentlichkeit einnahm. Die heute festzustellende Verbreitung<br />

grundlegender Eranos-Gedanken wäre sonst nie so schnell möglich gewesen, mögen auch die meisten<br />

nicht ahnen, woher sie ursprünglich kamen. Zudem haben die Tagungen eine Vorbildwirkung gehabt,<br />

denn weltweit gibt es nun eine Reihe von Zirkeln, Treffen, Konferenzen und Symposien, die sich zwar<br />

nicht ausdrücklich auf Eranos berufen, aber die dort geprägten weltanschaulichen Grundlagen deutlich<br />

erkennen lassen. Selbst wenn Eranos in nächster Zeit also tatsächlich zu Ende gehen sollte, es hat sich<br />

auf jeden Fall gelohnt.

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