Drehbrett, Schwungseil, Nervenstimmer - Deutsche Gesellschaft für ...
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01/2013 soziale psychiatrie wenn’s hilft ...<br />
<strong>Drehbrett</strong>, <strong>Schwungseil</strong>, <strong>Nervenstimmer</strong><br />
Wege und Irrwege in der Geschichte der Psychiatrie<br />
Die Ideen- und Themenfindung <strong>für</strong> Beiträge in diesem Heft, das sich weniger bekannten oder alternativen<br />
Therapiemethoden in der heutigen Psychiatrie widmet, hat unser Redaktionsmitglied Th o m a s R . M ü l l e r,<br />
Leiter des ›Sächsischen Psychiatriemuseums‹ in Leipzig, dazu angeregt, in der Psychiatriegeschichte<br />
nach vergleichbaren Ansätzen zu suchen.<br />
Die »Entdeckung« der Psychiatrie<br />
Im Jahr 1808 tauchte in einer Schrift<br />
des in Halle (Saale) tätigen Arztes Johann<br />
Christian Reil (1759–1813) erstmals<br />
das Wort »Psychiaterie« auf,<br />
mit dem Reil die Methode, Krankheiten<br />
durch psychische Einflüsse zu<br />
heilen, beschrieb. Es ist sicher kein<br />
Zufall, dass dieses Wort in einer Zeit<br />
»erfunden« wurde, in der das Bewusstsein<br />
wuchs <strong>für</strong> die notwendige<br />
Reform der Betreuung jener Menschen,<br />
die bis dahin als Geisteskranke*<br />
in Zucht- und Irrenhäusern unter<br />
zumeist menschenunwürdigen Bedingungen<br />
verwahrt wurden. Die<br />
Impulse da<strong>für</strong> kamen aus England<br />
und Frankreich. Symbolisiert wurde<br />
dieses neue Selbstverständnis durch<br />
die Befreiung der Geisteskranken<br />
von den Ketten im Zuge der Französischen<br />
Revolution. Auch wenn die Initiative<br />
<strong>für</strong> diesen Akt wohl in Wahrheit<br />
nicht von Philippe Pinel (1745–<br />
1826) selbst ausging, spielte der Direktor<br />
der Pariser Anstalt Bicêtre<br />
eine einflussreiche Rolle bei der Formulierung<br />
einer neuartigen Heilbehandlung.<br />
Mit jenem therapeutischen<br />
Pro gramm des »traitment morale«,<br />
das dem »moral treatment« oder »moral<br />
management« von William Tuke (1732–1822)<br />
bzw. William Battie (1703–1776) ähnelte, wurde<br />
ein neues Zeitalter in der Behandlung der<br />
Irren eingeleitet.<br />
Terroristische Prinzipien<br />
In Deutschland propagierte Reil diese neue<br />
»psychische Curmethode« in seinen 1803<br />
veröffentlichten »Rhapsodieen über die Anwendung<br />
der psychischen Curmethode auf<br />
Geisteszerrüttungen«. Darin kritisierte Reil<br />
die Zustände in den Zucht- und Irrenhäusern<br />
aufs schärfste: »Wir sperren diese unglücklichen<br />
Geschöpfe gleich Verbrechern in Tollkoben,<br />
ausgestorbene Gefängnisse, neben den<br />
Schlupflöchern der Eulen in öde Klüfte über<br />
den Stadtthoren, oder in die feuchten Kellergeschosse<br />
der Zuchthäuser ein, wohin nie<br />
ein mitleidiger Blick des Menschenfreundes<br />
40<br />
Turnplatz der Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein<br />
(Radierung, 1881)<br />
dringt, und lassen sie daselbst, angeschmiedet<br />
an Ketten in ihrem eigenen Unrath verfaulen.<br />
Ihre Fesseln haben ihr Fleisch bis auf<br />
die Knochen angerieben, und ihre holden<br />
und bleichen Gesichter harren des nahen<br />
Grabes ...« In diesen Tollhäusern beruhe die<br />
Erhaltung von Ruhe und Ordnung auf terroristischen<br />
Prinzipien. Peitschen, Ketten und<br />
Gefängnisse, so Reil, seien dort an der Tagesordnung.<br />
Doch auch die neuen Behandlungsmethoden,<br />
die Pinel oder Reil vorschlugen, verzichteten<br />
nicht auf Gewalt und Zwang. Statt der<br />
Ketten empfahl Pinel den Einsatz von<br />
Zwangsjacken und allerlei mechanischer<br />
Gerätschaften wie dem Zwangsstuhl, der<br />
Cox’ schen Schaukel oder dem Drehstuhl.<br />
Über die Anwendung des Drehbettes heißt<br />
es 1824 bei Peter Joseph Schneider: »Wir gebrauchen<br />
daher das Drehbett ganz vorzüglich<br />
bey Anfällen der Tobsucht, bey der peri-<br />
odisch wiederkehrenden Manie, bey<br />
schwermüthigen, störrischen und<br />
unfolgsamen Irren, um sie an die<br />
Hausdisciplin, an eine geregelte Lebensordnung,<br />
und überhaupt zur<br />
Folgsamkeit zu gewöhnen.«<br />
Welche Folgen jene Methoden haben<br />
konn ten, offenbarte sich 1811 in<br />
Berlin. Ernst Horn, zweiter dirigierender<br />
Wundarzt und Geburtshelfer an<br />
der Berliner Charité, musste sich gegen<br />
schwere Vorwürfe zur Wehr setzen.<br />
Horn hatte Louise Thiele, eine<br />
21-jährige Patientin, die erst wenige<br />
Tage aufgrund einer »schweren Gemütserkrankung«<br />
bei ihm in Behandlung<br />
war, wegen beständigen Schreiens<br />
eine Zwangsjacke anlegen lassen<br />
und in einen zur damaligen Zeit als<br />
Beruhigungsmittel gebräuchlichen<br />
»Sack« gesteckt. Dort war sie nach<br />
der einige Stunden währenden »Behandlung«<br />
erstickt. Horn wurde angezeigt<br />
und ihm Härte, Grausamkeit<br />
und Unwissenheit beim Umgang mit<br />
seinen Patienten vorgeworfen. Als<br />
Gutachter in dem gegen Horn eröffneten<br />
Verfahren wurde Reil bestellt,<br />
der seinen Kollegen jedoch von allen<br />
Vorwürfen freisprach, woraufhin der<br />
vielleicht erste Kunstfehlerprozess in<br />
der deutschen Medizingeschichte niedergeschlagen<br />
wurde.<br />
Ekelkur und Exerzieren<br />
In der Schrift »Öffentliche Rechenschaft über<br />
meine zwölfjährige Dienstführung als zweiter<br />
Arzt des königlichen Charitékrankenhauses<br />
zu Berlin« rechtfertigte Horn noch 1818<br />
zahlreiche grausame Behandlungsmethoden.<br />
So habe sich nach seinem Bekunden unter<br />
anderem die »Ekelkur« bewährt. »Ich<br />
meine ... den fortgesetzten Gebrauch ekel erregender<br />
Mittel, wodurch eine beständige<br />
Uebelkeit, eine Neigung zum Erbrechen, bewirkt<br />
wird, deren Einwirkung aufs Gemeingefühl,<br />
deren Rückwirkung auf den Geisteszustand<br />
nicht selten die herrlichsten Folgen<br />
zeigte.« Bei dem »kalten Sturzbad« wurde<br />
der Geisteskranke in einer leeren Badewanne<br />
befestigt und 100 bis 200 Eimer kalten
Wassers über seinen Kopf und Leib gestürzt.<br />
Mit dem Ziehen und Fahren eines Wagens<br />
wollte Horn die Kranken an Folgsamkeit und<br />
Ordnung gewöhnen. Dabei wurden vier Personen<br />
in einen Wagen gesetzt und von 25 bis<br />
30 Patienten, die sich hintereinander an der<br />
Deichsel aufzustellen hatten, durch den Irrengarten<br />
gezogen. Zu den von Horn favorisierten<br />
Heilmitteln gehörte das Exerzieren.<br />
»Dem Laien mag es auffallend, ja wohl gar<br />
lächerlich, erscheinen, einer Wahnsinnigen<br />
aus den höheren Ständen ein schweres hölzernes<br />
Gewehr in die Hand geben, einen Tornister<br />
umhängen, sie mit andern Irren in<br />
Reih und Glied stellen, und von einem tüchtigen,<br />
mit lauter Stimme kommandierenden,<br />
Unteroffizier in voller Uniform exerzieren zu<br />
sehen. Dies darf den Irrenarzt nicht davon<br />
abhalten, von dem, was die Erfahrung als<br />
nützlich bewährt hat, Gebrauch zu machen …<br />
In einer Irrenanstalt kommt Manches vor,<br />
was Nichtärzten seltsam, nachteilig, oder gar<br />
lächerlich erscheinen kann. Wer darauf Gewicht<br />
legen, dadurch sich bestimmen lassen<br />
wollte, in seinem Handeln und Wirken, der<br />
würde wenig leisten.«<br />
Methoden wie jene von Horn gerechtfertigten<br />
mussten die Patienten der Heil- und<br />
Pflegeanstalten noch viele Jahrzehnte erdulden.<br />
Solche Zwangsmittel zählten zu den<br />
physisch-mechanischen Methoden, die Reil<br />
und die Mehrzahl der Anstaltsärzte neben<br />
der chemischen und der psychischen bzw.<br />
moralischen »Curmethode« bei der Behandlung<br />
einsetzte.<br />
Hahnemann als Irrenarzt<br />
Waren diese Behandlungsmethoden alternativlos?<br />
Offensichtlich nicht. Denn bereits<br />
1792 hatte Samuel Hahnemann (1755–1843)<br />
in Georgenthal bei Gotha eine »Genesungs-<br />
Anstalt <strong>für</strong> etwa 4 irrsinnige Personen aus<br />
vermögenden Häusern« eröffnet, in der er<br />
programmatisch auf Zwang und Gewalt verzichtete.<br />
Statt Schlägen, Ketten oder anderen<br />
harten Maßnahmen sollte die völlige Gesundheit<br />
seiner Patienten durch »reifes<br />
Nachdenken, gütliches Zureden und äußere<br />
und innere ihm eigene arzneiliche Behandlungen«<br />
wiederhergestellt werden. In der<br />
Praxis musste sich dieser Ansatz bei Friedrich<br />
Arnold Klockenbring (1742–1795) bewähren,<br />
einem hannoverschen Autoren und Beamten,<br />
der wahrscheinlich an einer manisch-depressiven<br />
Erkrankung litt. Hahnemann<br />
publizierte später eine Schrift, in der<br />
er das Verhalten des schwer psychotischen<br />
Patienten sehr genau beschrieb. Über die angewandten<br />
Behandlungsverfahren gibt die<br />
Beschreibung leider keine Auskunft. Doch<br />
offensichtlich gelang es Hahnemann, zu seinem<br />
bei den vorhergehenden Behandlungen<br />
wenn’s hilft ... soziale psychiatrie 01/2013<br />
Pinel befreit die Irren von ihren Ketten 1795 (Gemälde von Tony Robert-Fleury, 1876)<br />
körperlich gezüchtigten Patienten ein Vertrauensverhältnis<br />
aufzubauen. Er wandte<br />
sich dem Patienten zu, führte Gespräche,<br />
würdigte dessen künstlerische Arbeiten. Im<br />
Frühjahr 1793 konnte Hahnemann Klocken -<br />
bring entlassen. Allerdings gab Hahnemann<br />
trotz dieses prestigeträchtigen Behandlungserfolges<br />
die Anstalt wieder auf. Wahrscheinlich<br />
fanden sich keine weiteren zahlungskräftigen<br />
Patienten. Auch war Hahnemann<br />
beim Umgang mit seinem einzigen<br />
Patienten und den Ansprüchen von dessen<br />
Frau an seine persönlichen Grenzen gestoßen.<br />
Homöopathie bei Geistes- und<br />
Gemütskrankheiten<br />
Aus heutiger Sicht ist dieser frühe Versuch<br />
einer gewaltfreien und psychotherapeutisch<br />
intendierten Behandlung auf jeden Fall bemerkenswert.<br />
Inwieweit Hahnemann in diesem<br />
Fall schon homöopathisch arbeitete, ist<br />
nicht bekannt. In seinem »Organon der rationellen<br />
Heilkunde«, in dem er 1810 die Homöopathie<br />
als heilkundliches System erstmals<br />
systematisch darstellte, widmete Hahnemann<br />
die Paragrafen 210–230 den Geistesund<br />
Gemütskrankheiten. Grundsätzlich unterschied<br />
sich die homöopathische Behandlung<br />
psychischer Erkrankungen nicht von<br />
der bei körperlichen Krankheiten. Zum einen,<br />
weil er diese ebenfalls auf körperliche<br />
Ursachen zurückführte. Andererseits sei<br />
auch bei Körperkrankheiten die Gemütsund<br />
Geistesverfassung geändert. Für die Behandlung<br />
akuter Zustände des Wahnsinns<br />
oder der Raserei empfahl er unter anderem<br />
den Einsatz von Belladonna (Schwarze Tollkirsche)<br />
und Stramonium (Stechapfel) in<br />
hoch potenzierten Gaben. Da es sich um<br />
chronische Krankheiten handele, sei eine anschließende<br />
Weiterbehandlung unerlässlich.<br />
Bei einer noch nicht völlig ausgebildeten<br />
Geisteskrankheit glaubte er an eine Besserung<br />
»durch verständiges, gut gemeintes Zureden,<br />
durch Trostgründe oder durch ernsthafte<br />
und vernünftige Vorstellungen«.<br />
Zu Hahnemanns schärfsten Kritikern<br />
zählte Johann Christian August Heinroth<br />
(1773–1843). Heinroth, seit 1811 außerordentlicher<br />
Professor <strong>für</strong> psychische Heilkunde an<br />
der Universität Leipzig, führte psychische Erkrankungen<br />
auf Störungen der Seele, ausgelöst<br />
durch unkontrollierte Leidenschaften<br />
und Triebe, zurück. 1825 veröffentlichte er die<br />
Schrift »Anti-Organon oder das Irrige der<br />
Hahnemannischen Lehre im Organon der<br />
Heilkunst«, in der er sich vehement gegen<br />
die Homöopathie wandte. Er bezeichnete<br />
Hahnemann als »Symptomjäger«, der nur<br />
Symptome behandle und sie nicht als Zeichen<br />
von Krankheiten erkenne. Diese Lehre,<br />
so Heinroth, sei nur ein Wahngewebe. Hahnemann<br />
reagierte gelassen. »Ich lache zu allem.<br />
In kurzer Zeit weiß niemand mehr etwas<br />
davon.« Immerhin wurde 1843 in Moers<br />
die erste homöopathische Irrenanstalt<br />
Deutschlands eröffnet.<br />
Mesmers »animalischer Magnetismus«<br />
Ähnlich umstritten wie Hahnemann war<br />
der deutsche Arzt Friedrich Anton Mesmer<br />
(1734–1815), der Ende des 18. Jahrhunderts<br />
den »animalischen Magnetismus« begründete.<br />
Mesmer ging davon aus, dass es ein<br />
zentrales Agens gebe, das den menschlichen<br />
Organismus steuere. Dieses unsichtbare<br />
Prinzip, das »Fluidum«, würde das All und<br />
41
01/2013 soziale psychiatrie wenn’s hilft ...<br />
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alle Organismen durchfluten. Die Stockung<br />
der Zirkulation des Fluidums hielt Mesmer<br />
<strong>für</strong> die Ursache aller Krankheiten. Seine Behandlung<br />
sah die Auslösung einer heilsamen<br />
Krise vor. Dazu bediente er sich des<br />
Magnetismus. Die Übertragung der magnetischen<br />
Heilströme erfolgte mittels Handauflegen<br />
und Luftstrichen. Zur Magnetisierung<br />
mehrerer Personen entwickelte Mesmer<br />
so genannte »Baquets«, d.h. Bottiche mit<br />
magnetisierter Flüssigkeit. Die Patienten<br />
wurden rund um diesen Zuber gesetzt und<br />
hielten sich bei den Händen. Mesmer spielte<br />
während der Behandlung Glasharmonika.<br />
Dabei kam es häufiger vor, dass Patienten in<br />
eine Art Ohnmacht fielen und wie Schlafwandler<br />
agierten. Dieses Phänomen des<br />
»magnetischen Schlafes« wird als Vorläufer<br />
der Hypnose angesehen. Der »animalische«<br />
oder »thierische Magnetismus« war wegen<br />
seiner ungewöhnlichen Heilerfolge sehr populär.<br />
Doch von der etablierten Medizin<br />
wurde Mesmer bekämpft. Seine zahlreichen<br />
Kritiker bezeichneten ihn als Scharlatan und<br />
führten die Erfolge auf einen Placebo-Effekt<br />
zurück.<br />
Seele und Geisterwelt<br />
Zu den Verehrern Mesmers gehörte Justinus<br />
Kerner (1786–1862). Kerner selbst war als Elfjähriger<br />
wegen eines chronischen Magenleidens<br />
magnetisiert worden. Diese magnetische<br />
Manipulation, so Kerner später, habe<br />
bei ihm eine Vorliebe <strong>für</strong> Erscheinungen des<br />
Nachtlebens der Natur, <strong>für</strong> Magnetismus<br />
und Pneumatologie geschaffen. Kerner studierte<br />
Medizin in Tübingen und gehörte zum<br />
Kreis der späteren Schwäbischen Dichterschule.<br />
Seit 1810 war Kerner als Arzt tätig und<br />
wurde 1819 Oberamtsarzt in Weinsberg. Bei<br />
der Behandlung setzte er auch die Methoden<br />
Mesmers ein. Kerners berühmteste Patientin<br />
wurde Friederike Hauffe (1801–1829). Als er<br />
bei ihr mit der Behandlung mittels »magnetischer<br />
Manipulationen« begann, war die Patientin<br />
völlig verzehrt und litt an Dämmerzuständen.<br />
Gegen die häufig auftretenden<br />
Krämpfe wandte er magnetische Striche an.<br />
Bei der Behandlung spielte der »<strong>Nervenstimmer</strong>«<br />
eine besondere Rolle, ein Heilapparat,<br />
den Kerner nach den Vorgaben seiner Patientin<br />
gebaut hatte. Kerners Haus wurde zu einem<br />
Anziehungspunkt <strong>für</strong> Ärzte und Naturforscher,<br />
die mit Hauffe experimentierten<br />
und dabei erstaunliche Phänomene beschrieben,<br />
die wohl in Richtung der Arbeit<br />
mit »Medien« in der Parapsychologie zu deuten<br />
sind. 1829 veröffentlichte Kerner das<br />
Buch »Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen<br />
über das innere Leben des Menschen und<br />
über das Hereintragen einer Geisteswelt in<br />
die unsere«, einen romanhaften Krankenbe-<br />
richt, in dem er unter anderem seine Beobachtung<br />
der Erscheinung von Geistern und<br />
Dämonen bei Friederike Hauffe schilderte.<br />
Dieser Geisterglaube wurde ihm schon von<br />
Zeitgenossen vorgeworfen. So schrieb der<br />
Arzt Gustav Bräunlich 1837: »Merkwürdig genug,<br />
dass ein Arzt, wie Dr. Kerner im 19. Jahrhundert,<br />
in einem der gebildetsten Länder<br />
der Erde, diesen Fall nicht etwa als eine psychische<br />
Krankheit ansieht, sondern vielmehr<br />
in vollem Ernste überzeugt ist, dass jene beiden<br />
Herren als feindselige Dämonen in dem<br />
Leibe der Kranken gewesen seyen.«<br />
Auch nach heutigen Maßstäben ist wohl<br />
davon auszugehen, dass Friederike Hauffe,<br />
die nach zweijährigem Aufenthalt in Kerners<br />
Haus verstorben war, an einer schweren psychotischen<br />
Krise gelitten hat.<br />
Aktivierung und Zerstreuung<br />
Gemeinsam ist den Therapieansätzen bei<br />
Kerner, Mesmer oder Hahnemann, dass ihnen<br />
eine sehr intensive Arzt-Patienten-Beziehung<br />
zugrunde lag. Friederike Hauffe lebte<br />
zwei Jahre im Hause Kerners, Klockenbring<br />
blieb Hahnemanns einziger Patient<br />
und auch bei Mesmer war der Kreis der Patienten<br />
handverlesen.<br />
Die Ärzte in den Heil- und Pflegeanstalten<br />
arbeiteten Anfang des 19. Jahrhunderts unter<br />
völlig anderen Bedingungen. Wenige Ärzte<br />
waren oft <strong>für</strong> mehrere hundert Patienten<br />
mit den unterschiedlichsten Erkrankungen<br />
zuständig. Doch neben den bereits beschriebenen<br />
Zwangsmitteln wurden in den Anstalten<br />
bei der Behandlung auch Arzneimittel<br />
und psychische Methoden angewandt. In<br />
der 1829 publizierten »Beschreibung der Königl.<br />
Sächsischen Heil- und Verpflegungsanstalt<br />
Sonnenstein« werden als Mittel, die der<br />
»Erleichterung des Lebens« dienen sollten,<br />
beispielsweise Spiele, wie Billard und Kegeln<br />
<strong>für</strong> die männlichen Geisteskranken, aufgeführt.<br />
Auch Brett- und Kartenspiele waren<br />
erlaubt, solange sie nicht zur Leidenschaft<br />
wurden. Im Unterhaltungssaal der Anstalt<br />
war eine Büchersammlung aufgestellt. Zur<br />
Lektüre empfohlen wurden Bücher historischen,<br />
geografischen, ethnografischen, naturgeschichtlichen<br />
und kosmografischen Inhalts,<br />
während solche zu psychologischen,<br />
anthropologischen, religiösen und populärphilosophischen<br />
Themen als nicht geeignet<br />
erschienen. Gewarnt wurde auch vor Schriften<br />
aus Leih- und Lesebibliotheken, da eine<br />
solche Lektüre oft alle geistige Diät behindere<br />
und eher Gift als Heilmittel <strong>für</strong> den Seelenkranken<br />
sein könne. Die allgemeine Aufsicht<br />
über die Büchersammlung führte auf<br />
dem Sonnenstein der Hausgeistliche. Auch<br />
war den Verpflegten unter Aufsicht das<br />
Schreiben gestattet. Dazu gehörte die Ferti-
gung von Auszügen aus Büchern, aber auch<br />
die Abfassung eigener Aufsätze über der Persönlichkeit<br />
des Kranken angemessene Gegenstände,<br />
Übersetzungen aus fremden<br />
Sprachen, die Bearbeitung von Rechnungsaufgaben,<br />
Abschriften von Musikstücken sowie<br />
Zeichnen und Malen. Auf eine lange Tradition<br />
konnte man sich bei der Empfehlung<br />
der wohltätigen Wirkung der Musik berufen.<br />
In der Sonnensteiner Anstalt wurden vierzehntäglich<br />
Konzerte gegeben, an denen<br />
tonkunstverständige Pfleglinge durch Gesang<br />
oder Spiel von Instrumenten teilnehmen<br />
konnten. Um die Ausübung der Musik<br />
zu begünstigen und jedes Talent zu fördern,<br />
verfügte die Anstalt über drei Fortepianos.<br />
Die Anstalt konnte sogar von Patienten verfasste<br />
Kompositionen größerer Musikstücke<br />
vorweisen.<br />
In dieser Schrift von 1829 wird auch noch<br />
das Exerzieren, besonders das Marschieren,<br />
als körperliche Übung empfohlen. Es sei erstaunlich,<br />
wie gern sich Verpflegte zu diesen<br />
militärischen Übungen einfänden. Erwähnt<br />
wird, dass man auch außerhalb der Anstalt<br />
mit Holzgewehren marschierte. Allerdings,<br />
so ist zu lesen, würden diese Übungen schon<br />
weit weniger als früher betrieben und sollten<br />
durch andere Möglichkeiten der Bewegung<br />
an der frischen Luft abgelöst werden.<br />
Frisch, frei, froh, fromm: das Turnen<br />
der Geisteskranken<br />
1848 wurde der Sonnenstein zur ersten »turnenden<br />
Anstalt« in Deutschland. Das Turnen<br />
wirke heilsam auf alle drei Faktoren des<br />
menschlichen Ichs, auf Leib, Seel’ und Geist,<br />
so Johann Traugott Löschke in der Abhandlung<br />
»Über das Turnen Geisteskranker«. Das<br />
Turnen könne zur Wiederherstellung eines<br />
gesunden Gleichgewichts zwischen dem<br />
Nervensystem und dem Muskelsystem führen<br />
und erzeuge und befördere den Gemeinsinn<br />
und die Verträglichkeit der Geisteskranken.<br />
Das Turnen habe gemäß der Krankheit,<br />
den Kräften und Fähigkeiten der Patienten<br />
zu erfolgen: »Für die träumerischen, nur mit<br />
ihren Ideen beschäftigten und darum auf<br />
das ihnen Aufgetragene nicht achtsamen<br />
Grübler ist zum Beispiel das Laufen durch<br />
und das Springen über das <strong>Schwungseil</strong> zu<br />
empfehlen, denn hier müssen sie streng aufmerken<br />
und zählen, und, wenn sie nicht im<br />
rechten Augenblicke laufen oder springen,<br />
so setzt es einen unschuldigen Klapps oder<br />
Nasenstüber. […] Dem schwatzenden, läppischen,<br />
leichtsinnigen Narren verordne man<br />
diejenigen Übungen, bei welchen es einen<br />
Schmerz zu überwinden gibt, so wie auch<br />
Kampfübungen, als Ziehen und Stemmen<br />
mit und ohne Stäbe, das wird ihm eine erns-<br />
wenn’s hilft ... soziale psychiatrie 01/2013<br />
te Richtung geben. Dem Tobsüchtigen lasse<br />
man während seiner schlaffen Periode möglichst<br />
anstrengende Übungen ausführen,<br />
wie die schweren Reck-, die ermüdenden<br />
Lauf- und Voltigierübungen, damit er sich<br />
völlig aus- und abarbeite.«<br />
Der Turnlehrer, so Löschke, müsse als Heilgehilfe<br />
des Arztes über den Heilplan jedes<br />
einzelnen Patienten unterrichtet sein.<br />
»Was den Geist des Turnens betrifft, so<br />
sorge man da<strong>für</strong>, dass es nicht ein herrisches<br />
Commandieren und knechtisches Exerzie-<br />
Exerzieren der Patienten<br />
ren, nicht ein bloßes, maschienenmäßiges<br />
Ableiern oder Abwürgen der Übungen sei,<br />
nicht ein unerquickliches, ledernes Muss;<br />
man sorge da<strong>für</strong>, dass auch im Irrenhause,<br />
auch an diesem Orte der Trauer und der<br />
Trübsal, zu wenigstens zeitweiser Verscheuchung<br />
dieser dunklen, schrecklichen Gäste<br />
geturnet werde: frisch, frei, froh, fromm!«<br />
Auf dem Sonnenstein turnte ein junger<br />
Turnlehrer namens Louis Schmidt zunächst<br />
an vier Vormittagen mit männlichen Geisteskranken.<br />
Später mussten sich die Männer<br />
die Turnstunden mit den weiblichen Geisteskranken<br />
teilen. Im ersten Jahr nahmen 50<br />
Patienten (30 Männer und 18 Frauen) zwischen<br />
16 und 67 Jahren teil. Geturnt wurde<br />
im Sommer auf einem Turnplatz unter<br />
schattigen Bäumen und im Winter im Unterhaltungssaal<br />
der Anstalt, u.a. mit Hanteln<br />
und am Barren zur Musik: »So schienen<br />
Rhythmus und Harmonie die Banden der<br />
Seele, der Nerven und Muskeln zu lösen.«<br />
Schon nach wenigen Monaten wurde zum<br />
Erntefest ein Schauturnen vor der versammelten<br />
Anstalt vorgeführt. Löschke prophezeite,<br />
dass unter entsprechenden Vorausset-<br />
zungen die Hälfte bis zwei Drittel der Patienten<br />
am Turnen teilnehmen könnte.<br />
Diese und ähnliche Mittel dienten der Aktivierung<br />
und Zerstreuung der Patienten<br />
während ihres Aufenthalts in der Anstalt.<br />
Rückkehr ins bürgerliche Leben<br />
Das vielleicht bemerkenswerteste Projekt<br />
startete auf dem Sonnenstein im Jahr 1826.<br />
Am Rande der Anstalt wurde ein »Genesungshaus«<br />
<strong>für</strong> 10 bis 15 als »Genesende«<br />
bzw. »Reconvalsescenten« bezeichnete Patienten<br />
eingerichtet. Jene Genesenden sollten<br />
von den übrigen Irren getrennt und beschäftigt<br />
werden. Der Auftrag <strong>für</strong> diese Genesungsanstalt<br />
wurde daher mit der »Aussonderung<br />
der anscheinend Genesenen aus<br />
der Umgebung der Kranken und aus den beschränkten<br />
Grenzen der Heilanstalt selbst«<br />
und »die allmähliche und vorsichtige Wiedereinführung<br />
der anscheinend Genesenen<br />
in die Freiheit des bürgerlichen Lebens« definiert.<br />
Der Aufenthalt in dem zunächst vom<br />
Anstaltsgeistlichen, später von einem Arzt<br />
geführten Haus ging der Beurlaubung aus<br />
der Anstalt und der späteren Entlassung voraus.<br />
Sicher hat die Einrichtung dieses Genesungshauses<br />
zu dem wegen ihrer Heilungserfolge<br />
ausgezeichneten Ruf der Heil- und<br />
Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein beigetragen.<br />
■<br />
Literatur beim Verfasser.<br />
* Im Text werden die in der jeweiligen Zeit gebräuchlichen<br />
Bezeichnungen <strong>für</strong> psychische Erkrankungen<br />
und psychiatrische Einrichtungen verwendet.<br />
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