Hermannus-Gemeinschaft Altshausen - Hermannus Contractus ...
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<strong>Hermannus</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong><br />
<strong>Altshausen</strong><br />
Gedanken zur Krankheit Hermann des Lahmen<br />
Unsere Vorstellungen von der Krankheit Hermann des Lahmen sind geprägt durch<br />
die bestehende Heiligenlegende über Hermann. Hier wird seine Erkrankung als<br />
möglichst schwerwiegend dargestellt. Denn um so größer erscheint das Wunder,<br />
dass in einem so gebrechlichen Körper ein so lebendiger und produktiver Geist<br />
gewohnt hat.<br />
Das bestätigt auch Dr. Peter Radtke, Autor des Hermann-Dramas „Hermann und<br />
Benedikt – das Brot teilen“.<br />
Peter Radtke, München, Sprecher der Behinderten in den Medien, erzählt, dass im<br />
Laufe seines eigenen Lebens seine Erkrankung (Glasknochenkrankheit) immer<br />
gravierender dargestellt wurde, um seine dennoch erbrachten Leistungen<br />
hervorzuheben.<br />
Hermanns Schüler Berthold schreibt über seinen Lehrer und Mitbruder Hermann:<br />
„Er war derart durch die Grausamkeit der Natur an den Gliedmaßen verrenkt, dass er<br />
sich von der Stelle, auf die man ihn niedersetzte, nicht ohne Hilfe wieder<br />
wegbewegen, noch sich auf die eine oder die andere Seite wenden konnte.<br />
In einem Tragsessel von seinem Diener niedergesetzt, konnte er kaum gekrümmt<br />
sitzen zu irgendwelcher Tätigkeit.<br />
In diesem Sessel war dieses nützliche und wundersame Werkzeug der göttlichen<br />
Vorsehung, wiewohl er gelähmt an Zunge, Lippen und Mund, nur gebrochene und<br />
kaum verständliche Töne langsam hervorbringen konnte, ein beredter und eifriger<br />
Verteidiger seiner Lehrsätze, munter und zierlich in der Rede, äußerst schlagfertig in<br />
der Gegenrede und zur Beantwortung von Fragen stets willfährig.“[1]<br />
Von einer angeborenen spastischen Behinderung wird in den Romanen über<br />
Hermann ausgegangen. Archivalisch lässt sich das aber nicht festmachen.<br />
In der ersten Fassung seines Schülers Berthold steht als zeitliche Angabe zum<br />
Krankheitsbeginn: ab infantia. In der zweiten Fassung kann man ab ineunte etate<br />
lesen. [2]<br />
Die Genauigkeit beider Zeitbestimmungen wird sehr stark relativiert, wenn man<br />
berücksichtigt, dass von der ersten Fassung keine Handschrift erhalten ist, nur ein<br />
Druck des frühen 16. Jahrhunderts und die älteste Handschrift der zweiten Fassung<br />
im dritten Viertel des 12. Jahrhunderts entstanden ist, also 100 Jahre nach dem Tode<br />
Hermanns. Jeder Mediziner weiß davon, wie schnell man einen Befund nicht mehr<br />
ganz sicher parat hat, diktiert man ihn nicht direkt am Krankenbett.<br />
Als Arzt bemüht man sich bei diagnostischen Überlegungen, alle bestehenden<br />
<strong>Hermannus</strong>-<strong>Gemeinschaft</strong> <strong>Altshausen</strong> – Freunde und Verehrer Hermanns des Lahmen<br />
Katholisches Pfarramt St.Michael – Schlossstraße 7 – 88361 <strong>Altshausen</strong><br />
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<strong>Altshausen</strong><br />
Symptome einer Erkrankung unter einen Hut zu bekommen, also auf eine einzige<br />
Diagnose zurückzuführen. Das ist mit der infantilen Cerebralparese, also mit einer<br />
angeborenen Störung der Gehirnfunktion, nicht möglich. Hier passt die<br />
Sprachbehinderung Hermanns nicht dazu.<br />
In der Tat gibt es nur eine einzige Erkrankung, die sowohl die „verrenkten<br />
Gliedmaßen“ wie auch die Sprachbehinderung Hermanns mit einschließt. Das ist die<br />
jugendliche Form der ALS, der amyotrophen Lateralsklerose. Die Erwachsenenform<br />
der ALS ist nicht so selten wie man meint. Die jugendliche Form aber ist extrem<br />
selten und nicht jeder Neurologe ist ihr in seinem Berufsleben schon begegnet. Die<br />
ALS ist eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems mit<br />
zunehmender Lähmung der Muskulatur und damit Kontrakturen der Gelenke<br />
(„verrenkte Gliedmaßen“). Die Erwachsenenform der ALS führt innerhalb weniger<br />
Jahre zum Tode. Die jugendliche Form lässt ein Überleben von mehreren<br />
Jahrzehnten zu.<br />
In der Regel ist es die respiratorische Insuffizienz, die zunehmende Lähmung der<br />
Atemmuskulatur, die dem Leben dieser Patienten ein Ende setzt und meist unter<br />
dem Bild einer Lungenentzündung in Erscheinung tritt.<br />
Hermanns Schüler Berthold beschreibt exakt die letzten Tage seines Lehrers:<br />
„Als endlich Gottes Barmherzigkeit seine Seele aus dem traurigen Gefängnis dieser<br />
Welt gnädig zu befreien geruhte, bekam er ein Seitenstechen, an dem er zehn Tage<br />
lang dahinsiechte unter unaufhörlichen, grausamen Schmerzen der tödlichen<br />
Krankheit.“<br />
Es war wohl eine Rippfellentzündung, die zu dem schmerzhaften „Seitenstechen“<br />
führte, der Beginn der tödlichen Pleuropneumonie.<br />
Der Astrophysiker Stephen Hawking (Jahrgang 1942) ist in seinem 21. Lebensjahr an<br />
einer ALS erkrankt und hat ein beeindruckendes wissenschaftliches Werk geschaffen.<br />
Für Prof. Dr. Thomas Meyer, der an der Charité in Berlin eine ALS-Ambulanz leitet,<br />
ist die Beschreibung des Krankheitsbildes durch Hermanns Schüler Berthold so<br />
typisch für die jugendliche Form der ALS, dass er den Benediktinermönch Berthold<br />
als den Erstbeschreiber dieser Erkrankung würdigen möchte. Bisher gilt der<br />
Begründer der modernen Neurologie, Jean-Martin Charcot (1825-1893) als<br />
Erstbeschreiber. In Ulm/Donau gibt es eine Charcot-Stiftung zugunsten der ALS-<br />
Forschung.<br />
Dass eine so seltene Erkrankung wie die jugendliche Form der amyotrophen<br />
Lateralsklerose Hermann zugeordnet werden konnte, ist der genauen Beschreibung<br />
seines Schülers Berthold zu verdanken. So wäre es medizinhistorisch richtig, wenn<br />
neben dem berühmten Neurologen Charcot, der dieser Krankheit den Namen<br />
gegeben hat („Amyotrophie“ für die periphere Klinik, „Lateralsklerose“ für die<br />
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Sklerose der spinalen Seitenstränge (Pyramidenbahn), gleichberechtigt der<br />
Benediktiner Berthold stehen würde, der Erstbeschreiber dieser Krankheit.<br />
Prof. Meyer ist nun nicht der Erste, der die Krankheit Hermanns als die jugendliche<br />
Form der ALS ansieht, sondern nur der Erste, der Hermanns Schüler Berthold als den<br />
Erstbeschreiber dieser Krankheit würdigen möchte. Von Loris Sturlese (Geschichte<br />
der Philosophie des Mittelalters, Universität Lecce) ist am 27. 02. 1999 in der<br />
Frankfurter Allgemeinen Zeitung der Aufsatz „Die Berechnung Gottes – Hermann<br />
'der Lahme' von Reichenau“ erschienen. Hier wird schon die Krankheit Hermanns als<br />
jugendliche Form der ALS angesehen.<br />
Nun gibt es aber noch die Hermann-Legenden aus dem 12. Jahrhundert, die heute<br />
in Oxford und Cambridge aufbewahrt werden. Jacques Handschin (*1886 in Moskau,<br />
+ 1955 in Basel) hat zum ersten Mal auf sie aufmerksam gemacht, deswegen nennt<br />
man sie Handschin-Legenden.<br />
„Es war in Alemannien ein reicher und mächtiger Graf, der einen Sohn namens<br />
<strong>Hermannus</strong> hatte. Als dieser im Knabenalter stand, betrat er eines Tages mit seinen<br />
Gefährten zum Spielen den Hain, der das Schloss des Vaters umgab. Während sie da<br />
herumgingen, kam unvermutet der Bär seines Vaters und trieb alle seine Kameraden<br />
in die Flucht; ihn aber, der der hinterste war, ergriff er mit seinen Tatzen. Da er es mit<br />
Bissen nicht tun konnte (er hatte offenbar einen Maulkorb an), drückte und<br />
misshandelte der Bär den Jungen aufs grausamste mit Armen und Krallen. Wenn<br />
nicht die durch das Geschrei der übrigen Knaben aufgescheuchten Diener von<br />
Hermanns Vater herbeigerannt wären, hätte der Bär ihn wohl getötet.“ [3]<br />
Nach dieser Legende hat Hermann überlebt, blieb aber ein Behinderter. Die relativ<br />
genaue Krankheitsbeschreibung von Berthold, insbesondere die Sprachstörung,<br />
lässt sich mit einem Unfall im Kindesalter nicht vereinbaren. Warum ist nun diese<br />
Legende erzählt worden?<br />
Hermanns Schüler Berthold benennt als Ursache für die Krankheit Hermanns die<br />
„Grausamkeit der Natur“. Auch lässt Berthold erkennen, dass der Tod seines<br />
Lehrers trotz seiner erhaltenen geistigen Leistungsfähigkeit für Hermann eine<br />
Erlösung bedeutete.<br />
„Die Grausamkeit der Natur“, das sehen wir heute genau so. Aber wenn man die<br />
Geschichte der Behinderten im Mittelalter im Internet aufruft, dann wird hier<br />
Hermann der Lahme als die große Ausnahme dargestellt: ein Behinderter, dem man<br />
dennoch die größte Achtung entgegen brachte. Wir müssen hier das über sehr lange<br />
Zeit bestehende Vorurteil der Kirche Behinderten gegenüber in unsere<br />
Überlegungen mit einbeziehen. Erdenbürger, die nicht der Vorstellung vom<br />
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menschlichen Ebenbild Gottes entsprachen oder deren Gebrechen sogar auf eine<br />
Verwandtschaft mit dem hinkenden Teufel schließen ließen, waren verdächtig, von<br />
diesem besessen zu sein.<br />
Wir wissen nicht, ob alle Mitbrüder Bertholds seine Ansicht geteilt haben oder ob er<br />
deswegen expressis verbis von der „Grausamkeit der Natur“ gesprochen hat, weil<br />
eben nicht alle seine Mitbrüder dieser Meinung waren. Jedenfalls haben wir heute<br />
die größte Achtung vor dem naturwissenschaftlichen Denken der Benediktiner auf<br />
der Reichenau. Schließlich war das Kloster im Bodensee um diese Zeit ja aber auch<br />
die „Elite-Universität“ im damaligen Mitteleuropa.<br />
Schon 100 Jahre später kann sich das Verhältnis der Gesellschaft zu einem „Krüppel“<br />
völlig verändert haben. Da war es dann nicht mehr die „Grausamkeit der Natur“,<br />
sondern zum Beispiel moralische Verfehlungen der Eltern, eine zurückliegende<br />
Schuld oder eben die Einflussnahme des Teufels, die zur Geburt eines behinderten<br />
Kindes geführt hatten. Diesen Vorwürfen war durch die Geschichte mit dem Bären<br />
die Spitze genommen.<br />
Aber nicht wegen dieser Bärengeschichte wurden diese Archivalien, die nun in<br />
Oxford und Cambridge aufbewahrt werden, als Legenden bezeichnet, sondern weil<br />
in der nächsten Erzählung sich Hermann nachts im Traum gegenüber der Madonna<br />
entscheiden musste, ob er als Behinderter mit besonderen Geistesgaben oder als<br />
gesunder, junger hübscher Mann ohne sonstige Talente leben wollte.<br />
Hermann entschied sich für die besonderen Geistesgaben. (Für Herrn ALBER: Bild St.<br />
Gallen einfügen)<br />
Die Legende mit dem Bären war zu Lebzeiten Hermanns nicht notwendig. Seine<br />
Autorität auf wissenschaftlichem Gebiet war so groß und seine benediktinischen<br />
Mitbrüder waren so aufgeklärt, dass sie nicht danach fragten, ob zum Beispiel irgend<br />
eine Schuld der Eltern hinter der Krankheit stecken könnte.<br />
In dem Werk von Hans Oesch „Berno und Hermann von Reichenau als<br />
Musiktheoretiker“ kommt der Basler Kinderarzt, Prof. Dr. Adolf Hottinger, zu Wort:<br />
„Da im Stammbaum Hermanns, soweit dies feststellbar ist, keine anderen<br />
Missbildungen aufgetreten sind, muss der Bericht Bertholds, wonach die Lähmung<br />
seit der Geburt existierte, als objektiv richtig angesehen werden. <strong>Hermannus</strong><br />
<strong>Contractus</strong> litt an einer spastischen Tetraplegie, hervorgerufen durch Schädigung des<br />
zentralen Neurons. Das Krankheitsbild entspricht dem Symptomenkomplex der<br />
sogenannten Little'schen Krankheit. Die wahrscheinlichste Ursache dieses Leidens ist<br />
eine Geburtsverletzung. Durch Blutung sind bestimmte motorische<br />
Hirnrindenregionen<br />
(vordere Zentralwindung oder deren efferente Bahnen) zerstört worden.<br />
Unwahrscheinlich ist eine Missbildung dieser Region.<br />
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Eine Unfallverletzung als Ursache der Little'schen Krankheit kommt dadurch nicht in<br />
Betracht, da eine Schädel- oder Hirnverletzung von solcher Stärke bestimmt auch<br />
andere lebenswichtige Zentren in Mitleidenschaft gezogen hätte.<br />
Der hohe Grad an Intelligenz steht nicht im Widerspruch zur diagnostizierten<br />
Krankheit. Die Unheilbarkeit des Leidens bestätigt die Richtigkeit der Diagnose. Mit<br />
41 Jahren hat der Patient ein relativ hohes Alter erreicht. Auch der Bericht vom<br />
Sterben, den uns Berthold in seiner Vita vermittelt, spricht durchaus nicht gegen die<br />
sogenannte Little'sche Krankheit.“<br />
Im Bericht von Prof. Hottinger wird nicht auf die Sprachbehinderung Hermanns<br />
eingegangen. Diese ist ein ganz wesentliches Symptom der ALS.<br />
Setzt man eine angeborene Tetraplegie, also eine Lähmung an beiden Armen und<br />
beiden Beinen, voraus, wie sie Hottinger beschreibt, so bleiben viele<br />
Ungereimtheiten im Leben Hermanns unauflösbar. Er wäre als Tetraplegiker mit<br />
Sicherheit nicht mit 7 Jahren in einer Klosterschule aufgenommen worden, hätte<br />
nicht Lehrer an eben dieser Schule und erst recht nicht Priester werden können.<br />
Das uns überlieferte Leben Hermanns lässt sich aber sehr gut vereinbaren mit einer<br />
Erkrankung an der Amyotrophen Lateralsklerose:<br />
Beginn der Schulzeit als gesunder Siebenjähriger, Aufnahme als Novize ebenfalls als<br />
noch gesunder Heranwachsender, Aufstieg zum Leiter der Klosterschule zwischen<br />
dem 20. und 25. Lebensjahr, also evtl. noch vor Beginn der Erkrankung, Weihe zum<br />
Priester in einer Phase des Krankheits- stillstandes.<br />
Wir sollten uns gedanklich mit dieser neuen Diagnose auseinandersetzen, auch<br />
wenn damit die Lebensbeschreibung Hermanns in den bisher erschienenen<br />
Romanen und Dramen nicht mehr ganz passend ist.<br />
[1] Hansjakob Heinrich, Herimann, der Lahme, von der Reichenau. Sein Leben und<br />
seine<br />
Wissenschaft (Seite 42), Mainz 1875<br />
[2] Ian S. Robinson, Die Chroniken Bertholds von Reichenau und Bernolds von<br />
Konstanz<br />
1054 – 1100, Hannover 2003<br />
[3] Oesch Hans, Berno und Hermann von Reichenau als Musiktheoretiker, Bern 1961<br />
Walter Ebner, Markgröningen Alle Rechte beim Autor<br />
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