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Presse Metropolis - Zeithistorische Forschungen

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P R E S S E I N F O R M A T I O N<br />

METROPOLIS-Restaurierung abgeschlossen<br />

Wiesbaden (29. Januar 2010) – Zwei Wochen vor der glanzvollen Weltpremiere am 12. Februar 2010<br />

ist die Filmrestaurierung von METROPOLIS (DE 1927/2010) abgeschlossen. Nach mehr als 83 Jahren<br />

kehrt der legendäre Stummfilmklassiker in der restaurierten Fassung der Friedrich-Wilhelm-Murnau-<br />

Stiftung auf die Kinoleinwand zurück: mit verloren geglaubten, erst 2008 in Buenos Aires wieder<br />

entdeckten Szenen sowie der neu-editierten Originalmusik in einem Filmkonzert. Die Filmvorstellungen<br />

mit Orchesterbegleitung in Frankfurt und Berlin sind ausverkauft, der europäische Kultursender ARTE<br />

überträgt die Doppel-Filmpremiere live im Fernsehen. In der Alten Oper Frankfurt spricht der Hessische<br />

Ministerpräsident Roland Koch, im Friedrichstadtpalast Berlin spricht der Beauftragte der<br />

Bundesregierung für Kultur und Medien Bernd Neumann.<br />

„Die METROPOLIS-Restaurierung und Wiederaufführung wirft das Scheinwerferlicht auf die<br />

herausragende filmkulturelle Arbeit im Filmland Hessen, die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung leistet<br />

dazu einen wichtigen Beitrag. Mit Spannung erwarten wir die Premiere in der Alten Oper Frankfurt,<br />

wenn nach 83 Jahren wieder die Premierenfassung von Fritz Langs Film und Gottfried Huppertz’ Musik<br />

erlebbar sein werden“, sagte Stefan Grüttner, Chef der Hessischen Staatskanzlei. Für ihn schließe sich<br />

nun ein Kreis von der Ankunft des argentinischen Filmmaterials im Sommer 2009 bis zur Vorstellung<br />

von Restaurierungsbeispielen am heutigen Freitag im Deutschen Filmhaus in Wiesbaden.<br />

„Eine der spannendsten Geschichten des Films – die Überlieferung von <strong>Metropolis</strong> als filmischer Torso<br />

– kommt nun zu einem Happy End. METROPOLIS in der Fassung der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung<br />

von 2010 ist ein neues Filmerlebnis, durch die neue Fassung wird die Handlung des Films jetzt richtig<br />

verständlich“, so Eberhard Junkersdorf, Kuratoriumsvorsitzender der Murnau-Stiftung. Die weltweit<br />

beachtete Restaurierung stehe symbolisch für die Verpflichtung, das Filmerbe zu bewahren und es für<br />

heutige ebenso wie künftige Generationen verfügbar zu machen.<br />

„Seit einem halben Jahrhundert wird an der Wiederherstellung von METROPOLIS gearbeitet, die nunmehr<br />

vierte Restaurierung kommt Fritz Langs Meisterwerk so nahe wie noch nie“, so Helmut Poßmann,<br />

Vorstand der Murnau-Stiftung. Er dankte den Partnern und Förderern des Projektes. METROPOLIS wird<br />

nach den Premieren zunächst auf Festivals, später auch im Kino und auf DVD erlebbar sein. Den<br />

Weltvertrieb der restaurierten Fassung METROPOLIS (1927/2010) übernimmt Transit Film.<br />

„Die Frankfurter Premiere zählt zu den Höhepunkten unseres ersten großen interdisziplinären<br />

Kooperationsprojekts Phänomen Expressionismus. Bis 2011 wird in der Region Rhein-Main mit<br />

Ausstellungen, Werkschauen und Film- sowie Theatervorstellungen eine der wichtigsten Epochen der<br />

Klassischen Moderne in Deutschland vorgestellt“, so Prof. Dr. Herbert Beck, Geschäftsführer des<br />

Kulturfonds FrankfurtRheinMain, der als einer der Hauptförderer die Restaurierung des Films und die<br />

Premiere in Frankfurt unterstützt.<br />

„Das Stummfilm-Erlebnis lebt von der Musik. Von der Restaurierung bis zur festlichen Wiederaufführung<br />

spielt die Originalmusik zu METROPOLIS eine entscheidende Rolle“, so Nina Goslar, Filmredakteurin des<br />

europäischen Kulturkanals ARTE, der von den METROPOLIS-Premieren in Frankfurt und Berlin live<br />

berichtet und die Vorstellung in Berlin überträgt. Seit Jahren gibt ARTE dem Stummfilm einen festen<br />

Programmplatz, ZDF und ARTE beteiligen sich als Kooperationspartner bei bedeutenden<br />

Restaurierungsprojekten wie von METROPOLIS.<br />

Informationen und <strong>Presse</strong>fotos finden Sie auf der Internetseite www.metropolis2710.de<br />

<strong>Presse</strong>kontakt: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung / Horst Martin / Murnaustraße 6 / 65189 Wiesbaden<br />

Tel.: +49 (0) 611 / 97708-47 / Fax: +49 (0) 611 / 97708-49 / Mail: presse@murnau-stiftung.de


„Die Arbeit mit dem argentinischen Material, das Verschleiß und Gebrauchspuren aus zahlreichen<br />

Vorführungen in sich trägt, stellte eine große Herausforderung dar. Dabei ist es gelungen, sich der<br />

verlorenen Uraufführungsfassung vom 10. Januar 1927 nahezu vollständig anzunähern“, berichtet Anke<br />

Wilkening, Restauratorin der Murnau-Stiftung, die mit Martin Koerber (Deutsche Kinemathek, Berlin)<br />

und Frank Strobel (Europäische Filmphilharmonie) bei der Restaurierung zusammen arbeitete.<br />

„Die Produktion von METROPOLIS setzte seinerzeit neue Maßstäbe, für seine Restaurierung mussten<br />

immer wieder neue Wege gegangen werden. So wurden bereits 2001 erstmals neuartige digitale<br />

Verfahren eingesetzt, für die aktuelle Restaurierung musste beispielsweise eine eigene Software<br />

geschrieben werden“, berichtet Thomas Bakels (Alpha Omega digital, München). Dabei galt es, die<br />

Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung ebenso wie ethische Fragen der Restaurierung in Einklang<br />

zu bringen.<br />

Premieren am 12. Februar in Frankfurt und Berlin<br />

METROPOLIS (DE 1927/2010) in der restaurierten Fassung der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung feiert<br />

Premiere am 12. Februar 2010 (20.15 Uhr) in Frankfurt am Main im Rahmen des vom Kulturfonds<br />

FrankfurtRheinMain initiierten interdisziplinären Kooperationsprojekts Phänomen Expressionismus und<br />

zeitgleich anlässlich der 60. Internationalen Filmfestspiele Berlin. Mit der nach der Originalpartitur von<br />

1927 neu adaptierten Musik wird die Vorstellung in der Alten Oper Frankfurt von dem Staatsorchester<br />

Braunschweig unter Leitung von Helmut Imig begleitet, Frank Strobel dirigiert die Vorstellung mit dem<br />

Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin im Friedrichstadtpalast (Berlin).<br />

Die Frankfurter Premiere findet statt mit der freundlichen Unterstützung des Kulturfonds<br />

FrankfurtRheinMain, des ZEITmagazins und der Alten Oper Frankfurt.<br />

Restaurierung und Partner<br />

Restauriert wurde METROPOLIS von der in Wiesbaden ansässigen Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung in<br />

Kooperation mit ZDF und ARTE, gemeinsam mit der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und<br />

Fernsehen (Berlin) und in Zusammenarbeit mit dem Museo del Cine Pablo C. Ducros Hicken (Buenos<br />

Aires). Die Originalmusik von Gottfried Huppertz wird neu editiert von der Europäischen<br />

Filmphilharmonie im Auftrag von ZDF / ARTE. Die Restaurierung und Wiederaufführung werden<br />

gefördert durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, die gemeinnützige<br />

Kulturfonds Frankfurt RheinMain GmbH, die Verwertungsgesellschaft für Nutzungsrechte an Filmwerken<br />

mbH sowie die DEFA-Stiftung. Die Transit Film GmbH (München) übernimmt den Weltvertrieb der<br />

rekonstruierten METROPOLIS Fassung.<br />

Größte Herausforderung bei der Restaurierung stellt der problematische Zustand des gefundenen<br />

Materials dar. Die bislang fehlenden Einstellungen und Sequenzen sind lediglich in Form eines 16-mm-<br />

Dup-Negativ erhalten, das in den 1970er Jahren von einer stark abgenutzten argentinischen 35mm-<br />

Verleihkopie gezogen wurde. Entdeckt wurde die über lange Zeit vergessene, weltweit einzigartige<br />

METROPOLIS-Fassung von Fernando Martín Peña und der Direktorin des Museo del Cine, Paula Félix-<br />

Didier. Trotz modernster Restaurierungstechnik wird der Unterschied der wieder entdeckten Teile mit<br />

einer Länge von ca. 25 Minuten zur fotographischen Güte der Fassung von 2001 immer sichtbar sein.<br />

Zur Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung<br />

Seit ihrer Gründung im Jahr 1966 setzt sich die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung für den Erhalt, die<br />

Pflege und die Zugänglichmachung eines Großteils des deutschen Filmerbes von herausragender<br />

kultur- und filmhistorischer Bedeutung. Ihre Bestände reichen vom Beginn der Laufbilder bis zum<br />

Anfang der 1960er Jahre und umfassen 2000 Stummfilme, 1000 Tonfilme und rund 3000 Kurzfilme<br />

(Werbe-, Kultur-, Dokumentarfilme). Darunter finden sich neben METROPOLIS die großen Klassiker des<br />

deutschen Kinos wie DIE NIBELUNGEN, DAS CABINET DES DR. CALIGARI, DER BLAUE ENGEL, DIE DREI VON<br />

DER TANKSTELLE, MÜNCHHAUSEN, GROSSE FREIHEIT NR. 7 und HELDEN, ebenso eine Vielzahl von Filmen<br />

bedeutender Regisseure wie Friedrich Wilhelm Murnau, Fritz Lang, Ernst Lubitsch, Detlef Sierck,<br />

Helmut Käutner und Wolfgang Staudte.<br />

Seit April 2009 betreibt die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung in zentraler Lage der Landeshauptstadt<br />

Wiesbaden das Deutsche Filmhaus, das filmkulturellen Einrichtungen, Interessenvertretungen aus der<br />

Filmwirtschaft sowie Film- und Medienunternehmen ein gemeinsames Domizil bietet. In dem modernen<br />

Büro- und Veranstaltungskomplex bietet das Murnau-Filmtheater einen öffentlichen Kinospielbetrieb,<br />

der Multi-Funktionsbereich dient für Veranstaltungen und Ausstellungen.<br />

Informationen und <strong>Presse</strong>fotos finden Sie auf der Internetseite www.metropolis2710.de<br />

<strong>Presse</strong>kontakt: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung / Horst Martin / Murnaustraße 6 / 65189 Wiesbaden<br />

Tel.: +49 (0) 611 / 97708-47 / Fax: +49 (0) 611 / 97708-49 / Mail: presse@murnau-stiftung.de


<strong>Presse</strong>stimmen zum Film<br />

„<strong>Metropolis</strong>“<br />

Interview mit dem Dirigenten Frank Strobel<br />

"Die Macht der Musik im Stummfilm ist doch enorm"<br />

FR-online vom 27.01. 2010<br />

http://www.fronline.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/2238438_Interview-mit-dem-<br />

Dirigenten-Frank-Strobel-Die-Macht-der-Musik-im-Stummfilm-ist-doch-enorm.html<br />

Herr Strobel, die neue Version von Fritz Langs "<strong>Metropolis</strong>" ist das Ergebnis einer<br />

aufwändigen und in mancher Hinsicht überaus innovativen Rekonstruktionsarbeit.<br />

Einerseits liegt ihr eine vor zwei Jahren in Argentinien aufgetauchte 16-Millimeter-<br />

Kopie zugrunde, andererseits scheint Gottfried Huppertz´ Partitur ein ebenso<br />

wichtiges Rückgrat der Rekonstruktionsarbeit gewesen zu sein.<br />

Genau: Denn die Partitur, das ist genau die Musik, die bei der Premiere im Januar<br />

1927 gespielt wurde. Wir haben als überliefertes Material das Originalmanuskript,<br />

von dem leider die ersten 65 Seiten fehlen, das entspricht etwa den ersten elf<br />

Minuten des Films. Wir haben den kompletten gedruckten Klavierauszug, der auch<br />

alle Synchronpunkte des Originalmanuskripts enthält, manchmal ein bisschen<br />

versetzt, aber im Großen und Ganzen identisch. Und wir haben das Particell, ein<br />

kompositorisches Skizzenbuch, unter anderem mit Angaben zur Instrumentation. Das<br />

ist eine sehr wichtige Quelle, die einen Überblick über die gesamte Komposition<br />

vermittelt. Man sieht darin auch, dass Gottfried Huppertz nach der Zensur, die im<br />

November 1926 stattfand, bis zur Premiere die Musik noch einmal umgearbeitet hat.<br />

"Zensur" bedeutet in diesem Falle was?<br />

Zur Sache<br />

Frank Strobel ist Künstlerischer Leiter der Europäischen Filmphilharmonie. Er wird<br />

das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin bei der Aufführung der wiederentdeckten<br />

neuen "<strong>Metropolis</strong>"-Fassung am 12. Februar in Berlin dirigieren. Bei der zeitgleichen<br />

Aufführung in Frankfurt spielt das Staatsorchester Braunschweig unter Helmut Imig.<br />

"<strong>Metropolis</strong>" von Fritz Lang ist ein Mythos der Filmgeschichte, ein bildgewaltiges<br />

Opus über eine archetypische, vertikal geschichtete, tyrannische Industrie-Stadt. Der<br />

Film überforderte seine Zuschauer, kam in verkürzten Versionen erneut in die Kinos<br />

und war verschwunden, lange bevor er zum nationalen Mythos wurde. Alle heute<br />

existierenden Versionen sind nur Annäherungen, der bisher besten aus dem Jahr<br />

2001 fehlte noch fast eine halbe Stunde. Vor zwei Jahren tauchte in Buenos Aires<br />

die Kopie einer sehr frühen Version auf, die jetzt zur Grundlage einer erneuten<br />

Rekonstruktion wurde, bei der erstmals auch die Partitur der Filmmusik eine<br />

strukturierende Rolle spielte.


Die neue Fassung von "<strong>Metropolis</strong>" dürfte bis auf wenige Minuten mit der im Januar<br />

1927 uraufgeführten Version identisch sein und wird zum 60. Geburtstag der<br />

Internationalen Filmfestspiele im Berliner Friedrichstadtpalast und in der Frankfurter<br />

Alten Oper mit einem live spielenden Orchester im Saal aufgeführt, wie es auch in<br />

den 1920er Jahren die Regel war.<br />

Das ist einigermaßen vergleichbar mit der Arbeit der Freiwilligen Selbstkontrolle. Der<br />

Film wurde einem Gremium vorgelegt, das nach der Sichtung eine Zensurkarte<br />

anfertigte, die wesentliche Angaben enthielt, nämlich die genaue Abfolge und den<br />

Wortlaut aller Zwischentitel, und zweitens die Meterzahl. Auch die Zensurkarte war<br />

also eine wichtige Quelle für eine <strong>Metropolis</strong>-Rekonstruktion. Sie zeigte uns, dass<br />

alle späteren Versionen kürzer gewesen sind als die Zensur-Version. Und wir reden<br />

da nicht von Minuten, sondern von einer halben Stunde.<br />

Wie viele Versionen von "<strong>Metropolis</strong>" gab oder gibt es?<br />

Der Film wurde nach der Premiere noch einmal umgeschnitten und kam dann in<br />

einer kürzeren Version in die deutschen Kinos. Und wir wissen, dass Export-Kopien<br />

hergestellt wurden, in denen praktisch für jedes Land noch einmal eine komplett<br />

andere Schnittfolge vorgenommen wurden. Manchmal wurde sogar der Plot<br />

verändert, Handlungsträger wurden herausgenommen, die Logik veränderte sich,<br />

wegen fehlender Anschlüsse musste umgeschnitten werden. Es muss Dutzende<br />

verschiedener Versionen gegeben haben, und alles, was wir von diesem Film<br />

bis vor zehn Jahren kannten, basierte auf Exportfassungen.<br />

Die argentinische Fassung dagegen war sehr nahe an der Premierenfassung.<br />

Die argentinische Kopie war offenbar keine Exportfassung, sondern muss praktisch<br />

von der Originalversion gezogen worden und schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt<br />

nach Argentinien gegangen sein. Sie ist völlig anders geschnitten als alle<br />

Exportfassungen. Leider war sie stark beansprucht und beschädigt. Es war keine<br />

Vorführkopie, sondern eine Art Sicherungskopie von einer völlig verschrammten<br />

Vorführkopie. Alle Beschädigungen waren als Kopie überliefert, was die<br />

Rekonstruktion enorm erschwert hat. Man kann so etwas eigentlich nur noch digital<br />

bearbeiten. Wir haben aus der digitalisierten Fassung, die alle diese Fehler enthielt,<br />

zunächst eine Arbeitsfassung hergestellt. Die Kopie selbst kam erst viel später, nach<br />

der Klärung komplizierter Fragen, nach Deutschland. Wir konnten dann eine sehr<br />

genaue Überspielung von Bild zu Bild herstellen. Und damit waren wir endlich einen<br />

großen Schritt weiter. Wenn ich das, was wir heute sehen können, mit dem<br />

vergleiche, was zu sehen war, als wir die argentinische Kopie zum ersten Mal<br />

anschauen konnten, staune ich immer noch. Ich hätte zu Anfang nie gedacht, dass<br />

wir so weit kommen würden.<br />

Mit wie vielen Bildern pro Sekunde wurde der Film gespielt?<br />

Meiner Meinung nach waren es 26, das würde am besten zu Huppertz´ Partitur<br />

passen.<br />

Also 26 Bilder mal die Spieldauer des Films in Sekunden - das ergibt Hunderttausende<br />

von Einzelbildern, die eingescannt und eventuell restauriert oder<br />

rekonstruiert werden mussten. Wer bezahlt so eine Arbeit?


Auftraggeber war die Murnau-Stiftung, die natürlich ihrerseits gefördert wird. Die<br />

Kulturstiftung des Landes Hessen zum Beispiel hat sich sehr stark an dem Projekt<br />

beteiligt, ZDF und Arte haben sehr viel Geld dazu gegeben, die Stiftung Deutsche<br />

Kinemathek war beteiligt. Was die musikalische Seite anbelangt, gab es einen<br />

Förderer-Verbund aus Deutschlandradio Kultur und den schon genannten Förderern,<br />

und auch die Bundeskulturstiftung hat wesentlich dazu beigetragen.<br />

So dass die <strong>Metropolis</strong>-Rekonstruktion also auch eine Folge der öffentlichen<br />

Kulturförderung in Deutschland ist. Es gibt wohl Länder, in denen so etwas nicht<br />

finanzierbar gewesen wäre.<br />

Da bin ich sicher. Es ist natürlich auch so, dass man, wenn man schon länger mit<br />

dem Themenbereich Stummfilm befasst ist, auch einigermaßen weiß, mit welchen<br />

Förderern und Produzenten man zusammenarbeiten kann. Es gibt ein Netzwerk von<br />

Partnern, die schon langjährige Erfahrungen mit der Materie haben.<br />

Zurück zum Film: Ist die lückenhafte Überlieferungs-Situation nicht erstaunlich, wenn<br />

man bedenkt, dass das alles gerade 80 Jahre her ist? Unsere Großeltern könnten<br />

diesen Film im Kino gesehen haben, wir müssen heute an seiner Rekonstruktion<br />

arbeiten wie Archäologen.<br />

Ja, und wir finden auch wirklich äußerst überraschende Dinge. In der neuen<br />

<strong>Metropolis</strong>-Fassung findet sich eine halbe Stunden Material, das für die Filmwelt<br />

praktisch neu war. Wir mussten alles, was wir bis dato über den Film zu wissen<br />

meinten, noch einmal auf den Prüfstand stellen, weil die argentinische Fassung so<br />

viele Fragen aufwarf. Zum Glück hat die Partitur bestätigt, dass sie ganz nahe am<br />

Original ist. Sie haben recht: So ähnlich arbeiten wohl auch Archäologen. Übrigens<br />

verschiebt sich mit den Handlungssträngen und den Gewichtungen der Figuren, wie<br />

ich finde, auch die politische Bedeutung des Films. Sie wird viel schärfer, als wir<br />

früher gemeint haben. Das System dieser Stadt erscheint aktueller, brisanter und<br />

weniger naiv.<br />

Und die filmästhetischen Auswirkungen?<br />

Ich finde, dass der Film in seiner jetzigen Version, gerade mit der neuen<br />

Feinabstimmung zwischen Filmschnitt und Musik, viel flüssiger und stringenter läuft<br />

als alle früheren Versionen. Das kommt nicht zuletzt daher, dass die Musik sich<br />

passgenau zum Film fügt.<br />

Was auf Huppertz´ Kompositionsweise zurückzuführen ist?<br />

In der Partitur haben wir über tausend Synchronpunkte, also kurze<br />

Szenenbeschreibungen, das ist ein belastbares Netz von Hinweisen. Stilistisch<br />

können wir Huppertz der Spätromantik zuordnen, er hat ein bisschen im Stil von<br />

Wagner geschrieben und geht harmonisch nicht so weit wie etwa Korngold. Huppertz<br />

hatte ja vorher auch schon mit Fritz Lang an den "Nibelungen" gearbeitet - klar, dass<br />

Wagner nahe lag. Bei einem spätromantischen Komponisten lässt sich die<br />

Tempogestaltung und damit Spieldauer nicht unbedingt aus der Partitur selbst<br />

heraus lesen. Man muss sich als Dirigent die Fragen stellen und beantworten, die zu<br />

einer angemessenen Interpretation spätromantischer Musik führen. Aus diesem Pro-


zess heraus haben wir erst richtig gemerkt, wie die Musik Situationen, Gefühle,<br />

Stimmungen, Gesichtsausdrücke, Bewegungen und Interaktionen aufnimmt und<br />

gestaltet.<br />

Sie deuteten schon an, dass die Musik nicht nachträglich auf den fertigen Film<br />

komponiert wurde, sondern anders entstanden ist?<br />

Huppertz hat, wie wir aus dem Particell wissen, unter dem Eindruck der Dreharbeiten<br />

und in engem Kontakt mit allen Beteiligten komponiert. Wir haben beim Vergleich der<br />

verschiedenen Versionen immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die Musik und<br />

die argentinische Fassung sich sozusagen gegenseitig bestätigt haben, und dass bei<br />

strittigen Fragen die Musik oft die Antworten nahegelegt hat. Huppertz war die ganze<br />

Zeit dabei, es gibt sogar Fotos, wo er während der Dreharbeiten am Klavier sitzt. Er<br />

hatte also zum Beispiel auch die Möglichkeit, seine Musik zu spielen und damit die<br />

Schauspieler zu beeinflussen. Zweitens kannte er die Muster, die aus dem Labor<br />

kamen, also den Rohschnitt. Er kannte also schon sehr genau die Szenen und ihre<br />

Meterzahl, während noch gedreht wurde. Im Particell steht immer, an welchem Tag<br />

er was geschrieben hat, so dass wir eine genaue Vorstellung von der engen<br />

Parallelität von Dreharbeiten und Komposition haben. Übrigens stehen auch in Thea<br />

von Harbous Drehbuch schon Musikanweisungen, die aus Besprechungen mit<br />

Huppertz entstanden. Die drei waren bei der Arbeit an den "Nibelungen" wohl zu<br />

dieser engen Form der Zusammenarbeit gekommen.<br />

Auch Ihre Rekonstruktionsarbeiten wurden ja in einem Dreier-Team geleistet.<br />

Würden Sie Ihre Arbeitsweise als wissenschaftlich präzise bezeichnen?<br />

Es gibt bei einigen Entscheidungen einen gewissen subjektiven Anteil, den wir zu<br />

verantworten haben, einen Rest Intuition sozusagen. Allerdings denke ich, dass wir<br />

drei ein gutes Team gewesen sind. Martin Koerber hat schon seine Erfahrungen mit<br />

einer früheren <strong>Metropolis</strong>-Rekonstruktion gemacht. Anke Wilkening war als<br />

Filmhistorikerin und -restauratorin sicher die strikteste von uns und hatte immer<br />

starke Argumente gegen Spekulationen. Ich als Musiker komme ja aus einer ganz<br />

anderen Ecke. Im Ergebnis haben diese drei Pole der Kooperation zu etwas geführt,<br />

was, wie ich finde, sehr überzeugend ist. Wir haben Lösungsvorschläge erarbeitet<br />

und gut abgefedert. Wir behaupten nicht, dies sei die Premierenfassung, sondern wir<br />

wissen, dass es sich um eine Annäherung handelt auf dem bestmöglichen Stand der<br />

Dinge. Für mich ist es die siebte Fassung von <strong>Metropolis</strong>, die ich musikalisch<br />

betreue. Ich arbeite seit 26 Jahren mit diesem Film und habe ihn vollkommen<br />

verinnerlicht. Bei jeder Fassung, mit der ich es zu tun hatte, gab es Stellen, an denen<br />

ich dachte: So kann das nicht stimmen. Das ist jetzt erstmals nicht mehr der Fall.<br />

Soweit ich sehe, ist es das erste Mal, dass das an der Europäischen<br />

Filmphilharmonie akkumulierte Wissen um Filmmusik für eine Filmrekonstruktion so<br />

maßgeblich genutzt wurde.<br />

Ich denke das auch. Es gab ja bis vor gar nicht langer Zeit durchaus die puristische<br />

Auffassung, dass ein Stummfilm eigentlich stumm vorgeführt werden müsste und die<br />

Musik nur äußerliche Zutat sei. Die Neudefinition der Rolle der Musik hat sich erst<br />

seit einigen Jahren durchgesetzt. Noch vor fünf Jahren wäre fast undenkbar<br />

gewesen, dass man der Musik diese Schlüsselrolle in der Filmästhetik zugesteht.


Merkwürdig ist schon, dass sich innerhalb der acht Jahrzehnte, seit der Stummfilm<br />

aus den Kinos verschwunden ist, soviel Nichtwissen und so viele Irrtümer<br />

ausgebreitet haben.<br />

Vielleicht war manches interessengeleitet oder gewollt. Nach dem Stummfilm kam<br />

der Tonfilm, der das gesprochene Wort in den Mittelpunkt stellte. Sprache im Film<br />

war das neue Faszinosum, Musik ein überholtes Stadium. Es gab in der<br />

Kinematheken-Szene eine Art Philosophie, die das Sehen eines Stummfilms fast zu<br />

einem heiligen Akt stilisierte. Dabei war Film immer ein Unterhaltungsmedium, auch<br />

als Stummfilm schon. Und das meine ich gar nicht abwertend. Aber Musik war immer<br />

dabei und hat mit den Zuschauern etwas gemacht, was sie nicht kontrollieren<br />

konnten und was den Protagonisten des Tonfilms Misstrauen eingeflößt hat. Denn<br />

die Macht der Musik im Stummfilm ist ja enorm. Das können wir jetzt bei "<strong>Metropolis</strong>"<br />

neu erleben.<br />

<strong>Metropolis</strong> ist nicht einfach ein Film, sondern gewissermaßen national relevantes<br />

Kulturgut. Er wird also sicher nicht nur in der Alten Oper und bei der Berlinale zu<br />

erleben sein?<br />

Unsere Arbeit geht noch einige Schritte weiter. Der eine Strang war die<br />

Rekonstruktion des Films und die Herstellung einer plausiblen Spielfassung. In einem<br />

zweiten Arbeitsstrang werden wir auch die verschiedenen Quellen, aus denen die<br />

Filmmusik besteht - also Particell, Skizzen, eine Instrumentierung für kleine<br />

Orchester und Anderes - zusammmen führen, unter musikwissenschaftlichen<br />

Aspekten genau abklopfen und eine Urtextausgabe dieser Musik erstellen. Das wird<br />

eine Publikation der Europäischen Filmphilharmonie sein, für Wissenschaftler und<br />

andere Interessierte. Auf der Basis dieses Materials erstellen wir eine Aufführungs-<br />

Ausgabe, denn nach wie vor ist ja der Film und also auch die Musik nicht ganz<br />

komplett. Wir werden alles ganz genau setzen, die Tempi präzisieren, die<br />

dynamischen Angaben durchsehen und alles so exakt wie möglich notieren. Mit<br />

diesem Material machen wir diesen Film für andere Städte, andere Orchester<br />

aufführbar. Weiterhin wird es eine Kino-Aufspielung geben, das heißt: Der Film kann<br />

mit einer Tonspur ins Kino kommen, die wir im Studio produzieren werden. Und<br />

<strong>Metropolis</strong> wird der erste Stummfilm sein, der auf Blue Ray erscheint.<br />

Interview: Hans-Jürgen Linke<br />

„<strong>Metropolis</strong>“ wie früher<br />

Die Wiedergeburt eines Jahrhundertfilms<br />

Von Andreas Kilb<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.01.2010<br />

http://www.faz.net/s/Rub8A25A66CA9514B9892E0074EDE4E5AFA/Doc~E75F2AB3<br />

A251C49BB9F3A4EAA591C53DA~ATpl~Ecommon~Scontent.html


25. Januar 2010 Im April des Jahres 1927 geht der Schriftsteller H. G. Wells, der<br />

Autor des von Spielberg verfilmten und von Orson Welles vertonten „Krieg der<br />

Welten“ und der „Zeitmaschine“, ins Kino, um sich einen deutschen Science-Fiction-<br />

Film anzuschauen. Seine Eindrücke fasst er in einem Bericht für die „New York<br />

Times“ zusammen: „Ich habe gerade den allerdümmsten Film gesehen. Ich glaube<br />

nicht, dass es möglich wäre, einen noch dümmeren zu machen. Er heißt <strong>Metropolis</strong><br />

und kommt von den großen Ufa-Studios in Deutschland, und dem Publikum wird zu<br />

verstehen gegeben, dass er mit einem enormen Budget produziert wurde. Originalität<br />

gibt es keine darin. Auch keinen eigenständigen Gedanken. Keinen einzigen Moment<br />

lang glaubt man irgendetwas von dieser blödsinnigen Geschichte. Man kann nicht<br />

einmal darüber lachen. Es gibt keine einzige gut aussehende, sympathische oder<br />

lustige Figur in der Besetzungsliste. Mein Glaube an das deutsche Unternehmertum<br />

hat einen Schock erlitten . . . Sechs Millionen Mark! Was für eine Verschwendung!“<br />

Knapp dreiundachtzig Jahre später sitzt der Dirigent Frank Strobel in einem Berliner<br />

Café und freut sich über „<strong>Metropolis</strong>“. Strobel, Mitbegründer und künstlerischer Leiter<br />

der Europäischen Filmphilharmonie, hat gerade gemeinsam mit zwei Experten von<br />

der Deutschen Kinemathek Berlin und der Wiesbadener Murnau Stiftung die bisher<br />

längste und vorerst endgültige restaurierte Version des deutschen<br />

Stummfilmklassikers erstellt.<br />

Am 12. Februar wird „<strong>Metropolis</strong>” erstmals wieder in nahezu vollständiger Fassung<br />

gezeigt - in der Alten Oper Frankfurt und auf der Berlinale. Vom 21. Januar bis zum<br />

25. April zeigt das Berliner Museum für Film und Fernsehen die Ausstellung „The<br />

complete <strong>Metropolis</strong>”<br />

Am 12. Februar wird er im Berliner Friedrichstadtpalast die Uraufführung der neuen<br />

„<strong>Metropolis</strong>“-Fassung mit der Originalmusik des Komponisten Gottfried Huppertz<br />

dirigieren. Eineinhalb Jahre hat die Arbeit an dem Film gedauert, der jetzt fast<br />

zweieinhalb Stunden lang ist, nur wenig kürzer als bei seiner Premiere im Januar<br />

1927. Zwar werde an Feinheiten immer noch gefeilt, sagt Strobel, aber im Großen<br />

und Ganzen sei die Restaurierung abgeschlossen. Ein Glücksgefühl sei es gewesen,<br />

als er zum ersten Mal den nahezu vollständigen Film gesehen habe. „Ich arbeite seit<br />

sechsundzwanzig Jahren mit, <strong>Metropolis</strong>', und jetzt sind endlich die Stellen weg, bei<br />

denen ich immer gedacht habe: Das ist doch Murks!“<br />

Mehr als dreißigtausend Statisten<br />

Man könnte meinen, der Schriftsteller Wells und der Musiker Strobel sprächen über<br />

zwei völlig verschiedene Kinowerke. Und doch reden sie über den gleichen Film.<br />

Seine Geschichte, in der die Berliner Aufführung im Februar - eine zweite<br />

„<strong>Metropolis</strong>“-Gala findet zur gleichen Zeit in der Alten Oper in Frankfurt statt - ein<br />

völlig neues Kapitel aufschlagen wird, ist ein kinematographisches Drama ganz<br />

eigener Art. Es handelt von einem Regisseur, der den größten Film aller Zeiten<br />

drehen, von seiner Produktionsgesellschaft, die daraus ein marktfähiges Produkt,<br />

und von einer Nachwelt, die aus den Bruchstücken eines zerstörten Kunstwerks<br />

dessen ursprüngliche Gestalt herauslesen will. Es ist eine Geschichte, die viel über<br />

die Flüchtigkeit und Verletzlichkeit der Kinobilder verrät - und über den Zufall, der sie<br />

mal hierhin, mal dorthin weht und an den überraschendsten Stellen plötzlich wieder<br />

auftauchen lässt.<br />

Die Story von „<strong>Metropolis</strong>“ beginnt im Frühjahr 1924. In Deutschland klingen in jenen<br />

Tagen gerade die Nachwirkungen der Inflation von 1923 ab, die große<br />

Nachkriegskrise ist vorbei, die Weimarer Republik holt Atem. Aber die sozialen<br />

Spannungen bleiben: Hunderttausende haben ihr Vermögen verloren, andere am


Elend eine goldene Nase verdient. Die letzten Arbeiteraufstände liegen erst wenige<br />

Wochen zurück. Doch die Variétés, die Tanz- und Showpaläste der Hauptstadt<br />

boomen. Von diesem Abgrund zwischen Oben und Unten, Arm und Reich wollen der<br />

Regisseur Fritz Lang und seine Frau, die Drehbuchautorin Thea von Harbou, in<br />

ihrem neuen gemeinsamen Werk erzählen. Der Film soll noch größer werden als die<br />

Zweiteiler „Dr. Mabuse, der Spieler“ und „Die Nibelungen“, mit denen Lang in den<br />

Krisenjahren Millionen Deutsche ins Kino gelockt hat. „Dr. Mabuse“ war ein<br />

Schauerbild deutscher Zerrüttung, das Nibelungen-Epos ein Weihespiel<br />

germanischen Heldentums. „<strong>Metropolis</strong>“ soll beides sein.<br />

Im Herbst 1924 reist Lang mit dem Produzenten Erich Pommer in die Vereinigten<br />

Staaten. In New York fotografiert er den nächtlichen Broadway, und hier findet er<br />

auch die Vorbilder für die Hochhausschluchten seines Films. Im folgenden Winter<br />

beginnen Langs Bühnenbildner Erich Kettelhut, Otto Hunte und Karl Vollbrecht mit<br />

den Vorarbeiten für „<strong>Metropolis</strong>“, von Mai 1925 bis Oktober 1926 wird in Babelsberg<br />

und Umgebung gedreht. Es wird die teuerste Ufa-Produktion vor „Münchhausen“ und<br />

der teuerste deutsche Stummfilm überhaupt. Mehr als dreißigtausend Statisten<br />

bevölkern den Set, viele Großbauten, für die die Studiohallen der Ufa zu klein sind,<br />

werden im Freien errichtet. Für eine Szene, die vom Turmbau zu Babel erzählt,<br />

werden allein sechstausend Kahlköpfige gebraucht. Weil nur tausend zu haben sind,<br />

lässt Langs Kameramann Günther Rittau dieselbe Kolonne sechsmal von<br />

verschiedenen Seiten auf sich zumarschieren, deckt den Rest des Bildes ab und<br />

blendet die so gewonnenen Einstellungen ineinander.<br />

Die drei machen Musik<br />

Andere Szenen werden mit dem sogenannten Schüfftan-Verfahren gedreht, bei dem<br />

ein verkleinertes Modell des Schauplatzes mit Hilfe eines gekippten Spiegels vor der<br />

Kamera in die realen Aufbauten eingefügt wird. So entstehen die Ansichten der<br />

beiden gewaltigen Maschinenhallen und der unterirdischen Arbeiterstadt. Die Autos,<br />

Fußgänger und Bahnen, die sich zwischen den gemalten Wolkenkratzern von<br />

„<strong>Metropolis</strong>“ bewegen, werden im Stop-Motion-Verfahren Bild für Bild weitergerückt<br />

und fotografiert. Eine Liftvorrichtung bewegt die Leuchtringe, welche die<br />

Menschwerdung des Roboters anzeigen und so lange übereinanderkopiert werden,<br />

bis sie sich zu einem Zauberspiel übereinandergleitender Lichtkränze ergänzen.<br />

Einzelne Aufnahmen werden bis zu dreißigmal belichtet, damit die Illusion<br />

elektrischer Blitze und flimmerfreier Überwachungsbildschirme vollkommen ist.<br />

In einer Zeit, die weder Computeranimation noch digitale Nachbearbeitung kennt,<br />

entsteht so das makellose Abbild einer Welt, die weder Gegenwart noch Zukunft ist,<br />

sondern eine märchenhafte Mischung aus beidem. Auch die Geschichte, die der Film<br />

erzählt, blendet wie mit einem Schüfftan-Trick altdeutsche Romantik und<br />

neudeutsche Kapitalismuskritik ineinander. Rotwang, ein zwielichtiger Erfinder, hat<br />

einen Maschinenmenschen konstruiert, durch den er seine verstorbene Geliebte Hel<br />

wiederbeleben will. Zugleich versucht Freder, der Sohn des Herrschers von<br />

<strong>Metropolis</strong>, zusammen mit seiner Freundin Maria das Los der Arbeiter zu erleichtern,<br />

die in Katakomben unter der Erde für den Reichtum der Millionenstadt schuften<br />

müssen. Als Rotwang seinem Roboter das Gesicht Marias gibt und ihn auf die<br />

Arbeiter loslässt, gerät die soziale Ordnung außer Kontrolle. Die Maschinen werden<br />

gestürmt, Wassermassen überfluten die unterirdische Schlafstadt, droben in den<br />

Palästen gehen die Lichter aus. Am Ende kämpft Freder mit Rotwang um das<br />

Schicksal der Metropole - auf dem Dach einer gotischen Kathedrale, die wie ein<br />

riesiger schwarzer Splitter zwischen den Hochhausfassaden steckt.


Ein Foto vom Set, das in der am Donnerstag eröffneten Ausstellung „The Complete<br />

<strong>Metropolis</strong>“ in der Deutschen Kinemathek Berlin zu sehen ist, zeigt die<br />

Schauspielerin Brigitte Helm zusammen mit Fritz Lang und Thea von Harbou. Die<br />

drei machen Musik: Helm spielt Saxophon, Harbou Klavier, Lang sitzt am<br />

Schlagzeug. Brigitte Helm, die zu Beginn der Dreharbeiten gerade neunzehn Jahre<br />

alt war und noch nie vor einer Kamera gestanden hatte, trägt die bildliche und<br />

symbolische Hauptlast des Films. Sie ist zugleich die falsche und die echte Maria, die<br />

verruchte Maschinenfrau und die blonde Arbeiterheilige. Als geheime Herrscherin der<br />

Katakomben verkörpert sie das Gegenprinzip zur oberirdisch waltenden Moderne, als<br />

Robotermensch deren dämonische Erfüllung. Für den jungen Star von „<strong>Metropolis</strong>“<br />

wurden viele Drehtage zur Tortur. In der Szene der großen Überschwemmung<br />

musste Brigitte Helm stundenlang im Wasser stehen, als Roboter wurde sie in ein<br />

hölzernes Korsett gepresst, und bei der Arbeit an der Einstellung, die den Tod der<br />

falschen Maria auf dem Scheiterhaufen zeigt, fing ihr Kostüm Feuer. Dennoch hat sie<br />

nie ein böses Wort über Fritz Lang verloren. Noch zehn Jahre lang spielte sie<br />

Hauptrollen in Ufa-Produktionen, darunter „Alraune“ und „Die Herrin von Atlantis“,<br />

aber „<strong>Metropolis</strong>“ blieb der Film ihres Lebens. 1935 beendete sie ihre Karriere und<br />

heiratete einen Industriellen. Die vollständige Fassung ihres Debütfilms hat sie nach<br />

der Uraufführung nicht mehr gesehen.<br />

Vergeblich ringt Lang um eine Gegendarstellung<br />

Am 10. Januar 1927 hat „<strong>Metropolis</strong>“ im Berliner Ufa-Palast am Zoo Premiere. Sie<br />

wird zum Triumph. Doch inzwischen steckt die Produktionsfirma nach zwei<br />

Verlustjahren in akuten Schwierigkeiten. Schon im Vorjahr hat die Ufa, um an<br />

frisches Geld zu kommen, mit den amerikanischen Filmstudios Paramount und Metro<br />

Goldwyn Mayer einen Vertrag gemacht, der sie zwingt, ständig in der Hälfte ihrer<br />

Kinos Hollywoodware zu spielen, während die Amerikaner Ufa-Filme nach<br />

Gutdünken in den Verleih nehmen dürfen. Im Rahmen dieser Vereinbarung geht im<br />

Dezember 1926 eine Kopie von „<strong>Metropolis</strong>“ nach Kalifornien. Der Paramount ist der<br />

Film mit gut zweieinhalb Stunden Spieldauer zu lang. Sie beauftragt den<br />

Bühnenautor Channing Pollock, eine gestraffte Version zu erstellen. Pollock kürzt<br />

den Film um ein Viertel, stellt Szenen um, lässt Figuren unter den Tisch fallen und<br />

macht aus dem düsteren Einzelgänger Rotwang einen Freund und Angestellten des<br />

Herren von <strong>Metropolis</strong>. In dieser Fassung kommt der Film im März in New York und<br />

London in die Kinos, und so sieht ihn auch H. G. Wells.<br />

In der Zwischenzeit haben sich auch in Deutschland die Verhältnisse gegen Fritz<br />

Lang gekehrt. Ende März 1927 übernimmt der Großindustrielle Alfred Hugenberg die<br />

angeschlagene Ufa. Von Hugenbergs Rechnungsprüfern getriezt, suchen die Ufa-<br />

Verantwortlichen nach einem Sündenbock: Es ist „<strong>Metropolis</strong>“. Der Film habe durch<br />

seine Gigantomanie die Firma in die roten Zahlen getrieben, heißt es. Vergeblich<br />

ringt Lang durch seinen Anwalt um eine Gegendarstellung. Als sich Anfang April<br />

abzeichnet, dass der Film, den die Ufa in nur einem einzigen Berliner Kino gestartet<br />

hat, kein kommerzieller Erfolg ist, wird „<strong>Metropolis</strong>“ aus dem Verleih genommen.<br />

Jetzt soll der Film in der amerikanischen Fassung vertrieben werden, aber ohne die<br />

„pietistischen Stellen“ und die Zwischentitel „mit kommunistischer Tendenz“. Als<br />

„<strong>Metropolis</strong>“, jetzt nur noch knapp zwei Stunden lang, im August landesweit in die<br />

Kinos kommt, spaltet sich die Kritik in Anhänger der Premierenfassung, die den<br />

ästhetischen Verlust betrauern, und Verächter des Films in jeder Form. Rudolf<br />

Arnheim spielt, wie viele seiner Kollegen, die Autorin von Harbou und ihren Ehemann<br />

Lang gegeneinander aus: Dieser habe „viele schöne Bilder“ geschaffen, jene


dagegen treibe „mit Entsetzen Kitsch“. Und aus Madrid höhnt Luis Buñuel,<br />

„<strong>Metropolis</strong>“ bestehe aus zwei Filmen, die „an der Hüfte zusammengewachsen“<br />

seien.<br />

Von da an verliert sich die Spur der Urfassung des Films. Die Ufa, die die<br />

herausgeschnittenen Szenen offenbar sofort vernichtet hat, legt 1934 eine abermals<br />

gekürzte, nur gut neunzigminütige „<strong>Metropolis</strong>“-Version ins neu gegründete<br />

Reichsfilmarchiv. Von ihr zieht Iris Barry, die Kuratorin der Filmbibliothek des New<br />

Yorker Museum of Modern Art, drei Jahre später eine Kopie. Eine Kopie dieser Kopie<br />

gelangt 1938 in die British Film Library nach London. Von dort aus reist der Film nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg durch die Kinematheken und Filmclubs von Westeuropa.<br />

Bergman, Fellini, Bresson, die jungen Wilden der Nouvelle Vague - ganze<br />

Generationen von Cinephilen und künftigen Regisseuren haben Langs Film in dieser<br />

verstümmelten, teils stummen, teils nachvertonten Fassung kennengelernt.<br />

Schließlich machte sich Anfang der siebziger Jahre, noch zu Lebzeiten Fritz Langs,<br />

der Filmhistoriker Enno Patalas auf den Weg, die verlorenen Szenen von<br />

„<strong>Metropolis</strong>“ wiederzufinden. Patalas, seit 1974 Leiter des Münchner Filmmuseums,<br />

stöberte in Filmarchiven auf der ganzen Welt - und wurde fündig. In Ostberlin,<br />

Moskau, New York, sogar in Melbourne entdeckte er mehr oder minder vollständige,<br />

zum Teil sogar viragierte - monochrom eingefärbte - Kopien des Films. Allerdings<br />

fußten sie allesamt auf der Verleihfassung der Paramount vom März 1927. Auf der<br />

Basis dieses Materials veröffentlichten Patalas und sein Kollege Martin Koerber im<br />

Jahr 2001 eine restaurierte „<strong>Metropolis</strong>“-Version auf DVD. Vier Jahre später folgte<br />

eine Studienfassung, unterlegt mit dem vollständigen Klavierauszug der<br />

Originalmusik von Gottfried Huppertz, in der die fehlenden Szenen durch Setfotos,<br />

beschreibende Titel und Schwarzfilm markiert waren. Mit einer Wiederentdeckung<br />

der Premierenfassung rechnete, acht Jahrzehnte nach ihrer Zerstörung, niemand<br />

mehr. Bis vor zwei Jahren ein Anruf aus Buenos Aires kam.<br />

Zu viel cinephiles Seemannsgarn<br />

Dort hatte der Filmkritiker und Festivalchef Fernando Peña schon vor längerer Zeit<br />

von einer „<strong>Metropolis</strong>“-Kopie gehört, die angeblich über zwei Stunden lang war. Die<br />

Filmrollen lagen im Archiv des städtischen Filmmuseums. Anfang 2008 wurde Peñas<br />

Exfrau Paula Félix-Didier zur Museumsleiterin ernannt. Sie lud Peña zu einem<br />

Archivbesuch ein. Die beiden fanden zwei Filmrollen im 16-Millimeter-Format, die in<br />

den siebziger Jahren als Negativ von einer 35-Millimeter-Nitrofilmkopie gezogen<br />

worden waren. Die Rollen enthielten die verkratzte, verschlierte, durch hundertfachen<br />

Gebrauch zerschlissene und vergilbte Originalfassung von „<strong>Metropolis</strong>“.<br />

Wie war Fritz Langs Opus magnum nach Buenos Aires gelangt? Dazu muss man ins<br />

Jahr 1927 zurückgehen. Damals nahm der argentinische Filmverleiher Adolfo Z.<br />

Wilson - sein Name prangt im Abspann der wiederentdeckten Version - eine Kopie<br />

von „<strong>Metropolis</strong>“ in seine Heimat mit. Nach dem Kinoeinsatz wurden Filmkopien<br />

gewöhnlich vernichtet; neunzig Prozent aller Stummfilme sind auf diese Weise für<br />

immer verlorengegangen. Wilson aber schenkte seine „<strong>Metropolis</strong>“-Rollen einem<br />

Freund und Filmkritiker, der sie in seine Privatsammlung aufnahm und bis in die<br />

sechziger Jahre im kleinen Kreis vorführte. Danach ging die Sammlung an den<br />

Nationalen Kunstfonds, der die alten, leicht entflammbaren Nitrofilme aus<br />

Feuerschutzgründen umkopierte und anschließend vernichtete.<br />

Die deutschen „<strong>Metropolis</strong>“-Experten wollten die Nachricht von der<br />

Wiederentdeckung der originalen Schnittfassung zunächst nicht glauben. Zu viel<br />

cinephiles Seemannsgarn, zu viele Falschmeldungen und Spekulationen waren in


den vergangenen Jahrzehnten um den legendären Fall gesponnen worden. Erst eine<br />

Sichtung im Juni 2008 in Berlin überzeugte sie von der Authentizität des Fundes.<br />

Martin Koerber, der Restaurierungsleiter der Deutschen Kinemathek, erinnert sich an<br />

den Augenblick, als er die erste verloren geglaubte Filmszene wiedersah. Der Film,<br />

so Koerber, war plötzlich „ein bisschen weniger zerstört“ als zuvor. Sogar sehr viel<br />

weniger zerstört, wie sich zeigte. Denn die Kopie aus Argentinien enthält eben nicht<br />

nur die meisten bisher noch fehlenden Szenen aus „<strong>Metropolis</strong>“, sondern auch die<br />

Schnittfolge, in der Fritz Lang sie ursprünglich arrangiert hat. Sie ist, neudeutsch<br />

gesagt, der Director's Cut eines Jahrhundertfilms.<br />

Eine Geschichte geht zu Ende<br />

Was sieht man nun in diesen Bildern? All das, was H. G. Wells, Buñuel und mit ihnen<br />

sämtliche „<strong>Metropolis</strong>“-Zuschauer der vergangenen achtzig Jahre nicht mehr<br />

gesehen haben. Zunächst und vor allem begreift man nun, worum es dem verrückten<br />

Rotwang und seinem Widersacher Fredersen, dem Herrscher der <strong>Metropolis</strong>,<br />

eigentlich geht: um eine Frau. Beide haben Hel geliebt, aber Fredersen hat sie<br />

bekommen. Deshalb will Rotwang ihn, seine Stadt und seinen Sohn, bei dessen<br />

Geburt die Vergötterte starb, durch seinen Roboter vernichten. Und ebenso, wie<br />

Rotwang und Fredersen zwei faustische Grundtypen der Moderne verkörpern, bilden<br />

auch zwei Nebenfiguren in Langs Film ein Gegensatzpaar. Der eine, der nur „der<br />

Schmale“ genannt wird, soll Freder im Auftrag seines Vaters überwachen und ihn<br />

daran hindern, sich mit den Arbeitern gemein zu machen; der andere, Josaphat, war<br />

Fredersens Angestellter und ist nun eine Art Berater seines Sohnes. Beide gewinnen<br />

durch das wiedergefundene Material zum ersten Mal Kontur. Aber auch<br />

Schlüsselszenen wie die Flucht der Arbeiterkinder aus der überfluteten Unterstadt<br />

oder Freders Traum von der Fleischwerdung der Sieben Todsünden in der<br />

Maschinenfrau werden auf ganz neue Weise verständlich. Es ist, als wären die<br />

erzählerischen Gewichte des Films endlich wieder ins Gleichgewicht gebracht, die<br />

schattenhaften Gestalten wiederbelebt, die Perspektiven geradegerückt.<br />

Die Musik von Gottfried Huppertz hat, wie Frank Strobel berichtet, bei der<br />

Restaurierung eine entscheidende Rolle gespielt. Huppertz nämlich hatte im<br />

Manuskript seiner Komposition zu „<strong>Metropolis</strong>“ mehr als tausend sogenannte<br />

„Synchronpunkte“ notiert - knappe Hinweise auf Bildinhalte, zu denen die Musik die<br />

entsprechende Untermalung liefert. Auf diese Weise ließ sich nicht nur die Länge der<br />

Szenen, sondern auch ihre innere Struktur genau bestimmen. Immer dann, wenn<br />

sich die Restauratoren über die Abfolge einzelner Einstellungen uneins waren,<br />

konsultierten sie die von Strobel vervollständigte Orchesterpartitur. Und fast immer<br />

bestätigte die Musik die Varianten der argentinischen Fassung. So ist es nicht nur ein<br />

ergänzter, sondern ein buchstäblich wiedergeborener Film, der am 12. Februar<br />

aufgeführt und im Laufe dieses Jahres auf DVD veröffentlicht werden wird.<br />

„<strong>Metropolis</strong>“ bleibt auch nach dem Sensationsfund von Buenos Aires ein Kunstwerk<br />

mit Lücken und Schrammen. Noch immer sind etwa zehn Minuten der<br />

Premierenfassung verschollen, und die Verschleißspuren der Kopie aus Argentinien<br />

werden auch nach eineinhalbjähriger digitaler Auffrischung in den Bildern zu sehen<br />

sein. Aber ab jetzt ist Fritz Langs größter Film kein Torso mehr. Jene Bruchstücke,<br />

die ihm noch fehlen, werden an seiner Gestalt nichts mehr grundsätzlich ändern. Mit<br />

der Restaurierung von „<strong>Metropolis</strong>“ geht eine Geschichte zu Ende, die zu den<br />

tragischsten und gleichzeitig glücklichsten in der Geschichte des Kinos gehört. Die<br />

fünf Millionen Mark - sie waren doch nicht verschwendet. Denn der Film, in den sie<br />

flossen, ist wieder da.


Die Faszination ist ungebrochen<br />

Von Eberhard Junkesdorf<br />

Welt-Online vom 24.01.2010<br />

http://www.welt.de/die-welt/kultur/literatur/article5960104/Die-Faszination-istungebrochen.html<br />

Fritz Langs "<strong>Metropolis</strong>" wird auf der Berlinale erstmals wieder in Originallänge<br />

gezeigt. Eberhard Junkersdorf verrät das Erfolgsrezept des Klassikers.<br />

Bevor Fritz Lang 1925 mit den Dreharbeiten zu seinem neuen, seinem 13. Spielfilm<br />

begann, verbrachte er 1924 drei Monate in New York. Dort wollte er sich inspirieren<br />

lassen, um seiner Vorstellung von einer Stadt der Zukunft, wie er sie in "<strong>Metropolis</strong>"<br />

zeigen würde, eine konkretere Gestalt zu geben. Nach seiner Rückkehr aus den USA<br />

beschrieb er voller Begeisterung seine Eindrücke, insbesondere über die<br />

Leuchtreklame in der Stadt: "Allein der Anblick von New York bei Nacht müsste<br />

genügen, um dieses Fanal der Schönheit zum Kernpunkt eines Films zu machen.<br />

Das blitzt auf, kreist in Rot, Blau und leuchtendem Weiß, schreit in Grün dazwischen<br />

und versinkt in ein schwarzes Nichts, um gleich darauf wie neugeboren wieder das<br />

Spiel der Farben zu erleben. Strassen, die Schächte voll Licht, voll kreisendem,<br />

wirbelndem Licht, das wie ein Bekenntnis frohen Lebens ist, und darüber,<br />

himmelhoch über den Autos und Hochbahnen tauchen Türme auf in Blau und Gold,<br />

in Weiß und Purpur von Scheinwerfern aus dem Dunkel der Nacht gerissen,<br />

Reklame ragt noch höher, bis zu den Sternen, die diese an Licht und Glanz<br />

besiegen, lebend in immer wieder neuen Variationen."<br />

Damit gab Lang eine ziemlich genaue Beschreibung, wie er sich die optische<br />

Umsetzung der Dekorationen und der Bilder für "<strong>Metropolis</strong>" vorstellte. Seine<br />

Begeisterung war noch größer geworden, er wollte die Realität von New York<br />

möglichst originalgetreu darstellen. Ein Vorhaben, das bis dahin noch niemand in<br />

den ihm vorschwebenden Dimensionen versucht hatte.<br />

Lang muss fasziniert gewesen sein von dem Gedanken, den größten und teuersten<br />

Film, den die UFA jemals produziert hatte, herstellen zu können. Das genehmigte<br />

Budget lag bei 1,9 Millionen Reichsmark, die Kosten sollen letztlich über 5 Millionen<br />

betragen haben. Für die Umsetzung holte sich Lang die besten Leute. Die Planung<br />

der Dekorationen übertrug er an die Architekten Erich Kettelhut und Otto Hunte, die<br />

mit ihrer Gestaltung die filmische Visualisierung von Großstädten prägten.<br />

Insbesondere zeigt sich das im "Stadion im Klub der Söhne", den Interieurs der<br />

"Oberstadt" mit ihren hohen Räumen und ihren riesenhaften Türen, den gigantischen<br />

Häusern, den Maschinen und vielem anderen mehr. Manche Dekorationen waren so<br />

groß, dass sie nicht in die Studios in Babelsberg reinpassten und man die ehemalige<br />

Zeppelin-Halle in Staaken bei Berlin zum Filmstudio umfunktionieren musste. Beide<br />

Architekten waren auch verantwortlich für die vielen Miniatur-Bauten, die mithilfe<br />

eines neuen Spiegel-Verfahrens des Tüftlers Eugen Schüfftan viele Trickaufnahmen<br />

ermöglichten.<br />

Für die Licht-Bild-Gestaltung und die Umsetzung der Tricks standen Lang mit Karl<br />

Freund und Günther Rittau zwei ausgezeichnete Kameramänner zur Verfügung, die


während der gesamten Drehzeit von 18 Monaten große und kleine Dekorationen<br />

filmten, die nie vorher gesehene Massenszenen fotografierten und die es<br />

verstanden, Trickshots im Stop-Motion-Verfahren durchzuführen. Ihnen ist es zu<br />

verdanken, dass ein Film entstand, der von der Kraft fantastischer Bilder lebt. All das<br />

führte dazu, dass "<strong>Metropolis</strong>" sich in den Köpfen von Generationen festgesetzt hat.<br />

Immer wieder haben sich Zuschauer wie Filmemacher gefragt: Wie haben die das<br />

damals gemacht?<br />

Ich habe vor Kurzem mit Roland Emmerich, dessen aktueller Film "2012" mit<br />

perfekter digitaler Technik den Weltuntergang erzählt, über "<strong>Metropolis</strong>" gesprochen.<br />

Er teilte die Begeisterung über Fritz Langs Meisterwerk, das zu Recht 2001 von der<br />

Unesco in das Register Memory of the World aufgenommen wurde - bis heute als<br />

einziger deutscher Film. Hollywood war für Lang der Maßstab, das verbindet ihn mit<br />

Emmerich, der seine ersten Filme in einer Garage im schwäbischen Sindelfingen<br />

drehte - und zwar in englischer Sprache. Filme "amerikanisch" aussehen zu lassen,<br />

das Publikum durch Technik und atemberaubende Bilder zu begeistern, auch das<br />

verbindet die beiden Filmemacher. Alleine, dass "<strong>Metropolis</strong>" in Zeiten der<br />

computergenerierten Bilder immer noch einen Schauwert besitzt, der im Gedächtnis<br />

der Kreativen seinen festen Platz hat, spricht Bände über seine Bedeutung.<br />

Es gibt Filme, die Filmwissenschaftler über Jahrzehnte in Atem halten; es gibt Filme,<br />

die Filmschaffende inspirieren, und es gibt Filme, deren Faszination beim Publikum<br />

nicht erlischt. Selten treffen alle drei Kriterien zu, "<strong>Metropolis</strong>" ist einer dieser<br />

Ausnahmefälle. "<strong>Metropolis</strong>" begegnet uns in vielen Zusammenhängen - im Film und<br />

über den Film hinaus.<br />

"<strong>Metropolis</strong>" gilt als "Mutter aller Science-Fiction-Filme", er hat Werke wie "Blade<br />

Runner" und "Star Wars" inspiriert, auch Popstars wie Madonna und Queen haben<br />

sich für ihre Videoclips Ideen von "<strong>Metropolis</strong>" geholt.<br />

Obwohl der Film 1927 in den Kinos scheiterte, war er stets präsent. Doch jetzt,<br />

nachdem die fehlenden 25 Minuten in Argentinien aufgetaucht sind und er bei der<br />

Berlinale im Februar wieder in fast vollständiger Originallänge gezeigt werden kann,<br />

ist das Interesse groß wie nie zuvor. "<strong>Metropolis</strong>" ist in jeder Zeit modern und doch<br />

keine Modeerscheinung. Der Film ist Teil des Gedächtnisses des 20. Jahrhunderts,<br />

und ich bin davon überzeugt, dass <strong>Metropolis</strong> auch noch in 80 Jahren die<br />

Begeisterung zukünftiger Generationen finden wird.<br />

Eberhard Junkersdorf zählt zu den bedeutendsten Produzenten des deutschen Films<br />

und ist seit 2008 Kuratoriumsvorsitzender der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, die<br />

sich für die Pflege des deutschen Filmerbes einsetzt.<br />

Zu viel Masse. Hellmuth Karasek nennt fünf Gründe, warum ihn "<strong>Metropolis</strong>"<br />

kaltlässt<br />

Von Hellmuth Karasek<br />

Welt-Online vom 24. Januar 2010<br />

http://www.welt.de/die-welt/kultur/literatur/article5960105/Zu-viel-Masse-Hellmuth-<br />

Karasek-nennt-fuenf-Gruende-warum-ihn-<strong>Metropolis</strong>-kaltlaesst.html<br />

1. Eine Trickaufnahme in der Millionenstadt auf nächtlicher Hauptstraße dauerte vier<br />

Monate. Sie wurde als Miniaturstraße gefilmt, Bildfenster für Bildfenster. Nach 124<br />

Tagen waren 20 Meter Negativfilm 57-mal am Bildfenster der Kamera<br />

vorbeigewandert. Das war für den arbeitsfanatischen Lang, der seine Filme<br />

sozusagen durch das Offiziersmonokel kontrollierte, ein gefundenes Fressen,


technisch aller Adoration wert. Der Filmhistoriker David Thomson schrieb, dass die<br />

amerikanischen Verhältnisse für Lang ein Glück waren, weil sie ihn zu Kürzungen<br />

nötigten.<br />

2. Die futurologische Welt, die Lang als Utopie an die Wand malte, nannte H. G.<br />

Wells, der etwas von den Schrecken der Zukunft verstand, einfach den "dümmsten<br />

aller Filme". Da gibt es richtige und falsche Führer, dumpfe Massen, Ober- und<br />

Untermenschen. Der Film frönt einer sozialdarwinistischen Idee, die Lang mit der<br />

Untergang-des-Abendlandes-Kritik Oswald Spenglers an den verweichlichten Eliten<br />

kombinierte.<br />

3. Dass Hitler, als er 1927 aus der Haft entlassen wurde, zuerst in Langs<br />

"Nibelungen" ging, der fortan sein Lieblingsfilm war, dafür konnte Lang ebenso wenig<br />

wie der verstorbene Richard Wagner für die ihm von Hitler entgegengebrachte<br />

Bewunderung. Aber Gründe lieferten sie beide. Lang jedenfalls verachtete in seinen<br />

Filmen die Massen, die er als propagandistisch manipulierbar zeigte.<br />

4. Mit "<strong>Metropolis</strong>" perfektionierte Lang das, was Siegfried Kracauer das "Ornament<br />

der Masse" genannt hatte. Die Menschenmenge als Staffage, Hintergrund für die<br />

großen Führer. Ich glaube, dass "<strong>Metropolis</strong>" das Vorbild für alle Olympiafilme,<br />

Reichsparteitage, Spartakiaden und Massenaufmärsche mit ihrem Latent<br />

unmenschlichen Imponiergehabe ist. Ich mag Lubitschs Kammerspiele lieber, und<br />

wenn schon <strong>Metropolis</strong>, dann lieber Chaplins "Modern Times".<br />

5. Für mich ist der größte und eindrucksvollste Film von Lang "M - Eine Stadt sucht<br />

einen Mörder". Hier herrscht ein wahrhaft schrecklich schönes Gleichgewicht<br />

zwischen der Großstadt und dem Einzelnen. Auch hier hat man ein Unbehagen zu<br />

überwinden, wenn am Ende die Masse ein Halali auf den Sexualmörder veranstaltet.<br />

Auch eine gerechtfertigte Verfolgung hat ihren Appell an niedere Instinkte. Allerdings<br />

hat Lang in Peter Lorre, dessen verwundeter Blick aus übergroßen Augen als letzter<br />

Eindruck bleibt, den Blick eines Einzelnen, der ein echtes individuelles Gegengewicht<br />

gegen die entfesselten Massen bildet.<br />

Fritz Lang auf der Berlinale<br />

Jahrhundertfilm "<strong>Metropolis</strong>" ist jetzt komplett<br />

Von Werner Sudendorf<br />

Welt-Online vom 21.01. 2010<br />

http://www.welt.de/kultur/article5922027/Jahrhundertfilm-<strong>Metropolis</strong>-ist-jetztkomplett.html<br />

Zerstückelt, verloren, gerettet: Auf der Berlinale läuft erstmals seit 1927 Fritz Langs<br />

komplette Fassung von "<strong>Metropolis</strong>". Kino-Experte Werner Sudendorf beschreibt die<br />

spektakuläre Geschichte des Jahrhundertfilms, der alle Beteiligten nicht nur Nerven,<br />

sondern auch reichlich Geld kostete.<br />

Am 12. Februar erlebt "<strong>Metropolis</strong>" von Fritz Lang auf der Berlinale seine zweite<br />

Weltpremiere. Erstmals seit über 80 Jahren wird der Film in nahezu vollständiger<br />

Fassung gezeigt. Nach der Uraufführung 1927 lief "<strong>Metropolis</strong>" nur wenige Wochen<br />

in einem einzigen Berliner Kino; dann zog ihn die Ufa zurück und brachte ihn in einer<br />

um eine halbe Stunde gekürzten Version wieder heraus. Lange waren Filmhistoriker<br />

auf der Suche nach der verlorenen halben Stunde; vor zwei Jahren endlich tauchte in<br />

Buenos Aires eine fast komplette 16-mm-Kopie auf.


Warum aber hatte die Ufa den teuersten Film, den sie jemals produzierte, nur in<br />

einem Kino gezeigt? Warum dann noch mal gekürzt neu gestartet? Und warum gab<br />

es von Fritz Lang, der nicht nur seine Filme, sondern auch sich selbst aufs Beste in<br />

Szene setzen konnte, kein Wort des Protests gegen diese Verstümmelung?<br />

Noch 1923, während der Dreharbeiten zu Fritz Langs Nationalepos "Die Nibelungen",<br />

hatte seine Frau Thea von Harbou das Drehbuch zu dem neuen Film geschrieben.<br />

Die Handlung schwankte zwischen Hexenbeschwörung, Maschinensturm, Allmachts-<br />

und Untergangsfantasien. Auf den ersten Blick war "<strong>Metropolis</strong>" großer Humbug,<br />

aber das waren die Fritz-Lang-Filme - auf die reine Handlung reduziert - bislang alle<br />

gewesen. Und alle waren ein Riesenerfolg.<br />

In <strong>Metropolis</strong> gibt es eine Oberstadt mit Hochhäusern, einem Sportstadion, ewigen<br />

Gärten und dem Vergnügungszentrum Yoshiwara. Arbeiter schuften tagein und<br />

tagaus in den Maschinenräumen und wohnen in Häusern ohne Tageslicht.<br />

Die Hauptstadt war schon immer ein Magnet für Filmemacher.<br />

Im Neuen Turm Babylon lenkt und herrscht allein Joh Fredersen, der Gründer von<br />

"<strong>Metropolis</strong>". Sein Widersacher und ehemaliger Weggefährte ist Rotwang, der<br />

Erfinder eines weiblichen Roboters. In spektakulären Szenen gibt Rotwang dem<br />

Roboter einen menschlichen Körper. Der Roboter wiegelt die Arbeiter zum Sturm auf<br />

die Maschinen auf; <strong>Metropolis</strong> wird nahezu zerstört, doch vor seinem Untergang<br />

versöhnen sich der Herrscher und die Arbeiter.<br />

Die Kosten des Films waren von Anfang an mit zwei Millionen Reichsmark sehr hoch<br />

kalkuliert; ein Spitzenfilm der Ufa mit großen Stars, inszeniert von einem bekannten<br />

Regisseur, kostete sonst höchstens 500.000 Mark. Im September 1924<br />

unterzeichnen Lang und die Ufa den Vertrag; wenige Tage später fuhren der<br />

Regisseur und sein Produzent Erich Pommer für zwei Monate nach Amerika; sie<br />

sahen sich Studiotechnik, Trickkameras und neue Filmproduktionen an. "<strong>Metropolis</strong>"<br />

sollte ja ein Großfilm amerikanischen Formats werden.<br />

Zwei amerikanische Kameras im Wert von 90.000 RM wurden nach Berlin bestellt.<br />

Dort kaufte die Ufa inzwischen ein Patent, das kleine Modelle mittels eines optischen<br />

Tricks in der Filmaufnahme zu riesigen Gebäuden werden ließ. So konnte man Geld<br />

bei den Bauten sparen. Zehn Prozent der "<strong>Metropolis</strong>"-Gelder waren damit schon<br />

ausgegeben.<br />

Weil die Ateliers in Babelsberg nicht ausreichten, mussten Behelfsateliers gebaut<br />

werden; in Staaken wurde die große Zeppelinhalle angemietet, und trotzdem war zu<br />

wenig Platz. Einige besonders spektakuläre Szenen mussten im Trick hergestellt<br />

werden. Niemand hatte jedoch daran gedacht, dass die Tricks erst erfunden werden<br />

mussten. Wochenlang arbeiteten Architekten und Kameramänner an Szenen, die im<br />

fertigen Film nur wenige Sekunden ausmachten.<br />

Ende 1925 war die Ufa auf Grund jahrelanger falscher Finanzpolitik in ernsthaften<br />

Schwierigkeiten und musste von den Hollywood-Studios Paramount und Metro-<br />

Goldwyn einen Kredit aufnehmen. Die Amerikaner erhielten das Recht, ihre Filme in<br />

Ufa-Theatern aufzuführen; sie selbst sollten, "falls geschmacklich zusagend", zehn<br />

Ufa-Filme pro Jahr in den USA zeigen.<br />

Als direkte Folge verließ der Produzent Erich Pommer, der Lang gegenüber der<br />

Direktion den Rücken frei gehalten hatte, die Ufa und ging nach Amerika. Lang selbst<br />

dachte gar nicht daran, auf die prekäre Situation Rücksicht zu nehmen. "<strong>Metropolis</strong>"<br />

musste zu Ende gebracht werden - koste es, was es wolle.<br />

Er machte es der Ufa-Leitung leicht, ihn zum Sündenbock zu stempeln. In einem<br />

internen Revisionsbericht wurde bemerkt, dass "Herr Lang persönlich" in zwei<br />

Monaten Fahrtkosten von mehr als 12.000 Kilometern abgerechnet habe. Danach<br />

hätte der Regisseur pro Tag mehr als 200 Kilometer mit dem Auto fahren müssen.


Das war schlechterdings nicht möglich. Hatte sich Lang also auf Kosten der Ufa<br />

bereichert? Das Gerücht blieb haften. Am Ende der Dreharbeiten lagen die<br />

Nettokosten bei drei Millionen, in späteren Darstellungen werden daraus bis zu<br />

sechs.<br />

40 "<strong>Metropolis</strong>"-Kopien werden hergestellt, aber die Ufa zeigte den Film nach der<br />

Premiere nur in einem Berliner Kino, dem Ufa-Pavillon am Nollendorfplatz. Unter<br />

wirtschaftlichen Aspekten war das wider alle Vernunft; die aber spielte bei dem<br />

zerrütteten Verhältnis zwischen Ufa und Lang keine Rolle mehr.<br />

Und Lang legte noch einen drauf: Wenige Wochen nach der Premiere forderte er<br />

400.000 RM - laut Vertrag standen ihm 7,5 Prozent der Bruttoeinnahmen zu.<br />

Außerdem drohte Lang mit einer Klage: Die Ufa habe alle Kostenüberschreitungen<br />

genehmigt, diskutiere nun in der Öffentlichkeit überhöhte Summen und mache ihn<br />

allein verantwortlich. Eine Woche, nachdem die Direktion über Langs Forderungen<br />

informiert war, wurde "<strong>Metropolis</strong>" vom Spielplan abgesetzt.<br />

Noch vor der Berliner Premiere hatte die Ufa ein Negativ nach Amerika geschickt.<br />

Dem US-Verleih gefielt der Film nicht, und so machte sich der Dramatiker und<br />

Theaterkritiker Channing Pollock ans Werk, kürzte rund eine halbe Stunde,<br />

veränderte verdächtige "kommunistische" Titel, trug mehr religiöses Pathos auf und<br />

gab einigen Personen neue Namen.<br />

So verlor die von Thea von Harbou ersonnene Geschichte, die eh schon zwischen<br />

Gartenlaube und Zukunftsglaube schwankte, vollends jeden Halt. "<strong>Metropolis</strong>"<br />

entsprach jetzt der amerikanischen Idee eines "bizarren" deutschen Films.<br />

Auch in Berlin wollte man ihn nun wieder herausbringen; lieber zahlte man Lang eine<br />

relativ bescheidene Summe, als die "<strong>Metropolis</strong>"-Affäre vor Gericht und vor aller<br />

Augen zu erörtern. Im Großen und Ganzen übernahm die Ufa die US-Kürzungen. Im<br />

August 1927 startete der Film aufs Neue. Ein Erfolg wurde auch der zweite Aufguss<br />

nicht. Aber Lang war ruhig gestellt.<br />

Fotos von verlorenen Szenen<br />

Weltweit gehen alle erhaltenen Kopien von "<strong>Metropolis</strong>" auf das gekürzte Material<br />

zurück. Erst in den Siebzigern begann man sich zu fragen, wie der Film ungekürzt<br />

ausgesehen haben könnte. Es gab Fotos von verlorenen Szenen, auch<br />

Inhaltsangaben - aber kein Filmmaterial.<br />

Gero Gandert von der Deutschen Kinemathek besuchte die Witwe des<br />

Filmkomponisten Gottfried Huppertz und brachte die handschriftliche Originalpartitur<br />

und das einzig erhaltene Drehbuch von Oberbayern nach Berlin. Lange Zeit freute er<br />

sich allein über den Fund, denn für Filmarchivare ist Papier minderes Begleitmaterial<br />

- es zählt nur der Film.<br />

Erst mit Verspätung erkannten die Experten, dass auch das Drehbuch interessante<br />

Informationen enthält und in der handschriftlichen Partitur alle Szenen und ihre<br />

Abfolge notiert sind. Nun konnten in jahrelanger Arbeit wenigstens die<br />

Szenenumstellungen rückgängig gemacht, die Originaltitel wieder eingesetzt und die<br />

Bildqualität verbessert werden. Weiter aber fehlten 25 Minuten.<br />

Diese tauchten 2008 fast komplett in Südamerika auf. Ein argentinischer Verleiher<br />

hatte 1927 von der Ufa die ungekürzte Fassung gekauft, diese mit spanischen Titeln<br />

versehen und jahrelang gezeigt. Sie wurde dann, mit allen Schrammen und<br />

Verschmutzungen, auf 16 mm umkopiert und dem argentinischen Filmmuseum<br />

übergeben.<br />

Dort entdeckte sie Paula Félix Didier, dessen Direktorin. Die Friedrich-Wilhelm-<br />

Murnau-Stiftung hat diese Kopie digital restauriert und in mühsamer Kleinarbeit mit


dem bekannten Material vereint. Ob diese Version nun diejenige ist, die 1927 in<br />

Berlin lief, kann niemand sagen. Aber es ist sicherlich die, die der Uraufführung am<br />

nächsten kommt.<br />

Nun könnte die Geschichte tatsächlich an ein glückliches Ende gekommen sein -<br />

aber noch immer fehlt ein kleines Puzzle-Teil. Zur Uraufführung hatte Lang eine<br />

Schallplatte besprochen, die im Handel erhältlich war. Was hat Fritz Lang 1927 zu<br />

"<strong>Metropolis</strong>" gesagt? Vielleicht nichts Aufregendes und dennoch - man wüsste zu<br />

gerne, was es war. Später erinnerte er sich nur ungern an seine Niederlage und<br />

murmelte, darauf angesprochen, etwas unwirsch: "Ich mochte den Film nie wirklich<br />

gerne..."<br />

Der Autor Werner Sudendorf ist Leiter der Sammlungen bei der Deutschen<br />

Kinemathek in Berlin.<br />

Kulturstaatsminister Bernd Neumann: Rekonstruktion von METROPOLIS ist<br />

Meilenstein bei Sicherung des Filmerbes<br />

<strong>Presse</strong>- und Informationsamt der Bundesregierung <strong>Presse</strong>mitteilung Nr. 11<br />

vom 20.01.2010<br />

HTTP://WWW.BUNDESREGIERUNG.DE/CONTENT/DE/PRESSEMITTEILUNGEN/<br />

BPA/2010/01/2010-01-20-BKM-REKONSTRUKTION-METROPOLIS.HTML<br />

Kulturstaatsminister Bernd Neumann hat heute die Ausstellung „The Complete<br />

<strong>Metropolis</strong>“ zur Rekonstruktion des Stummfilmklassikers von Fritz Lang in der<br />

Stiftung Deutsche Kinemathek eröffnet.<br />

In seiner Rede betonte er: "Mit seiner außergewöhnlichen visionären Kraft steht<br />

METROPOLIS stellvertretend für die lange Tradition der deutschen Filmgeschichte<br />

und den hohen Qualitätsanspruch unserer Filmkunst. Die Rekonstruktion der<br />

Ursprungsfassung ist ein Meilenstein für die Sicherung und Bewahrung des<br />

deutschen Filmerbes. Neben der einzigartigen Sammlung von Filmbegleitmaterialien<br />

in der Stiftung Deutsche Kinemathek wurde dies durch die Fachkompetenz der<br />

ausführenden Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung ermöglicht." Die Ausstellung führe<br />

den Prozess der langjährigen Rekonstruktionsarbeiten beeindruckend vor Augen, so<br />

der Kulturstaatsminister. Aus seinem Etat sei die Wiedergewinnung des<br />

authentischen Films mit einer Förderung von 200.000 Euro wirkungsvoll unterstützt<br />

worden. Die Ausstellungseröffnung ist der Auftakt zur Welturaufführung der restaurierten<br />

Fassung des 1927 uraufgeführten Films "<strong>Metropolis</strong>" von Fritz Lang am 12.<br />

Februar im Rahmen der diesjährigen Internationalen Filmfestspiele Berlin. Die<br />

Ausstellung zeigt die über mehrere Jahrzehnte betriebene Rekonstruktion von<br />

METROPOLIS, die letztlich erst durch den Fund verloren geglaubter Filmszenen in<br />

Argentinien gelingen konnte. Sie wurde unter der Federführung der Friedrich-<br />

Wilhelm-Murnau-Stiftung in Kooperation mit dem ZDF und ARTE gemeinsam mit der<br />

Deutschen Kinemathek und in Zusammenarbeit mit dem Museo del Cine Pablo C.<br />

Ducros Hicken durchgeführt. Die Stiftung Deutsche Kinemathek wird seit 2004 von<br />

der Bundesregierung über den Hauptstadtfinanzierungsvertrag mit über 7 Millionen<br />

Euro finanziert. Zu ihren Aufgaben gehört es unter anderem das filmische Erbe durch<br />

die Sammlung von Filmbegleitmaterialien, durch die Konzeption von Filmreihen<br />

sowie durch Ausstellungen lebendig zu erhalten.


Berlinale. <strong>Metropolis</strong> in voller Länge<br />

Von Andreas Conrad<br />

Tagesspiegel vom 30.10.2009/ Zeit-Online 2.11.2009<br />

http://www.tagesspiegel.de/berlin/Stadtleben-<strong>Metropolis</strong>-Stummfilm-<br />

Berlinale;art125,2936269<br />

http://www.zeit.de/kultur/film/2009-11/metropolis-berlinale<br />

Bei der Berlinale wird Fritz Langs restaurierter Stummfilmklassiker gezeigt. 2008<br />

hatte das ZEITmagazin ein verschollen geglaubtes Stück des Films in Argentinien<br />

entdeckt.<br />

Für Kinoenthusiasten und Filmhistoriker war es die Sensation des Sommers 2008:<br />

Das verschollen geglaubte Viertel von Fritz Langs legendärem Film <strong>Metropolis</strong> war<br />

überraschend wieder aufgetaucht, im Archiv eines Filmmuseums in Buenos Aires.<br />

Und was immer das Programm der Berlinale 2010 sonst noch bieten wird – eine<br />

Sensation steht nun fest: In einer Galavorstellung am 12. Februar 2010 im<br />

Friedrichstadtpalast wird die restaurierte Fassung des Films endlich zu sehen sein –<br />

erstmals wieder seit 1927!<br />

Zeitgleich gaben Berlinale und die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung in Wiesbaden,<br />

Inhaberin der Rechte an dem Klassiker, die Nachricht von der Restaurierung des<br />

Meisterwerks bekannt, die nun "nahezu vollständig" geglückt sei, wie die Stiftung es<br />

umschrieb. Das kommt einem kleinen Wunder gleich, denn der Film wurde aufgrund<br />

der schon damals rauen Sitten im Filmgeschäft arg zerzaust. Entstanden war Langs<br />

Vision einer futuristischen Klassengesellschaft, die über ihren Gegensätzen fast<br />

untergeht und schließlich doch zu einer naiv-utopischen Versöhnung mit sich selbst<br />

findet, vom 22. Mai 1925 bis 30. Oktober 1926 in den Filmwerken Staaken und dem<br />

Ufa-Atelier Neubabelsberg.<br />

Die Produktionskosten des aufwendigen Werkes waren von 1,5 Millionen auf sechs<br />

Millionen Mark geklettert – doch die Einspielergebnisse waren nach der Premiere am<br />

10. Januar 1927 im Berliner Ufa-Palast am Zoo mehr als dürftig. Um noch zu retten,<br />

was zu retten war, kürzte die Ufa das ohnehin überlange Werk um rund ein Viertel,<br />

die rausgeschnittenen Teile wurden wohl kurzerhand entsorgt. Zurück blieben Fotos,<br />

Zensurkarten, die Partitur der Filmmusik – eine unlösbare Aufgabe für Generationen<br />

von Filmhistorikern und –restauratoren.<br />

Ein Exemplar des Urfilms hatte aber doch überlebt: Adolfo Z. Wilson, Chef des<br />

argentinischen Terra-Verleihs, fand die vor der Verstümmelung erworbene Kopie zu<br />

gut, um sie, wie laut Vertrag vorgeschrieben, nach der Auswertung zu entsorgen.<br />

Über einige Zwischenstationen wanderte der Film 1992 ins städtische Museo del<br />

Cine in Buenos Aires – allerdings nicht mehr das alte, leicht entzündliche Nitro-<br />

Original, sondern eine in den siebziger Jahren gezogene 16-mm-Sicherheitskopie.<br />

Das feuergefährliche Original wurde entsorgt.<br />

Diese Sicherheitskopie wurde erst Anfang 2008 von dem argentinischen<br />

Filmhistoriker Fernando Peña und seiner Ex-Frau Paula Félix-Didier, Leiterin des<br />

Museums, wiederentdeckt. Vermittelt durch das Magazin der Wochenzeitung<br />

DIE ZEIT kam es im Sommer 2008, wie berichtet, zu einem Treffen der beiden mit<br />

Vertretern der Stiftung Deutsche Kinemathek und der Murnau-Stiftung – die


Vorführung des restaurierten Films zur 60. Berlinale ist die erfreuliche Spätfolge<br />

dieses Treffens.<br />

An dem Restaurierungsprojekt beteiligten sich auch ZDF und Arte, vom<br />

Kulturstaatsminister kam Geld. Wie es sich gehört, wird die Galavorstellung im<br />

Friedrichstadtpalast mit Orchesterbegleitung stattfinden. Nach der Originalpartitur<br />

von Gottfried Huppertz wird das Radio-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von<br />

Frank Schobel spielen. Zeitgleich findet eine Aufführung in der Alten Oper in<br />

Frankfurt statt. In beiden Fällen ein würdiger Rahmen, um einen Film zu feiern, den<br />

die Unesco als ersten Film überhaupt ins Register "Memory of the world" aufnahm<br />

und der Generationen von Filmemachern inspiriert hat.<br />

Lost cut of <strong>Metropolis</strong> premiering at Berlinale<br />

The Local Germany’s News in English vom 29.10.2009<br />

http://www.thelocal.de/society/20091029-22911.html<br />

The original lost cut of Fritz Lang’s legendary 1927 silent film “<strong>Metropolis</strong>” – found<br />

last year in a Buenos Aires archive – will premiere at the Berlinale in February<br />

following its restoration, the film festival's organisers said on Thursday.<br />

Some 83 years after its original debut, the classic movie will be shown at a gala<br />

presentation on February 12 at the Friedrichstadtspalast accompanied by a live<br />

performance of the original score by the Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin.<br />

"Just about no other German film has inspired and influenced film history as greatly<br />

as Fritz Lang’s <strong>Metropolis</strong>," Berlinale Director Dieter Kosslick said in a statement.<br />

"We are especially pleased and honoured to be able to present the reconstructed<br />

original cut of this legendary and seminal film classic at the festival’s 60th<br />

anniversary."<br />

Filmed at Berlin’s now famous Babelsberg studios, the seminal science fiction flick<br />

was the most expensive movie produced in Germany at the time. But it was not well<br />

received at first by German audiences. A radically shorter version was subsequently<br />

edited for a 1927 release, after which historians believed the original version to have<br />

been lost.<br />

The shorter version of the film was restored in 2001 and became the first movie to be<br />

recognised as a UNESCO World Documentary Heritage. But the original 16mm<br />

version was found last year at the film museum Museo del Cine in Buenos Aires.<br />

This version, some 30 minutes longer, has now been painstakingly restored by<br />

Wiesbaden-based film preservation institute the Friedrich-Wilhelm-Murnau<br />

Foundation.<br />

"The unwavering desire and unflagging efforts to restore what was believed to be<br />

Fritz Lang’s lost original cut of <strong>Metropolis</strong> epitomise the Murnau Foundation’s


commitment to save and preserve our rich film heritage and make it accessible to the<br />

public," Supervisory Board Chairman of the Murnau Foundation Eberhard<br />

Junkersdorf said in a statement. "With the restoration and re-screening of <strong>Metropolis</strong><br />

a dream has been fulfilled."<br />

Parallel to the Berlinale premiere, the new “<strong>Metropolis</strong>” will also play at the Alte Oper<br />

in Frankfurt with music performed by the Staatsorchester Braunschweig.<br />

Transit Film GmbH (Munich) will later be responsible for distributing the new version<br />

of the film.<br />

Das Utopia-Puzzle<br />

Von Ursula Kähler<br />

Neue Zürcher Zeitung vom 29.10.2009<br />

http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/film/das_utopia-puzzle_1.3939805.html<br />

Die Rekonstruktionsarbeiten an Fritz Langs «<strong>Metropolis</strong>» nach dem Sensationsfund<br />

in Buenos Aires. Die neueste Rekonstruktion von Fritz Langs Stummfilmklassiker<br />

«<strong>Metropolis</strong>» nähert sich bis anhin am erfolgreichsten der Uraufführungsversion an.<br />

Im vergangenen Jahr in Argentinien wiederentdeckte Szenen verändern den Film in<br />

Inhalt und Erzählstruktur. Eine erste Rohschnittfassung ist nun fertig.<br />

Es war eine Sensation, als die Chefin des Filmmuseums in Buenos Aires, Paula<br />

Félix-Didier, im Sommer vergangenen Jahres in ihrem Haus eine argentinische<br />

Version von Fritz Langs Stummfilmklassiker «<strong>Metropolis</strong>» (1925/26) entdeckte, die<br />

bisher verschollen geglaubte Szenen enthält (NZZ 9. 7. 08). Aus kommerziellen<br />

Gründen begann die Verstümmelung des zweieinhalbstündigen Monumentalfilms<br />

unmittelbar nach seiner Premiere am 10. Januar 1927 im Berliner Ufa-Palast, wo er<br />

in seiner ursprünglichen Länge nur wenige Wochen und ohne Erfolg gezeigt wurde.<br />

Das Geheimnis des Fragments<br />

Bereits im Dezember 1926 hatte die amerikanische Verleihfirma Paramount, die den<br />

Film in den USA auf den Markt bringen sollte, begonnen, die Produktion mit Hilfe des<br />

Theaterautors Channing Pollock auf eine kinotauglichere Länge zu bringen. Pollocks<br />

Fazit: « kannte keine Beschränkung und hatte keine Logik. Ich habe ihm<br />

meinen Sinn gegeben.» In einer weitgehend nach dem Vorbild der amerikanischen<br />

Version gekürzten Fassung wurde der Film ab August 1927 weltweit vertrieben. Das<br />

2008 aufgetauchte 16-mm-Dup-Negativ basiert jedoch auf der Langversion des<br />

Films, deren bisheriges Verschwinden die Grundlage der Suche zahlreicher<br />

Filmarchive nach immer vollständigeren Fassungen war. Wird das Fragmentarische,<br />

das zum Mythos des Films beigetragen hat, nun Vergangenheit sein?<br />

Der argentinische Fund veranlasste die in Wiesbaden ansässige Friedrich-Wilhelm-<br />

Murnau-Stiftung, welche die Rechte an Fritz Langs Stummfilmen besitzt, stante pede<br />

eine neue Fassung von «<strong>Metropolis</strong>» rekonstruieren zu lassen – eine, die sich der<br />

Uraufführungsversion annähert wie keine zuvor. «Durch die Wiederentdeckung


isher verschollen geglaubter Szenen erfüllt sich aus filmkultureller Sicht nun ein<br />

lange gehegter Traum», so Helmut Possmann, Vorstand der Murnau-Stiftung.<br />

«Gemeinsam mit unseren Partnern möchten wir alle Möglichkeiten nutzen, um<br />

dieses Meisterwerk in modernster Technik für ein breites Festival- und Kinopublikum<br />

sowie im Fernsehen und auf DVD verfügbar zu machen.»<br />

Eine erste Rohschnittfassung ist nun fertig, an der ein Team von Februar bis<br />

September gearbeitet hat: Anke Wilkening, Restauratorin bei der Murnau-Stiftung,<br />

Martin Koerber, Leiter des Filmarchivs der Deutschen Kinemathek in Berlin – er war<br />

bereits für die letzte Edition der «<strong>Metropolis</strong>»-Restaurierung von 2001 verantwortlich,<br />

die nun als Basis dient –, und Frank Strobel, für die Filmmusik zuständiger Dirigent<br />

und künstlerischer Leiter der Europäischen Film-Philharmonie. «Wir möchten ein<br />

Gesamtkunstwerk präsentieren», sagt Wilkening. Für das kommende Jahr sind<br />

mehrere grosse Aufführungen mit Orchester geplant.<br />

Begonnen hat man mit Abgleicharbeiten, wobei an einem Avid-Schnittplatz<br />

nebeneinander im Split-Screen-Verfahren miteinander Szene für Szene der<br />

argentinischen Version mit der von 2001 verglichen wurde. An den Fehlstellen der<br />

Letzteren, die durch schwarze Felder oder Texttafeln gekennzeichnet sind, orientierte<br />

sich das Team, um das neue Material aus der argentinischen Version zu<br />

positionieren. Doch dies war nicht immer einfach. Man entdeckte Abweichungen in<br />

der Montage, und einige Einstellungen fehlten noch immer, so dass die Frage<br />

aufkam, inwiefern man der argentinischen Fassung überhaupt vertrauen konnte.<br />

«Wir mussten davon ausgehen, dass diese Version nicht übereinstimmt mit der<br />

Uraufführungsversion und dass der argentinische Verleiher auch Änderungen<br />

vorgenommen hat, die er für sinnvoll hielt», erklärt Wilkening. Besonders<br />

problematisch waren Szenen, die in der Version von 2001 unvollständig waren und<br />

zu denen die argentinische Fassung bisher unbekannte Einstellungen lieferte.<br />

Andererseits fehlten in dieser Version wiederum andere Einstellungen, die in der<br />

letzten Restaurierung bereits enthalten waren. «Es war also teilweise sehr schwer zu<br />

entscheiden, wie die Montage gewesen sein konnte», so Wilkening. Um dies zu<br />

überprüfen, half der Klavierauszug zur Filmmusik, komponiert von Gottfried<br />

Huppertz, da dieser den Feinschnitt der Uraufführung dokumentiert. Durch den<br />

Abgleich mit der Musik sind zahlreiche Montagevarianten der argentinischen Version<br />

bestätigt worden.<br />

Neue Querbezüge der Handlung<br />

Bisher strebten drei Restaurierungen, die seit Ende der 1960er Jahre bis 2001<br />

entstanden waren, danach, sich auf Basis der verkürzten amerikanischen Fassung<br />

der Uraufführungsversion anzunähern. Der neuen Rekonstruktion wird es nun<br />

gelingen, Fritz Langs Leinwand-Utopie nahezu vollständig bebildert und werktreu<br />

wiederauferstehen zu lassen. Channing Pollock reduzierte die Handlung auf das<br />

Frankenstein-Motiv und einen zentralen Konflikt – nämlich den zwischen Rotwang,<br />

dem Erfinder des Maschinenmenschen, und dem <strong>Metropolis</strong>-Herrscher Joh<br />

Fredersen. Die Handlungsstränge um die drei nicht unwichtigen Nebenfiguren<br />

Georgy (ein Arbeiter), der Schmale (Fredersens Spion) und Josaphat (Fredersens<br />

Sekretär) wurden ebenfalls eliminiert. Diese stehen, so Wilkening, alle in Relation zu<br />

Fredersens Sohn Freder und behandeln die Themen «Freundschaft», «Treue» und<br />

«Verrat», die auch in zahlreichen anderen Filmen Langs vorkommen, etwa in «Die<br />

Nibelungen» (1922–24) und «Rancho Notorious» (1952).<br />

Das Wiedereinfügen dieser Szenen bringt aber nicht nur eine Veränderung des<br />

Inhalts, sondern auch der Erzählstruktur mit sich, da somit deutlich mehr


Parallelhandlungen entstehen. Ebenso wird die Figur Hel, Rotwangs Geliebte und<br />

Fredersens Frau, die bei der Geburt des Sohnes Freder verstarb, in den Film<br />

zurückkehren. Pollock hatte sie entfernt, weil ihr Name dem englischen Wort «hell»<br />

(Hölle) zu ähnlich klang und auf das amerikanische Publikum unangebracht und<br />

komisch gewirkt hätte. In Zukunft wird man die Szene nahezu komplett sehen<br />

können, in der Fredersen die monumentale Hel-Statue in Rotwangs Haus entdeckt<br />

und der ursprüngliche Grund für die Erschaffung des Maschinenmenschen deutlich<br />

wird.<br />

Ganze Szenen konnten hinzugefügt werden. Eine der längsten ist Georgys Autofahrt<br />

durch <strong>Metropolis</strong>, während deren er Freders Kleider trägt, darin Geld findet und statt<br />

in Josaphats Wohnung in den Vergnügungsklub «Yoshiwara» fährt. Da hier und dort<br />

jedoch noch immer Einstellungen fehlen – insgesamt aber nur wenige Minuten<br />

Filmmaterial –, wird «<strong>Metropolis</strong>» weiterhin ein Fragment und dessen<br />

Vervollständigung eine Herausforderung für Filmarchive und Filminstitute bleiben.<br />

Auf Schwarzfilm und erklärende Texttafeln wird man also auch diesmal nicht<br />

verzichten können. Dass die neue Restaurierung letztlich nur eine Annäherung an<br />

die Uraufführungsversion ist, liegt jedoch ebenso an dem beklagenswerten Zustand<br />

der argentinischen Kopie. Derzeit werden die neuen Szenen digital restauriert und<br />

anschliessend in den Datensatz der Fassung von 2001 eingesetzt. Im Frühjahr 2010<br />

will das Team fertig sein. Auf die Rezeption der neuen Fassung freut sich Anke<br />

Wilkening: «Ich bin gespannt auf die neuen Interpretationen, wenn der Film gezeigt<br />

wird.»<br />

Stummfilmklassiker "<strong>Metropolis</strong>"<br />

VonThomas Maier und Imke Hendrich, dpa<br />

Suedeutsche Zeitung vom 3.7.2008<br />

http://www.sueddeutsche.de/kultur/639/447374/bilder/?img=0.0<br />

Sensationeller Filmfund: 80 Jahre nach der Uraufführung sind verschollene Szenen<br />

aus Fritz Langs monumentalem Stummfilmklassiker "<strong>Metropolis</strong>" in Buenos Aires<br />

entdeckt worden. Trotz der schlechten Bildqualität kann damit die Originalfassung<br />

des verstümmelten Science-Fiction-Films von Jahr 1925/1926 weitestgehend<br />

wiederhergestellt werden, berichtete am Mittwoch in Wiesbaden die Friedrich-<br />

Wilhelm-Murnau-Stiftung. Die Stiftung, die sich seit mehr als 40 Jahren um den<br />

Erhalt des deutschen Filmerbes kümmert, besitzt die Rechte an "<strong>Metropolis</strong>“. Die Ufa<br />

hatte Langs Epos bei der Uraufführung am 10. Januar 1927 in Berlin in ungekürzter<br />

Form gezeigt. Wenige Monate später wurde der Film nur noch in deutlich gekürzter<br />

Fassung gezeigt. "<strong>Metropolis</strong>" gilt als Meilenstein der Filmgeschichte und diente<br />

zahlreichen Science-Fiction-Filmen als Vorbild. Lang hatte seinen Klassiker mit<br />

großem Aufwand unter anderem in den traditionsreichen Babelsberger Studios bei<br />

Berlin gedreht. Der Streifen mit seiner in einer futuristischen Stadt angesiedelten<br />

Vision einer klassenlosen Gesellschaft vor dem Hintergrund einer leidenschaftlichen<br />

Liebesgeschichte erlangte weltweite Berühmtheit. "Das ist einer der meistgesuchten<br />

Filme gewesen", sagte die Restauratorin der Murnau- Stiftung, Anke Wilkening.<br />

Bei dem fehlenden Filmmaterial geht es unter anderem um die Beziehungen


zwischen drei Nebenfiguren im Film sowie eine Autofahrt durch <strong>Metropolis</strong>, die von<br />

Fritz Lang entworfene Stadt der Zukunft. Die Szenen seien jetzt von Mitarbeitern des<br />

Museo del Cine Pablo Ducrós Hicken in einem aus Privatbesitz stammenden 16-<br />

Millimeter-Negativ in Buenos Aires gefunden worden. Nach Angaben der Stiftung<br />

hatte der bei der Berliner Premiere gezeigte Film eine Länge von 4189 Metern und<br />

eine Laufzeit von mehr als zwei Stunden. Die in Buenos Aires entdeckte Fassung,<br />

die Restauratorin Wilkening zusammen mit anderen Experten vergangene Woche in<br />

Berlin sichtete, ist annähernd so lang wie die Originalfassung - und rund 700 Meter<br />

oder 25 Minuten länger als die gekürzte deutsche und amerikanische Fassung.<br />

"Damit könnte endlich das Ziel erreicht werden, dem Meisterwerk Fritz Langs so<br />

nahe wie nie zuvor zu kommen und es der Welt zu präsentieren“, erklärte der<br />

Kuratoriumsvorsitzende der Murnau-Stiftung, Eberhard Junkersdorf. "Der Fund ist<br />

eine Sensation und ein unerwartetes Geschenk“, sagte am Mittwoch Rainer Rother,<br />

künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek in Berlin, der die argentinische<br />

Fassung ebenfalls vergangene Woche gesehen hat. Damit seien etwa 95 Prozent<br />

der Urfassung wiederentdeckt worden. Der argentinische Filmexperte Fernando<br />

Martín Peña wusste nach eigenen Angaben schon seit mehr als 20 Jahren von einer<br />

Kopie des legendären Stummfilms. Schon 1987 habe er das Werk auf der Liste alter<br />

Filme gesehen, die der nationale Kulturfonds von dem Kino-Enthusiasten und -<br />

Kritiker Manuel Peña Rodríguez übernommen hatte, sagte Peña am Mittwoch der<br />

Deutschen <strong>Presse</strong>-Agentur.<br />

"Es handelte sich um 15 Filmrollen. Zusammen etwa 150 Minuten und damit mehr<br />

als die mir bekannte gekürzte Version“, erzählte er. Aus den Unterlagen sei<br />

hervorgegangen, dass die Kopie 1927 von der argentinischen Filmverleihfirma Terra<br />

importiert worden war. Dies sei ein Unternehmen mit Kapital aus Deutschland<br />

gewesen, und so habe es nahegelegen, dass es sich nicht um eine der<br />

verstümmelten Versionen aus den USA handelte, fügte Peña hinzu. Er sei mit dem<br />

Material nach Madrid gereist und habe es dem Experten für deutsche Stummfilme,<br />

Luciano Berriatuba, gezeigt. "Der war ganz aus dem Häuschen und sprach von<br />

einem ganz außerordentlichen Fund“, erinnert sich Peña. Daraufhin habe das Kino-<br />

Museum mit der deutschen Journalistin Karen Naundorf und mit der Murnau-Stiftung<br />

in Wiesbaden Kontakt aufgenommen. Es gab in der Vergangenheit schon mehrere<br />

Anläufe zur Wiederherstellung von "<strong>Metropolis</strong>". Im Auftrag der Stiftung wurde 2001<br />

eine digitale Restaurierung erstellt und - als erster Film überhaupt - in das "Memory<br />

of the World Register" der Unesco aufgenommen. Auf der Basis der Version von<br />

2001 hofft die Murnau-Stiftung nun, mit den argentinischen Partnern eine<br />

vollständige Version des Films zu erstellen. Die Deutsche Kinemathek will die<br />

Wiesbadener Stiftung bei der neuen Restaurierung unterstützen. "Fritz Langs’<br />

<strong>Metropolis</strong> setzt bis heute Maßstäbe in der Filmarchitektur. Die Tricktechniken und<br />

Kulissen waren einmalig, die Dreharbeiten fanden mit Tausenden Komparsen statt“,<br />

sagte der Vorstand der Studio Babelsberg AG, Christoph Fisser.<br />

Nach einem Bericht des Zeit-Magazin Leben vom Donnerstag hatte Adolfo Z. Wilson,<br />

der Chef der Verleihfirma Terra in Buenos Aires, 1928 eine Kopie der Langfassung<br />

von "<strong>Metropolis</strong>" nach Argentinien geholt, um sie in den Kinos zu zeigen. Über<br />

Umwege gelangte der Film 1992 in die Sammlung des Museo del Cine, dessen<br />

Leitung Paula Félix-Didier im Januar diesen Jahres übernahm. Zusammen mit ihrem<br />

Ex-Mann entdeckte sie, dass es sich um die Langfassung von "<strong>Metropolis</strong>" handelte,<br />

wie die Zeitung weiter berichtete. Das Museo del Cine Pablo Ducrós Hicken in<br />

Buenos Aires wurde 1971 gegründet und ist der Bewahrung und Verbreitung des


cineastischen Erbes Argentiniens gewidmet. Der Grundstock der Sammlung stammt<br />

von dem Kino-Enthusiasten Ducrós Hicken.<br />

Filmklassiker. Endlich vollständig: Die Urfassung von „<strong>Metropolis</strong>“<br />

Von Bert Rebhandl<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.07.2008<br />

http://www.faz.net/s/Rub8A25A66CA9514B9892E0074EDE4E5AFA/Doc~E08F18AE<br />

578BA4D93B34B797724E946E6~ATpl~Ecommon~Scontent.html<br />

Auf der Suche nach der verlorenen halben Stunde: In Buenos Aires sind seit 80<br />

Jahren verschwundene Szenen des Stummfilmklassikers "<strong>Metropolis</strong>" entdeckt<br />

worden<br />

Unter den Ruinen der Filmgeschichte ist „<strong>Metropolis</strong>“ von Fritz Lang so etwas wie der<br />

Turm von Babel. 1927 kam die Geschichte von der vertikal geschichteten Stadt, dem<br />

Archetypus einer Klassengesellschaft, in die Kinos - ein Blockbuster voll mythischer<br />

Anklänge, mit ungeahnten Spezialeffekten, einem Roboteridol und einer<br />

Herzmaschine. Nie zuvor wollte der Film in Deutschland höher hinaus, doch die<br />

Ernüchterung kam bald. „<strong>Metropolis</strong>“ fand nicht genügend Zuschauer, die Kritiker<br />

wollten kein Meisterwerk erkennen, sondern ein überlanges Spektakel, dem es an<br />

Logik und Gefühl fehlte.<br />

So kam es, dass eine neue Schnittfassung hergestellt wurde, die in erster Linie<br />

kürzer und dem Verständnis eher abträglich war. Eine Kopie des Originals wurde<br />

nicht überliefert, so dass „<strong>Metropolis</strong>“ - inzwischen längst als Klassiker rehabilitiert -<br />

seither als verschollen gelten muss. Bekannt ist nur eine lückenhafte Version, in der<br />

immer wieder Einblendungen darauf hinweisen, dass Szenen fehlen. In der<br />

vorliegenden Romanvorlage von Thea Harbou lässt sich nachlesen, wie die<br />

Geschichte der ursprünglichen Intention nach verlaufen sollte - nur die Bilder, die<br />

Fritz Lang an verschiedenen Stellen daraus gemacht hat, fehlten.<br />

Über zwei Stunden Spieldauer? Zwei Filmfreunde wurden hellhörig<br />

Maria auf der Flucht<br />

Nun ist in Argentinien eine Kopie von „<strong>Metropolis</strong>“ aufgetaucht, die einen großen Teil<br />

des verloren geglaubten Materials enthält - in einer 16-Millimeter-Sicherungskopie,<br />

die offensichtlich in den sechziger Jahren von einer 35-Millimeter-Nitrokopie gezogen<br />

wurde, die wiederum direkt aus Deutschland aus dem Jahr 1928 stammte. Wie das<br />

„Zeit Magazin“ in seiner heutigen Ausgabe exklusiv berichtet, deutet alles darauf hin,<br />

dass ein gewisser Adolfo Z. Wilson am Anfang dieser außergewöhnlichen<br />

Überlieferungskette stand. Er war seinerzeit Chef einer Verleihfirma namens Terra<br />

und bestellte für die Auswertung in Argentinien eine ungekürzte Fassung von<br />

„<strong>Metropolis</strong>“. Diese kam auch tatsächlich zum Einsatz und sollte anschließend, wie<br />

es damals üblich war, vernichtet werden. Ein Filmkritiker namens Manuel Pena<br />

Rodriguez konnte das verhindern, er übernahm die Rollen in seine private Sammlung<br />

und verkaufte diese viele Jahre später an den Nationalen Kunstfonds, von dem die<br />

Umkopierung auf 16-Millimeter-Material vorgenommen wurde.


1992 kam „<strong>Metropolis</strong>“ in den Besitz des Museo del Cine in Buenos Aires, wo es aber<br />

auch erst zweier hellhöriger Filmfreunde bedurfte, um den Schatz zu heben. Der<br />

Kinoenthusiast Fernando Pena erinnerte sich daran, dass ein Vorführer aus einem<br />

der Cineclubs in der argentinischen Hauptstadt sehr anschaulich davon erzählt hatte,<br />

wie er während der über zwei Stunden Spieldauer von „<strong>Metropolis</strong>“ den Finger auf<br />

den dünnen 16-mm-Streifen halten musste, damit der Film nicht aus dem Projektor<br />

sprang. Diese Formulierung „über zwei Stunden“ ging entweder auf einen Irrtum<br />

zurück - oder deutete eben darauf hin, dass in Argentinien noch bis vor einigen<br />

Jahren eine auf die ursprüngliche Fassung von „<strong>Metropolis</strong>“ zurückgehende Kopie<br />

gezeigt wurde. Dieser Umstand konnte schließlich von Paula Félix-Didier, der<br />

Direktorin des Museo del Cine, und Fernando Pena bestätigt werden - sie verfügten<br />

plötzlich über die fehlenden Bausteine zu „<strong>Metropolis</strong>“. Über alle? Dieses Urteil steht<br />

im Detail noch aus.<br />

„Das authentischste Material, das wir kennen“<br />

Nach ersten Einschätzungen der ebenfalls vom „Zeit Magazin“ konsultierten<br />

Experten in Deutschland gibt es guten Grund zu einer äußerst positiven<br />

Einschätzung. „Das könnte eine Kopie vom Original sein“, wird Enno Patalas zitiert.<br />

„Es ist das authentischste Material, das wir kennen.“ Patalas zählt zu den führenden<br />

Experten auf dem Gebiet der Rekonstruktion von Stummfilmen. Sein Wort in dieser<br />

Angelegenheit hat Gewicht. Im Gespräch sagt er, wer sich mit Filmrestaurierung<br />

befasse, wundere sich über nichts, weil immer wieder Verschollenes auftauche, aber<br />

im Fall eines Films, mit dessen Rekonstruktion er sich so lange beschäftigt habe,<br />

freue man sich natürlich trotzdem über so ein Wunder. Was ihn besonders verblüffe,<br />

sei der Umstand, wie genau die Bilder dem entsprächen, was man aus<br />

Beschreibungen kannte. Seiner Meinung nach fehle nur noch eine einzige Szene:<br />

Wenn der Prediger in der Kathedrale die Hure Babylon beschwört und seine Rede<br />

von Bildern illustriert wird.<br />

Was ist nun aber genau auf den entdeckten Ausschnitten zu sehen? Haben wir es<br />

tatsächlich mit einem anderen Film zu tun, oder wird nur das vorhandene Werk ein<br />

wenig plausibler? Im Grunde genommen haben die Bearbeiter der ersten Version<br />

von „<strong>Metropolis</strong>“ das getan, was alle Profis in einer vergleichbaren Lage tun würden:<br />

Sie haben Sequenzen komprimiert und Nebenhandlungen gestrichen oder zumindest<br />

deutlich reduziert. Der Film erreicht einen Höhepunkt an der Stelle, an der die<br />

unterirdische Arbeiterstadt geflutet wird (das Wasser kommt, wie erst jetzt<br />

ausdrücklich gezeigt wird, aus der Oberstadt). Kinder versuchen, sich in Sicherheit<br />

zu bringen, geraten aber vor einem Gitter ins Stocken - hier wurden effektvolle<br />

Details eliminiert, wie sich herausstellt. Die Szene insgesamt gewinnt an Dramatik,<br />

inhaltlich wird jedoch nichts Neues hinzugefügt.<br />

Die eine oder andere erotische Szene eliminiert<br />

Anders verhält sich die Sache bei der Zeichnung verschiedener Figuren wie<br />

Josaphat oder dem Schmalen, die nun erst so richtig Profil und moralische Konturen<br />

gewinnen. Und schließlich überrascht es nicht, dass bei den Schnitten, die 1927<br />

auch in Hinblick auf die Auswertung auf dem amerikanischen Markt erfolgten, die<br />

eine oder andere erotische oder laszive Szene eliminiert wurde. Martin Koerber, der<br />

die derzeit als kanonisch geltende Restauration von „<strong>Metropolis</strong>“ verantwortet hat,<br />

findet nun viele der aus Referenzmaterial postulierten Szenen vor sich, auch wenn<br />

der Zustand des Materials ihm „bedauerlich“ erscheint. Die 16-mm-Filmbilder sind<br />

nur noch Schemen der prächtigen Aufnahmen, die einst in Berlin bei der Premiere zu<br />

sehen gewesen sein müssen.


Freder, der Sohn des Herrschers von <strong>Metropolis</strong>, hat sich in die junge Frau aus der<br />

Arbeitschicht verliebt<br />

Dass die Filmgeschichte jetzt umgeschrieben werden muss, steht trotz des<br />

aufregenden Funds nicht zu erwarten. Und wenn, dann vielleicht in einer Hinsicht, die<br />

„<strong>Metropolis</strong>“ den Theoretikern entreißt: Der postmoderne Mythos par excellence, fast<br />

dekonstruktivistisch zusammengesetzt aus narrativen Blöcken, könnte nun mit den<br />

neuen Szenen fast wie ein normaler Film erscheinen.<br />

Filmgeschichte. Reise nach <strong>Metropolis</strong><br />

Von Karen Naundorf<br />

ZeitMagazin vom 3.07.2008/ 2008/28<br />

http://www.zeit.de/2008/28/<strong>Metropolis</strong>-Reportage-28<br />

Im Archiv eines Museums in Buenos Aires sind die verschollenen Szenen des<br />

Filmmythos von Fritz Lang aufgetaucht. Das ZEITmagazin berichtet exklusiv darüber,<br />

wie der Film aufgespürt wurde und wie er auf einem geheimen Weg nach<br />

Deutschland kam.<br />

Paula Félix-Didier hatte geahnt, dass ihr niemand glauben würde. Sie saß an dem<br />

Schreibtisch in ihrem kalten Büro in Buenos Aires und wartete auf eine Mail aus<br />

Deutschland. Doch es kam – nichts. Warum auch sollte irgendein Experte glauben,<br />

dass sie, die Direktorin des kleinen Museo del Cine, gefunden hatte, wonach<br />

Forscher und Restauratoren seit Jahrzehnten vergeblich in den Archiven der Welt<br />

suchten? Und das ausgerechnet hier, in diesem vergessenen Museum, das irgendwo<br />

zwischen Lagerhallen und Fabriken im Stadtteil Barracas untergekommen und seit<br />

vier Jahren vorübergehend geschlossen ist, weil es an geeigneten Räumen fehlt?<br />

Aber in der kleinen Kammer hinter der grünen Metalltür gleich neben ihrem Büro<br />

lagen sie: drei große Rollen, vorsichtig in silbrig schimmernden Blechdosen verstaut.<br />

<strong>Metropolis</strong>, der große deutsche Stummfilm von Fritz Lang. Seit mehr als sieben<br />

Jahrzehnten gilt über ein Viertel des Films als verschollen. Félix-Didier wusste: Sie<br />

hatte die meisten der fehlenden Szenen. Eine Weltsensation. Und anscheinend<br />

wollte niemand etwas davon wissen.<br />

Félix-Didier, 41, trägt in ihrem Büro eine blaue Daunenjacke gegen die Kälte, denn<br />

im Juni ist es Winter auf der Südhalbkugel, und im Museum, das keines sein darf,<br />

gibt es keine Heizung. Sie erzählt, dass Stummfilme sie schon immer fasziniert<br />

haben und dass sie natürlich <strong>Metropolis</strong> kannte, oder genauer: Sie kannte eine jener<br />

unzähligen Bearbeitungen des Originals, die in Umlauf sind. Sie alle haben eines<br />

gemeinsam: Sie basieren auf einem zerhackten Torso, dem etwa ein Viertel der<br />

Premierenversion von 1927 fehlt, zur Enttäuschung von Fritz Lang. Die Handlung<br />

wurde vereinfacht, aber dem Schnitt fielen auch einige Schlüsselszenen zum Opfer.<br />

Geschichte schrieb der Film trotzdem – zahllose Science-Fiction-Filme wurden durch<br />

ihn inspiriert. Die Unesco erklärte <strong>Metropolis</strong> zum Weltdokumentenerbe, als ersten<br />

Film überhaupt. Ridley Scott fand bei <strong>Metropolis</strong> Ideen für Blade Runner, Stanley<br />

Kubrick für 2001: Odyssee im Weltraum. 1984 wandelte Giorgio Moroder <strong>Metropolis</strong><br />

ab, er färbte das Material ein und verwendete es als Bildteppich für die Musik von<br />

Freddie Mercury und Bonnie Tyler. Musikclips von Queen, Madonna und Pink Floyd


edienten sich bei Langs Bilderwelten. Techno-DJ Jeff Mills entwarf eine neue Musik<br />

für den Film.<br />

Auch heute kann sich den magischen Bildern des Films kaum jemand entziehen: der<br />

düsteren Vision der Stadt der Zukunft, in der ein Klassenkampf ausbricht. <strong>Metropolis</strong><br />

– der Monumentalfilm, der ein Großangriff auf Hollywood werden sollte. Für dessen<br />

Effekte, Kulissen, 36.000 Statisten und 200.000 Kostüme die Ufa mehr als fünf<br />

Millionen Reichsmark ausgegeben hatte. Er war der teuerste deutsche Film, den es<br />

bis dahin gegeben hatte. Die Dreharbeiten hatten 310 Tage und 60 Nächte gedauert.<br />

Schon vor langer Zeit habe sie gespürt, dass dieser Film in ihrem Leben mal eine<br />

besondere Rolle spielen würde, sagt Félix-Didier. Ihr früherer Mann, Fernando Peña,<br />

Kinoenthusiast wie sie, hatte irgendwann Ende der achtziger Jahre eine Bemerkung<br />

gehört, die ihm seitdem nicht mehr aus dem Kopf ging. Der Leiter eines Cineclubs in<br />

Buenos Aires hatte sich bei ihm beschwert, dass er schon wieder "diese schlechte<br />

<strong>Metropolis</strong>-Kopie" zeigen musste, "du kannst dir nicht vorstellen, wie anstrengend<br />

das war, mehr als zwei Stunden am Projektor zu stehen und auf den Film zu<br />

drücken, damit der Streifen nicht rausspringt". Mehr als zwei Stunden? Peña hatte<br />

sich gewundert. Ob auf den Spulen vielleicht die vermissten Szenen waren?<br />

Es war der Beginn einer atemberaubenden Suche, die oft genug aussichtslos schien.<br />

Und nun, 20 Jahre später – Paula Félix-Didier und Fernando Peña sind längst<br />

geschieden, aber noch immer durch ihre Liebe zum Film verbunden –, sollte diese<br />

Suche zu Ende sein. Wenn denn die Autoritäten aus Deutschland bestätigten, dass<br />

der Fund wirklich die verschollenen Filmmeter enthielt, aus dem echten großen Werk<br />

des Fritz Lang. Aber niemand meldete sich, und langsam fragte Félix-Didier sich, wie<br />

sie dafür sorgen sollte, was sie als ihre Pflicht ansah: "dass der Film in die richtigen<br />

Hände gerät. Und dass unser Museum bekannt wird."<br />

Wie aber waren die drei Filmrollen überhaupt in dieses kleine Museum gelangt? Hier<br />

warten alte Projektoren, Filmkulissen, Kostüme und Fotos darauf, irgendwann einmal<br />

wieder der Öffentlichkeit präsentiert zu werden. In einem modrig riechenden Archiv<br />

lagern 45.000 Spulen mit Spielfilmen und 12.000 mit Dokumentar- und<br />

Nachrichtenfilmen. Das Essigsäure-Syndrom hat nicht wenige von ihnen befallen –<br />

doch <strong>Metropolis</strong> wurde verschont, wie durch ein Wunder.<br />

Nachdem er von der ungewöhnlich langen Filmvorführung gehört hatte, versuchte<br />

Peña Zugang zu dem Filmarchiv zu bekommen, in dem die Kopie lagerte.<br />

Vergeblich. Ob es die Angst war, einen privaten Sammler ins Archiv zu lassen, weil<br />

man womöglich fürchtete, der könnte dort etwas mitgehen lassen? Peña durfte die<br />

Kopie nicht sehen, aber er fand einiges über die mysteriösen Rollen heraus.<br />

Die Urfassung von <strong>Metropolis</strong> hatte Fritz Lang am 10. Januar 1927 im Ufa-Palast in<br />

Berlin präsentiert. Vor der Filmpremiere staute sich der Verkehr auf dem Ku’damm,<br />

1200 Gäste waren auf dem Weg ins Kino. Doch bei den Kritikern fiel der Film durch;<br />

sie fanden die Handlung unglaubwürdig. Der Vorstand der Ufa erkannte in den<br />

Zwischentiteln "kommunistische Tendenzen". Andere empfanden den Film eher als<br />

reaktionär. Und die Vertreter der amerikanischen Paramount, die den Film in den<br />

USA rausbringen sollte, waren bestürzt: Dieser Film in Überlänge – mehr als 150<br />

Minuten – würde keine Chance haben, fanden sie. Er müsse kürzer werden. Und<br />

einfacher.<br />

Ein Mann aus Buenos Aires fand das nicht, wie Peña herausbekommen hat. Adolfo<br />

Z. Wilson, der Chef der Verleihfirma Terra, holte eine Langfassung von <strong>Metropolis</strong><br />

1928 nach Argentinien, obwohl sie auch in seinem Land als sperrig und wenig<br />

kassenträchtig galt. Wilson nahm das Risiko in Kauf, und kurze Zeit später wäre die<br />

Geschichte dieser Filmkopie eigentlich zu Ende gewesen, denn normalerweise<br />

müssen die Kopien vernichtet werden, sobald sie nicht mehr in den Kinos laufen. Das


ist bis heute so, überall auf der Welt, auch in Deutschland. Doch Wilson hatte einen<br />

Bekannten: den Filmkritiker Manuel Peña Rodríguez, und der, so ließ sich<br />

rekonstruieren, verhinderte die Vernichtung der Filmrollen und erweiterte mit ihnen<br />

seine private Sammlung. In den sechziger Jahren erkrankte Peña Rodríguez an<br />

Krebs – und verkaufte seine Filme an den Nationalen Kunstfonds, um seine<br />

Behandlung bezahlen zu können. So kam es, dass die <strong>Metropolis</strong>-Langfassung in<br />

argentinischen Staatsbesitz überging.<br />

Doch auch im Depot des Kunstfonds blieb sie nicht lange. Das 35-Millimeter-<br />

Filmmaterial aus Nitrozellulose galt als Zeitbombe: Mit Hilfe von Schwefel- und<br />

Salpetersäure hergestellt, kann es sich selbst entzünden. Also wurde das Nitro-<br />

Material vernichtet, der Film umkopiert. Und so kam es, dass der Nationale<br />

Kunstfonds, als er 1992 die Sammlung von Peña Rodríguez dem Museo del Cine<br />

übertrug, auch eine 16-Millimeter-Kopie der <strong>Metropolis</strong>-Langfassung überreichte. Es<br />

war die Version, die 1928 von Wilson vertrieben worden war und die man in<br />

Argentinien bis in die späten sechziger Jahre im Kino sehen konnte.<br />

Während die 16-Millimeter-Rollen unberührt in Buenos Aires lagerten, suchten<br />

Filmhistoriker in den Archiven der Welt, von Moskau bis New York, nach den<br />

verschollenen Szenen. Als ihre Hoffnung nachließ, begann der damalige Leiter des<br />

Münchner Filmmuseums, Enno Patalas, mit der Rekonstruktion des Films. Mit Hilfe<br />

der Partituren der Filmmusik, von Set-Fotos und Zwischentitel-Texten, die er auf<br />

Karten der Zensurbehörde fand, versuchte er, der Premierenfassung so gut wie<br />

möglich zu entsprechen. Er erstellte eine Studienfassung, in der er die fehlenden<br />

Stellen markierte. Auf dieser Basis entstand im Jahr 2001, von der Friedrich-Wilhelm-<br />

Murnau-Stiftung finanziert, eine restaurierte Fassung, die mit einer Einblendung<br />

beginnt: "Von dem Film <strong>Metropolis</strong> sind nur ein unvollständiges Original-Negativ und<br />

unvollständige Kopien gekürzter und veränderter Fassungen erhalten. Über ein<br />

Viertel des Films muss als verloren gelten."<br />

Fernando Peña hatte seine Zweifel. Aber hätte er ahnen können, dass seine Exfrau<br />

wenige Jahre später genau das Archiv leiten würde, in dem jene Kopie lagerte, die er<br />

so dringend sehen wollte? Seit zehn Jahren gehen sie getrennte Wege, und beide<br />

haben die Liebe zum Film zu ihrem Beruf gemacht. Fernando Peña leitet die<br />

Filmabteilung des Museums für Lateinamerikanische Kunst in Buenos Aires. Er hat<br />

seine eigene Fernsehsendung und ist Programmchef beim internationalen Filmfest<br />

Mar del Plata. Paula Félix-Didier unterrichtet an verschiedenen Universitäten<br />

Filmgeschichte. Im Januar trat sie ihre Stelle beim Museo del Cine an. Plötzlich lag<br />

die Entscheidung bei ihr. Sie konnte bestimmen, wer das Archivmaterial sehen<br />

durfte. "Wann kommst du?", lud sie Peña zur Schatzsuche ein, als sie ihn bei einem<br />

Filmfest traf. Ihr Exmann kam am Wochenende darauf. "Es dauerte keine zwanzig<br />

Minuten", erzählt Félix-Didier. "Wir schauten in das Verzeichnis, die Leute in der<br />

Cinemathek suchten die Rollen. Dann hielt Fernando einen der Filmstreifen gegen<br />

das Licht und sagte: Está todo, alles ist da."<br />

Peña und Félix-Didier sahen sich an, lachten ungläubig, und beide wussten, was in<br />

dem anderen vorging. »Uns war klar: Das ist ein historischer Moment.« Da das 16-<br />

Millimeter-Material ein Negativ war, ließen sie eine Positiv-Kopie entwickeln und<br />

sahen sich den Film ein paar Tage später an. "Bei jeder neuen Szene, bei jeder<br />

neuen Einstellung zeigten wir auf die Leinwand und riefen: Das ist neu! Das war nicht<br />

drin!", erzählt Félix-Didier. Und dann fragte sie Peña: "Was machen wir nun?" – "Das<br />

glaubt uns niemand", sagte er.<br />

Félix-Didier und ihr Exmann wurden wieder ein Team: Peña, der ohnehin nach<br />

Spanien reisen musste, nahm eine VHS-Kopie des entdeckten Films mit und suchte<br />

in Madrid im Telefonbuch die Nummer des Stummfilmspezialisten Luciano Berriatúa.


Dessen Urteil war eindeutig: "Mir diese Szenen zu zeigen ist das schönste Geschenk<br />

überhaupt." Berriatúa bestätigte: Fast alle Szenen, die seit 1927 als vermisst galten,<br />

waren da. Aber er war nicht die oberste Instanz. "Es fehlte das Siegel der Experten in<br />

Deutschland", sagt Félix-Didier. Also schrieb sie eine E-Mail an die Murnau-Stiftung<br />

in Wiesbaden, die die Rechte an <strong>Metropolis</strong> besitzt, und eine zweite an den<br />

Restaurator Martin Koerber in Berlin, der zusammen mit seinem Team über drei<br />

Jahre hinweg in minutiöser Kleinarbeit Bild für Bild des bekannten Filmmaterials<br />

restauriert hatte. Die Experten schwiegen zunächst, doch dann schaltete Berriatúa<br />

sich ein und schrieb eine Mail nach Berlin: "Martin, c’est incroyable! Eine Kopie von<br />

<strong>Metropolis</strong> mit allem, was fehlt! Man kann jetzt zum ersten Mal die verlorenen<br />

Szenen sehen!" Sobald er diese Mail gelesen hatte, rief Koerber bei Félix-Didier in<br />

Buenos Aires an. "Sie ahnen gar nicht", sagte er zu ihr, "wie oft ich E-Mails von<br />

Leuten bekomme, die glauben, <strong>Metropolis</strong> gefunden zu haben, und nie ist es wahr.<br />

Aber Luciano kennt sich aus. Ich werde nicht mehr schlafen, bis ich das Material<br />

gesehen habe."<br />

Am Dienstag vergangener Woche fliegt Félix-Didier nach Berlin, mit einer Kopie des<br />

gefundenen Materials in der Tasche. Im Filmhaus am Potsdamer Platz, gleich im<br />

Erdgeschoss, steht eine Plastik der berühmten Roboterfrau aus <strong>Metropolis</strong>. Als Félix-<br />

Didier mit ihrem Rollköfferchen den Vorführraum der Deutschen Kinemathek betritt,<br />

warten drei der größten Fritz-Lang-Kenner, die es gibt, auf sie. Da ist Rainer Rother,<br />

der Leiter der Deutschen Kinemathek und Chef der "Retrospektive"-Sektion der<br />

Berlinale. Er hat sich in der ersten Reihe platziert, den Laptop auf den Knien.<br />

Während der Vorführung wird er eine Studienfassung des Films auf DVD mitlaufen<br />

lassen, in der die fehlenden Stellen markiert sind.<br />

Da ist Anke Wilkening, Restauratorin von der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung. Sie<br />

setzt sich in die Mitte und zückt einen kleinen Block. Ihr Urteil wird entscheidend<br />

beeinflussen, was mit dem in Buenos Aires gefundenen Film in Zukunft passiert. Und<br />

da ist Martin Koerber, der Restaurator, mit kariertem Hemd und randloser Brille. Er<br />

hat von allen im Raum die meiste Zeit mit <strong>Metropolis</strong> verbracht. Der Rummel scheint<br />

ihm nicht zu behagen, er geht zur letzten Reihe, wo das Schaltpult steht. "Schauen<br />

wir mal, was wir da haben", sagt er und startet den Film.<br />

Es ist still im Minikino, einem schwarz ausgekleideten Raum, in dem statt Kinositzen<br />

Bürostühle mit Armlehnen stehen. Nur der Beamer surrt leise, ein Magen knurrt.<br />

Félix-Didier ist nervös, will etwas zu dem Film sagen. "Nehmen Sie doch nichts<br />

vorweg!", sagt Koerber, Wilkening sitzt kerzengerade. "Der Film wurde für<br />

Argentinien bearbeitet", warnt Félix-Didier vor. "Es gibt sehr poetische Zwischentitel."<br />

- Dann kommt das, was alle kennen: der Vorspann von <strong>Metropolis</strong>. Die Walzen einer<br />

Kurbelwelle, Zahnräder, eine Drehbank. Dampfpfeifen, die den Schichtwechsel für<br />

die Arbeiter ankündigen. Ein zweiteiliges Gittertor, Arbeiter in Reih und Glied. Der<br />

Zwischentitel rollt nach unten: "Tief unter der Erde lag die Stadt der Arbeiter."<br />

Das Geschichte von <strong>Metropolis</strong> ist so pathetisch wie verwirrend: Ein Heer von<br />

Arbeitern schuftet unter der Erde an riesigen Maschinen, in der Oberwelt leben die<br />

Reichen. Über beide Welten wacht gottgleich der Großkapitalist Joh Fredersen.<br />

Dessen Macht wird bedroht, als sein Sohn sich in die schöne Maria aus der<br />

Arbeiterwelt verliebt, die von ihren Leuten verehrt wird und für Harmonie wirbt. Der<br />

Erfinder Rotwang, einst Rivale seines Vaters um eine inzwischen verstorbene<br />

Geliebte, entwirft eine Roboterfrau, um seine große Liebe wieder auferstehen zu<br />

lassen. Doch dann gibt er der Maschine die Gestalt von Maria und den Auftrag,<br />

Fredersen zu schaden. Die falsche Maria bringt die Menge dazu, die Maschinen von<br />

<strong>Metropolis</strong> zu zerstören. Dabei wird die Stadt der Arbeiter überschwemmt, die echte<br />

Maria und Fredersens Sohn retten die Kinder der Arbeiter und finden zusammen, die


falsche Maria wird auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Am Ende siegt die Liebe: Der<br />

Vorarbeiter und Fredersen geben sich die Hand.<br />

Der Film aus Buenos Aires ist stark verkratzt, wahrscheinlich wurde die Kopie<br />

Hunderte Male vorgeführt, bevor sie auf 16 Millimeter umkopiert wurde, ohne<br />

vorherige Reinigung. Félix-Didier legt die Hände auf die Armlehnen, dreht den<br />

Bürostuhl unruhig hin und her. Ob den Experten die Qualität des Materials zu<br />

schlecht ist? Was, wenn doch eine Szene fehlt? So lang wie in diesem Moment sind<br />

ihr die ersten Minuten des Films noch nie erschienen. - Dann kommt der Klub der<br />

Söhne, alles bekannt. Weiß gekleidete Menschen in einem gigantischen<br />

Sportstadion, darunter Freder, der Sohn von Fredersen, dem Lenker von <strong>Metropolis</strong>.<br />

Eine heile, reiche Welt ist zu sehen. Die Experten kennen diese Bilder auswendig.<br />

Das erste neue Bild erscheint nach fünf Minuten. Der Zeremonienmeister schminkt<br />

eine Dame, die Freder vergnügen soll. Den Paramount-Leuten war diese Szene<br />

offenbar zu anzüglich, sie schnitten sie raus. - "Here we go", sagt Koerber und macht<br />

sich Notizen. Félix-Didier ist ungeduldig, sagt: "Das ist nur ein Vorgeschmack." Aber<br />

niemand antwortet. So stumm war <strong>Metropolis</strong> wohl selten. -<br />

Türflügel, die sich öffnen, Maria tritt ins Bild, fasziniert Freder. Es ist einer der<br />

Schlüsselmomente des Films: Der Sohn des Hierarchen verliebt sich, später sucht er<br />

Maria in den Tiefen der Arbeiterstadt, tauscht dort seine Kleider mit einem Arbeiter,<br />

stellt sich selbst an die Maschinen. Sein Vater gibt die Anweisung, jedem Schritt des<br />

Sohnes zu folgen. Ab sofort ist "der Schmale" ihm auf den Fersen. - War es vorher<br />

ungläubige Erwartung, ist es jetzt die Spannung, die keine Gespräche im Vorführsaal<br />

erlaubt: Der Schmale versteckt sich hinter einer Zeitung, er verfolgt Georgy, den<br />

Arbeiter, mit dem Freder seine Kleider getauscht hat. "Super", sagt Koerber leise.<br />

Endlich eine Reaktion. Félix-Didiers Hände entkrampfen sich ein wenig.<br />

Georgy steigt in ein Auto, findet Geld in den Taschen von Freders Kleidern. Sieht im<br />

Auto nebenan eine Dame, die sich schminkt. Ihm fällt ein Flugzettel auf den Schoß,<br />

"Yoshiwara" steht darauf. Georgy lässt sich in das Vergnügungsparadies fahren.<br />

"Exzellent", sagt Koerber. Die fehlenden Stellen hat der Restaurator bisher nur im<br />

Kopf gesehen, sie sich vorgestellt. »Wahnsinn«, sagt Rother, der Kinemathek-Chef<br />

und Berlinale-Mann, in der ersten Reihe. "Das hat seit 1927 niemand mehr gesehen.<br />

Außer den Argentiniern, die vielleicht nicht wussten, was sie da hatten."<br />

Nun sind sie wieder da: die Autoszene und Yoshiwara, beide hatte der Filmkritiker<br />

Roland Schacht 1927 als besonders gelungen herausgestellt. Nach der Kürzung sei<br />

<strong>Metropolis</strong> nicht mehr der Film, den er bei der Premiere im Ufa-Kino gesehen habe,<br />

schrieb Schacht unter dem Pseudonym Balthasar. "Fast alles Dramatische" und "viel<br />

des photographisch besonders Gelungenen" fehlten in der neuen Version. Auch das<br />

Fehlen der nächsten von Peña und Félix-Didier wiederentdeckten Szene bedauert<br />

Schacht in seiner Kritik: Joh Fredersen, der Vater von Freder, steht im Haus des<br />

Erfinders Rotwang. Er öffnet einen Vorhang und findet dahinter eine Statue: "Hel.<br />

Geboren mir zum Glück, allen Menschen zum Segen. Verloren an Joh Fredersen.<br />

Gestorben, als sie Freder, Joh Fredersens Sohn, das Leben schenkte." Diese kurze<br />

Szene macht klar: Rotwang und Fredersen sind Rivalen, sie liebten die gleiche Frau.<br />

Genau diese Szene hatten die Amerikaner entfernt. Channing Pollock, der das<br />

Material umgeschnitten hatte, sagte später: "Ich habe ihm meine Bedeutung<br />

gegeben." Durch diese Kürzung wurde der Film entstellt, die Rivalität zwischen<br />

Fredersen und Rotwang um die geliebte Frau war nicht mehr zu erkennen. Wenn<br />

Rotwang nun vor Fredersens Gesicht wütend mit den Armen herumfuchtelte, fragte<br />

man sich, warum. Kein Wunder, dass H. G. Wells über die gekürzte Fassung schrieb:<br />

"Ich habe vor Kurzem den dümmsten Film gesehen." - Doch nun ist die Hel-Szene<br />

wieder da. "Auf einmal macht alles Sinn. Jetzt wird der Film zum männlichen


Melodram", sagt Wilkening, sie hat sich seit Beginn der Vorführung nicht bewegt, nur<br />

wie gebannt auf die Projektion gestarrt.<br />

Rotwang arbeitet an einer Roboterfrau, er will seine geliebte Hel wieder zum Leben<br />

erwecken. Doch dann bittet ihn Joh Fredersen, ihr das Gesicht von Maria zu geben.<br />

Maria ist die weibliche Hauptfigur, die einen Mittler sucht, der den Streit zwischen<br />

den Arbeitern und den Lenkern von <strong>Metropolis</strong> beilegen soll. Nun gibt es eine zweite,<br />

eine Roboter-Maria. Sie stachelt die Massen auf, die Maschinen zu zerstören und<br />

ihre Kinder in Gefahr zu bringen.<br />

Die nächste neue Szene. Georgy hat das Geld in Yoshiwara ausgegeben, steigt ins<br />

Auto und wird von dem Schmalen überrascht, der ihn in die Stadt der Arbeiter<br />

zurückschickt. "Davon hatten wir bis jetzt nicht mal Szenenfotos", sagt Rother. - Es<br />

geht weiter: ein Kampf in der Wohnung des vom Vater entlassenen Sekretärs, der<br />

nun dem Sohn Freders treu ist. Die aufgebrachten Massen verfolgen die gute und<br />

schließlich die böse Maria. Dann die Panik der Kinder.<br />

Ein Riss geht durch den Asphaltboden der Arbeiterstadt, Wasser quillt heraus. Zuerst<br />

wenig, dann birst der Beton. Die Stadt wird überflutet. Aus den Häusern strömen die<br />

Kinder zu Hunderten. Sie versuchen, über eine Treppe zu entkommen, rütteln<br />

verzweifelt an der Gittertür, die den Ausgang versperrt, während das Wasser immer<br />

höher steigt. 14 Tage lang hatten die Komparsen beim Dreh immer wieder unter<br />

Wasser gestanden, die meisten stammten aus den Elendsvierteln des Berliner<br />

Nordens. Einer fing sich eine Lungenentzündung ein und verlor die Stimme. In der<br />

Paramount-Version war diese Szene stark gekürzt, man wollte dem US-Publikum<br />

wohl nicht zu viel zumuten. "Wie spannend diese Szene auf einmal ist", sagt Rother.<br />

"Jetzt ist <strong>Metropolis</strong> ein echter Fritz-Lang-Film." Dann sehen die Experten das<br />

bekannte, kitschige Ende: Die Liebe überwindet die Differenzen, es kommt zum<br />

Handschlag zwischen Arbeiter und Magnat.<br />

Das Licht im Vorführraum geht an. Félix-Didier liest den Experten nun jedes Wort von<br />

den Lippen ab. Ihr Urteil wird darüber entscheiden, wie es mit <strong>Metropolis</strong> weitergeht.<br />

Es geht reihum: "Der Zustand des Materials ist bedauerlich", sagt Koerber, der<br />

Restaurator. "Mir hatte <strong>Metropolis</strong> nie wirklich gefallen", sagt Wilkening, die Frau von<br />

der Murnau-Stiftung, "aber ich überlege, ob ich dieses Urteil revidieren muss. Die<br />

wichtigen Nebenfiguren machen nun Sinn." - "Vorher war der Film holprig, jetzt ist er<br />

rund", sagt Rother, der Chef der Kinemathek.<br />

Ganz am Ende sagt Anke Wilkening den entscheidenden Satz: "Wir als Friedrich-<br />

Wilhelm-Murnau-Stiftung sehen uns in der Verantwortung, das Material zusammen<br />

mit dem Archiv in Buenos Aires und unseren Partnern der Öffentlichkeit zugänglich<br />

zu machen." Es sind Zauberworte in Félix-Didiers Ohren. Irgendwann, hoffentlich,<br />

werden die fehlenden <strong>Metropolis</strong>-Stellen nicht mehr nur im Kopf der Zuschauer<br />

laufen, sondern auf einer echten Leinwand.<br />

Seit ihrer Gründung vor 42 Jahren setzt sich die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung<br />

dafür ein, einen Großteil des deutschen Filmerbes vom Beginn der Laufbilder bis<br />

zum Anfang der sechziger Jahre zu erhalten, zu pflegen und zu verbreiten. In der<br />

Obhut der Stiftung finden sich die großen Klassiker des deutschen Kinos: Das<br />

Cabinet des Dr. Caligari, Nosferatu, Nibelungen, Der blaue Engel, Die drei von der<br />

Tankstelle, Münchhausen, Große Freiheit Nr. 7 – und eben <strong>Metropolis</strong>. Nachdem<br />

seine Restauratorin von ihrer Reise nach Berlin zurückgekehrt ist, sagt Helmut<br />

Poßmann, der Vorstand der Stiftung: "Je mehr Materialien zusammengetragen,<br />

vergleichend betrachtet und ausgewertet werden, umso historisch zuverlässiger ist<br />

das Ergebnis von Restaurierungen. Das bisher verschollen geglaubte Material führt<br />

zu einem neuen Verständnis dieses Meisterwerkes von Fritz Lang."


Fehlt nur noch ein Urteil: das von Enno Patalas, dem Mann, der seit Anfang der<br />

siebziger Jahre <strong>Metropolis</strong> erforscht und versucht hat, den Film zu rekonstruieren –<br />

ohne ihn je vollständig gesehen zu haben. Patalas erwartet Félix-Didier in seiner<br />

Wohnung in München. Durchs Fenster sieht man Kastanien, das Wohnzimmer steht<br />

voll mit Büchern, viele über Fritz Lang, eine Sammlung der Cahiers du Cinema.<br />

Patalas legt die DVD ein, guckt und schweigt. "Das könnte eine Kopie vom Original<br />

sein", sagt er am Ende zu der mittlerweile von der Reise völlig erschöpften Paula<br />

Félix-Didier. "Es ist das authentischste Material, das wir kennen."<br />

Patalas glaubt wie die anderen Experten, dass die neuen Stellen selbst nach einer<br />

Restaurierung nicht an die Qualität des bekannten Materials herankommen würden.<br />

Aber vielleicht sollte Félix-Didier das nicht zu sehr bedauern. Es sind gerade die<br />

Materialfehler, die ihrem kleinen Filmmuseum bald ein großes Denkmal setzen<br />

könnten: in einer neuen Version von <strong>Metropolis</strong>, die die in Buenos Aires<br />

wiedergefundenen Szenen enthält. Und diese würden – dank der Kratzer auf dem<br />

Film – für immer als solche zu erkennen bleiben.<br />

"<strong>Metropolis</strong>" "Eine sensationelle Entdeckung"<br />

Von Rainer Rother<br />

Die Zeit vom 03.07.2008/ 2008/28<br />

http://www.zeit.de/2008/28/Gutachten-28<br />

Die wiederentdeckten Szenen von Fritz Langs "<strong>Metropolis</strong>" verleihen dem Film eine<br />

neue Intensität. Das Gutachten des Künstlerischen Direktors der Deutschen<br />

Kinemathek<br />

Die Filmgeschichte ist bedauerlich reich an verschollenen Filmen, an Fragmenten<br />

und Torsi, gerade aus der Periode des Stummfilms. Was damals verloren ging,<br />

beschädigt oder verkürzt wurde, ist in vielen Fällen unwiederbringlich verloren. Wo<br />

Restaurierung oder Rekonstruktion möglich war, haben oft Archivare auf der ganzen<br />

Welt dazu beigetragen.<br />

Vermutlich ist <strong>Metropolis</strong> unter den verstümmelten Filmen der berühmteste. Kaum<br />

ein Film ist in ähnlich beharrlicher Weise Stück für Stück seiner ursprünglichen Form<br />

angenähert worden. Enno Patalas hat sich diesem Film, einem Wunderwerk an<br />

filmischer Erfindungsgabe und zugleich einer Produktion mit unverkennbar<br />

monströsen Zügen, über Jahrzehnte gewidmet. Bis dann im Jahr 2001 eine<br />

gemeinsam mit Martin Koerber erarbeitete Fassung vorlag, die alle bekannten<br />

Überlieferungen einbezog und erstmals auf ein nicht verschollenes, nur nie als<br />

solches erkanntes Original-Negativ der gekürzten Fassung zurückgriff.<br />

Das Resultat war ein bildschöner Torso, im Wortsinne. Denn durch den Rückgriff auf<br />

das Negativ gewann der Film eine bis dahin ungekannte Qualität. Zugleich blieben<br />

Lücken, etwa 30 Minuten fehlen gegenüber der nur kurz in wenigen Kinos in<br />

Deutschland gezeigten Premierenfassung. Der Fund im Museo del Cine in Buenos<br />

Aires wird es ermöglichen, einen beträchtlichen Teil des Fehlenden zu ergänzen,<br />

wenn auch in einer beklagenswerten Bildqualität. Aber schon am Anfang dieser<br />

Quelle, die im Schnitt dem bekannten Rhythmus folgt, gibt es aufregende<br />

Entdeckungen: die Frau, deren Lippen vom Majordomus geschminkt werden, zum<br />

Beispiel. Oder die Szene nach der Entlassung von Josaphat. Er geht die Treppe<br />

hinunter – man sieht eine zusätzliche, bislang vermisste Einstellung, weitere, entscheidendere,<br />

ganze Sequenzen werden folgen.


Was Paula Félix-Didier nach Berlin gebracht hat, stellt eine sensationelle Entdeckung<br />

dar und eine große Herausforderung. Nun eine annähernd integrale Fassung<br />

herzustellen wird schwierig sein, aber diese Arbeit, darüber besteht Einigkeit, wird<br />

getan werden. Schon deswegen, weil die Szenen, die nun erstmals wieder zu sehen<br />

sein werden, nicht nur den Bau des Filmes vervollständigen, sondern vor allem, weil<br />

sie ihm ungeachtet verschrammter Bilder etwas zurückgeben, was mich bei der<br />

Betrachtung ganz unvermutet traf. <strong>Metropolis</strong>, das war ein Film, der für viele<br />

Qualitäten bewundert wurde, geliebt aber wurde er nicht. Denn er berührte oft nicht<br />

wirklich. Die Brillanz der filmischen Einfälle war entscheidend für den Respekt<br />

gegenüber dem fragmentarischen Meisterwerk. Seine Figuren aber schienen arg<br />

kolportagehaft, der Schlusstitel, in dem das Herz als Mittler zwischen Hirn und Hand<br />

bezeichnet wird, erschien unfreiwillig komisch.<br />

Wenn man die "Studienfassung", in der Enno Patalas und Anna Bohn alle Fehlstellen<br />

in ihrer durch die Uraufführungsmusik definierten Länge als Graufilm integrierten, mit<br />

dem Fund aus Buenos Aires sozusagen parallel liest, bemerkt man, wie wunderbar<br />

die Lücken nun gefüllt werden. Und damit erhält der Torso eine neue Balance. Denn<br />

ein Torso wird <strong>Metropolis</strong> (bis auf Weiteres?) bleiben. Der Fund aber, auf den wohl<br />

kaum jemand, der sich mit dem Film intensiv beschäftigt hat, noch zu hoffen wagte,<br />

gibt <strong>Metropolis</strong> zurück, was nach der Uraufführung niemand mehr hat entdecken<br />

können. Die Figuren von Josaphat und Georgy, auch dem Schmalen: Nun tragen sie<br />

die Handlung über weite Strecken. Damit gewinnt der Film neue Themen. Josaphat<br />

etwa wird jetzt tatsächlich der Gefährte Freders. Georgy, mit dem Freder an der<br />

Maschine die Kleider tauschte, taucht ein in die Welt der Reichen, erliegt ihren<br />

Verführungen, lässt sich vom Schmalen erpressen und zum Verrat bewegen. Nun<br />

erst versteht man die Bindung zwischen ihm und Freder, begreift, warum sich Georgy<br />

im letzten Moment der von der falschen Maria aufgehetzten Menge entgegenstellt<br />

und Freders Leben rettet.<br />

Es ist ein klassisches Thema, ein Fritz-Lang-Thema, das hier durchgespielt wird,<br />

eine Geschichte um Loyalität, um Freundesverrat. In solchen Momenten gewinnt<br />

<strong>Metropolis</strong> plötzlich neue Intensität: Die Handlung war ja durch das Drehbuch<br />

bekannt, viele Szenen waren durch Fotos belegt. Aber nun sind es bewegte Bilder,<br />

und sie bewegen anders, als das die überlieferte Idee, das bekannte Konzept<br />

konnten.<br />

An vielen anderen Stellen ergeht es einem ähnlich. Die Statue der verstorbenen Hel<br />

in Rotwangs Haus: Man kannte sie als Foto. Nun treffen sich Rotwang und Joh<br />

Fredersen vor ihr. Und was lange eher wie eine Behauptung schien – die aus Liebe<br />

zur, aus Trauer um die gleiche Frau gespeiste Komplizenschaft und Rivalität der<br />

beiden –, wir sehen es nun. In anderen Szenen steigert sich die Dramatik, vor allem<br />

bei der Flucht der Kinder vor der Überflutung der Unterstadt. Die schon immer<br />

beeindruckende Szene ist nun erschreckend, ja beklemmend, weil die Gefahr in<br />

kalkulierter Steigerung präsentiert wird. Auf ähnliche Weise intensiver wird eine<br />

andere, scheinbar kleine Szene. Joh Fredersens Befehl, das Tor zu öffnen und damit<br />

der aufgepeitschten Menge den Weg zur "Herzmaschine" freizugeben und so deren<br />

Zerstörung zu ermöglichen, stand in der bislang bekannten Fassung isoliert da. Nun<br />

sieht man, dass Groth, der Wächter der Herzmaschine, das Tor schließt, als er die<br />

Menge nahen sieht. Er widersetzt sich Joh Fredersens Aufforderung, kommt ihr erst<br />

nach, als der Herr über die Stadt sie mit Härte erneuert. Und tritt widerwillig, noch<br />

immer im Kampf mit sich selbst, schließlich an den Hebel, der die Tore öffnet. Die<br />

Masse strömt herein, das Unheil ist nicht mehr aufzuhalten. Nun besitzt die Szene<br />

wieder dramatische Struktur, alles nur Behauptete fällt von ihr ab. Sie ergreift den<br />

Zuschauer.


<strong>Metropolis</strong>, Fritz Langs berühmtester Film, kann neu gesehen werden. Nicht so, wie<br />

er einmal war: wegen nach wie vor bestehender, allerdings nun kleiner Verluste<br />

gegenüber der Originallänge. Vor allem aber wegen der neuen Gestalt, die die<br />

Vervollständigung unvermeidlich besitzen wird. Beste Bildqualität, abwechselnd, oft<br />

sogar gemischt mit verschrammten, kontrastarmen Einstellungen und Szenen. Aber<br />

diese Gestalt wird sein, was frühere Restaurierungen nie ganz sein konnten. Ein<br />

Fritz-Lang-Film.<br />

Rainer Rother ist Künstlerischer Direktor der und Leiter der "Retrospektive"-Reihe<br />

der Berlinale<br />

"Klischee, Plattitüde und Chaos"<br />

Zeit-Online vom 02.07.2008/2008/27<br />

http://www.zeit.de/online/2008/27/metropolis-kritiken<br />

"Das wunderschönste Bilderbuch, das man sich vorstellen kann"; "der albernste Film<br />

überhaupt" – mittelmäßig war nichts an "<strong>Metropolis</strong>“, auch die Kritiken nicht. Eine<br />

<strong>Presse</strong>schau aus dem Jahr 1927<br />

"Berliner Tageblatt":<br />

"Es ist der wunderbarste Film, den diese deutsche Industrie jemals geschaffen hat,<br />

der große Film der Ufa mit photographischen Griffen von noch nie gesehener<br />

Souveränität."<br />

"Neue Preußische (Kreuz-) Zeitung":<br />

"Das Filmereignis der Saison! (...) Was hier filmtechnisch geleistet wurde, ist<br />

unerhört, noch nicht dagewesen! (...) (Vorher aber) tobte ein Beifall, wie ihn selbst<br />

der Ufa-Palast am Zoo wohl selten gesehen hat (…).”<br />

Luis Bunuel, spanischer Regisseur (1900-1983):<br />

"Nicht ein Film, sondern zwei, am Bauch aneinander klebend, das ist <strong>Metropolis</strong>;<br />

zwei Filme, deren innere Beweggründe in äusserstem Widerspruch zueinander<br />

stehen. Wer den Film als zurückhaltenden Geschichtenerzähler verstehen will, wird<br />

von <strong>Metropolis</strong> bitter enttäuscht sein. Denn das hier ist eine triviale, schwülstige<br />

Geschichte, schwerfällig und von abgestandener Romantik. Wenn wir aber der<br />

erzählerischen Seite des Films die gestalterisch-bildhafte vorziehen, übertrifft<br />

<strong>Metropolis</strong> alle Erwartungen und entzückt als das wunderschönste Bilderbuch, das<br />

man sich überhaupt vorstellen kann. (...) Welch begeisternde Symphonie der<br />

Bewegung! Wie die Maschinen singen inmitten wunderbarer Projektionen,<br />

"triumphgekrönt“ von elektrischen Entladungen! Alles Kristall der Welt, aufgelöst in<br />

wunderschönste Lichtreflexe, fliesst in diesen Gesängen der modernen Leinwand.<br />

Das funkelnde Glänzen und Gleissen des Stahls, das rhythmische Zusammenspiel<br />

von Rädern, Kolben und bisher unvorstellbaren mechanischen Kompositionen: eine<br />

unbeschreiblich schöne Ode, eine für unsere Augen völlig neue Poesie. Die Physik<br />

und die Chemie verwandeln sich wie durch ein Wunder in Rhythmik. Kein einziger


statischer Moment! Sogar die Zwischentitel, die erscheinen und verschwinden, sich<br />

drehen, bald in Licht bald in Schatten aufgelöst, werden zu Bewegung, ergeben ein<br />

Bild.“ (Aus: Cahiers du cinéma – August/September 1970, Nr. 223, Originaltext<br />

veröffentlicht in Gaceta Literaria, Madrid, 1927-1928)<br />

"Berliner Volkszeitung":<br />

“Eine künstlerische Tat, ein Werk, bei dem es schwer zu sagen ist, was das Beste an<br />

ihm war. Die Regie, die Darstellung oder die Technik. Es ist alles aus einem Guß.<br />

Man möchte fast bitten, gar nichts sagen zu dürfen, weil der Wert des Films nur in<br />

dem Erlebnis unserer Augen liegt. (…) Es ist ein großer Film."<br />

"Der Tag":<br />

“Bei der Uraufführung im Ufa-Palast am Zoo hatte der “<strong>Metropolis</strong>”-Film einen großen<br />

Publikumserfolg. Der Beifall setzte bei den ersten Bildern, die die riesige technische<br />

Leistung zeigten, ein und steigerte sich immer mehr (…). Man fühlt: dies ist der “Film<br />

für den Film”, der absolute, - der Über-Film (…)."<br />

Theodor Heuß (1884-1963), erster Bundespräsident der Bundesrepublik und<br />

zeitweiliger Leiter der Zeitschrift "Die Hilfe":<br />

"Das Programmheft der '<strong>Metropolis</strong>' enthält eine aufschlußreiche Anekdote. In die<br />

"Handlung" ist, mit ein paar Bildern, retrospektiv, der Turmbau von Babel<br />

eingeschaltet. Die Szenen könnten für den Gang der Ereignisse entbehrt werden;<br />

aber der Regisseur Fritz Lang ist dankbar für jeden Einfall, der ihm erlaubt, Massen<br />

zu zeigen; auch soll der Vorgang den Frondienst der Arbeitsklassen "symbolisieren".<br />

Das Symbol verlangt die Impression des Sklaven, die Phantasie des Regisseurs<br />

beansprucht sechstausend Menschen. Er findet aber nur tausend, die sich die Haare<br />

glatt wegschneiden lassen, und er muß nun also sechsmal den schleppenden Zug<br />

der Tausend aufnehmen und die Geschichte zusammenkombinieren. Jeder gönnt<br />

den armen Arbeitslosen, die ihre Haare opfern, und den Friseuren bei ihrem<br />

Massenmord von Schönheit die zusätzliche Einnahme – ich finde diese banale<br />

Geschichte sehr lehrreich für den suggestiven Zahlen-Snobismus, der die Millionen<br />

Mark begleitet.<br />

(...)<br />

Der große Film '<strong>Metropolis</strong>', der jetzt in Berlin läuft, preisend mit viel schönen Reden<br />

eingeführt und bestimmt, wenn sich die Erwartungen seiner Urheber und Finanzierer<br />

erfüllen, die Welt zu umrunden, macht nachdenklich. Er wird, was Aufwand an Mitteln<br />

und Menschen und was Verwertung der technischen Möglichkeiten anlangt, wohl als<br />

die 'Spitzenleistung' der deutschen Filmproduktion von heute anzusehen sein, und er<br />

hatte für seine Gestaltung wenn nicht die ersten Schauspieler, so doch den<br />

leidenschaftlichsten und im Detail einfallreichsten Regisseur zur Uraufführung. Aber<br />

wenn man seine zweieinhalb Stunden hinter sich hat, die reich waren nicht nur an<br />

eindrucksvoll gestellten Bildern, sondern auch an 'aufregenden' und 'spannenden'<br />

Augenblicken, die eine höchst legitime Voraussetzung solchen Films sind, wenn man<br />

all das hinter sich hat, ist man froh, in die kühle Nachtluft entlassen zu sein." (Aus:<br />

Die Hilfe“, 33. Jg., Heft 4, 15.2.1927)


"Deutsche Zeitung":<br />

"Mit einer Phantasie ohne Schranken sind hier Bilder kühnster Gedanken geformt<br />

(…). Eine Welt der Maschinen türmt sich zu gigantischer Metropola (…). Der Beifall<br />

der gestrigen Fest-Uraufführung dieses bisher größten deutschen Films war<br />

überwältigend (…)."<br />

"Klischee, Plattitüde und Chaos"<br />

"8-Uhr-Abendblatt":<br />

"Lang ist unzweifelhaft der Regisseur der Massen, des Gigantischen und<br />

Übersteigert-Phantastischen (…)."<br />

H.G. Wells (1866-1946), englischer Science-Fiction-Pionier und Autor der Romane<br />

Der Krieg der Welten und Die Zeitmaschine:<br />

"Ich habe letztens den albernsten Film überhaupt gesehen. Ich glaube nicht, dass es<br />

möglich ist, einen noch alberneren zu machen (...). Er heißt '<strong>Metropolis</strong>', stammt aus<br />

den großartigen Ufa-Studios in Deutschland, und man muss erwähnen, dass er<br />

enorme Produktionskosten verschlungen hat. Er präsentiert eine turbulente<br />

Konzentration aus fast jeder denkbaren Blödsinnigkeit, Klischee, Plattitüde und<br />

Chaos über den mechanischen Fortschritt und den Fortschritt im Allgemeinen,<br />

serviert mit einer Sauce von Sentimentalität (...)."<br />

(Aus: New York Times, 16. April 1927)<br />

"Die Rote Fahne", Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands über die<br />

Uraufführung im Berliner Ufa-Palast:<br />

"Die kapitalistische Verkrustung und Rationalisierung wächst in maßlosphantastische<br />

Dimensionen. Ihr Symbol ist '<strong>Metropolis</strong>', die himmelhohe<br />

Wolkenkratzerstadt, die von einem Kapitalherrn beherrscht und gelenkt wird. Die<br />

Klassenscheidung der menschlichen Gesellschaft ist vollendet. Die Arbeiterklasse ist<br />

nur noch ein Bestandteil der Maschine, ein gleichförmiges unbeseeltes Heer von<br />

Menschenmaschinen. Sie wird in die Unterwelt verbannt, in der die<br />

Ichthosaurusapparate, von gewaltigen Elementen (etwa Ultraelektrizität) gespeist,<br />

den Reichtum für die Oberwelt erzeugen. (...)<br />

Dort maßloser Luxus, rationalisiertes Luxusleben. Paradiesische Gärten für die<br />

'Söhne', lufttrainierte Venusweiber – und über dem Ganzen thront noch nicht 'der<br />

gehirnlose Affenmensch, der mit einem Druck auf den Knopf die Welt lenkt', aber der<br />

allmächtige Trustmagnat von <strong>Metropolis</strong>. (...)<br />

Dem Regisseur schwebte scheinbar ein utopischer Film vor, der Tendenzen der<br />

Wirklichkeit enthalten sollte. Für jeden etwas: Der Bourgeoisie die '<strong>Metropolis</strong>', für die<br />

Arbeiter den Sturm auf die Maschinen, für die Sozialdemokraten die<br />

Arbeitsgemeinschaft, für die Christlichen das 'Goldene Herz' und den Heilandsspuk.<br />

Fritz Lang hat weder eine große Utopie geschaffen, noch Träume realisiert: Doch<br />

dafür kann man wahrscheinlich nicht ihn allein verantwortlich machen, denn den<br />

Inhalt der Ufafilme bestimmt die Direktion nach den Gesetzen der Neuhorfer Börse.<br />

Abgesehen von dem kitschigen Inhalt ist die filmtechnische Leistung zweifelsohne<br />

hervorragend und in ihrer Art bisher unerreicht. Die Illusion der Wolkenkratzerstadt,<br />

die Darstellung der Maschinenunterwelt, die 'Geburt' der Menschenmaschine, die


Ueberschwemmung, sowie einige der Massenszenen sind ausgezeichnet. (...)<br />

2 1⁄2 Stunden dauert die Aufführung. Genau um eine Stunde zu lang. Auch dann<br />

wird es der Ufa-Direktion gelingen, nicht nur 1000 Arbeitslose für den "Babylonischen<br />

Turm", sondern (bei den Eintrittspreisen von 2-8 Mark) noch weitere Tausende kahl<br />

zu scheren."<br />

(Aus: Die Rote Fahne, Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands<br />

(Berlin) vol. 10, no. 9, 12 Jan 1927)<br />

(Alle Tageszeitungs-Zitate veröffentlicht im Kinematograph vom 16. Januar 1927)<br />

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