Nachrichten aus dem Totenreich - Zentrum für Evolutionäre Medizin
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Wissen<br />
Fotos: Swiss Coffin Projekt, Photo PMImage.ch, Universität Zürich/ZEM <strong>Nachrichten</strong><br />
<strong>aus</strong><br />
<strong>dem</strong> <strong>Totenreich</strong><br />
Frank Rühli ist der Mann, der Mumien zum Sprechen bringt.<br />
In einer Ausstellung in Zürich zeigt der <strong>Medizin</strong>er jetzt,<br />
welche Geheimnisse den Toten <strong>aus</strong> alten Zeiten zu entlocken sind.<br />
Text Susanne Rothenbacher<br />
Die Augenhöhlen leer, die<br />
Arme über der Brust gekreuzt,<br />
scheint der altägyptische<br />
Priester Nes-Schu auch<br />
über 2000 Jahre nach seinem Tod manches<br />
Geheimnis zu hüten. Und das, obwohl<br />
man viel daran setzte, ihm alles zu<br />
entlocken, was er zu sagen hat. Postum,<br />
denn Nes-Schu ist eine Mumie.<br />
Einer, der Nes-Schu zu Leibe rückte,<br />
ist Frank Rühli. Der Leiter des <strong>Zentrum</strong>s<br />
<strong>für</strong> evolutionäre <strong>Medizin</strong> an der<br />
Universität Zürich zählt zu den weltweit<br />
führenden Mumienforschern. Er hielt<br />
die – nur 15 Kilo leichte – Eismumie<br />
Ötzi in den Händen, war an den Computertomografie-Untersuchungen<br />
des berühmten<br />
Pharaos Tutanchamun beteiligt<br />
und hat sich zum Ziel gesetzt, alle<br />
Mumien zu begutachten, die in Schweizer<br />
Museen lagern.<br />
2006 schob er die sterblichen Überreste<br />
von Nes-Schu in einen Computertomografen.<br />
Heute ist vielfarbig, dreidimensional<br />
und gestochen scharf<br />
Die Priestermumie<br />
Nes-Schu war ein altägyptischer Priester.<br />
Er lebte um 400 bis 300 vor Christus.<br />
Die Mumie gelangte 1896 dank einer<br />
Schenkung in die Schweiz. Die Computertomografie<br />
zeigt, dass Nes-Schu in<br />
den Kniegelenken und Unterschenkeln<br />
an Arteriosklerose litt.<br />
dokumentiert, dass der etwa 50-jährige Stirbt ein Mensch oder ein Tier, be-<br />
Priester vom Leben ziemlich gezeichnet ginnen Bakterien, den Leichnam aufzu-<br />
war: Er litt an einer schmerzhaften Arlösen. Und zwar von innen: Als erstes<br />
throse in der rechten Schulter. Und seine fressen sich Darmbakterien durch den<br />
Arterien in den Beinen waren verkalkt: toten Körper. Dann stossen auch Bakte-<br />
Nes-Schu hatte Arteriosklerose.<br />
rien von <strong>aus</strong>sen hinzu. Angelockt vom<br />
Normalerweise ist Nes-Schu im Mu- Verwesungsgeruch helfen bald Insekseum<br />
Yverdon aufgebahrt. Zurzeit aber tenlarven bei der Zersetzungsarbeit. Ge-<br />
liegt er zusammen mit drei weiteren wisse Bedingungen jedoch verhindern<br />
Mumien in einem grossen begehbaren diesen Prozess.<br />
Sarkophag auf <strong>dem</strong> Campus Irchel in Kälte hemmt die Aktivität von Bak-<br />
Zürich. Nes-Schu ist Teil der kleinen, terien und Insekten. Sie büssen ihre Be-<br />
feinen Ausstellung «Mumien: Mensch, weglichkeit ein und vermehren sich<br />
<strong>Medizin</strong>, Magie», die Frank Rühli mit nicht mehr. Bakterien gedeihen auch<br />
seinem Team gestaltet hat.<br />
schlecht, wenn es sehr trocken ist. Das<br />
Das alte Ägypten hat den umtriebi- heisst, wo es sehr kalt, sehr trocken oder<br />
gen Wissenschaftler schon von klein auf gar beides ist, können sich tote Körper<br />
fasziniert. Doch weil er mit Sprachen konservieren und Jahrhunderte oder<br />
wenig anfangen konnte, schreckte er vor gar Jahrt<strong>aus</strong>ende überdauern. Gerbstof-<br />
einem Studium der Ägyptologie zurück: fe und Huminsäure, aber auch Salz ha-<br />
«Ich hätte mich wohl zu sehr mit Hieroben denselben Effekt. Deshalb gibt es<br />
glyphen herumschlagen müssen.» Statt- neben Eis- und Trockenmumien auch<br />
dessen studierte er <strong>Medizin</strong>. In der Mu- Salzmumien und Moorleichen.<br />
mienforschung kann der 39-Jährige «Für unsere Forschung sind natürli-<br />
beide Leidenschaften vereinen. che Mumien wie beispielsweise Ötzi oft <br />
<br />
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Wissen<br />
Fotos: Varioimages, Siemens AG/J.Winzeck, Matthias Jurt, Universität Zürich/ZEM<br />
«Für unsere Forschung sind natürliche Mumien<br />
oft wertvoller als die künstlichen.»<br />
wertvoller als die künstlichen», sagt Frank<br />
Rühli. Bei letzteren sei vor allem die genetische<br />
Diagnostik schwieriger: «Die Einbalsamierungssubstanzen,<br />
welche die alten<br />
Ägypter verwendeten, machen uns zu<br />
schaffen.» An seinem erst vor einem Jahr<br />
gegründeten <strong>Zentrum</strong> <strong>für</strong> evolutionäre<br />
<strong>Medizin</strong> am Anatomischen Institut der<br />
Universität Zürich spüren Wissenschaftler<br />
den Leiden und Gebrechen längst Verstorbener<br />
nach, um Erkenntnisse über die<br />
Entwicklung von Krankheiten zu gewinnen.<br />
Die Mumien werden mit modernsten<br />
Verfahren <strong>aus</strong> der <strong>Medizin</strong>, der Physik,<br />
der Genetik und der Chemie<br />
untersucht. Anders als früher müssen<br />
da<strong>für</strong> die altägyptischen Mumien nicht<br />
mehr <strong>aus</strong> ihren Bandagen <strong>aus</strong>gewickelt<br />
und zerstört werden.<br />
Keine andere Kultur hat mehr Mumien<br />
hervorgebracht als das alte Ägypten. Zwischen<br />
2500 vor Christus bis in die griechisch-römische<br />
Zeit um etwa 400 nach<br />
Christus war das Mumifizieren von Toten<br />
ein lukratives Gewerbe. Wie in vielen an-<br />
32 Schweizer Familie 44/2011<br />
Frank Rühli, Mumienforscher<br />
deren Kulturen glaubten auch die Menschen<br />
im alten Ägypten an eine unsterbliche<br />
Seele. Beim Tod löst sie sich <strong>aus</strong> der<br />
sterblichen Hülle. Doch nicht <strong>für</strong> immer:<br />
Der Leib bleibt ihre Heimat. Zerfällt der<br />
Körper, verirrt sich die Seele und<br />
verlöscht.<br />
Um den künstlichen Mumifizierungsprozess<br />
besser zu verstehen, haben Frank<br />
Rühli und sein Team das Bein einer Frau,<br />
die ihren Körper der Wissenschaft zur<br />
Verfügung stellte, nach altägyptischen<br />
Vorgaben 70 Tage in ein Salzgemisch eingelegt<br />
und dann alles, was passierte, mit<br />
denselben Technologien festgehalten, mit<br />
denen sie normalerweise Mumien untersuchen:<br />
«Dadurch haben wir wichtige Er-<br />
Die Moormumie<br />
Der «Mann von Tollund» gehört zu den<br />
besterhaltenen Moorleichen der Welt.<br />
Man vermutet, dass er vor über 2000<br />
Jahren erhängt wurde. Er liegt in<br />
einem Museum im dänischen Silkeborg.<br />
Huminsäuren und Gerbstoffe<br />
konservierten seinen Körper.<br />
kenntnisse gewonnen. Nun können wir<br />
die Bilder, die uns radiologische Verfahren,<br />
wie beispielsweise die Magnetresonanz-Tomografie,<br />
von den altägyptischen<br />
Mumien liefern, besser interpretieren.»<br />
Mumien geben Antworten<br />
Mumien <strong>aus</strong> aller Welt, ob natürliche oder<br />
künstliche, haben schon einiges dazu beigetragen,<br />
die Entwicklung und Ausbreitung<br />
von Krankheiten über die Jahrhunderte<br />
oder gar Jahrt<strong>aus</strong>ende besser zu<br />
verstehen. Der englische Bakteriologe<br />
Marc Armand Ruffer, ein Pionier der evolutionären<br />
<strong>Medizin</strong>, fand bereits vor über<br />
100 Jahren Spuren der Tuberkulose in altägyptischen<br />
Mumien. Später wies man<br />
«Die Einbalsamierungssubstanzen,<br />
welche die alten Ägypter verwendeten,<br />
machen uns zu schaffen.» Frank Rühli<br />
Die Hockermumie<br />
In Peru hat man bis heute T<strong>aus</strong>ende<br />
von sitzenden Mumien gefunden.<br />
Diese peruanische Hockermumie<br />
war ein Jüngling. Er starb ca. 1200 n.<br />
Chr. Seine inneren Organe fehlen, wie<br />
die Untersuchung im Magnetresonanztomograf<br />
enthüllte.<br />
Tuberkulosebakterien auch in Mumien<br />
<strong>aus</strong> Chile und Peru nach, die <strong>aus</strong> den Zeiten<br />
vor Kolumbus’ Entdeckungsreisen<br />
stammen. Damit war die These widerlegt,<br />
dass die europäischen Eroberer die Tuberkulose<br />
in die Neue Welt eingeschleppt<br />
hätten. Mittlerweile ist die Wissenschaft<br />
noch einen Schritt weiter und kann sogar<br />
die DNA von Tuberkuloseerregern <strong>aus</strong><br />
Mumien entschlüsseln.<br />
Auch der Virus der Spanischen Gruppe,<br />
die zwischen 1918 und 1920 weltweit mindestens<br />
25 Millionen Todesopfer forderte,<br />
wurde letztlich dank – recht jungen – Eismumien<br />
<strong>aus</strong> Alaska und Island entlarvt.<br />
Vergleiche mit den Genomen von Grippe-<br />
Erregern <strong>aus</strong> heutigen Generationen zeigen,<br />
wie sich die Viren verändert haben.<br />
«Das kann langfristig helfen, bei modernen<br />
Epi<strong>dem</strong>ien geeignete Therapiestrategien zu<br />
entwickeln», ist Frank Rühli überzeugt.<br />
Mumien verraten nicht nur viel über<br />
Infektionskrankheiten, sondern auch über<br />
die degenerativen Veränderungen, die ein<br />
Mensch im Lauf seines Lebens erfährt.<br />
Fast jede zweite Mumie, die er untersuchte,<br />
sagt Frank Rühli, hatte, wie der altägyptische<br />
Priester Nes-Schu, Arteriosklerose.<br />
Gefässverkalkungen sind also mitnichten<br />
eine moderne Zivilisationskrankheit, wie<br />
immer behauptet wird. Auch Ötzi, der<br />
wohl weder zu fett gegessen noch sich zu<br />
wenig bewegt hat, litt darunter.<br />
Salz in den Taschen<br />
Frank Rühli ist p<strong>aus</strong>enlos unterwegs. «Oft<br />
kommen die Mumien nicht zu uns, sondern<br />
wir gehen zu ihnen.» So fliegt der<br />
Arzt und Mumienforscher zurzeit des öfteren<br />
in den Iran. Vor 2500 Jahren stürzte<br />
in der Provinz Zanjan ein Salzbergwerk<br />
ein. Wie viele Arbeiter bei <strong>dem</strong> Unglück<br />
verschüttet wurden, ist nicht überliefert.<br />
«Erstmals tauchte in den Neunzigerjahren<br />
des letzten Jahrhunderts ein Bein und ein<br />
Kopf auf», erzählt Rühli. Seit 2007 ist ein<br />
internationales Forscherteam – das der<br />
Schweizer mit leitet – mit Ausgrabungen<br />
beschäftigt. «Bisher hat man sechs Mumien<br />
gefunden. Alles Männer im Alter<br />
zwischen 15 und 30.» Zwei von ihnen seien<br />
perfekt erhalten: «Sie tragen sogar<br />
noch Taschen mit Salz auf <strong>dem</strong> Rücken.»<br />
Frank Rühli ist überzeugt, dass ihm die<br />
Salzmumien von Zanjan viel erzählen<br />
werden. «Wir wollen beispielsweise her<strong>aus</strong>finden,<br />
ob die Männer Laktose vertragen<br />
haben.» In manchen Gebieten der<br />
Welt, beispielsweise im Norden Europas,<br />
können die meisten Erwachsenen Laktose,<br />
also Milchzucker, problemlos verdauen.<br />
In Asien aber verträgt ein Grossteil der<br />
erwachsenen Bevölkerung keine Kuh-<br />
Schweizer Familie 44/2011<br />
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33
Wissen<br />
DER FLUCH DES PHARAOS<br />
Was ist dran am Fluch des Pharaos?<br />
Nach<strong>dem</strong> der Brite Howard Carter<br />
1922 das Grab des Pharaos Tutanchamun<br />
entdeckte, gab es bald Gerüchte<br />
über ungewöhnliche Todesfälle<br />
unter den Menschen, die mit der<br />
Mumie in Kontakt gekommen waren.<br />
Selbst Carters Kanarienvogel soll auf<br />
seltsame Weise gestorben sein. Heute<br />
ist klar: alles nur Erfindungen der<br />
Sensationspresse.<br />
Zwar lassen sich ansteckende Krankheiten,<br />
wie Tuberkulose oder Malaria,<br />
in Mumien nachweisen. Doch die<br />
Krankheiten selbst sind nicht mehr<br />
aktiv. Auch sie geben keinen Grund,<br />
von einem «Fluch des Pharaos» zu<br />
reden. Allenfalls kann Schimmelpilz<br />
in den Gruftgewölben die Gesundheit<br />
gefährden.<br />
milch: «Die evolutionäre Entwicklung und<br />
Bedeutung der Milchverträglichkeit wird<br />
bis heute diskutiert.»<br />
Menschen, die liebten und lachten<br />
Obwohl schon Dutzende von Mumien<br />
durch Rühlis Hände gingen, hat er noch nie<br />
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(K)LEBENSKRISE?<br />
Wir kleben Qualität.<br />
Die Einbalsamierung von Tutanchamun.<br />
eine künstliche Mumie <strong>aus</strong>gewickelt: «Das<br />
macht man seit Jahrzehnten nicht mehr.»<br />
Allerdings werde an seinem <strong>Zentrum</strong> zurzeit<br />
darüber nachgedacht, einmal eine altägyptische<br />
Mumie <strong>aus</strong>zuwickeln: «Das<br />
blosse Auge liefert manchmal die besseren<br />
Befunde als jeder Computertomograf.»<br />
Frank Rühli ist sich bewusst, was dies<br />
nach <strong>dem</strong> Glauben des längst Verstorbenen<br />
bedeutet: Dessen unsterbliche Seele<br />
würde verlöschen. Und so schwingt<br />
manchmal auch Nachdenklichkeit in<br />
Rühlis Stimme mit: «Mumien waren Menschen.<br />
Sie haben geliebt, gelacht und gelitten<br />
– und auch Jahrt<strong>aus</strong>ende nach<br />
ihrem Tod einen pietätvollen Umgang<br />
verdient.»<br />
MUMIEN: MENSCH, MEDIZIN, MAGIE<br />
Die Ausstellung der Universität Zürich,<br />
Standort Irchel, Winterthurerstrasse 190,<br />
ist noch bis am 8. Januar geöffnet. Der<br />
Ausstellungsführer kostet 5 Fr.<br />
044 635 35 02 www.mumien<strong>aus</strong>stellung.ch<br />
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