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Nachrichten aus dem Totenreich - Zentrum für Evolutionäre Medizin

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Wissen<br />

Fotos: Varioimages, Siemens AG/J.Winzeck, Matthias Jurt, Universität Zürich/ZEM<br />

«Für unsere Forschung sind natürliche Mumien<br />

oft wertvoller als die künstlichen.»<br />

wertvoller als die künstlichen», sagt Frank<br />

Rühli. Bei letzteren sei vor allem die genetische<br />

Diagnostik schwieriger: «Die Einbalsamierungssubstanzen,<br />

welche die alten<br />

Ägypter verwendeten, machen uns zu<br />

schaffen.» An seinem erst vor einem Jahr<br />

gegründeten <strong>Zentrum</strong> <strong>für</strong> evolutionäre<br />

<strong>Medizin</strong> am Anatomischen Institut der<br />

Universität Zürich spüren Wissenschaftler<br />

den Leiden und Gebrechen längst Verstorbener<br />

nach, um Erkenntnisse über die<br />

Entwicklung von Krankheiten zu gewinnen.<br />

Die Mumien werden mit modernsten<br />

Verfahren <strong>aus</strong> der <strong>Medizin</strong>, der Physik,<br />

der Genetik und der Chemie<br />

untersucht. Anders als früher müssen<br />

da<strong>für</strong> die altägyptischen Mumien nicht<br />

mehr <strong>aus</strong> ihren Bandagen <strong>aus</strong>gewickelt<br />

und zerstört werden.<br />

Keine andere Kultur hat mehr Mumien<br />

hervorgebracht als das alte Ägypten. Zwischen<br />

2500 vor Christus bis in die griechisch-römische<br />

Zeit um etwa 400 nach<br />

Christus war das Mumifizieren von Toten<br />

ein lukratives Gewerbe. Wie in vielen an-<br />

32 Schweizer Familie 44/2011<br />

Frank Rühli, Mumienforscher<br />

deren Kulturen glaubten auch die Menschen<br />

im alten Ägypten an eine unsterbliche<br />

Seele. Beim Tod löst sie sich <strong>aus</strong> der<br />

sterblichen Hülle. Doch nicht <strong>für</strong> immer:<br />

Der Leib bleibt ihre Heimat. Zerfällt der<br />

Körper, verirrt sich die Seele und<br />

verlöscht.<br />

Um den künstlichen Mumifizierungsprozess<br />

besser zu verstehen, haben Frank<br />

Rühli und sein Team das Bein einer Frau,<br />

die ihren Körper der Wissenschaft zur<br />

Verfügung stellte, nach altägyptischen<br />

Vorgaben 70 Tage in ein Salzgemisch eingelegt<br />

und dann alles, was passierte, mit<br />

denselben Technologien festgehalten, mit<br />

denen sie normalerweise Mumien untersuchen:<br />

«Dadurch haben wir wichtige Er-<br />

Die Moormumie<br />

Der «Mann von Tollund» gehört zu den<br />

besterhaltenen Moorleichen der Welt.<br />

Man vermutet, dass er vor über 2000<br />

Jahren erhängt wurde. Er liegt in<br />

einem Museum im dänischen Silkeborg.<br />

Huminsäuren und Gerbstoffe<br />

konservierten seinen Körper.<br />

kenntnisse gewonnen. Nun können wir<br />

die Bilder, die uns radiologische Verfahren,<br />

wie beispielsweise die Magnetresonanz-Tomografie,<br />

von den altägyptischen<br />

Mumien liefern, besser interpretieren.»<br />

Mumien geben Antworten<br />

Mumien <strong>aus</strong> aller Welt, ob natürliche oder<br />

künstliche, haben schon einiges dazu beigetragen,<br />

die Entwicklung und Ausbreitung<br />

von Krankheiten über die Jahrhunderte<br />

oder gar Jahrt<strong>aus</strong>ende besser zu<br />

verstehen. Der englische Bakteriologe<br />

Marc Armand Ruffer, ein Pionier der evolutionären<br />

<strong>Medizin</strong>, fand bereits vor über<br />

100 Jahren Spuren der Tuberkulose in altägyptischen<br />

Mumien. Später wies man<br />

«Die Einbalsamierungssubstanzen,<br />

welche die alten Ägypter verwendeten,<br />

machen uns zu schaffen.» Frank Rühli<br />

Die Hockermumie<br />

In Peru hat man bis heute T<strong>aus</strong>ende<br />

von sitzenden Mumien gefunden.<br />

Diese peruanische Hockermumie<br />

war ein Jüngling. Er starb ca. 1200 n.<br />

Chr. Seine inneren Organe fehlen, wie<br />

die Untersuchung im Magnetresonanztomograf<br />

enthüllte.<br />

Tuberkulosebakterien auch in Mumien<br />

<strong>aus</strong> Chile und Peru nach, die <strong>aus</strong> den Zeiten<br />

vor Kolumbus’ Entdeckungsreisen<br />

stammen. Damit war die These widerlegt,<br />

dass die europäischen Eroberer die Tuberkulose<br />

in die Neue Welt eingeschleppt<br />

hätten. Mittlerweile ist die Wissenschaft<br />

noch einen Schritt weiter und kann sogar<br />

die DNA von Tuberkuloseerregern <strong>aus</strong><br />

Mumien entschlüsseln.<br />

Auch der Virus der Spanischen Gruppe,<br />

die zwischen 1918 und 1920 weltweit mindestens<br />

25 Millionen Todesopfer forderte,<br />

wurde letztlich dank – recht jungen – Eismumien<br />

<strong>aus</strong> Alaska und Island entlarvt.<br />

Vergleiche mit den Genomen von Grippe-<br />

Erregern <strong>aus</strong> heutigen Generationen zeigen,<br />

wie sich die Viren verändert haben.<br />

«Das kann langfristig helfen, bei modernen<br />

Epi<strong>dem</strong>ien geeignete Therapiestrategien zu<br />

entwickeln», ist Frank Rühli überzeugt.<br />

Mumien verraten nicht nur viel über<br />

Infektionskrankheiten, sondern auch über<br />

die degenerativen Veränderungen, die ein<br />

Mensch im Lauf seines Lebens erfährt.<br />

Fast jede zweite Mumie, die er untersuchte,<br />

sagt Frank Rühli, hatte, wie der altägyptische<br />

Priester Nes-Schu, Arteriosklerose.<br />

Gefässverkalkungen sind also mitnichten<br />

eine moderne Zivilisationskrankheit, wie<br />

immer behauptet wird. Auch Ötzi, der<br />

wohl weder zu fett gegessen noch sich zu<br />

wenig bewegt hat, litt darunter.<br />

Salz in den Taschen<br />

Frank Rühli ist p<strong>aus</strong>enlos unterwegs. «Oft<br />

kommen die Mumien nicht zu uns, sondern<br />

wir gehen zu ihnen.» So fliegt der<br />

Arzt und Mumienforscher zurzeit des öfteren<br />

in den Iran. Vor 2500 Jahren stürzte<br />

in der Provinz Zanjan ein Salzbergwerk<br />

ein. Wie viele Arbeiter bei <strong>dem</strong> Unglück<br />

verschüttet wurden, ist nicht überliefert.<br />

«Erstmals tauchte in den Neunzigerjahren<br />

des letzten Jahrhunderts ein Bein und ein<br />

Kopf auf», erzählt Rühli. Seit 2007 ist ein<br />

internationales Forscherteam – das der<br />

Schweizer mit leitet – mit Ausgrabungen<br />

beschäftigt. «Bisher hat man sechs Mumien<br />

gefunden. Alles Männer im Alter<br />

zwischen 15 und 30.» Zwei von ihnen seien<br />

perfekt erhalten: «Sie tragen sogar<br />

noch Taschen mit Salz auf <strong>dem</strong> Rücken.»<br />

Frank Rühli ist überzeugt, dass ihm die<br />

Salzmumien von Zanjan viel erzählen<br />

werden. «Wir wollen beispielsweise her<strong>aus</strong>finden,<br />

ob die Männer Laktose vertragen<br />

haben.» In manchen Gebieten der<br />

Welt, beispielsweise im Norden Europas,<br />

können die meisten Erwachsenen Laktose,<br />

also Milchzucker, problemlos verdauen.<br />

In Asien aber verträgt ein Grossteil der<br />

erwachsenen Bevölkerung keine Kuh-<br />

Schweizer Familie 44/2011<br />

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