29.10.2013 Aufrufe

Blutige Mode - Schule für Sozialbegleitung

Blutige Mode - Schule für Sozialbegleitung

Blutige Mode - Schule für Sozialbegleitung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

B utige <strong>Mode</strong>?<br />

<strong>Sozialbegleitung</strong> von Jugendlichen<br />

mit selbstverletzendem Verhalten<br />

Abschlussarbeit<br />

Edith Rosenberg Yefet<br />

<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong> Zürich<br />

Ausbildungsklasse 2006/ A 2006-2009


Edith Rosenberg Yefet<br />

<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong> Zürich<br />

Klasse: 2006/A<br />

Begleitung: Hildegrad Ast Hoffmann<br />

Psychologin lic. phil. I / Psychotherapeutin SBAP<br />

Datum: Januar 2009<br />

<strong>Blutige</strong> <strong>Mode</strong>?<br />

<strong>Sozialbegleitung</strong> von Jugendlichen mit selbstverletzendem Verhalten<br />

Stichworte zum Inhalt<br />

Einleitung und Ziele<br />

Pubertät / Adoleszenz<br />

Theorien über Selbstverletzendes Verhalten<br />

Erklärungsansätze des Selbstverletzenden Verhaltens<br />

Begleitung / Beratung Selbstverletzender Jugendliche<br />

Eigene Erkenntnisse und ein Interview Leitenfaden<br />

Zusammenfassung des Inhalts<br />

Dem Leser / der Leserin wird gezeigt, dass Selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen aus<br />

verschieden Gründen auftreten kann. Es wird erläutert, dass die Adoleszenz bzw. Pubertät eine<br />

bedeutende Rolle bei der Entwicklung vom Kind ins Erwachsenalter hat. Das viele Aspekte wie<br />

z.B. traumatische Erlebnisse, Familienverhältnisse und das Umfeld, Einfluss nehmen, ist ein<br />

Grund warum sich Jugendliche selbstverletzten bzw. ritzen. Durch die Fallbeispiele kann man<br />

die Wichtigkeit der individuellen Begleitung der Jugendlichen nachvollziehen. Zum Abschluss<br />

habe ich einen Leitfaden entwickelt, der es mit ermöglicht eine gezielte Gesprächsführung mit<br />

Jugendlichen zu gestalten. Diese Gespräche sind wichtig, damit falls nötig, eine sinnvolle<br />

Triage an Therapeuten eingeleitet werden kann.


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

Inhaltsverzeichnis<br />

1 Einleitung ............................................................................................................................................ 2<br />

1.1 Ziel meiner Arbeit ......................................................................................................................... 2<br />

1.2 Aufbau meiner Arbeit.................................................................................................................... 3<br />

1.3 Institution und Tätigkeit................................................................................................................. 3<br />

2 Jugend - Adoleszenz - Pubertät........................................................................................................ 4<br />

2.1 Wachstumsprozesse und hormonelle Veränderungen ................................................................ 5<br />

2.2 Kognitive Veränderungen im Jugendalter .................................................................................... 7<br />

2.3 Selbstkonzept und Identität .......................................................................................................... 8<br />

2.4 Zwischenfazit.............................................................................................................................. 10<br />

3 Selbstverletzendes Verhalten ......................................................................................................... 11<br />

3.1 Formen der Selbstverletzung ..................................................................................................... 11<br />

3.2 Akzeptierte Formen der Selbstverletzung .................................................................................. 12<br />

3.3 Krankhafte Formen von Selbstverletzung .................................................................................. 13<br />

3.3.1 Offene Selbstverletzungen ................................................................................................. 13<br />

3.3.2 Das Borderline-Syndrom .................................................................................................... 13<br />

4 Theorien von selbstverletzendem Verhalten................................................................................. 14<br />

4.1 Biologische Ursachen................................................................................................................. 15<br />

4.2 Entwicklungspsychologische Ursachen ..................................................................................... 16<br />

4.3 Lerntheoretische Erklärungsansätze.......................................................................................... 16<br />

4.4 Psychoanalytische Theorien....................................................................................................... 17<br />

4.5 Funktionen der Selbstverletzung................................................................................................ 18<br />

4.5.1 Gefühle vor der Selbstverletzung ....................................................................................... 19<br />

4.5.2 Gefühle während der Selbstverletzung .............................................................................. 19<br />

4.5.3 Gefühle nach der Selbstverletzung .................................................................................... 20<br />

4.6 Selbst<strong>für</strong>sorglicher Umgang mit dem Körper ............................................................................. 20<br />

5 Jugendgruppen (Peergroups) in Verbindung mit Selbstverletzenden Verhalten (Ritzen) ....... 21<br />

5.1 Kennzeichen von Peergroups .................................................................................................... 21<br />

5.2 Funktionen von Peergroups ....................................................................................................... 22<br />

6 Fallbeispiele aus meiner Arbeit ...................................................................................................... 23<br />

7 Auswertung der Arbeit..................................................................................................................... 25<br />

8 Persönliche Erkenntnisse................................................................................................................ 27<br />

Literaturverzeichnis ................................................................................................................................. 28<br />

Gedicht eines Jugendlichen ................................................................................................................... 30<br />

Leitfaden <strong>für</strong> ein Interview mit Jugendlichen mit SVV ............................................................................ 31<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

1


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

1 Einleitung<br />

Diese Arbeit schreibe ich <strong>für</strong> mich und alle Menschen, die am Thema ‚Selbstverletzendes<br />

Verhalten’ bei Jugendlichen interessiert sind.<br />

Bei meiner Tätigkeit als Jugendarbeiterin bin ich öfters mit ritzenden und selbstverletzenden<br />

Jugendlichen konfrontiert worden. Ich habe mit ihnen das Gespräch gesucht, was mir aber nicht<br />

immer gelang. Trotzdem habe ich gemerkt, dass jeder ritzende oder selbstverletzende<br />

Jugendliche ganz anders mit diesem Thema und seinen Wunden umgeht. Auch die Charaktere<br />

dieser Jugendlichen sind extrem verschieden.<br />

Fragen nach Grund und Ursachen dieses Verhaltens stellte ich mir und ihnen oft. Die<br />

Betroffenen konnten oder wollten diese Verhaltenweise nicht erklären. Auch ich konnte keine<br />

nachvollziehbaren Erklärungen finden und habe es bei diesen Gesprächen belassen. Erst als<br />

Eltern eines ritzenden Jugendlichen mich um Rat fragten, spürte ich, dass ich überfordert war<br />

und ohne vertiefte Kenntnisse nicht agieren konnte. Ich habe gemerkt, dass mein Wissen über<br />

selbstverletzendes Verhalten sehr gering war. Aufgrund dieses Erlebnisses habe ich<br />

entschieden, die Herausforderung ‚Abschlussarbeit’ <strong>für</strong> die <strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong> als<br />

Chance zu nutzen und meine Arbeit über Adoleszenz und Selbstverletzendes Verhalten zu<br />

schreiben.<br />

1.1 Ziel meiner Arbeit<br />

Das Ziel meiner Arbeit ist es herauszufinden wieso sich Jugendliche in der Adoleszenz selbst<br />

verletzen d.h. meistens ritzen. Welche Gefühle stehen im Vordergrund dieser Handlungsweise<br />

und wie können die Ursachen in Zusammenhang gebracht werden?<br />

Auf Grund meiner Fallbeispiele versuche ich aufzuzeigen, mit welchem Wissen die Situation<br />

und ihr Schwierigkeitsgrad beurteilt werden kann. Dieses Wissen ist die Voraussetzung um<br />

selbstverletzende Jugendliche unterstützend begleiten zu können und wo nötig, die richtigen<br />

therapeutischen Massnahmen einzuleiten.<br />

Aus der Einleitung und der Problematik haben sich folgende Fragen <strong>für</strong> mich ergeben:<br />

• Welche Veränderungen finden in der Pubertät statt?<br />

• Warum ritzen sich Jugendliche vermehrt?<br />

• Welche Ursachen können identifiziert werden?<br />

• Wie fühlen sich die pubertierenden Jugendlichen dabei?<br />

• Welche Funktionen hat das Ritzen bei Jugendlichen?<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

2


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

1.2 Aufbau meiner Arbeit<br />

Ich beschäftigte mich am Anfang mit der Auseinandersetzung von Jugend, Pubertät und<br />

Adoleszenz in Bezug auf selbstdestruktives Verhalten. Ich möchte hervorheben welche<br />

Definitionen sich hinter diesen Begriffen verbergen und welche Veränderung diese<br />

Lebensphase mit sich bringt.<br />

So ist beispielsweise zwischen gesellschaftlich akzeptierten, offenen und versteckten,<br />

krankhaften Formen der Selbstverletzung zu unterscheiden. Ich mache einen Exkurs auf das<br />

Borderline-Syndrom, welches ebenfalls Selbstverletzende Verhaltensweisen im Krankheitsbild<br />

aufweist, jedoch gehe ich nicht vertieft darauf ein, da die Borderline-Erkrankung erst im<br />

Erwachsenenalter diagnostiziert wird und ich meinen Schwerpunkt bei der Jugendarbeit<br />

ansetze. Weiter werde ich mich mit der Theorie des selbstverletzenden Verhaltens befassen<br />

und kritisch betrachten.<br />

Danach gehe ich auf die Peergroups ein und lege dabei den Schwerpunkt auf<br />

selbstverletzende Rituale. Um das Ganze veranschaulichen zu können werde ich an dieser<br />

Stelle einige Fallbeispiele näher betrachten und auf Grund dieser meine Erkenntnisse erklären.<br />

Abschließend werde ich meine Erkenntnisse in einem persönlichen Fazit zusammenfassen.<br />

1.3 Institution und Tätigkeit<br />

Seit drei Jahren arbeite ich in der offenen Jugendarbeit der Gemeinde Wald. Bis vor kurzem<br />

bestand die Jugendarbeit in erster Linie aus dem Betrieb eines Jugendtreffs, dieser wurde vor<br />

einem Jahr geschlossen. Vor zwei Jahren eröffneten wir parallel ein Jugendbüro mitten im Dorf.<br />

Diese neue Form der Jugendarbeit ist den aktuellen Bedürfnissen der Jugendlichen<br />

angepasst.<br />

Was ist ein Jugendbüro?<br />

Unser Jugendbüro ist eine offizielle Beratungsstelle der Gemeinde Wald. Jugendliche von 12 –<br />

18 Jahren können unsere Infrastruktur wie Computer, Internet, Farbdrucker usw. kostenlos<br />

benutzen. Sie können mit uns über aktuelle Geschehnisse und Probleme sprechen. Wir bieten<br />

ihnen fachliche Unterstützung bei der Lehrstellensuche so wie bei persönlichen Anliegen, wie<br />

z.B. Selbstverletzung an. Weiter sind wir ein Ort an dem die Jugendlichen ihre Ideen <strong>für</strong><br />

Projekte einbringen und verwirklichen können. Wir arbeiten beratend, begleitend und<br />

animatorisch.<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

3


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

Was tue ich im Jugendbüro?<br />

Hauptsächlich bin ich <strong>für</strong> die Jugendlichen da. Ich berate und begleite sie ein Stück auf ihrem<br />

Lebensweg. Nebst dem Beraten und Animieren, haben wir viel Spaß zusammen und die<br />

Jugendlichen sehen in mir eine Vertrauensperson. Ich nehme die Aufgabe als Jugendarbeiterin<br />

sehr ernst, denn <strong>für</strong> viele Jugendliche bin ich die einzige, erwachsene Ansprechperson in ihrer<br />

Freizeit, der sie ihre persönlichen Probleme z.B. Selbstverletzendes Verhalten anvertrauen.<br />

2 Jugend - Adoleszenz - Pubertät<br />

Die Literatur weist nicht immer ausdrücklich darauf hin, dass die Begriffe Adoleszenz und<br />

Pubertät nicht synonym zu verwenden sind.<br />

Aus medizinischer Sicht, wo das Interesse vermehrt in den körperlichen Veränderungen liegt,<br />

spricht man eher von der Pubertät. Soziologen achten eher auf gesellschaftliche und soziale<br />

Veränderungen. Sie verwenden den Begriff Adoleszenz.<br />

Eine weit gefasste Beschreibung von Jugend bezeichnet man als Übergang von der Kindheit<br />

zum Erwachsenenalter.<br />

Der Soziologe Bernhard Schäfer (vgl. 1998, S.21) zeigt auf, unter welchen Aspekten die Jugend<br />

gesehen werden kann:<br />

• Jugend als eine Alterspanne im Lebenszyklus (ab dem 13. Lebensjahr mit Einsetzen<br />

der Pubertät)<br />

• Jugend als Altersgruppe der ca. 13- 25 Jährigen<br />

• Jugend nicht nur biologisch bestimmt, sondern auch als soziale und kulturelle<br />

Lebensform<br />

• Jugend als eine eigenen Subkultur<br />

• Jugend als Idealwert (z.B. jugendliches Aussehen)<br />

Aufgrund der immer länger werdenden Ausbildungszeiten von Jugendlichen, wird es schwierig,<br />

das Ende der Jugendphase bzw. Adoleszenz zu beschreiben. Es ist deshalb sinnvoll, folgende<br />

Unterscheidungen zu treffen (vgl. Schäfer/Scherr 2005, S.24).<br />

• die pubertierende Phase (ca.12-17 Jahre): Jugendliche im engeren Sinn<br />

• der nachpubertierenden Phase (ca. 18-21 Jahre): Heranwachsende<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

4


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

• der Phase nach Erreichen der vollen Rechtsmündigkeit bis Abschluss der<br />

Erstausbildung (21 Jahre bis ca. Ende des zweiten Lebensjahrzehnts): Junge<br />

Erwachsene<br />

„Jugend ist eine gesellschaftlich institutionalisierte, interne differenzierte Lebensphase, deren<br />

Verlauf, Ausdehnung und Ausprägung wesentlich durch soziale Bedingungen und Einflüsse<br />

(sozioökonomische Lebensbedingungen, Strukturen des Bildungssystems, rechtliche Vorgaben,<br />

Normen und Erwartungen) bestimmt sind. Jugend ist keine homogene Sozialgruppe, sondern<br />

umfasst unterschiedliche Jugenden“ (Schäfer/Scherr 2005, S. 23).<br />

Die Pubertät 1 , als Beginn des Jugendalters, ist jene Übergangszeit zwischen Kindheit und<br />

Erwachsen sein. In der Pubertät, also jener Zeitraum, in der sich der Körper biologisch und<br />

hormonell verändert, entwickelt sich die sexuelle Reifung eines Menschen (vgl. Mietzel 1995, S.<br />

233).<br />

2.1 Wachstumsprozesse und hormonelle Veränderungen<br />

Die Wachstumsprozesse dieser Lebensphase beschreiben die hormonellen Veränderungen,<br />

die in der Pubertät ihren Höhepunkt erfahren.<br />

Der Anfang der Pubertät wird durch den so genannten puberalen Wachstumsschub angezeigt.<br />

Bei den meisten Mädchen setzt dieser im Alter zwischen 9 und 14 Jahren, bei Buben um ca.<br />

zwei Jahre später, also zwischen 10 und 16 Jahren, ein. Der Wachstumsschub dauert bei<br />

beiden Geschlechtern ungefähr vier Jahre. Die Knaben wachsen um ca. 9.5 cm pro Jahr und<br />

die Mädchen ca. 8 cm. Ausserdem ist anzumerken, dass die Körperteile nicht alle mit gleicher<br />

Geschwindigkeit wachsen. Zuerst wachsen Kopf, Hände und Füsse, danach Brust, Schultern,<br />

hüften und zum Schluss wächst der Rumpf. Die Gesichtsknochen wachsen auch schneller als<br />

die übrigen Schädelknochen, was zur Folge hat, dass das Gesicht länglicher wird. Das<br />

Körpergewicht nimmt nicht nur in der Pubertät zu, sondern auch, in Abhängigkeit von<br />

Ernährung und Bewegung, im Erwachsenenalter. Bis zum Alter von 11 Jahren besitzen beide<br />

Geschlechter die gleiche Muskelkraft, welche sich aber danach bei den Mädchen verschiebt<br />

und sie somit mehr Fettgewebe im Verhältnis zu Muskeln und Knochen aufweisen.<br />

1 lat. „pubertas“ – Mannbarkeit, Geschlechtsreife<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

5


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

Das Gehirn erreicht sein endgültiges Gewicht im Alter von 14 Jahren und der Reifeprozess ist<br />

zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr abgeschlossen (vgl. Oeter/ Dreher 2002, S. 276; Mietzel<br />

1995, S. 235; Fend 2003, S. 102ff).<br />

Die oben beschriebenen Veränderungen werden durch das Zusammenspiel und die<br />

Wirksamkeit von Hormonen ausgelöst. Hormone sind hochspezialisierte Substanzen, die in<br />

endokrinen Drüsen produziert und im Blut durch den ganzen Körper transportiert werden. Jedes<br />

Hormon reguliert ein anderes Organ, bremst oder regt deren Aktivität an. Die Hypophyse 2 und<br />

der Hypothalamus 3 sind die zentralen Steuerungsinstanzen. Hauptsächlich in den Keimdrüsen<br />

werden die geschlechtsspezifischen Hormone, beim Mann im Hoden, bei der Frau in den<br />

Ovarien 4 erzeugt. Die Produktion von Hormonen in der Pubertät ist streng hierarchisch<br />

konstruiert und keineswegs neu, sondern sie erfährt in dieser Lebensphase eine drastische<br />

Steigerung. Der primäre Regelkreis bei der Produktion von Hormonen in der Pubertät ist der so<br />

genannte ‚negative Rückkoppelungsmechanismus’. Dies ist so zu verstehen, dass eine gewisse<br />

Konzentration von Hormonen im Blut sein muss, damit diese wieder reduziert werden. Im<br />

Gegensatz zur Kindheit, wo schon bei geringen Hormonmengen deren Produktion gestoppt<br />

wurde (vgl. Fend 2003 S. 109 ff; Flammer/Alsaker 2002, S. 73 ff.).<br />

Vor der Pubertät produziert der Körper bei beiden Geschlechtern sowohl Testosteron und<br />

Östrogen in gleichem Masse. Im Laufe der Pubertät kommt es allerdings zu erheblichen<br />

Unterschieden zwischen Jungen und Mädchen. Der Testosterongehalt nimmt bei Jungen<br />

stärker zu, während das Estradiol bei Mädchen ‚auf das Achtfache ansteigt’ (vgl.<br />

Flammer/Alsaker 2002, S.74).<br />

Der Prozess der sexuellen Reifung setzt bei Mädchen ca. im Alter von 9 Jahren ein, wenn die<br />

Hormone der Hypophyse auf die Eierstöcke und Nebenniere einwirken. Im Gegensatz zu den<br />

männlichen Testes (die Hoden), produzieren die Eierstöcke zwei Hormone: das Progesteron<br />

und das Östrogen. Die Jungen liegen in ihrer sexuellen Entwicklung ein wenig hinter den<br />

Mädchen. Bei ihnen lösen die gonadotropen Hormone, im Alter von ca. 11 Jahren, ein<br />

Wachstum von Zellen aus, welche die Spermatozoen (die Samenzellen) herstellen. Das<br />

männliche Geschlechtshormon Testosteron das in den Hoden produziert wird, bewirkt<br />

2<br />

Hirnanhangsdrüse mit den Nervenbahnen des Hypotalamus verbunden<br />

3<br />

Wichtiges Koordinationszentrum <strong>für</strong> das autonome Nervensystem<br />

4 Eierstöcke<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

6


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

vorwiegend die sexuelle Entwicklung zum Mann. Die Androgene der Nebennierenrinde, also<br />

auch das Testosteron der Testes, wirken sich in dem starken Wachstumsschub, der während<br />

der Pubertät stattfindet, aus (vgl. Oerter/Dreher 2002, S.280).<br />

2.2 Kognitive Veränderungen im Jugendalter<br />

In diesem Alter entwickelt sich das Denken in verschiedenen Ebenen. Diese<br />

‚Denkveränderungen’, die die Jugendlichen durchmachen, werden meistens von den<br />

Erwachsenen ignoriert.<br />

Diese Veränderungen stellen uns vor Tatsachen, die wir Erwachsenen selbst schwer<br />

nachvollziehen können, obwohl wir diese Lebensphase selbst durchgemacht haben.<br />

Veränderung im Denken bringt auch Veränderung im Verhalten:<br />

• Hypothetisches Denken<br />

Jugendliche können sehr schnell zwischen dem Realen und der Fiktion wechseln. Sie sind<br />

fähig, über die vorhandene Welt nachzudenken bzw. über eine mögliche andere, Die<br />

Anwendung von Hypothesen ist charakteristisch <strong>für</strong> dieses Alter anzusetzen. Somit können<br />

Jugendliche das erste Mal wissenschaftliche Methoden <strong>für</strong> Lösungen von Problemen<br />

verwenden (vgl. Fend 2003, S. 125).<br />

• Abstraktes Denken<br />

Durch Abstraktionen wird das Denken weitgehend von konkreten Illustrationen und Situationen<br />

unabhängiger (vgl. ebd).<br />

• Multidimensionales Denken<br />

Das Denken wird ‚mehrschichtiger’, dass heisst, es werden mehrere verschiedene Aspekte in<br />

den eigenen Denkprozess mit eingearbeitet (vgl. Oerter/Dreher 2002, S.274).<br />

• Dezentrierung des Denkens<br />

Die Jugendlichen erwerben die Fähigkeit, auch aus Sichtwiese eines Anderen die Dinge<br />

betrachten zu können. Der Kinder- und Jugendpsychologe David Elkind war in den 60er-Jahre<br />

der Meinung, dass jugendlicher Egozentrismus das adoleszente Denken mitprägt. Er beschrieb<br />

zwei Formen: das ‚imaginary audience’ und das ‚personal fable’. Ersteres bezieht sich darauf,<br />

dass Jugendliche sich so verhalten und erleben, als würden sie vor einem imaginären Publikum<br />

stehen, während das Zweite davon ausgeht, dass Jugendliche ihre eigenen Gefühle oder<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

7


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

Handlungen als einzigartig und völlig anders als dies bei Anderen ist, sehen. Typisch <strong>für</strong><br />

jugendlichen Egozentrismus sind Aussagen wie: ‚Mir kann eh nichts passieren, ich bin<br />

unverwundbar’ oder ‚alle schauen nur auf mich, ich bin unverwundbar’ (vgl. Fend 2003, S. 126).<br />

• Metakognition<br />

Jugendliche denken über sich selber nach, oder anders ausgedrückt: „(…..)eigene Gedanken<br />

werden zum Gegenstand des Denkens“ (Oeter/Dreher 2002, S. 274). Sie beginnen zwischen<br />

dem Realen, das was sie sind und dem Möglichen, das was sie werden können, genauer zu<br />

unterscheiden (vgl. Fend 2003, S. 127).<br />

2.3 Selbstkonzept und Identität<br />

Es gibt sehr viele Veränderungen in der Adoleszenz, die nicht ohne Auswirkungen auf das<br />

Selbstkonzept und die Identität bleiben. Der Übergang ins Erwachsenenleben, führt manchmal<br />

zu einer Neuorientierung und gleichzeitig auch zu einer Desorientierung. Die pubertäre Reifung<br />

mit ihren körperlichen und hormonellen Veränderungen übt einen Einfluss auf die Identität. Die<br />

Jugendlichen müssen ihr Körperbild auf den reifenden Körper anpassen und sich mit<br />

stereotypischen Geschlechtsrollen auseinandersetzen. Ausserdem erfordert die kognitive<br />

Entwicklung auch eine Umstellung der ‚Selbstrepräsentation’. Jugendliche denken immer<br />

abstrakter, sie beschäftigen sich damit, wer sie sind und wie sie von anderen wahrgenommen<br />

werden (vgl. Flammer/Alsaker 2002, S. 143).<br />

Der Begriff der Identität bezieht sich im allgemeinen Sinn auf die einzigartige Kombination von<br />

persönlichen, unverwechselbaren Daten des Individuums wie Namen, Alter, Geschlecht und<br />

Beruf (Oerter/Dreher 2002, S. 290).<br />

Im psychologischen Sinn ist Identität die einzigartige Persönlichkeitsstruktur, verbunden mit<br />

dem Bild, das Andere von dieser Persönlichkeitsstruktur haben (Oerter/Dreher 2002, S. 291).<br />

Dieses bedeutet, dass die Identität eine Person als einzigartig und unverwechselbar gegenüber<br />

anderen Personen gekennzeichnet ist.<br />

Die Identität ist ein lebenslanger Prozess und er wird durch Kontinuität und Einigkeit mit sich<br />

selbst verstanden. Ausserdem führen Flammer/Alsaker weiter aus, das Identität aus den <strong>für</strong> die<br />

Person wichtigen Selbstdefinitionen besteht. Geraten diese Selbstdefinitionen jedoch in Gefahr,<br />

kann dies zu Verwirrung und einem beschädigten Selbstwert führen (Flammer/Alsaker 2002,<br />

S.157).<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

8


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

Flammer/Alsaker (vgl. 1994.l 2002, S. 160) fassen die wesentlichsten Aussagen die <strong>für</strong> die<br />

Identitätsfindung in der Adoleszenz wichtig sind zusammen und weisen gleichzeitig darauf hin,<br />

dass man nicht sagen kann, dass sich diese Aussagen empirisch bewährt haben:<br />

• Identität baut sich in der gesamten Entwicklung auf und ist in der Adoleszenz besonders<br />

kritisch und auch danach nicht definitiv als gesichert anzusehen.<br />

• Es wird zwischen einer positiven und einer negativen Identität unterschieden. Die<br />

Negative ist in der Zeit <strong>für</strong> die Ablösung von den Eltern besonders wichtig.<br />

• Es wird zwischen einer Ich-Identität und von einer Gruppen-Identität unterschieden.<br />

Während die letztere als Übungsfeld <strong>für</strong> neue Identitäten wichtig ist.<br />

• Die Identitätskrise ist zwar genetisch festgelegt, aber auch stark gesellschaftlich und<br />

historisch geleitet.<br />

• Wenn sich Menschen im eigenen Körper wohl fühlen, wenn sie wissen, wohin sie gehen<br />

wollen und auch anerkennen können, dass sie da<strong>für</strong> Bestätigung von Anderen<br />

bekommen werden, dann ist ein ideales Gefühl der Identität erreicht. „Identität impliziert<br />

ein Gefühl der Einigkeit mit sich selbst und der Kontinuität über die Zeit“<br />

(Flammer/Alsaker 2002, S. 160).<br />

Die erarbeitete Identität ist dadurch gekennzeichnet, dass die/der Jugendliche explorativ 5 einen<br />

festen Standpunkt, Zielstrebigkeit sowie Bestimmtheit übernommen hat und die Identitätskrise<br />

sozusagen schon überwunden hat. Die kritische und die diffuse Identität sind dadurch<br />

gekennzeichnet, dass sich die Jugendlichen keinen klaren Werten verpflichtet fühlen (vgl.<br />

Flammer/Alsaker 2002, S. 161), was im Verhalten und Selbstwert problematische<br />

Auswirkungen haben kann.<br />

Unter dem Selbstkonzept verstehen Flammer/Alsaker (2002, S. 148):<br />

„(…) eine Organisation von hauptsächlich evaluativen Vorstellungen und Überzeugungen, die<br />

eine Person von sich selbst hat. Diese Überzeugungen berühren sowohl individuelle<br />

Charakteristika z.B. physische Merkmale und Handlungen als auch Gefühle und Gedanken<br />

werden in hohem Mass aufgrund von Interaktionen mit anderen Menschen in einem bestimmten<br />

soziokulturellen Kontext gebildet. Sie sind um verschiedene Facetten herum organisiert, die in<br />

Beziehung zueinander stehen. Das Selbstkonzept spielt eine wichtige Rolle bei der Selektion,<br />

Verarbeitung und Interpretation von Information.“<br />

5 Exploratives Verhalten als zentrale Dimension erfolgreicher Lebensbewältigung<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

9


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

Aus dieser Definition ist herauszulesen, dass sich das Selbstkonzept nicht isoliert entwickeln<br />

kann, sondern nur in Abhängigkeit von Interaktionen die in zwischenmenschlichen Beziehungen<br />

stattfinden. Wie sieht also das Selbstkonzept bei Jugendlichen aus? Wie bewerten sie ihr<br />

äußeres Erscheinungsbild? Wie gehen sie mit den Veränderungen in der Pubertät um?<br />

Hierbei können wir auf folgendes zurückgreifen:<br />

Pubertäre Veränderungen wirken sich auf das Selbstkonzept und die Identität der Jugendlichen<br />

aus. Es ist allgemein bekannt, dass Mädchen ein negativeres Körperbild aufweisen als Jungen,<br />

dass Veränderungen in ihren Körpern mit ambivalenten Gefühlen verbunden sind und dann<br />

eine große Unzufriedenheit mit ihrem eigenem Gewicht und Aussehen herrscht. Die Medien,<br />

die die Menschen in Werbung und Filmen als perfekte und wunderschöne Menschen<br />

präsentieren, verstärken diese Gefühle noch. Aus diesem Grund wird auch erklärbar, warum<br />

eher Mädchen an Essstörungen leiden.<br />

2.4 Zwischenfazit<br />

Die Adoleszenz bzw. die Pubertät ist eine schwierige und wilde Phase, da sich die<br />

Jugendlichen mit ihren physischen Veränderungen psychisch auseinandersetzen müssen und<br />

ihre Weltbilder zu integrieren versuchen. Die Pubertät, in der sich der Körper biologisch und<br />

hormonell verändert, dauert bis zu ihrer vollendeten Reifung, ca. 4 Jahre. Während die<br />

Adoleszenz (Jugendalter) ca. ein Lebensjahrzehnt andauert.<br />

Nicht nur die biologischen und hormonellen Veränderungen erfordern eine große<br />

Anpassungsleistung von den Jugendlichen, sondern auch die in dieser Phase neu erworbenen<br />

kognitiven Strategien (Metakognitionen, abstraktes, dezentriertes und multidimensionales<br />

Denken). Die Jugendlichen befinden sich während der Adoleszenz in einer Phase, in der sie<br />

sich von ihrem kindlichen Körper verabschieden müssen und erwachsene Formen annehmen.<br />

Jugendliche, die mit der Umwandlung ihres eigenen Körpers nicht umgehen können, die keine<br />

passenden Bewältigungsstrategien <strong>für</strong> die Lösung der <strong>für</strong> sie geltenden Entwicklungsaufgaben<br />

entwickelt haben, können Störungen entwickeln, die sich manchmal gegen den eigenen Körper<br />

richten können. Depressionen, Essstörungen oder Suizidgedanken sind nur einige<br />

problematische Verhaltensweisen, die in der Adoleszenz auftauchen können.<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

10


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

Die Analyse und die Identifikationen der Veränderungen in der Adoleszenz und Pubertät sind<br />

daher Voraussetzungen, um die Hintergründe sowie das Umfeld zu verstehen, in dem<br />

Selbstverletzendes Verhalten in der Mehrheit der Fälle auftreten kann.<br />

3 Selbstverletzendes Verhalten<br />

Der Begriff der Selbstverletzung ist sehr breit gefächert und es gibt mehrere Erklärungsansätze,<br />

die angeben, welche Handlungen als selbstverletzend angesehen werden. In diesem Kapitel<br />

wird eine Annäherung an den Begriff vorgenommen und verschiedene Formen der<br />

Selbstverletzung beschrieben.<br />

Der Sozialpsychologe Hans Dieter Mummendey (vgl. 2000, S. 53 ff.) versteht unter<br />

Selbstschädigung hauptsächlich Verhaltensweisen, die gegen die eigene Person gerichtet sind.<br />

Er sieht den Begriff der Selbstschädigung unter verschiedenen Perspektiven. Einerseits muss<br />

analysiert werden, welchen Nutzen dieses Verhalten <strong>für</strong> einen selbst hat. Er spricht von einer<br />

‚Nutzen-Kosten-Relation’. Auf der anderen Seite ist auch die Zeitperspektive entscheidend, um<br />

ein Verhalten als selbstschädigend zu deklarieren. Es kommt hierbei immer darauf an, in<br />

welchem Zeitraum man dieses Verhalten betrachtet, denn auf der einen Seite kann es<br />

kurzfristig tatsächlich Vorteile verschaffen, mittelfristig oder langfristig jedoch schädigend sein.<br />

Weiter spricht Mummendey davon, dass die soziale Umwelt eines Menschen mitbestimmt, ob<br />

eine gewisse selbstschädigende Verhaltensweise als ‚normal’ bzw. ‚nicht normal’ eingestuft<br />

wird. Die Grenzen zwischen ‚normal’ und ‚nicht normal (krankhaft)’ verlaufen <strong>für</strong> ihn fließend. In<br />

der Fachliteratur gibt es keine verbindlichen Grenzziehungen.<br />

3.1 Formen der Selbstverletzung<br />

In der Literatur werden verschiedene Formen von Selbstverletzendem Verhalten angegeben.<br />

Klosinski (vgl. 1999, S. 16) unterscheidet zwischen leichten und schweren Formen der<br />

Selbstverletzung. Die leichten Formen sind Verhaltensweisen, wie z.B. sich selbst beißen, die<br />

Haut ritzen, schlagen, blutig kratzen oder sich die Haare ausreißen. Hingegen gehen die<br />

schweren Formen soweit, dass sich die Betroffenen Teile der Lippe oder Zunge abbeißen, mit<br />

dem Kopf gegen die Wand schlagen oder auch tiefe Schnittverletzungen erzeugen.<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

11


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

Diese Aufzählung zeigt eine zusammenfassende Darstellung von verschiedenen<br />

selbstverletzenden Verhaltensweisen auf:<br />

• Stechen<br />

• Kratzen der Haut<br />

• Schneiden<br />

• Verbrennen und Verbrühen<br />

• Exzessives Nägelkauen und Nagelbett reißen<br />

• Ausreißen der Körperbehaarung<br />

• Öffnen von verheilten Wunden und Aufbeißen der Mundschleimhaut<br />

• Geringe aber nicht tödliche Mengen giftiger Substanzen einnehmen<br />

• Blut ablassen<br />

• Sich selbst schlagen von Blutergüssen bis hin zu Knochenbrüchen<br />

• Körperteile abschnüren um die Durchblutung zu verhindern<br />

• Schlucken von metallischen Gegenständen (mehr bei Männern)<br />

3.2 Akzeptierte Formen der Selbstverletzung<br />

Zu den in unserer Gesellschaft akzeptierten Formen der Selbstverletzung gehören, Handlungen<br />

die nicht im direkten Sinne dem eigenen Körper zugefügt werden. Diese Formen der<br />

Selbstverletzung sind meist nicht bewusst und werden selbst nicht als schädigend angesehen.<br />

Dies sind zum Beispiel: das Epilieren bzw. Auszupfen von Härchen, Piercings an Ohren,<br />

Nasen, Lippe, Nabel, Brustwarzen, Augenbrauen, Zunge oder Genitalien, Tätowierungen und<br />

das Kauen an Nägel.<br />

Steven Levenkron (vgl. 2006, S. 22) erachtet Piercings und Tätowierungen an jeglichen<br />

Körperstellen nicht als Selbstverletzung. Er sieht dies als Jugendtrend, unterscheidet aber<br />

grundsätzlich zwischen einem ‚kranken’ und ‚törichten’ Verhalten. Die Verschiedenartigkeit<br />

zwischen diesen beiden Formen, besteht in ihrer unterschiedlichen Motivation. Ob sich eine<br />

Person eine Tätowierung aus modischen Gründen machen lässt, somit die Schmerzen da<strong>für</strong> in<br />

Kauf nimmt und nur sozial akzeptiert werden will, oder ob sich jemand die Tätowierung aus rein<br />

schmerzlicher Motivation stechen lässt, zeigt die Andersartigkeit.<br />

„Eine Person die sich selbst verletzt, befindet sich dagegen meist in einem Trancezustand und<br />

sucht den „Schmerz und das Blut“ (Levenkron 2006, S.22).<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

12


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

3.3 Krankhafte Formen von Selbstverletzung<br />

Im Gegensatz zu den akzeptierten Formen der Selbstverletzung, die von der Gesellschaft meist<br />

sogar erwünscht und anerkannt sind, wie z.B. Härchen zupfen, Tätowieren, Piercen oder eine<br />

Diät machen, gibt es die selbstverletzenden Formen die einen krankhaften Charakter haben.<br />

Klosinski unterscheitet zwischen offenen Selbstverletzungen und artifiziellen Erkrankungen. Ich<br />

werde nur die offenen Selbstverletzungen ansprechen, da die artifiziellen Erkrankungen mich<br />

und meine Begleitfunktionen nicht betreffen.<br />

3.3.1 Offene Selbstverletzungen<br />

Bei der offenen Selbstverletzung wird der Körper so verletzt, dass dies Schädigungen des<br />

Gewebes nach sich zieht, wobei aber kein suizidales Handeln im Vordergrund steht (vgl.<br />

Klosinski 1999, S. 15). Als offene Selbstverletzung gilt sie daher, weil die sich<br />

selbstverletzenden Personen ihr Verhalten offen ausleben und sich bewusst sind, dass sie ihren<br />

Körper schädigen.<br />

3.3.2 Das Borderline-Syndrom<br />

Das Borderline-Syndorm werde ich kurz ansprechen, da auch in diesem Krankheitsbild<br />

selbstverletzende Verhaltensweisen auftauchen. Das Borderline-Syndorm ist in meiner Arbeit<br />

nicht wirklich relevant, weil diese Persönlichkeitsstörung erst im jungen Erwachsenenalter<br />

diagnostiziert wird. Ich möchte aber trotzdem in einem kleinen Exkurs das Borderline-Syndorm<br />

beschreiben, da es bei den Jugendlichen auch oft angesprochen wird.<br />

Borderline-Persönlichkeitsstörung nach DSM IV<br />

„Ein tief greifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild<br />

und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität prägen dieses Störungsbild. Der Beginn<br />

liegt im frühen Erwachsenenalter und manifestiert sich in den verschiedenen Lebensbereichen“<br />

(Ewald Rahn 2001, S.45).<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

13


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein, um von einer psychischen<br />

Erkrankung zu sprechen.<br />

• Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden.<br />

• Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch<br />

einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung<br />

gekennzeichnet ist.<br />

• Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der<br />

Selbstwahrnehmung.<br />

• Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Bereichen<br />

(Geldausgaben, Sexualität, Substanz-Missbrauch, rücksichtsloses Fahren, Fressanfälle<br />

etc.)<br />

• Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen, Selbstmorddrohungen<br />

oder Selbstverletzungsverhalten.<br />

• Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung etwa<br />

hochgradige episodisch Dysporie 6 , Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen<br />

gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern.<br />

• Chronische Gefühle von Leere.<br />

• Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren (z.B.<br />

häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche<br />

Auseinandersetzungen).<br />

• Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere<br />

dissoziative Symptome.<br />

(vgl. Rahn, 2001 S.45 ff.)<br />

4 Theorien von Selbstverletzendem Verhalten<br />

Die wissenschaftliche Literatur gibt unterschiedliche Ursachen an die <strong>für</strong> die selbstverletzenden<br />

Verhaltensweisen verantwortlich gemacht werden können. Ich werde biologische und<br />

entwicklungspsychologische Ursachen erläutern. Lerntheoretische Erklärungsansätze und auch<br />

6 Freudlosigkeit<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

14


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

psychoanalytische Theorien, die ich in den folgenden Abschnitten erkläre werden helfen das<br />

Bild von Selbstverletzendem Verhalten in einem größeren Kontext zu verstehen.<br />

4.1 Biologische Ursachen<br />

In verschiedenen Untersuchungen konnte herausgefunden werden, dass ein erhöhter<br />

Endorphinspiegel 7 im Blut auch zu einer Erhöhung der Schmerzschwelle führt. Das bedeutet,<br />

dass Schmerz fast gar nicht bzw. viel schwächer wahrgenommen wird. Viele Menschen die sich<br />

selbst verletzen berichten auch immer wieder, dass sie während der Selbstverletzung keinen<br />

Schmerz spüren, sich vielmehr in einem tranceähnlichen, euphorischen Zustand befinden in<br />

dem das Schmerzgefühl erst ein bis zwei Stunden später auftritt. Diese verzögerte Wirkung des<br />

Schmerzes spricht auch <strong>für</strong> einen langsamen Abfall des erhöhten Endorphinspiegels.<br />

Emotionale Vernachlässigung, Einsamkeit sowie Anspannung können Grund da<strong>für</strong> sein, dass<br />

der Endorphinspiegel sinkt und somit ein Gefühl der inneren Leere entsteht, dem durch die<br />

Selbstverletzung entgegengewirkt wird. Viele Betroffene bekommen regelrecht Panikzustände<br />

wenn sie keine Möglichkeit sehen, sich bei Anspannung selbst zu verletzen. In diesem Fall ist<br />

die Selbstverletzung wie eine Droge anzusehen (vgl. Eckhardt 1994, S. 100ff.).<br />

Ein weiterer Ansatz geht davon aus, dass es sich bei der Selbstverletzung um ein<br />

Ungleichgewicht im Serotonin-Stoffwechsel 8 an den Rezeptoren der Hirnnerven handelt.<br />

Bevor man jedoch die Ursache in den Neurotransmittern sah, war man der Meinung, dass<br />

cerebrale (hirnorganische) Defekte in bestimmten Hirnregionen Auslöser <strong>für</strong> Selbstverletzendes<br />

Verhalten wären. Der Nachteil bei diesen hirnorganischen Erklärungsansätzen, liegt darin, dass<br />

Umweltfaktoren bei der Entstehung dieser Störung nicht berücksichtigt werden.<br />

Gerade bei Jugendlichen ist davon auszugehen, dass Umweltfaktoren ein sehr hohes Maß<br />

dazu beitragen, dass Selbstverletzendes Verhalten ausgelöst und aufrechterhalten wird.<br />

7<br />

Endorphine sind körpereigene Stoffe, die ähnlich wirken wie Opiate und rauschähnliche, euphorische<br />

Zustände bewirken können (vgl, Eckhardt 1994, S.99)<br />

8<br />

Serotonin ist ähnlich wie das Dopamin ein wichtiger Neurotransmitter des Gehirns, der die<br />

Durchlässigkeit von Membranen verändert und verantwortlich <strong>für</strong> die Signalübertragung zwischen den<br />

Hirnzellen ist (vgl. Klosinski 1999, S.86).<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

15


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

4.2 Entwicklungspsychologische Ursachen<br />

Der entwicklungspsychologische Ansatz geht davon aus, dass traumatische Erlebnisse in der<br />

Kindheit wie z.B. Missbrauch, Vernachlässigung, Auslöser da<strong>für</strong> sind, dass Fertigkeiten aus<br />

sozialen, emotionalen und motivationalen Bereichen nicht ausreichend entwickelt werden<br />

können. Weiter können auch die Entwicklungsaufgaben nicht ausreichend erfüllt werden. Um<br />

diese Defizite auszugleichen, müssen kompensatorische ‚alternative Regulationsstrategien’<br />

ergriffen werden die in den meisten Fällen Störungen aufweisen wie z.B. das Selbstverletzende<br />

Verhalten.<br />

Schließlich geht der entwicklungspsychologische Ansatz davon aus, dass gewisse<br />

selbstverletzende Strategien fast alle Kinder im ersten Lebensjahr aufweisen. Wie z.B. das<br />

Körperschaukeln, das von vielen Kindern im Alter zwischen 4 und 10 Monaten auftritt und<br />

danach wieder verschwindet. Chronisch wird diese Auffälligkeit bei etwa 6 bis 19 Prozent der<br />

Fälle (vgl. Klosinski 1999, S. 19).<br />

Es scheint also gewisse selbstverletzende Handlungen zu geben, die im Laufe der Kindheit<br />

auftreten und wieder vergehen, sofern keinerlei Störungen (z.B. Missbrauch oder cerebrale<br />

Schädigungen) vorhanden sind.<br />

4.3 Lerntheoretische Erklärungsansätze<br />

Lerntheoretische Erklärungsansätze gehen davon aus, dass die Selbstverletzung entweder als<br />

reaktives, operantes 9 oder nachahmendes Verhalten gesehen werden kann. Demzufolge ist es<br />

ein Verhalten, das in der Interaktion mit der Umwelt gelernt wird (vgl. Klosinski 1999, S.89.)<br />

Weiter kann die Selbstverletzung auch durch Lernen am <strong>Mode</strong>ll verstärkt werden. Lernen am<br />

<strong>Mode</strong>ll bedeutet, dass eine Person ein neues Verhalten an einer anderen Person sieht und<br />

durch die Vorbildwirkung dieses Verhalten ebenso ausübt oder nachahmt. Dies gilt besonders<br />

<strong>für</strong> Jugendliche. Wissenschaftliche Befunde zeigen jedoch manchmal auch das Gegenteil und<br />

9 operante Verhaltenskontrolle; Kontrolle bzw. Modifikation des Verhaltens mit Hilfe operanter Verfahren<br />

(Verhaltenskontrolle): Die dem Verhalten nachfolgenden Konsequenzen bzw. Außenreize entscheiden<br />

über die zukünftige Auftretenswahrscheinlichkeit (http://www.psychology48.com/deu/d/operanteverhaltenskontrolle/operante-verhaltenskontrolle.htm<br />

12.01.09)<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

16


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

behaupten, dass Selbstverletzung nicht ungedingt von anderen abgeschaut werden muss,<br />

sondern durchaus auch selbst ‚erfunden’ werden kann.<br />

4.4 Psychoanalytische Theorien<br />

Die meisten psychoanalytischen Theorien gehen davon aus, dass das selbstverletzende<br />

Verhalten durch negative Erfahrungen in der Kindheit, durch Missbrauch oder dergleichen<br />

entsteht. Viele Betroffene waren der ‚emotionalen Deprivation 10 ’ und Vernachlässigung<br />

ausgesetzt. Das bedeutet, dass die Eltern emotional nicht genügend <strong>für</strong> das Kind da waren (vgl.<br />

Eckhardt 1994, S. 104).<br />

Sachsse (vgl. 1998, S.98) berichtet, dass Deprivationserfahrungen und Kindesmisshandlungen<br />

zu einem ‚kumulativen Trauma’ führen, das folgende Konsequenz nach sich zieht:<br />

„Teile des Ich erfahren eine seelische Frühreifung, verbunden mit einer Flucht aus der<br />

Symbiose in die Autarkie. Andere Ich-Anteile bleiben in einer archaischen Abhängigkeit fixiert,<br />

suchen Einheit mit einem symbiotischen Mutterobjekt und erfahren so keine Entwicklung. Da<br />

durch die Traumatisierung der kindliche Reizschutz wiederholt durchbrochen wurde, ist das<br />

Körper-Ich in seiner Ausbildung besonders gestört. Entscheidend <strong>für</strong> die spätere Symptomatik<br />

ist, dass der Körper von Anfang an nicht ins Selbst integriert werden kann, dem er eigentlich<br />

zuzurechnen ist“ (Sachsse 1998, S. 98).<br />

Das Zitat von Sachsse ist so zu verstehen, dass sich der selbstverletzende Mensch einerseits<br />

aus der Abhängigkeit von der allmächtigen Mutter befreien will, andererseits aber die<br />

Zusammengehörigkeit mit der Mutter aufrechterhält und sich nicht optimal entwickeln kann.<br />

Durch wiederholte Missbrauchserfahrungen konnte der eigene Körper nicht ins Selbst integriert<br />

werden. Somit kann mit dem Körper alles gemacht werden, denn er stellt nur eine Hülle dar, die<br />

erst wieder durch Schmerzen gespürt werden kann.<br />

10 Deprivation (von lateinisch de-„privare” = berauben) bezeichnet allgemein den Zustand der<br />

Entbehrung, eines Entzuges oder der Isolation von etwas Vertrautem, eines Verlustes, eines Mangels<br />

oder das Gefühl einer (sozialen) Benachteiligung. (http://de.wikipedia.org/wiki/Deprivation 12.01.09 )<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

17


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

Wie schon erläutert, sind die Körpergrenzen instabil und nicht genügend mit Empfindungen<br />

besetzt. Das bedeutet, dass dem Körper keine besondere Beachtung geschenkt wird. Viele<br />

selbstverletzende Jugendliche (besonders Mädchen) haben auch Essstörungen.<br />

Sachsse führt noch weiter aus:<br />

„Der eigene Körper ist vom Selbst abgespaltet und wird als fremdes, bedrohliches, verhasstes<br />

Objekt schlecht bemuttert. Er wird nicht liebevoll-zärtlich gestillt und umsorgt, sondern rabiat<br />

zum Schweigen gebracht. Entweder wird er mit Drogen betäubt also vergiftet, oder er wird<br />

durch Selbstbeschädigung misshandelt“ (Sachsse 1998, S. 100).<br />

Personen, die sich selbst verletzen benutzen ihren eigenen Körper als ‚Übergangsobjekt’. Auch<br />

einzelne Körperteile können bei der offenen Selbstbeschädigung ebenfalls als<br />

‚Übergangsobjekte’ dienen (vgl. Sachsse 1998, S.112).<br />

Dies ist allerdings nur ein Erklärungsansatz. Es ist fraglich ob er das Phänomen<br />

Selbstverletzung umfassend erfassen kann.<br />

4.5 Funktionen der Selbstverletzung<br />

Eckhard (vgl. 2005, S. 444) fasst die Funktionen die die Selbstverletzung haben kann, sehr<br />

prägnant zusammen:<br />

Die Selbstverletzung<br />

• kann als unbewusste Reinszenierung, also als Bewältigungsversuch des<br />

Missbrauchstraumas gesehen werden.<br />

• hat in der Psychodynamik des Missbrauchstraumas Funktion der Selbstbestrafung, sie<br />

dient dazu heftige Schuld- und Schamgefühle zu entlasten.<br />

• ist gleichzeitig Ausdruck des verinnerlichten negativen Selbstbildes und dient dazu das<br />

‚gute Objekt’ zu erhalten. Vermittelt ein Gefühl der Selbstkontrolle und Macht.<br />

• ist eine machtvolle Waffe die gegen die enttäuschende Mutter oder den misshandelnden<br />

Vater gerichtet werden kann, um die unerträgliche Passivität in Aktivität umzuwandeln<br />

und um wieder die Selbstkontrolle zu erlangen. Der Körper wird so zum passiven Opfer,<br />

während der/die Patient zum aktiven Täter/Täterin wird.<br />

Die Selbstverletzung ist ein globales Ventil <strong>für</strong> ‚inneren Druck’ und wirkt in manchen Fällen wie<br />

ein Antidepressiva. Ausserdem schafft die Selbstverletzung wieder das Erleben von Grenzen<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

18


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

und vermittelt ein Gefühl von Lebendigkeit, wenn die Haut wieder spürbar wird. Auch kann die<br />

Selbstverletzung als Suizidprophylaxe verstanden werden oder auch als Flucht vor sozialen<br />

Anforderungen gesehen werden (vgl. Sachsse 1995, S.41). Neben der Selbstbestrafung ist die<br />

Selbstverletzung auch die einzige Möglichkeit der Selbst<strong>für</strong>sorge (vgl. Sachsse 1998, S.41).<br />

Für manche Jugendliche stellt die Selbstverletzung auch einen rituellen Charakter dar. Das<br />

bedeutet, dass die Selbstverletzung als Ausdruck von Gruppenzugehörigkeit ausgeführt wird.<br />

Sich selbst zu verletzen, bedeutet auch gleichzeitig, sich selbst mit dem eigenen Körper<br />

auseinanderzusetzen, ihn zu versorgen und ihm in Form der Selbstverletzung etwas ‚Gutes’ zu<br />

tun.<br />

4.5.1 Gefühle vor der Selbstverletzung<br />

Der Anfang einer Selbstverletzung ist meist begleitet von heftigen Gefühlen von Ärger, Panik<br />

und Angst (vgl. Levenkron 2006, S.46). Es entsteht eine extreme innere Anspannung und<br />

Unruhe. Viele Menschen, die sich selbst verletzen, verdrängen diese schmerzlichen Gefühle,<br />

sie fühlen sich taub, leer und ohne Halt. Ein Gefühl von Verlassenheit entsteht, sodass es den<br />

Menschen nicht mehr möglich ist, mit irgendjemandem darüber zu sprechen (vgl. Teuber 2000,<br />

S.59). Dieser innerliche Spannungszustand kann mit einer Art von ‚Rauschzustand’ verglichen<br />

werden, wobei die Betroffenen teilweise die Kontrolle über ihre Ich-Funktionen verlieren (vgl.<br />

Eckhard 1994, S.43). Der einzige Ausweg, diesen unerträglichen Zustand zu bewältigen und<br />

sich wieder selbst spüren zu können, ist sich selbst zu verletzen (vg. Teuber 2000, S.59).<br />

4.5.2 Gefühle während der Selbstverletzung<br />

Die Menschen mit Missbrauchserfahrungen finden einen Weg, um sich an dieses Gefühl nicht<br />

mehr aktiv erinnern zu müssen. Sie treten sozusagen weg. In der Psychiatrie spricht man<br />

hierbei von Dissoziation 11 , wie dies auch bei der Posttraumatischen Belastungsstörung 12 zu<br />

finden ist. In diesem Moment scheint ihr Körper nahezu gefühllos, sie spüren keinen Schmerz,<br />

11 Bewusstseinsspaltung<br />

12 Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine mögliche Folgereaktion eines oder mehrerer<br />

traumatischer Ereignisse wie z.B. Krieg, Folter, Missbrauch, Naturkatastrophen etc.<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

19


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

der Körper ist gewissermassen vom Empfinden abgespalten. Sie spüren während der<br />

Selbstverletzung keinen Schmerz, es ist eher ein Gefühl der Erleichterung, wenn das Blut über<br />

die Haut läuft und somit <strong>für</strong> kurze Zeit Entlastung eintritt (vgl. Teuber 2000, S.59f).<br />

4.5.3 Gefühle nach der Selbstverletzung<br />

Nach der Selbstverletzung tritt ein Gefühl der kurzfristigen Erleichterung und Befriedigung ein.<br />

Vorübergehend fühlen sich die Menschen entspannt, ruhig und vom unerträglichen Zustand<br />

befreit, denn nun können sie sich durch den Schmerz wieder spüren. Der Schmerz vermittelt<br />

ein Gefühl von Lebendigkeit und ist besser als überhaupt kein Gefühl zu haben (vgl. Teuber<br />

2000, S.60). Eckhardt (vgl. 1994, S. 100) nennt euphorische, entspannte und angenehme<br />

Gefühle, die nach der Selbstverletzung eintreten. Sachsse (vgl. 1998, S. 43) berichtet<br />

ausserdem, dass das ‚warme pulsierende Blut’ <strong>für</strong> die Betroffenen ein Zeichen da<strong>für</strong> ist, noch<br />

am Leben zu sein.<br />

Teuber (vgl. 2000, S.61) fand heraus, dass ‚Ritzen’ durchaus lustvolle Komponenten beinhalten<br />

kann. Dieses Lustvolle in der Situation der Selbstverletzung ist eher vergleichbar mit einem<br />

Gefühl von Stolz. Der Schmerz, der dabei unweigerlich entsteht, ist nicht sofort zu spüren.<br />

Bei den betroffenen Personen stellt sich danach ein Gefühl der Unverletzbarkeit ein.<br />

Sachsse (vgl. 1995, S. 128) spricht in diesem Zusammenhang von ‚masochistischem Triumph’.<br />

Die sich selbst verletzenden Menschen empfinden zwar den Schmerz, ertragen ihn und<br />

triumphieren darüber.<br />

Wie bei jedem Selbstmissbrauch kommen nach dem erstrebten Höheflug Schuld - und<br />

Schamgefühle, oftmals entwickelt sich auch eine von Ängsten begleitete negative<br />

Eigendynamik. Hier ist die Grenze zum Krankhaften spürbar.<br />

4.6 Selbst<strong>für</strong>sorglicher Umgang mit dem Körper<br />

Bei Personen die sich selbst verletzen, ist der Körper weitgehend vom Selbst abgespaltet, also<br />

‚Nicht-Selbst’ und auf diesen wird alles Schlechte projiziert. Die Beziehung zum eigenen Körper,<br />

wie Sachsse (vgl. 1995, S. 97) beschreibt, ist ablehnend, abwertend, feindselig und mit Hass<br />

erfüllt.<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

20


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

„Der Körper ist ausschliesslich Quelle unlustvoller Spannungszustände und spürbare und<br />

sichtbare Manifestation der eigenen Begrenztheit und Insuffizienz 13 . Selbst<strong>für</strong>sorge und<br />

körperlicher Genuss finden nicht statt“ (Sachsse 1995, S.97).<br />

Der „Selbst<strong>für</strong>sorglicher Umgang mit dem eigenen Körper als Selbst-Anteil“ (Sachsse 1995,<br />

S.97) stellt ein zentrales Therapieziel dar. Er sieht, dass in der erwachsenen Selbst<strong>für</strong>sorge <strong>für</strong><br />

den eigenen Körper auch viele Anteile eines selbst ‚Bemutterns’ eines Kindes enthalten sind,<br />

wie z.B. ein Bad nehmen, die eigene Haut eincremen, sich selbst Essen zubereiten, sportliche<br />

Betätigungen betreiben, Sexualität und noch viele andere Möglichkeiten, die dem Körper einen<br />

lustvollen Genuss bereiten können.<br />

Für Menschen die sich selbst verletzen, ist jedoch der körperliche Genuss- und Lustbereich aus<br />

psychodynamischen Gründen nicht ausreichend entwickelt. Sachsse spricht von einer<br />

Unterentwicklung (vgl. ebd. S.97ff.).<br />

Dieses ist die einzige Therapie, die ich in meiner Arbeit anspreche, weil ich in meiner<br />

Begleitaufgabe als Sozialbegleiterin, diese Therapieform den Jugendlichen selber vermitteln<br />

kann. Es ist mir wichtig, den Jugendlichen einen Weg aufzuzeigen in dem er/sie sich wieder als<br />

positiv erleben kann. Nur so kann ein Ausgleich zu den destruktiven Handlungen erfahren<br />

werden.<br />

5 Jugendgruppen (Peergroups) in Verbindung<br />

mit Selbstverletzenden Verhalten (Ritzen)<br />

5.1 Kennzeichen von Peergroups<br />

Gleichaltrige (Peers)<br />

Räumliche Nähe<br />

Ähnliche Interessen / Kleidung<br />

Freundschaftliche Verbundenheit<br />

Oberflächenstruktur zur demonstrativen Abgrenzung zur Erwachsenenwelt<br />

13 Insuffizienz - Unzugänglichkeit<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

21


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

Innere Struktur zur sozialen Kontaktfähigkeit<br />

Zentrale Bedeutung vor allem im Schulalter<br />

5.2 Funktionen von Peergroups<br />

Psychisch:<br />

Sozial:<br />

• Identitätsfindung und Selbstdarstellungsmöglichkeiten<br />

• Zugehörigkeitsgefühl zu Gruppe(n)<br />

• Orientierung, Stabilisierung und Sicherheit (in Verhalten und Status)<br />

• Kompensierung von Einsamkeitsgefühlen<br />

• Entwicklung eines realistischen Selbstbildes durch Reflexion<br />

• Peerakzeptanz meist größer als Selbstakzeptanz (gibt Sicherheit)<br />

• Peerkontakte (Hauptcharakteristikum des Jugendalters)<br />

• Unterstützungsfunktion der Freundschaft (auch in Belastungssituationen) und soziale<br />

Geborgenheit<br />

• Möglichkeit zum Experimentieren mit neuen Rollen und neuen sozialen<br />

Verhaltensweisen z.B. Autorität, Hierarchie, Geschlechterrollen<br />

• Kontaktaufnahme mit dem anderen Geschlecht<br />

• Rückhalt bei der Ablösung vom Elternhaus<br />

• Einüben von neuen Formen der Autorität bzw. Hierarchie<br />

• Auseinandersetzung mit den herkömmlichen Strukturen der Gesellschaft und<br />

Infragestellen von Autoritäten<br />

Die Cliquen, sogenannte Peergroups, unterscheiden sich von Kleidungs- Style, Musik,<br />

Redensart und auch vom Benehmen.<br />

Einige Beispiele von Peergroups<br />

• Rocker<br />

• Skaters<br />

• Punks<br />

• HipHoper<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

22


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

• SKA<br />

• Anarchisten<br />

• Emos<br />

Definition Emo aus dem Internet (de.wikipedia.org/wiki/Emo [2.6.08])<br />

„Emo (Emotional Hardcore; engl. bezeichnet ursprünglich ein Subgenre des Hardcore-Punk,<br />

auch Emocore genannt, das sich durch das stärkere Betonen von Gefühlen wie Verzweiflung<br />

und Trauer sowie durch die Beschäftigung mit gesellschaftlichen, politischen und<br />

zwischenmenschlichen Themen auszeichnet.<br />

Ungefähr seit dem Jahre 2000 wird mit Emo auch ein jugendkulturelles <strong>Mode</strong>phänomen<br />

bezeichnet, das mit dem gleichnamigen Musikstil nur mittelbar in Verbindung steht.“<br />

Die Emos werden auch immer wieder in den Medien als die Jugendlichen, die sich ritzen<br />

präsentiert. Aus Gesprächen mit Emos und anderen Jugendgruppen, ziehe ich den Schluss,<br />

dass das Ritzen in den meisten Cliquen vorkommt und nicht nur die Emos betrifft. Diese<br />

Jugendlichen ritzen sich meistens Buchstaben oder Symbole in die Haut. Es wird auch in der<br />

Gemeinschaft als Ritual zelebriert. Für mich geht ‚dieses Ritzen’ eher in die Kategorie primitives<br />

Tätowieren, d.h. es ist eine von der Gesellschaft angenommene und akzeptierte<br />

Selbstverletzung.<br />

Jugendliche die ritzen, sollte man aber immer individuell betrachten und auf allen Ebenen<br />

(Soziales Umfeld, Verhalten, Freundschaften, Gefühle usw.) beobachten, um zu merken, ob ihr<br />

Handeln eine Störung nachweist oder ob es einfach eine blutige <strong>Mode</strong> ist.<br />

Das Selbstverletzende Verhalten und die blutige <strong>Mode</strong> (ritzen in der Gemeinschaft) hat <strong>für</strong> mich<br />

nach all meinen Recherchen und Fachinformationen ein ganz neues Gesicht bekommen.<br />

6 Fallbeispiele aus meiner Arbeit<br />

Ich werde hier ein paar Fallbeispiele aus meiner Arbeit mit Jugendlichen beschreiben.<br />

1. F. (weiblich) 16 Jahre alt kommt aus England, sie ist in psychiatrischer Behandlung und<br />

manchmal auch in der Klinik. Ich kenne ihre Diagnose nicht. Sie kommt in das Jugendbüro,<br />

wenn es ihr gut geht. Sie ritzt sich sehr tiefe Wunden in ihre Arme und zeigt diese allen<br />

Jugendlichen, einige Mädchen kopieren ihr Verhalten und F. gibt ihnen zu spüren, dass dieses<br />

Ritzen nicht an ihr Ritzen herankommt. An einer Party hat sie sich in den Finger geschnitten<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

23


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

d.h. ihren Finger fast abgeschnitten. Wir mussten sie ins Krankenhaus bringen. Von dieser<br />

Party blieb allen Jugendlichen nur in Erinnerung, das F. ins Krankenhaus musste, sie war also<br />

der Mittelpunkt dieser Party und auch nachher.<br />

2. Die drei Mädchen aus F.’s Clique versuchen ebenso, durch Ritzen Aufmerksamkeit auf<br />

sich zu lenken, aber F. stellte alle in den Schatten, weil F. keine Angst hat Grenzen extrem zu<br />

überschreiten. Diese Mädchen finden Ritzen cool und würden gerne so sein wie F, die sehr viel<br />

Aufmerksamkeit, Bewunderung und schockierende Rückmeldungen erhalten.<br />

3. R. (weiblich) 14 Jahre alt, kommt aus Albanien, sie ritzt sich heimlich und hat zusätzlich<br />

Essstörungen. Sie darf ihr zu Hause nur <strong>für</strong> die <strong>Schule</strong> verlassen und manchmal darf sie bei<br />

uns ins Just4Girls Mädchentreff) kommen.<br />

4. O. (männlich) 15 Jahre alt, kommt aus der Türkei und lebt in sehr schwierigen<br />

Familienverhältnissen. Er verletzt sich mit Sägen, Hammer, Nägeln, Scheren usw. Er hat auch<br />

sehr viele Unfälle.<br />

5. K. (männlich) 12 Jahre alt, kommt aus Albanien. Er ritzt sich im Gesicht. Er ist sehr<br />

verschlossen und gibt keine Auskunft, wie er sich verletzt hat. Ich kenne ihn noch zu wenig und<br />

auch über seinen familiären Hintergrund habe ich keine Informationen.<br />

6. M. (männlich) 16 Jahre alt, Schweizer gehört einer Neonazi Clique an, er ritzt sich<br />

Hakenkreuze in die Arme und ist sehr stolz darauf. Es ist sehr schwierig mit ihm einen Kontakt<br />

aufzubauen. In der <strong>Schule</strong> hat man ihn verwarnt, die <strong>Schule</strong> duldet keine Hakenkreuze, auch<br />

nicht auf der Haut. Er ist ein sehr schwieriger Jugendlicher. Gegenüber Erwachsenen benimmt<br />

er sich sehr arrogant.<br />

Durch meine Studien habe ich mir verschiedene Arbeitsweisen angeeignet, Erklärungsversuche<br />

von mir, wie ich mit diesen Jugendlichen arbeite.<br />

Fall 1:<br />

Die professionelle Betreuung findet in der Klinik statt. Wenn F. im Jugendbüro anwesend ist,<br />

heißt das, dass es ihr relativ gut geht. Ich arbeite mit ihr personenzentriert und achte darauf,<br />

dass sie sich in meiner Gegenwart nicht verletzt.<br />

Fall 2:<br />

Diesen Mädchen helfe ich, durch Gespräche und Diskussionen ein positiveres Selbstbild zu<br />

vermitteln. Ich versuche ihnen auch aufzuzeigen, dass man nicht Grenzen extrem überschreiten<br />

muss, um Aufmerksamkeit und Beachtung zu bekommen. Ich versuche auch, mit<br />

Komplimenten und Liebenswürdigkeit, ihr Selbstwertgefühl zu stärken.<br />

Fall 3:<br />

Wir haben zusammen einen Essplan aufgestellt mit gesunden Nahrungsmitteln, ich habe ihr<br />

auch einen Film über Anorexie gezeigt, um ihr nochmals die Konsequenzen des Nichtessens<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

24


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

aufzuzeigen. Das Ritzen kann sie mir nicht erklären. Bei ihr, so denke ich, steht die Essstörung<br />

im Vordergrund, die vermutlich Aggressionen auslöst und diese an sich selbst auslebt. Durch<br />

das Ritzen kann sie eine Entspannung bewirken. Wir sind in Kontakt und führen regelmäßig<br />

Gespräche. Die Situation hat sich etwas beruhigt.<br />

Fall 4:<br />

Er ist sich seines Verhaltens nicht bewusst. Ich werde ihn weiterhin auf seine Verletzungen<br />

ansprechen und versuche mit ihm aufbauende Gespräche zu führen.<br />

Fall 5:<br />

Wenn er wieder ins Jugendbüro kommt werde ich versuchen, ihn besser kennenzulernen, um<br />

mir ein Gesamtbild machen zu können.<br />

Fall 6.<br />

Bei diesem Fall kann ich mich zuwenig abgrenzen, halte Distanz und habe den<br />

Schulsozialarbeiter darauf hingewiesen.<br />

Alle diese Erlebnisse haben mich vertieft erleben lassen, welche Dimensionen Selbstverletzung<br />

annehmen können und wie wichtig es ist, als Sozialbegleiterin auf vielen Ebenen Wissen zu<br />

haben um professionell Handeln zu können.<br />

7 Auswertung der Arbeit<br />

Bei der Auswertung meiner Arbeit, habe ich meinen Schwerpunkt auf folgende drei<br />

Kompetenzen gelegt.<br />

Selbstkompetenz:<br />

Durch meine Auseinandersetzung mit dem Thema habe ich eine große Sicherheit in Bezug auf<br />

die Begleitung von selbstverletzenden Jugendlichen erhalten. Meine frühere Ohmacht und<br />

meine Ausweichstrategien, wenn es um Selbstverletzung ging, konnte ich ablegen. Auch bin ich<br />

heute in der Lage mich emotional abzugrenzen und Probleme aus der Arbeit nicht nach Hause<br />

zu nehmen. Ich habe gelernt, zielorientiert und dennoch vorsichtig mit Jugendlichen betreffend<br />

dieser Problematik in Kontakt zu kommen und ihnen die nötige Unterstützung anzubieten.<br />

Meine Zurückhaltung, die Erziehungsverantwortlichen in den Begleitprozess mit ein zu<br />

beziehen, hat sich relativiert und ich habe gemerkt, dass eine adäquate Zusammenarbeit mit<br />

den Bezugspersonen wichtig ist. Meine Aufgabe als Sozialbegleiterin ist es, die Jugendlichen<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

25


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

an die richtigen Fachstellen zu begleiten, um ihnen weitere frustrierende Erlebnisse im<br />

Beratungsdschungel zu ersparen.<br />

Sozialkompetenzen:<br />

Durch meine Auseinandersetzung mit der Literatur und durch Gespräche mit Fachpersonen ist<br />

mir bewusst geworden wie wichtig es ist, bei den Jugendlichen genau hinzuschauen und sie mit<br />

offenen, konstruktiven und gezielten Fragen zu konfrontieren. Um den Brei herum zureden,<br />

nützt nichts, das kennen sie zur Genüge. Ich habe gelernt, auch einen selbstverletzenden<br />

Jugendlichen in erster Linie als jungen Menschen zu brachten und ihn nicht auf sein Problem zu<br />

reduzieren.<br />

Ich habe keine Angst mehr, sie offen anzusprechen und schwierige Gespräche zu führen. Da<br />

ich den jungen Menschen grundsätzlich Empathie entgegen bringe und ich mein Wissen<br />

erweitert habe, fühle ich mich sicher, kompetent, konstruktiv und zielorientiert zu handeln.<br />

Fachkompetenzen:<br />

Mit der Verinnerlichung von theoretischem Wissen und durch die täglichen Kontakte mit<br />

Jugendlichen ist <strong>für</strong> mich Selbstverletzendes Verhalten kein Tabu mehr. Meine berufliche<br />

Identifikation hat sich dadurch verändert, dass ich durch diese Arbeit meine Grenzen als<br />

Sozialbegleiterin klar erkannt habe. Es gelingt mir den richtigen Moment zu erkennen, an dem<br />

ich Jugendliche an die adäquate Fachstelle weiterleite und / oder begleite. Obwohl ich als<br />

Sozialbegleiterin keine Therapien anbieten kann, habe ich viel Theorie über Therapieformen zu<br />

diesem Thema gelesen. Eine davon werde ich als Sozialbegleiterin anwenden; die Vermittlung,<br />

von selbstführsorglichem Umgang mit dem eigenen Körper zu lernen. Ich habe gelernt auch bei<br />

Jugendlichen ohne offensichtliche Selbstverletzungsmerkmale auf Grund ihrer verbalen und<br />

nonverbalen Botschaften Selbstverletzendes Verhalten wahrzunehmen und zu benennen.<br />

Bei meinen Gesprächen mit Jugendlichen wende ich die Empowerment-Strategie an. Diese<br />

beinhaltet lösungsorientierte Gespräche und zielführende Verhandlungen. Damit ich<br />

lösungsorientiert arbeiten kann ist es wichtig, dass die Jugendlichen und ich die Gefühle<br />

authentisch ausdrücken und ansprechen. Ich sehe es als meine Aufgabe die Jugendlichen dazu<br />

zu motivieren Wünsche zu formulieren anstatt ihnen Vorwürfe zu machen. Dasselbe gilt auch<br />

<strong>für</strong> mich. Daraus entwickelt sich eine empathische Kommunikation bei der ich die Methode des<br />

aktiven Zuhörens anwende. Speziell bei Jugendlichen ist es sinnvoll ein solches Gespräch mit<br />

Humor und / oder paradoxen Interventionen aufzulockern.<br />

Unter Empowerment verstehe ich die Stärkung der vorhandenen Potentiale in den Vordergrund<br />

zu stellen zur Veränderung und Weiterentwicklung zu ermutigen. Mein Ziel ist es betroffene<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

26


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

Jugendliche durch Ressourcen orientierte Interventionen dazu zu motivieren, über das Erlebte<br />

und selbstgesetzte Grenzen hinaus zu gehen.<br />

8 Persönliche Erkenntnisse<br />

Mir wurde durch diese Arbeit bewusst, dass ich sehr behutsam mit den Jugendlichen umgehen<br />

muss. Diese Lebensphase ist sehr prägend, anstrengend und fragil. Ich weiß die Verantwortung<br />

liegt an uns Erwachsenen, die Jugendlichen adäquat zu begleiten. Je mehr wir über die Kinder<br />

und Jugendphase (Pubertät/Adoleszenz) wissen, spüren wir auch, was <strong>für</strong> bedeutsame<br />

Prozesse und Veränderungen in diesen Menschen stattfinden.<br />

Dazu kommt die enorme Herausforderung <strong>für</strong> die Jugendlichen, <strong>für</strong> sich einen ‚angenehmen’<br />

Platz in der Gesellschaft zu finden. Parallel dazu kommen noch die schulischen und beruflichen<br />

Anforderungen, die <strong>für</strong> die Jugendlichen manchmal ins Unermessliche steigen.<br />

Aufbauende Komplimente und vor allem gut zuhören ist sehr wichtig. Auch das Hören und<br />

Verstehen, was die Jugendlichen zu sagen haben, gilt es ernst zu nehmen.<br />

Aus meiner Arbeit kann man sehen, wie wichtig es <strong>für</strong> jeden einzelnen Jugendlichen ist, sich<br />

wohl zu fühlen und sein ICH zu finden, um seinen eigenen Körper bewohnen zu lernen.<br />

Ich denke wir Erwachsenen blenden oft alle diese Faktoren aus und folgen oberflächlich und<br />

blind dem Alltag und den Medien, die aus unserer wunderbaren Zukunft (unsere Jugend) ein<br />

Monster macht.<br />

Wir Erwachsenen sind Bezugspersonen all dieser Jugendlichen, wir sollten ihnen mit Empathie,<br />

Geduld und Liebenswürdigkeit begegnen.<br />

Durch mein angeeignetes Wissen aus meiner Arbeit, ist es mein Ziel selbstverletzende<br />

Jugendliche sinnvoll begleiten zu können. Noch wichtiger ist es <strong>für</strong> mich, wenn Grenzen<br />

überschritten werden und ich bei meinen Jugendlichen, Selbstverletzendes Verhalten feststelle,<br />

sie unterstützend an die richtigen Fachpersonen weiterzuleiten, um ihnen unnötige und<br />

zusätzliche Frustration in der therapeutischen Welt zu ersparen.<br />

Ausser der Thematik ‚Selbst<strong>für</strong>sorglicher Umgang mit dem eigenen Körper’ habe ich, in meiner<br />

Arbeit, keine weiteren möglichen Therapieformen berücksichtigt. Der Grund da<strong>für</strong> ist, dass mein<br />

Beruf Sozialbegleiterin ist und ich keine Therapeutin bin. Nichtsdestotrotz habe ich mich mit<br />

Therapiemöglichkeiten befasst, um mir einen ‚therapeutischer Nothelferkurs’ anzueignen.<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

27


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

Literaturverzeichnis<br />

Eckhardt, Annegret. (1994). Im Krieg mit dem Körper. Autoaggression als Krankheit.<br />

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag<br />

Fend, Helmut (2003). Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Ein Lehrbuch <strong>für</strong><br />

pädagogische und psychologische Berufe. 3. Auflage. Opladen: Leske+Budrich Verlag<br />

Flammer, August, Alsaker, Françoise (2002). Entwicklungspsychologie der<br />

Adoleszenz: die Erschließung innerer und äußerer Welten im Jugendalter.<br />

Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Verlag Hans Huber<br />

Klosinski, Gunther (1999). Wenn Kinder Hand an sich legen. Selbstzerstörerisches<br />

Verhalten bei Kindern und Jugendlichen. München: Beck Verlag<br />

Levenkron, Steven (2006). Der Schmerz sitzt tief. Selbstverletzung verstehen und<br />

überwinden. 3. Auflage. München: Kösel Verlag<br />

Mietzel, Gerd (1995). Wege in die Entwicklungspsychologie: Kindheit und Jugend. 2.<br />

Auflage. Weinheim: Beltz Verlag<br />

Mummendey, Hans-Dieter (2000). Psychologie der Selbstschädigung. Göttingen u.a:<br />

Hogrefe Verlag<br />

Oerter, Rolf, Dreher, Eva (2002). Jugendalter. In: Oerter, Rolf, Montada, Leo (Hrsg.)<br />

Entwicklungspsychologie. 5. Auflage. Weinheim, Basel, Berlin: Beltz Verlag<br />

Rahn, Ewald (2001). Borderline - Ratgeber <strong>für</strong> Betroffene und Angehörige. 8. Auflage.<br />

Bonn: Psychiatrie-Verlag GmbH<br />

Sachsse, Ulrich (1995). Selbstverletzendes Verhalten. Psychodynamik-<br />

Psychotherapie. 2. Auflage. Göttingen, Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag<br />

Sachsse, Ulrich (1998). „Blut tut gut“. Genese, Psychodynamik und Psychotherapie offener<br />

Selbstbeschädigungen der Haut. In: Hirsch, Mathias (Hrsg.). Der eigene Körper<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

28


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

als Objekt: zur Psychodynamik selbstdestruktiven Körperagierens. Gießen:<br />

Psychosozial-Verlag<br />

Schäfers, Bernhard (1998). Soziologie des Jugendalters. 6. Auflage. Opladen: Leske+Budrich<br />

Verlag.<br />

Schäfers, Bernhard, Scherr, Albert (2005). Jugendsoziologie. Einführung in<br />

Grundlagen und Theorien. 8. Auflage. Wiesbaden: Verlag <strong>für</strong><br />

Sozialwissenschaften<br />

Teuber, Kristin (2000). „Ich blute, also bin ich“. Selbstverletzung der Haut von<br />

Mädchen und jungen Frauen. 3. Auflage. Herbholzheim: Centaurus Verlag.<br />

Internet<br />

Artikel Emo. In: Wikipedia, die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 19. Mai 2008<br />

de.wikipedia.org/wiki/Emo<br />

(Abgerufen: 02. Juni 2008)<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

29


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

Anhang<br />

Gedicht eines Jugendlichen<br />

Wenn es wieder passiert<br />

Aggression und Wut auf mich<br />

Meinen Körper verletze ich<br />

Mutwillig - ohne Schmerz und Angst<br />

Das alles geschieht oft wie in Trance<br />

Druck baut sich auf<br />

Die Spannung wächst<br />

Gedanken sind fast wie verhext<br />

Sie sagen: "Los komm´ schon! Endlich - schneide dich!<br />

Dann fühlst du dich besser und eher nicht!"<br />

Ich kann nicht anders und lege es hin<br />

Das Messer, die Rasierklinge und was ich noch so find´<br />

Ich schneide und ritze, solang´ ich nichts spüre<br />

Und höre erst auf, wenn ich mich wieder fühle<br />

Der Schmerz ist da - ich lebe noch<br />

Ich bin wieder da und stelle fest<br />

Es ist wieder passiert und<br />

Das gibt mir den Rest<br />

Ich wünschte, ich könnte Fassung bewahren,<br />

Um diesem Zwang entgegen zu schlagen<br />

Doch oft reicht meine Kraft nicht aus<br />

Verdammt! Wie komm ich da bloß raus?<br />

So kann ich nur hoffen<br />

Ich bin <strong>für</strong> mich stark und lebe <strong>für</strong> mich<br />

Und zwar Tag <strong>für</strong> Tag<br />

Verfasser: Candy78 (www.rotetraenen.de/?main=voneuch&sub=gedichtlesen&id=156<br />

[19.01.09])<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

30


<strong>Schule</strong> <strong>für</strong> <strong>Sozialbegleitung</strong><br />

Leitfaden <strong>für</strong> ein Interview mit Jugendlichen mit SVV<br />

Zuerst liest der Jugendliche das Gedicht.<br />

• Wie fühlt die Person, die dieses Gedicht geschrieben hat?<br />

• Kennst du auch solche Gefühle?<br />

• Wie gehst du mit solchen Gefühlen um?<br />

• Hast du dich schon einmal selbst verletzt?<br />

Antwort - Ja -<br />

• Erzähl mir bitte von deiner ersten Selbstverletzung?<br />

• Erklär mir bitte, wie du es machst?<br />

• Welche Gefühle hast du dabei, was spürst du?<br />

• Wie fühlst du dich danach?<br />

• Welche Bedeutung haben die daraus entstandenen Narben <strong>für</strong> dich?<br />

• Wie reagieren andere auf deine Narben?<br />

• Mit wem kannst du über dein Problem sprechen?<br />

Antwort – Nein -<br />

• Was machst du, wenn du Probleme, Sorgen hast?<br />

• Kannst du es verstehen, warum sich Jugendliche selbst verletzen, welcher Grund<br />

dahinter steckt?<br />

• Welche Alternativen <strong>für</strong> ihre Problembewältigung würdest du diesen Jugendlichen<br />

anbieten?<br />

• Wie stellst du dir deine Zukunft vor?<br />

Abschlussarbeit, Edith Rosenberg, 2006/A<br />

31


Über das Ritzen<br />

Ich fühle mich schlecht.<br />

Ich fühle mich leer.<br />

Ich hasse mich.<br />

Und das von Tag zu Tag mehr.<br />

Ich gehe ins Bad - befeuchte mein Gesicht.<br />

Doch wahren tue ich es nicht.<br />

Die Rasierklingen meines Vaters fallen mir ins Auge<br />

und ich frage mich wozu ich noch tauge.<br />

Ich nehme die Klinge in meine Hand<br />

ich betrachte sie - bin wie gebannt<br />

Ich strecke meinen nackten Arm aus<br />

Ich frage mich: Ist es danach aus?<br />

Ich setze die Klinge an, schließe die Augen<br />

und sage zu mir: Ich werde nie zu etwas taugen!<br />

Ich ziehe durch<br />

wie weggeblasen ist die Furcht<br />

Ich sehe auf das Blut an meinem Arm<br />

Ich frage mich: Was hast du getan?<br />

Das Blut tropft in das Waschbecken<br />

und ich frage mich: Werden mich die anderen, wegen der Wunden necken?<br />

Und schon habe ich die Klinge aufs neue in der Hand<br />

Bin beim 2. Mal schon weniger gespannt<br />

Wieder setze ich an, die Augen halte ich offen<br />

und das einzige was ich noch tun kann ist hoffen<br />

Ich ziehe mehrere Male durch, doch es erfüllt mich nicht<br />

Wieso ist in der Dunkelheit kein Licht?<br />

Mein Arm er blutet, ich trockne das Blut<br />

Doch noch nicht mal das verblassen der Schmerzen gibt mir Mut<br />

Denn der Schmerz sitzt viel tiefer als ich schneiden kann<br />

Wann wird es aufhören - ich frage dich: Wann?<br />

Und deine Erkenntnis trifft mich mit voller Wucht<br />

Ich bin ihr verfallen, denn Ritzen ist eine Sucht.<br />

Author<br />

JuJu-loves-EmptyTrash<br />

Rock.Star

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!