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Wessen Herz schlägt da in meiner Brust - Apsys

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©Guni Leila Baxa <br />

1 <br />

<strong>Wessen</strong> <strong>Herz</strong> <strong>schlägt</strong> <strong>da</strong> <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er <strong>Brust</strong><br />

Über <strong>da</strong>s Zusammenspiel von Körper und gelebter Erfahrung<br />

„E<strong>in</strong>e me<strong>in</strong>er Grun<strong>da</strong>nnahmen besagt,“ schreibt der bekannte Säugl<strong>in</strong>gs – und<br />

Entwicklungsforscher Daniel N. Stern, „<strong>da</strong>ss Veränderung auf gelebter Erfahrung<br />

beruht. Verbales Verstehen, Erklären und Erzählen reicht für sich genommen nicht<br />

aus, um e<strong>in</strong>e Veränderung <strong>in</strong> Gang zu setzen. Notwendig ist auch e<strong>in</strong> reales Erleben,<br />

e<strong>in</strong> subjektiv gelebtes Geschehen.“ i<br />

Für Aufsteller.Innen und überhaupt für Menschen, die im beraterischen und<br />

therapeutischen Bereich tätig s<strong>in</strong>d, stellt sich <strong>da</strong> die Frage: Was macht Erfahrung zu<br />

gelebter Erfahrung? Was könnten wesentliche Voraussetzungen <strong>da</strong>für se<strong>in</strong>?<br />

Ich gehe <strong>in</strong> diesem Beitrag der Frage an Hand e<strong>in</strong>er Aufstellung nach - verbunden<br />

mit den Fragen, Reflexionen und E<strong>in</strong>sichten, die mich während der Aufstellung,<br />

jedoch viel mehr noch im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> bewegt haben Das ungewöhnliche Thema der<br />

Aufstellung – es g<strong>in</strong>g um e<strong>in</strong>e <strong>Herz</strong>transplantation - führte mir unsere existentiell<br />

zweifache Beziehung zu unserem Körper besonders deutlich vor Augen. Essentielle<br />

Aspekte, die uns e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>tauchen <strong>in</strong> den Zustand gelebter Erfahrung ermöglichen,<br />

verkörperten sich stufenweise <strong>in</strong> wesentlichen Schritten der Aufstellung. Nach<br />

kurzen Erläuterungen zur Vorgehensweise und zu Annahmen aus der<br />

Strukturaufstellungsarbeit wende ich mich diesen Aspekten als Dialogischem<br />

Austausch, leiblichem Verstehen und als Weisen des Zuhörens zu.<br />

Im Text s<strong>in</strong>d diejenigen Abschnitte, die den Aufstellungsprozess beschreiben, durch<br />

kursive Schrift markiert. Ist die Rede von Stellvertreter.Innen oder Rufnamen von<br />

Elementen e<strong>in</strong>er Aufstellung wird <strong>da</strong>s mit „“ gekennzeichnet<br />

Der eigene Leib ist <strong>in</strong> der Welt, wie <strong>da</strong>s <strong>Herz</strong> im Organismus ii<br />

Ruth, die Klient<strong>in</strong>, war zum Zeitpunkt der Aufstellung 76 Jahre alt. Ihr Thema war<br />

e<strong>in</strong>e <strong>Herz</strong>transplantation iii , der sie sich 8 Jahre zuvor unterzogen hatte. Sehr selten<br />

wird Menschen <strong>in</strong> diesem relativ hohen Alter noch e<strong>in</strong> <strong>Herz</strong> transplantiert. Bei Ruth<br />

war <strong>da</strong>s auf Grund spezieller Umstände möglich. Nach der Transplantation, die sehr<br />

gut verlief, hatte Ruth jedoch vier schwere, lebensbedrohliche Autounfälle, so<strong>da</strong>ss<br />

sie die halbe Zeit der 8 Jahre im Krankenhaus verbrachte. Nach dem letzten Unfall<br />

wurde ihr geraten, e<strong>in</strong>e Aufstellung zu machen, denn möglicherweise ständen die<br />

Unfälle <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit der Transplantation.<br />

Wir begannen die Aufstellung mit e<strong>in</strong>er Repräsentant<strong>in</strong> für Ruth und e<strong>in</strong>er für <strong>da</strong>s<br />

<strong>Herz</strong>.<br />

Sehr bewusst wählte ich die Bezeichnung: <strong>da</strong>s <strong>Herz</strong>. Diese Formulerung ließ offen,<br />

um welches physische <strong>Herz</strong> es sich handeln könnte: <strong>da</strong>s frühere <strong>Herz</strong> von Ruth oder<br />

<strong>da</strong>s Spenderherz? Und könnte <strong>in</strong> diesem Wort nicht auch die archetypische<br />

Symbolkraft mitschw<strong>in</strong>gen, die wir weltweit mit dem Begriff <strong>Herz</strong> verb<strong>in</strong>den?<br />

Vielleicht verbargen sich <strong>da</strong>r<strong>in</strong> auch alle drei Möglichkeiten und vielleicht noch<br />

anderes?


©Guni Leila Baxa <br />

2 <br />

„Ruth“ blickte kurz auf <strong>da</strong>s „<strong>Herz</strong>“, wandte sich ab und sagte, sie könne nicht<br />

h<strong>in</strong>schauen. Das „<strong>Herz</strong>“ stand weggewendet, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>iger Entfernung von „Ruth“ und<br />

schaute auf den Boden.<br />

Da bat ich Ruth, die neben mir sass, jemanden für „<strong>da</strong>s, woh<strong>in</strong> <strong>da</strong>s <strong>Herz</strong> schaut“ zu<br />

wählen. Sie wählte e<strong>in</strong>en jungen Mann, der von beiden, dem „<strong>Herz</strong>en“ und „Ruth“<br />

sofort als der Mensch, von dem <strong>da</strong>s <strong>Herz</strong> stammt, als der „Spender“, benannt wurde.<br />

Primat des Prozesses vor dem Inhalt<br />

E<strong>in</strong> Motto der Strukturaufstellungsarbeit iv lautet: Primat des Prozesses vor dem<br />

Inhalt. Für Veränderungsschritte ist es entscheidend, <strong>da</strong>ss e<strong>in</strong> Prozess <strong>in</strong> Gang<br />

gesetzt wird. Nicht so wichtig ist es, zu wissen, zwischen wem genau dieser<br />

Prozess stattf<strong>in</strong>det. Das ist e<strong>in</strong>e der wesentlichen Grun<strong>da</strong>nnahmen, von der<br />

Strukturaufstellungsarbeit ausgeht.<br />

Entscheidend für e<strong>in</strong>e tiefgreifendere <strong>in</strong>nere Veränderung sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> Berührtse<strong>in</strong> zu<br />

se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> körperlich empfundenes und emotionales Erfasstwerden durch e<strong>in</strong>en<br />

Prozess. Weniger entscheidend s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> präzises <strong>in</strong>haltliches Verstehen und Deuten.<br />

„E<strong>in</strong> Ereignis,“ so Stern, „muss gelebt werden, mit Gefühlen und Handlungen, die <strong>in</strong><br />

der Echtzeit, <strong>in</strong> der realen Welt und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Moment der Gegenwärtigkeit verankert<br />

s<strong>in</strong>d...“ v<br />

Im Bereich der Strukturaufstellungsarbeit wurden <strong>da</strong>her von Anfang an offene<br />

unspezifische Bezeichnungen für Namen von Elementen der Aufstellung bevorzugt. vi<br />

Es werden eher abstrakte Teile des Anliegens aufgestellt, ohne <strong>da</strong>ss ihnen von<br />

vornhere<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e konkrete Zuschreibung - wie etwa Tante Susanne, der tote Freund<br />

des Vaters, der Spender des <strong>Herz</strong>ens - gegeben würde. Da gibt es z.B.<br />

Bezeichnungen wie: „<strong>da</strong>s, worum es hier eigentlich geht“ oder „<strong>da</strong>s, was noch<br />

vergessen wurde“ oder - wie <strong>in</strong> Ruths Aufstellung - „<strong>da</strong>s, woh<strong>in</strong> <strong>da</strong>s <strong>Herz</strong> schaut “.<br />

Man könnte annehmen, diese Abstraktion führt zu Entfernung von körperlicher<br />

Wahrnehmung und Empf<strong>in</strong>dung. Es tritt jedoch <strong>da</strong>s Gegenteil e<strong>in</strong>, sie verstärkt diese<br />

eher noch. Denn haben wir im Denken ke<strong>in</strong>e Haltepunkte richtet sich die<br />

Aufmerksamkeit auf Körperempf<strong>in</strong>dungen und Gefühle.<br />

Der Ansatz ist herausfordernd<br />

Wir orientieren uns im Alltag vorwiegend über Inhalte - über <strong>da</strong>s Denken. Daher ist<br />

dieser Ansatz e<strong>in</strong> ungewohnter und oftmals e<strong>in</strong>e Überforderung für Klient.Innen;<br />

manchmal auch für uns Aufsteller.Innen. Je nach Situation und eigenem Vermögen<br />

bewegen wir uns <strong>da</strong>her zwischen Zurücknahme jeder Deutung und der<br />

Notwendigkeit, Vorgänge und Elemente <strong>in</strong> der Aufstellung spezifischer zu benennen.<br />

Die beiden Stellvertreter<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> Ruths Aufstellung fanden spontan zu e<strong>in</strong>er Deutung<br />

des neu h<strong>in</strong>zugekommenen Stellvertreters. E<strong>in</strong>er Deutung, die Ruth erregte und<br />

berührte. Es wäre nicht stimmig gewesen, die Deutung zu relativieren. Doch <strong>in</strong> mir<br />

ließ ich Raum für mögliche weitere, s<strong>in</strong>nstiftende Aspekte. Könnte <strong>in</strong> diesem<br />

Stellvertreter nicht gleichzeitig auch Ruths früheres <strong>Herz</strong> verkörpert se<strong>in</strong>? Immerh<strong>in</strong><br />

hatte sie mit ihm 68 Jahre gelebt. Gab es vielleicht tiefe, vielleicht auch verstrickte<br />

B<strong>in</strong>dungen an <strong>da</strong>s Herkunftssystem? Und Ruths B<strong>in</strong>dung an ihren Mann? Sie hatte<br />

ihn sehr geliebt und er war vor e<strong>in</strong> paar Jahren gestorben.


©Guni Leila Baxa <br />

3 <br />

Die offenen, fast bedeutungsfreien Namen erlauben Mehrdeutigkeit. Sie nehmen den<br />

Charakter von Metaphern, Symbolen und Ritualen an. Diesen wohnt ja gerade<br />

deswegen so große Wirkkraft <strong>in</strong>ne, weil sie Mehrdeutigkeit zulassen und halten<br />

können.<br />

E<strong>in</strong>e Verneigung vor e<strong>in</strong>em gleichgeschlechtlichen Elternteil bezieht ja<br />

möglicherweise auch e<strong>in</strong> Verneigen vor der eigenen Weiblichkeit bzw. Männlichkeit<br />

mit e<strong>in</strong>. Gleichzeitig könnte es auch e<strong>in</strong> Verneigen vor der Reihe der<br />

männlichen/weiblichen Vorfahren se<strong>in</strong> oder dem weiblichen/männlichen Lebensstrom<br />

überhaupt. Vielleicht aber steckt <strong>in</strong> dieser Verneigung auch e<strong>in</strong>e Verneigung vor<br />

e<strong>in</strong>em wichtigen Lehrer. Natürlich s<strong>in</strong>d den Klient.Innen zum Zeitpunkt e<strong>in</strong>er<br />

Verneigung nicht all diese Alternativen bewusst; auch den Aufstellungsleitern nicht.<br />

Doch die Seele ahnt sie. Sie ruhen dort als Potential und implizites Wissen. Und<br />

tauchen häufig <strong>da</strong>nn auf, wenn Klienten um erweiterte Handlungsspielräume und<br />

E<strong>in</strong>sichten r<strong>in</strong>gen. Es ist <strong>da</strong> manchmal wie bei e<strong>in</strong>er Zwiebel: Man kann Schicht für<br />

Schicht ablösen und bei jeder Schicht öffnen sich neue S<strong>in</strong>nzusammenhänge.<br />

Als Ruth die Benennung „ <strong>da</strong>s ist der Spender des <strong>Herz</strong>ens“ hörte, wirkte sie wie<br />

elektrisiert und sehr erregt. Sie fasste nach me<strong>in</strong>er Hand, schaute mich mit grossen<br />

Augen an und fragte: „Ja, wessen <strong>Herz</strong> <strong>schlägt</strong> denn <strong>da</strong> <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er <strong>Brust</strong>?“<br />

„Ich b<strong>in</strong> <strong>da</strong> aufgewacht“, sagte sie später zu diesem Moment der Aufstellung.<br />

In der Aufstellung wandte sich <strong>da</strong>s „<strong>Herz</strong>“ zuerst zu „Ruth“ und me<strong>in</strong>te: „Ich würde ja<br />

gerne zu dir kommen. Doch ich konnte mich überhaupt nicht von ihm verabschieden“<br />

und zeigte <strong>da</strong>bei auf den „Spender des <strong>Herz</strong>ens.“ Dann starrte sie gebannt auf ihn<br />

und rief, als ob sie ihm nach weith<strong>in</strong> etwas zuriefe: „Du bist nicht tot! Weißt Du <strong>da</strong>s?<br />

Du bist nicht tot! Du lebst <strong>in</strong> mir weiter und ich b<strong>in</strong> es, die de<strong>in</strong> <strong>Herz</strong> hütet.“<br />

Ruth ist e<strong>in</strong>e kluge, hoch <strong>in</strong>telligente Frau und enorm belesen. Bis zur<br />

Transplantation war sie als Wissenschaftsjournalist<strong>in</strong> tätig und zusätzlich e<strong>in</strong>e<br />

engagierte und geschätze Politiker<strong>in</strong> für Umweltfragen. Psychotherapie war ihr<br />

fremd.<br />

„Ich konnte mich ja überhaupt nicht von ihm verabschieden,“ sagt nun dieses „<strong>Herz</strong>“.<br />

Abschiedsschmerz e<strong>in</strong>es Organs? E<strong>in</strong> körperliches Organ als etwas eigenständig<br />

Fühlendes und Empf<strong>in</strong>dendes? Für unser von den Naturwissenschaften geprägtes<br />

Weltbild ist <strong>da</strong>s undenkbar. Gehört <strong>da</strong>s nicht ganz und gar <strong>in</strong> den Bereich<br />

versponnener Esoterik?<br />

Die klassische Schulmediz<strong>in</strong>, mit der Ruth auf Du und Du stand, betrachtet den<br />

Körper als e<strong>in</strong>e chemische Fabrik. Für sie ist der Körper e<strong>in</strong> Gegenstand, dessen<br />

Bauplan und Funktionen uns rational zugänglich s<strong>in</strong>d. Haben wir diesen Bauplan<br />

erforscht, können wir ihn – ohne seelische oder geistige Konsequenzen – beliebig<br />

manipulieren und verändern.<br />

Bei diesem lauten Ruf ihrer Stellvertreter<strong>in</strong> an den „Spender“ zuckte Ruth<br />

zusammen. Sie schüttelte irritiert den Kopf und rang sichtlich mit sich. Doch nach<br />

e<strong>in</strong>er Weile begann sie bitterlich zu schluchzen.


©Guni Leila Baxa <br />

4 <br />

Wahrnehmen, <strong>da</strong>s trennt<br />

Für Descartes, dessen Sichtweise über Jahrhunderte unsere Beziehung zu unserem<br />

Körper geprägt hat, besteht der Körper aus e<strong>in</strong>er Summe von Teilen ohne Inneres.<br />

Die Seele existiert unabhängig vom Körper und ist ganz sich selbst gegenwärtiges<br />

Se<strong>in</strong>. Zwischen Seele und Körper besteht ke<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung.<br />

Wir alle s<strong>in</strong>d geschult, uns selbst und die Welt auf diese Weise wahrzunehmen. E<strong>in</strong>e<br />

Weise die trennt, Grenzen zieht und die Welt <strong>in</strong> vone<strong>in</strong>ander getrennte<br />

E<strong>in</strong>zelgegenstände auflöst. Es ist e<strong>in</strong> von Er<strong>in</strong>nerung und von Denken geleiteter<br />

Blick. Es ist e<strong>in</strong> Wahrnehmen, <strong>da</strong>s schnell benennt, e<strong>in</strong>ordnet, kategorisiert. Das<br />

Gegenüber wird vergegenständlicht, <strong>da</strong>mit empf<strong>in</strong>dungslos und passiv gemacht. Die<br />

D<strong>in</strong>ge werden erfasst im S<strong>in</strong>ne ihrer Dienlichkeit. Wir überspr<strong>in</strong>gen die<br />

Wahrnehmung ihrer s<strong>in</strong>nlichen Präsenz und nehmen bewusst nur mehr deren<br />

Bedeutung wahr.<br />

Das „<strong>Herz</strong>“ <strong>in</strong> der Aufstellung macht <strong>da</strong>rauf aufmerksam, wie e<strong>in</strong>seitig diese Sicht auf<br />

unseren Körper ist. Im Deutschen gibt es die <strong>in</strong>teressante sprachliche<br />

Unterscheidung zwischen Körper und Leib. vii Sie beruht auf der für uns Menschen<br />

fun<strong>da</strong>mentalen Freiheit, uns von uns selbst zu distanzieren. Wir vermögen wie von<br />

außen auf uns zu schauen. Das führt <strong>da</strong>zu, <strong>da</strong>ss unsere Beziehung zu unserem<br />

Körper e<strong>in</strong>e zweifache ist.<br />

Ruth schluchzte, konnte nicht sprechen, hielt mich aber immer noch fest an der<br />

Hand. Nach e<strong>in</strong>er Weile me<strong>in</strong>te sie: „Ja, ja, so ist <strong>da</strong>s auch. Me<strong>in</strong>e Stellvertreter<strong>in</strong><br />

spürt <strong>da</strong>s ganz richtig. Be<strong>in</strong>ahe täglich be<strong>da</strong>nke ich mich bei ihm und verspreche<br />

ihm, auf se<strong>in</strong> <strong>Herz</strong> aufzupassen. Ich b<strong>in</strong> ihm - und <strong>da</strong>bei zeigt sie zum „Spender“ <strong>in</strong><br />

der Aufstellung - ja so unendlich <strong>da</strong>nkbar. Als ob er mir <strong>da</strong>s Leben geschenkt hätte.<br />

Doch irgendwie ist <strong>da</strong>s total verrückt. Ich b<strong>in</strong> eigentlich nicht abergläubisch. Es ist so<br />

k<strong>in</strong>disch. Ich schäme mich vor mir selber <strong>da</strong>für und doch mache ich es.“<br />

In der Moderne haben wir gelernt, den Körper wie von außen zu betrachten, als<br />

Objekt. Er ist gleichsam zu e<strong>in</strong>em Teil der Umwelt geworden. Wir wollen über ihn<br />

verfügen als e<strong>in</strong> Instrument für Arbeit, Lust oder andere Verrichtungen. Mediz<strong>in</strong>ische<br />

Interventionen helfen uns, die Herrschaft über unseren Körper wiederherzustellen.<br />

Wir wollen den Körper schöner und besser haben. Der "Body" soll funktionieren: wir<br />

schütten etwas h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, wir tra<strong>in</strong>ieren ihn, wir stählen ihn, bestrahlen ihn, stylen,<br />

bemalen, kneten, schütteln ihn. Er ist zu etwas geworden, <strong>da</strong>s wir besitzen wie e<strong>in</strong><br />

D<strong>in</strong>g.<br />

E<strong>in</strong>e Frau aus der Gruppe, benannt als „<strong>da</strong>s Leben“ wurde gebeten <strong>in</strong> der<br />

Aufstellung e<strong>in</strong>en für sie stimmigen Platz e<strong>in</strong>zunehmen. Sie stellte sich so, <strong>da</strong>ss sie<br />

e<strong>in</strong>en gewissen Abstand zu allen drei anderen hatte, sie diese sehen konnte und<br />

auch die anderen sie sehen konnten. „Ruth“ sank <strong>in</strong> sich zusammen und g<strong>in</strong>g zu<br />

Boden mit den Worten: „Das Leben gehört nicht zu mir, es gehört zu ihm“ und wies<br />

auf den „Spender“. Das „<strong>Herz</strong>“ zog sich zurück und sagte zu „Ruth“: „Solange du <strong>da</strong>s<br />

nicht klärst, habe ich hier ke<strong>in</strong>en Platz“. Der Spender bat <strong>da</strong>rum, e<strong>in</strong>fach tot se<strong>in</strong> zu<br />

dürfen. Das „Leben“ stand mit offenen Armen <strong>da</strong> und wartete.


©Guni Leila Baxa <br />

5 <br />

Wir haben e<strong>in</strong>en Körper, um im Meer der Seele zu schwimmen<br />

Wir können den Körper auch verstehen als den Ort unserer Erfahrung, als <strong>da</strong>s,<br />

was im Deutschen mit dem Begriff Leib ausgedrückt wird. Der Leib ist <strong>da</strong>s lebende<br />

Ganze e<strong>in</strong>es Menschen. Wir leben mit unserem Leib und leben durch ihn. Er ist die<br />

Versammlungsstätte der eigenen Wahrnehmungen, Bewegungen, Empf<strong>in</strong>dungen,<br />

Gefühle und Ge<strong>da</strong>nken. Wir s<strong>in</strong>d unser Leib. Der Leib ist die Sprache der Seele. Er<br />

ist der Ort der Begegnung von Seele und Körper, der beseelte Körper. Er ist <strong>da</strong>s,<br />

was wir jenseits von Konzepten und Strategien unmittelbar erfahrend wahrnehmen.<br />

Leiblichkeit ist die Weise <strong>in</strong> der Welt zu se<strong>in</strong>, die uns S<strong>in</strong>n erleben lässt. Sie ist die<br />

Weise zu se<strong>in</strong>, bei der wir uns erfüllter, <strong>in</strong>tensiver, offener, staunender, zentrierter<br />

fühlen.<br />

„Bist du bereit dich auf e<strong>in</strong> Experiment e<strong>in</strong>zulassen,“ fragte ich Ruth. „ Ja, natürlich,“<br />

war die Antwort. Da bat ich Ruth, sich <strong>in</strong> ziemlich großen Abstand vom „Leben“<br />

h<strong>in</strong>zustellen und mit ihm Augenkontakt aufzunehmen, um sich <strong>da</strong>nn - immer im<br />

Augenkontakt - schrittweise dem „Leben“ zu nähern. „Ruth“, die Stellvertreter<strong>in</strong>, bat<br />

ich, solange <strong>in</strong> ihrer momentanen Position zu bleiben, bis e<strong>in</strong> Impuls käme diese<br />

Position dem Prozess entsprechend zu verändern.<br />

Nicht ich atme, sondern der Atem atmet mich<br />

Im Unterschied zum denkenden Bewusstse<strong>in</strong> wird bei leiblichem Verstehen auch von<br />

Bewusstheit gesprochen oder von Gewahrse<strong>in</strong>, Achtsamkeit, Absichtslosigkeit,<br />

Präsenz. Es ist e<strong>in</strong> Zustand von Wachheit und Offenheit. Er ist nicht reflexiv oder<br />

<strong>in</strong>tentional. Das im Alltag im Ich - im Denken - zusammengezogene Bewusstse<strong>in</strong><br />

kann gewissermaßen wieder absteigen <strong>in</strong> den Leib. Nicht ich sehe die Blume, die<br />

Blume sieht mich an. Nicht ich atme, sondern der Atem atmet mich. „Musik so tief<br />

vernommen, <strong>da</strong>ss sie gar nicht mehr gehört wird, sondern du selbst bist die Musik,<br />

solange die Musik erkl<strong>in</strong>gt.“ viii<br />

Der Weg führte über Zurückweichen, Verzweiflung, Schmerz, Trauer, Trotz, bitteres<br />

We<strong>in</strong>en, zu zögerndem Loslassen, tastendem Sich- Annähern, Erleichterung, stillem<br />

We<strong>in</strong>en, Lächeln, Umarmen, Glücklich-Se<strong>in</strong> und Stille, bis h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>em tiefen<br />

<strong>in</strong>neren Leuchten bei Ruth: e<strong>in</strong>er Palette an Gefühlen und Empf<strong>in</strong>dungen, wie wir sie<br />

aus Prozessen zu e<strong>in</strong>er unterbrochenen H<strong>in</strong>bewegung kennen. Und gleichzeitig war<br />

es noch etwas <strong>da</strong>rüber h<strong>in</strong>aus.<br />

Resonanz<br />

Wie kommt es, <strong>da</strong>ss Erwachsene ganz spontan ihren Mund öffnen, wenn sie e<strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>d mit dem Löffelchen füttern?<br />

Resonanzphänomene zwischen uns Menschen bevölkern unseren Alltag. Sie s<strong>in</strong>d<br />

uns so vertraut, <strong>da</strong>ss wir sie kaum bemerken. Eltern spüren „<strong>in</strong>tuitiv“, wenn bei ihren<br />

K<strong>in</strong>dern etwas nicht <strong>in</strong> Ordnung ist. Wir nehmen Spannungen zwischen zwei<br />

Menschen wahr, auch wenn sie von diesen kaum wahrgenommen werden. Wir<br />

spüren die Stimmung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gruppe, spüren die Atmosphäre e<strong>in</strong>es Raums usw.


©Guni Leila Baxa <br />

6 <br />

Das Überraschende und Neue an der Entdeckung der Spiegelneurone war <strong>da</strong>her<br />

nicht so sehr die Tatsache, <strong>da</strong>ss es zwischen uns Menschen und bei höheren<br />

Lebewesen Resonanzphänomene gibt. Es war viel mehr die Entdeckung, <strong>da</strong>ss es<br />

<strong>da</strong>für auch auf neurophysiologischer Basis e<strong>in</strong>e Entsprechung gibt.<br />

Dialogischer Austausch und leibliches Verstehen<br />

Ergebnisse aus der Säugl<strong>in</strong>gsforschung zeigen, <strong>da</strong>ss wir vermutlich mit e<strong>in</strong>er<br />

Grun<strong>da</strong>usstattung an Spiegelneuronen geboren werden. Doch alles weitere<br />

entwickelt sich im sozialen Kontakt – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dialogischen Austausch und über<br />

leibliches Verstehen.<br />

Der Austausch mit dem K<strong>in</strong>d geschieht vorwiegend über so genannte Vitalitäts -<br />

oder Aktivitätskonturen. Zum Beispiel: E<strong>in</strong> etwa neun Monate altes Mädchen gerät<br />

beim Anblick e<strong>in</strong>es Spielzeugs <strong>in</strong> große Aufregung. Es streckt impulsiv die Hand aus,<br />

ergreift <strong>da</strong>s Spielzeug und lässt e<strong>in</strong> entzücktes Aaaah! hören. Dabei blickt es die<br />

Mutter herausfordernd. Diese erwidert den Blick, zieht die Schultern „hoch und führt<br />

mit dem Oberkörper e<strong>in</strong>en prächtigen Shimmy auf, wie e<strong>in</strong>e Go-go Tänzer<strong>in</strong>.“ Der<br />

Shimmy <strong>da</strong>uert genauso lange wie der Ton des K<strong>in</strong>des und ist von gleicher Intensität<br />

und Erregung erfüllt. ix<br />

Resonanz heißt nicht so sehr, <strong>da</strong>ss e<strong>in</strong> direktes Gefühl, wie Freude, Wut, Scham<br />

oder e<strong>in</strong>e gleiche Handlung widergespiegelt wird – also <strong>in</strong>haltlich <strong>da</strong>s gleiche<br />

geschieht. Resonanz äußert sich vielmehr über Erlebnisqualitäten – und<br />

Aktivitätsverläufe, bei denen Intensität, Takt, Rhythmus, Dauer die herausragende<br />

Rolle spielen. „Vitalitätskonturen s<strong>in</strong>d Eigenschaften des Erlebens, die sich mit<br />

k<strong>in</strong>tetischen Begriffen charakterisieren lassen wie „verblassend“, „flüchtig“,<br />

„explosionsartig“, „abschwellend“, „ sich h<strong>in</strong>ziehend“ , „berstend“ usw.“ x<br />

Aufmerksamkeitsfelder<br />

Wir wissen viel <strong>da</strong>rüber, was wir tun und wie wir es tun. Doch wir wissen wenig über<br />

den <strong>in</strong>neren Ort, die Quelle, von der her wir handeln. In se<strong>in</strong>en langjährigen<br />

Forschungsprojekten fand O. Scharmer spezielle Qualitäten des Zuhörens, über die<br />

sich unterschiedliche Aufmerksamkeitsfelder öffnen, aus denen sich unser Handeln<br />

speist.<br />

Dieses Zuhören kann sich durchaus <strong>in</strong> uns selbst abspielen, wie ich am Beispiel von<br />

Ruth verdeutlichen werde. Ruth fand über die Aufstellung neue Zugänge zu sich<br />

selbst. Zuerst im Hören der Repräsentant.Innen. Dann im dialogischen Austausch<br />

mit diesen und im Hören und Zulassen ihrer unmittelbaren Empf<strong>in</strong>dungen und<br />

Gefühle, im H<strong>in</strong>hören auf ihren „Leib“.<br />

Scharmer beschreibt vier sehr deutlich zu differenzierende Weisen des Zuhörens:<br />

• Download<strong>in</strong>g –Herunterladen<br />

• Gegenständlich – unterscheidendes Zuhören<br />

• Empathisches Zuhören<br />

• Schöpferisches Zuhören


©Guni Leila Baxa <br />

7 <br />

Alle Sätze, die <strong>in</strong> diesen 4 Weisen des Zuhörens <strong>in</strong> „“ (Anführungsstriche) gesetzt<br />

s<strong>in</strong>d, stammen aus e<strong>in</strong>er Sem<strong>in</strong>ar-Mitschrift e<strong>in</strong>er Kolleg<strong>in</strong>. Wann und wo dieses<br />

Sem<strong>in</strong>ar stattgefunden hat, konnte ich nicht mehr eruieren.<br />

Herunterladen (downloaden)<br />

ist e<strong>in</strong> Zuhören, <strong>da</strong>s ausschließlich der <strong>in</strong>neren Bestätigung dient. Ja, ja, <strong>da</strong>s weiß ich<br />

schon. Alles was geschieht, bestätigt bestehende Erwartungen, Urteile und<br />

Überzeugungen. Es bestätigt <strong>da</strong>s, was wir schon wussten. „In diesem Modus<br />

funktioniert unsere Weltwahrnehmung auf Basis e<strong>in</strong>es Wahrnehmungsorgans der<br />

ersten Ordnung: die Gesamtheit unserer gewohnheitsmäßigen Urteile, die wir <strong>in</strong><br />

uns tragen. Wir sehen nur <strong>da</strong>s, was unserem gewohnheitsmäßigen Urteilen<br />

entspricht.“<br />

Ruth befand sich kurz <strong>in</strong> diesem Zustand, als <strong>da</strong>s „<strong>Herz</strong>“ von Abschiedsschmerz<br />

sprach und so <strong>in</strong>tensiv gefühlten Kontakt zum Spender herstellte. Das alles stimmte<br />

so gar nicht mit ihrem naturwissenschaftlichen Weltbild übere<strong>in</strong>, stellte es ja völlig <strong>in</strong><br />

Frage.<br />

Gegenständlich – unterscheidendes Zuhören: Offener M<strong>in</strong>d<br />

Es ist e<strong>in</strong> Zuhören, <strong>da</strong>s sich auf die Wahrnehmung von Fakten bezieht. Es bezieht<br />

sich auf die Welt als e<strong>in</strong>er Menge von Gegenständen. Wir konzentrieren uns auf<br />

diejenigen Aspekte der Realität, die von den eigenen Vorstellungen abweichen,<br />

anstatt diese Unterschiede zu verleugnen, wie beim downloaden. Die <strong>in</strong>nere Stimme<br />

des Urteilens ist ausgeschaltet. Faktisches H<strong>in</strong>hören ist der Modus guter<br />

Wissenschaft. Es fokussiert sich auf neue oder widersprechende Daten: Oh, schau<br />

dir <strong>da</strong>s an!<br />

„In diesem Modus aktivieren wir e<strong>in</strong> Wahrnehmungsorgan der zweiten Ordnung:<br />

unsere tatsächlichen S<strong>in</strong>nesorgane. Sie verleihen uns Aufschluss über die reale<br />

Beschaffenheit der D<strong>in</strong>ge.“<br />

Bei Ruth zeigte sich dieses: Oh, schau dir <strong>da</strong>s an! <strong>in</strong> ihrem Aufwachen mit der<br />

staunenden und auch erschrockenen Frage: Ja, wessen <strong>Herz</strong> <strong>schlägt</strong> denn <strong>da</strong> <strong>in</strong><br />

me<strong>in</strong>er <strong>Brust</strong>?<br />

Empathisches Zuhören: Offenes <strong>Herz</strong><br />

Von dem Fokus auf die D<strong>in</strong>ge, die Abbildungen und Fakten (die «Es-Welt») f<strong>in</strong>det<br />

e<strong>in</strong>e Wende h<strong>in</strong> zu dem lebenden und sich entwickelnden Selbst (der «Du-Welt»)<br />

statt: Oh, ja! Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Diese tiefere Ebene des Hörens ist<br />

e<strong>in</strong> empathisches H<strong>in</strong>hören. Wir erleben die Gegenwart aus der Perspektive e<strong>in</strong>es<br />

anderen und erspüren den Punkt, aus dem heraus unser Gegenüber handelt.<br />

„Empathisches Zuhören ist e<strong>in</strong>e Fähigkeit, die, wie jede andere menschliche<br />

Fähigkeit, kultiviert und entwickelt werden kann. Es ist e<strong>in</strong>e Fähigkeit, deren<br />

Intelligenz e<strong>in</strong>e andere Quelle hat, die jedoch aktiviert werden kann – die Intelligenz<br />

unseres <strong>Herz</strong>ens als e<strong>in</strong> Wahrnehmungsorgan der dritten Ordnung.“<br />

Er<strong>in</strong>nern wir uns an Ruth und den Moment, als sie zu schluchzen begann, sie<br />

konfrontiert war mit ihrer Dankbarkeit an den Spender und sie sich dessen<br />

gleichzeitig schämte. Es war der Moment, <strong>in</strong> dem Ruth <strong>in</strong> Kontakt mit e<strong>in</strong>er tieferen,<br />

bisher wenig akzeptierten und ausgedrückten und gelebten Schicht von sich selbst<br />

kam. Und sie trat, <strong>in</strong>dem sie auf ihr „Leben“ zug<strong>in</strong>g, e<strong>in</strong>en Weg des Ja, der Liebe zu


©Guni Leila Baxa <br />

8 <br />

sich selbst an.<br />

Immer, wenn e<strong>in</strong> wirklicher Dialog entsteht, f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Bewegung des <strong>in</strong>neren Ortes<br />

statt, von dem aus unser Zuhören geschieht. Solange wir uns <strong>in</strong> den ersten beiden<br />

Modi des Zuhörens bef<strong>in</strong>den, bewegen wir uns <strong>in</strong>nerhalb der Grenzen unserer<br />

eigenen mental-kognitiven Organisation. Im Fall empathischen Zuhörens jedoch<br />

verschiebt sich unsere Wahrnehmung h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> <strong>da</strong>s Feld zum Anderen. Die<br />

trennende Grenze zum Anderen löst sich auf. Wir erleben e<strong>in</strong>e unmittelbare<br />

Berührung, e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung von <strong>Herz</strong> zu <strong>Herz</strong>. Wir öffnen uns der Liebe.<br />

Schöpferisches Zuhören<br />

Und nicht zuletzt gibt es e<strong>in</strong>e vierte Ebene des Zuhörens, die Ebene schöpferischen<br />

Zuhörens. Diese Qualität des Zuhörens veranlasst uns, den Willen zu öffnen als e<strong>in</strong><br />

Wahrnehmungsorgan der vierten Ordnung. Wenn wir uns auf diese Ebene e<strong>in</strong>lassen,<br />

tritt <strong>da</strong>s eigene Ego aus dem Weg, tritt <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund. Dadurch öffnen wir e<strong>in</strong>en<br />

<strong>in</strong>neren Raum der Stille und des Werdens, durch den h<strong>in</strong>durch e<strong>in</strong>e andere Qualität<br />

von Gegenwärtigkeit anwesend se<strong>in</strong> kann. „Wir öffnen e<strong>in</strong> Sensorium, durch <strong>da</strong>s wir<br />

uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e direkte Beziehung mit unserer höchsten Zukunftsmöglichkeit setzen<br />

können. An diesem Punkt suchen wir nicht mehr außerhalb von uns selbst. Wir<br />

bef<strong>in</strong>den uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Feld, „durch <strong>da</strong>s wir weit über unsere normalen<br />

Organisationsgrenzen h<strong>in</strong>ausgehoben werden, <strong>in</strong>dem wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Moment der<br />

zeitlosen Stille e<strong>in</strong>treten. Wir erleben, wie durch diesen Moment der zeitlosen Stille<br />

etwas ganz Anderes, Neues und Zukünftiges beg<strong>in</strong>nt. Etwas beg<strong>in</strong>nt durch unsere<br />

geme<strong>in</strong>same Mitte h<strong>in</strong>durch anwesend zu werden.“<br />

Etwa nach der Hälfte des Weges stand „Ruth“, die Stellvertreter<strong>in</strong>, vom Boden auf<br />

und begann kaum hörbar zu summen. Das „<strong>Herz</strong>“ griff zu e<strong>in</strong>er Trommel und schlug<br />

leise, <strong>da</strong>nn etwas lauter den <strong>Herz</strong>rhythmus. Gegen Ende des Weges standen<br />

plötzlich – ohne jede vorherige Absprache - alle Teilnehmer.Innen auf, bildeten e<strong>in</strong>en<br />

Kreis um Ruth und <strong>da</strong>s „Leben“ und wiegten sich leicht im Rhythmus der Trommel.<br />

20 M<strong>in</strong>uten äußerer Zeit wandelten sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en zeitlosen Moment, <strong>in</strong> gelebte<br />

Erfahrung durch leibliches Verstehen und im dialogischen Austausch.<br />

Dass wir auf der vierten Ebene anwesend waren, erkennen wir am Ende e<strong>in</strong>er<br />

Erfahrung. Wir stellen <strong>da</strong>nn plötzlich fest, <strong>da</strong>ss wir nicht mehr die gleichen Personen<br />

s<strong>in</strong>d, als die wir <strong>in</strong> diese Erfahrung h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gegangen s<strong>in</strong>d. Wir s<strong>in</strong>d durch e<strong>in</strong>e subtile,<br />

kaum spürbare aber profunde Verwandlung gegangen.<br />

Ruth<br />

Die Aufstellung war für Ruth „der wichtigste Wendepunkt <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben. Genauso<br />

wichtig, wie die Begegnung mit me<strong>in</strong>em Mann.“<br />

Ruth lebt durch <strong>da</strong>s physische <strong>Herz</strong>, es <strong>schlägt</strong> und ist e<strong>in</strong>es ihrer wesentlichen<br />

körperlichen Organe, um zu überleben. Doch gleichzeitig führt sie <strong>da</strong>s <strong>Herz</strong> <strong>in</strong> die<br />

tiefsten Schichten ihrer Verb<strong>in</strong>dung zur Welt und zu sich selbst. Wir leben mit<br />

unserem Körper, unserem beseelten Körper und gleichzeitig durch unseren Körper.<br />

Der Körper (Leib) ist e<strong>in</strong>erseits des Werkes verantwortlicher Ausführender, doch<br />

andererseits se<strong>in</strong> Rohmaterial


©Guni Leila Baxa <br />

9 <br />

Diese Erfahrung war der Beg<strong>in</strong>n für e<strong>in</strong>en Weg, der Ruth noch über mehrere<br />

Stationen führte. Wie etwa e<strong>in</strong> Ritual zur Verabschiedung von ihrem früheren<br />

<strong>Herz</strong>en, traumatische Kriegserfahrungen, die frühe Trennung von ihrem jüdischen<br />

Vater, der Abschied von ihrem Mann, e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>wendung zu ihren K<strong>in</strong>dern und<br />

Enkelk<strong>in</strong>dern, von denen sie bis <strong>da</strong>h<strong>in</strong> völlig isoliert gelebt hatte. „Der größte<br />

Schmerz“, sagt sie, „den ich jetzt noch habe, ist der Schmerz, <strong>da</strong>ss ich dieses jetzt<br />

so erfüllte und heitere Dase<strong>in</strong> mit me<strong>in</strong>em Mann nicht mehr teilen kann.“<br />

Ich empf<strong>in</strong>de es als e<strong>in</strong> grosses Geschenk, <strong>da</strong>ss Ruth und ich seit der Aufstellung <strong>in</strong><br />

Kontakt geblieben s<strong>in</strong>d und es mir <strong>da</strong>durch möglich war und ist, Ruths weiteren Weg<br />

miterleben und begleiten zu dürfen.<br />

i Daniel N. Stern (2010): Der Gegenwartsmoment. 3. Auflage Brandes & Apsel S.14<br />

ii Merleau –Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Walter de Gruyter & Co, Berl<strong>in</strong> 1966, S.192<br />

iii Das komplexe Thema von psychischen und geistigen Auswirkungen von Organtransplantationen,<br />

besonders <strong>Herz</strong>transplantationen will ich hier nicht aufgreifen und vertiefen.<br />

iv Mehr oder weniger parallel zu den Familien – und Organsationaufstellungen, die auf soziale<br />

Systeme fokussiert s<strong>in</strong>d, entwickelte sich <strong>in</strong> den 90er Jahren des letzten Jahrhundert der Bereich<br />

der so genannten Strukturaufstellungen. Den Erstimpuls <strong>da</strong>für setzte die Frage: Lässt denn<br />

möglicherweise diese so fasz<strong>in</strong>ierende Vorgehensweise des Stellens nicht auch auf weitere<br />

Beziehungsgefüge anwenden? Auf alles, <strong>in</strong> dem es um Zusammenhalt und Beziehung geht?<br />

Können z.B. auch psychische Systeme wie unsere <strong>in</strong>neren Stimmen rund um e<strong>in</strong> Problem gestellt<br />

werden? Oder logische und geistige Systeme, nonpersonale Elemente? Und vielleicht auch<br />

umgekehrt: Könnte <strong>da</strong>s Stellen menschheitsgeschichtlich bewährter geistiger und spiritueller Modelle<br />

e<strong>in</strong>en Rahmen zur Verfügung stellen für heilsame und lösende Prozesse? Niedergeschlagen hat<br />

sich dieses Forschen durch die Hauptvertreter der Strukturaufstellungsarbeit, Insa Sparrer und<br />

Matthias Vaga von Kibed, unter anderem <strong>in</strong> der Entwicklung e<strong>in</strong>iger grundlegender<br />

Aufstellungsformate. Zu ihnen gehören die Problemaufstellung, die Glaubenspolaritäten, die<br />

Zielannäherungsaufstellung, die Aufstellung des ausgeblendeten Themas, <strong>da</strong>s Tetralemma uam.<br />

Das Spektrum der Anwendung des Systemestellens erweiterte sich zusehends. Es gibt jetzt auch<br />

Drehbuch - Roman - Theateraufstellungen, Aufstellungen zu homöopathischen Arneimitteln,<br />

Managementfragen, Märchen - und Traumaufstellungen, Mediation, Arbeit mit <strong>in</strong>neren Teilen,<br />

Körperaufstellungen, <strong>da</strong>s Stellen von Sätzen und vieles andere mehr<br />

v Daniel N. Stern (2010): Der Gegenwartsmoment. 3. Auflage, Brandes &Apsel S.14<br />

vi<br />

Das „Neue Familienstellen“ Bert Hell<strong>in</strong>gers sche<strong>in</strong>t mir auf e<strong>in</strong>e ähnlichen Annahme zu beruhen.<br />

Auch wenn <strong>da</strong>nn die Vorgehensweise und der Leitungsstil e<strong>in</strong> sehr anderer s<strong>in</strong>d.<br />

vii<br />

Leib geht auf dieselbe <strong>in</strong>dogermanische Sprachwurzel zurück wie <strong>da</strong>s englische Wort life: Leben.<br />

viii T.S. Eliot<br />

ix Daniel N. Stern (1992): Die Lebenserfahrung des Säugl<strong>in</strong>gs. Klett Cotta, Stuttgart S.200f.<br />

x S. Trautmann-Voigt & B. Voigt (2001): Bewegung und Bedeutung – Chancen therapeutischer<br />

Kommunikation. In Psychotherapie Forum, Spr<strong>in</strong>ger Verlag, Wien. S. 23

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