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Jenseits der Sichtbarkeit

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Jörg H. Gleiter, <strong>Jenseits</strong> <strong>der</strong> <strong>Sichtbarkeit</strong><br />

Was ist Designtheorie? Sicherlich nicht die Summe des individuellen<br />

Nachdenkens über die Dinge. Was aber ist sie dann?<br />

Das Optisch-Unbewusste Für die Beantwortung <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong><br />

Theorie soll hier von einer einfachen Beobachtung ausgegangen<br />

werden: In <strong>der</strong> Regel schenken wir den Gegenständen unserer<br />

Alltagswelt wenig Aufmerksamkeit. Wir rechnen mit ihnen, wir<br />

verlassen uns mit aller Selbstverständlichkeit auf sie und nehmen sie<br />

doch kaum wahr. Oft passiert es, dass wir die Farbe, das Material o<strong>der</strong><br />

die räumliche Konstellation einer Situation nach kurzem schon nicht<br />

mehr klar erinnern können. Walter Benjamin sprach in diesem<br />

Zusammenhang vom „Optisch-Unbewußten“ (Benjamin 1991, 500), mit<br />

dem wir die Dinge im Alltag wahrnehmen, beiläufig wenn nicht sogar<br />

nur automatisch. Die Kunst dagegen genießen wir klassischerweise in<br />

einer Haltung <strong>der</strong> Kontemplation. Kontemplation heißt, dass wir uns in<br />

das Dargestellte hineinversetzen, indem wir die Welt um uns herum<br />

ausblenden. In seiner Analytik des Schönen bezeichnete Immanuel Kant<br />

diese Haltung den Dingen gegenüber als „interesseloses Wohlgefallen“<br />

(Kant 1996, §§ 1-5). Dieses sei die Grundlage <strong>der</strong> kontemplativen<br />

Einstellung in <strong>der</strong> Kunst.<br />

Natürlich gilt das automatisierte, optisch-unbewusste Wahrnehmen<br />

nicht für alle Alltagssituationen und die kontemplative Einstellung<br />

auch nicht für jede Kunsterfahrung. Aber gerade darum geht es. Es war<br />

wie<strong>der</strong>um Benjamin, <strong>der</strong> in aller Klarheit erkannt hatte, dass die neuen<br />

technischen Medien – im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Fotoapparat, zu Beginn<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts die Filmkamera und heute die digitalen<br />

Medientechnologien – massiv unsere gewohnte, das heißt<br />

automatisierte o<strong>der</strong> kontemplative Wahrnehmung herausfor<strong>der</strong>n.<br />

Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verän<strong>der</strong>e sich durch das<br />

Medium, in <strong>der</strong> sie erfolgt, die Art und Weise <strong>der</strong><br />

Sinneswahrnehmung. Der Fotoapparat habe so zum Beispiel die<br />

Malerei von <strong>der</strong> mimetischen Abbildhaftigkeit befreit und die<br />

Möglichkeit eröffnet, die Linie und die Farbe, also das eigentliche<br />

Malerische, zum Gegenstand <strong>der</strong> Kunst zu erheben, wie zum Beispiel<br />

in <strong>der</strong> impressionistischen Malerei von Max Liebermann. Die<br />

Filmkamera habe darüber hinaus die Fähigkeit, quasi hinter die<br />

Fassade <strong>der</strong> Dinge o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schauspieler einzudringen und das<br />

Optisch-Unbewusste zutagezuför<strong>der</strong>n. Mit „ihrem Unterbrechen und<br />

Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des Ablaufs, ihrem Vergrößern<br />

und ihrem Verkleinern“ (Benjamin 1991, 500) gäben die filmischen<br />

Verfahren die Distanz zu den Dingen auf. Benjamin stellte darüber<br />

hinaus fest, dass es erst mithilfe <strong>der</strong> neuen technischen Mitteln des<br />

Films möglich wurde, überhaupt das Optisch-Unbewusste zu<br />

thematisieren und erfahrbar zu machen, genauso wie wir erst durch die<br />

Psychoanalyse ins Triebhaft-Unbewußte unserer Seele Einblick<br />

bekommen hätten.<br />

Mit Benjamin gesprochen liegt hierin gerade die Aufgabe <strong>der</strong> Theorie.<br />

Es ist eine analytische Aufgabe, nämlich das automatisierte Sehen und<br />

die kontemplative Betrachtung in bewusste Wahrnehmung zu<br />

überführen. Die Theorie soll die Dinge benennbar machen, sodass man<br />

über sie sprechen kann. Nötig scheint dies in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, wo<br />

aufgrund <strong>der</strong> beschleunigten gesellschaftlichen und technologischen<br />

Dynamik die Mo<strong>der</strong>ne sich nicht mehr ohne weiteres auf die<br />

Traditionen verlassen kann. Die Mo<strong>der</strong>ne ist vorbildlos auf sich<br />

geworfen, wie Jürgen Habermas feststellte, sie kann „ihre<br />

orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbil<strong>der</strong>n einer an<strong>der</strong>en Epoche<br />

entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen“<br />

(Habermas 1988, 16). Wo alles in Bewegung und ständig im Umbau ist,<br />

kann sich die Mo<strong>der</strong>ne für die Lösung <strong>der</strong> anstehenden Probleme nicht<br />

mehr auf die bekannten, traditionellen Verfahren verlassen. Sie muss<br />

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