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Jenseits der Sichtbarkeit

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Jörg H. Gleiter, <strong>Jenseits</strong> <strong>der</strong> <strong>Sichtbarkeit</strong><br />

Das kulturelle Kräftefeld Aus dem bisher Ausgeführten folgt, dass die<br />

Dinge immer in den größeren kulturellen Kontext eingebunden sind.<br />

Nichts steht nur für sich allein. Dass dieses so ist und was es bedeutet,<br />

wird immer dann sichtbar, wenn <strong>der</strong> Kontext sich verschiebt,<br />

willentlich o<strong>der</strong> auch nicht. Dann werden wir plötzlich auf die Dinge<br />

neu aufmerksam, und mithin verän<strong>der</strong>n sie dadurch sogar ihre<br />

Bedeutung. Den ersten Fall hat <strong>der</strong> russische Formalist Viktor Sklovskij<br />

beschrieben. Er sprach von <strong>der</strong> Kunst als einem „Verfahren <strong>der</strong><br />

Verfremdung“. Die Kunst verfolgt nach Sklovskij nie das Neue und<br />

schon überhaupt nicht das Neue um des Neuen Willen. Ziel <strong>der</strong> Kunst<br />

sei es dagegen, „ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als<br />

Sehen, und nicht als Wie<strong>der</strong>erkennen“ (Sklovskij 1994, 15). Kunst sei<br />

Verfremdung im Sinne <strong>der</strong> Entautomatisierung des Sehens. Sie solle<br />

den Stein wie<strong>der</strong> als Stein erfahrbar machen. Die Technik <strong>der</strong><br />

Avantgarde <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne sei daher, dem Alten und Altbekannten, was<br />

wir im Alltag automatisiert und abgestumpft wahrnehmen, neue<br />

Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. Etwas taucht in einem<br />

an<strong>der</strong>en Kontext auf, und schon nehmen wir es neu wahr. Plötzlich<br />

werden wir uns bewusst, dass da überhaupt etwas ist. Es geht also<br />

nicht nur darum, »was wir sehen«, son<strong>der</strong>n wesentlich auch »wie wir<br />

etwas sehen«.<br />

Sklovskij hat bei seiner Analyse des Verfremdungsverfahrens in <strong>der</strong><br />

Kunst jedoch unterschlagen, dass mit <strong>der</strong> Verschiebung des Kontextes<br />

die Dinge nicht nur neu ins Auge fallen, son<strong>der</strong>n dass sie damit auch<br />

ihre Funktion im größeren kulturellen Ganzen verän<strong>der</strong>n können.<br />

Marcel Duchamp hat uns das mit seinem ready made Fountain<br />

vorgeführt. Er nahm ein Urinal, wie es im Baumarkt zu haben ist,<br />

entfunktionalisierte es, indem er es auf die Seite legte, brachte es<br />

artfremd in einen Galerieraum und stellte es zudem noch wie die Büste<br />

des Kardinals Scipione Borghese von Gian Lorenzo Bernini auf einen<br />

Sockel. Indem er es mit R. Mutt signierte, stellte er es in den Kontext<br />

einer fiktiven Künstlerpersönlichkeit und gab ihm, worauf jedes<br />

Kunstwerk ein Recht hat, einen neuen, assoziativen Namen, nämlich<br />

Fountain. Duchamp hat das banale Objekt also über drei Grenzen<br />

getragen, von <strong>der</strong> Baustelle ins Museum, also vom Alltag in die<br />

Institution <strong>der</strong> Kunst. An<strong>der</strong>erseits hat er es, indem er das Urinal auf<br />

einen Sockel stellte, in die Geschichte <strong>der</strong> plastischen<br />

Portraitdarstellungen gestellt und dazu, indem er es signierte, in die<br />

individuelle Geschichte eines, wenn auch fiktiven Künstlers gestellt.<br />

Mit <strong>der</strong> dreifachen Verschiebung des Kontextes wurde das Objekt,<br />

ohne dass es verän<strong>der</strong>t wurde, zu einem an<strong>der</strong>en (Danto 1996, 17-61).<br />

Bis heute sehen die Betrachter nicht ein banales Objekt, son<strong>der</strong>n ein<br />

künstlerisches Werk mit philosophischem Anspruch, auch o<strong>der</strong> gerade<br />

weil es ein und dasselbe geblieben ist: ein Urinal.<br />

Eine kleine Än<strong>der</strong>ung des Kontextes, eine Verschiebung des großen<br />

Tableaus des Alltags und schon nehmen wir die Dinge neu wahr und<br />

sehen etwas an<strong>der</strong>es. Die Dinge stehen also nicht für sich alleine. Über<br />

die immanente Beziehungen, also über das Gemachtsein <strong>der</strong> Dinge<br />

hinaus besitzen diese auch eine kulturelle Funktion, die mehr ist als<br />

ihre praktische Gebrauchsfunktion. Wie wir die Dinge sehen und was<br />

sie für uns sind, also welche Bedeutung und Funktion sie haben, ist<br />

wesentlich vermittelt durch den kulturellen Kontext. So dass wir jetzt<br />

die Definition <strong>der</strong> Designtheorie erweitern können: Designtheorie ist<br />

die begriffliche Reflexion über das Gemachtwerden und Gemachtsein<br />

<strong>der</strong> gestalteten Umwelt und über ihre Funktion im allgemeinen<br />

kulturellen Kräftefeld.<br />

Design ist alles an<strong>der</strong>e als unschuldig Design entsteht also immer aus<br />

einem konkreten historischen, ökonomischen, sozialen und materiellen<br />

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