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James Joyce - Evangelische Akademie Hofgeismar

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Heidi Gidion<br />

<strong>James</strong> <strong>Joyce</strong><br />

1<br />

Was Goethe in Faust II über die schöne Helena sagen lässt: „Bewundert viel und viel gescholten“,<br />

das gilt in vollem Umfang für diesen Autor. Ich kenne keinen Schriftsteller, über den es eine solche<br />

Anzahl und in einem solchen Ausmaß kontroverse leidenschaftliche Stellungnahmen gibt, seitdem<br />

sein monumentaler Roman „Ulysses“ 1922 in kleiner Ausgabe in Paris durch die Courage zweier<br />

Buchhändlerinnen erscheinen konnte und einen Skandal auslöste. Aber seit dem Fin de Siècle und<br />

den Anfängen des 20.Jh. lag Skandal ohnehin in der Luft: Ob durch Freuds Erkundungen des<br />

Unbewussten, oder in der Malerei, als beispielsweise Picasso mit den Kubisten die Perspektive<br />

aufkündigte, oder in der Musik die neue Tonsprache von Schönberg und Alban Berg, die<br />

Begeisterung der Futuristen für den Rhythmus von Maschinen - oder das Ballett zu Strawinskys<br />

Musik „Sacre du Printemps“. Als das 1913 auf die Bühne kam, löste es einen besonders heftigen<br />

Skandal aus. Aber heute, nach genau 100 Jahren, wird es gefeiert als ein geradezu volkstümlich<br />

gewordenes Stück Ballettkunst.<br />

Von Volkstümlichkeit ist der von Anbeginn umstrittene „Ulysses“ jedoch auch heute noch weit<br />

entfernt. Trotz Taschenbuchausgaben und obwohl seine Umsetzung in einen Comic schon zu<br />

erscheinen beginnt, was ja für eine gewisse Popularität sprechen mag. Woran liegt es, dass der<br />

Ruhm von „Ulysses“ - wie allenfalls noch Prousts 7bändige „Auf der Suche nach der verlorenen<br />

Zeit“ - im wesentlichen darin besteht, als das berühmteste ungelesene Buch zu gelten?<br />

Hier ein paar Gründe: Der „Ulysses“ benötigt im Unterschied etwa zu der halben Stunde, die die<br />

Aufführung von Strawinskys Werk einnimmt, mit seinen (im Suhrkamp-Taschenbuch) mehr als<br />

1000 Seiten, für die Lektüre unvergleichlich mehr Zeit. Doch abgesehen vom Zeit-Faktor sind die<br />

Herausforderungen, oder auch Zumutungen, mit denen der Roman Lesende konfrontiert,<br />

unvergleichlich vielfältiger und gehen bis zum Einschüchternden, auf jeden Fall Abweisenden.<br />

Das zeigt sich unter anderem schon darin, dass dieser Roman eine solche Anzahl von<br />

kommentierten Ausgaben und von beeindruckenden Kommentaren hervorgebracht hat - und unter<br />

ihnen geradezu leidenschaftlich werbende Arbeiten wie etwa die von dem Schweizer Fritz Senn<br />

(„Nichts gegen <strong>Joyce</strong>“, Zürich 1984; „Nicht nur Nichts gegen <strong>Joyce</strong>“, Zürich 1999; „Noch mehr<br />

über <strong>Joyce</strong>“, Frankfurt a.M. 2012) oder vom englischen Schriftsteller Anthony Burgess „<strong>Joyce</strong> für<br />

Jedermann“ (suhrkamp taschenbuch 1965, 1982). Das sind verständnisöffnende Bücher, die<br />

detektivgleich auf Sinnsuche gehen und nachweisen, dass hinter dem scheinbaren darstellerischen


2<br />

Wirrwarr ein genau kalkulierter Plan des Autors zu entdecken ist – sofern man die wichtigste<br />

Einsicht der Kommentatoren beachtet: Ulysses ist ein Buch zum Wiederlesen, erst beim<br />

wiederholten Lesen, auf den zweiten oder dritten Blick erkennt man die Leitmotive, die immer<br />

wieder auftauchen und das scheinbar Auseinanderfallende zusammenhalten.<br />

Allerdings sehen diese kenntnisreichen, hingebungsvollen, enthusiastischen <strong>Joyce</strong>-Leser großzügig<br />

hinweg über die (offenbar irische) Neigung zur Maßlosigkeit in den Passagen, die mein Vergnügen<br />

an der Lektüre trübten und mich das Buch jahrelang zugeklappt liegen ließen: Beispielsweise die<br />

seitenlangen Passagen mit Listen, d.h. mit Aufzählungen irgendwelcher Art (aber dieses<br />

Darstellungsmittel gehört zum epischen Darstellen – denken wir an den Schiffskatalog in der Ilias<br />

oder die Aufzählungen innerhalb der Stammbäume im Alten Testament). Als maßlos empfinde ich<br />

vor allem die weit über 100 Seiten des 15. Kapitels, das die „Nachtstadt“, Dublins Bordellviertel,<br />

imaginiert mit den Mitteln des expressionistischen Dramas: ein Pandämonium aus grotesken<br />

Halluzinationen mit einer pervertierten Schwarzen Messe, mit sadistischen und<br />

sadomasochistischen Szenen quer durch die Jahrhunderte, , - ein sinnfrei erscheinender brodelnder<br />

Hexenkessel, verglichen mit dem es etwa in der Walpurgisnacht von Faust II geradezu gesittet<br />

hergeht. Aber die beiden männlichen Hauptfiguren, der junge Stephan Dedalus und der etwa<br />

40jährige Leopold Bloom, erleiden durch die ihnen zugemutete Geschlechtsumwandlung<br />

Erniedrigungen, die sonst nur Frauen angetan werden – und da scheint doch plötzlich etwas<br />

Nachdenkenswertes mitten im scheinbar Sinnlosen auf.<br />

Zu den die Lektüre behindernden Schwierigkeiten der Darstellung muss herausgestellt werden das<br />

Phänomen der Stil-Variationen, mit denen <strong>Joyce</strong> wahrhaft zu brillieren weiß. Dass die drei<br />

Hauptpersonen – Bloom, Stephen Dedalus, Molly Bloom - mit ihrem je eigenen Stil mit eigener<br />

Syntax, eigenem Vokabular, eigenen Assoziationen ausgestattet sind, gehört zu den<br />

Errungenschaften dieses Romans, die Schule gemacht haben und deren Gewinn für die Personen-<br />

Charakteristik unmittelbar einleuchtet: der intellektuelle Stephen Dedalus denkt in der Nähe eines<br />

Brotladens an eine bestimmte Stelle in einem Ibsen-Drama, der Sinnenmensch Leopold Bloom<br />

denkt am selben Ort an die verschiedenen Brotsorten mit ihrem unterschiedlichen Geruch und<br />

Geschmack. Es gibt keinen auktorialen Erzähler, und diese Abwesenheit einer erklärenden, die<br />

Dinge in Perspektive rückenden Instanz trägt mit bei zu den Verständnisschwierigkeiten. Wir sehen<br />

die Welt jeweils mit den Augen und dem Verständnis dessen, der gerade das Wort hat. Der Student<br />

Stephen philosophiert, abstrahiert, debattiert eigenwillig über literarische, philosophische,<br />

theologische Themen; Bloom, der Anzeigenvertreter, denkt und spricht weit handfester, er sieht<br />

überall Möglichkeiten für Werbung – auch auf Grabsteinen, hat den Kopf voller Werbesprüche;<br />

Molly, die Sängerin, kann zwar Arien aus „Don Giovanni“ vortragen, ihr literarischer Geschmack


3<br />

bewegt sich jedoch in den Bereichen, in denen Titel wie „Die Süße der Sünde“ zuhause sind – und<br />

die letzten 40 Seiten des Romans, mit denen der Autor der entspannt kurz vor dem Einschlafen im<br />

Bett Liegenden das letzte Wort lässt, enthalten eine strömende Suada aus den unteren Stilregionen –<br />

doch an früherer Stelle hatte ihr Mann schon darauf hingewiesen, dass sie „ziemlich ordinär“<br />

daherreden, andererseits aber auch geistreich formulieren könne.<br />

Darüber hinaus aber hat auch jede der 18 Episoden des „Ulysses“ ihren eigenen Stil, je nach dem<br />

Ort und dem dort angesiedelten thematischen Schwerpunkt – so weit, so interessant. Doch einzelne<br />

Episoden haben nicht nur einen eigenen Stil, sondern weisen zudem noch eine Vielzahl von Stilen<br />

auf, so dass – und das ist wohl die verwirrendste Eigentümlichkeit - etwa in einem inneren Monolog<br />

mitten in einer vollständig realistischen Bestandsaufnahme unversehens plötzlich Sätze auftauchen,<br />

als gehörten sie zu dem, was beispielsweise Leopold Bloom gerade vor den Augen hat – dabei<br />

erweist genaues Lesen, dass es sich nur um phantastische Vorstellungen handeln kann, die ohne<br />

Abgrenzung, ohne Kennzeichnung im inneren Monolog ihr Recht behaupten.<br />

Aber Flexibilität des Stils kann auch so aussehen: An Erfindungsreichtum nicht zu übertreffen ist<br />

z.B. das Kapitel, das in der Geburtsklinik spielt, wo Stephen Dedalus und andere Studenten ohne<br />

Ehrfurcht über die Entstehung des Lebens durcheinander reden. Man reibt sich die Augen über die<br />

Abfolge seltsamer, immer neuer Stile, bis man – wohl nur mit Unterstützung eines Kommentators –<br />

ahnt, dass es sich in Parallelität zur Entstehung des Lebens um die Stadien der Entwicklung der<br />

englischen Sprache handelt, letztere evoziert durch die parodistische Nachahmung englischer<br />

Autoren aus dem Mittelenglischen bis zur Gegenwart. Das sind Parodien von den Heldensagen aus<br />

der sogen. Irischen Renaissance, bis zu süßlichen Jugendstilromanen und bis zur Nachahmung mehr<br />

oder weniger bekannter englischer Gegenwarts-Autoren – <strong>Joyce</strong> kann offenbar mühelos das<br />

verfassen, was man als „Pastiche“ bezeichnet, also im Stil anderer Autoren schreiben. Ein<br />

Kommentator spricht bewundernd von einer wahren „Odyssee der Stile ohne<br />

Gebrauchsanweisung“.<br />

Dass jeder Stil eine eigene Weltsicht vermittelt, eine eigentümliche Wahrnehmung, das ist die<br />

Leistung – und die Schwierigkeit dieser Vielfalt ohne mitgelieferte Verständnishilfen.<br />

Vladimir Nabokov in seiner „Kunst des Lesens II“ fügt als Beispiele für den <strong>Joyce</strong>'schen Reichtum<br />

an Stilvariationen noch hinzu: Zeitungsüberschriften, Musikbenennungen, Theater und Schwank,<br />

Katechismusfragen und -antworten sowie eine flotte Journalistenschreibe.<br />

Ich will Ihnen nicht vorenthalten, wie Nabokov die Virtuosität von <strong>Joyce</strong> im Hinblick auf seine<br />

vielfältigen Stile als vielfältige Blickwinkel ins Bild setzt, nicht ganz ohne ein Quentchen<br />

rivalisierender Bosheit, wie mir scheint:<br />

„Die ständige Verlagerung des Blickpunkts bringt ein breiter gestreutes Wissen und immer neue,


4<br />

lebendige Ansichten hervor. Wer einmal versucht, den Kopf durch die Beine zu strecken und auf<br />

diese Weise hinter sich zu blicken, wird mit seinem zwangsläufig umgedrehten Gesicht die Welt<br />

unter einem völlig neuen Blickwinkel sehen. Versuchen Sie es einmal am Strand, es sieht sehr lustig<br />

aus, Menschen auf diese Weise beim Gehen zuzusehen. Mit jedem Schritt scheinen sie ihre Füße<br />

von der klebrigen Anziehungskraft der Erde zu lösen, ohne dabei ihre Würde einzubüßen. Dieser<br />

Kniff des geänderten Blickwinkels und Standpunkts, dieser Prismenblick, lässt sich mit <strong>Joyce</strong>s<br />

neuer literarischer Technik vergleichen, mit der neuen Betrachtungsweise, durch die das Gras<br />

grüner und die Welt jünger wirkt.“<br />

So viel zu nur einigen der originellen originalen darstellerischen Entdeckungen, die der Roman<br />

aufweist in schier unglaublicher Vielfalt und Fülle – von denen einige ja inzwischen angekommen<br />

sind in dem, was als „modernes“ Schreiben akzeptiert und praktiziert ist, das in der Häufung die<br />

Rezeption dieses Romans eingeschränkt hat.<br />

Mit ihrem kommentarlosen Übergehen all der Lesewiderstände, die beispielsweise durch die<br />

<strong>Joyce</strong>'schen Maßlosigkeiten aufgebaut werden, geben die klugen Profi-Kommentatoren auch für<br />

uns schlichte Laien-Leserinnen und -Leser die Strategie vor, die da heißt: Ohne jedes schlechte<br />

Gewissen Überschlagen, Weglassen, Konzentrieren auf das Lohnende, von dem es wahrlich<br />

genug aufzufinden und zu genießen gibt. Die Strategie habe ich mir zu eigen gemacht: Sobald es<br />

mir zu viel wird, blättere ich weiter und komme so, ungehindert von Frustrierung, in den Genuss<br />

der Entdeckungen, die mir zuvor entgangen sind, weil ich allzu lange ratlos und verärgert auf<br />

unzugängliche Passagen gestarrt und das Buch beiseite gelegt hatte.<br />

Doch nicht die Leseschwierigkeiten durch seine innovative Darstellungsart – nein, sondern dass er<br />

„zu weit“ gehe, wurde <strong>Joyce</strong> von Anfang an vorgeworfen, und der Vorwurf bezog sich immer nur<br />

auf die sogenannten „Stellen“, obszönen oder blasphemischen Inhalts, die Anstoß erregten und den<br />

Druck des Werkes jahrelang verhinderten. Als eine kleine Zeitschrift in den USA 1918 den<br />

Vorabdruck von Auszügen wagte, wurden nach wenigen Folgen die Fortsetzungen gerichtlich<br />

verboten und der Vorabdruck mit einer Geldstrafe belegt. Durch Gerichtsurteil wurde der 1921<br />

fertig gestellte Roman in den englisch sprechenden Ländern erst 1933 freigegeben, in Irland noch<br />

später.<br />

In Deutschland immerhin begannen ab 1927 Übersetzungen zu erscheinen. Und von da an ließ sich<br />

der Ruhm, immer in Pro und Contra gespalten, nicht mehr aufhalten. Für diesen Ruhm spricht ein<br />

durchaus einzigartiges Phänomen: Der „Ulysses“ spielt ja bekanntlich an einem einzigen, genau<br />

festgelegten Tag, an einem Donnerstag, dem 16. Juni 1904. Es heißt, das sei das Datum, an dem<br />

<strong>Joyce</strong> mit seiner späteren Frau Nora Barnacle zum erstenmal verabredet gewesen sei. Wie dem auch


5<br />

sei, schon kurz nach Erscheinen des Romans wurde und wird bis heute der 16. Juni jeden Jahres,<br />

und zwar weltweit, als „Bloomsday“ gefeiert, mit Lesungen und Åufführungen, erklärtermaßen<br />

zum überwiegenden Teil von Menschen, die das Buch nicht gelesen haben und nicht wissen, dass<br />

Leopold Bloom sein Held ist. Was doch allein schon die Kennzeichnung als berühmtestes<br />

ungelesenes Buch rechtfertigt. (Zum Bloomsday dieses Jahres das Blatt mit Ulysses-Karikaturen<br />

aus der FAZ-Sonntagszeitung vom 16. Juni an der Tafel.)<br />

Zunächst ein paar Worte zur Vita des Autors dieses schwierigen Werks.<br />

<strong>James</strong> <strong>Joyce</strong> wurde 1882 in der Nähe von Dublin geboren, er starb in Zürich 1941, wurde also nur<br />

59 Jahre alt. Er war der Älteste von 13 Kindern, von denen drei früh starben. Das Komplizierte,<br />

Widersprüchliche, zugleich Witzige, für das dieser Autor steht, beginnt schon bei der Schwierigkeit,<br />

den Beruf seines Vaters zu benennen. In der authentischsten der Biographien über <strong>James</strong> <strong>Joyce</strong> von<br />

Richard Ellmann (Frankfurt a.M. 1959, 1969) heißt es über den Vater:<br />

„Dieser unbekümmerte und begabte Mann, überzeugt, er sei das unschuldige Opfer misslicher<br />

Umstände, nie um eine Antwort verlegen, abwechslungsweise fürchterlich sentimental und von<br />

beißender Schärfe, ein Zecher, Verschwender, Schwätzer und Sänger, war in der Vorstellung seines<br />

Sohnes eine Art Verkörperung des Lebenstriebes überhaupt“.<br />

Züge des Vaters sowie dessen Aussprüche hielt der Sohn in allen seinen Werken fest. So lässt er sein<br />

eigenes jugendliches Abbild Stephen Dedalus auf die Frage nach dem Beruf von dessen Vater<br />

Simon Dedalus folgendes aufzählen, was genau auf seinen eigenen Vater zutrifft:<br />

„Medizinstudent, Ruderer, Tenor, Amateur-Schauspieler, brüllender Politiker, kleiner Hausbesitzer,<br />

kleiner Aktionär, Trinker, guter Kerl, Geschichtenerzähler, Sekretär von irgendjemand, irgendwas in<br />

einer Brennerei, Steuereinnehmer, Bankrotteur und augenblicklich Verherrlicher seiner eigenen<br />

Vergangenheit“.<br />

Hausbesitzer und Aktionär war Vater <strong>Joyce</strong> dank intensiver Verfolgung seiner anderen Interessen<br />

leider nur wenige Jahre, der einzige einträgliche Beruf des Steuereinnehmers wurde ihm wegen<br />

irgendwelcher Unregelmäßigkeiten aberkannt – und so blieb „Bankrotteur“ für die längste Zeit eine<br />

zutreffende Bezeichnung, was zu dem allmählichen Verschleudern seines Erbes und den unzähligen<br />

Wohnungswechseln führte, die er seiner Frau und der Kinderschar zumutete. Dass der Haushalt der<br />

Familie <strong>Joyce</strong> dennoch von gesungener und gespielter Musik erfüllt war, von Opernarien bis zu<br />

Schlagern und Volksliedern, ist vielfältig bezeugt, so wie in den „Ulysses“ alle Arten von Liedern<br />

hineinspielen.<br />

Im Hinblick auf seine zahllosen Wohnungswechsel tat es <strong>James</strong> <strong>Joyce</strong> dem Vater gleich, mit Frau<br />

und zwei Kindern, ebenfalls bedingt durch die Jahrzehnte währende Geldnot, dazu kamen bei ihm<br />

allerdings die Folgen zweier Kriege. Am Ende des „Ulysses“-Textes sind wie ein Teil von ihm die


6<br />

drei Städte aufgereiht, in denen er abwechselnd lebte während der sieben Jahre, in denen er den<br />

Roman zu Papier brachte (im Kopf entworfen hatte er ihn schon viel früher): 1914 -1921 Triest-<br />

Zürich-Paris. Gemeinsam war dem Vater <strong>Joyce</strong> und seinem Ältesten unter vielem anderen wie<br />

gesagt Begeisterung und Begabung für die Musik, beide nahmen aktiv am lebhaften Musikleben in<br />

Dublin teil, beide verfügten über eine gerühmte Tenorstimme, – und im entschiedenen Gegensatz zu<br />

Ehefrau und Mutter teilten sie ferner miteinander die Abwendung von der katholischen Kirche und<br />

auch die Neigung zu übermäßigem Alkoholgenuss ohne Rücksicht auf ihre angespannte Finanzlage.<br />

Aber maßloses Singen, Trinken und Debattieren galten ja generell als die irischen Neigungen<br />

schlechthin und spielen deshalb auch in den Erzählungen von <strong>Joyce</strong>, die alle in Dublin angesiedelt<br />

sind, die gebührende Rolle – wohlgemerkt für Irlands männliche Bevölkerung. Die in der Regel eng<br />

an die Kirche gebundenen Frauen waren zuständig für die zahlreichen Kinder und das<br />

Zusammenhalten des bröckelnden Familienguts und -einkommens. (Dargestellt auch etwa in dem<br />

Bestseller unserer Zeit „Angela's Ashes“ = „Die Asche meiner Mutter“ von dem Iren Frank<br />

McCourt, der ebenfalls bittere Armut durch die väterliche Trunksucht und dessen Lust am Gesang<br />

dokumentiert – bei ihm sind es ausschließlich gegen die englischen Unterdrücker gerichtete<br />

pathetisch patriotische Lieder. Ebenso dokumentiert McCourts Roman die Notwendigkeit des Exils:<br />

Die Armut hat die Iren über die Jahrhunderte, und nicht nur in der furchtbaren Hungersnot Mitte des<br />

19.Jahrhunderts, zum Auswandern gezwungen, vorwiegend nach Amerika. Sie galten als „ein Volk<br />

von Exilanten“, und <strong>Joyce</strong> rechnete sich in voller Übereinstimmung auch zu diesen. )<br />

Die Geschichte Irlands mitsamt den Verwüstungen durch die frühen Eroberer, den<br />

Heldengeschichten vom keltischen Widerstand, den Zaubermärchen und Mythen keltischen<br />

Ursprungs sowie die Legenden und Heiligengeschichten rund um Irlands Klöster und ihr Beitrag<br />

zur Christianisierung Europas – all das gehört zu dem Fundus, aus dem auch <strong>Joyce</strong> schöpft in den<br />

phantastischen Zügen seines Werks, vor allem in seinem letzten Roman „Finnegans Wake“, der der<br />

Tagwelt des „Ulysses“ eine Nacht- und Traumwelt hinzufügt mit ihrer eigenen, völlig einzigartigen<br />

Sprachphantasie aus den Bestandteilen all der Sprachen, über die <strong>Joyce</strong> verfügte: Die zu<br />

entschlüsseln verlangt ein eigenes Studium, und ich muss <strong>Joyce</strong>s Vermächtnis hier auf sich beruhen<br />

lassen. Obwohl die Geschichte vom gottähnlichen Vater Earwicker, seinen Söhnen, den beiden<br />

entgegen gesetzte Tendenzen vertretenden Brüdern, und dem allumfassenden, mütterlichweiblichen<br />

Element des Wasserwesens Anna Livia Plurabelle etwas Zauberisches verströmt, wenn<br />

man es über sich gewinnt, sich darauf einzulassen, wiederum geleitet durch die Führung der<br />

Kommentatoren.<br />

Im Werk von <strong>Joyce</strong> findet sich wie bei anderen irischen Autoren als ur-irisches Thema aus der<br />

nationalen Gegenwart der Kampf um das Home Rule, d.h. die politische Selbstbestimmung, die


7<br />

Befreiung vom Schimpf, eine britische Kolonie zu sein. Dafür steht der Name Parnell, der<br />

ungekrönte König Irlands, Charles Stewart Parnell, der Kämpfer für die politische Autonomie<br />

Irlands, der bei <strong>Joyce</strong> immer wieder auftaucht. Ihm ist auch eine Geschichte in dem Erzählungsband<br />

„Dubliner“ gewidmet ist („Efeutag im Sitzungszimmer“) und um ihn kreist der schlimme<br />

Familienstreit ausgerechnet beim Weihnachtsessen im „Jugendbildnis des Dichters“: Denn der zum<br />

Erfolg prädestinierte, geliebte charismatische Volksführer Parnell endete schmachvoll, als er 1891<br />

des Verhältnisses mit einer verheirateten Frau überführt wurde – was im engen katholischen Land<br />

als Verrat an Irlands Werten galt und die Sache des Home Rule um Jahre zurückwarf.<br />

Das kann nur ein ein kleiner Ausschnitt sein aus dem ergiebigen Thema: Was ist irisch an <strong>James</strong><br />

<strong>Joyce</strong>. Wiederholen muss ich an dieser Stelle noch einmal die doch bemerkenswerte Tatsache, dass<br />

seine Erzählungen und Romane ihren Ort ein für alle Mal in Dublin haben – obwohl er längst<br />

schon ins ein für alle Mal freigewählte Exil gegangen war und die letzten 30 Jahre seines Lebens<br />

Dublin nicht mehr aufgesucht hatte. Gegen Ende seines Lebens sagte er: Ich habe im Grunde Irland<br />

niemals verlassen. In lebenslanger Ambivalenz blieb er seinem Land verbunden und fern.<br />

Zurück zur Vita. Vater <strong>Joyce</strong> hatte dafür gesorgt, dass seinem geliebten und bevorzugten Ältesten<br />

eine erstklassige Ausbildung zuteil wurde in Dublins gerühmten jesuitischen Bildungseinrichtungen<br />

von Grundschul- bis zu den College-Internaten, wo <strong>James</strong> klassische Bildung, die wichtigsten<br />

Fremdsprachen und strenge logische Schulung vermittelt wurden mit Aristoteles und Thomas von<br />

Aquin als den führenden geistigen Autoritäten.<br />

<strong>Joyce</strong> begann seine Publikationstätigkeit als Schüler mit einem patriotischen Gedicht, dann als<br />

Student mit einem kühnen literaturwissenschaftlichen Essay über Ibsen, den er gleichsam entdeckte<br />

für Irland und als Schöpfer eines neuen Theaters würdigte: Er selbst engagierte sich für das<br />

moderne irische Theater, das in Europa schon bald an vorderster Stelle stand. Gedichte hatte er<br />

schon länger verfasst, die er unter dem suggestiven Titel „Chamber Music“ nach vielen Absagen<br />

endlich publizieren konnte. 1906 vollendet er seine Sammlung von Kurzgeschichten „Dubliner“,<br />

die jahrelang der Publikation harren mussten, weil ihre offene Kurzform als unverständlich und ihre<br />

Inhalte als anstößig galten. Auch die Gattung Drama erforschte er für sich mit seinem einzigen<br />

Stück fürs Theater, mit dem bezeichnenden Titel „Exiles“ = „Verbannte“. In seiner ersten<br />

fortlaufenden Erzählung „A Portrait of the Artist as a Young Man“ = „Jugendbildnis des Dichters“<br />

legte er einen beeindruckenden Bildungsroman von sich selbst vor mit den wohl ziemlich genau<br />

autobiographisch nachvollzogenen Phasen der intensiven Prägung durch die jesuitischen<br />

Autoritäten und einer schließlichen entschiedenen Abkehr von der katholischen Kirche.<br />

<strong>Joyce</strong> verwirklicht in diesem Roman seines Heranwachsens zum ersten Mal das darstellerische


8<br />

Verfahren, das er im Roman „Ulysses“ auf die Spitze treiben wird: die Einbindung realistischer<br />

Gegenwartsdarstellung in den Mythos, die Beziehung zeitgenössischer Figuren zu mythischen<br />

Gestalten: Der Name seines heranwachsenden Helden, der unübersehbar die Züge seines jungen<br />

Autors trägt – Stephen Dedalus – eröffnet eine ganze Reihe bedeutsamer Assoziationen, die also<br />

auch der Autor mehr oder weniger für sich in Anspruch nimmt: Der heilige Stephan, der erste<br />

christliche Märtyrer, war ein hellenisierte Jude oder bekehrter Hellene; Dädalus war der Ur-<br />

Handwerker-Künstler, Erbauer des Labyrinths, das durchaus als Analogie zum kunstvollen<br />

Bauprinzip von <strong>Joyce</strong>s Romanen zu sehen ist, mit jähen Wendungen und Windungen, unerwarteten<br />

Abzweigungen. Jedes Thema wird unterbrochen, verästelt sich in einem scheinbaren Gewirr von<br />

Gängen ohne Übersicht für den Besucher, jedoch genau geplant vom Konstrukteur. Die Analogie<br />

trägt noch weiter: Dädalus war in Kreta selbst Gefangener des Minos in dem von ihm gebauten<br />

Labyrinth, und um sich und den Sohn Ikarus zu befreien, schuf er für sich und ihn jene großen<br />

Flügel aus Wachs, die ihn in der Tat in die Lüfte hoben, doch der Sohn achtete der väterlichen<br />

Warnungen nicht, kam der Sonne zu nahe, so dass seine Flügel schmolzen, und versank im Meer.<br />

<strong>Joyce</strong> wählt mythische Gestalten, die Auflehnung symbolisieren: Stephanus gegen die jüdische<br />

Religion, in die er hineingeboren war, Dädalus gegen die Gefangenschaft und Ikarus gegen<br />

väterliche Gebote, allerdings mit tödlichem Ausgang. Das Ende des „Jugendbildnis des Dichters“<br />

zeigt Stephen Dedalus als Selbstbefreier: Er verlässt die Kirche, verlässt Universität und Familie,<br />

verlässt Irland. Aber am Ende des Buches steht, was er in seinem Tagebuch festhält: Zum einen die<br />

Worte seiner Mutter, die betet, dass er in der Fremde lernen möge, „was das Herz ist und was es<br />

fühlt. Amen“. Und als letztes ruft er als alten Vater den alten Artifex an, d.h. den Handwerker-<br />

Künstler Dädalus, und bittet um seinen Beistand für jetzt und allezeit. Da sind sie wieder, die beiden<br />

Welten neben einander, die Mutter aus der Welt der Realität und der Dädalus aus dem Mythos.<br />

<strong>Joyce</strong> hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er es für unerlässlich hielt, Selbsterfahrenes zur Basis<br />

seines Werks zu nehmen – also auch sich selbst (seinen Eschenstock gab er Stephen Dedalus im<br />

„Ulysses“ in die Hand) sowie die Personen seiner näheren und ferneren Umgebung mit ihren<br />

Aussprüchen und Verhaltensweisen, die er sich zu notieren pflegte (wie Th. Mann), wenn er sie<br />

nicht in seinem außergewöhnlich fabelhaften Gedächtnis behielt. Von ihm ist überliefert, dass er<br />

auch noch zu später Nachtzeit und nach reichlichem Wein-Genuss Gedichte, Lieder, Prosa<br />

seitenweise auswendig konnte und sie über die Jahre hin behalten hatte, weshalb er auch so schnell<br />

Fremdsprachen beherrschte. Auch in den Kurzgeschichten des Bandes „Dubliner“ hat er unter<br />

eigenem oder fremden Namen Bekannte und Verwandte wie den Vater verewigt, von denen einige<br />

im „Ulysses“ wieder auftauchen, zumeist wegen der Fülle an Namen von uns Lesenden unbemerkt..


9<br />

1902, also mit 20 Jahren, verließ er nach dem Abschluss seiner Ausbildung zum ersten Mal Irland<br />

und lernte Paris kennen, in äußerster Armut damals wie auch später an den zahlreichen Stationen<br />

seines Lebens. Der Tod seiner Mutter 1903 rief ihn nach Dublin zurück; von diesem Tod hat er sein<br />

Alter Ego Stephen Dedalus, den er ja vom „Portrait“ in den Roman „Ulysses“ übernommen hat,<br />

nachhaltige Schuldgefühle zurückbehalten lassen, weil der Sohn seiner frommen Mutter das von ihr<br />

gewünschte Niederknien zum Gebet am Sterbebett versagt hatte. Mit 22 Jahren lernte <strong>Joyce</strong> bei<br />

einem seiner letzten Besuche in Dublin das junge Mädchen kennen, das er Zeit seines Lebens nicht<br />

mehr von seiner Seite lassen würde – und da hatte er wohl klug gewählt. Nora Barnacle, die in<br />

einem Hotel als Zimmermädchen arbeitete, entzückte den jungen <strong>James</strong> <strong>Joyce</strong> durch ihre Schönheit<br />

mit weiblichen Rundungen, ihren gesunden Menschenverstand, der sich von dem gebildeten und<br />

überaus bildungsstolzen jungen Mann und seinen so schwer verkäuflichen literarischen Produkten<br />

überhaupt nicht beeindrucken ließ, durch ihre Musikalität und bodenständige irische<br />

Ausdrucksweise. Mrs. Marion Bloom, Blooms Ehefrau Molly im „Ulysses“, hat er viele Züge von<br />

Nora mitgegeben – allerdings hat diese in den langen harten Jahren der ständigen Ortswechsel in<br />

wechselnden Städten und Ländern, mit zwei Kindern und völlig ungesicherten finanziellen<br />

Verhältnissen, gewiss nicht als ihren Hauptaufenthaltsort den gehabt, den der Autor ihr im Roman<br />

zudenkt: das Bett. Offiziell geheiratet hat <strong>Joyce</strong> seine Lebensgefährtin übrigens erst nach 30 Jahren<br />

Zusammenleben. Sie verließen als Anfang Zwanzigjährige nach nur kurzer Bekanntschaft<br />

gemeinsam das heimatliche Dublin und landeten schließlich in Triest, wo <strong>Joyce</strong> für den Unterhalt<br />

der Familie sorgte wie später noch oft in den anderen Städten mit dem ungeliebten Job des<br />

Sprachunterrichts, dabei unablässig an seinen Erzählwerken arbeitend und leidend an dem Organ,<br />

das ihn zeit seines Lebens behinderte, einschränkte, und Operationen erdulden ließ: seine überaus<br />

krankheitsanfälligen, empfindlichen Augen. Ständig bedroht von Erblindung, verlangte er seinen<br />

Augen die unendlichen Lektüren ab, die er neben seinen eigenen Erinnerungen und Entwürfen zur<br />

Basis seiner Romane machte.<br />

Die Frage: Was ist irisch an <strong>Joyce</strong>? muss noch einmal aufgegriffen werden. Da zahlreiche<br />

Realitäten Irlands in den Erzählungen und Romanen von <strong>James</strong> <strong>Joyce</strong> getreulich aufbewahrt sind, in<br />

welcher künstlerischen Verwandlung auch immer, lebt in seiner Person wie im Werk auch der<br />

irische Sinn für Humor, für das Komische, Skurile, Exzentrische und die Lust am Spiel mit den<br />

Worten weiter. Aber nicht nur in seinem Werk. Was unter dem Namen „englischer Humor“<br />

geschätzt wird, ist durchaus gespeist von bedeutenden irischen Autoren, von denen es für solch ein<br />

relativ kleines Land eine überwältigend große Anzahl immer schon gegeben hat und bis heute gibt:<br />

Ich erinnere nur an Laurence Sterne, den auch von Goethe bewunderten Verfasser des originellen<br />

hochkomischen Romans „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“ aus der ersten


10<br />

Hälfte des 18. Jhs., an den von <strong>Joyce</strong> besonders geschätzten Satiriker Jonathan Swift mit seinen<br />

„Gullivers Travels“, an Bernard Shaw, Oscar Wilde, und den mit <strong>Joyce</strong> befreundeten Samuel<br />

Beckett (während <strong>Joyce</strong> schreibend immer ausführlicher wurde bis zum Grenzensprengenden,<br />

wurde Beckett mit seiner vertrackten Komik zuletzt immer kürzer, kleiner, schmaler bis zum<br />

Verstummen). Als letzter seien als bedeutende irische Dichter der Lyriker Yeats und der Dramatiker<br />

Synge genannt.<br />

Dass auch <strong>Joyce</strong> mit seinem „Ulysses“ zur illustren Reihe irischer Humoristen und Satiriker gehört,<br />

muss jetzt ausdrücklich herausgestellt werden – gerade weil die Schwierigkeiten, die uns die ganz<br />

und gar ungewöhnliche Darstellungsweise des Romans beschert, diesen wichtigen Aspekt leicht<br />

verdecken können. Deshalb will ich zumindest hinweisen auf einiges, das den „Ulysses“<br />

beispielsweise für einen Leser wie Bertolt Brecht vor allem zu einem komischen Roman machte,<br />

über den er sich so amüsiert habe wie über den tschechischen Schelmenroman vom braven Soldaten<br />

Schweijk (offensichtlich hat auch er über die Durststrecken beherzt einfach hinweg gelesen!).<br />

Komisches ist ja schon angelegt mit dem Titel „Ulysses“ und damit, dass da eine Beziehung<br />

statuiert wird zwischen einem als modern auftretenden Roman und dem klassischen Epos<br />

schlechthin, was auch bedeutet, eine Beziehung zwischen dem Romanhelden Leopold Bloom und<br />

dem Helden des Epos, Odysseus. Mit der geistigen Tätigkeit des Herausfindens zumindest einiger<br />

Belege für diese vom Autor gesetzte Beziehung beginnt schon die Teilnahme an einem wesentlichen<br />

Witz des Romans. Statt „Witz“ sollte aber lieber das englische Wort WIT benutzt werden, da<br />

dieses, mehr als das deutsche „Witz“ in seiner gegenwärtigen Bedeutung, abhebt auf Geistreiches,<br />

auf intellektuelles Raffinement plus Augenzwinkern, was wiederum am besten mit dem englischen<br />

Wort „sophisticated, sophistication“ zu treffen ist. (Ich stelle fest, dass mich die Beschäftigung mit<br />

<strong>Joyce</strong> zu einer verstärkten Wachsamkeit gegenüber der Wort-Genauigkeit anregt.)<br />

Zunächst einmal ist es doch fraglos komisch, dass ausgerechnet jemand so Unheldisches wie der<br />

Anzeigenvertreter Leopold Bloom und sein Unterwegssein kreuz und quer in Dublin – seine<br />

Stationen beim Einkaufen, auf der Toilette, auf einer Beerdigung, bei der Arbeit in der<br />

Zeitungsredaktion, beim Essen und Trinken, und zwar von Burgunder und nicht Guinness, wie alle<br />

um ihn herum, in Kneipen und einer Bar, am Strand, im Krankenhaus, im Bordellviertel ohne jede<br />

eigene Intention und zuletzt im heimischen Schlafzimmer - an einem einzigen Tag, dem 16. Juni<br />

1904, dass dies alles und dieser Mann in Frage kommen sollen für eine Analogie zu den 10 Jahren<br />

der Irrfahrten von Homers Odysseus nach dem Fall von Troja! Einer der zahlreichen suchenden und<br />

findenden Kommentatoren hat den hilfreichen Vergleich eingebracht: Odyssee und Ulysses seien<br />

zwei Parallelen, die sich niemals treffen. Und ein anderer formulierte: Bloom sei ein aufs<br />

Alltägliche heruntergeschnittener Odysseus, reduziert auf die Wirklichkeit der Jahrhundertwende in


11<br />

einer modernen Großstadt – aber ausschweifend mit seinen Gedanken und Assoziationen über diese<br />

hinaus.<br />

Ich fand es allmählich amüsant heraus zu finden, auf welche Weise Odysseus und Bloom nicht nur<br />

von einander abweichen, sondern sich nach dem Willen ihres Autors eben doch auf irgendeine<br />

vertrackte Weise auch ähneln. Gehen wir doch einmal ins Detail:<br />

Odysseus ist bei Homer deutlich unterschieden von den Haudegen des Trojanischen Krieges, etwa<br />

dem Berühmtesten von allen, dem Helden Achill (der in Christa Wolfs Kassandra-Roman mit gutem<br />

Grund nie anders genannt wird als „Achill das Vieh“); die Stärke von Odysseus liegt nicht in der<br />

Kraft seiner Fäuste, im Gebrauch von Waffen, sondern in seinem listigen, einfallsreichen Geist,<br />

seiner Anpassungsfähigkeit, auch als Duldender – was alles ihm das Überleben sicherte und die<br />

endliche Heimkehr. In seinem Unterwegs-Sein ist er in allen Episoden, an allen Orten, zu denen es<br />

ihn verschlägt, notwendigerweise ein Fremder. Und nun Bloom, den wir ja vorwiegend von „innen“<br />

kennenlernen, mit seinen Gedanken und Assoziationen. An ihm fällt seine neugierige grüblerische<br />

Nachdenklichkeit auf; sein häufiges Fragen in seinen langen inneren Monologen zeichnet sich auf<br />

seine Weise auch durch Einfallsreichtum aus. Und, wesentlicher noch, paradoxerweise wird auch er,<br />

obwohl Ire, von seiner Umgebung als Außenseiter, ja als Fremder eingestuft und oft genug auch so<br />

behandelt: Mehr als einmal wird er abfällig als Jude bezeichnet, da sein Vater aus Ungarn<br />

eingewandert und jüdischen Glaubens war; dabei hat dieser seinen Namen Virag (der „Blume“<br />

bedeutet) für sich übersetzt und „Bloom“ als Namen angenommen und ist protestantisch geworden.<br />

(Weshalb er sich das Leben genommen hat, bleibt unerklärt.) Auch der Sohn Leopold war<br />

protestantisch getauft, trat aber vor seiner Eheschließung mit seiner aus Spanien stammenden Frau<br />

Marion zum katholischen Glauben über. So hat er Anteil an allen drei Religionen, ohne einer<br />

wirklich anzugehören. Selbst gute Bekannte sprechen ihm die bekannten Klischees des Jüdischen<br />

zu, unterstellen ihm Geiz und Gewinnsucht. Es gibt eine antisemitische Attacke gegen ihn in einer<br />

der zahlreichen Kneipenszenen, in der er selber die hasserfüllte Stimmung gegen sich noch anheizt<br />

mit Sätzen wie „Mendelssohn war Jude und Karl Marx und Spinoza. Und der Erlöser war Jude und<br />

sein Vater war Jude. Euer Gott..... Christus war Jude wie ich“. Worauf ein wahrer Tumult losbricht<br />

und der nationalistische Bürger mit wilden Drohungen Bloom eine leere Keksdose nachschmettert,<br />

die ihn aber verfehlt.<br />

Und dieses ergibt eine der feinen kleinen abweichenden Anspielungen auf eine Szene der Odyssee,<br />

nämlich beim einäugigen Kyklopen. Die Keksdose lässt sich in komischer Analogie sehen zum<br />

Felsbrocken, den der Kyklop dem aus der Höhle fliehenden Odysseus nachschmettert, ihn ebenfalls<br />

verfehlend. In einer bestimmten Phase seiner Arbeit am Roman hatte <strong>Joyce</strong> Namen der Odysseus-<br />

Gesänge über seine Episoden gesetzt, zur eigenen Orientierung, wie er sagte – und so setzte er<br />

„Kyklop“ über das Kapitel mit der geschmetterten Keksdose. Zur Publikation des Romans löschte


12<br />

er jedoch diese Überschriften, sie hatten ihren Dienst für ihn getan. In der Reihenfolge der Kapitel<br />

sind es die Namen: Telemachus, Nestor, Proteus, Kalypso, Lotophagen, Hades (dem entspricht die<br />

Friedhofsszene im Roman) usw,. das letzte Kapitel war Penelope gewidmet.<br />

Das ist nur ein Beispiel für den Sachverhalt, dass in jeder Episode des „Ulysses“ mindestens ein<br />

Detail mit einem homerischen Detail zu korrespondieren angelegt ist, oft nur in subtilen<br />

Anspielungen aufzudecken. Und mehr als ein Detail: Leopold Bloom mit seinen kleinen<br />

Abenteuern in Dublin ist, wie gesagt, in Beziehung gesetzt zu Odysseus und seinen großen<br />

Abenteuern; Stephen Dedalus zu Telemachus, dem Sohn von Odysseus auf der Suche nach seinem<br />

Vater – und es gibt Kommentatoren wie Burgess, die im Nebeneinander-Her und schließlichen<br />

Aufeinander-Zu von Bloom und Dedalus das Vater-Sohn-Thema als Zentrum des Romans<br />

verstehen: Wie Telemach in der Odyssee sei Stephen Dedalus auf der Suche nach einem Vater<br />

(verwirrenderweise hat er im Roman einen sehr präsenten leiblichen Vater, Simon Dedalus, zu dem<br />

aber offensichtlich keine wirkliche Beziehung besteht). Bloom hingegen hat seinen eigenen Sohn<br />

Rudy ganz früh verloren, das Kind starb schon mit 11 Tagen, und im Verlauf des Romans versucht<br />

er immer tatkräftiger, Stephen zu begleiten und vor Schaden zu bewahren, bis sich die beiden gegen<br />

Ende sogar in Blooms Wohnung zusammen befinden, sich dann aber wieder trennen. Die dritte<br />

Hauptperson, Blooms Ehefrau Marion, geborene Tweedy, genannt Molly, die gelegentlich in<br />

Konzerten auftritt, ist nach diesem Entwurf in Beziehung zu sehen sowohl zur Nymphe Kalypso<br />

(das Bild einer Nymphe hängt über ihrem Bett) wie zur treuen Penelope, was trotz ihrer Eskapade<br />

mit einem anderen Mann an diesem Tage das Ende ihres langen Monologs ausdrückt: ihr Ja zum<br />

Ehemann. Aber eine Beziehung ist zu erkennen nicht nur in der Gestalt der Frau des Odysseus – in<br />

deren Geburtsnamen Tweedy das Tuch anklingen mag, das Penelope tags webt und nachts wieder<br />

auftrennt, sondern da ist auch noch im Schlafzimmer dieses entscheidende Möbelstück: das Bett. In<br />

der Szene der Wiedervereinigung der Ehegatten am Ende der Odyssee ist es ein wichtiges Indiz für<br />

die Glaubwürdigkeit von Odysseus, der ja in der Erscheinung eines hinfälligen Bettlers vor<br />

Penelope tritt: Nur Odysseus kann wissen, weshalb ihr Bett nicht von der Stelle zu bewegen ist.<br />

Damit Sie schon einmal gehört haben, was Sie dann im Hörspiel im Zusammenhang mit der ersten<br />

Szene des Bloom-Teils, also der 4. Episode, morgen hören werden, lese ich die kurze Passage rund<br />

ums Bett, in dem Molly, die in Gibraltar Geborene, am Morgen noch wohlig im Halbschlaf liegt<br />

und zu dem ihr Mann gleich das Frühstück bringen wird. Er will noch kurz einkaufen gehen und<br />

fragt sie:<br />

„Du möchtest nichts Besonderes zum Frühstück? Ein schläfrig schlaffes Grunzen antwortete: Mn.<br />

Nein. Sie mochte nichts Besonderes. Er hörte noch ein warmes schweres Seufzen, schlaffer, als sie<br />

sich auf die andere Seite drehte und die losen Messingringe der Bettstatt klingelten. Muß die Dinger<br />

wirklich festmachen lassen. Ein Jammer. Von so weit her, von Gibraltar. Das bißchen Spanisch, was


13<br />

sie mal konnte, ist vollständig futsch. Möchte wohl wissen, was ihr Vater dafür ausgegeben hat<br />

damals. Ziemlich altmodisches Ding. Ah ja, natürlich. Auf der Gouverneurs-Auktion gekauft. Hats<br />

glatt für nen Pappstiel gekriegt.“<br />

Da haben wir ein Beispiel für Blooms inneren Monolog. Und klingelnde Messingringe an dem Bett,<br />

das Mollys Vater einst in Gibraltar billig auf einer Auktion erstanden hat und das also einen weiten<br />

Weg nach Dublin zurückgelegt hat. -<br />

Und nun noch ein Bett, im 23. Gesang der Odyssee in der Übersetzung von Voss (damit wir doch<br />

auch einmal Odysseus im deutschen O-Ton hören):<br />

„...Ein wunderbares Geheimnis / War an dem künstlichen Bett; und ich selber baut es, kein anderer!<br />

/ Innerhalb des Gehegs war ein weitumschattender Ölbaum, / Stark und blühenden Wuchses; der<br />

Stamm glich Säulen an Dicke. / Rings um diesen erbaut ich vor dichtgeordneten Steinen / Unser<br />

Ehegemach und wölbte die obere Decke. / Und verschloß die Pforte mit festeinfugenden Flügeln. /<br />

Hierauf kappt ich die Äste des weitumschattenden Ölbaums / Und behaute den Stamm an der<br />

Wurzel, glättet ihn ringsum / Künstlich und schön mit dem Erz und nach dem Maß der Richtschnur;<br />

/ Schnitzt ihn zum Fuße des Bettes und bohrt ihn rings mit dem Bohrer, / Fügete Bohlen daran und<br />

baute das zierliche Bette, / Welches mit Gold und Silber und Elfenbeine geschmückt war; / Und<br />

durchzog es mit Riemen von purpurfarbener Stierhaut. / Dies Wahrzeichen sag ich dir also....“<br />

Das Nebeneinander ergibt ein Kontrasterlebnis, das sich für Lesende (z.B. <strong>Joyce</strong> selbst, der<br />

Odysseus als seinen Lieblingshelden schon als Schüler hochschätzte), denen die Odyssee noch<br />

vertraut ist, ungesucht einstellt und von eigenem Reiz ist. Die Ulysses-Lektüre ist auch ein guter<br />

Anlass, sich nochmal in die Odyssee zu vertiefen, um solcher Kontrasterlebnisse teilhaftig zu<br />

werden!<br />

Es gibt so manche fröhliche Querverbindung von Roman zum Epos, die nicht überbewertet werden<br />

sollte und die man auch nicht unbedingt wahrzunehmen braucht – die aber doch für witzige Effekte,<br />

wie klein auch immer, gut ist. So reagiert ein Romankapitel, über dem „Sirenen“ stand, das in der<br />

Bar eines Hotels angesiedelt ist, auf das Kapitel mit den lebensgefährlich verlockend singenden<br />

Sirenen, in dem den Seefahrern die Ohren verstopft werden müssen und nur der immer<br />

wissbegierige Odysseus sich am Mast festbinden lässt, weil er so gefahrlos den verführerischen<br />

Gesang doch hören kann. Die leidenschaftliche Befassung mit Musik, bei der <strong>Joyce</strong> ja von seinen<br />

Augenqualen nicht eingeschränkt war, spricht deutlich aus dieser Romanepisode, der 11., die erfüllt<br />

ist von allen nur vorstellbaren Geräuschen und Klängen, von Musik aller Art, bis zum rhythmischen<br />

Klatschen eines Strumpfbandes aus Gummi auf ein Frauenbein. Herauszufinden, dass das Kapitel<br />

an einer Stelle eine Fuge mit Worten nachahme, das bedarf allerdings besonderer Kenntnisse.<br />

Jenseits so mancher Anspielung im Roman verdankt <strong>Joyce</strong> der Odyssee die Struktur seines Romans,


14<br />

die Dreiteilung: Die ersten drei Episoden entsprechen der Telemachie, handeln von Stephen<br />

Dedalus als Sohn, die letzten drei entsprechen der Heimkehr, handeln vom gemeinsamen Weg von<br />

Leopold und Stephen in Leopolds Wohnung und dem weiblichen Element, Molly. Der Mittelteil aus<br />

12 Episoden ist vorwiegend Leopold als dem herabgestuften Odysseus gewidmet.<br />

Festzuhalten als bemerkenswerte Abweichung des Romans vom Homerischen Epos ist das Ende:<br />

Mit dem versöhnlichen, zu Gewalttaten gänzlich unwilligen und unheldischen Leopold Bloom kann<br />

natürlich auch im Roman am Ende nichts geschehen, das auch nur entfernt dem gewaltigen Blutbad<br />

entspräche, das Odysseus unter den Männern anrichtet, die in den Jahren seiner Abwesenheit seine<br />

Frau bedrängt und belagert hatten, als ihre Freier auftraten und sein Hab und Gut verschleuderten.<br />

In offenkundiger entschiedener Kontrasthaltung zum herrscherlich Besitz ergreifenden Odysseus<br />

lässt <strong>Joyce</strong> seinen Bloom souverän und human jede Rachetat von sich weisen, als er ihn in der<br />

Ausführlichkeit des „Ithaka“-Kapitels (ca. 100 Seiten!) die Liste der ehemaligen Liebhaber seiner<br />

Frau im Laufe der Jahre Revue passieren lässt. Stilistisch im äußersten Gegensatz zu Mollys<br />

anschließendem großem Monolog, auf den es inhaltlich auf raffinierten Umwegen hinführt,<br />

überrascht dieses Kapitel noch einmal mit einem gänzlich unerwartbaren Stil, nämlich trotz<br />

intimster Inhalte mit einem knochentrockenen Frage- und Antwortspiel nach Art von<br />

Katechismusfragen. Ganz knapp fragt Stephen alle Bereiche von Leben und Interessen Blooms ab,<br />

und auch seiner ehelichen Beziehung, und ganz ausführlich sachlich antwortet Bloom. (<strong>Joyce</strong><br />

äußerte sich über dieses ausufernde Kapitel, es sei das hässliche Entchen des Romans, und er liebe<br />

es am meisten.) Vom Gehalt her ist es weder kahl noch karg, im Gegensatz zu seiner unemotionalen<br />

Darstellungsart.<br />

Hören Sie nur folgende Ausschnitte, bezogen auf Blooms gleich bevorstehendes Hineinlegen ins<br />

Ehebett, in dem Molly bereits liegt, als sei es schon geschehen:<br />

„Was bekamen seine Glieder, als er sie nach und nach langsam ausstreckte, zu spüren?<br />

- Frische saubere Bettwäsche, zusätzliche Düfte, die Gegenwart einer menschlichen Gestalt,<br />

weiblich, ihrer, den Abdruck einer menschlichen Gestalt, männlich, nicht seiner, ein paar Krümel,<br />

… die er entfernte.<br />

Wenn er gelächelt hätte, warum hätte er gelächelt?<br />

- Bei dem Gedanken, daß jeder, der hereinkommt, sich einbildet, er sei der erste, der hereinkommt,<br />

während er doch immer der letzte einer vorangegangenen Reihe ist....<br />

Welche vorangegangene Reihe?“<br />

Und jetzt folgt eine absurd umfangreiche Liste von Männernamen, alles Mollys Liebhaber, unter<br />

ihnen ein Stiefelputzer nach dem Lord Mayor von Dublin und dem berühmten Tenor (kein fiktiver),<br />

mit dem Molly als Sängerin schon aufgetreten ist, und der letzte ist jener Blazes Boylan, der


15<br />

Konzertagent, der Molly an diesem Nachmittag besucht hat und dessen Abdruck im Bett Bloom<br />

imaginiert. Die nächste Frage gilt diesem Besucher:<br />

„Was für Gedanken hegte er bezüglich des letzten Gliedes dieser Reihe und kürzlichen Inhaber des<br />

Bettes?<br />

- Gedanken an seine Kraft – ein Rabauke, Körperproportion – ein Plakatkleber, kaufmännische<br />

Fähigkeit – ein Schwindler, Erregbarkeit – ein Prahler. (…).<br />

Mit welchen widerstreitenden Gefühlen waren seine nachfolgenden Überlegungen besetzt?<br />

- Mit Neid, Eifersucht, Entsagung, Gleichmut.“<br />

- was er dann noch auf weitere Fragen hin einzeln kommentiert. Die letzte Frage in diesem<br />

Zusammenhang: „Welche Vergeltung, wenn überhaupt?“ beantwortet Bloom nun in direkter<br />

Ablehnung vom Verhalten des Odysseus: „Mord niemals, da Unrecht plus Unrecht nicht Recht<br />

ergab.“<br />

In diesem formal so strengen, unpersönlichen Stil geht es um differenzierte „persönliche“<br />

Auskünfte über Leopold Bloom, wie sie uns im ganzen Roman zuvor gerade vorenthalten worden<br />

sind.<br />

Weil es zum Unerwarteten dieses Kapitels gehört, muss ich Ihnen noch eine letzte Frage vorlesen:<br />

„Welche speziellen Affinitäten schienen ihm zwischen dem Mond und der Frau als solcher zu<br />

bestehen? - Von der langen Antwort nur dieses: „Sein Glanz, wenn er sichtbar war, seine<br />

Anziehungskraft, wenn er unsichtbar war.“<br />

Zuletzt stellt sich Bloom noch ungefragt vor, seine Frau mit einem würdigeren Liebhaber<br />

auszustatten, nämlich mit dem gebildeten und ihm so sympathischen Stephen Dedalus, der ihr einen<br />

anderen Büchergeschmack und zudem noch italienisch richtiges Aussprechen beibringen könnte,<br />

z.B. für ihre Arie aus Don Giovanni.<br />

Das Herabstufen des Homerischen Heldenepos auf die Geschichte eines Tages voller Alltäglichkeit,<br />

ohne ihn je verächtlich erscheinen zu lassen, gehört zu den Zielen des Autors: Burgess nennt es die<br />

„Heiligsprechung des Alltags“. <strong>Joyce</strong> hatte nicht weniger im Sinn, als zugleich mit befreiter<br />

Phantasie dem ganzen alltäglichen Leben einen Platz in seinem Roman einzuräumen, auch<br />

außerhalb von Anspielungen auf das klassische Epos. Ohne dass er sich literarischen Programmen<br />

wie dem Naturalismus verpflichtet gefühlt hätte, war ihm nichts Menschliches fremd, und zum<br />

normalen Alltag gehört in der Tat beispielsweise auch der Gang zur Toilette – und den stellt er auch<br />

einmal dar, voller Selbstverständlichkeit, ohne jede Peinlichkeit und mit der Zeitungslektüre dabei<br />

erheiternd. Ebenso selbstverständlich und fernab des Anstößigen kann er in einer späteren Episode<br />

(13. Nausikaa) in einer Abendszene im Grünen eine andere Erleichterung Blooms stattfinden lassen,<br />

die Selbstbefriedigung eines abendlich entspannten Bloom – Aug in Auge mit der schönen jungen


16<br />

Frau ihm gegenüber, synchron mit den Eruptionen eines Feuerwerks, dargestellt im inneren<br />

Monolog, sachlich kurz und literarisch vollendet dezent.<br />

Hier gilt wieder einmal, worauf die Kommentaren hinzuweisen nicht müde werden: Nicht das WAS<br />

ist in diesem Roman entscheidend – die Kunst erweist sich in seinem WIE.<br />

Ebenso wenig schockierend erscheint Mollys nonchalantes Seufzen über die Plage der Menstruation<br />

in ihrem letzten langen Bett-Monolog, in dem sie ohne Zensur und ohne den Gestus von<br />

Tabuverstößen gleichsam natürlich, ungehemmt über alles spricht, was ihr Leben ausgemacht hat<br />

und weiter ausmacht, und das sind im wesentlichen ihre Erlebnisse mit Männern. Dem damaligen<br />

irischen Frauenbild von der frommen Familienmutter entspricht sie weder in der Darstellung ihres<br />

Mannes im Kapitel zuvor noch in diesem Monolog, der die wegen ihrer angeblichen Freizügigkeit<br />

hohe Auflagen erreichenden Bücher von Autorinnen unserer Tage an „Freizügigkeit“ weit übertrifft.<br />

Das mag mitgewirkt haben an dem jahrelangen Verbot des Romans gerade in Irland. Für ihren<br />

Autor symbolisierte Molly offenkundig das Ewig Weibliche, aber nicht als eines, von dem es heißt<br />

wie am Ende von Faust II „zieht uns hinan“, sondern, wie <strong>Joyce</strong> sagte, als die fruchtbare Erde, die<br />

um sich selbst kreist.<br />

Vladimir Nabokov weist sehr schön darauf hin: <strong>Joyce</strong> wollte, dass Bloom mitten in seiner<br />

Alltäglichkeit geachtet werde und habe ihm deshalb die Gabe verliehen, über die er selbst in so<br />

ungewöhnlich hohem Maße verfügt habe: In seiner Kunst der Darstellung das Gewöhnliche mit<br />

dem Ungewöhnlichen zu erfüllen.<br />

Die Beschäftigung mit diesem Roman ist recht eigentlich das, als das <strong>Joyce</strong> sein letztes Werk,<br />

„Finnegans Wake“, charakterisierte, das er bis kurz vor Erscheinen nur „Work in Progress“ nannte:<br />

ein Werk in dauerndem Entstehen. Ich habe festgestellt, dass bei jeden neuen Lesen immer wieder<br />

etwas anderes in den Blick drängt und dass es Urteile über den Roman ohne Paradoxa gar nicht<br />

geben kann: denn zu jeder beobachteten Eigentümlichkeit des Romans drängt sich bei nächster<br />

Gelegenheit die entgegengesetzte auf – am heftigsten wohl im Wechsel von krassestem Realismus<br />

und dem freien Spiel weit ausgreifender phantastischer Vorstellungen.<br />

Dublin verlor <strong>Joyce</strong> bei der Odyssee seines eigenen Lebens nicht aus den Augen – und sei es in<br />

Gestalt von Thom's Dublin Post Office Directory, das er im Ausland zu Rate zog, und einem<br />

Exemplar der Dubliner Tageszeitung Evening Telegraph vom 16. Juni 1904, das an jenem Tag unter<br />

anderem berichtete über das Pferderennen um den Goldpokal von Ascot und das schreckliche<br />

Unglück eines Ausflugsdampfers in Amerika – was beides hineinspielt in die Romanhandlung.


17<br />

Brief von C.G.Jung an <strong>James</strong> <strong>Joyce</strong> in Zürich, 1932:<br />

Sehr geehrter Herr,<br />

Ihr Ulysses hat die Welt vor ein so aufregendes psychologisches Rätsel gestellt, dass man sich<br />

wiederholt an mich als eine angebliche Autorität in psychologischen Dingen gewandt hat. Ulysses<br />

erwies sich als eine äußerst harte Nuss und hat meinen Geist nicht nur zu höchst ungewöhnlichen<br />

Anstrengungen gezwungen, sondern auch zu ziemlich ausschweifenden Wanderungen (vom<br />

Standpunkt des Wissenschaftlers aus gesehen). Ihr Buch hat mir als Ganzes endlose Mühen bereitet,<br />

und ich habe drei Jahre darüber gebrütet, bis es mir gelang, mich hineinzufinden. Aber ich muß<br />

Ihnen sagen, daß ich Ihnen wie auch Ihrem gigantischen Werk zutiefst dankbar bin, weil ich daraus<br />

viel gelernt habe. Es wird mir wahrscheinlich nie ganz klar sein, ob es mir Freude gemacht hat, weil<br />

es für mich allzuviel Plackerei der Nerven und der grauen Zellen bedeutete. Ich weiß auch nicht, ob<br />

Ihnen Freude machen wird, was ich über Ulysses geschrieben habe, weil ich nicht umhin konnte,<br />

der Welt zu berichten, wie ich mich gelangweilt, wie ich gestöhnt, wie ich geflucht und wie ich<br />

bewundert habe. Die 40 ununterbrochen durchgehenden Seiten am Schluß sind eine Kette veritabler<br />

psychologischer Perlen. Höchstens des Teufels Großmutter weiß so viel von der wirklichen<br />

Psychologie einer Frau. Ich jedenfalls nicht.<br />

Nun, ich versuche einfach nur, Ihnen meinen kleinen Essay zu empfehlen als den amüsanten<br />

Versuch eines völlig Fremden, der sich in dem Labyrinth Ihres Ulysses verirrte und nur durch einen


18<br />

glücklichen Zufall wieder herausfand. Sie können jedenfalls meinem Artikel entnehmen, was<br />

Ulysses bei einem angeblich ausgeglichenen Psychologen angerichtet hat.<br />

Mit dem Ausdruck meiner höchsten Wertschätzung …. C.G.Jung

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