Phänotyp des visuellen Systems bei okulokutanem ... - Albinismus.info
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Leitthema<br />
Ophthalmologe 2007<br />
DOI 10.1007/s00347-007-1571-4<br />
© Springer Medizin Verlag 2007<br />
B. Käsmann-Kellner · B. Seitz<br />
Klinik für Augenheilkunde im Universitätsklinikum <strong>des</strong> Saarlan<strong>des</strong> UKS, Homburg (Saar)<br />
<strong>Phänotyp</strong> <strong>des</strong> <strong>visuellen</strong><br />
<strong>Systems</strong> <strong>bei</strong> <strong>okulokutanem</strong><br />
und okulärem <strong>Albinismus</strong><br />
648 | Der Ophthalmologe 2007<br />
Obgleich <strong>Albinismus</strong> eine der häufigsten<br />
und eine der am längsten bekannten<br />
Ursachen angeborener Sehbehinderung<br />
ist, erschließen sich<br />
neuere Erkenntnisse über die angeborene<br />
neurovisuelle Entwicklungsstörung,<br />
die weit über Augen und<br />
Haut/Haare hinausreichen [2, 28, 29],<br />
erst seit etwa 2 Jahrzehnten. Personen<br />
mit <strong>Albinismus</strong> weisen tiefgreifende<br />
zerebrale morphologische Entwicklungsauffälligkeiten<br />
auf [7], die<br />
Erstaunen erwecken, wie „normal“<br />
bzw. „gesund“ die Betroffenen angesichts<br />
von Umstrukturierungen von<br />
immerhin einem Drittel ihres Kortex<br />
und angesichts <strong>des</strong> immensen Einflusses<br />
<strong>des</strong> Melanins auf die Neurogenese<br />
sind. Zudem zeichnet sich ab,<br />
dass es das Phänomen <strong>Albinismus</strong><br />
weit häufiger gibt als bisher angenommen.<br />
Der visuelle, zerebrale und<br />
dermatologische <strong>Phänotyp</strong> ist deutlich<br />
vielfältiger als wir bislang angenommen<br />
haben. Diese Betroffenen<br />
gehören oft zu der Pigment bildenden<br />
Form <strong>des</strong> Tyrosinase-Gen-bezogenen<br />
<strong>Albinismus</strong> und erweitern das<br />
Spektrum der <strong>Albinismus</strong>manifestationen<br />
erheblich – ein Visus von 0,8–<br />
1,0 und fehlender Nystagmus sprechen<br />
nicht gegen einen <strong>Albinismus</strong>.<br />
Biochemie der<br />
Pigmententstehung<br />
Mittlerweile sind über 120 Gene bekannt,<br />
die <strong>bei</strong> der Maus die Farbgebung von<br />
Haut, Haaren und Augen beeinflussen<br />
[23]. Für Säugerspezies sind mittlerweile<br />
mehr als 50 Gene bekannt, welche die Pigmentierung<br />
beeinflussen [1, 3, 22, 25].<br />
Die pigmentbeeinflussenden Gene<br />
sind auch außerhalb der <strong>Albinismus</strong>varianten<br />
von augenärztlichem Interesse,<br />
da Mutationen in einigen von ihnen zu<br />
Abb. 1 9 Albinotischer<br />
Pfauenhahn, aufgenommen<br />
in einem<br />
Tierpark auf Madeira<br />
schweren Augenfehlbildungen, aber auch<br />
Fehlbildungen anderer aus der Neuralleiste<br />
stammender Organsysteme führen können<br />
[30]. Dies erklärt sich durch die Tatsache,<br />
dass sowohl Augen- als auch Hirnentwicklung<br />
pigmentabhängig sind [19,<br />
20]. Sie können orientierend in 5 Gruppen<br />
eingeteilt werden, denen sich auch<br />
die <strong>Albinismus</strong>formen zuordnen lassen<br />
(. Tab. 1):<br />
F Gene, die die Entwicklung und Differenzierung<br />
der Pigmentzellen kontrollieren:<br />
1 Beispiele für Erkrankungen <strong>bei</strong> Mutationen<br />
dieser Gene: Waardenburg-Syndrom<br />
I/II, Holoprosenzephalie, Incontinentia<br />
pigmenti Bloch-Sulzberger, Apert-<br />
Syndrom;<br />
F Gene, die die Melanosom-Entwicklung<br />
beeinflussen (Melanosom: pigmentproduzierende<br />
Organelle im<br />
Melanozyten):<br />
1 OCA 1,3,4;<br />
F Gene, die den Aufbau <strong>des</strong> Melanosoms<br />
(und anderer Organellen) beeinflussen:<br />
1 OCA2, okulärer <strong>Albinismus</strong> OA1,<br />
Hermansky-Pudlack-Syndrom Typ 1–8;<br />
Chediak-Higashi-Syndrom;<br />
F Gene, die den Melanosomentransport<br />
beeinflussen:<br />
1 Griscelli-Syndrom;<br />
F Gene, die <strong>bei</strong> der relativen Aufteilung<br />
von (schwarzem) Eumelanin und (rotem)<br />
Phäomelanin mitwirken:<br />
1 Bekanntestes Beispiel ist das Gen,<br />
welches für den Melanocortin-1-Rezeptor<br />
(Syn: melanozytenstimulierender<br />
Hormonrezeptor) kodiert: eine Beset-
zung <strong>des</strong> Rezeptors am Melanozyten<br />
durch das melanozytenstimulierende<br />
Hormon führt dazu, dass in der Zelle<br />
mehr Eumelanin gebildet wird. Kommt<br />
es hier zu Veränderungen, nimmt der<br />
Anteil <strong>des</strong> Phäomelanins relativ zum Eumelanin<br />
zu. Dies ist <strong>bei</strong> der überwiegenden<br />
Anzahl rothaariger und hellhäutiger,<br />
schlecht bräunender Personen der<br />
Fall.<br />
Durch die Vielzahl pigmentbeeinflussender<br />
Gene und ihre gegenseitigen<br />
Wechselwirkungen kommt es sowohl<br />
<strong>bei</strong>m Gesunden als auch <strong>bei</strong> Personen mit<br />
<strong>Albinismus</strong> zu einer sehr hohen Variabilität<br />
<strong>des</strong> <strong>Phänotyp</strong>s. Die einzige Form <strong>bei</strong><br />
<strong>Albinismus</strong>, die dies nicht aufweist und<br />
<strong>bei</strong> der auch der ethnische Hintergrund<br />
keinen Einfluss auf die Auswirkungen <strong>des</strong><br />
<strong>Albinismus</strong> hat, ist der Typ OCA1A mit<br />
einem völligen Funktionsverlust der Tyrosinase<br />
(vgl. zum <strong>Phänotyp</strong> auch den Artikel<br />
von C. Zühlke et al. in diesem Heft).<br />
Es gibt viele Erkrankungen, die mit einer<br />
umschriebenen oder generalisierten Hypopigmentation<br />
eingehen, und die doch<br />
keine primären <strong>visuellen</strong> Veränderungen<br />
aufweisen (Incontinentia pigmenti Bloch-<br />
Sulzberger IP), Ektodermale Dysplasie,<br />
Apert-Syndrom, Holoprosenzephalie,<br />
Xeroderma pigmentosum XP u.v.a.)<br />
[3]. Die Vielfalt der syndromatischen Erkrankungen,<br />
die mit Störungen der Pigmentbildung<br />
als gemeinsamem Zeichen<br />
einhergehen können und doch keine primären<br />
<strong>visuellen</strong> Veränderungen verursachen,<br />
ist beträchtlich und einer der Gründe<br />
dafür, dass man erstaunt über die (relative)<br />
Beschwerde- und Symptomfreiheit<br />
albinotischer Probanden ist, <strong>bei</strong> denen<br />
trotz ausgeprägten zerebralen Veränderungen<br />
subjektiv die angeborene Sehbehinderung<br />
das alleinige Problem ist.<br />
Beim Menschen konnten bislang 14 Gene<br />
beschrieben werden (. Tab. 1), deren<br />
Mutationen mit albinismustypischen Veränderungen<br />
assoziiert sind [21, 25, 30].<br />
Definition <strong>Albinismus</strong><br />
Tab. 1<br />
Molekulargenetisch bislang bekannte <strong>Albinismus</strong>formen und genetische Loci<br />
Typ <strong>des</strong> <strong>Albinismus</strong> und genetische<br />
Loci<br />
OCA1<br />
Mutationen im Tyrosinase-Gen,<br />
11q14-q21<br />
OCA2<br />
Mutationen im P-Gen,<br />
15q11.2-q12<br />
OCA3<br />
Mutationen im TRP-1-Gen<br />
9p23<br />
OCA4<br />
Mutationen im MATP-Gen,<br />
5p13.3,<br />
Hermansky-Pudlack-Syndrom<br />
22q11.2-q12.2, 19q13, 11p15-<br />
p13, 10q24.32, 10q23.1,<br />
6p22.3, 3q24<br />
Chediak-Higashi-Syndrom<br />
1q42.1-q42.2<br />
OA1 (OA-X)<br />
Xp22.3<br />
Störungsort <strong>bei</strong> der Melaninsynthese<br />
Blockierung der Pigmentbildung<br />
Aufbau <strong>des</strong> Melanosoms<br />
„P“: „pink-eye-dilution gene“<br />
Transport<br />
Stabilisierung <strong>des</strong> Melanosoms<br />
(„tyrosinase related protein 1“)<br />
Transport (membranassoziiertes<br />
Transportprotein)<br />
Aufbau <strong>des</strong> Melanosoms<br />
Biogenese lysosomaler Organellen<br />
Aufbau und Größe <strong>des</strong> Melanosoms<br />
Melanosombiogenese<br />
Signaltransduktion<br />
OCA: okulokutaner <strong>Albinismus</strong>, OA: okulärer <strong>Albinismus</strong><br />
Im Gegensatz zu den anderen Syndromen,<br />
die mit Mutationen in pigmentbeeinflussenden<br />
Genen assoziiert sind, ist<br />
<strong>bei</strong> der Gruppe hereditärer Stoffwechselerkrankungen,<br />
die den Oberbegriff <strong>Albinismus</strong><br />
tragen, immer das visuelle System<br />
(Auge und Sehbahn) involviert. Die gemeinsamen<br />
Charakteristika, die die Gruppe<br />
der <strong>Albinismus</strong>erkrankungen von den<br />
anderen Syndromen mit Störungen im<br />
Pigmentstoffwechsel unterscheiden, sind<br />
somit:<br />
F mangelnde Differenzierung der zentralen<br />
neurosensorischen Retina,<br />
F atypische chiasmale Kreuzung (Überwiegen<br />
der kreuzenden Fasern),<br />
F unterschiedliches Ausmaß von Hypopigmentation<br />
der Haut und der<br />
Haare.<br />
Untergruppen sowie Syndrome<br />
mit Hypopigmentation<br />
OCA1A Tyrosinase komplett<br />
blockiert<br />
OCA1B Restaktivität + OCA1TS<br />
temperatursensitive Restaktivität<br />
OCA2<br />
Prader-Willi-Syndrom PWS<br />
Angelman-Syndrom AS<br />
Griscelli-Syndrom GS Typ 1–3<br />
OCA3 (v. a. in Afrika)<br />
Sog. Roter (rufous) <strong>Albinismus</strong><br />
In Europa selten, häufiger im<br />
asiatischen Raum<br />
HPS-Typen 1–8<br />
Genetisch sehr heterogen!<br />
Sehr selten<br />
Okulärer <strong>Albinismus</strong> Typ 1<br />
Nettleship-Falls<br />
<strong>Albinismus</strong> ist keine auf die Menschen<br />
beschränkte Stoffwechselstörung, unterschiedliche<br />
Formen von <strong>Albinismus</strong> können<br />
im Tierreich <strong>bei</strong> allen Spezies vorkommen<br />
(. Abb. 1).<br />
Prinzipiell unterscheidet man Formen<br />
mit generalisierter Beteiligung (OCA:<br />
okulokutaner <strong>Albinismus</strong>, . Abb. 2, 3)<br />
und klinisch nur okulärer Beteiligung<br />
(OA: okulärer <strong>Albinismus</strong>) [20, 21, 30].<br />
Alle Formen <strong>des</strong> <strong>Albinismus</strong> sind aufgrund<br />
<strong>des</strong> Melaninmangels mit entwicklungsbedingten<br />
Veränderungen <strong>des</strong> <strong>visuellen</strong><br />
<strong>Systems</strong> assoziiert, da sowohl die<br />
postnatale Differenzierung v. a. der fovealen<br />
Strukturen als auch die prä- und<br />
postnatale Differenzierung der primären<br />
<strong>visuellen</strong> Kortex melaninabhängig sind [2,<br />
8, 9, 18].<br />
Generell führen die Veränderungen im<br />
<strong>visuellen</strong> System, die mit einer Hypopigmentation<br />
assoziiert sind, zu einer meist<br />
reduzierten zentralen Sehschärfe, bedingt<br />
durch eine Foveahypoplasie mit konsekutivem<br />
sensorischem „kongenitalem“ Nystagmus.<br />
An der Maus konnte nachgewiesen<br />
werden, dass die Anzahl an Photorezeptoren<br />
(sowohl Zapfen als auch Stäbchen)<br />
deutlich reduziert ist und die topographische<br />
Umverteilung der Photorezeptoren<br />
am hinteren Pol nach der Geburt,<br />
die das morphologische Korrelat der retinalen<br />
Reifung mit Ausbildung der Makula<br />
ist, deutlich verändert ist [8, 9, 10, 17].<br />
Zudem findet sich pathognomonisch<br />
<strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong> eine atypische chiasmale<br />
Kreuzung der Sehnerven: Es kreuzen<br />
mehr Fasern als <strong>bei</strong> regulär pigmentierten<br />
Individuen. Dies führt in der Regel<br />
zu deutlichen Störungen im Binokularsehen<br />
sowie immer zu pathognomonischen,<br />
diagnostisch relevanten Verän-<br />
Der Ophthalmologe 2007 |<br />
649
Leitthema<br />
Anzahl Personen (n = 506)<br />
160<br />
140<br />
120<br />
100<br />
80<br />
60<br />
143<br />
28,26%<br />
151<br />
29,84%<br />
124<br />
24,51%<br />
65<br />
12,85%<br />
Abb. 2 8 Typen <strong>des</strong> okulokutanen <strong>Albinismus</strong>.<br />
a OCA1A, türkischer Knabe, vergleiche die kutane<br />
Pigmentierung <strong>des</strong> Vaters. b OCA1B, Zwillinge,<br />
<strong>bei</strong> Geburt weißliche Haare, jetzt deutlich<br />
nachpigmentiert. c OCA2, Kind afroamerikanischer<br />
Eltern. Vergleiche hierzu den Jungen<br />
in Abb. 5. OCA1A wird durch den ethnischen<br />
Hintergrund nicht beeinflusst, OCA2 dagegen<br />
schon. d OCA3, Kind ghanaischer Eltern, beachte<br />
den häufig auftretenden Rotschimmer der<br />
Haare. e OCA4. Dieser Junge ist klinisch nicht<br />
von einem Kind mit OCA1A zu unterscheiden.<br />
Die anderen Patienten mit OCA4 weisen z. T. gut<br />
ausgeprägte Pigmentierungen auf, der <strong>Phänotyp</strong><br />
ist <strong>bei</strong> der noch sehr kleinen Gruppe Patienten<br />
sehr variabel<br />
40<br />
20<br />
0<br />
1<br />
12<br />
2,37%<br />
0CA1 0CA2 0CA3 0CA4 Syndrome<br />
<strong>Albinismus</strong>-Typ<br />
8<br />
1,58%<br />
OCA Typ<br />
unklar<br />
OA<br />
Abb. 3 8 Verteilung der <strong>Albinismus</strong>typen <strong>bei</strong> n=506 Patienten der Klinik für Augenheilkunde im UKS:<br />
OCA1: Tyrosinase-Gen-bezogener okulokutaner <strong>Albinismus</strong>, OCA2: P-Gen-bezogener okulokutaner <strong>Albinismus</strong>,<br />
OCA3: TRP-1-Gen-bezogener okulokutaner <strong>Albinismus</strong>, OCA4: MATP-Gen-bezogener okulokutaner<br />
<strong>Albinismus</strong>. Syndrome: Hermansky-Pudlack-Syndrom (n=4), Prader-Willi-Syndrom (n=4).<br />
OCA-Typ unklar: Patienten mit fehlendem molekulargenetischem Nachweis, phänotypisch nicht<br />
OCA1A. OA: okulärer <strong>Albinismus</strong><br />
650 | Der Ophthalmologe 2007
Zusammenfassung · Abstract<br />
derungen <strong>bei</strong> der Ableitung von monokular<br />
stimulierten VEP seitengetrennt<br />
über dem rechten und linken Kortex [6,<br />
7]. Dies lässt sich durch die funktionelle<br />
Kernspintomographie sehr gut darstellen<br />
(. Abb. 4, aus [13]) [26]. Die Veränderungen<br />
<strong>des</strong> optischen <strong>Systems</strong> sind <strong>bei</strong><br />
allen <strong>Albinismus</strong>formen ähnlich und werden<br />
eher dem generalisierten Pigmentmangel<br />
als einem pleiotropen Effekt der<br />
verschiedenen involvierten Gene oder<br />
Mutationen zugeschrieben.<br />
Klassifizierung der<br />
<strong>Albinismus</strong>typen<br />
<strong>Albinismus</strong> wird aufgrund<br />
<strong>des</strong> variablen <strong>Phänotyp</strong>s<br />
oft nicht erkannt<br />
Bei den Typen <strong>des</strong> okulokutanen <strong>Albinismus</strong><br />
(. Tab. 1, . Abb. 2, 3) kann die<br />
Manifestation an Haut und Haaren, abhängig<br />
vom Genotyp, zu unterschiedlichen<br />
phänotypischen Manifestationen<br />
führen. Generell ist die Spanne möglicher<br />
<strong>Phänotyp</strong>en <strong>bei</strong> allen okulokutanen<br />
<strong>Albinismus</strong>typen groß, sie reicht von<br />
dem „klassischen“ Aussehen mit weißen<br />
Haaren und heller, nicht bräunender<br />
Haut (. Abb. 2) bis hin zu braunen Haaren<br />
und gut nachpigmentierender Haut<br />
(. Abb. 2). Der klassische und nach wie<br />
vor oft auftretende Denkreflex: „Das kann<br />
kein <strong>Albinismus</strong> sein, da die Haare nicht<br />
weiß/hellblond, die Augen nicht blau/<br />
“rot“ sind“, führt nach wie vor dazu, dass<br />
zu viele Patienten nicht korrekt diagnostiziert<br />
werden.<br />
Der okuläre <strong>Albinismus</strong> zeigt vergleichbare<br />
Veränderungen im optischen System<br />
wie der okulokutane <strong>Albinismus</strong>, jedoch<br />
in der Regel keine makroskopischen Auffälligkeiten<br />
der Haut und in Haare. Die<br />
Haut zeigt jedoch mikroskopisch Makromelanosomen<br />
[5, 30]. Im Auge findet sich<br />
v. a. die Zahl der Melanosomen im retinalen<br />
Pigmentepithel und in der Uvea reduziert.<br />
Zur Häufigkeitsverteilung der <strong>Albinismus</strong>typen<br />
(. Abb. 3, 4).<br />
Der Haarwurzelinkubationstest<br />
ist überholt<br />
In den 60er Jahren wurde von C. Witkop<br />
und R. King der Tyrosin-Haarwur-<br />
Ophthalmologe 2007 DOI 10.1007/s00347-007-1571-4<br />
© Springer Medizin Verlag 2007<br />
B. Käsmann-Kellner · B. Seitz<br />
<strong>Phänotyp</strong> <strong>des</strong> <strong>visuellen</strong> <strong>Systems</strong> <strong>bei</strong><br />
<strong>okulokutanem</strong> und okulärem <strong>Albinismus</strong><br />
Phenotype of the visual system in<br />
oculocutaneous and ocular albinism<br />
Zusammenfassung<br />
Obgleich <strong>Albinismus</strong> eine der häufigsten und<br />
der am längsten bekannten Ursachen angeborener<br />
Sehbehinderung ist, wissen wir erst<br />
seit den letzten Jahrzehnten um die tiefgreifenden<br />
zerebralen morphologischen Entwicklungsauffälligkeiten<br />
<strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong>. Das<br />
zunehmende Wissen um die Rolle <strong>des</strong> Melanins<br />
in der Hirnentwicklung und -differenzierung<br />
ermöglicht ein tieferes Verständnis nicht<br />
nur der Gegebenheiten <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong>, sondern<br />
auch hinsichtlich der normalen physiologischen<br />
zerebralen Differenzierung. Zudem<br />
gibt es auch hinsichtlich <strong>des</strong> <strong>visuellen</strong> <strong>Phänotyp</strong>s<br />
<strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong> neue Befunde, welche<br />
die Einschätzung von <strong>Albinismus</strong> deutlich<br />
differenzierter werden lassen. An der repräsentativen<br />
Gruppe von 506 Patienten mit<br />
<strong>okulokutanem</strong> und okulärem <strong>Albinismus</strong>, die<br />
an der Klinik für Augenheilkunde am Universitätsklinikum<br />
<strong>des</strong> Saarlan<strong>des</strong> (UKS) betreut<br />
werden, wird die hier seit Jahren verwendete<br />
Gradeinteilung der morphologischen Befunde<br />
an Iris, Makula und N. opticus nochmals<br />
vorgestellt und aufgezeigt, wie variabel<br />
und bisweilen unerwartet gering ausgeprägt<br />
der okuläre und funktionelle <strong>Phänotyp</strong><br />
<strong>des</strong> <strong>Albinismus</strong> sein kann. Korrelationen zwischen<br />
<strong>Albinismus</strong>typ, Funktion und Morphologie<br />
werden dargestellt, hier<strong>bei</strong> erweist sich<br />
die <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong> häufig auftretende Optikusdysplasie<br />
als sehr entscheidend für die<br />
später erreichte Sehschärfe. Zudem zeichnet<br />
sich ab, dass es das Phänomen <strong>Albinismus</strong><br />
weit häufiger gibt als bisher angenommen.<br />
Der visuelle, zerebrale und dermatologische<br />
<strong>Phänotyp</strong> ist deutlich vielfältiger als wir bislang<br />
angenommen haben – ein Visus von<br />
0,8–1,0 und fehlender Nystagmus sprechen<br />
nicht gegen einen <strong>Albinismus</strong>. Einzelne Ableitungen<br />
eines Albino-VEP <strong>bei</strong> Kindern mit<br />
frühkindlichem Schielsyndrom, vollem Visus,<br />
aber kleiner Papille wiesen ebenfalls die typische<br />
Kreuzungsanomalie auf, sodass wir <strong>bei</strong><br />
dieser Gruppe noch eine Dunkelziffer nicht<br />
erkannter <strong>Albinismus</strong>patienten vermuten.<br />
Schlüsselwörter<br />
<strong>Albinismus</strong> · Melanin · <strong>Phänotyp</strong> · Gradeinteilung<br />
· Optikusdysplasie · Lebensqualität ·<br />
Strabismus<br />
Abstract<br />
In spite of albinism <strong>bei</strong>ng one of the visual<br />
impairments which has been known for over<br />
a century, it has only been known for a few<br />
deca<strong>des</strong> that albinism is correlated to severe<br />
cerebral morphological developmental alterations.<br />
The increasing knowledge about the<br />
role of melanin in the development and orientation<br />
of cerebral neurons not only renders<br />
more insight into albinism, but also a<br />
greater insight in the physiological neuronal<br />
and cerebral development in man. Concerning<br />
the morphological and visual phenotype<br />
there are new clinical findings which enlarge<br />
the known spectrum of albinism. In a<br />
representative group of 506 persons with oculocutaneous<br />
and ocular albinism who are<br />
in care at the Department of Ophthalmology<br />
at the University of Saarland (UKS), we present<br />
a staging of morphological findings of<br />
the iris, retinal pigment epithelium and macula,<br />
and of the optic nerve head which has<br />
been in use for 10 years. Albinism may present<br />
with a remarkably mild ocular phenotype<br />
and a near to normal functional phenotype.<br />
We present correlations between molecular<br />
genetic types of albinism, ocular phenotype<br />
and visual function. Of great importance<br />
concerning later visual acuity is the dysplasia<br />
of the optic nerve head (ONH), which is a<br />
frequent finding in albinism. The appearance<br />
of the ONH should always be included in any<br />
clinical <strong>des</strong>cription of an albinism patient.<br />
It is highly possible that due to a moderate<br />
phenotype there are still many patients who<br />
have not been diagnosed yet. Visual acuity<br />
of 30/20 to 20/20 and no nystagmus do<br />
not rule out albinism. In addition, when performing<br />
albino VEPs in phenotypically normal<br />
children with infantile strabismus, small<br />
ONHs, but normal visual acuity and no nystagmus,<br />
the classical atypical chiasmal crossing<br />
is sometimes found. Therefore, the number<br />
of persons having undiagnosed albinism<br />
is probably quite high, perhaps there even is<br />
a very broad transition zone from normal to<br />
albinotic.<br />
Keywords<br />
Albinism · Phenotype · Grading · Dysplasia of<br />
the optic nerve head · Quality of live · Vision<br />
impairment · Strabismus<br />
Der Ophthalmologe 2007 |<br />
651
Leitthema<br />
Abb. 4 8 Funktionelle Kernspintomographie <strong>bei</strong> jeweils monokularer Stimulation <strong>des</strong> rechten und linken<br />
Auges,seitengetrennte kortikale Ableitung, normalpigmentierte und albinistische Probanden: a Normalpigmentierte Probanden,<br />
b <strong>Albinismus</strong>probanden. Aktivitätszonen im <strong>visuellen</strong> Kortex. Rot: monokulare Stimulation <strong>des</strong> linken Auges, grün: monokulare<br />
Stimulation <strong>des</strong> rechten Auges, gelb: Areale der Durchmischung. Deutliche kontralaterale Dominanz der <strong>visuellen</strong> Aktivität.<br />
<strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong>. (Aus: Schmitz, Käsmann-Kellner et al. 2004)<br />
zeltest entwickelt, um Tyrosinasefunktion<br />
und somit Melaninbildung in den Haarwurzeln<br />
nachzuweisen und so eine Klassifikation<br />
der <strong>Albinismus</strong>typen in „Tyrosinase-negativ“<br />
und „Tyrosinase-positiv“<br />
(keine Melaninbildung/Melaninbildung<br />
nachweisbar) vorzunehmen [19]. Der Test<br />
ist jedoch weder sensitiv noch spezifisch<br />
noch gut reproduzierbar und kann zudem<br />
Veränderungen im Laufe <strong>des</strong> Lebens aufweisen.<br />
Mit zunehmendem Wissen über<br />
die Pigmentsynthese im Körper, die Vielfältigkeit<br />
<strong>des</strong> klinischen <strong>Phänotyp</strong>s und<br />
die molekulargenetischen Grundlagen<br />
von <strong>Albinismus</strong> wurde daher der Test aus<br />
der <strong>Albinismus</strong>diagnostik gestrichen.<br />
Bislang wurden 14 Gene auf 10 Chromosomen<br />
identifiziert (. Tab. 1), die mit<br />
der Entwicklung eines okulokutanen <strong>Albinismus</strong><br />
assoziiert sind, und 1 Gen, welches<br />
mit okulärem <strong>Albinismus</strong> assoziiert ist.<br />
Die molekulargenetische Klassifikation ist<br />
umfassender und genauer und schien zu<br />
Beginn der molekulargenetischen Analysen<br />
auch einfacher als die phänotypischen<br />
Klassifikationsversuche zu sein. Durch die<br />
vermehrten Kenntnisse über die <strong>bei</strong> der<br />
Pigmentsynthese beteiligten Gene wird<br />
allerdings auch die molekulargenetische<br />
Klassifikation zunehmend komplex. Es<br />
muss zudem beachtet werden, dass das<br />
Ausmaß der Pigmentierung (<strong>Phänotyp</strong>)<br />
<strong>bei</strong> allen Genloci eine sehr breite Spanne<br />
zeigt. Ein sicherer Schluss aus phänotypischem<br />
Erscheinungsbild auf das assoziierte<br />
Chromosom ist daher nur selten<br />
möglich. Eine Klassifikation auf molekulargenetischer<br />
Grundlage ist „state of the<br />
art“, aber bislang nur <strong>bei</strong> knapp zwei Drittel<br />
der Probanden erfolgreich (C. Zühlke<br />
et al., in diesem Heft).<br />
Eine eingängige klinische Darstellung<br />
<strong>des</strong> <strong>bei</strong> OCA vorliegenden autosomal-rezessiven<br />
Erbgangs kann in . Abb. 5 gesehen<br />
werden. Das afroeuropäische Elternpaar<br />
hat 3 Kinder, von denen eines (molekulargenetisch<br />
gesichert) das Vollbild<br />
eines OCA1(A) aufweist, eines einen Konduktorenstatus<br />
hat (man beachte die auffällig<br />
helle Haut <strong>des</strong> Mädchens) und eines<br />
genetisch unauffällig ist.<br />
Die Tatsache, dass auch <strong>bei</strong> ausgedehnter<br />
molekulargenetischer Analyse etwa <strong>bei</strong><br />
einem Drittel der Probanden eine Mutation<br />
nicht fassbar ist, spricht dafür, dass<br />
<strong>bei</strong>m Menschen noch nicht alle Chromosomen<br />
und Genloci gefunden wurden, die<br />
mit <strong>Albinismus</strong> assoziiert sind [21]. Eine<br />
besonders interessante Gruppe sind hier<br />
die phänotypisch rothaarigen Personen<br />
mit <strong>Albinismus</strong> (. Abb. 6).<br />
<strong>Phänotyp</strong> <strong>des</strong> <strong>visuellen</strong><br />
<strong>Systems</strong> <strong>bei</strong> <strong>okulokutanem</strong><br />
und okulärem <strong>Albinismus</strong><br />
Die Hypopigmentation hat verschiedene<br />
Auswirkungen auf Morphologie und<br />
Funktion <strong>des</strong> Auges und <strong>des</strong> Gehirns [1,<br />
2, 4]. Eine Übersicht über die Augenveränderungen<br />
gibt . Tab. 2, die verwendete<br />
Einteilung der Schweregrade der morphologischen<br />
Befunde ist in . Tab. 3 und<br />
. Abb. 7 einzusehen.<br />
Eine Gradeinteilung der okulären Pathologie<br />
sinnvoll. In den letzten Jahren<br />
hat sich die von uns vor ca. 10 Jahren<br />
entwickelte Einteilung der morphologischen<br />
Befunde an Iris, retinalem Pigmentepithel<br />
und Makula sowie an N. opticus<br />
sehr bewährt (. Tab. 2, . Abb. 7)<br />
[12]. Die vierstufige Einteilung wird dem<br />
sehr variablen <strong>Phänotyp</strong> wesentlich gerechter<br />
als rein <strong>des</strong>kriptive Aussagen wie<br />
„Iris durchleuchtbar“. Zudem sind individuelle<br />
Verlaufskontrollen möglich, um<br />
gerade im Kin<strong>des</strong>alter eine Pigmentzunahme<br />
und foveale Differenzierung beurteilen<br />
zu können. Des Weiteren können<br />
die molekulargenetischen Typen wesentlich<br />
genauer klinisch verglichen werden<br />
[21, 24].<br />
<strong>Albinismus</strong> zeigt an mehreren okulären<br />
und zerebralen Strukturen/Funktionen<br />
Auffälligkeiten:<br />
F Iris,<br />
F Retinales Pigmentepithel, makuläre<br />
Differenzierung,<br />
F Sehnerv,<br />
F Sehschärfe,<br />
F Kreuzungsverhalten im Chiasma,<br />
F Binokularsehen/Strabismus,<br />
F Winkel κ,<br />
F Fixation/Nystagmus,<br />
F Refraktion,<br />
F zerebrale Reifung/Myelinisierung/<br />
verzögerte visuelle Reifung.<br />
Iris<br />
Die Hypopigmentation führt zu einer<br />
Durchleuchtbarkeit der Iris durch das<br />
fehlende Melanin im iridalen Pigmentepithel<br />
(. Abb. 7). Die Irisfarbe kann abhängig<br />
vom Typ <strong>des</strong> <strong>Albinismus</strong> variieren<br />
von blau, blaugrau bis zu braun. Durch<br />
die Durchleuchtbarkeit der Iris kommt es<br />
652 | Der Ophthalmologe 2007
Tab. 2<br />
Vorderabschnitt<br />
Makula, retinales<br />
Pigmentepithel<br />
Sehnerv<br />
Gehirn<br />
Bau <strong>des</strong> Auges<br />
Tab. 3<br />
Okuläre und zerebrale morphologische Veränderungen und funktionelle Folgen <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong><br />
Morphologische Veränderungen Klinische Befunde Funktionelle Folgen<br />
Fehlen<strong>des</strong> bzw. reduziertes Pigment in<br />
den Melanosomen <strong>des</strong> iridalen Pigmentblatts<br />
Fehlen<strong>des</strong>/reduziertes Pigment in den<br />
Melanosomen <strong>des</strong> retinalen Pigmentepithels<br />
Geringere Anzahl von Photorezeptoren<br />
Formanomalien der Papillen, kleine Papillen<br />
Sehbahnverlauf:<br />
Atypische chiasmale Kreuzung<br />
Hinweise bestehen auf atypische Kreuzung<br />
auch der Hörbahnen<br />
Verzögerte Myelinisierung<br />
Refraktionsanomalien<br />
Hohe Hyperopie, hohe Myopie<br />
Astigmatismus<br />
Durchleuchtbarkeit der Iris<br />
? Vorzeitige Kataraktbildung<br />
Gradeinteilung der morphologischen Veränderungen <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong><br />
Grad der iridalen Hypopigmentation<br />
Grad der RPE-Hypopigmentation<br />
und der makulären<br />
Hypoplasie<br />
Grad der Papillenpathologie<br />
RPE: Retinales Pigmentepithel<br />
Heller Fundus, Makuladysplasie durch<br />
fehlende topographische Differenzierung,<br />
atypische Gefäßverläufe im Foveabereich<br />
Helle, kleine, evtl. hypoplastische und dysplastische<br />
Papillen<br />
Pathologisches Albino-VEP, mehr Fasern<br />
kreuzen, Störungen der Binokularität. Hinweise<br />
bestehen, dass <strong>bei</strong> Schielpatienten<br />
gehäuft milde Formen <strong>des</strong> <strong>Albinismus</strong><br />
(Typ OCA1B?) vorliegen<br />
Deutlich erhöhte Inzidenz einer verzögerten<br />
<strong>visuellen</strong> Reifung („delayed visual<br />
maturation“, DVM Typ III)<br />
Höhe <strong>des</strong> Astigmatismus korreliert mit<br />
Nystagmusintensität, Hyperopie und Myopie<br />
dagegen nicht<br />
Blendungsempfindlichkeit, Visusreduktion,<br />
reduzierte Kontrastempfindlichkeit<br />
Kongenitale Sehbehinderung mit sensorisch<br />
bedingtem Nystagmus, Blendungsempfindlichkeit<br />
Assoziation mit hohem Astigmatismus<br />
Papillenbefund hat den größten Einfluss<br />
auf den Visus<br />
Häufig Strabismus<br />
Selektive Akinetopsie für die eigenen<br />
Nystagmusparameter (auch <strong>bei</strong> anderen<br />
angeblichen Sehbehinderungen)<br />
Bei DVM fehlende Fixationsaufnahme in<br />
den ersten Lebensmonaten, später keine<br />
Visusunterschiede<br />
Cave: Kind nicht als blind bezeichnen!<br />
Astigmatismus korreliert mit Papillendysplasie.<br />
Visusanhebung durch harte CL<br />
erwägen<br />
Klassifikation der Pathomorphologie <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong> (. Abb. 7)<br />
Grad 1 Grad 2 Grad 3 Grad 4<br />
Periphere punktuelle Irisdurchleuchtbarkeit<br />
(punktförmiges<br />
koaxiales Licht<br />
verwenden)<br />
Periphere Hypopigmentation<br />
<strong>des</strong> RPE<br />
Foveastrukturen gut abgrenzbar<br />
(0=Papille o.B.)<br />
Papille hell, regelrechte<br />
Größe<br />
Diffuse periphere Irisdurchleuchtbarkeit,<br />
Pupillarsaum<br />
lichtdicht/pigmentiert<br />
Peripher deutliche und zentral<br />
sichtbare Hypopigmentation<br />
<strong>des</strong> RPE, Wall-Reflex<br />
abgrenzbar, Foveastruktur<br />
hypoplastisch<br />
Konfluierende periphere<br />
Irisdurchleuchtbarkeit,<br />
Linsenrand zirkulär durch<br />
Iris sichtbar, Pupillarsaum<br />
lichtdicht<br />
Ausgeprägte periphere und<br />
zentrale Hypopigmentation,<br />
foveolare und makuläre<br />
Hypoplasie/Dysplasie<br />
Komplette Irisdurchleuchtbarkeit<br />
Pupillarsaum durchleuchtbar<br />
Grad 3 plus atypischer choroidealer<br />
Gefäßverlauf im<br />
Bereich der nicht abgrenzbaren<br />
Makula- und Foveolastrukturen<br />
Papille klein, aber vital Papille hell und klein Papillendysplasie<br />
(neben dem fehlenden Blendungsschutz<br />
durch das retinale Pigmentepithel) zu einer<br />
deutlichen Blendungsempfindlichkeit<br />
(Photophobie).<br />
Retinales Pigmentepithel,<br />
makuläre Differenzierung<br />
Die Hypopigmentation <strong>des</strong> retinalen Pigmentepithels<br />
führt zu einem deutlich<br />
hellen Aspekt <strong>des</strong> Augenhintergrunds<br />
(. Abb. 7). Die topographische Differenzierung<br />
und Umverteilung der zentralen<br />
Photorezeptoren ist pigmentabhängig.<br />
Es resultiert eine Foveadysplasie unterschiedlichen<br />
Ausmaßes mit entsprechendem<br />
Einfluss auf den späteren Visus<br />
[4, 16]. Zudem sind Mutationen im Tyrosinase-Gen<br />
(OCA1) mit einer um 30% reduzierten<br />
Anzahl retinaler Ganglienzellen<br />
korreliert.<br />
Sehnerv/Papille<br />
Der Papillenbefund ist <strong>bei</strong> allen <strong>Albinismus</strong>typen<br />
visusbestimmend. Der Sehnervenkopf<br />
zeigt <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong> nicht<br />
selten deutliche Auffälligkeiten. Der Sehnervenkopf<br />
ist häufig kleiner, <strong>bei</strong> vielen<br />
Betroffenen, v. a. mit OCA1, findet<br />
sich eine Optikusdysplasie (. Abb. 7).<br />
Die Tatsache, dass die Papille oft kleiner<br />
ist, erklärt sich aus der oben genannten<br />
melaninabhängigen Verminderung retinaler<br />
Ganglienzellen, die Dysplasie dagegen<br />
nicht, zumal sie auch <strong>bei</strong> gut pigmentierten<br />
Individuen auftreten kann. Die<br />
Untersuchungen an über 500 Probanden<br />
zeigen (. Abb. 8, 9, 10), dass der eigentlich<br />
visusbestimmende Faktor <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong><br />
nicht der <strong>Albinismus</strong>typ oder das<br />
Ausmaß der Hypopigmentation, sondern<br />
die Ausprägung der Sehnervenhypoplasie<br />
ist [12]. Es besteht eine direkte hoch signifkante<br />
Korrelation zwischen dem Papillenbefund<br />
und dem Visus. In . Abb. 9<br />
wird außerdem gezeigt, dass nicht nur der<br />
Visus <strong>bei</strong> zunehmendem Grad der Papil-<br />
Der Ophthalmologe 2007 |<br />
653
Leitthema<br />
Abb. 5 8 Autosomal-rezessiver Erbgang <strong>bei</strong> OCA 1A: klinisch gut erkennbare <strong>Phänotyp</strong>en <strong>bei</strong> autosomal-rezessivem Erbgang<br />
<strong>bei</strong> OCA1 (<strong>bei</strong>m Jungen molekulargenetisch nachgewiesen). Bei der afroeuropäischen Familie ist der älteste Junge kein Konduktor,<br />
wohingegen seine Schwester Konduktorin ist. Siehe <strong>bei</strong> der Schwester die sehr helle Haut im Vergleich zum älteren<br />
Bruder. Die <strong>bei</strong>den Geschwister haben einen unauffälligen okulären <strong>Phänotyp</strong>, Visus sc 1,2 <strong>bei</strong>dseits<br />
Abb. 6 9 <strong>Phänotyp</strong>isch rothaarige<br />
Personen mit <strong>Albinismus</strong><br />
Grad 1<br />
Grad 2 Grad 3 Grad 4<br />
Iris<br />
RPE,<br />
Macula<br />
Papille<br />
Abb. 7 8 Morphologische Befundeinteilung <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong>: zur Aufschlüsselung der einzelnen Befundabstufungen <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong><br />
s. . Tab. 3<br />
654 | Der Ophthalmologe 2007
lenpathologie abnimmt, es wird auch die<br />
Spannbreite erreichbarer Sehschärfenwerte<br />
kontinuierlich geringer. Zudem besteht<br />
eine deutliche Korrelation zwischen<br />
<strong>Albinismus</strong>typ und Papillenbefund: Der<br />
molekulargenetische Typ OCA1(A) ist besonders<br />
häufig mit Papillendysplasien assoziiert.<br />
Eine Papillendysplasie findet sich<br />
<strong>bei</strong> OCA1 in 53,7%, <strong>bei</strong> OCA2 und OA dagegen<br />
nur in 14% (p=0,006; an 100% fehlend:<br />
Papillendysplasie <strong>bei</strong> (noch) nicht<br />
einzuordnenden <strong>Albinismus</strong>typen).<br />
Mit der Erfassung <strong>des</strong> Schweregrads<br />
<strong>des</strong> Sehnervenbefunds <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong><br />
hat man somit bereits im Kleinkin<strong>des</strong>alter<br />
ein sowohl diagnostisch als auch prognostisch<br />
relevantes Instrument zur Verfügung,<br />
das etwas genauere Aussagen auf<br />
den wahrscheinlichen Verlauf erlaubt.<br />
Sehschärfe, Ausmaß der<br />
Sehbehinderung<br />
Visus gemittelt R/L (n = 491)<br />
1,0<br />
0,9<br />
0,8<br />
0,7<br />
0,6<br />
0,5<br />
0,4<br />
0,3<br />
0,2<br />
0,1<br />
Wie eben dargestellt, hängt das Ausmaß<br />
der Sehbehinderung v. a. vom Befund <strong>des</strong><br />
Sehnerven ab. Die Variationsbreite möglicher<br />
Sehschärfen ist sehr groß, die möglichen<br />
Minimal- und Maximalwerte korrelieren<br />
signifikant zum <strong>Albinismus</strong>typ<br />
(. Abb. 8). Der Median <strong>des</strong> Visus über<br />
alle <strong>Albinismus</strong>typen liegt <strong>bei</strong> 0,15, mit<br />
Werten von 0,01–1,2. Zur Aufteilung auf<br />
die <strong>Albinismus</strong>formen siehe . Abb. 8<br />
und . Tab. 4.<br />
Fasst man den <strong>Phänotyp</strong> der Haut,<br />
den ophthalmologischen Befund und die<br />
funktionellen Einschränkungen <strong>bei</strong> den<br />
Haupttypen <strong>des</strong> <strong>Albinismus</strong> zusammen,<br />
ergeben sich die in . Tab. 4 orientierend<br />
dargestellten Kennzeichen der einzelnen<br />
<strong>Albinismus</strong>typen.<br />
Atypische chiasmale Kreuzung<br />
Bei Unklarheit der Diagnose<br />
Albino-VEP durchführen<br />
Bei <strong>Albinismus</strong> findet sich pathognomonisch<br />
eine atypische chiasmale Kreuzung<br />
der Sehnerven. Üblicherweise kreuzen<br />
30–50% der Fasern je<strong>des</strong> N. opticus zur<br />
Gegenseite, <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong> kreuzen etwa<br />
70–80% (selten bis 100%) der Fasern. Dies<br />
macht ein charakteristisches Bild <strong>bei</strong> der<br />
Ableitung eines VEP, <strong>bei</strong> dem <strong>bei</strong> monokularer<br />
Stimulation jeweils <strong>bei</strong>de Kortexhälften<br />
getrennt abgeleitet werden [6, 7].<br />
OCA1 OCA2 OCA3 OCA4<br />
Dies kann daher <strong>bei</strong> Patienten mit nicht<br />
eindeutig albinotischem <strong>Phänotyp</strong> zur<br />
Diagnosestellung hilfreich sein. Es wird<br />
vermutet, dass diese atypische chiasmale<br />
Kreuzung neben der Visusminderung zur<br />
hohen Inzidenz von Strabismus und Binokularpathologie<br />
<strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong> <strong>bei</strong>trägt.<br />
Das Albino-VEP erübrigt sich im klinischen<br />
Alltag <strong>bei</strong> eindeutiger Diagnose,<br />
ist aber gerade <strong>bei</strong> nur mäßiggradiger Visusminderung<br />
und/oder fehlendem Nystagmus<br />
eine sehr effektive Hilfe <strong>bei</strong> der<br />
Diagnosefindung.<br />
Eigene VEP- und bildgebende Untersuchungen<br />
(funktionelle MRT während<br />
VEP-Ableitungen <strong>bei</strong> monokularer Stimulation)<br />
konnten die atypische chiasmale<br />
Kreuzung auch im Bild darstellen [13,<br />
26]. Es fanden sich atypische Kreuzungen<br />
von bis zu 100% (vollständige Kreuzung,<br />
keine Fasern ipsilateral), wo<strong>bei</strong> das Ausmaß<br />
der Atypie mit dem <strong>Albinismus</strong>typ<br />
(vermehrt <strong>bei</strong> OCA1) und mit der Atypie<br />
<strong>des</strong> Sehnerven korreliert (. Abb. 4).<br />
<strong>Albinismus</strong>-Typ<br />
Syndrome unklar OA<br />
Abb. 8 8 Visus und <strong>Albinismus</strong>typ: OCA1: Tyrosinase-Gen-bezogener okulokutaner <strong>Albinismus</strong>, OCA2:<br />
P-Gen-bezogener okulokutaner <strong>Albinismus</strong>, OCA3: TRP-1-Gen-bezogener okulokutaner <strong>Albinismus</strong>,<br />
OCA4: MATP-Gen-bezogener okulokutaner <strong>Albinismus</strong>. Syndrome: Hermansky-Pudlack-Syndrom<br />
(n=4), Prader-Willi-Syndrom (n=4). OCA Typ unklar: Patienten mit fehlendem molekulargenetischen<br />
Nachweis, phänotypisch nicht OCA1A. OA: okulärer <strong>Albinismus</strong><br />
Weiterführende und sehr interessante Untersuchungen<br />
zur Retinotopie <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong><br />
hat M. Hoffmann durchgeführt, siehe<br />
auch seinen Beitrag in diesem Heft.<br />
Wie sich die Kreuzungsauffälligkeit auf<br />
die Morphologie <strong>des</strong> Chiasma auswirkt,<br />
ist im Beitrag von B. Schmitz in diesem<br />
Heft nachzulesen.<br />
Bislang nicht diagnostizierte<br />
Patienten gehäuft <strong>bei</strong>m<br />
frühkindlichen Schielsyndrom?<br />
Wir haben klinisch den Eindruck gewonnen,<br />
dass die Prävalenz von <strong>Albinismus</strong><br />
<strong>bei</strong> Personen mit frühkindlichem Schielsyndrom<br />
erhöht ist. Insbesondere Kinder<br />
mit Optikushypoplasie sollten hier untersucht<br />
werden. Eigene Untersuchungen<br />
konnten eine atypische chiasmale Kreuzung<br />
<strong>bei</strong> Kindern mit voller Sehschärfe<br />
und frühkindlichem Schielsyndrom<br />
(FKSS) nachweisen. Ebenso konnten wir<br />
albinismustypische VEP <strong>bei</strong> FKSS-Kindern<br />
mit <strong>bei</strong>dseitiger geringer Visusre-<br />
Der Ophthalmologe 2007 |<br />
655
Leitthema<br />
Visus gemittelt R/L<br />
1,20<br />
1,10<br />
1,00<br />
0,90<br />
0,80<br />
0,70<br />
0,60<br />
0,50<br />
0,40<br />
0,30<br />
0,20<br />
0,10<br />
unauffällig hell Klein hell und klein dysplastisch<br />
Papillenmorphologie<br />
Abb. 9 8 Visus in Abhängigkeit von der Papillenpathologie. Zur Klassifikation der Papillenmorphologie<br />
vgl. . Tab. 3 und . Abb. 7<br />
Abb. 10 9 Ausgeprägt positiver Winkel κ <strong>bei</strong>dseits: Mädchen, 14 Jahre,<br />
OCA2. Beachte den <strong>bei</strong>dseitigen Winkel κ mit deutlich nach nasal dezentrierten<br />
Hornhautreflexbildern. Orthoptisch besteht nur eine Mikroexotropie<br />
(D2°)<br />
durch das Zentrum der Pupille; die Sehachse<br />
verbindet Fixationsobjekt mit Fovea.<br />
Der Winkel, den die <strong>bei</strong>den Achsen<br />
in der Eintrittspupille bilden, ist der Winkel<br />
κ [27]. Da <strong>bei</strong>m gesunden Auge die Fovea<br />
leicht temporal gegenüber der auf den<br />
hinteren Pol fallenden Pupillarachse liegt,<br />
ist der Winkel in der Regel gering positiv<br />
zu sehen. Dies liegt daran, dass <strong>bei</strong> der<br />
Fixation auf Licht das Reflexbild diskret<br />
nach nasal dezentriert ist. Ein negativer<br />
Winkel κ kann ein Innenschielen, ein positiver<br />
Winkel κ ein Aussenschielen vortäuschen.<br />
Bei Patienten mit <strong>Albinismus</strong> findet<br />
sich <strong>bei</strong> knapp 50% ein großer positiver<br />
Winkel κ (. Abb. 8). Nach den Kenntnissen,<br />
die über die retinale Topographie <strong>bei</strong><br />
Tieren mit <strong>Albinismus</strong> vorliegen [8, 9, 10],<br />
ist zu vermuten, dass sich der große positive<br />
Winkel κ aus der Verschiebung <strong>des</strong><br />
Grenzbereichs zwischen temporalen und<br />
nasalen retinalen Nervenfasern nach temporal<br />
ergibt. (Dies setzt sich dann in der<br />
atypischen chiasmalen Kreuzung fort.) Es<br />
kommt zu einer weiteren Temporalverschiebung<br />
<strong>des</strong> Fixationsorts und somit zu<br />
einer weiteren nasalen Dezentrierung <strong>des</strong><br />
Lichtreflexes auf der Hornhaut.<br />
Dies muss <strong>bei</strong> jeder Beratung und<br />
Planung einer Strabismusoperation bedacht<br />
werden: Es darf nicht zur „Korrektur“<br />
eines vermeintlichen Strabismus divergens<br />
kommen, und der strabologische<br />
Patient muss ggf. auf das Phänomen <strong>des</strong><br />
Winkel κ, welches sich nach einer Operation<br />
nicht verändert, aufmerksam gemacht<br />
werden.<br />
Nystagmus<br />
duktion trotz erfolgter Okklusionstherapie<br />
ableiten. Eine strukturierte Erhebung<br />
ist in Ar<strong>bei</strong>t.<br />
Strabismus<br />
656 | Der Ophthalmologe 2007<br />
Ein Strabismus findet sich <strong>bei</strong> unseren<br />
über 500 <strong>Albinismus</strong>patienten <strong>bei</strong> 83,6%<br />
(OCA1: 93%, OCA2: 63%, OA: 93%,<br />
p
Brechungsfehler<br />
Bei <strong>Albinismus</strong> sind in der Regel hohe<br />
Brechungsfehler assoziiert [11], etwa zwei<br />
Drittel der Patienten zeigen einen hyperopen<br />
Astigmatismus, ein Drittel einen myopen<br />
Astigmatismus [12]. Ebenso findet<br />
sich, direkt korreliert zum Ausmaß der<br />
Papillendysplasie, eine oft sehr hohe astigmate<br />
Refraktion (. Tab. 5).<br />
Eine genaue Brillenanpassung ist so<br />
früh wie möglich indiziert, da die Refraktionsanomalien<br />
häufig schon im Babyalter<br />
bestehen und eine optimale Korrektur einen<br />
positiven Effekt auf die visuelle Entwicklung<br />
hat. Es empfiehlt sich die Rezeptur<br />
von 2 Brillen – eine mit Lichtdämpfung<br />
20%, eine mit Lichtdämpfung 80–<br />
85%. Die immer noch häufig rezeptierten<br />
Einzelbrillen mit 40 oder 50% Lichtdämpfung<br />
werden in der Regel innen als zu<br />
dunkel und draußen als nicht dunkel genug<br />
empfunden und somit abgelehnt.<br />
Tab. 4 Dermatologischer <strong>Phänotyp</strong> und Visusmedian <strong>bei</strong> Patienten mit <strong>Albinismus</strong> am<br />
UKS (n=506)<br />
Haut Haare Visus Median Visus Nystagmus<br />
[%]<br />
OCA 1A Bräunt nicht Bleibend weiß 0,01 0,3 0,10 100<br />
OCA 1B Leichte Bräunung Dunkeln nach, blond 0,1 0,9 0,28 87<br />
bis braun, Wimpern<br />
dunkler als Kopfhaar<br />
OCA 2 Leichte Bräunung Dunkeln nach, bis 0,1 0,8 0,24 95<br />
mittelblond, Wimpern<br />
wie Kopfhaar<br />
OCA 3 Pigmentiert nach Rötlicher Schimmer 0,1 0,3 0,20 90<br />
OCA4 Hell, bräunt nicht Weiß bis braun 0,1 0,5 0,10 100<br />
OA Normal oder etwas<br />
hell<br />
Alle Farben möglich 0,1 0,8 0,12 92<br />
OCA 1–4: okulokutaner <strong>Albinismus</strong> Typ 1, 2, 3, 4; OA: okulärer <strong>Albinismus</strong><br />
Verzögerte visuelle<br />
Reifung („delayed visual<br />
maturation“, DVM Typ III)<br />
DVM ist sehr häufig <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong> und<br />
darf nicht zur Aussage, das Kind sei blind,<br />
verleiten. Eine verzögerte visuelle Reifung<br />
findet sich <strong>bei</strong> 50–75% aller Kinder mit <strong>Albinismus</strong><br />
und ist durch eine fehlende Fixationsaufnahme<br />
in den ersten Lebensmonaten<br />
charakterisiert. Die Babys reagieren<br />
und agieren, als ob sie blind wären.<br />
Die Fixationsaufnahme beginnt in der Regel<br />
zwischen dem 5. und 7. Lebensmonat,<br />
kann sich aber bis zum 10. Monat verzögern.<br />
In dieser Zeit sind die Diagnose sowie<br />
die entsprechende Information der<br />
Eltern essenziell. Die Dauer und Schwere<br />
der DVM korreliert ebenfalls zum Papillenbefund.
Vergleicht man Patienten mit gleichen<br />
Papillenbefunden ohne und mit DVM,<br />
sieht man allerdings, dass die DVM die<br />
später erreichte Sehschärfe nicht negativ<br />
beeinflusst. Obgleich eine DVM auch <strong>bei</strong><br />
anderen angeborenen Sehbehinderungen<br />
auftreten kann, kommt sie <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong><br />
aufgrund der Melaninabhängigkeit<br />
der Ausbildung neuraler Bahnen im Gehirn<br />
deutlich häufiger vor.<br />
Die Stimme unserer Patienten<br />
– Lebensqualität mit <strong>Albinismus</strong><br />
Tab. 5 Korrelationen zwischen dem <strong>Albinismus</strong>typ und Visus, Papillenbefunden und<br />
Refraktion<br />
Höhe der<br />
astigmaten<br />
Refraktion<br />
<strong>Albinismus</strong>typ<br />
OCA1,2,<br />
OA<br />
Signifikanz<br />
(Pearson)<br />
Visus<br />
Im Rahmen einer Fragebogenaktion wurden<br />
erwachsene Betroffene um Angaben<br />
zu ihrem Leben mit <strong>Albinismus</strong> und ihren<br />
Erfahrungen gebeten. Hier<strong>bei</strong> gaben 74%<br />
der Patienten an, ihre Eltern hätten sich<br />
vor bzw. nach der Diagnosestellung „allein<br />
auf weiter Flur“ gefühlt. Ähnliches gilt<br />
für die Patienten, <strong>bei</strong> denen die Diagnose<br />
erst im Erwachsenenalter gestellt wurde.<br />
Hier wurde oft die Verunsicherung durch<br />
die vermeintlich fehlende oder unklare<br />
Ursache <strong>des</strong> Nystagmus und der Sehbehinderung<br />
geschildert. Auch heute noch<br />
klagen erwachsene Patienten oft darüber,<br />
dass ihnen auf Nachfrage nach möglichen<br />
Therapien/Hilfsmitteln abschlägig geantwortet<br />
wird (68% der Befragten). Unzufrieden<br />
mit der Beratung durch den örtlichen<br />
Augenarzt waren 84%, mit der Beratung<br />
durch die nächstgelegene Uniklinik<br />
68%. Lediglich 53% der Patienten fanden<br />
nach längerem Suchen und auf Eigeninitiative<br />
einen Augenarzt ihres Vertrauens.<br />
Die meisten Informationen erhielten<br />
57% der Betroffenen durch Informationsmaterial<br />
der NOAH <strong>Albinismus</strong> Selbsthilfe<br />
Deutschland e.V.<br />
Seit der Verbreitung <strong>des</strong> Internets<br />
kommen die erwachsenen Betroffenen<br />
wesentlich besser an weiterführende Informationen,<br />
gerade im Bereich der Hilfsmittel-Möglichkeiten.<br />
Einige Patienten<br />
sind erst durch eigene Internet-Recherche<br />
auf die mögliche Diagnose <strong>Albinismus</strong><br />
gestoßen. Erst ein gezieltes Ansprechen<br />
<strong>des</strong> Augenarztes und Überreichen<br />
entsprechender Informationen aus dem<br />
Internet führte dann zur weiterführenden<br />
Diagnostik. Es wird von den erwachsenen<br />
Betroffenen beklagt, dass man sich<br />
um vieles Grundlegende selber kümmern<br />
müsse und die ärztliche Kompetenz in diagnostischem<br />
Bereich und Hilfsmittel-Bereich<br />
nicht klar spürbar sei.<br />
83% aller Erwachsenen fühlen sich<br />
durch ihren <strong>Albinismus</strong> zumin<strong>des</strong>t in einigen<br />
Bereichen eingeschränkt. Durch<br />
den verminderten Visus sind Kontaktaufnahme<br />
(grüßen, anlächeln, flirten) und<br />
Kontaktpflege (Wiedererkennen auf Entfernung)<br />
erschwert. Menschenansammlungen<br />
jeglicher Art werden <strong>des</strong>halb aus<br />
Unsicherheit vermieden. Nichtbetroffene<br />
reagieren auf den Nystagmus irritiert und<br />
unterbrechen den Augenkontakt. Diese<br />
Situationen werden von den Patienten als<br />
problematisch empfunden, sodass häufig<br />
Kontaktschwierigkeiten oder sogar eine<br />
Kontaktscheu beschrieben werden. Akzentuiert<br />
wird dies manchmal durch das<br />
auffällige Äußere gerade <strong>bei</strong> OCA1A-Patienten,<br />
insgesamt wiegen jedoch die nystagmusbedingten<br />
Augenkontaktprobleme<br />
in allen Lebensbereichen schwerer.<br />
Im Berufsleben fühlen sich Betroffene<br />
benachteiligt, da z. B. die häufig verlangte<br />
Mobilität am fehlenden Führerschein<br />
scheitert. Auch wird angegeben, härter ar<strong>bei</strong>ten<br />
zu müssen, um die Anforderungen<br />
in Beruf und Studium zu erfüllen (57%).<br />
Bei den erwachsenen Patienten kann<br />
man zwei Gruppen unterscheiden: Die<br />
erste Gruppe (in der Regel jüngere Erwachsene)<br />
erhielt in der Kindheit Förderung<br />
und Integrationshilfe. Sie hatten<br />
frühzeitig Kontakt zu anderen <strong>Albinismus</strong>patienten.<br />
Die zweite Gruppe (ältere<br />
Erwachsene) erhielt keine Unterstützung<br />
und gar keine bzw. nur geringe Informationen.<br />
Der erste Kontakt mit anderen<br />
Grad der<br />
Irisdurchleuchtbarkeit<br />
Hypopigmentation<br />
<strong>des</strong> RPE,<br />
Grad der<br />
Makuladysplasie<br />
Betroffenen kam in dieser Gruppe erst im<br />
Erwachsenenalter zustande und bedeutet<br />
für diese Gruppe ein emotional tief<br />
einschneiden<strong>des</strong> Erlebnis, was die Autoren<br />
sowohl <strong>bei</strong> den <strong>Albinismus</strong>tagungen<br />
am UKS als auch im normalen Sprechstundenverlauf<br />
öfter miterleben. Die psychische<br />
Belastung <strong>bei</strong> diesen Betroffenen<br />
ist deutlich größer als <strong>bei</strong> der ersten Gruppe.<br />
In der Schule litten sie unter Hänseleien<br />
und wurden als Streber beschimpft,<br />
weil sie in der ersten Reihe saßen. Sie stießen<br />
auf Hilflosigkeit <strong>bei</strong> Eltern, Lehrern<br />
und Ärzten, sahen sich mit Unverständnis<br />
und auch Schaulust konfrontiert, fühlten<br />
sich nicht „für voll genommen“. Direkt<br />
oder indirekt werden Minderwertigkeitskomplexe<br />
beschrieben. Innerer Druck<br />
und/oder Wut und Frustration, die sich<br />
aufgrund der erst (zu) spät einsetzenden<br />
Aufklärung entwickelt haben, sind <strong>bei</strong> vielen<br />
Patienten noch aktuell vorhanden.<br />
Ein weiteres Phänomen wird häufig<br />
von über 60-Jährigen mit OCA1A beschrieben:<br />
Sie müssen sich neu an ihre<br />
zuvor nie erlebte Unauffälligkeit gewöhnen<br />
– erstmals passen Lebensalter, Altersspuren<br />
im Gesicht und Haarfarbe zusammen.<br />
Ausblick<br />
Grad der<br />
Papillenmorphologie<br />
Höhe<br />
der spärischen<br />
Refraktion<br />
O,002
Leitthema<br />
Mehr Informationen zum Thema<br />
www.albinismus.<strong>info</strong>: Informationen zu <strong>Albinismus</strong>,<br />
Low Vision Versorgung, Integration;<br />
Seite der Ärztl. Beratung der NOAH <strong>Albinismus</strong><br />
Selbsthilfe Deutschland e.V., Betreiber:<br />
kaesmann@albinismus.<strong>info</strong> am UKS<br />
www.albinismus.de: Internetpräsenz der<br />
NOAH <strong>Albinismus</strong> Selbsthilfegruppe Deutschland<br />
e.V.<br />
www.integrationskinder.org: Informationen<br />
zur Integration sehbehinderter Kinder<br />
an Regelschulen<br />
www.sehbehinderung.de: Seite <strong>des</strong><br />
Bun<strong>des</strong> zur Förderung Sehbehinderter<br />
http://www.blindzeln.net/mailman/list<strong>info</strong>/blindfisch:<br />
Der Blindfisch Mailingliste und<br />
Forum für sehbehinderte Jugendliche<br />
www.incobs.de: Informationspool elektronische<br />
und Computerhilfsmittel für Blinde<br />
und Sehbehinderte, herstellerunabhängig,<br />
mit Testergebnissen<br />
www.dvbs-online.de: Deutscher Verein<br />
der Blinden und Sehbehinderten in Studium<br />
und Beruf e.V. (DVBS)<br />
http://albinismdb.med.umn.edu/genes.<br />
htm: Gene, die <strong>bei</strong> der Pigmentierung beteiligt<br />
sind (Coat Colour Genes)<br />
http://albinismdb.med.umn.edu/: Albinism<br />
Database, Sammeldatenbank zur Erfassung<br />
aller weltweit definierten Mutationen, Teil der<br />
HUGO Mutation Database Initiative<br />
bralen Organisation lassen wertvolle Erkenntnisse<br />
über den Einfluss <strong>des</strong> Melanins<br />
auf die neurophysiologischen Wachstums-<br />
und Differenzierungsprozesse zu.<br />
Hier überschneiden sich auch neurowissenschaftliche<br />
und genetische Ar<strong>bei</strong>tsgebiete.<br />
So konnte <strong>bei</strong>spielsweise nachgewiesen<br />
werden, dass die Einbringung<br />
eines funktionsfähigen Tyrosinase-Gens<br />
in Albinomäuse die Pigmentbildung ankurbelt<br />
und zu einer Normalisierung der<br />
retinochiasmalen Projektionen führt [10,<br />
15]. Dennoch kann die Tyrosinase nicht<br />
der allein ausschlaggebende Faktor sein,<br />
da <strong>bei</strong> den Typen OCA2–4 und OA die<br />
Tyrosinase ja regelrecht ar<strong>bei</strong>tet. Von einer<br />
möglichen Gentherapie sind wir noch<br />
weit entfernt.<br />
Hinsichtlich der ausgeprägten klinischen<br />
Variabilität ist sicher der Typ<br />
OCA1B sehr interessant. Die Haarfarbe<br />
kann sich von weiß-blond bis blond,<br />
manchmal bis dunkelblond ändern. Ein<br />
charakteristisches Kennzeichen von<br />
OCA1B ist die Entwicklung von dunklen<br />
Wimpern, wo<strong>bei</strong> die Wimpern oft deutlich<br />
dunkler sind als das Haupthaar – dies<br />
ermöglicht eine klinische Differenzierung<br />
zu OCA2 und OCA4.<br />
Auch okulär kann die Hypopigmentation<br />
sehr unterschiedlich ausgeprägt sein.<br />
Dementsprechend kann die Sehschärfe<br />
<strong>bei</strong> Typ OCA1B sehr unterschiedlich von<br />
0,1–1,0 reichen und sich deutlich im Laufe<br />
der ersten Lebensjahre verbessern. Ein<br />
Nystagmus liegt nicht immer vor. Dies<br />
sind die Patienten, <strong>bei</strong> denen auch heute<br />
noch die Diagnose oft über Jahre nicht gestellt<br />
wird; man kommt aufgrund <strong>des</strong> unauffälligen<br />
<strong>Phänotyp</strong>s nicht auf die richtige<br />
Idee. Eventuell ist die Tatsache, dass<br />
in unseren molekulargenetischen Untersuchungen<br />
mehr Probanden mit Mutationen<br />
im TYR-Gen gefunden wurden<br />
als in vergleichbaren Studien auch hierauf<br />
zurückzuführen. Vielleicht würde eine<br />
bessere Erfassung auch phänotypisch<br />
milder <strong>Albinismus</strong>patienten das Mutationenprofil<br />
auch <strong>bei</strong> anderen Studien entsprechend<br />
verändern.<br />
Fazit für die Praxis<br />
Okulokutaner <strong>Albinismus</strong> ist häufig mit<br />
einem nordeuropäisch unauffälligen<br />
<strong>Phänotyp</strong> verbunden. <strong>Albinismus</strong> kann<br />
auch ohne Nystagmus vorliegen. Eine<br />
Optikusdysplasie/Opticushypoplasie ist<br />
ein häufiger Befund <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong>. Eine<br />
Optikushypoplasie kann – auch <strong>bei</strong> unauffälligem<br />
kutanem <strong>Phänotyp</strong> – ein wesentlicher<br />
Hinweis auf <strong>Albinismus</strong> sein.<br />
Wenn vorhanden, bestimmt die Optikushypoplasie<br />
den späteren Visus. Besondere<br />
Beachtung verdient <strong>bei</strong> Opticushypoplasie<br />
die Bestimmung <strong>des</strong> Astigmatismus,<br />
der in der Höhe direkt zum Ausmaß<br />
der Optikushypoplasie korreliert. Wenn<br />
eine Sehbehinderung vorliegt, ist <strong>bei</strong> hoher<br />
astigmater Refraktion die Anpassung<br />
harter CL zu erwägen. Cave <strong>bei</strong> gleichzeitiger<br />
Hyperopie: die sphärische Refraktion<br />
sollte zum Erhalt der retinalen Bildvergrößerung<br />
weiter über eine Brille ausgeglichen<br />
werden. Eine frühzeitige Korrektur<br />
der oft hohen Refraktionswerte<br />
kann die visuelle Entwicklung positiv beeinflussen.<br />
Verzögerte visuelle Reifung<br />
mit fehlender Fixation in den ersten Lebensmonaten<br />
sind sehr häufig <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong><br />
und können bis zum 10. Lebensmonat<br />
dauern; das Kind sollte nicht als<br />
„blind“ bezeichnet werden. Information<br />
der Eltern über die Dauer der DVM ist<br />
essenziell. Bei Patienten, die mit einem<br />
Strabismus vorstellig werden und einen<br />
großen Winkel κ aufweisen (mit/ohne<br />
Nystagmus), sollte ein Albino-VEP terminiert<br />
werden. Die Diagnostik <strong>des</strong> Winkels<br />
κ <strong>bei</strong> <strong>Albinismus</strong> ist auch für die präoperative<br />
Aufklärung vor Strabismus-OP wesentlich.<br />
Kinder, die trotz Okkusionstherapie<br />
eine <strong>bei</strong>dseits nicht volle Sehschärfe<br />
erreichen, sollten ebenfalls einem <strong>Albinismus</strong>-VEP<br />
unterzogen werden.<br />
Korrespondenzadresse<br />
Prof. Dr. B. Käsmann-Kellner<br />
Klinik für Augenheilkunde im Universitätsklinikum<br />
<strong>des</strong> Saarlan<strong>des</strong> UKS<br />
Kirrbergerstraße 1, 66424 Homburg (Saar)<br />
kaesmann@albinismus.<strong>info</strong><br />
Danksagung. Herzlichen Dank an Gabriele Lauer,<br />
Orthoptistin an der Klinik für Augenheilkunde im<br />
UKS, für die kurzfristige Unterstützung <strong>bei</strong> der Dateneingabe.<br />
Interessenkonflikt. Es besteht kein Interessenkonflikt.<br />
Der korrespondierende Autor versichert, dass keine<br />
Verbindungen mit einer Firma, deren Produkt in<br />
dem Artikel genannt ist, oder einer Firma, die ein Konkurrenzprodukt<br />
vertreibt, bestehen. Die Präsentation<br />
<strong>des</strong> Themas ist unabhängig und die Darstellung der Inhalte<br />
produktneutral.<br />
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