03.11.2013 Aufrufe

Download - proletarische Plattform

Download - proletarische Plattform

Download - proletarische Plattform

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

epublikanisches Machtinstrument. Man hörte es freilich, nach allen Erfahrungen, nicht ohne<br />

Mißtrauen.<br />

Das waren die Kräfte im Spiel. Das Spiel selbst schleppte sich zäh und trübe hin, ohne Höhepunkte,<br />

ohne Dramatik, ohne sichtbare Entscheidungen. Die Atmosphäre in Deutschland erinnerte in vielem<br />

an die Atmosphäre in Europa heute: Gelähmtes Warten auf das Unentrinnbare, dem man doch bis<br />

zum letzten Augenblick zu entrinnen hofft. Was heute in Europa der kommende Krieg ist, war damals<br />

in Deutschland die kommende Machtergreifung Hitlers und die »Nacht der langen Messer«, von der<br />

die Nazis vorausschauend redeten. Selbst die Einzelheiten waren ähnlich: das langsame<br />

Näherkommen des Furchtbaren, die Zerfahrenheit der Abwehrkräfte, ihr hoffnungsloses Festhalten<br />

an den Spielregeln, die der Feind täglich brach, der einseitig geführte Krieg, der Schwebezustand<br />

zwischen »Ruhe und Ordnung« und »Bürgerkrieg« (es gab keine Barrikaden, aber es gab täglich<br />

sinnlose und kindische Schlägereien und Schießereien, Überfälle auf »Parteilokale« und ständig auch<br />

Tote). Es gab sogar schon damals die Denkfigur des »Appeasement«: Mächtige Gruppen waren dafür,<br />

Hitler »unschädlich zu machen«, indem man ihn »in die Verantwortung« zöge. Es gab ständige<br />

politische Diskussionen, unfruchtbar und erbittert, überall: in den Cafés, in den Kneipen, in den<br />

Läden, in den Schulen, in den Familien. Es gab, nicht zu vergessen, wieder Zahlenspiele: Ständig<br />

fanden kleinere und größere Wahlen statt, und jetzt hatte jeder Stimmen und Mandatsziffern im<br />

Kopf. Die Zahlen der Nazis stiegen ständig. Was es nicht mehr gab, war Lebensfreude,<br />

Liebenswürdigkeit, Harmlosigkeit, Wohlwollen, Verständnis, Gutwilligkeit, Großzügigkeit und Humor.<br />

Es gab auch kaum mehr gute Bücher, und sicher keine Leute mehr, die sich dafür interessierten. Die<br />

Luft in Deutschland war rapide stickig geworden.<br />

Bis zum Sommer 1932 wurde sie immer stickiger. Dann stürzte Brüning, grundlos und über Nacht,<br />

und es kam das seltsame Zwischenspiel Papen–Schleicher: eine Regierung von adligen Herren, von<br />

denen eigentlich niemand wußte, wer sie waren, und sechs Monate eines wilden politischen<br />

Husarenritts. Damals wurde die Republik liquidiert, die Verfassung außer Kraft gesetzt, der<br />

Reichstag aufgelöst, neugewählt, wieder aufgelöst und wieder neugewählt, Zeitungen verboten, die<br />

preußische Regierung entlassen, die ganze höhere Verwaltung umbesetzt – und dies alles ging in<br />

einer fast heiteren Atmosphäre letzten und äußersten Hazards vonstatten. Das Jahr 1939 schmeckt<br />

in ganz Europa sehr nach jenem deutschen Sommer 1932: Man war nun wirklich nur noch um<br />

Haaresbreite von dem Ende entfernt, das Gefürchtete konnte täglich eintreten; die Nazis füllten mit<br />

ihren jetzt endgültig erlaubten Uniformen schon alle Straßen, warfen schon Bomben, entwarfen<br />

schon Proskriptionslisten; schon verhandelte man, im August, mit Hitler, ob er nicht Vizekanzler<br />

werden wolle, und im November, nachdem sich Papen und Schleicher entzweit hatten, bot man ihm<br />

sogar die Kanzlerschaft an; zwischen Hitler und der Macht stand nichts mehr als das Spielerglück<br />

einiger adliger politischer Kavaliere, alle ernsthaften Hindernisse waren weggeräumt, keine<br />

Verfassung mehr, keine Rechtsgarantien, keine Republik, nichts, nichts, auch keine republikanische<br />

preußische Polizei mehr. So ist heute der Völkerbund versunken und die kollektive Sicherheit, der<br />

Wert der Verträge und der Sinn der Verhandlungen, so ist Spanien gefallen, Österreich und die<br />

Tschechoslowakei: Und doch breitete sich damals wie heute gerade im letzten, gefährlichsten,<br />

verlorensten Augenblick noch einmal ein kranker und seliger Optimismus aus, ein<br />

Spieleroptimismus, ein heiteres Vertrauen, daß alles um Haaresbreite gut gehen würde. Waren nicht<br />

Hitlers Kassen leer? Sind nicht Hitlers Kassen leer? Waren nicht endlich selbst die ehemaligen<br />

Freunde Hitlers jetzt zum Widerstand entschlossen? Sind sie es nicht auch heute? War nicht noch<br />

einmal Bewegung und Leben in das erstarrte politische Bild gekommen – wie 1939 in Europa?<br />

Damals, wie heute, begann man eben mit dem Gedanken zu spielen, das Schlimmste sei vorüber.<br />

Wir sind soweit. Die Anreise ist beendet. Wir sind am Kampfplatz. Das Duell kann beginnen.<br />

15<br />

DIE REVOLUTION<br />

16<br />

Ich: das war Anfang 1933 ein junger Mann von 25 Jahren, gut ernährt, gut angezogen, gut erzogen,<br />

freundlich, korrekt, schon ein wenig abgeschliffen und geglättet, jenseits der eigentlichen<br />

schlenkrigen Studentenjugendlichkeit, aber im Ernst noch unausprobiert – ein Durchschnittsprodukt<br />

der deutschen bürgerlichen Bildungsschicht im Ganzen und im übrigen ein ziemlich

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!