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<strong>fusznote</strong> 5/2012 34<br />

Zwischen Gasmaske und Weihnachtskarpfen<br />

Die Graphic Novel Marzi von Sylvain Savoia und Marzena Sowa<br />

In seiner neuesten Graphic Novel lädt Sylvain<br />

Savoia seine Leserinnen und Leser zu<br />

einer unterhaltsamen und bewegenden Entdeckungstour<br />

sowohl ins Polen der 1980er<br />

Jahre als auch in die eigene Kindheit ein.<br />

Sich mit den kleinen Dingen des Lebens auseinandersetzen<br />

– dieses Kunststück gelingt<br />

der tapferen Heldin des neuen, ungewohnt<br />

schlicht bebilderten Comicbandes von Sylvain<br />

Savoia mit Bravour. In Marzi, so der<br />

Titel seines jüngsten Werkes, schöpft der<br />

Zeichner die Erlebnisse seiner kindlichen<br />

Protagonistin aus den Erinnerungen seiner<br />

Lebensgefährtin und Mitautorin Marzena<br />

›Marzi‹ Sowa. Im tristen Alltag des sozialistischen<br />

Polens aufwachsend, durchlebt<br />

Marzi, trotz der allgegenwärtigen politischen<br />

und gesellschaftlichen Spannungen wie dem<br />

Ausrufen des Kriegszustandes 1981-1983,<br />

dem Unglück in Tschernobyl und dem stillen<br />

Protest ihrer Eltern und Nachbarn, auch<br />

die eher unspektakulären Höhen und Tiefen<br />

einer normalen Heranwachsenden: Weihnachten,<br />

ihre Kommunion, den Tod ihres<br />

Meerschweinchens, Urlaub mit der Oma<br />

oder dern ersten eigenen Hund. Als Leser<br />

wird man beinahe unmerklich zum Komplizen<br />

ihrer Gedanken und Gefühle, die so<br />

kindlich gar nicht sind: »Ich habe das Gefühl,<br />

wir sind nicht glücklich und das macht<br />

mich wütend.« Sie spürt, dass etwas vor sich<br />

geht, auch wenn sie nicht genau weiß, was:<br />

»Ich hab Angst, weil mir keiner was sagt.«<br />

Doch niemals verliert sie die Hoffnung und<br />

den Glauben an sich selbst.<br />

Kapitelweise werden Episoden aus Marzis<br />

Leben erzählt. Dabei versprechen bereits<br />

die vielsagenden und doch einfachen Kapitelüberschriften,<br />

wie »Die Katze lässt das<br />

Mausen nicht« unverstelltes Lesevergnügen.<br />

Während in einigen Passagen nur die gesellschaftlichen<br />

und politischen Umstände<br />

geschildert werden, beschäftigen sich andere<br />

ausschließlich mit den alltäglichen Erlebnissen<br />

der Protagonistin.<br />

Marzi ist bescheiden und pfiffig und ihre<br />

Furcht vor Spinnen wird nur durch die Sorge,<br />

ihren geliebten Vater zu verlieren, übertroffen.<br />

Die kleine Rabaukin neigt zu Unfug<br />

und ist dabei ungewöhnlich reflektiert: »Ich<br />

verspotte meine Vorhaben, weine, kritisiere<br />

mich selbst und habe Angst.« Und über sich<br />

selbst weiß sie bereits: »Ich bin zu gefühlsbetont.«<br />

Häufig von Einsamkeit gequält, flüchtet<br />

sie in ihre eigenen phantastischen Vorstellungen<br />

und führt den Leser ganz nebenbei<br />

in polnische Traditionen und sprachliche<br />

Besonderheiten ein. Erwachsene, die wenig<br />

Sinn für Kinder zu haben scheinen und eine<br />

Mutter, die immer nur meckert und sie nicht<br />

versteht, machen ihr das Leben nicht immer<br />

leicht. Nebenher versucht sie, mehr über ihre<br />

Beziehung zu Gott herauszufinden. Ständig<br />

macht sie sich Gedanken – »Ob er aufs Klo<br />

muss? Und sich waschen? Und wo sind seine<br />

Eltern?« Auch versteht sie nicht, warum ihre<br />

Familie ärmer ist als die ihrer Freundin Gosia,<br />

doch begreift sie und begreift auch der<br />

Leser letztlich: Es ist oft nicht leicht, aber<br />

»man braucht eigentlich ganz wenig, um<br />

glücklich zu sein.«<br />

Sylvain Savoia und Marzena Sowa geben<br />

einen umfangreichen Einblick in die Kindheitserinnerungen<br />

der Autorin, in die Jahre<br />

1984 bis 1987 des von politischen und gesellschaftlichen<br />

Umbrüchen heimgesuchten<br />

Polen. Trotz offensichtlicher thematischer<br />

und zeichnerischer Unterschiede zu Savoias<br />

vorherigen Publikationen steht Marzi diesen<br />

in nichts nach. Im Gegensatz zu Werken wie<br />

Nomad oder Al‘Togo überwiegend schlicht<br />

gezeichnet, beweist der Künstler in einzelnen<br />

Panels dennoch sein gestalterisches Können.<br />

Neben Krieg und Hunger zeigen die Autoren<br />

auch die schönen Seiten des Alltags.<br />

Dabei stehen die Gefühle der Protagonistin<br />

im Mittelpunkt. Scham, Angst, Einsamkeit<br />

und Marzis Freude über Kleinigkeiten oder<br />

auch große Dinge werden durch das Zusammenspiel<br />

von Text und Bild so eingängig<br />

dargestellt, dass der Leser sich selbst in<br />

die Rolle des Mädchens hineinversetzt fühlt.<br />

Die gewählte Sicht durch Kinderaugen vermittelt<br />

die dargestellten Zusammenhänge<br />

einfach und verständlich. Die sehr detailreichen<br />

Beschreibungen von Kleinigkeiten und<br />

deren Auswirkungen auf Marzis Stimmung<br />

machen ihre Hilflosigkeit zu der des Lesers.<br />

Sprachlich nimmt die Erzählung die kindliche<br />

Perspektive auf: Unbekümmert aneinander<br />

gereihte Sätze, Fragenkaskaden, dann<br />

wieder zynische Bemerkungen, ihrem Alter<br />

weit voraus, machen Marzi zu einer kurzweiligen<br />

und äußert interessanten Lektüre –<br />

nicht nur für Erwachsene. Mit Ungeduld erwartet<br />

man den angekündigten zweiten Teil.<br />

Milena Elstner<br />

Sylvain Savoia, Marzena Sowa: Marzi. Panini<br />

Comics, 2012, 24,95 €.

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