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Überwachen und Strafen Kapitel I - Lesepunkt

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Protokoll/Zusammenfassung: 21.5.2011<br />

Was ist Martern?<br />

Wir haben mit Foucaults Werk „<strong>Überwachen</strong> <strong>und</strong> <strong>Strafen</strong> – Die Geburt des Gefängnisses 1 “<br />

begonnen, <strong>und</strong> daraus das erste <strong>Kapitel</strong> „Marter“ gelesen. Gr<strong>und</strong>sätzlich geht es in diesem Buch um<br />

eine genealogische Herausarbeitung der Machtstrukturen. Dabei analysiert er das Gefängnis,<br />

welches zum Herz eines Überwachungs- <strong>und</strong> Prüfungssystems geworden ist (Ruffing: 57). Doch<br />

bevor Foucault zu dem kommt, versucht er eine Umschreibung der Transformationen<br />

nachzuvollziehen.<br />

1. Marter [erstes <strong>Kapitel</strong>]<br />

Noch im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert herrschten Folter <strong>und</strong> schreckliche Formen der Todesstrafe. Die<br />

öffentlichen Hinrichtungen stellten dabei ein eindrucksvolles Exempel der Macht dar. Es wurde ein<br />

regelrechtes Schauspiel um den Tod des Häftlings aufgeführt, während die moderne Bestrafung<br />

verborgen hinter hohen Gefängnismauern erfolgt. Wie lässt sich diese Wandlung erklären?<br />

I. Der Körper der Verurteilten<br />

Auf den ersten Seiten umschreibt Foucault die Hinrichtung von Robert François Damiens, darauf<br />

die den Tagesablauf junger Gefangener in Paris aus dem Jahre 1838.<br />

Das eine Mal eine Leibesmarter, das andere Mal eine Zeitplanung. Die beiden sanktionieren<br />

nicht dieselben Verbrechen, sie bestrafen nicht ein <strong>und</strong> denselben Typ von Delinquenten.<br />

Aber sie definieren jeweils einen bestimmten Straf-Stil. Zwischen ihnen liegt kaum ein<br />

Jahrh<strong>und</strong>er: innerhalb dieses Zeitraums wurde in Europa <strong>und</strong> in den Vereinigten Staaten die<br />

gesamte Ökonomie der Züchtigung umgestaltet (ÜS: 709).<br />

Es verschwindet somit der Körper als Hauptziel der strafenden Repression. Die Bestrafung hat<br />

aufgehört ein Schauspiel zu sein. Foucault spricht auch von einer Entwicklung 2 zu einem<br />

körperlosen Strafsystem (ÜS: 714). Und was tritt als neues Ziel?<br />

Die alten Mitspieler des Straf-Festes, der Leib <strong>und</strong> das Blut, räumen den Platz. Auf die<br />

Bühne tritt eine neue Person – verschleiert. Eine gewisse Tragödie ist zu Ende, es beginnt<br />

1 Hier als ÜS abgekürzt.<br />

2 Nicht als Evolutionsprozess zu verstehen. Sehr wohl gibt es noch Formen der älteren Macht noch immer.


eine Komödie mit schattenhaften Silhoutten, gesichtslosen Stimmen, unbetastbaren Wesen.<br />

Der Apparat der Strafjustiz hat es nun mit dieser körperlosen Realität zu tun (ÜS: 719).<br />

Die Verschiebung auf das Gutachten:<br />

Das psychiatrische Gutachten sowie ganz allgemein die Kriminalanthropologie <strong>und</strong> der<br />

hartnäckige Diskurs der Kriminologie haben hier ihre Funktionen: indem sie die<br />

Gesetzesübertretungen feierlich in den Bereich der wissenschaftlich erkennbaren<br />

Gegenstände einweisen, berechtigen sie die Mechanismen der gesetzlichen Bestrafung zum<br />

Zugriff nicht nur auf die Gesetzesübertretungen, sondern auf die Individuen – nicht nur auf<br />

das, was die Individuen getan haben, sondern auf das, was sie sind, sein werden, sein<br />

können (ÜS: 721).<br />

Insofern hat der Richter auch nicht mehr ausschließlich zu richten. Die Konsequenz ist daher, dass<br />

die Rechtfertigungen der Kriminaljustiz in etwas anderem liegen als sie selber, nämlich in ihrer<br />

Integration in nicht-rechtlichen Systemen. Anschließend erklärt Foucault seine vier allgemeinen<br />

Regeln, an die er sich in seiner Studie hält:<br />

1. Die Bestrafung wird als eine komplexe gesellschaftliche Funktion betrachtet..<br />

2. Die Bestrafungen sind in der Perspektive der politischen Taktik zu betrachten.<br />

3. Die Technologie der Macht soll als Prinzip der Vermenschlichung der Strafe wie<br />

auch der Erkenntnis des Menschen gesetzt werden.<br />

4. In einem Komplex „wissenschaftlichen“ Wissens, in welcher der Körper von<br />

Machtverhältnissen besetzt wird.<br />

Was daher das Ziel ist:<br />

Es ist zu zeigen, daß die Strafmaßnahmen nicht einfach „negative“ Mechanismen sind, die<br />

einschränken, verhindern, ausschließen, unterdrücken; sondern daß sie an eine Reihe<br />

positiver <strong>und</strong> nutzbringender Effekte geknüpft sind, welche sie befördern – in diesem Sinne<br />

kann man sagen, daß die gesetzlichen <strong>Strafen</strong> zwar zur Sanktionierung der Vergehen<br />

bestimmt sind, die Definition der Vergehen <strong>und</strong> deren Verfolgung aber wiederum dazu<br />

dienen, die Strafmechanismen in Gang zu halten (ÜS: 727).<br />

Unter welchem Banner steht dieses neue Strafsystem?


Zweifellos aber läßt sich ein Gedanke festhalten: daß in unseren Gesellschaften die<br />

Strafsysteme in eine bestimmte „politische Ökonomie“ des Körpers einzuordnen sind. Selbst<br />

wenn sie auf gewaltsame oder blutige Züchtigungen verzichten, selbst wenn sie die<br />

„milden“ Methoden der Einsperrung oder Besserung verwenden, geht es doch immer um<br />

den Körper – um den Körper <strong>und</strong> seine Kräfte, um deren Nützlichkeit <strong>und</strong> Gelehrigkeit, um<br />

deren Anordnung <strong>und</strong> Unterwerfung (ÜS: 728).<br />

Der „politische Körper“:<br />

Zu behandeln wäre der „politische Körper“ als Gesamtheit der materiellen Elemente <strong>und</strong><br />

Techniken, welche als Waffen, Schaltstationen, Verbindungswege <strong>und</strong> Stützpunkte den<br />

Macht- <strong>und</strong> Wissensbeziehungen dienen, welche die menschlichen Körper besetzen <strong>und</strong><br />

unterwerfen, indem sie aus ihnen Wissensobjekte machen (ÜS: 731).<br />

Über die Seele:<br />

Man sage nicht, die Seele sei eine Illusion oder ein ideologischer Begriff. Sie existiert, sie<br />

hat eine Wirklichkeit, sie wird ständig produziert – um den Körper, am Körper, im Körper –<br />

durch Machtausübung an jenen, die man bestraft, <strong>und</strong> in einem allgemeineren Sinn an jenen,<br />

die man überwacht, dressiert <strong>und</strong> korrigiert, an den Wahnsinnigen, den Kindern, den<br />

Schülern, den Kolonisierten, an denen, die man an einen Produktionsapparat bindet <strong>und</strong> ein<br />

Leben lang kontrolliert (ÜS: 732).<br />

Was also ist die Seele?<br />

Die Seele: Effekt <strong>und</strong> Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des<br />

Körpers (ÜS: 733).<br />

II. Das Fest der Martern<br />

Eine Marter mag zwar unerklärlich erscheinen, aber sie ist gewiss nicht regellos <strong>und</strong> ungeordnet<br />

(ÜS: 735). Die peinliche Strafe dient hier als Synonym:<br />

Die peinliche Strafe deckt also nicht jede beliebige körperliche Bestrafung ab. Sie ist eine


differenzierte Produktion von Schmerzen, ein um die Brandmarkung der Opfer <strong>und</strong> die<br />

K<strong>und</strong>gebung der strafenden Macht herum organisiertes Ritual – <strong>und</strong> keineswegs das<br />

Außersichgeraten einer Justiz, die ihre Prinzipien vergessen <strong>und</strong> jedes Maß verloren hätte.<br />

Im „Übermaß“ der Martern ist eine ganze Ökonomie der Macht investiert (ÜS: 737).<br />

Fast genauso die Folter, sie mag zwar grausam sein, aber maßlos wäre sie nicht (ÜS: 742).<br />

Und wie der Verdacht Untersuchungselement <strong>und</strong> Schuldfragment in einem ist, so bildet der<br />

Schmerzkalkül der Folter zugleich eine Strafmaßnahme <strong>und</strong> einen Ermittlungsakt (ÜS: 745).<br />

Was ist die Legitimation des Marterns?<br />

Das Verbrechen greift über sein unmittelbares Opfer hinaus den Souverän an; es greift ihn<br />

persönlich an, da das Gesetz als Wille des Souveräns gilt; es greift ihn physisch an, da die<br />

Kraft des Gesetzes die Kraft des Fürsten ist (ÜS: 750).<br />

Es hat also eine politische Funktion.<br />

Es handelt sich um ein Zeremoniell zur Wiederherstellung der für einen Augenblick<br />

verletzten Souveränität. Sie erneuert sie, indem sie ein Feuerwerk ihrer Macht abbrennt (ÜS:<br />

751).<br />

Wieso dann diese Gräßlichkeit?<br />

In der Marter lodert die Gräßlichkeit des Vebrechens auf, in der Züchtigung wird die<br />

Wahrheit des Verbrechens sichtbar, in der Strafe wird die Wirklichkeit des Verbrechens<br />

endgültig erwiesen (ÜS: 758).<br />

Weiter behandelt Foucault die ersten Forderungen der Revolution, bzw. das Verhältnis des Volkes<br />

zum Martern <strong>und</strong> die dabei aufkommende Literatur.<br />

Quelle<br />

Foucault, Michel (1976) [2008]: <strong>Überwachen</strong> <strong>und</strong> <strong>Strafen</strong>. Die Geburt des Gefängnisses. In: Die<br />

Hauptwerke: Mit einem Nachwort von Axel Honneth <strong>und</strong> Martin Saar (Quarto), 1. Auflage.<br />

Frankfurt am Main: Suhrkamp.


Ruffing, Reiner (2008): Michel Foucault. 1. Auflage, Stuttgart: UTB.

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