05.11.2013 Aufrufe

[Download] Lesepunkt Exzerpt/Zusammenfassung

[Download] Lesepunkt Exzerpt/Zusammenfassung

[Download] Lesepunkt Exzerpt/Zusammenfassung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Exzerpt</strong> / <strong>Zusammenfassung</strong><br />

<strong>Lesepunkt</strong>: Michel Foucault – Der Gebrauch der Lüste


Einstieg<br />

Der Gebrauch der Lüste 1 behandelt die Problematisierung der sexuellen Aktivität im 4. Jahrhundert<br />

vor Christus. Dabei geht es Foucault nicht um eine „neue Ethik“, die er hier in der Antike<br />

aufschnappen möchte, sondern um die Einsicht in die kreative, praktische Verfasstheit des Bezugs<br />

des Selbst zu sich. Vor allem auch die Einsicht, dass die heutigen Möglichkeiten und Weisen, ein<br />

Subjekt zu sein, nicht die letzten Worte beherbergen, sondern es noch Spielräume gibt, und geben<br />

könnte, um sich eventuell anders zu verstehen und sich anders zu verhalten. Letztendlich um die<br />

Subjektivierungsform der Moral, welche wiederum bei den Griechen unter dem Gesichtspunkt der<br />

Selbstbeherrschung lag.<br />

Einleitung<br />

I. Modifizierung<br />

Die Moral hat für Foucault zwei Aspekte, einerseits gibt es die Normen, und auf der anderen Seite<br />

die Subjektivierungsformen dieser Normen (Ruffing: 91). Vergleicht man die Antike mit dem<br />

christlichen Abendland, so stellt man fest, dass sie sich nicht sehr voneinander unterscheiden. Doch<br />

in den verschiedenen Kulturen wurden die Gebote und Regeln unterschiedlich angeeignet. Um zu<br />

verstehen, inwiefern sich das moderne Individuum konstituiert, bedarf es erstmal der Ausarbeitung<br />

des „Begehrenssubjekts“ - eine abendländische Subjektivierungsform, welche wiederum in<br />

Abgrenzung zur Antike entstand. Und so möchte Focault Schritt für Schritt dieser Geschichte<br />

nachgehen, welches aber wiederum erst im dritten Band Die Sorge um sich und dem nicht<br />

veröffentlichten Die Geständnisse des Fleisches geschehen sollte. Nichtsdestotrotz schreibt er hier<br />

erstmal die Moralreflexion der Antike.<br />

III. Moral und Selbstpraktik<br />

Eine erste Annäherung findet man in den Selbstpraktiken und den Fragen der askesis.<br />

Auch wenn die Notwendigkeit sehr oft unterstrichen wird, das Gesetz und die Bräuche – die<br />

nomoi – zu achten, so liegt das Wichtige weniger im Inhalt des Gesetzes und in seinen<br />

Anwendungsbedingungen als in der Haltung, die dafür sorgt, daß man sie achtet (GL: 1180).<br />

1 Hier als „GL“ abgekürzt.<br />

- 2 -


Gebrauch der Lüste:<br />

Indem ich jeweils von einer Praktik ausgehe, die in der griechischen Kultur ihre Existenz,<br />

ihren Status und ihre Regeln hatte (gesunde Lebensführung, Hauswesen, Liebeswerben),<br />

werde ich analysieren, wie das medizinische und philosophische Denken diesen „Gebrauch<br />

der Lüste“ ausgearbeitet und einzelne Themen der Sittenstrenge formuliert hat, die auf vier<br />

großen Erfahrungsachsen wiederkehren sollten: Verhältnis zum Körper, Verhältnis zur<br />

Gattin, Verhältnis zu den Knaben und Verhältnis zur Wahrheit (GL: 1182).<br />

I. Die moralische Problematisierung der Lüste<br />

Aphrodisia, Chresis, Enkrateia, Sophrosyne:<br />

Es wird darum gehen, in ihren allgemeinen Zügen die Konstituion der aphrodisia als<br />

Bereich der moralischen Sorge sichtbar zu machen. Ich werde vier Begriffe ins Auge fassen,<br />

die man in der Reflexion über die Sexualmoral häufig antrifft: den Begriff der aphrodisia, in<br />

dem man das fassen kann, was im sexuellen Verhalten als „ethische Substanz“ betrachtet<br />

wurde; den Begriff der chresis, der Benützung oder Ausübung, mit dem sich der<br />

Unterwerfungstyp erfassen läßt, dem die Praktik jener Lüste unterzogen werden mußte, um<br />

moralisch gewertet werden zu können; den Begriff der enkrateia, der Beherrschung, der die<br />

Haltung definiert, die man zu sich selber haben muß, um sich als Moralsubjekt zu<br />

konstituieren; schließlich den Begriff der sophrosyne, der Mäßigung oder Weisheit, der das<br />

Moralsubjekt in seiner Vollendung definiert (GL: 1184 ff.).<br />

I. Aphrodisia<br />

Def.:<br />

Die aphrodisia sind Akte, Gesten, Berührungen, die eine bestimmte Form von Lust<br />

verschaffen (GL: 1186).<br />

Von was man dabei spricht:<br />

- 3 -


Es ist nicht so, daß man sich hütet, von diesen Lusthandlungen zu sprechen: aber wenn man<br />

sie thematisiert, so macht man nicht ihre Form zum Problem, sondern die Aktivität, die sich<br />

in ihnen äußert. Ihre Dynamik also weit mehr als ihre Morphologie (GL: 1188 ff.).<br />

Die ethische Frage:<br />

Die ethische Frage heißt nicht: welche Begehren? Welche Akte? Welche Vergnügen?<br />

Sondern: mit welcher Kraft wird man „von den Vergnügen und den Begierden“ getragen?<br />

Hier unterscheidet man in der Dynamik zwei Variablen:<br />

I. Die eine ist quantitativ und betrifft den Aktivitätsgrad, der sich in der Zahl und<br />

Häufigkeit der Akte äußert (GL: 1190).<br />

II. Sich in seiner Rolle halten oder sie verlassen, Subjekt der Aktivität sein oder ihr<br />

Objekt, auf die Seite derer übergehen, die sie erleiden, obgleich man ein Mann ist, oder auf<br />

der Seite derer bleiben, die sie ausüben: das ist – nach der „Aktivitätsqualität“ - die zweite<br />

große Variable, von der die moralische Einschätzung ausgeht (GL: 1194).<br />

Es folgt: Der Exzeß und die Passivität sind für einen Mann die beiden Hauptformen der<br />

Immoralität in der Praktik der aphrodisia (GL: 1194).<br />

II. Chresis<br />

Hier stellt sich die Frage nach der „Zähmung“ - chresis aphrodision wäre übersetzt eben „Gebrauch<br />

der Lüste“:<br />

Es geht nicht um die Frage, was unter den Begierden, die man verspürt, oder den Akten, die<br />

man begeht, erlaubt oder verboten ist, sondern um die Klugheit, die Reflexion, den Kalkül in<br />

der Verteilung und Kontrolle seiner Handlungen (GL: 1199).<br />

Dabei entwickelt man eine „Sorge-Strategie“, die bei den Griechen um das Bedürfniss, den Status<br />

und die des Moments, sich drehte. Ein Beispiel:<br />

- 4 -


So wendet sich der Pseudo-Demosthenes des Erotikos an Epikrates, um ihm „Ratschläge“<br />

zu geben, die seiner Lebensführung zu größerer Achtung verhelfen sollen“; er möchte nicht,<br />

daß der junge Mann über sich selber Entschlüsse faßt, „die nicht den besten Ansichten<br />

entsprechen“; und diese guten Ratschläge sollen nicht allgemeine Verhaltensregeln in<br />

Erinnerung rufen, sondern die legitime Differenz der moralischen Kriterien zur Geltung<br />

bringen: „ist einer von niedrigem Stande, so tadeln wir ihn nicht, auch wenn er sich in<br />

unehrenhafter Weise vergangen hat“; ist er aber, wie Epikrates selbst, „zu Ansehen gelangt,<br />

so bedeckt ihn die geringste Mißachtung eines Punktes, der die Ehre berührt, mit Schande“ 2<br />

(GL: 1205).<br />

III. Enkrateia<br />

Über die Mäßigung:<br />

Von Aristippos, der eine ganz andere Theorie von der Lust hatte als Sokrates, überliefert<br />

man gleichwohl folgenden Aphorismus, der ein allgemeines Verständnis der Mäßigung<br />

wiedergibt: „Das Beste ist, seine Lüste zu beherrschen und von ihnen nicht besiegt zu<br />

werden – was nicht heißt: sie nicht zu gebrauchen (to kratein kai me hetastah hedonon<br />

ariston, u to me chresthai)“ 3 (GL: 1214).<br />

IV. Freiheit und Wahrheit<br />

Über die sophrosyne:<br />

Die sophrosyne, der Zustand, zu dem man durch Übung der Beherrschung und durch<br />

Zurückhaltung in der Praktik der Lüste zu gelangen strebt, zeichnet sich durch Freiheit aus<br />

(GL: 1221).<br />

Was darunter zu verstehen ist:<br />

Indessen darf diese individuelle Freiheit nicht als Unabhängigkeit eines freien Willens<br />

verstanden werden. Ihr Gegensatz ist weder ein naturhafter Determinismus noch der Wille<br />

einer Allmacht, sondern die Sklaverei, und zwar die Versklavung seiner durch sich. Frei sein<br />

2 Pseudo-Demosthenes, Erotikos, 4.<br />

3 Diogenes Laertios, De clarorum philosophorum vitis, dogmativus et apophthegmativus, lib. II, 8, 75.<br />

- 5 -


im Verhältnis zu den Lüsten – das ist: nicht ihr zu Diensten stehen, nicht ihr Sklave sein. Die<br />

Gefahr, die mit den aphrodisia verbunden ist, ist weniger die Beschmutzung als die<br />

Versklavung (GL: 1222).<br />

Der Königlichste ist König seiner selbst (basilikotatos baisleun hautu) 4 (GL: 1223).<br />

Freiheit:<br />

Aber diese Freiheit ist mehr als eine Nicht-Sklaverei, mehr als eine Freilassung, die das<br />

Individuum unabhängig von jedem äußeren oder inneren Zwang machen würde; in ihrer<br />

vollen und positiven Form ist sie eine Macht, die man in der Macht über die anderen über<br />

sich selbst ausübt (GL: 1223).<br />

Männliche Mäßigung:<br />

In diesem Verhältnis von Herrschaft als aktiver Freiheit wird der „männliche“ Charakter der<br />

Mäßigung behauptet. So wie im Haus der Mann befiehlt, so wie in der Polis die Ausübung<br />

der Macht weder den Sklaven noch den Kindern, noch den Frauen zukommt, sondern den<br />

Männern, allein den Männern, so muß auch gegenüber sich selber jeder seine<br />

Mannesqualitäten zur Geltung bringen. Die Selbstbeherrschung ist eine Art und Weise,<br />

Mann im Verhältnis zu sich selber zu sein, das heißt, dem zu befehlen, dem befohlen gehört,<br />

das zum Gehorsam zu zwingen, was nicht fähig ist, sich selber zu leiten, Vernunftprinzipien<br />

dem aufzuerlegen, dem sie mangeln; es handelt sich also darum, gegenüber dem, was von<br />

Natur aus passiv ist und es bleiben muß, aktiv zu sein. In dieser Männermoral, die für<br />

Männer gemacht ist, besteht die Erarbeitung seiner selber als Moralsubjekt darin, von sich<br />

selber zu sich selber eine Struktur von Männlichkeit zu errichten: indem man im Verhältnis<br />

zu sich Mann ist, wird man die Mannestätigkeit kontrollieren und meistern können, die man<br />

in der sexuellen Praxis anderen gegenüber ausübt. Im agonistischen Zweikampf mit sich<br />

selber und im Kampf um die Beherrschung der Begierden ist danach zu streben, daß das<br />

Verhältnis zu sich isomorph mit dem Herrschafts-, Hierarchie- und Autoritätsverhältnis wird,<br />

das man als Mann, als freier Mann, über seine Untergebenen herzustellen beansprucht.<br />

Aufgrund dieser „ethischen Männlichkeit“ und entsprechend dieser „gesellschaftlichen<br />

Männlichkeit“ kann man der Ausübung der „sexuellen Männlichkeit“ das ihr zukommende<br />

Maß zuteilen. Im Gebrauch, den man von seinen Manneslüsten macht, muß man sich selber<br />

4 Platon, Politeia, IX, 590c.<br />

- 6 -


gegenüber männlich sein, wie man in seiner gesellschaftlichen Rolle männlich ist. Die<br />

Mäßigkeit ist im vollen Sinn eine Mannestugend (GL: 1225).<br />

Ästhetik der Existenz:<br />

Führt dieses für das sich mäßigende Subjekt konstitutive Verhältnis zur Wahrheit nicht zu<br />

einer Hermeneutik des Begehrens wie später in der christlichen Spiritualität, so eröffnet es<br />

statt dessen eine Ästhetik der Existenz. Darunter ist eine Lebensweise zu verstehen, deren<br />

moralischer Wert nicht auf ihrer Übereinstimmung mit einem Verhaltenscode und auch nicht<br />

auf einer Reinigungsarbeit beruht, sondern auf gewissen Formen oder vielmehr auf gewissen<br />

allgemeinen formellen Prinzipien im Gebrauch der Lüste, auf ihrer Aufteilung, Begrenzung<br />

und Hierarchisierung. Durch den logos, durch die Vernunft und durch das Verhältnis zum<br />

Wahren, von dem es sich bestimmen läßt, fügt sich so ein Leben in die Erhaltung oder die<br />

Reproduktion einer ontologischen Ordnung ein; andererseits empfängt es den Glanz einer<br />

Schönheit in den Augen derer, die es betrachten oder in ihrer Erinnerung bewahren können<br />

(GL: 1231).<br />

Das Zauberwort „Stilisierung“ beherbergt den Hauptgedanken der Moralreflexion der Antike.<br />

Schematisch findet man es in der Diätetik, Ökonomik und Erotik, was Foucault in den nächsten<br />

Kapiteln ausarbeitet.<br />

II. Diätetik<br />

IV. Der Akt, die Verausgabung, der Tod<br />

Der Sexualakt wird von den Griechen nicht als Übel betrachtet, doch schwingt eine gewisse Unruhe<br />

mit.<br />

Und diese Unruhe dreht sich um drei Brennpunkte: die Form des Aktes, die Kosten, die er<br />

verursacht, der Tod, mit dem er verbunden ist (GL: 1259).<br />

Zum Beispiel der Samenerguss als ein Raub der Lebenskraft:<br />

- 7 -


Die Existenz, die sie verleiht, muß sie dem Lebewesen entleihen und von ihm abzweigen,<br />

aus dem sie stammt. Bei jedem Samenausstoß wird dem Individuum etwas von seinen<br />

kostbarsten Elementen entzogen (GL: 1264).<br />

III. Ökonomik<br />

I. Die Weisheit der Ehe<br />

In der Antike hat die Ehe einen Mann nicht sexuell gebunden (GL: 1276), er hatte auch andere<br />

Pflichten zu erfüllen. Deshalb hängte die Reflexion über die Ehe und das gute Verhalten immer mit<br />

einer Reflexion über den oikos zusammen (GL: 1279).<br />

II. Das Hauswesen des Ischomachos<br />

Den oikos leiten heißt befehlen (GL: 1283). Auch liegt die Verantwortung immer beim Gatten.<br />

Wenn ihm das Benehmen der Frau statt Nutzen nur Nachteile bringt, wem ist dann die<br />

Schuld zuzuschreiben? Dem Ehemann (GL: 1283).<br />

IV. Erotik<br />

I. Eine problematische Beziehung<br />

Homosexualität wurde „toleriert“, begriffliche Unterscheidung sind nicht vorhanden, die Liebe zu<br />

Männern/Knaben und Frauen waren keine unterschiedlichen Kategorien der Lüste. Die griechische<br />

Kultur war tendenziell bisexuell: Allgemeines Begehren des „Schönen“, Pausanias (Platons<br />

Symposion) unterscheidet niedere und vornehme Formen der Lüste, dabei ist die Männerliebe als<br />

die himmlische bezeichnet worden, da Männer Maximum an Kraft und Intelligenz haben (GL:<br />

1311). Einerseits Lobpreisung der Knabenliebe in Gedichten, Riten etc., andererseits Schutz der<br />

beteiligten Knaben durch ihre Väter, gegenseitige Verurteilung derart gerichteter Beziehungen (GL:<br />

1314). Wodurch entstand die moralische Problematisierung dieser Praktik, die sowohl gesetzlich<br />

legitimiert als auch gesellschaftlich akzeptiert war?<br />

Zentrum der Fragestellung ist immer die asymmetrische Liebe zwischen Jüngling und einem<br />

- 8 -


erwachsenem Mann (Altersunterschied dabei teilweise unerheblich, Bildungsstand und Position in<br />

der Polis ausschlaggebend für Klassifizierung), gleichaltrige Beziehung besonders unter Knaben<br />

war existent, zwischen erwachsenen Männern aufgrund der notwendigen einseitigen Passivität<br />

wurde es jedoch kritischer bewertet (GL: 1316). Wichtig hierbei, dass trotz Altersunterschied der<br />

Knabe als freier Mann in einer besseren Machtposition als die Ehefrau stand: Seine Freiheit in der<br />

Wahl seiner Liebhaber erfordert echte sexuelle Zuneigung, im Gegensatz zu der durch einseitige<br />

Machtpositionen gewährleistete Liebe der Frau (GL: 1324).<br />

Ritualisierung der Knabenliebe: „Werben“ als moralische Legitimierung der Asymmetrie, der<br />

Werbende ist aufgefordert seine Lust zu zeigen und gleichzeitig zu mäßigen, Geschenke und<br />

Dienste rechtfertigen eine Entlohnung durch den Umworbenen, der seinerseits jedoch nicht zu<br />

leichtfertig auf dieses Angebot eingehen darf (GL: 1318).<br />

Einzige Form der Liebe, die derartigen Ritualen unterworfen war. Im Gegensatz zur Knabenliebe<br />

existiert in der Ehegemeinschaft keinerlei Notwendigkeit der sexuellen Anziehung, vielmehr<br />

Fokussierung auf weltliche, ordnungserhaltende Aspekte.<br />

II. Die Ehre eines Knaben<br />

Ehre und Schande des Knaben im Mittelpunkt der moralischen Reflexion sowie des sozialen<br />

Interesses: Lob und Tadel für ehrbringende und entehrende Handlungen durch Gesellschaft (GL:<br />

1327), Auswirkungen auf zukünftige Stellung in der Polis → Knabenalter als Bewährungsprobe.<br />

Annehmen der Liebesbekundungen dabei nichts negatives an sich, Mäßigung und der richtige<br />

Umgang mit den Liebhabern entscheidend. Dabei wird kein Verhaltenskodex aufgestellt, Fokus auf<br />

Verhältnis zu sich selber (GL: 1330):<br />

Da liegt der Punkt, auf dem der Text insistiert und wo er den „Ehrenpunkt“ ansetzt: diese<br />

Dinge (ta pragmata) sind nicht an sich und absolut gut oder schlecht; sie hängen von denen<br />

ab, die sie praktizieren (para tus chromenus). Es ist der „Gebrauch“, der ihren moralischen<br />

Wert bestimmt – entsprechend einem anderswo oft geäußerten Grundsatz; die<br />

Formulierungen gleichen jedenfalls solchen, die man im Symposion findet: „In dieser<br />

Materie gibt es nichts Absolutes; die Sache allein und an sich hat weder Schönheit noch<br />

Häßlichkeit; aber was sie schön macht, ist die Schönheit ihrer Realisierung; was sie häßlich<br />

macht, ist deren Häßlichkeit.“ 5 (GL: 1329)<br />

Der Jüngling gewinnt dabei durch die Philosophie das nötige Rüstzeug um diese Probe zu bestehen,<br />

5 Platon, Symposion, 183d; vgl. auch 181a.<br />

- 9 -


sie bildet die innere Haltung und damit die Möglichkeit des Sieges über die eigenen Triebe, sowie<br />

die konkurrierenden Altersgenossen, aus (GL: 1333). Zum Abschluss Verweis auf die vergleichbare,<br />

zukünftige Position europäischer Mädchen (GL: 1335).<br />

III. Das Objekt der Lust<br />

Polarität der Rolle des Jünglings:<br />

Einerseits Passivität als negativ deklariert, andererseits Voraussetzung für homosexuelle Beziehung.<br />

Keine Schwierigkeiten bei Frau, deren Passivität ergibt sich aus ihrer natürlichen Rolle, die<br />

Machtposition wird dadurch nicht in Frage gestellt, da nicht vorhanden. Der Knabe befindet sich<br />

nun in der unangenehmen Situation sich dem Älteren unterwerfen zu müssen, was zwar durchaus<br />

gewollt, aber nichts desto trotz als negativer Charakterzug gedeutet werden muss, der die Fähigkeit<br />

in der Polis eine herrschende Position einzunehmen fragwürdig erscheinen lässt (GL: 1336). Ein<br />

ständiges Einnehmen der Rolle des Lustobjekts für andere wurde auch ohne monetäre Entlohnung<br />

als Prostitution bezeichnet und geächtet, der Beschuldigte verlor dadurch seine Möglichkeit ein Amt<br />

in der Polis zu übernehmen (GL: 1337). Die Komplexität dieser<br />

Situation äußert sich auch im Sprachgebrauch, der Akt selbst wird<br />

zunehmend mit politischen Begriffen umschrieben: „nachgeben“,<br />

„sich unterwerfen“ oder „einen Dienst erweisen“ (GL: 1342). Des<br />

Weiteren ist der Genuss der körperlichen Liebe als Träger der<br />

passiven Rolle verwerflich: Einzig die Freude über den dem Partner<br />

ermöglichten Lustgewinn darf die eigene Lust entstehen lassen.<br />

Bild: Erastes und Eromenos. Seite A von einer schwarzfigurigen<br />

attischen Halsamphore, um 540 v. Chr,<br />

V. Die wahrhafte Liebe<br />

Die bereits vorher angedeutete Komplexität der Mann-Jünglings Beziehung und ihre philosophische<br />

Reflexion führte zur Frage nach der wahren Liebe und die Bedeutung der Erotik für eben diese.<br />

Platon's, durch Aristophanes vorgetragener, Kugelmenschen Mythos stellt hierbei einen Kontrast<br />

zur Betrachtung der Erotik als Ausdruck der Machtverhältnisse unter den Liebhabern dar, jedwede<br />

sexuelle Handlung erfährt ihre Rechtfertigung durch die ursprüngliche Geschlechterkonfiguration<br />

des vorhergehenden Kugelmenschens, sie wird Ausdruck der Unvollkommenheit des Einzelnen und<br />

dem Streben nach Komplettierung durch den Partner (GL: 1348).<br />

- 10 -


Im Verlauf des Symposions erfolgt, vorgetragen durch Sokrates und Diotima, des Weiteren eine<br />

Verschiebung der Betrachtung der Liebe. Während die bisherige Fragen sich stets um eine bereits<br />

existierende Liebe und den zu befolgenden Richtlinien ihrer Ausübung, drehen, so liegt der<br />

Schwerpunkt der platonischen Untersuchung auf der Frage nach dem Wesen der Liebe an sich (GL:<br />

1351). Mit dieser ontologischen Wende rückt der Liebende an Stelle des geliebten Objekts in den<br />

Mittelpunkt der Fragestellung. Deren Beziehung wird nun nicht mehr als asymmetrisches Verhältnis<br />

dargestellt denn in der platonischen Erotik kommt auch der Rolle des Geliebten Aktivität zu. Dem<br />

Lehrmeister kommt hierbei immer öfter die Position des Geliebten zu, seine Weisheit wird durch<br />

den unerfahrenen, Wahrheitssuchenden Jüngling begehrt (GL: 1356). Sokrates erhält dadurch<br />

seinen Status als Sexbombe.<br />

Schluß<br />

Es bleibt festzuhalten, dass die Griechen im Kontrast zur weithin verbreiteten Meinung sehr wohl<br />

die Sexualität moralisch problematisierten. Die „heidnische“ sexuelle Freiheit wird durch die<br />

präskriptiven Diskurse dieser Epoche zum Mythos, wenngleich die Ausprägungen der Sittenstrenge<br />

weit entfernt von den rigorosen Forderungen des Christentums ist. Gleichwohl die Forderungen<br />

nach Mäßigung, außerehelicher Abstinenz und einer Beschränkung der gleichgeschlechtlichen<br />

Liebe in ihrer Konsequenz den jüdisch-christlichen Moralvorstellungen ähneln, so ist doch die<br />

Ausgangslage des Moralentwurfs eine gänzlich andere. Zentrum der griechischen Sexualmoral ist<br />

nicht ein Verbot bestimmter Praktiken aufgrund ihrer durch die Kategorien Gut und Böse<br />

definierten Wertigkeit, sondern vielmehr ein Streben nach einer Existenz in „schönster und<br />

vollendetster Form […] die nur möglich ist“ (GL: 1363). Die in dreifacher Form auftretende<br />

Mäßigung nimmt hierbei eine zentrale Rolle ein. Die Diätetik verlangt Mäßigung angepasst an<br />

Gegebenheiten wie Jahreszeiten und Lebensalter mit dem Ziel der Existenzsicherung sowohl des<br />

Individuums als auch der Art. Die Ökonomik hingegen thematisiert das Verhältnis der Ehepartner,<br />

deren unterschiedliche Machtpositionen und die Wahrung des Hausfriedens durch die<br />

Reglementierung der eigenen Triebe durch den Mann. Zuletzt die Erotik, geprägt durch das Mann-<br />

Jünglings Verhältnis und den damit einhergehenden Schwierigkeiten die zumindest tendenziell<br />

durch Entsagung gelöst werden.<br />

Die folgenden Jahrhunderte sind geprägt durch eine Verschiebung der moralischen<br />

Problematisierung der Knabenliebe hin zu einer Fokussierung auf Aspekte des ehelichen<br />

Sexualverhaltens.<br />

- 11 -


Quelle<br />

Bild (erste Seite): Hans Baldung: Aristoteles und Phyllis 6 . [wikipedia.org – 25.4.2011]<br />

Bild 1: Erastes und Eromenos. Seite A von einer schwarzfigurigen attischen Halsamphore, um 540<br />

v. Chr: Haiduc, own work, 2005-01-21. Originally on WP fr: fr:Image:Amphora -seduction scenefor<br />

Wiki.jpg. [wikipedia.org – 25.4.2011]<br />

Foucault, Michel (1976) [2008]: Sexualität und Wahrheit: Zweiter Band: Der Gebrauch der Lüste.<br />

In: Die Hauptwerke: Mit einem Nachwort von Axel Honneth und Martin Saar (Quarto), 1. Auflage.<br />

Frankfurt am Main: Suhrkamp.<br />

Ruffing, Reiner (2008): Michel Foucault. 1. Auflage, Stuttgart: UTB.<br />

6 Phyllis is riding on the great philosopher, which is used to symbolize the power of the women. Anmerkung: Die<br />

Schönheit gewinnt über die Weisheit<br />

- 12 -

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!