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Grundriss der Strafrechtsgeschichte - Rüping / Jerouschek, Leseprobe

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Teil 6. Die Entwicklung seit 1945<br />

§ 1. Die Entwicklung in <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland<br />

a) Die Nürnberger Prozesse<br />

1. Das Besatzungsrecht<br />

Quellen: Proklamation Nr. 3 des Kontrollrats von 1945 (ABl, 22 f.); Gesetz Nr. 10 des Kontrollrats<br />

von 1945 (ABl, 50 ff.); VO Nr. 98 <strong>der</strong> Brit. Militärregierung: Deutscher Oberster Gerichtshof<br />

für die Britische Zone (VOBl BrZ 1947, 154); Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher<br />

vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg [IMG], dt. Ausg. Bd. 1–24 1947–1949;<br />

Peschel-Gutzeit (Hg.), Das Nürnberger Juristen-Urteil von 1947, 1996.<br />

Literatur: Bockelmann, Zur Schuldlehre des Obersten Gerichtshofs, ZStW 63 (1951), 13 ff.;<br />

Grünwald, Bedeutung und Begründung des Satzes „nulla poena sine lege“, ZStW 76 (1964),<br />

1 ff.; Hankel/Stuby, Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, 1995; Hirsch/Paech/Stuby, Politik<br />

als Verbrechen: 40 Jahre „Nürnberger Prozesse“, 1986; Kastner, Von den Siegern zur<br />

Rechenschaft gezogen, 2001; Mai, Der Alliierte Kontrollrat in Deutschland 1945–1948, 1995;<br />

Pollmann, NS-Justiz, Nürnberger Prozesse, NSG-Verfahren (Auswahl-Bibliographie), 2000;<br />

Radbruch, Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, SJZ 1947, Sp. 131 ff.;<br />

Reginbogin/Safferling (Hg.), The Nuremberg Trials, 2006; <strong>Rüping</strong>, Das „kleine Reichsgericht“,<br />

NStZ 2000, 355 ff.; Schrö<strong>der</strong>, Rechtsgeschichte <strong>der</strong> Nachkriegszeit, JuS 1993, 617 ff.; Schünemann,<br />

Ungelöste Rechtsprobleme bei <strong>der</strong> Bestrafung nationalsozialistischer Gewalttaten, FS<br />

Bruns, 1978, 223 ff.; Walton-Jordan, Die britische Gerichtsbarkeit in Nordwestdeutschland<br />

1945–1949, ZRG 117 (2000), 362 ff.<br />

Nach dem Krieg üben die amerikanische, britische, französische und sowjetische<br />

Besatzungsmacht die oberste Regierungsgewalt aus. Der von den Siegermächten<br />

eingesetzte Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg versucht, historische<br />

Schuld juristisch aufzuarbeiten. Grundlage ist das Gesetz Nr. 10 des Kontrollrats von<br />

1945. Es bestraft in Art. 2 Ziff. 1 c „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und nennt<br />

beispielhaft „Mord, Ausrottung, Versklavung, Zwangsverschleppung, Freiheitsberaubung,<br />

Folterung, Vergewaltigung o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e an <strong>der</strong> Zivilbevölkerung begangene<br />

unmenschliche Handlungen; Verfolgung aus politischen, rassischen o<strong>der</strong> religiösen<br />

Gründen“.<br />

„Menschlichkeit“ deutet dabei weniger auf die individuelle Würde, von <strong>der</strong> etwa Art. 1 I 1 GG<br />

ausgeht, son<strong>der</strong>n bezeichnet das Humanum schlechthin, als Gemeingut <strong>der</strong> zivilisierten Nationen<br />

abendländischer Tradition: vgl. die Deutungsversuche bei Radbruch, SJZ 1947, Sp. 131 f.;<br />

aus <strong>der</strong> Rechtsprechung: OLG Köln, NJW 1947/48, 70; LG Konstanz, SJZ 1947, Sp. 337,<br />

339. Das „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ durch Herausarbeitung einzelner Tatbestandsmerkmale<br />

für das deutsche Gesetzesverständnis handhabbar zu machen, bleibt insbeson<strong>der</strong>e das<br />

Verdienst des 1947 in <strong>der</strong> Britischen Zone errichteten Obersten Gerichtshofs (vgl. OGHSt. 1,<br />

11 ff., dazu <strong>Rüping</strong>, NStZ 2000, 357 f.).<br />

Zentrales Problem ist, ob das im Gesetz Nr. 1 <strong>der</strong> Militärregierung selbst festgelegte,<br />

allgemein anerkannte Verbot rückwirken<strong>der</strong> Strafgesetze (Art. IV § 7 S. 1, vgl. heute<br />

Art. 103 II GG) die Bestrafung von Taten hin<strong>der</strong>t, die vor Erlass des KRG begangen<br />

sind. Sämtliche Versuche, die Anwendbarkeit zu ermöglichen, bleiben juristisch<br />

zweifelhaft. Der Nürnberger Gerichtshof versagt den Angeklagten wegen ihrer Ver-<br />

304<br />

305<br />

306


110 Teil 6. Die Entwicklung seit 1945<br />

307<br />

308<br />

brechen die Berufung auf den Grundsatz (IMG 22, 521, 524 f.). Soweit später deutsche<br />

Gerichte zuständig werden, begnügen sie sich vorwiegend positivistisch mit dem<br />

Verweis auf die im KRG bestimmte Strafbarkeit (OLG Hamburg MDR 1947, 241,<br />

242 f.; kritisch Grünwald, ZStW 76 (1964), 5; Schünemann, 226).<br />

We<strong>der</strong> <strong>der</strong> Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher noch Folgeprozesse gegen einzelne Berufseliten<br />

wie Juristen (bezogen auf Staatssekretär Schlegelberger StQuB 2, 313 ff.), Diplomaten o<strong>der</strong><br />

Ärzte haben unmittelbar das Völkerstrafrecht beeinflusst. Erst später greift die UN-Konvention<br />

von 1968 über die Unverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />

einen wichtigen Einzelaspekt auf.<br />

Unmittelbarer haben Einzelregelungen gewirkt. Die Proklamation Nr. 3 des Kontrollrats veranschaulicht<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen an ein rechtsstaatliches Strafverfahren, wenn sie den Angeklagten<br />

vor willkürlicher Verhaftung und durch Einzelrechte in <strong>der</strong> Tradition des due process of law<br />

schützt, nämlich „unverzügliches und öffentliches Gerichtsverfahren, Bekanntgabe von Grundlage<br />

und Art <strong>der</strong> Anklage, Gegenüberstellung mit den Belastungszeugen, gerichtliche Vorladung<br />

von Entlastungszeugen und Hinzuziehung eines Verteidigers“ (Art. II Nr. 4).<br />

b) Die Entnazifizierung in <strong>der</strong> politischen Geschichte <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

Quellen: Kreikamp (Hg.), Quellen zur staatlichen Neuordnung Deutschlands 1945–1949, 1994;<br />

Alliierter Kontrollrat, Direktive Nr. 24 von 1946 (ABl 30 ff.), Direktive Nr. 38 von 1946 (ABl<br />

62 ff.), Britische Militärregierung, VO Nr. 79 von 1947 (ABl <strong>der</strong> MR Deutschland, Britisches<br />

Kontrollgebiet, Nr. 16, 422 ff.).<br />

Literatur: Benz, Die Entnazifizierung <strong>der</strong> Richter, in: Diestelkamp/Stolleis (Hg.), Justizalltag im<br />

Dritten Reich, 1988, 112 ff.; Broszat, Siegerjustiz o<strong>der</strong> strafrechtliche „Selbstreinigung“, VjZ<br />

1981, 477 ff.; Etzel, Die Aufhebung von nationalsozialistischen Gesetzen durch den Alliierten<br />

Kontrollrat (1945–1948), 1992; Godau-Schüttke, Ich habe nur dem Recht gedient, 1993; Herf,<br />

Multiple Restorations: German Political Traditions and the Interpretation of Nazism, 1945–<br />

1946, CEH 26 (1993), 21 ff.; Löhnig, Die Justiz als Gesetzgeber, 2010; Morsay, Die Bundesrepublik<br />

Deutschland, 3. Aufl. 1995; Niethammer, Die Mitläuferfabrik, 1982; Nolte, Deutschland<br />

und <strong>der</strong> Kalte Krieg, 2. Aufl. 1985; <strong>der</strong>s., Die „Vergangenheitsbewältigung“ nach <strong>der</strong><br />

Wie<strong>der</strong>vereinigung, FS H. Wagner, 1995, 493 ff.; Quaritsch, Theorie <strong>der</strong> Vergangenheitsbewältigung,<br />

Staat 31 (1992), 519 ff.; Rauh-Kühne, Die Entnazifizierung und die deutsche Gesellschaft,<br />

Arch. f. Sozialgeschichte 1995, 35 ff.; Rößler (Hg.), Die Entnazifizierungspolitik <strong>der</strong> KPD/SED<br />

1945–1948, 1994; Rottleuthner, Karrieren und Kontinuitäten deutscher Justizjuristen vor und<br />

nach 1945, 2010; <strong>Rüping</strong>, Staatsanwälte und Parteigenossen, 1994 [Staatsanwälte]; <strong>der</strong>s., Justiz<br />

und Demokratie nach 1945, FS Rieß, 2002, 983 ff. [Justiz]; <strong>der</strong>s., Justizpolitik in Celle unter<br />

Britischer Besatzung, in: 300 Jahre OLG Celle, 2011, 99 ff.; Wolgast, Die Wahrnehmung des<br />

Dritten Reichs in <strong>der</strong> unmittelbaren Nachkriegszeit (1945/1946), 2001; Woller, Die Abrechnung<br />

mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948, 1996.<br />

309<br />

310<br />

Die von den Alliierten zunächst umfassend inszenierte Entnazifizierung auf <strong>der</strong><br />

Grundlage <strong>der</strong> Direktive Nr. 24 hat keinen wirklichen personellen Neuanfang ermöglicht.<br />

Die gesamtgesellschaftliche Solidarisierung mit den zahllosen Belasteten (zu<br />

den Kategorien <strong>der</strong> Hauptschuldigen, Belasteten, Min<strong>der</strong>belasteten, Mitläufer und<br />

Entlasteten Direktive Nr. 38 und für die Britische Zone VO Nr. 79) rührt aus einer<br />

Verdrängung <strong>der</strong> Vergangenheit. Innenpolitische Rücksichten auf den Wie<strong>der</strong>aufbau<br />

sowie die im Zuge des Kalten Krieges politisch erwünschte Westintegration <strong>der</strong><br />

Bundesrepublik schaffen eine „Mitläuferfabrik“ (Niethammer). Sie ermöglicht in <strong>der</strong><br />

Justiz über die „Huckepack“-Regelung, dass mit jedem Unbelasteten zugleich ein<br />

Belasteter übernommen werden konnte, und zahlreichen Belasteten die Rückkehr in<br />

ihre Ämter (statistisch Rottleuthner sowie zur beamtenrechtlichen Annahme einer<br />

bloßen Suspension <strong>der</strong> früheren Stellung BGHZ-GS-13, 265, 296 ff. gegen BVerfGE<br />

3, 58, 119).<br />

Auch die Masse von Normen aus <strong>der</strong> NS-Zeit bleibt unangefochten (Etzel, 80 ff.,<br />

<strong>Rüping</strong>, Staatsanwälte, 59 ff.). Ausdrücklich aufgehoben werden nur einzelne Geset-


§ 1. Die Entwicklung in <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland<br />

111<br />

ze, wie die über den Rassenschutz, die Son<strong>der</strong>gerichte und den Volksgerichtshof.<br />

Unbeanstandet bleibt das Verwaltungs- und Kriegsstrafrecht. Soweit Normen wie die<br />

Neufassung des § 240 II StGB von 1943 entgegen den Vorgaben <strong>der</strong> Alliierten (Proklamation<br />

Nr. 3 Art. II Nr. 3) noch auf das „gesunde Volksempfinden“ abstellten,<br />

deutet die Nachkriegsrechtsprechung dieses um in einen unverfänglichen Verweis auf<br />

ein allgemeines Rechtsempfinden (BGHSt 1, 84, 87). Als selbstständige Entwicklung<br />

wird dagegen das Verbot grausamer und übermäßiger Strafen im allierten Recht zum<br />

ausgangspunkt einer Lehre von <strong>der</strong> „gerechten Strafe“ (<strong>Rüping</strong>, Justiz, 989).<br />

2. Naturrecht und Positivismus<br />

Quellen: Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, Neuausg. v.<br />

Hassemer, 2002; 105 ff.; Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke in <strong>der</strong> Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes,<br />

NJW 1960, 1689 ff.<br />

Literatur: Dieckmann, Überpositives Recht als Prüfungmaßstab im Geltungsbereich des<br />

Grundgesetzes?, 2006; Eickhoff (Hg.), Restauration im Recht, 1988; Evers, Zum unkritischen<br />

Naturrechtsbewußtsein in <strong>der</strong> Rechtsprechung <strong>der</strong> Gegenwart, JZ 1961, 241 ff.; Füßer, Rechtspositivismus<br />

und „gesetzliches Unrecht“, ARSP 78 (1992), 301 ff.; Maihofer (Hg.), Naturrecht<br />

o<strong>der</strong> Rechtspositivismus?, 1962; Neumann, Rechtsphilosophie in Deutschland seit 1945, in:<br />

Simon (Hg.), Rechtswissenschaft in <strong>der</strong> Bonner Republik, 1994, 145 ff.; Oppitz, Strafverfahren<br />

und Strafvollstreckung bei NS-Gewaltverbrechen, 2. Aufl. 1976; van Roon, Wi<strong>der</strong>stand im<br />

Dritten Reich, 7. Aufl. 1998; <strong>Rüping</strong>, Die Bestrafung <strong>der</strong> Rechtsschän<strong>der</strong>, GedSchr. Armin<br />

Kaufmann, 1989, 51 ff.; P. Schnei<strong>der</strong>, Naturrechtliche Strömungen in deutscher Rechtsprechung,<br />

ARSP 42 (1956), 98 ff.; Walther, Hat <strong>der</strong> juristische Positivismus die deutschen Juristen im<br />

„Dritten Reich“ wehrlos gemacht?, in: Dreier/Sellert (Hg.), Recht und Justiz im „Dritten<br />

Reich“, 1989, 323 ff.; Wenzlau, Der Wie<strong>der</strong>aufbau <strong>der</strong> Justiz in Nordwestdeutschland 1945 bis<br />

1949, 1979.<br />

Naturrechtliche Ansätze prägen bereits den kirchlichen und Teile des bürgerlichen<br />

Wi<strong>der</strong>standes im Nationalsozialismus (vgl. etwa Vorstellungen des Kreisauer Kreises<br />

1943 über die Bestrafung von „Rechtsschän<strong>der</strong>n“), bis Radbruch 1946 mit großer<br />

Folgewirkung den Positivismus durch die Differenzierung von gültigem Recht und<br />

nicht verbindlichem gesetzlichen Unrecht zu überwinden sucht. 1932 hatte er den<br />

Richter noch für verpflichtet gehalten, auch ungerechte Gesetze anzuwenden<br />

(Rn. 272). 1946 for<strong>der</strong>t er eine Neubesinnung und hält positives Recht für ungültig,<br />

wenn <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruch „zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass<br />

das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ <strong>der</strong> Gerechtigkeit zu weichen hat“ (SJZ 1946, 107).<br />

Radbruchs Formel ist vom BVerfG übernommen, jedoch in ihrer Reichweite durch<br />

eine soziologische Theorie <strong>der</strong> Rechtsgeltung beschränkt worden, die zahlreiche<br />

Normen aus <strong>der</strong> NS-Zeit wegen ihrer Durchsetzbarkeit als gültig ansieht (BVerfGE<br />

3, 225, 232 f.; 6, 132, 198 f.; 3, 59, 119). Vereinzelt hat sich <strong>der</strong> BGH zu einer durch<br />

das „Sittengesetz“ vorgegebenen Ordnung bekannt, die etwa den Geschlechtsverkehr<br />

Verlobter verbiete (BGHSt 6, 46, 53 – Großer Strafsenat).<br />

Methodisch beruht das Verfahren auf dem Zirkelschluss, aus <strong>der</strong> „Natur des Menschen“<br />

abzuleiten, was vorher – beim BGH weitgehend im Sinne <strong>der</strong> katholischen<br />

Soziallehre – hineininterpretiert wurde (Welzel, Naturrecht 226 f.). In <strong>der</strong> Sache verkennt<br />

Radbruchs These, <strong>der</strong> Positivismus habe die Juristen wehrlos gemacht, das<br />

Ausmaß <strong>der</strong> Zustimmung, ohne die das Funktionieren <strong>der</strong> Justiz im Dritten Reich<br />

nicht erklärt werden kann (Walther, 334). Im Gesamturteil ist die Justiz nach 1945<br />

kaum naturrechtsgeleitet gewesen, son<strong>der</strong>n positivistisch orientiert geblieben, in<br />

ihrem Selbstverständnis entpolitisiert und nicht bereit, Normen aus <strong>der</strong> Zeit des<br />

Nationalsozialismus in ihrem politischen Kontext zu werten.<br />

311<br />

312<br />

313


112 Teil 6. Die Entwicklung seit 1945<br />

3. Juristische Vergangenheitsbewältigung<br />

Quelle: Justiz und NS-Verbrechen, Bd. 1–43, 1968–2011.<br />

Literatur: Diestelkamp, Die Justiz nach 1945 und ihr Umgang mit <strong>der</strong> eigenen Vergangenheit,<br />

RJ 5 (1986), 153 ff.; Eichmüller, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen, VjZ 2008, 621 ff.; Frei<br />

(Hg.), Geschichte vor Gericht, 2000; Friedrich, Freispruch für die Nazi-Justiz, 1998; Godau-<br />

Schüttke, Der Bundesgerichtshof – Justiz in Deutschland, 2005; Gribbohm, Nationalsozialismus<br />

und Strafrechtspraxis – Versuch einer Bilanz, NJW 1988, 2842 ff.; Hoffmann, Die Verfolgung<br />

<strong>der</strong> nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Hessen, 2001; Jäger, Verbrechen unter totalitärer<br />

Herrschaft, 1982; Jahntz/Kähne, Der Volksgerichtshof, 2. Aufl. 1987; Kempner, Amerikanische<br />

Militärgerichte in Deutschland, FS M. Hirsch, 1981, 145 ff.; Klug, Die Rechtsprechung<br />

des Bundesgerichtshofes in NS-Prozessen, in: Schoeps/Hillermann (Hg.), Justiz und Nationalsozialismus,<br />

1987, 92 ff.; von Miquel, Ahnden o<strong>der</strong> amnestieren?, 2004; Redaktion Kritische<br />

Justiz, Die juristische Aufarbeitung des Unrechts-Staats, 1998; Reichel, Vergangenheitsbewältigung<br />

in Deutschland, 2001; Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, 1982; <strong>Rüping</strong>, Der Verlust <strong>der</strong><br />

Rechtseinheit nach 1945, FS Fr.-Chr. Schroe<strong>der</strong>, 2006, 119 ff.; <strong>der</strong>s., Justiz und Demokratie nach<br />

1945, FS Rieß, 2002, 983 ff.; Steinbach, Nationalsozialistische Gewaltverbrechen, 1981; J. Weber/Steinbach<br />

(Hg.), Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren?, 1984; Werle/Wandres,<br />

Auschwitz vor Gericht, 1995; Wojak (Hg.), „Gerichtstag halten über uns selbst...“: Geschichte<br />

und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, 2001.<br />

314<br />

315<br />

316<br />

Großverfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen haben die Schwierigkeiten<br />

gezeigt, im Strafverfahren mit seiner Bindung an rechtsstaatliche Formen eine<br />

juristische Antwort auf historische Schuld zu finden. Der Schuldspruch muss sich mit<br />

<strong>der</strong> Berufung <strong>der</strong> Angeklagten auf bloße Beihilfe, auf Befehlsnotstand o<strong>der</strong> auf<br />

fehlendes Unrechtsbewusstsein auseinan<strong>der</strong>setzen (zur strafrechtlichen und kriminologischen<br />

Analyse Jäger), die Sanktion mit <strong>der</strong> Legitimität <strong>der</strong> Strafzwecke, insbeson<strong>der</strong>e<br />

<strong>der</strong> Generalprävention.<br />

Als Folge bleibt das Ergebnis trotz bis 2005 in Westdeutschland durchgeführter<br />

172.000 Ermittlungsverfahren, 17.000 Anklagen und 15.000 Hauptverhandlungen mit<br />

5.000 Freisprüchen, 2.000 Einstellungen und 6.600 Verurteilungen mager (Statistik<br />

bei Eichmüller). Ermittlungen gegen Täter in <strong>der</strong> Justiz haben, soweit sie nicht bereits<br />

zu spät kommen, häufig wegen des fehlenden Nachweises <strong>der</strong> subjektiven Tatseite<br />

o<strong>der</strong> wegen beson<strong>der</strong>er juristischer Konstruktionen keinen Erfolg. So soll für den<br />

Vorsatz <strong>der</strong> Rechtsbeugung (§ 336 StGB in <strong>der</strong> bis 1974 geltenden Fassung) bedingter<br />

Vorsatz nicht ausreichen. Weiter behandelt <strong>der</strong> BGH im Fall Rehse (NJW 1968,<br />

1339 f.) auch einen berufsrichterlichen Beisitzer am Volksgerichtshof als Täter des<br />

ihm vorgeworfenen Mordes, sodass er nachweisbar selbst aus niedrigen Motiven für<br />

die Todesstrafe gestimmt haben muss.<br />

Zu den NS-Prozessen zählt auch die Aufhebung nationalsozialistischer Entscheidungen. OLG<br />

Bremen NStZ 1988, 183 f., OLG Schleswig NJW 1991, 2504 f. und LG Berlin NJW 1996,<br />

2740 ff. zeigen die Schwierigkeit, einzelne Gesetze wie die Volksschädlingsverordnung und ihre<br />

Anwendung als „typisch nationalsozialistisch“ zu kennzeichnen. Beteiligt sind nicht nur die<br />

ordentlichen Gerichte, son<strong>der</strong>n auch die Verwaltungsgerichte bei Klagen auf Zuerkennung von<br />

Pensionen und die Sozialgerichte hinsichtlich <strong>der</strong> Anerkennung als Kriegsopfer, was Angehörige<br />

<strong>der</strong> SS wie Witwen von Deserteuren betrifft.<br />

4. Die Reform des materiellen Rechts<br />

Einzelne Quellen mit Literatur: [1.] Strafrechtsän<strong>der</strong>ungsgesetz (BGBl 1951 I 739 ff.); v. Brünneck,<br />

Politische Justiz gegen Kommunisten in <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland 1949–1968,<br />

1978; Grünwald, Die Staatsgefährdungstatbestände 1951–1968, FS Baumann, 1992, 103 ff.; –<br />

Entwurf eines Strafgesetzbuches, 1962 (BT-Dr. 4/650); Jescheck, Die weltanschaulichen und<br />

politischen Grundlagen des Entwurfs eines Strafgesetzbuches (E 1962), ZStW 75 (1963), 1 ff.; –


§ 1. Die Entwicklung in <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland<br />

113<br />

Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, AT, 2. Aufl. 1969, BT: Sexualdelikte, 1968, Politisches<br />

Strafrecht, 1968, Straftaten gegen die Person, Halbbd. 1, 2, 1970, 1971, Straftaten gegen die<br />

Wirtschaft, 1977; – 1. Strafrechtsreformgesetz (BGBl 1969 I 645 ff.); Begr. in BT-Dr. 5/4094;<br />

Müller-Emmert/Friedrich, Die Strafrechtsreform, DRiZ 1969, 319 ff.; – 2. Strafrechtsreformgesetz<br />

(BGBl 1969 I 717 ff.); Begr. in BT-Dr. 5/4095; Müller-Emmert/Friedrich, Die Strafrechtsreform,<br />

DRiZ 1969, 273 ff.; – 4. Strafrechtsreformgesetz (BGBl 1973 I 1725 ff.); Begr. in BT-Dr.<br />

6/3521; Das Vierte Gesetz zur Reform des Strafrechts, Sturm, JZ 1974, 1 ff.; Laufhütte, JZ 1974,<br />

46 ff.; Horstkotte, JZ 1974, 84 ff.; – EGStGB (BGBl 1974 I 469 ff.); Begr. in BT-Dr. 6/3250;<br />

Göhler, Das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch, NJW 1974, 825 ff.<br />

Allgemeine Literatur: Achenbach, Kriminalpolitische Tendenzen in den jüngeren Reformen<br />

des Beson<strong>der</strong>en Strafrechts und des Strafprozeßrechts, JuS 1980, 81 ff.; Bauer, Was an <strong>der</strong><br />

Strafrechtsreform reformbedürftig ist, Blätter für deutsche und internationale Politik 1964,<br />

551 ff., 620 ff.; Baumann, Kleine Streitschriften zur Strafrechtsreform, 1965; <strong>der</strong>s., Weitere<br />

Streitschriften zur Strafrechtsreform, 1969; v. Bülow, Strafrecht und Kriminalpolitik, in: de<br />

With (Hg.), Deutsche Rechtspolitik, 1980, 73 ff.; Busse, Politische Strafjustiz 1951–1968: Betriebsunfall<br />

o<strong>der</strong> Symptom?, 1998; Heinitz/Würtenberger/Peters, Gedanken zur Strafrechtsreform,<br />

1965; Hirsch, 25 Jahre Entwicklung des Strafrechts, in: 25 Jahre Rechtsentwicklung in<br />

Deutschland, 1993, 35 ff.; Lenckner, 40 Jahre Strafrechtsentwicklung in <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

Deutschland, in: K. W. Nörr (Hg.), 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland, 1990, 325 ff.; Naucke,<br />

Tendenzen in <strong>der</strong> Strafrechtsentwicklung, 1975; Pauli, Über die Rechtsprechung des<br />

Bundesgerichtshofes in Staatsschutzsachen gegen Kommunisten, in: Justizministerium NRW<br />

(Hg.), Politische Strafjustiz 1951–1968, 1998, 97 ff.; Posser, Anwalt im Kalten Krieg,<br />

3. Aufl. 1999; Wrobel, Verurteilt zur Demokratie: Justiz und Justizpolitik in Deutschland<br />

1945–1949, 1989.<br />

Fasst man die Entwicklung des materiellen Rechts zusammen, herrscht nach 1945<br />

zunächst die klassische Schule. Sachlich ist ihr Ergebnis, <strong>der</strong> Entwurf eines StGB von<br />

1962, bei seinem Erscheinen überholt und wird seit 1969 von Reformen im Sinne <strong>der</strong><br />

mo<strong>der</strong>nen Schule abgelöst. Sie schaffen ein völlig neues Gesetzbuch, ohne damit die<br />

weitere Entwicklung des Strafrechts in Richtung auf eine reine Funktionalität zu<br />

beeinflussen.<br />

317<br />

a) Reformen bis 1962<br />

Das 1. StÄG (1951) sucht die „streitbare Demokratie“ durch ein neues politisches<br />

Strafrecht gegen ihre Feinde zu sichern und macht den BGH in erster und letzter<br />

Instanz für Hoch- und Landesverrat zuständig (zur Praxis Pauli, 100 ff.). Im Zeichen<br />

des Kalten Krieges dominiert die Verfolgung von Kommunisten (v. Brünneck). Das<br />

3. StÄG (1953) führt die Strafaussetzung zur Bewährung als Rechtsinstitut ein und<br />

verlangt bei erfolgsqualifizierten Delikten wegen des Schuldprinzips eine zumindest<br />

fahrlässige Herbeiführung (vgl. jetzt § 18 StGB). Der Entwurf eines StGB von 1962<br />

bringt äußerlich Fortschritte, vor allem durch Legaldefinitionen des Vorsatzes, <strong>der</strong><br />

Fahrlässigkeit, des Tatbestands- und Verbotsirrtums (§§ 16–21). Doch ist seine weltanschauliche<br />

Haltung, wie sie sich in <strong>der</strong> Straftheorie und in einzelnen Tatbeständen<br />

nie<strong>der</strong>schlägt, überholt.<br />

Der Entwurf bekennt sich zum Schuldstrafrecht (Begr., 96), sieht den Menschen mit <strong>der</strong> Entscheidung<br />

des Großen Strafsenats BGHSt 2, 200 ff. von 1952 „auf freie, verantwortliche, sittliche<br />

Selbstbestimmung angelegt“ und deshalb für befähigt, „sich für das Recht und gegen das<br />

Unrecht zu entscheiden“. Die von Jescheck traditionell begründete Position bekennt sich zur<br />

Würde <strong>der</strong> menschlichen Person (ZStW 75 [1963], 7) und betont den Strafzweck <strong>der</strong> Vergeltung<br />

(vgl. im Entwurf Begr., 98). Im BT wird <strong>der</strong> Ehebruch beibehalten und strenger bestraft, obwohl<br />

<strong>der</strong> Entwurf die Wirkungslosigkeit sieht (Begr., 348). Die einfache Homosexualität bleibt<br />

strafbar, um sittenbildend zu wirken (Begr., 377), und mit einer Vorschrift gegen die künstliche<br />

Samenübertragung (dazu Begr., 357) steht <strong>der</strong> Entwurf allein.<br />

318<br />

319


114 Teil 6. Die Entwicklung seit 1945<br />

320<br />

321<br />

322<br />

b) Än<strong>der</strong>ungen im Sinne <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Schule<br />

Die Kritik, vor allem Fritz Bauer, hat dem Entwurf intolerante Gesinnungsethik,<br />

weltanschauliche Beflissenheit, moralische Härte und die Vermischung von Recht<br />

und Sittlichkeit vorgeworfen: „Das Erbe unserer Affenzeit ist noch nicht bewältigt“.<br />

Der Alternativ-Entwurf betont in bewusstem Gegensatz die spezialpräventive Aufgabe,<br />

beschränkt sich auf eine Einheitsstrafe und schlägt eine sozialtherapeutische<br />

Anstalt vor; Strafe ist für ihn „kein metaphysischer Vorgang, son<strong>der</strong>n eine bittere<br />

Notwendigkeit in einer Gemeinschaft unvollkommener Wesen“. Die 1969 einsetzende<br />

Reform trägt weitgehend Tendenzen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Schule Rechnung.<br />

Das 1. StRG (1969) beschränkt die kurze Freiheitsstrafe (vgl. jetzt § 47 StGB), kennt nur noch<br />

eine einheitliche Freiheitsentziehung, schafft erstmals eine gesetzliche Grundlage für die Strafzumessung<br />

(vgl. jetzt § 46 StGB) und nimmt das Strafrecht im weltanschaulich kontroversen<br />

Bereich zurück, hebt z. B. die Strafbarkeit des Ehebruchs auf.<br />

Das 2. StRG (1969) schafft einen neuen AT, führt bei <strong>der</strong> Geldstrafe Tagessätze ein (vgl. § 40<br />

StGB), ermöglicht die – 1984 gestrichene – Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt<br />

(§ 65) und beseitigt die Kategorie <strong>der</strong> Übertretungen (§ 12 I, II). Das 4. StRG (1973) beschränkt<br />

das Sexualstrafrecht konsequent auf schutzwürdige Rechtsgüter, „auf den Schutz <strong>der</strong> Jugend<br />

sowie auf den Schutz Erwachsener vor gravierenden Beschränkungen <strong>der</strong> persönlichen Freiheit<br />

und Selbstbestimmung“ (BT-Dr. 6/3521, Vorbl.). Das EGStGB (1974) passt den BT und das<br />

Nebenstrafrecht an den neuen AT an (BT-Dr. 6/3250, 179).<br />

5. Wandlungen im Strafverfahren<br />

Einzelne Gesetze mit Literatur: Gesetz zur Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Rechtseinheit (BGBl 1950,<br />

455 ff.); Rieß, Über das Gesetz zur Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Rechtseinheit, FS Helmrich, 1994,<br />

127 ff.; – StPÄG (BGBl 1964 I 1067 ff.); Begr. in BT-Dr. 4/178; Kaiser (Hg.), Leitfaden zur<br />

kleinen Strafprozeßreform, 1965; Dahs [sen.], Die kleine Strafprozeßreform, NJW 1965, 81 ff.; –<br />

1. StVRG (BGBl 1974 I 3393 ff.); Begr. in BT-Dr. 7/551; Rieß, Der Hauptinhalt des Ersten<br />

Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts (1. StVRG), NJW 1975, 81 ff.; – ErgG zum<br />

1. StVRG (BGBl 1974 I, 3686 ff.); Begr. in BT-Dr. 7/2989; – Antiterrorismus-Gesetz (BGBl<br />

1976 I, 2181 ff.); Begr. in BT-Dr. 7/5401; Dahs [jun.], Das „Anti-Terroristen-Gesetz“ –eine<br />

Nie<strong>der</strong>lage des Rechtsstaates, NJW 1976, 2145 ff.; – Kontaktsperregesetz (BGBl 1977 I 1877 ff.);<br />

Begr. in BT-Dr. 8/935, 943, 944; Jung, Das Kontaktsperre-Gesetz, JuS 1977, 846 f.; – StPO-<br />

Än<strong>der</strong>ungsgesetz (BGBl 1978 I 497 ff.); Begr. in BT-Dr. 8/1482; Jung, [Gesetzgebungsübersicht]<br />

JuS 1978, 499 ff.; – Strafverfahrensän<strong>der</strong>ungsgesetz 1979 (BGBl 1978 I, 1645 ff.); Begr. in BT-Dr.<br />

8/976; [BMJ] Vogel, Strafverfahrensrecht und Terrorismus – eine Bilanz, NJW 1978, 1217 ff.; –<br />

Europäische Konvention zum Schutze <strong>der</strong> Menschenrechte und Grundfreiheiten (1950) (BGBl<br />

1952 II, 685 ff.); Irene Maier (Hg.), Europäischer Menschenrechtsschutz: Schranken und Wirkungen,<br />

1982; – UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) (BGBl 1973 II 1534 ff.),<br />

Denkschrift <strong>der</strong> Bundesregierung in: BRat-Dr. 304/73; Goose, Der internationale Pakt über<br />

bürgerliche und politische Rechte, NJW 1974, 1305 ff.; – Europäisches Abkommen zur Verhütung<br />

von Folter und unmenschlicher o<strong>der</strong> erniedrigen<strong>der</strong> Behandlung o<strong>der</strong> Strafe (BGBl 1989<br />

II 946 ff.; 1990 II 491 f.); Bank, Die internationale Bekämpfung von Folter und unmenschlicher<br />

Behandlung, Diss. Freiburg, 1996; – Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels mit<br />

an<strong>der</strong>en Erscheinungsformen <strong>der</strong> Organisierten Kriminalität (BGBl. 1992 I 1302 ff.); Hilger,<br />

Neues Strafverfahrensrecht durch das OrgKG, NStZ 1992, 457 ff., 523 ff.<br />

Allgemeine Literatur: Achenbach, Kriminalpolitische Tendenzen in den jüngeren Reformen des<br />

Beson<strong>der</strong>en Strafrechts und des Strafprozeßrechts, JuS 1980, 81 ff.; Arzt, Der Ruf nach Recht<br />

und Ordnung, 1976; Deutscher Anwaltverein (Hg.), Anwälte und ihre Geschichte, 2011; Rieß,<br />

Prolegomena zu einer Gesamtreform des Strafverfahrensrechts, FS Schäfer, 1980, 155 ff.; Schlink,<br />

Abwägung im Verfassungsrecht, 1976; H.-L. Schreiber, Tendenzen <strong>der</strong> Strafprozeßreform, in:<br />

Strafprozeß und Reform, 1979, 15 ff.<br />

323<br />

Erste Reformen wollen ein rechtsstaatliches Strafverfahrensrecht restituieren. Die<br />

„kleine“ Strafverfahrensreform in den 60iger Jahren baut rechtsstaatliche Sicherungen


§ 1. Die Entwicklung in <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland<br />

115<br />

aus, während die „große“ Reform in den 70iger Jahren die Belange einer „funktionstüchtigen<br />

Strafrechtspflege“ betont. Grundsätzliche Wandlungen des Verfahrens prägen<br />

die jüngste Entwicklung.<br />

a) Die Beseitigung nationalsozialistischen Unrechts<br />

Als dringendste Aufgabe stellt sich zunächst die Beseitigung nationalsozialistischer<br />

Vorschriften. Das Gesetz von 1950 regelt die Gerichtsorganisation neu und errichtet<br />

den BGH. Im Verfahrensrecht erneuert es das Klageerzwingungsverfahren, das Verbot<br />

<strong>der</strong> reformatio in peius und beseitigt die freie Stellung des Gerichts im Beweisverfahren<br />

(vgl. jetzt § 244 III StPO). Vor allem soll <strong>der</strong> neue § 136 a StPO die Rechtsstellung<br />

des Beschuldigten umfassend sichern. Die RStPO hatte keine ausdrückliche<br />

Bestimmung für nötig gehalten, doch zwingen jetzt die Erfahrungen mit „Gestapo-<br />

Methoden“ dazu.<br />

b) Der Ausbau rechtsstaatlicher Sicherungen<br />

Das Gesetz zur Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> StPO und des GVG von 1964 erweitert die Haftgründe<br />

um die Wie<strong>der</strong>holungsgefahr und um die Schwere <strong>der</strong> Tat (vgl. jetzt §§ 112 a,<br />

112 III); primär will <strong>der</strong> Gesetzgeber die Rechtsstellung des Beschuldigten und seines<br />

Verteidigers wirksam festigen.<br />

Die Haftvoraussetzungen werden enger gefasst; das Schlussgehör nach Abschluß <strong>der</strong> Ermittlungen<br />

(§ 169 b a. F.) soll ungerechtfertigte Anklagen verhin<strong>der</strong>n. Der Verteidiger erhält von<br />

diesem Zeitpunkt an grundsätzlich unbeschränktes Akteneinsichtsrecht (§ 147), und <strong>der</strong> Beschuldigte<br />

ist – gegen Wi<strong>der</strong>stände aus <strong>der</strong> Praxis – deutlich auf sein Schweigerecht und auf seine<br />

Verteidigungsmöglichkeiten hinzuweisen (vgl. §§ 136, 163 a).<br />

Anstöße kommen von <strong>der</strong> Rechtsprechung des BVerfG zu den Justizgrundrechten, namentlich<br />

zum Recht auf Gehör gemäß Art. 103 I GG, und durch die MRK. Sie regelt in Art. 5 die<br />

gerichtliche Freiheitsentziehung, in Art. 6 einzelne Aspekte eines fair trial. Der UN-Pakt von<br />

1966, 1976 in Kraft getreten, enthält zusätzlich das Recht, bei <strong>der</strong> Verhandlung anwesend zu<br />

sein, ein verurteilendes Strafurteil anzufechten, und die Garantie, nicht gegen sich selbst als<br />

Zeuge aussagen o<strong>der</strong> sich schuldig bekennen zu müssen (Art. 14 III d, V, III g). Das Europäische<br />

Anti-Folter-Abkommen schließlich ermöglicht, dass ein Ausschuss die Behandlung Inhaftierter<br />

untersucht (Art. 1, 8).<br />

c) Novellen im Schatten <strong>der</strong> law and or<strong>der</strong>-Bewegung<br />

Die „Große“ Strafverfahrensreform seit 1974 will eine „Gesamtreform durch Teilgesetze“<br />

und betont in zahlreichen Novellen primär die Schnelligkeit und Effektivität<br />

<strong>der</strong> Strafrechtspflege. Das 1. StVRG (1974) schafft die gerichtliche Voruntersuchung<br />

und das Schlussgehör ab. Das Ergänzungsgesetz vom selben Jahr regelt den Verteidigerausschluss<br />

(§§ 138 a ff.) und ermöglicht gemäß §§ 231 a, 231 b ein Verhandeln<br />

in Abwesenheit des Angeklagten. Anschließende Än<strong>der</strong>ungen erwachsen aus <strong>der</strong><br />

Bedrohung durch den Terrorismus und verstärken die vom BVerfG abgesicherte<br />

Tendenz, im Konflikt zwischen Interessen <strong>der</strong> Allgemeinheit und solchen des individuell<br />

Betroffenen den Belangen einer „funktionstüchtigen Strafrechtspflege“ den Vorrang<br />

zu geben (vgl. BVerfGE 33, 367, 383 und zuletzt 77, 65, 76; zur Kritik Schlink,<br />

100 ff.; Arzt, 71, 96, 165; Hamm/Michalke, DAV, S. 411 ff., 416 sowie dort die<br />

Kontroverse zur Verteidigung in RAF-Prozessen zwischen Lampe [S. 431 ff.] und v.<br />

Plottnitz [S. 459 ff.]).<br />

Als Einzelregelungen erleichtert das Antiterrorismus-Gesetz (1976) die Haft beim Verdacht <strong>der</strong><br />

Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung im Sinne des § 129 a StGB und ermöglicht,<br />

den schriftlichen Verkehr des Verteidigers mit dem Beschuldigten zu überwachen (vgl. §§ 112<br />

III, 148 II, 148 a n. F.). Das Kontaktsperre-Gesetz (1977) gestattet, Gefangene untereinan<strong>der</strong> und<br />

324<br />

325<br />

326<br />

327<br />

328<br />

329


116 Teil 6. Die Entwicklung seit 1945<br />

von <strong>der</strong> Außenwelt zu isolieren, wenn <strong>der</strong> Verdacht besteht, von einer terroristischen Vereinigung<br />

drohten Gefahren für Leib, Leben o<strong>der</strong> Freiheit eines Dritten (§§ 31 ff. EGGVG). Das<br />

Gesetz von 1978 ermöglicht in Terrorismus-Verfahren die Überwachung mündlicher Verteidigergespräche<br />

und die Überprüfung auch Unverdächtiger an Kontrollstellen (§§ 148 II 3,<br />

111 n. F.), womit die Grenzen zwischen präventiver und repressiver Tätigkeit <strong>der</strong> Polizei fließend<br />

werden.<br />

6. Die Entstehung des Strafvollzugsgesetzes<br />

Quellen: Dienst- und Vollzugsordnung (1961), BayJMBl 1962, 44 ff.; Kommissionsentwurf<br />

eines Strafvollzugsgesetzes (1971), hg. v. BJM, 1971; Regierungsentwurf eines Strafvollzugsgesetzes<br />

(1972), BT-Dr. 7/918; Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, 1973; Strafvollzugsgesetz<br />

(BGBl 1976 I 581 ff.).<br />

Literatur: Dünkel/Rosner, Die Entwicklung des Strafvollzugs in <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland<br />

seit 1970, 2. Aufl. 1982; Jung, Das Strafvollzugsgesetz, JuS 1977, 203 ff.; Kaiser/Schöch,<br />

Strafvollzug, 5. Aufl. 2002; Teresa Müller, Die Haltung <strong>der</strong> Parteien in <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

Deutschland zu den Problemen von Strafe und Strafvollzug, Diss. sozialwiss. Tübingen, 1977;<br />

Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetzgebung und Strafvollzugsreform, 1970; Quedenfeld, Der Strafvollzug<br />

in <strong>der</strong> Gesetzgebung des Reiches, des Bundes und <strong>der</strong> Län<strong>der</strong>, Diss. Tübingen, 1971;<br />

Schattke, Die Geschichte <strong>der</strong> Progression im Strafvollzug, Diss. Kiel, 1979.<br />

330<br />

331<br />

Die Regelung des Strafvollzugs wird als letzter Teilbereich des Strafrechts in Angriff<br />

genommen. Die Dienst- und Vollzugsordnung von 1961 schafft als Verwaltungsabkommen<br />

<strong>der</strong> Län<strong>der</strong> eine äußere Vereinheitlichung, bleibt jedoch in ihrer Geltung<br />

unklar. Die Entwürfe seit 1971 bereiten eine gesetzliche Regelung vor, die insbeson<strong>der</strong>e<br />

das Ziel <strong>der</strong> Resozialisierung festschreibt, die Reformziele des materiellen Rechts<br />

aufnimmt und die Rechtsstellung des Gefangenen verbindlich regelt. Das Strafvollzugsgesetz<br />

von 1976 trägt diesen Vorstellungen weitgehend Rechnung.<br />

Der Kommissionsentwurf von 1971 geht kaum über die DVollzO hinaus. Ebenso wird dem<br />

Regierungsentwurf von 1972, <strong>der</strong> sich auf ein Behandlungsziel statt eines Vollzugsziels beschränkt<br />

(BT-Dr. 7/918, Begr., 44), dessen mangelnde Durchsetzung vorgeworfen, während <strong>der</strong><br />

Alternativ-Entwurf von 1973 entschieden die Therapie gegenüber Erwägungen von Sicherheit<br />

und Ordnung betont. Das BVerfG verabschiedet 1972 die noch <strong>der</strong> DVollzO zugrunde liegende<br />

Lehre vom „beson<strong>der</strong>en Gewaltverhältnis“ und zwingt zu einer gesetzlichen Regelung (BVerf-<br />

GE 33, 1, 10 ff.).<br />

§ 2. Die Entwicklung in <strong>der</strong> DDR<br />

1. Die Justiz im politischen System<br />

Quellen: a) Verfassung von 1968 i. d. F. von 1974 (GBl DDR 1974 I 434 ff.), Gerichtsverfassungsgesetz<br />

von 1963 i. d. F. von 1987 (GBl DDR 1987 I 302 ff.). – Entscheidungen des OG <strong>der</strong><br />

DDR in Strafsachen (OGSt), ab Bd. 1, 1951.<br />

b) Literatur aus <strong>der</strong> DDR: Arlt-Stiller, Entwicklung <strong>der</strong> sozialistischen Rechtsordnung in <strong>der</strong><br />

DDR, 1976; Benjamin und Autorenkollektiv, Zur Geschichte <strong>der</strong> Rechtspflege <strong>der</strong> DDR 1945–<br />

1949, 1976; dies., Zur Geschichte <strong>der</strong> Rechtspflege <strong>der</strong> DDR 1949–1961, 1980; dies., Zur<br />

Geschichte <strong>der</strong> Rechtspflege <strong>der</strong> DDR 1961–1971, 1986; Gysi, Zur Vervollkommnung des<br />

sozialistischen Rechtes im Rechtsverwirklichungsprozeß, Diss. Berlin (HU), 1976; Marxistische<br />

Staats- und Rechtstheorie, Bd. 4, 1976; Melzer und Autorenkollektiv, Staats- und Rechtsgeschichte<br />

<strong>der</strong> DDR, 1983; Schöneburg, Geschichte des Staates und des Rechts <strong>der</strong> DDR,<br />

Dokumente 1945–1949, 1984.

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