Jenische in der Schweiz: Lange kostenintensiv ... - Thomas Huonker

Jenische in der Schweiz: Lange kostenintensiv verfolgt, seit kurzem sparsam gefördert
von «Zigeunern» durch ihn und seinen Mitarbeiterstab waren Vorarbeit und
Bestandteil der Verfolgung und Vernichtung von hunderttausenden Sinti,
Roma und Jenischen im Dritten Reich. 34
Das Theorem Ritters vom «larvierten Schwachsinn», der unter
«Vagabunden, Jaunern und Räubern», wie er die Jenischen im Titel seiner
Habilitationsschrift nannte, 35 verbreitet sei, zeigt deutliche Bezüge zu den
Auffassungen Jörgers; Ritter bezieht sich ausdrücklich auf schweizerische
Informationsquellen. 36 Die diffamierende Pauschaldiagnose des kollektiven
erblichen Schwachsinns der Bündner Jenischen wird so zwanzig Jahre später
auf den von Ritter erforschten «Menschenschlag» übertragen: «Diese schwachsinnigen
Strolche haben ihr unstetes Wesen, ihren Hang zur Landstreicherei
und zum Herumlungern im Freien von ihren heimatlosen Vorfahren geerbt.»
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Ritter schildert deren Lebensweise um 1870, negative Stereotype kolportierend
und in diffamierender Wortwahl: «Sie besitzen einen Karren, auf dem sie
Bettzeug und Kochgeschirr mit sich führen, die Fähigeren haben vor diesem
einen Esel gespannt oder nennen sogar ein Pferd und einen Planwagen ihr
eigen. Die Weiber handeln mit Geschirr, Spitzen oder Kurzwaren, nebenher
aber betteln sie, sagen wahr, verkaufen Heilkräuter und fangen Geflügel mit
geschickter Hand. (…) Sie sprechen noch untereinander die jenische Sprache
und erweisen sich als die geborenen Gauner. Unter dem Landvolk kennen sie
sich aus und wissen die Dummen unter ihm zu betrügen. Einzelne verstehen
auch die Sprache der Zigeuner und haben ein Zigeunerbastardmädchen
zur Frau.» 38 Anhand der Sprache unterscheidet Ritter folglich den in seiner
Habilitationsschrift dargestellten «Menschenschlag» der Jenischen von den
«Zigeunern», den Sinti und Roma. In enger Zusammenarbeit mit Polizeistellen
verfolgte er später in seiner Funktion als Leiter der rassenhygienischen
und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt
die systematische Erfassung dieser beiden Bevölkerungsgruppen, mit dem
Ziel einer darauf folgenden Deportation in Arbeits-, Konzentrations- und
Vernichtungslager. 39
34 Vgl. u.a. Benno Müller-Hill: Tödliche Wissenschaft. Die Aussonderung von Juden,
Zigeunern und Geisteskranken 1933–1945, Hamburg, 1984; Romani Rose: «Den
Rauch hatten wir täglich vor Augen…» Der nationalsozialistische Völkermord an
den Sinti und Roma, Heidelberg, 1999.
35 Robert Ritter: Ein Menschenschlag. Erbärztliche und erbgeschichtliche Untersuchungen
über die – durch 9 Geschlechterfolgen erforschten – Nachkommen von
«Vagabunden, Jaunern und Räubern», Habil, Tübingen, Leipzig, 1937.
36 Ritter, Menschenschlag, 1937: 9: 81.
37 Ritter, Menschenschlag, 1937: 107.
38 Ritter, Menschenschlag, 1937: 105.
39 Zur Darstellung der Jenischen bei Ritter und anderen «Erbärzten» und «Kriminalbiologen»
der Nazizeit vgl. Andrea d’Arcangelis: Die Jenischen, verfolgt im NS-Staat
Fahne 3.12.08
© Seismo Verlag, Zürich
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