BERICHT ÜBER DIE WERKWOCHE ›ETUDES‹ - PACT Zollverein
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Bericht über die Werkwoche ›Etudes‹<br />
des Klavier-Festivals Ruhr und des Gymnasiums Essen-Werden<br />
im Rahmen von tanzplan essen 2010<br />
Von Corina Kolbe<br />
16. – 22. Juni 2008, Gymnasium Essen Werden<br />
Öffentliche Präsentation: 22. Juni, 18 Uhr, bei <strong>PACT</strong> <strong>Zollverein</strong>, Essen<br />
I) Projektbeschreibung<br />
Auf die Frage, wie er eigentlich auf die Idee gekommen sei, hochvirtuose<br />
Klavieretüden zu komponieren, antwortete der ungarische Komponist György<br />
Ligeti (1923–2006) mit dem ihm eigenen Understatement: »Der auslösende<br />
Umstand war vor allem meine ungenügende pianistische Technik«. Wie<br />
alle großen Etüden der musikalischen Tradition sind Ligetis Etüden Studien<br />
in einem mehrfachen Sinne. Während sie den Instrumentalisten zwingen,<br />
seine Spieltechnik und seine motorischen Fähigkeiten weiterzuentwickeln,<br />
stellen sie den Komponisten vor die Herausforderung, mit einem begrenzten<br />
Materialbestand möglichst kreativ umzugehen. Aufgrund ihrer besonderen<br />
Eigenschaften sind Etüden also ein idealer Gegenstand, um über das komplexe<br />
Wechselspiel von künstlerischer Imagination, Körperbewegung und<br />
Instrument nachzudenken, das jedem schöpferischen Akt zugrunde liegt.<br />
In der Werkwoche Etudes, die von der Education-Abteilung des Klavier-<br />
Festival Ruhr konzipiert und in Zusammenarbeit mit dem Gymnasium Essen<br />
Werden veranstaltet wurde, haben sich Schülerinnen und Schüler zwischen<br />
dem 16. und dem 22. Juni 2008 intensiv mit dem Thema Etüden und Ligetis Musik befasst. Ziel des Projekts war es, die<br />
Thematik möglichst interdisziplinär zu erschließen und unterschiedliche Kunstformen in diesen Prozess einzubeziehen.<br />
Das Format der Werkwoche, das tanzplan essen 2010 im Hinblick auf die Erprobung neuer Lern-, Lehr- und Kooperationsmodelle<br />
entwickelt hat, bot für dieses Vorhaben einen idealen Rahmen.<br />
Den Kern der Werkwoche bildeten täglich stattfindende Tanz- und Musikworkshops, in denen die Projektteilnehmer selbst<br />
künstlerisch aktiv wurden. Während fortgeschrittene Schüler der Tanzabteilung des Gymnasiums Essen Werden sich<br />
Ligetis Musik gemeinsam mit der Choreographin Isabelle Schad tänzerisch erschlossen, entwickelten die Teilnehmer der<br />
Musikworkshops unter Leitung des zypriotischen Komponisten Vassos Nicolaou Gruppenimprovisationen und komponierten<br />
ihre eigenen Etüden.
Abgerundet wurde die Werkwoche durch vier Veranstaltungen, die sich an alle Projektteilnehmer richteten und die Orte<br />
des Austausches und der Begegnung sein sollten: zwei Gesprächskonzerte mit der Pianistin Tamara Stefanovich, ein gemeinsamer<br />
Tanz-Workshop mit Isabelle Schad sowie ein Seminar mit dem Neurowissenschaftler Hans-Christian Jabusch,<br />
der die Teilnehmer in den Themenbereich ›senso-motorisches Lernen‹ einführte. Die Ergebnisse der Werkwoche wurden<br />
am Sonntag, den 22. Juni 2008 um 18 Uhr in Pact <strong>Zollverein</strong> präsentiert. Im Anschluss gestaltete Tamara Stefanovich<br />
einen Klavierabend, bei dem neben ausgewählten Ligeti-Etüden auch fünf neue Etüden von Vassos Nicolaou uraufgeführt<br />
wurden, die der Komponist im Auftrag des Klavier-Festivals Ruhr geschrieben hat.<br />
II) Zielsetzungen<br />
Die Werkwoche sollte den Schülern Gelegenheit zu neuen Erfahrungen<br />
geben – zum einen durch die Auseinandersetzung mit den Kompositionen<br />
Ligetis und mit Neuer Musik im Allgemeinen, andererseits auch durch einen<br />
für sie ungewohnten Umgang mit ihrem Körper und ihren Instrumenten. Das<br />
Projekt ist Teil des 2007 gegründeten Education-Programms des Klavier-Festivals<br />
Ruhr, das Kinder und Jugendliche zu einem schöpferischen Umgang<br />
mit Musik und anderen Kunstformen anregen will. Im Rahmen der Projektreihe<br />
›Entdeckungen – Discovery Projects‹ hat das Festival nach dem ›Discovery<br />
Project 2 – Remix‹ 2007 nun bereits zum zweiten Mal mit dem Gymnasium<br />
Essen Werden zusammengearbeitet.<br />
Die Schülerinnen und Schüler aus dem Fachbereich Tanz und aus Musikkursen<br />
des Gymnasiums sowie externe Teilnehmer erkundeten mit Vassos<br />
Nicolaou und Isabelle Schad vielfältige Möglichkeiten, um vorgegebene<br />
Regelwerke durch eigenes Improvisieren kreativ weiterzuentwickeln. Von den Teilnehmern wurde ein hohes Maß an<br />
Eigenverantwortung und zugleich die Bereitschaft zu konstruktiver Arbeit innerhalb ihrer Gruppe erwartet. Die Schüler<br />
konnten im Laufe der Woche frei entscheiden, ob sie bis zum Ende an den Workshops teilnehmen wollten. Die meisten<br />
von ihnen blieben bis zum Schluss in ihrer Gruppe und zeigten sich damit bereit, mit den anderen auf ein gemeinsames<br />
Ziel hinzuarbeiten.<br />
III) Verlauf der Werkwoche<br />
a) Tanzworkshops<br />
Unter Leitung von Isabelle Schad beschäftigten sich 15 Schülerinnen und Schüler auf der Bewegungsebene mit zwei<br />
Etüden Ligetis: ›L’escalier du diable‹ (›Die Teufelstreppe‹) und ›Fém‹ (›Metall‹). Die täglichen Workshops, die von 9 Uhr<br />
morgens teils bis in den späten Nachmittag hinein dauerten, begannen mit längeren Aufwärmphasen, in denen das<br />
Grundgerüst für die späteren Improvisationen erarbeitet wurde.
Schad, die sich nach langjähriger Tätigkeit in klassischen Ballettkompanien als freie Choreografin international einen<br />
Namen gemacht hat, arbeitet nach der Methode des Body-Mind-Centering (BMC), die in den 1970er Jahren von der US-<br />
Bewegungsforscherin Bonnie Bainbridge entwickelt wurde. Durch intensive Beschäftigung mit der Struktur der Körpersysteme<br />
(Knochen, Organe, Muskeln, Nerven, Drüsen) sollen ursprüngliche Bewegungsmuster aus der Kindheit wiederbelebt<br />
werden. Dabei wird auch das Verhältnis des menschlichen Körpers zur Schwerkraft der Erde erkundet.<br />
Die Teilnehmer der Tanzworkshops hatten sich im Schulunterricht bisher vor allem mit klassischem Ballett befasst. Das<br />
Gymnasium Essen Werden bietet als einziges grundständisches Gymnasium in Deutschland neben dem klassisch-akademischen<br />
Angebot auch eine vorberufliche Tanzausbildung und fördert darüber hinaus schwerpunktmäßig die Musikerziehung.<br />
Schads Körperarbeit sowie tänzerische Improvisationen waren den Schülern zu Beginn der Werkwoche weitgehend<br />
fremd. »Auf Dauer war der Tanzworkshop sehr anstrengend, da man sich ständig mit sich selbst beschäftigt und sich<br />
auch immer bemüht, locker zu lassen«, bekannte ein Schüler. »Irgendwann kann man nicht mehr.«<br />
Die Choreografin versuchte, das Körperbewusstsein der Tänzer zu stärken und sie für die Interaktion mit den übrigen<br />
Gruppenteilnehmern zu sensibilisieren. Zu Anfang stieß Schad mit ihren Ideen in der Gruppe auf Skepsis. Nach und nach<br />
gelang es ihr jedoch, Barrieren zu überwinden und bei den meisten Schülern Neugier auf neue Erfahrungen zu wecken.<br />
»Am ersten Tag war ich erstaunt, wie stark für einige Schüler das Denken über einen ästhetischen Körper vom klassischen<br />
Ballett geprägt war«, sagte sie. »Es hat mich einiges an Überzeugungskraft gekostet, die Schüler auf meine Seite<br />
zu bringen und zu schauen, wo wir gemeinsam hingehen können.« Eine Teilnehmerin sagte später, sie habe es sehr interessant<br />
gefunden, wie Isabelle Schad es geschafft habe, Musik und Tanz zu verbinden, indem sie mit den menschlichen<br />
Sinnen und Reaktionen gearbeitet habe. Insgesamt war die Fluktuation in der Gruppe recht hoch: Einige Schülerinnen<br />
schieden auf eigenen Wunsch aus dem Projekt aus, andere mussten verletzungsbedingt pausieren. Zum Teil war dies<br />
auch auf die hohe Beanspruchung der Schüler durch ihre Ausbildung zurückzuführen. Unmittelbar vor Beginn der Werkwoche<br />
hatten die Tänzer an intensiven Proben und einer Reihe von öffentlichen Aufführung an ihrer Schule teilgenommen.
Beim morgendlichen Warm-up gab Schad zunächst bestimmte Bewegungsrichtungen<br />
und die Fokussierung auf bestimmte Körperteile<br />
vor. Bei Einzel-, Paar- und Gruppenübungen am Boden oder im Stehen<br />
sollten die Teilnehmer ihren eigenen Körper und den der jeweiligen<br />
Partner durch Berührungen erkunden und innere Energien freisetzen. Im<br />
Folgenden entwarfen die Teilnehmer eigene Bewegungsabläufe, über<br />
die sie zu anderen Gruppenmitgliedern in Kontakt traten. »Es wäre übertrieben<br />
zu sagen, dass sich in einer einzigen Woche das Körpergefühl<br />
ändert«, sagte eine Schülerin. »Ich habe aber viele neue Möglichkeiten<br />
entdeckt, meinen Körper zu bewegen.« Schads Methode basiert darauf,<br />
dass sich die Tänzer einerseits lockern, eine innere Balance finden und<br />
sich ihren Partnern annähern. Andererseits sollen sie durch gegenläufige<br />
Bewegungen auch Spannung aufbauen. Jeder Tänzer, so Schad,<br />
müsse eigenverantwortlich Entscheidungen treffen und zugleich mit den<br />
anderen in der Gruppe kommunizieren. Eine übertriebene, dramatische<br />
Selbstinszenierung des Einzelnen soll zugunsten eines schlichten,<br />
authentischen Ausdrucks innerhalb der Gruppe vermieden werden.<br />
Ausgehend von Schads Leitlinien erarbeiteten die Teilnehmer ihrer Workshops rhythmische Improvisationen zu den beiden<br />
Ligeti-Etüden. Mit der Musik Ligetis hatten sich die Schüler vorher nicht beschäftigt. Ihr erster Eindruck war geteilt:<br />
Viele fanden die Struktur der Stücke chaotisch und vermissten einen roten Faden. Im Laufe der Woche wurde ihnen die<br />
Musik aber sichtlich vertrauter, und es gelang ihnen, neue Bewegungsabläufe dazu zu entwerfen. Die Polyrhythmik in<br />
›L’escalier du diable‹ vermittelt den Eindruck von einer Treppe, die sich ins Unendliche fortsetzt. Schad regte die Tänzer<br />
dazu an, zu der Musik rhythmische Gegengewichte zu schaffen. Demnach sollte Choreografie die Partitur nicht Note für<br />
Note illustrieren, sondern auch widersprüchliche Akzente setzen. Daraus resultierte eine spannungsgeladene Wechselbeziehung<br />
zwischen Individuen und Gruppe: Die Tänzer bildeten beispielsweise einen durch den Raum zirkulierenden<br />
Schwarm, aus dem Einzelne ausbrachen, um später wieder zur Gruppe zu stoßen. In die Choreografie wurden außerdem<br />
Bewegungselemente aus dem brasilianischen Kampftanz Capoeira und Karatesprünge aufgenommen. Auch Ligetis Etüde<br />
›Fém‹ spielt mit rhythmischen Kontrasten. Dem harten Charakter von Metall (ungarisch ›Fém‹) wird die Vorstellung von<br />
Licht (ungarisch ›Fény‹) gegenübergestellt. Bei der tänzerischen Umsetzung des Stücks gruppierten sich die Schüler in<br />
wechselnden Trios und Quartetten, wobei sie durch unterschiedliche Rhythmen Widerstände ausübten und variierende<br />
Bewegungsmuster entstehen ließen.<br />
b) Musikworkshops<br />
Vassos Nicolaou hielt während der Werkwoche täglich einen anderthalbstündigen Musik-Workshop ab, in dem neun<br />
Schülerinnen und Schüler sowie ein angehender Student mit verschiedenen Instrumenten Improvisationen erarbeiteten.<br />
Darüber hinaus bot Nicolaou allen Teilnehmern Einzelunterricht im Komponieren an, der jeden Nachmittag im Anschluss
an die Gruppenworkshops stattfand. Die gemeinsame Arbeit entwickelte sich während der Woche gut. Die meisten<br />
Teilnehmer, unter ihnen auch zwei Schüler der Freien Waldorfschule Essen, führten das Projekt zu Ende. Ausgehend von<br />
den Kompositionen Ligetis und Nicolaous entwarfen die Schüler zwei eigene Improvisationen, bei denen sie mit Musik<br />
der Moderne experimentierten. Mehrere Musiker hatten bereits improvisiert, allerdings vorwiegend im Bereich des Jazz<br />
und der Popmusik. Sechs Schüler komponierten außerdem nach individueller Anleitung von Nicolaou eigene Etüden<br />
für Violine, Bratsche, Querflöte, Blockflöte, Klavier und Holzblock. Die Kompositionen Ligetis fanden die Teilnehmer der<br />
Workshops zunächst sehr gewöhnungsbedürftig, da sie sich mit dieser Musik bisher nicht intensiv auseinander gesetzt<br />
hatten. »Im Laufe der Woche glaube ich aber, seine Vorstellungen und Ideen begriffen zu haben«, sagte eine Musikerin.<br />
Nicolaou gab in dem Workshop<br />
bestimmte Grundregeln vor, die von<br />
den Schülern eigenständig und kreativ<br />
in Musik umgesetzt wurden. Unter<br />
Anleitung des Komponisten entstanden<br />
im Laufe der Woche immer komplexere<br />
musikalische Strukturen. Sie habe keine<br />
konkreten Erwartungen an das Projekt<br />
gehabt, sagte eine Schülerin. »Allerdings<br />
habe ich mir das in einer stärker<br />
strukturierten Form vorgestellt. Alles war angenehm frei.« Er habe vorher keine Vorstellung davon gehabt, wie sich die<br />
Improvisationen und Kompositionen entwickeln würden, sagte Nicolaou. So etwas hänge stark davon ab, wie offen die<br />
Teilnehmer seien. Ausschlaggebend für das Gelingen des Projekts war die Bereitschaft, aufeinander zu hören und zu reagieren.<br />
Beim Improvisieren wurde allen deutlich, dass es nicht in erster Linie darum ging, in jedem Moment etwas Neues<br />
zu erfinden. Vielmehr wurde das in der Gruppe erarbeitete Material immer wieder aus der Erinnerung reproduziert und in<br />
weiteren Schritten ergänzt. Zwischen Komponieren und Improvisieren sieht Nicolaou einen grundsätzlichen Unterschied.<br />
Während der Komponist am Anfang frei mit seinem Material umgeht und dieses im Laufe seiner Arbeit bestimmten<br />
Schemata und Regeln anpasst, ist es beim Improvisieren genau umgekehrt.<br />
Die erste Improvisation ›Frage/Antwort/Meinung‹ für Blockflöte, Flöte, zwei Schlagzeugspieler, Klavier, Violine und<br />
Bratsche basierte auf einfachen Kommunikationsregeln, die zu einem polyphonen Musikstück erweitert wurden. Um die<br />
Mehrstimmigkeit noch evidenter zu machen, nahmen die Musiker im Raum verteilte Positionen ein. Das Ergebnis ihrer<br />
Arbeit klang laut Nicolaou fast wie ein durchkomponiertes Stück. Bei der zweiten Improvisation ›Après Ligeti‹ für Blockflöte,<br />
Flöte, Fagott, zwei Schlagzeugspieler, Klavier, Violine und Bratsche gab Nicolaou viel Tonmaterial vor. Obligatorisch<br />
waren beispielsweise bestimmte Quinten, Akkorde und chromatische Skalen, aus denen ein polyphones Stück gestaltet<br />
wurde. Eine Stoppuhr auf einem Computermonitor zeigte den Schüler(innen) an, wann welche Elemente gespielt werden<br />
sollten. Damit sollte es ihnen erleichtert werden, aus dem heterogenen musikalischen Material ein zusammenhängendes<br />
Ganzes zu schaffen.
c) Veranstaltungen für alle Teilnehmer<br />
Zusätzlich zu den Workshops im Bereich Tanz und Musik fanden während der Werkwoche Veranstaltungen statt, zu denen<br />
alle Teilnehmer eingeladen waren. Diese Begegnungen dienten dem interdisziplinären Erfahrungsaustausch zwischen<br />
den Schülern, Tamara Stefanovich, Vassos Nicolaou und dem Neurologen Hans-Christian Jabusch. Die Werkwoche zielte<br />
von vornherein nicht nur auf einen Dialog zwischen Leitern und Teilnehmern der Workshops, sondern auch zwischen den<br />
beteiligten Künstlern und dem Wissenschaftler ab.<br />
Bei zwei Gesprächskonzerten (Lecture-Recitals) stellte Stefanovich ausgewählte Etüden von Ligeti und Nicolaou vor.<br />
Die Besucher der Veranstaltung erfuhren dabei, wie sich das Verhältnis zwischen Komponist und Interpret entwickeln<br />
kann. In den vergangenen Jahren hatte Stefanovich bereits mehrfach Stücke von Nicolaou gespielt. Die während des<br />
Klavier-Festivals uraufgeführten Etüden hat der Komponist eigens für sie geschrieben. Die Pianistin sagte während des<br />
Gesprächskonzerts, dass ein Interpret mit der Uraufführung eines Stückes eine große Verantwortung gegenüber dem<br />
Komponisten übernehme. Über die Entstehung des Stückes müsse der Interpret allerdings nicht alles wissen, zitierte sie<br />
den Komponisten Arnold Schönberg.<br />
Stefanovich erklärte den Schülern Strukturen und Besonderheiten der Etüden. Beim Üben auf dem Klavier komme es<br />
nicht allein darauf an, die Finger durch sture Wiederholungen zu kräftigen, sagte sie. Mindestens ebenso wichtig ist es<br />
demnach, das innere Hören und das mentale Üben zu trainieren. Anders als etwa in den Etüdensammlungen von Czerny<br />
und Hanon sollten laut Stefanovich technische Probleme des Klavierspiels nicht isoliert, sondern im Zusammenhang<br />
betrachtet werden. Nach Ansicht von Isabelle Schad sind diese Erkenntnisse auch auf die tänzerische Praxis anwendbar.<br />
Mentales Training sei für Tänzer ebenfalls unerlässlich. Das konnte auch ein Teilnehmer der Tanzgruppe bestätigen:<br />
»Viele Sachen, die für die Musiker gelten, kann man auf den Tanz übertragen.«<br />
Ligetis hochvirtuose Etüden, in denen sich rhythmische und dynamische Patterns überlagern und gegeneinander verschieben,<br />
stellen Interpreten und Zuhörer vor besondere Herausforderungen. Die Komplexität der Stücke lässt sich durch<br />
Parallelen zur bildenden Kunst weiter veranschaulichen. ›L’escalier du diable‹ lässt sich zu der Zeichnung ›Trepp auf, trepp<br />
ab‹ des niederländischen Grafikers Maurits Cornelis Escher in Beziehung setzen. Aufgrund einer optischen Täuschung<br />
scheint die Treppe bei Escher nirgendwo zu enden. Ligeti wiederum spielte in seiner Komposition mit dem Phänomen<br />
der akustischen Täuschung, die ebenfalls eine Endlosschleife erzeugt. Interpreten und Zuhörer werden dadurch in ihrer<br />
Wahrnehmung irritiert und müssen von eingeübten Spiel- und Hörschemata abrücken. Auch Vassos Nicolaou arbeitet mit<br />
psycho-akustischen Täuschungen. In seiner neuen Etüde ›Anodos‹ ruft er beispielsweise die Illusion von Mehrstimmigkeit<br />
hervor, die in Wirklichkeit auf einer einzigen Linie beruht.<br />
In seiner Etüde ›Touches bloquées‹ verdeutlicht Ligeti weiter den Zusammenhang zwischen Vorstellung und taktil-motorischer<br />
Ausführung von Musik. In dem Stück werden Tasten blockiert, dennoch nimmt der Interpret die ausfallenden Töne<br />
so wahr, so als hätte er sie tatsächlich gespielt. Welche Funktionen beim Musizieren im Gehirn ausgelöst werden und<br />
welche Formen des Übens besonders sinnvoll sind, erklärte der Pianist und Mediziner Hans-Christian Jabusch vom Insti-
tut für Musikphysiologie und Musikermedizin der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Ligeti selbst war sehr<br />
interessiert an Naturwissenschaften und führte einen intensiven Erfahrungsaustausch mit dem Neurobiologen Gerhard<br />
Neuweiler.<br />
In dem Seminar ›Die Neurobiologie des Musizierens und<br />
Konsequenzen fürs Üben‹ erläuterte Jabusch den Teilnehmern<br />
der Werkwoche, dass Pianisten bereits durch das Spielen auf<br />
einer stummen Klaviatur in ihrem Gehirn Bewegungszentren<br />
und Hörkortex aktivieren. Selbst bei Anfängern entstehen schon<br />
während der ersten Klavierstunde im Hirn neue Vernetzungen,<br />
die sich durch regelmäßiges Üben weiter verdichten. Übertriebenes<br />
Üben am Instrument führt allerdings zu Ermüdungserscheinungen<br />
und ist damit ineffizient. Jabusch plädierte daher<br />
auch für mentales Üben, das auch bei Sportlern wie Stabhochspringern<br />
fester Bestandteil des Trainings ist. In die darauffolgende Diskussion mit dem Wissenschaftler konnten die<br />
Projektteilnehmer ihre eigenen Erfahrungen einbringen und Ratschläge, zum Beispiel zur Bekämpfung von Lampenfieber,<br />
einholen. Viele der neuen Erkenntnisse wie etwa das mentale Lernen habe sie unbewusst bereits angewendet, sagte<br />
eine Teilnehmerin der Tanzgruppe. Sie habe es sehr interessant gefunden, dass in dem Seminar die Abläufe im Gehirn<br />
und die dazugehörigen Zusammenhänge zum Körper untersucht worden seien.<br />
In dem gemeinsamen Workshop für Tänzer und Musiker ließ Isabelle Schad die Teilnehmer ungewohnte Formen visueller<br />
Wahrnehmung in Bewegung ausprobieren. Der Fokus lag zunächst auf peripherem Sehen: Beim Laufen durch den Raum<br />
mussten die Schüler eine andere Person fixieren und dann eine weitere in ihr Blickfeld nehmen, wobei die Entfernung<br />
zwischen diesen beiden Partnern gleich groß bleiben musste. Später konzentrierte sich das Sehen auf Teile des eigenen<br />
Körpers, die dann zusammen mit dem räumlichen Hintergrund wahrgenommen werden sollten. Für die Teilnehmer war<br />
dies eine neue Erfahrung: Viele von ihnen empfanden Schwindelgefühle beim Fokussieren und sahen verschwommen. Ein<br />
Teilnehmer der Musikgruppe beschrieb den gemeinsamen Tanzworkshop als »ein bisschen ungewohnt und komisch«.<br />
IV) Abschlusspräsentation<br />
Die Ergebnisse der Musik- und Tanzworkshops wurden am 22. Juni in einer Veranstaltung im Pact <strong>Zollverein</strong> in Essen vorgestellt.<br />
Begleitet von Tamara Stefanovich führte die Tanzgruppe zuerst ihre Choreografie zu ›Fém‹ auf, darauf folgte die<br />
Präsentation der Improvisationen und Etüden der Musiker. Abschließend brachten die Tänzer ihre Version von ›L’escalier<br />
du diable‹ auf die Bühne. Das Publikum reagierte mit begeistertem Applaus und großer Anerkennung für die Leistungen<br />
der Workshopteilnehmer. Vassos Nicolaou und Isabelle Schad sowie die Leiter der Education-Programms, Tobias Bleek<br />
und Richard McNicol, erläuterten zwischen den einzelnen Aufführungen das Konzept der Werkwoche und den Ablauf der<br />
Workshops. Im Anschluss an die Präsentation führte Stefanovich in einem Solokonzert Etüden von Ligeti, Nicolaou und<br />
Vasilije Mokranjac auf. Die Etüden, mit denen sich die Schüler schöpferisch auseinander gesetzt hatten, waren somit<br />
auch in das Hauptprogramm des Klavier-Festivals Ruhr integriert.
V) Reaktionen auf die Werkwoche<br />
Die Werkwoche hat bei den Beteiligten ein überwiegend positives Echo gefunden. An die Schüler wurden Fragebögen<br />
ausgegeben, auf denen sie ihre Projekterfahrungen sowie Lob, Kritik und Verbesserungsvorschläge festhielten. Die befragten<br />
Schüler am Fachbereich Tanz hatten sich vor dem Projekt bereits intensiv mit Musik auseinander gesetzt. Manche<br />
von ihnen hatten selbst ein Instrument erlernt und das Spielen inzwischen wegen ihrer zeitintensiven Tanzausbildung<br />
aufgegeben. Ihnen war der Zusammenhang zwischen den beiden Disziplinen oftmals bewusster als den jungen Musikern,<br />
die zumeist keine eigenen Erfahrungen mit Tanz gemacht haben.<br />
Die Arbeit in den Workshops war für viele Schüler<br />
eine wertvolle neue Erfahrung. Sie gingen größtenteils<br />
ohne konkrete Erwartungen in das Projekt.<br />
»In dem Projekt habe ich gelernt, dass man immer<br />
offen für neue Methoden sein sollte«, sagte ein<br />
Teilnehmer der Tanzgruppe. Eine Schülerin aus der<br />
Tanzabteilung betonte, dass die Werkwoche Durchhaltevermögen<br />
erfordert habe. Dies sieht sie als<br />
wichtige Voraussetzung für ihre weitere Ausbildung<br />
und ihren späteren Beruf. Andere Tänzer haben<br />
festgestellt, durch das Training mit Isabelle Schad<br />
lockerer geworden zu sein und ihren Körper nun besser zu verstehen. Außerdem hoben sie positiv hervor, im Laufe der<br />
Woche die anderen Mitgliedern ihrer Gruppe näher kennengelernt und mit ihnen ein gemeinsames Ziel verfolgt zu haben.<br />
Die Vertrautheit entstand allmählich: »Erst am vierten Tag habe ich ein Gruppengefühl festgestellt«, sagte eine Teilnehmerin.<br />
»Ich habe mich dann gleich viel wohler gefühlt.« Die Gruppe sei harmonischer geworden, bemerkte eine andere<br />
Schülerin. »Wir trauen uns viel mehr, mit Körperkontakt zu arbeiten«, ergänzte ein männlicher Tänzer. Isabelle Schad hofft<br />
sehr, dass die Workshops bei den Teilnehmern etwas bewirkt haben. »Beim Zuschauen konnte ich erkennen, dass sich<br />
die Körper bis zu einem gewissen Grad verändert haben«, sagte sie. »In sechs Tagen schafft man zwar schon einiges. Ich<br />
habe allerdings nicht die Erwartung, Menschen in so kurzer Zeit zu verändern und alles in ihnen umzukrempeln.«<br />
Auch die Musikerinnen und Musiker profitierten nach eigenen Angaben davon, das Kommunizieren innerhalb einer<br />
Gruppe geübt zu haben. »Jeder Teilnehmer, egal, welches Instrument er spielt und egal, wie oft er zum Einsatz kommt,<br />
hat die gleiche Bedeutung für das Gesamtwerk«, sagte ein Schüler. Man habe gelernt, aufeinander zu reagieren, hob eine<br />
Teilnehmerin hervor. Die Erfahrung, wie schnell man als Team zusammenwachse, wenn man das gleiche Ziel anstrebe,<br />
betrachtete sie als wertvoll für ihren weiteren Werdegang. Vassos Nicolaou sah einen interessanten Unterschied<br />
zwischen der Gruppen- und der Einzelarbeit. »Die Gruppe musizierte in demselben Kontext, die Etüden der einzelnen<br />
Teilnehmer hingegen waren sehr unterschiedlich, sehr individuell.« Das Improvisieren habe offensichtlich allen Spaß<br />
gemacht und ihnen zugleich Regeln für die Kommunikation vermittelt, sagte er.
Die gemeinsamen Veranstaltungen bewerteten die Schüler ebenfalls als lohnenswert und informativ. Vor allem der<br />
Vortrag zu Musik und Hirnforschung hat ihnen interessante neue Erkenntnisse gebracht. Einige Teilnehmer hätten sich<br />
allerdings noch einen stärkeren Austausch zwischen Tänzern und Musikern gewünscht. Andere wiederum hätten gern<br />
bestimmte Aspekte ihres Fachs – in der Musik beispielsweise das Thema Etüden – weiter vertieft. Kritik wurde an<br />
denjenigen Schülern geäußert, die das Konzept ihres Workshops ablehnten und die anderen Teilnehmer dadurch störten.<br />
Dass einige Skeptiker schließlich die Konsequenzen zogen und aus dem Projekt ausstiegen, wurde letztlich als Vorteil für<br />
die jeweilige Gruppe betrachtet. Die befragten Schüler würden auch künftig gern wieder an Workshops teilnehmen; sie<br />
sehen darin eine wichtige Ergänzung des Unterrichts an der Schule.<br />
Vertreter des Lehrerkollegiums am Gymnasium Essen Werden werteten die Woche ebenfalls als Erfolg. »Ich bin begeistert<br />
von dem Projekt und möchte weiter mit dem Klavier-Festival Ruhr zusammenarbeiten«, sagte der Musiklehrer Georg<br />
Dücker, der den Ablauf des Musik-Workshops genau mitverfolgte. Für die Schüler sei es eine große Chance gewesen,<br />
die Entstehung von Musik direkt miterleben zu können. Die Kommunikation zwischen Pianistin, Komponist und Choreografin<br />
hat nach Ansicht von Dücker hervorragend funktioniert. Workshops dieser Art sieht er als sinnvolle Ergänzung zu<br />
seinem Unterricht. Sein Kollege Heinz Loigge, Leiter der Klassikabteilung des Fachbereichs Tanz an der Schule, stand der<br />
Werkwoche ebenfalls sehr aufgeschlossen gegenüber. Er begrüßte es ausdrücklich, dass Choreografen aus der freien<br />
Tanzszene den Schülern neue Eindrücke und Erfahrungen vermittelten.<br />
Isabelle Schad hofft, den Workshopteilnehmern neue<br />
Denkanstöße gegeben zu haben. Die von ihr vermittelten<br />
Entspannungstechniken könnten die Ballettausbildung<br />
effizienter machen, meinte sie. Ein Zuviel an Kraft<br />
und Muskelanspannung sei dagegen kontraproduktiv.<br />
Vassos Nicolaou beobachtete während des Projekts,<br />
dass die Musiker und Tänzer allmählich gelernt hätten,<br />
besser mit ihrem Körper zu kommunizieren und aufeinander<br />
zu reagieren. Einen zusätzlichen Workshop für<br />
Musiker zum Thema Körperarbeit und Atmung fände er<br />
bei einem künftigen Projekt wünschenswert. Darüber hinaus könnte er sich gemeinsame Improvisationen von Musikern<br />
und Tänzern vorstellen. Tamara Stefanovich zeigte sich beeindruckt von den Möglichkeiten, bei einem Projekt weit in alle<br />
Richtungen zu gehen, ohne den Überblick zu verlieren. Die Werkwoche habe keine Workshops für Spezialisten geboten<br />
und sei dennoch keine oberflächliche Spaßveranstaltung für ein breites Publikum gewesen. Ziel sei gewesen, das Thema<br />
Etüden von mehreren Blickwinkeln aus zu beleuchten und hinter die Kulissen der Mechanik zu schauen. Richard McNicol<br />
lobte insbesondere die fachliche Kompetenz und Offenheit von Vassos Nicolaou. Er sei sehr zufrieden mit den Ergebnissen<br />
der Improvisations- und Kompositionsübungen. Durch den Einzelunterricht in Komposition hätten die Schüler ihre<br />
Kenntnisse erweitern und ihr Selbstvertrauen stärken können, sagte er. Dies sei letztlich auch der Arbeit in der Gruppe<br />
zugute gekommen.