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Klaus-Jürgen Grün Moralische Ängste Ihr Entstehen ... - PhilKoll.de

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Sitzplatz. Denn in seiner Wahrnehmung ist jetzt <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re entwe<strong>de</strong>r aufdringlich o<strong>de</strong>r<br />

Mitglied einer als min<strong>de</strong>rwertig angesehenen Volksgruppe o<strong>de</strong>r sogar hinterlistig. Die Verteidigung<br />

seines Rechts ist <strong>de</strong>r anerkannte Ausdruck <strong>de</strong>r Verteidigung eigener Ansprüche<br />

unter <strong>de</strong>m Schutz <strong>de</strong>s Moralwortes „Gerechtigkeit“.<br />

Am liebsten möchte je<strong>de</strong>r natürlich seine Bequemlichkeit als reine Menschenfreundlichkeit<br />

auslegen. Doch hierzu muss unser Sitzplatzbeispiel schon ziemlich verzerrt wer<strong>de</strong>n. Die<br />

reine Menschenfreundlichkeit herauszulesen wird uns an an<strong>de</strong>rer Stelle besser gelingen.<br />

Ich kann die Situation gleichwohl auch von vorn herein menschenfreundlich gestalten. Um<br />

mich als menschenfreundlich zu erleben und um <strong>de</strong>n feindseligen Aspekt vollkommen zum<br />

Verschwin<strong>de</strong>n zu bringen, könnte ich meine Bequemlichkeit überwin<strong>de</strong>n. Ich stehe also<br />

auf und biete <strong>de</strong>m Schwächeren meinen Platz an. Plötzlich fühle ich mich sogar gut dabei.<br />

Ich kann dieses gute Gefühl obendrein noch steigern, in<strong>de</strong>m ich das Platzangebot mit einem<br />

Unterton in meiner Stimme versehe, <strong>de</strong>r etwa Folgen<strong>de</strong>s zum Ausdruck bringt: „Bitte<br />

setzen Sie sich doch, Sie haben es nötiger als ich.“ Aber dieser Unterton ist gefährlich -<br />

nicht für <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren, son<strong>de</strong>rn für mich. Zu leicht durchschaue ich meinen feindseligen<br />

Aspekt jetzt in <strong>de</strong>m Zusatz und schäme mich erneut. Dann muss ich mir sagen, dass ich<br />

selbst es nicht nötig habe, mich <strong>de</strong>rart auffällig und primitiv über <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren zu erheben.<br />

Daher wer<strong>de</strong> ich in Zukunft solche Bemerkungen unterlassen.<br />

Der moralische Mensch<br />

Wenn es mir gelungen ist, je<strong>de</strong>n noch so kleinen Anflug von Feindseligkeit in meiner Geste<br />

<strong>de</strong>r Aufmerksamkeit <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Mann gegenüber auszublen<strong>de</strong>n, lebe ich in einer moralischen<br />

Selbstverständlichkeit. Ich wer<strong>de</strong> ohne son<strong>de</strong>rliche Neigung und Anteilnahme einem<br />

Älteren o<strong>de</strong>r Schwächeren in <strong>de</strong>r Straßenbahn meinen Platz anbieten, und zwar mit <strong>de</strong>m<br />

emotionslosen Grund, weil „man“ das eben so macht. Ich bin mir im Moment <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns<br />

meiner <strong>Grün</strong><strong>de</strong> hierfür nicht bewusst. Die feindseligen Aspekte sind <strong>de</strong>r vollkommenen<br />

und selbstverständlichen Güte - in diesem Fall zumin<strong>de</strong>st - gewichen. Es ist dies <strong>de</strong>r<br />

Zustand, in <strong>de</strong>m wir uns Menschen in unserer Umgebung wünschen. Unserer moralische<br />

Erziehung zielt darauf hin, solche Menschen zu haben. Wir sagen zu jeman<strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r so ist,<br />

er sei gut. Ihn soll möglichst die ungeheuchelte Menschenliebe zum guten Han<strong>de</strong>ln drängen.<br />

Lei<strong>de</strong>r ist es nicht möglich, exakt festzustellen, wann die Menschenliebe echt und<br />

wann sie nur die Maske <strong>de</strong>r Feindseligkeit ist.<br />

Eine Gesellschaft funktioniert am besten mit Menschen, die sich ohne innere Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong><br />

rücksichtsvoll verhalten können. Ihnen fällt <strong>de</strong>swegen - in moralischer Hinsicht - eine Vorbildfunktion<br />

zu. Nach ihrem Muster haben wir unser I<strong>de</strong>al von lieben Menschen gebil<strong>de</strong>t.<br />

<strong>Ihr</strong>e Fähigkeit zur Selbstlosigkeit, ihre Geduld, ihre Belastbarkeit sehen wir gerne. Den Gedanken,<br />

dass auch diese Menschen ein gewisses Maß an Angst verdrängen, wehren wir<br />

ab. Wir wollen sie uns als Vorbild einer reinen Wirkung <strong>de</strong>s Guten erhalten. Aber gleichwohl<br />

ist auch hier nicht alles gut, was glänzt. Und zu<strong>de</strong>m leben wir stets in <strong>de</strong>r Angst, die<br />

I<strong>de</strong>ale zu verlieren. Wer <strong>de</strong>n Glaube an die Selbstlosigkeit missbraucht, <strong>de</strong>n trifft drakonische<br />

Verachtung.<br />

Wie kompliziert <strong>de</strong>r Mechanismus <strong>de</strong>s Verdrängens feindseliger Aspekte in ihrem Verhältnis<br />

zu aufrichtiger Anteilnahme am Schicksal eines Schwächeren ist, variiert von Individuum<br />

zu Individuum. Meistens können wir nicht erkennen, ob eine gute Tat stärker motiviert<br />

wur<strong>de</strong> durch die Verdrängung eigener Feindseligkeit o<strong>de</strong>r von aufrichtiger Einfühlung in<br />

das Gefühlsleben und in die Bedürftigkeit <strong>de</strong>s Nächsten.<br />

Großen Scha<strong>de</strong>n richten starke, aber erfolgreich verdrängte feindselige Gefühle an, die

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