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Klaus-Jürgen Grün Moralische Ängste Ihr Entstehen ... - PhilKoll.de

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gleichwohl nach außen als gute Tat maskiert sind. Denn sie drohen wie<strong>de</strong>r in Erinnerung<br />

zu kommen. Die Erinnerung wird ausgelöst, wenn ich einen an<strong>de</strong>ren Menschen erlebe, <strong>de</strong>r<br />

nicht in <strong>de</strong>r für mich gelten<strong>de</strong>n moralischen Selbstverständlichkeit lebt. Der soziale<br />

Sprengstoff liegt in <strong>de</strong>r geheuchelten Menschenliebe, die wir oftmals nicht als solche erkennen.<br />

Wir können nach außen Hilfsbereitschaft mimen, obgleich wir dabei starke Kräfte<br />

aufbringen müssen, unsere wahren Absichten vor uns und an<strong>de</strong>ren zu verbergen. So kann<br />

im schlimmsten Fall ein vermeintlich guter Mensch an seine eigene Lust, die er bei sich<br />

nicht zulässt, erinnert wer<strong>de</strong>n, wenn er mit ansehen muss, wie ein an<strong>de</strong>rer ungeniert seine<br />

Lust, in <strong>de</strong>r überfüllten Straßenbahn zu sitzen, vollkommen genießt und keine Scham<br />

empfin<strong>de</strong>t, obwohl ein älterer und gebrechlicher Mensch neben ihm stehen muss. Sehr<br />

wahrscheinlich ruft dieses Erlebnis bei Menschen mit <strong>de</strong>m Dünkel <strong>de</strong>s Guten die ursprünglichen,<br />

starken Gefühle seiner Feindseligkeit wie<strong>de</strong>r an die Schwelle zum Bewusstsein. Das<br />

Erlebnis <strong>de</strong>r Schamlosigkeit <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren ist jetzt ein willkommener Anlass. Denn nicht<br />

mehr <strong>de</strong>r vermeintlich Gute selbst erlebt sich als Träger feindseliger Gefühle, son<strong>de</strong>rn<br />

ganz offensichtlich ist <strong>de</strong>r Schamlose feindselig, <strong>de</strong>r sich auf einem Sitzplatz gemütlich<br />

breit gemacht hat, während ein Bedürftiger stehen muss, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Platz ein<strong>de</strong>utig nötiger<br />

hätte als <strong>de</strong>r Schamlose. Ja, <strong>de</strong>r „gute“ Mensch kann nun sogar seine Feindseligkeit in vollen<br />

Zügen genießen, was er sich ja nicht erlaubt hätte, wenn er selber schamlos sitzen geblieben<br />

wäre. Seine Feindseligkeit richtet sich jetzt laut gegen <strong>de</strong>njenigen, <strong>de</strong>r die moralische<br />

Ordnung verletzt hat.<br />

Dieser Genuss, die eigene Feindseligkeit zu Recht, aber unbemerkt vom eigenen Bewusstsein<br />

auf <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Fahrgast projizieren zu dürfen, entspannt <strong>de</strong>n Gefühlshaushalt neurotischer<br />

Menschen. Sie werfen <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren nämlich vor, unmoralisch zu sein und üben<br />

moralisieren<strong>de</strong>n Zwang aus, obwohl sie sich selbst damit treffen wollen. In diesem Erlebnis<br />

gewinnen viele vermeintlich gute Menschen ein Stückchen Befriedigung ihres Machtbedürfnisses,<br />

das sie an<strong>de</strong>rnfalls bei sich niemals zugelassen haben wür<strong>de</strong>n.<br />

Vorwürfe, die wir <strong>de</strong>m An<strong>de</strong>ren machen, die moralischen Zwänge und die Macht, die wir<br />

durch sie ausüben, haben mehr o<strong>de</strong>r weniger <strong>de</strong>n Zweck, die Angst davor zu vertreiben,<br />

uns selbst eingestehen zu müssen, dass wir <strong>de</strong>n Wunsch haben könnten, unserer Bequemlichkeit<br />

nachzugeben. Die Angst, die verdrängt wer<strong>de</strong>n muss, ist um so größer, je<br />

mehr meine Menschenfreundlichkeit geheuchelt ist. Unsere mo<strong>de</strong>rne Gesellschaft mit ihrem<br />

sozialen Anpassungsdruck begünstigt die Ausbildung geheuchelter Menschenfreundlichkeit.<br />

Damit jene Angst nicht an<strong>de</strong>re Schä<strong>de</strong>n anrichtet, benötigt sie von Zeit zu Zeit<br />

eine Projektionsfläche. Das ungute Gefühl, das sich bei mir einstellte, also die Scham, die<br />

mich überfiele, wenn ich an Stelle <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>ren in <strong>de</strong>r Straßenbahn <strong>de</strong>n Sitzplatz nicht geräumt<br />

hätte, muss ja abgewehrt, muss verdrängt wer<strong>de</strong>n. Wenn ich es aber nicht unmittelbar<br />

bei mir abwehren kann, ist <strong>de</strong>r schamlose Fahrgast, <strong>de</strong>r an meiner Statt sitzen geblieben<br />

ist, die Projektionsfläche für meine Abwehrreaktionen. Er muss <strong>de</strong>n Groll ertragen,<br />

<strong>de</strong>r eigentlich gegen mich selbst gerichtet ist. Aber es ist mir erlaubt, diesen Groll offen zu<br />

zeigen. Ich wer<strong>de</strong> Sympathien bei vielen an<strong>de</strong>ren Fahrgästen wecken. So wer<strong>de</strong> ich also<br />

noch belohnt dafür, dass ich nicht bei mir selbst Angst vor <strong>de</strong>r Lust abgewehrt habe. All<br />

dies war möglich, weil ein „Schamloser“ mir Gelegenheit gab meinen Triebhaushalt in Ordnung<br />

zu bringen. Meine Feindseligkeit gegen die Lust auf Bequemlichkeit konnte gegenüber<br />

<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren offen zutage treten, wobei sie sich entspannte. Ich habe mich einmal<br />

aufregen dürfen. So wird es mir leichter, weiterhin die eigene Lust auf Bequemlichkeit in<br />

<strong>de</strong>r Verdrängung zu halten, und ich muss geringere Kraft für geheuchelte Menschenfreundlichkeit<br />

aufwen<strong>de</strong>n.<br />

Freilich verspürt nicht je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n neurotischen Zwang sich aufregen zu müssen. Nicht je<strong>de</strong>r

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