Klaus-Jürgen Grün Moralische Ängste Ihr Entstehen ... - PhilKoll.de
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ches Tabu zum Verschwin<strong>de</strong>n gebracht wer<strong>de</strong>n müsste. Nur als Protesthaltung könnte die<br />
Lust entstehen, das Verbot zu überschreiten. Aber diese Protesthaltung setzt neurotische<br />
Prägung bereits voraus; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Protest protestiert gegen eine aufgezwungene Verdrängung<br />
<strong>de</strong>r Lust. Dass das gebrannte Kind das Feuer scheut, beruht auf einem Naturgeschehen.<br />
Und dass Naturgeschehnisse vollkommen verschie<strong>de</strong>n sind von unserem moralischen<br />
Werten, Urteilen und Han<strong>de</strong>ln betonen selbst Ethiker und Moralisten. Aber sie erklären <strong>de</strong>n<br />
Unterschied aus <strong>de</strong>r unterschiedlichen Natur von Geist und Materie. Moral und Ethik gehörten<br />
nach ihrer Denkweise <strong>de</strong>m Geistigen an, während Naturgeschehnisse aus <strong>de</strong>n Gesetzen<br />
<strong>de</strong>r materiellen Welt folgten. Moralisten und Ethiker haben sich dadurch eine neue<br />
Angst geschaffen, die Angst vor <strong>de</strong>m Verlust <strong>de</strong>s Geistes und <strong>de</strong>r Reduktion allen Seins<br />
auf physische Natur. Können wir das Beson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r moralischen Wertungen auch erklären,<br />
ohne uns auf etwas zu berufen, wie <strong>de</strong>n Geist? Schließlich wür<strong>de</strong>n wir durch die Verwendung<br />
<strong>de</strong>s Wortes Geist etwas erklären wollen, wobei wir ein Wort verwen<strong>de</strong>ten, das<br />
wir noch weniger verstehen als das zu Erklären<strong>de</strong>. Betrachten wir die Wirkung moralischer<br />
<strong>Ängste</strong>, dann versteht sich ihre Abwehr natürlicher Erklärungen von selbst.<br />
In Bereich <strong>de</strong>s <strong>Moralische</strong>n erleben wir Verbote als eine notwendige Bedingung für das ihnen<br />
gemäße Unterlassen einer Handlung. Wir glauben, dass sie ohne <strong>de</strong>n Machtspruch <strong>de</strong>r<br />
Autorität nicht zustan<strong>de</strong> kommen wür<strong>de</strong>. Hinzu kommt, dass im Ethisch-<strong>Moralische</strong>n nicht<br />
Handlungen geboten o<strong>de</strong>r verboten wer<strong>de</strong>n, die eine reale und direkte Gefahr für uns be<strong>de</strong>uteten,<br />
und die wir aus Furcht vor ebenso realem Scha<strong>de</strong>n von selbst unterlassen o<strong>de</strong>r<br />
vornehmen wür<strong>de</strong>n. Vielmehr sind im Reich <strong>de</strong>s <strong>Moralische</strong>n solche Handlungen unter<br />
Tabu gestellt, die zu verrichten wir eine unausgesprochene Ten<strong>de</strong>nz, eine heimliche Neigung<br />
o<strong>de</strong>r eine unheimliche Lust verspüren. In einem weiteren Sinn mögen uns diese<br />
Handlungen manchmal auch Scha<strong>de</strong>n zufügen können, doch zunächst sind sie <strong>de</strong>swegen<br />
tabu, weil eine heimliche Lust, sie zu begehen, herrscht, die wir uns aber keinesfalls zugestehen<br />
wollen.<br />
Oft genügt es, dass wir diese Lust kennen, ohne sie selbst zu verspüren. So verspüren nur<br />
die wenigsten Väter ihrer Töchter eine Lust auf inzestuöse Beziehungen, aber allen diesen<br />
Vätern ist sie bekannt. Nicht schwer ist es, sich in die Stimmung eines Vaters hinein zu<br />
versetzen, <strong>de</strong>r seinen Töchtern gegenüber keine inzestuösen Wünsche fühlt, aber sie bei<br />
einem an<strong>de</strong>ren Vater <strong>de</strong>ssen Töchtern gegenüber wahrnimmt. Er wird die Handlungen<br />
o<strong>de</strong>r Gefühle <strong>de</strong>s zum Inzest neigen<strong>de</strong>n Vaters um so heftiger moralisch verurteilen, je<br />
mehr er fürchten muss, durch das Beispiel <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren bei sich selbst bislang verdrängte<br />
Wünsche geweckt zu sehen. Auch lieben und hassen wir nur dasjenige, was ein Teil von<br />
uns selbst sein könnte.<br />
Übertragene Angst<br />
Wir können <strong>de</strong>n Umschlag <strong>de</strong>r Moral von einer nützlichen sozialen Einrichtung in eine neurotische<br />
Konditionierung <strong>de</strong>r Individuen als „Moralisieren“ bezeichnen. Es ist meist schon<br />
die übersteigerte Ängstlichkeit <strong>de</strong>r Autoritäten, die ein Kind durch Moralisieren zu prägen<br />
versucht. Dabei verlagern sie die Furcht vor realen Gefahren auf die Angst vor <strong>de</strong>r Autorität.<br />
Verbote wer<strong>de</strong>n dabei zu einer scheinbar notwendige Bedingung für das Unterlassen<br />
einer Handlung. Bald erscheint es, als funktionierten nur diejenigen Systeme, die durch<br />
Zwang und Tabu geregelt wer<strong>de</strong>n. Denn wie wir gesehen haben, wer<strong>de</strong>n im Ethisch-<strong>Moralische</strong>n<br />
nicht solche Handlungen geboten o<strong>de</strong>r verboten, die eine reale und direkte Gefahr<br />
für uns be<strong>de</strong>uteten, und die wir aus Furcht vor ebenso realem Scha<strong>de</strong>n von selbst unterlassen<br />
o<strong>de</strong>r vornehmen wür<strong>de</strong>n.