Leseprobe (PDF) - Rowohlt
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1837 – 1901<br />
Schein als Sein ausgab und zu einem Doppelleben verführte. Verleugnung<br />
des persönlichen Wertesystems um des beruflichen Vorteils<br />
willen verweist jedoch auf einen selbstbetrügerischen Zivilisationsdefekt,<br />
der zu allen Zeiten Konjunktur hat. Was als typisch<br />
viktorianische Variante gelten kann, war eine Form von scheinheiliger<br />
Selbstgerechtigkeit, die religiösen Konformismus mit zivilisatorischem<br />
Sendungsbewusstsein, wirtschaftlichen Allmachtsphantasien<br />
und technisch-wissenschaftlicher Fortschrittsgläubigkeit<br />
durchmischte und mit einer gehörigen Portion Snobismus<br />
würzte.<br />
«Moral ist einfach die Haltung, die wir gegen Leute einnehmen,<br />
von denen wir persönlich nicht erbaut sind» 3, spottete Oscar<br />
Wilde. Was das betraf, fand sich für Königin Victoria mancherlei<br />
Gelegenheit, «not amused» zu sein. Doch ging es dabei nicht nur<br />
um persönliche Entrüstung, sondern um ein bürgerliches Dogma,<br />
das den Moralbegriff zuvörderst aus dem Umgang mit der Sexualität<br />
ableitete. Keuschheit galt als ein Indikator körperlich-seelischer<br />
Gesundheit, als eine Art Zeugnis sittlicher Reife – ein zivilisatorischer<br />
Gedanke, der unter dem Schock der Evolutionstheorie<br />
von Charles Darwin an Intensität noch gewann. Denn nichts<br />
verunsicherte das Selbstwertgefühl mehr als die Vorstellung, den<br />
Menschen als Krone der Schöpfung entthront und seine biologische<br />
Entwicklungsgeschichte in die des Tierreichs einbezogen<br />
zu sehen. Der Mann als der geborene Herrscher, die Frau als die<br />
geborene Beherrschte – in dieser aus Bibelzitaten und pseudowissenschaftlicher<br />
«Gesetzmäßigkeit» gezimmerten Geschlechterhierarchie<br />
von Obrigkeit und Untertan war die körperliche<br />
Vereinigung allein um der Fortpflanzung willen zulässig. Wundersamerweise<br />
durfte sich selbst die verheiratete Frau den Adel<br />
der Keuschheit zuerkennen, da sie, wie es hieß, in der Intimität<br />
keine körperliche Lust verspürte. Und so ergab sich ein Anbetungsritual<br />
der «Reinheit» als Sinnbild heiliger Liebe, die sich von<br />
den Übeln der Sexualität zu befreien wisse. Also war es nur recht<br />
und billig, vom Gatten die Rückkehr zur vorehelichen Keuschheit<br />
zu fordern, sobald die Partnerin ihre Gebärfähigkeit verloren hatte.<br />
Dieser von Ängsten durchsetzte Moralkodex presste die Geschlechter<br />
in ein enges Korsett von Konventionen, aus dem man<br />
sich nur befreien konnte, wenn man das Risiko der Entdeckung<br />
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