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25 Jahre Freiwilligendienst in Monte Azul

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3 Editorial<br />

Liebe Freunde von <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong>!<br />

Seit <strong>25</strong> <strong>Jahre</strong>n gibt es <strong>in</strong> der Favela <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> freiwillige Helfer. E<strong>in</strong>e lange Zeit! Seit <strong>25</strong><br />

<strong>Jahre</strong>n kommen junge Menschen aus Deutschland, Japan und anderen Ländern, die sich<br />

mit ihrem Engagement an der Geme<strong>in</strong>schaftsarbeit beteiligen, Freundschaften knüpfen,<br />

Ideen e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen, die alltäglichen Probleme von Favela-Bewohnern kennen lernen und<br />

sich von der brasilianischen Lebensart verzaubern lassen - und die auch darüber schreiben,<br />

<strong>in</strong> Briefen an die Daheimgebliebenen, <strong>in</strong> Abschlussberichten und vielen anderen<br />

Formen.<br />

Es war viel Arbeit für das Redaktionsteam, sich durch so viele Dokumente zu lesen! Zwei<br />

dicke Ordner voller Aufschriebe haben wir aus <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> zugeschickt bekommen, aus<br />

denen wir für diese erste Ausgabe von Ponte <strong>Azul</strong> e<strong>in</strong>ige auswählen wollten. Es war e<strong>in</strong>e<br />

besondere Freude, von den vielfältigen E<strong>in</strong>drücken und Er<strong>in</strong>nerungen zu lesen, und<br />

zugleich e<strong>in</strong>e besondere Art, die Geschichte der Favela <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> <strong>in</strong> São Paulo und<br />

ihrer e<strong>in</strong>zigartigen Sozialarbeit mitzuerleben.<br />

Wir haben nun e<strong>in</strong>e Auswahl dieser Berichte <strong>in</strong> diesem Heft zusammengestellt. Somit<br />

beg<strong>in</strong>nt die Geschichte der Ponte <strong>Azul</strong> gleich mit e<strong>in</strong>er Sonderausgabe. In e<strong>in</strong>em Treffen<br />

von ehemaligen Freiwilligen <strong>in</strong> diesem Frühjahr entstand die Idee, e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Zeitschrift<br />

zu gründen, die für Freunde von <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> und ehemalige Freiwillige über Neuigkeiten<br />

aus der Organisation berichtet, über die Menschen, die dort arbeiten und das gesellschaftliche<br />

Umfeld Brasiliens, <strong>in</strong> dem sich der Impuls von <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> verwirklicht. Kurz: um<br />

e<strong>in</strong>e Brücke zu schlagen zwischen dem fernen Leben <strong>in</strong> Brasilien und hier <strong>in</strong> Deutschland,<br />

daher auch der Name Ponte <strong>Azul</strong> – „Blaue Brücke“.<br />

Mit Hilfe der Zukunftsstiftung Entwicklungshilfe der GLS-Bank konnten wir diese erste<br />

Ausgabe an alle Freunde und Förderer von <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> versenden. Unser kle<strong>in</strong>es<br />

Redaktionsteam möchte die Ponte <strong>Azul</strong> nun ca. e<strong>in</strong>mal jährlich herausbr<strong>in</strong>gen. Wer<br />

Interesse an e<strong>in</strong>em Abonnement hat, f<strong>in</strong>det auf der Rückseite e<strong>in</strong>en Antwortbogen, oder<br />

kann uns auch per Mail benachrichtigen: <strong>in</strong>fo@ponte-azul.de.vu.<br />

Wir wünschen nun allen Lesern e<strong>in</strong>e gute Lektüre unserer Zeitung, und wir freuen uns<br />

über Rückmeldungen, Leserbriefe, und Abonnements!<br />

E<strong>in</strong> frohes Weihnachtsfest wünschen:<br />

Aljoscha,<br />

Anja,<br />

Jan,<br />

Andreas,<br />

Sebastian,<br />

Regiane und<br />

Viola<br />

(von l<strong>in</strong>ks nach rechts)


<strong>25</strong> <strong>Jahre</strong> Freiwillige <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> 4<br />

Grußwort von Ute Craemer<br />

2006 feierte <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> <strong>25</strong> <strong>Jahre</strong> Voluntario-Dase<strong>in</strong>! An e<strong>in</strong>em Integrationstag würdigten alle etwa<br />

<strong>25</strong>o Mitarbeiter und Voluntarios die Beiträge von <strong>in</strong>zwischen wohl mehr als 4oo Freiwilligen, die seit<br />

1981 hier arbeiteten. Wir sahen Fotos der ersten Volus aus den 8o er <strong>Jahre</strong>n, <strong>in</strong> der im Schlamm fast<br />

vers<strong>in</strong>kenden Favela; Freiwillige, die <strong>in</strong> der Holzbaracke der Escol<strong>in</strong>ha über Politik diskutierten; wieder<br />

andere, die Helenas Umzug auf die Chacara mit ihren sieben K<strong>in</strong>dern bewerkstelligten;<br />

Freiwillige, die den K<strong>in</strong>dern Musikunterricht gaben; andere wiederum, die das Therapiezentrum<br />

bemalten....<br />

Und e<strong>in</strong> Arbeitskreis war der Frage gewidmet: Braucht <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> überhaupt Voluntarios??!<br />

E<strong>in</strong>stimmig wurde festgestellt: <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> ohne Volus kann sich niemand mehr vorstellen, es br<strong>in</strong>gt<br />

Leben, neue Ideen, Fragen über den S<strong>in</strong>n der Arbeit - ganz zu schweigen von den vielen Freundesund<br />

Liebesbeziehungen! Und Schwierigkeiten? Ja schon, die Sprache - man muss schon etwas Geduld<br />

aufbr<strong>in</strong>gen, beiderseits. Auch der Abschied tut oft weh und nicht immer ist es leicht, sich jedes Jahr<br />

auf neue Gesichter e<strong>in</strong>zustellen. Aber trotz allem: <strong>Monte</strong>azul ohne Volus ist ke<strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong>!<br />

Bei dieser Gelegenheit muss ich noch etwas über me<strong>in</strong> Voludase<strong>in</strong> beifügen: ich selber habe ja für<br />

me<strong>in</strong> Leben wesentliche Erfahrungen gemacht, als Freiwillige vor 4o <strong>Jahre</strong>n <strong>in</strong> Paraná. Wie anders<br />

wäre me<strong>in</strong> Leben verlaufen, wenn ich nicht 2 <strong>Jahre</strong> <strong>in</strong> der Favela <strong>in</strong> Londr<strong>in</strong>a gelebt und gearbeitet und<br />

dort entdeckt hätte, wie schön es ist, mit K<strong>in</strong>dern etwas zu unternehmen, Erzieher<strong>in</strong> zu se<strong>in</strong> und<br />

zusammen mit den Favelabewohnern e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>schaft aufzubauen!<br />

So ist es wohl oft, dass durch e<strong>in</strong>ige tief <strong>in</strong>s Leben h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>blickende Erfahrungen etwas herausgeholt wird<br />

wie aus e<strong>in</strong>em Brunnen, wodurch das eigene Leben <strong>in</strong> die schicksalsgemäße Richtung gebracht wird.<br />

Allen Ehemaligen Freiwilligen viel Kraft und herzlichen Dank für Eure Mitarbeit<br />

Eure Ute<br />

E<strong>in</strong> Foto aus alten Zeiten: Ute mit mit Handwerkern, die die ersten Baracken von Escol<strong>in</strong>ha und<br />

Ambulatório bauten. Bald kamen freiwillige Helfer aus dem Ausland dazu.<br />

IMPRESSUM<br />

Ponte <strong>Azul</strong>, die Zeitung für Berichte aus<br />

der Associação Comunitária <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong>.<br />

No. 1 - Dezember 2006<br />

Redaktion: Aljoscha Bökle, Viola Ehm,<br />

Jan Mergelsberg, Andreas Peteler, Anja<br />

Peter, Sebastian, Knust, Regiane Correa<br />

Alves, Johannes Streitmater.<br />

Titelblatt und Fotos: Privat<br />

Anschrift der Redaktion: c/o Jan<br />

Mergelsberg, W<strong>in</strong>kelstr. 26, 58452 Witten<br />

<strong>in</strong>fo@ponte-azul.de.vu<br />

Anschrift <strong>in</strong> Brasilien: Associação<br />

Comunitária <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong>, Av. Tomas de<br />

Souza 552, CEP 05836-350, Sao Paulo SP<br />

<strong>in</strong>ternational@monteazul.org.br<br />

www.monteazul.org.br<br />

Auflage: 1.000<br />

Druck: IC-Lettershop, Essen<br />

Diese Zeitung wurde erstellt mit<br />

freundlicher Unterstützung der<br />

Christstraße 9, 44789 Bochum<br />

Tel. 0234/5797-224, ewh@gls.de


5 <strong>25</strong> <strong>Jahre</strong> Freiwillige <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong><br />

1983: E<strong>in</strong> Spaziergang durch die Favela<br />

Susanne Löffler war 1983 als e<strong>in</strong>e der ersten Freiwilligen <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong>. Ihre E<strong>in</strong>drücke von der Favela beschrieb<br />

sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief an Freunde <strong>in</strong> Deutschland, aus dem wir e<strong>in</strong>en Auszug veröffentlichen.<br />

An e<strong>in</strong>em Hügelausläufer gelegen, wo aller Dreck und<br />

vor allem Feuchtigkeit sich sammeln, quetschen sich<br />

die Hütten der Favela, auf relativ kle<strong>in</strong>em Gelände.<br />

Dicht an dicht, übere<strong>in</strong>ander gebaut, von kle<strong>in</strong>en<br />

Stegen oder Schlammwegen durchzogen, besiedelt<br />

von großen Familien mit vielen, vielen K<strong>in</strong>dern.<br />

Unten am Bach, der voller Abwasser und Müll ist, gibt<br />

es e<strong>in</strong>e Quelle, an der ständig viele Frauen mit riesigen<br />

Geschirr- und Wäschebergen beschäftigt s<strong>in</strong>d.<br />

Zwischen den Hütten, Leitungen und Bäumen hängt<br />

dann die Wäsche; aus manchen tönt Lautsprechermusik,<br />

aus der nächsten kommt nur Modergeruch.<br />

E<strong>in</strong> Blick h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> zeigt, dass gerade nur e<strong>in</strong> Bett und<br />

e<strong>in</strong> Herd dar<strong>in</strong> stehen, aus e<strong>in</strong>er anderen lacht e<strong>in</strong>e<br />

Mutter mit e<strong>in</strong>em frischegebadeten Baby heraus.<br />

Überall wo man geht und steht, begegnen e<strong>in</strong>em<br />

K<strong>in</strong>der! Kaum ist man e<strong>in</strong> wenig bekannt, hat ihnen<br />

e<strong>in</strong> Lächeln, e<strong>in</strong> Wort oder Zeit für e<strong>in</strong> kurzes Spiel<br />

geschenkt, laufen sie mit, fragen, rufen von Weitem<br />

„Tia“ (Tante) und s<strong>in</strong>d dankbar, dass man sie wahrnimmt<br />

und ihnen Aufmerksamkeit schenkt.<br />

Was sich sonst an Schicksal und Leben h<strong>in</strong>ter diesen<br />

halboffenen Türen verbirgt ist oft für uns schwer<br />

vorstellbar, und <strong>in</strong> der kurzen Zeit, <strong>in</strong> der ich hier b<strong>in</strong>,<br />

für mich noch nicht ganz nachvollziehbar und begreiflich.<br />

Klar geworden ist mir, dass es hier alles gibt: Ich<br />

habe ganz viele warmherzige, offene Menschen kennen<br />

gelernt, die es auf sich nehmen, für sich und ihre<br />

K<strong>in</strong>der e<strong>in</strong> besseres Leben zu erkämpfen. Genauso<br />

wie mir täglich apathische, verschlossene Menschen<br />

begegnen, deren Härte und Enttäuschung ihr Gesicht<br />

verschlossen hat.<br />

Die Arbeit hier <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> lebt von dem<br />

Grundgedanken, dass jeder Mensch e<strong>in</strong> Recht auf die<br />

Entfaltung se<strong>in</strong>es Wesens hat und lernen kann, dass<br />

man se<strong>in</strong>em Schicksal aktiv entgegentreten kann. Die<br />

Ansicht ist, dass h<strong>in</strong>ter jedem Menschen der Wunsch<br />

nach Besserem steht, welcher oft nur durch die<br />

schlechte Ausgangslage der Menschen verdeckt ist.<br />

Es blieb aber nicht nur bei der Erkenntnis, dass die<br />

Favelabewohner auch geistige und seelische Entwicklungsmöglichkeiten<br />

benötigen, sondern sie wurde mit<br />

e<strong>in</strong>er unsagbaren Kraft <strong>in</strong> die Tat umgesetzt.<br />

Ute f<strong>in</strong>g Ende der 70er <strong>Jahre</strong> an, Favelak<strong>in</strong>der bei<br />

sich Zuhause zu unterrichten, mit ihnen zu malen, zu<br />

basteln, zu kochen, Geme<strong>in</strong>schaft zu üben… Und<br />

<strong>in</strong>zwischen ist e<strong>in</strong> Sozialwerk entstanden, welches von<br />

vielen Mitarbeitern getragen wird, e<strong>in</strong> buntes<br />

Gemisch von Menschen, Entwicklungsstufen und<br />

Lebenserfahrungen - und trotzdem ergibt es e<strong>in</strong><br />

Ganzes, das sich für die Geme<strong>in</strong>schaft e<strong>in</strong>setzt. Ältere<br />

Mädchen aus der Favela haben eigene K<strong>in</strong>dergruppen<br />

und bewähren sich wunderbar. Student<strong>in</strong>nen<br />

geben nachmittags Unterricht. Alle zusammen proben<br />

donnerstags, nach e<strong>in</strong>er langen Mitarbeiterbesprechung,<br />

noch für e<strong>in</strong> Theaterstück. Ich staune<br />

immer wieder, wie man hier mit E<strong>in</strong>satz und Freude<br />

dabei ist!<br />

Ich könnte viel erzählen: von e<strong>in</strong>er alten Frau mit<br />

beh<strong>in</strong>dertem Sohn und w<strong>in</strong>ziger Rente, die mithilft<br />

und wann immer sie kann das Ambulatorium putzt<br />

und jedem ihr warmes Lächeln schenkt. - Davon, wie<br />

es ist, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Hütte zu e<strong>in</strong>em zuckersüßen cafez<strong>in</strong>ho<br />

e<strong>in</strong>geladen zu werden. - Von K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen<br />

Favela, die es noch nie erlebt haben, dass jemand<br />

nur kommt um mit ihnen zu spielen und zu s<strong>in</strong>gen,<br />

die noch nie e<strong>in</strong>en Farbstift <strong>in</strong> der Hand hatten. - Von<br />

Simone, e<strong>in</strong>em verlausten, lieben 10-jährigen<br />

Mädchen, das neben der Schule noch arbeiten geht.-<br />

Von e<strong>in</strong>em fröhlichen Reigen im Sonnen-sche<strong>in</strong>...<br />

Alles Erlebnisse <strong>in</strong> jeglichen Extremen des<br />

Menschse<strong>in</strong>s – höchste Freude und tiefstes Elend s<strong>in</strong>d<br />

hier so eng beie<strong>in</strong>ander.<br />

Hoffentlich gibt es noch mehr solche Orte, <strong>in</strong> denen<br />

dem Elend, dem Schlechten, dem Negativen etwas<br />

entgegengesetzt wird - <strong>in</strong> denen freudvolles, positives<br />

Schaffen an der Welt möglich ist.


<strong>25</strong> <strong>Jahre</strong> Freiwillige <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> 6<br />

Das Chaos des Anfangs: die erste<br />

K<strong>in</strong>dergruppe <strong>in</strong> der Favela “Pe<strong>in</strong>ha”<br />

Aus der Arbeit <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong>s heraus entstand das<br />

Bedürfnis, dieselbe auch auf andere Favelas auszubreiten.<br />

Und so nahm mich Ende September Julieta,<br />

die Sozialfürsorger<strong>in</strong> von <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong>, mit <strong>in</strong> die ca.<br />

15 M<strong>in</strong>uten entfernte Favela Pe<strong>in</strong>ha. Dort lernte ich<br />

langsam immer mehr Frauen, und vor allem K<strong>in</strong>der<br />

kennen.<br />

Bald kam das Gespräch auf e<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>derspielgruppe,<br />

und die Frauen äußerten den Wunsch e<strong>in</strong>es<br />

Strickkurses. Doch blieb das Raumproblem, da<br />

damals für uns noch ke<strong>in</strong>e eigene Hütte zur<br />

Verfügung stand. Doch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gespräch wurde dies<br />

vorerst mal gelöst: die Strickgruppe fand e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der<br />

Woche <strong>in</strong> der kle<strong>in</strong>en Holzkirche statt. Und Silvio,<br />

e<strong>in</strong> Junggeselle, stellte uns se<strong>in</strong>e Hütte für die K<strong>in</strong>dergruppe<br />

zur Verfügung.<br />

Dann kam der große Tag, an dem es losgehen sollte!<br />

Auf e<strong>in</strong>mal bekamen wir e<strong>in</strong> wenig Angst vor der<br />

eigenen Courage, vor allem, da zu dieser Zeit unser<br />

Portugiesisch noch eher schlecht war. Doch „mutig“<br />

machten wir uns bewaffnet mit Papier und Wachsstiften<br />

auf den Weg, um zur ausgemachten Zeit anzukommen.<br />

Was wir da erlebten, ist mir noch nie passiert.<br />

In e<strong>in</strong>em Raum von höchstens drei Quadratmetern,<br />

waren sämtliche Stühle, die man f<strong>in</strong>den konnte,<br />

here<strong>in</strong>gequetscht worden. Und obendrauf etwa 60<br />

K<strong>in</strong>der, die, wie e<strong>in</strong>e Mutter sagte, schon seit zwei<br />

Stunden warteten. Wir kamen weder here<strong>in</strong>, noch<br />

liess sich irgend e<strong>in</strong> Bild dort malen. So g<strong>in</strong>g die<br />

Hälfte der K<strong>in</strong>der mit e<strong>in</strong> paar Stühlen nach draußen<br />

<strong>in</strong> den kle<strong>in</strong>en Hof, wo sie dann als Tische benutzt<br />

wurde. Auf diese Weise bestanden wir die erste<br />

Feuerprobe, von kritisch-neugierigen Müttern am<br />

Fenster beobachtet.<br />

Die Ergebnisse dieser Arbeit waren für mich<br />

erschütternd. Es gab K<strong>in</strong>der, denen man ansah, dass<br />

sie noch nie e<strong>in</strong>en Buntstift <strong>in</strong> der Hand gehabt,<br />

geschweige denn e<strong>in</strong> Bild gemalt hatten. Wir brauchten<br />

viel Geduld und Zeit, ihnen Malen beizubr<strong>in</strong>gen.<br />

So liegt auch heute noch unsere Hauptarbeit mit<br />

ihnen beim Malen. Wir erzählen e<strong>in</strong>e Geschichte,<br />

stellen e<strong>in</strong> Thema oder lassen den Inhalt e<strong>in</strong>es Liedes<br />

malen. Ich male dann immer e<strong>in</strong> zum Thema passendes<br />

Bild vorher auf e<strong>in</strong> großes Blatt und hänge es an<br />

die Wand, damit die K<strong>in</strong>der e<strong>in</strong> Beispiel zum eventuellen<br />

Abmalen haben.<br />

Da für die K<strong>in</strong>derarbeit ke<strong>in</strong> eigener Raum vorhanden<br />

war, spielte ich mit ihnen bei schönem Wetter<br />

auf der Strasse Ball- Gelände- oder Reigenspiele,<br />

machte Tonarbeiten, wofür wir vorher geme<strong>in</strong>sam<br />

den Ton <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em nahen Fluss holten. Bei schlechtem<br />

Wetter konnten wir <strong>in</strong> die Hütte von Dona Iracema<br />

gehen und dort wurden dann auf dem Fussboden die<br />

Bilder hergestellt, richtige Spiele gemacht, gesungen<br />

und Märchen erzählt. Zu Weihnachten gab es e<strong>in</strong>e<br />

kle<strong>in</strong>e Feier. H<strong>in</strong>terher durfte jedes K<strong>in</strong>d etwas mit<br />

nach Hause nehmen, und das <strong>Jahre</strong>sende wurde mit<br />

e<strong>in</strong>em Besuch im Zoo beendet, der bei den K<strong>in</strong>dern<br />

bis heute e<strong>in</strong>en großen E<strong>in</strong>druck h<strong>in</strong>terlassen hat.<br />

Das Bedürfnis nach e<strong>in</strong>er eigenen „Schulhütte“<br />

wurde aber immer größer. Und im Februar wurde<br />

diese von e<strong>in</strong>igen Favelabewohnern verwirklicht. So<br />

konnten wir das neue Schuljahr richtig beg<strong>in</strong>nen und<br />

hatten somit auch die Möglichkeit e<strong>in</strong>er wirkungsvolleren<br />

und geregelteren Arbeit mit den K<strong>in</strong>dern. Die<br />

Arbeit mit den Müttern wurde zugunsten der K<strong>in</strong>der<br />

beendet und die Frauen nahmen von da ab an den<br />

Kursen der Favela <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> teil.<br />

Bei e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaftsarbeit im April mit den<br />

Bewohnern der Favela wurde die Hütte e<strong>in</strong>gezäunt,<br />

angestrichen, das Dach ausgebessert (bis dah<strong>in</strong><br />

schwammen wir förmlich bei Regen), e<strong>in</strong> Sandkasten<br />

gebaut und Licht <strong>in</strong>stalliert. Bei solchen Geme<strong>in</strong>schaftsarbeiten<br />

g<strong>in</strong>g es immer sehr fröhlich und lustig<br />

zu. Wer von den Eltern helfen wollte, half und somit<br />

konnte auch das Verhältnis der Erwachsenen, vor<br />

allem der Männer, die uns immer etwas kritisch und<br />

sogar misstrauisch von weitem zusahen, zu unserer<br />

Arbeit gestärkt werden.<br />

Marion Stett<strong>in</strong>er, 1984


7 <strong>25</strong> <strong>Jahre</strong> Freiwillige <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong><br />

Salat. Kunst. Stacheldraht:<br />

Erlebnisbericht e<strong>in</strong>es Praktikanten<br />

Neben Freiwilligen, die e<strong>in</strong> Jahr und länger <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> mitarbeiten, kommen auch Praktikanten für kurze<br />

Zeit, um mitzuhelfen und mitzuleben. Jan Lechel, der 1997 für vier Wochen <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> war, erzählt von<br />

se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>drücken:<br />

Für e<strong>in</strong>en Monat also, sollte ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Favela arbeiten.<br />

Holzbretter, die zusammengenagelt e<strong>in</strong>e Hütte<br />

bilden - und davon ganz viele, so me<strong>in</strong>e Vorstellung!<br />

Angekommen <strong>in</strong> Brasilien wehte mir gleich e<strong>in</strong><br />

angenehmer Flair entgegen. Die Autofahrt bestätigte,<br />

was ich mir schemenhaft angelesen hatte. Brasilien,<br />

e<strong>in</strong> Land der Gegensätze. E<strong>in</strong> Land, <strong>in</strong> dem die<br />

Schere zwischen arm und reich immer weiter ause<strong>in</strong>anderzuklaffen<br />

sche<strong>in</strong>t. Noble Hotels, die <strong>in</strong> der<br />

Nachbarschaft von Favelas aus dem Boden sprießen.<br />

Viele Autos. Später erfahre ich, dass der Verkehr <strong>in</strong><br />

São Paulo e<strong>in</strong>es der größten Probleme der Stadt ist.<br />

Ankunft <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong><br />

Zuerst das Centro Cultural kennengelernt. Sofort<br />

positiven E<strong>in</strong>druck gehabt: Das ist e<strong>in</strong> Haus, <strong>in</strong> dem<br />

Leben Stattf<strong>in</strong>det. Dort treffen Menschen zusammen.<br />

Dort ist Bewegung. Und überall K<strong>in</strong>der.<br />

Die ersten Sprachversuche gestartet. Kläglich<br />

gescheitert. Ich merke, dass ich <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht<br />

hätte mehr tun müssen. Dieser E<strong>in</strong>druck bestätigt sich<br />

<strong>in</strong> den nächsten Wochen fast täglich. Wie gerne hätte<br />

ich mich mit den Menschen unterhalten, über die<br />

„wichtigen Themen“.<br />

Kurz nach der Ankunft gleich losgelegt mit der<br />

Arbeit. Motiviert und entschlossen, angefangen <strong>in</strong> der<br />

Küche Salat zu schneiden. Nach drei Stunden die<br />

ersten Störgefühle gemerkt, wie: „was soll das hier<br />

eigentlich?“<br />

Die nächsten Tage e<strong>in</strong>en Rundgang gemacht. Die<br />

materielle Armut gesehen. Doch die geistige Armut<br />

bei vielen Menschen vermisst. Ganz im Gegenteil: ich<br />

sah <strong>in</strong> vielen Gesichtern e<strong>in</strong>e Lebensfreude, die richtig<br />

ansteckend war. Die nicht nur mich ansteckte, sondern<br />

auch die Ausländer, die <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> arbeiten.<br />

Diese Wahrnehmung war natürlich Anlass zum<br />

Nachdenken. Was ist das, was die Menschen glücklich<br />

macht? Es ist natürlich nicht so, dass alle<br />

Menschen <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> wunschlos glücklich s<strong>in</strong>d; es<br />

ist vielmehr e<strong>in</strong>e gewisse Leichtigkeit zu bemerken. Ist<br />

es brasilianische Mentalität oder ist es vielleicht e<strong>in</strong>fach<br />

nur die Tatsache, dass der Materialismus hier<br />

nicht vorhanden ist? Die Menschen haben nichts, also<br />

können sie auch nicht hässliche Gefühle wie Neid,<br />

Eifersucht und Anhaftung entwickeln?<br />

H<strong>in</strong>zu kommt die Erkenntnis, dass <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong><br />

gearbeitet wird. Für mich hat das Wort Arbeit den<br />

negativen Charakter verloren, (außer Salatschneiden,<br />

was am dritten Tag Ausmaße vergleichbar e<strong>in</strong>er<br />

Meditation annahm). Die Menschen <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong><br />

s<strong>in</strong>d gefördert. Hier hat jeder etwas zu tun und das<br />

wirkt sich aus. Hier hat nicht nur jeder e<strong>in</strong>e Aufgabe,<br />

es kommt noch h<strong>in</strong>zu, dass andere Aktivitäten, wie<br />

das kulturelle Angebot, den Menschen e<strong>in</strong>fach nicht -<br />

im positiven S<strong>in</strong>ne – zur Ruhe kommen lassen.<br />

Mit diesen Gedanken und Blasen an den F<strong>in</strong>gern<br />

(auf Lebenszeit Respekt vor jeder Köch<strong>in</strong>), lernte ich<br />

die Nachbar-Favela “Pe<strong>in</strong>ha” kennen. Me<strong>in</strong>e Aufgabe<br />

war es, mit dem angestellten Handwerker Ademário<br />

Arbeiten zu verrichten.<br />

Me<strong>in</strong> E<strong>in</strong>druck von dem Leben <strong>in</strong> der Pe<strong>in</strong>ha war<br />

e<strong>in</strong> anderer, als der <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong>. Hier kam nicht so<br />

e<strong>in</strong>e Offenheit entgegen, allerd<strong>in</strong>gs auch ke<strong>in</strong>e


<strong>25</strong> <strong>Jahre</strong> Freiwillige <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> 8<br />

Unfreundlichkeit oder ähnliches. Die Arbeit mit<br />

Ademario, dem Handwerker, gefiel mir sehr gut. Er<br />

war e<strong>in</strong>er der wenigen Menschen, mit denen ich mich<br />

komischerweise immer gut verständigen konnte. Wir<br />

lachten viel! Doch mit dem Baustil Ademarios war ich<br />

überhaupt nicht zufrieden. Es schien mir e<strong>in</strong>e<br />

Liebl<strong>in</strong>gsbeschäftigung Ademarios zu se<strong>in</strong>, Zäune um<br />

K<strong>in</strong>dergärten herum zu bauen. H<strong>in</strong> und wieder auch<br />

mal Stacheldraht. Künstlerisch konnte man se<strong>in</strong>en<br />

Arbeitsprodukten nur schwer etwas abgew<strong>in</strong>nen.<br />

Hauptsache schnell, und es muss halten.<br />

Darüber habe ich natürlich auch nachgedacht. Hier<br />

erkennt man vielleicht den globalen Baustil der<br />

Favela. E<strong>in</strong> Baustil, welcher e<strong>in</strong>em Provisorium<br />

gleicht. Drückt sich hier nicht die Ablehnung der<br />

Heimat aus? (Heimat=Favela). Natürlich spielen auch<br />

f<strong>in</strong>anzielle und geologische Gründe <strong>in</strong> diesem Fall<br />

e<strong>in</strong>e Rolle. Auf der e<strong>in</strong>en Seite hat dieses Ablehnen<br />

der Identifizierung mit der Heimat negative Auswirkungen.<br />

Sprich: wenig soziale Kontakte, ke<strong>in</strong>e Wahrnehmung<br />

des kulturellen Lebens. Doch man kann<br />

dem auch etwas Positives abgew<strong>in</strong>nen, wenn sich <strong>in</strong><br />

dem Baustil ausdrückt: „Ich nehme me<strong>in</strong> Schicksal so<br />

nicht an; ich werde hier, so schnell es geht wieder verschw<strong>in</strong>den!“<br />

Nach diesen Gedankengängen beschränkte ich<br />

mich darauf, das Künstlerische nicht unbed<strong>in</strong>gt im<br />

Produkt, sondern <strong>in</strong> der Arbeitsweise zu f<strong>in</strong>den. Nach<br />

kurzer Zeit merkte ich, dass Ademario e<strong>in</strong> talentierter<br />

Handwerker ist. Se<strong>in</strong>e Handbewegungen wurden<br />

sicher und ruhig geführt, und er dachte bei vielen se<strong>in</strong>er<br />

Handlungen lange nach.<br />

Me<strong>in</strong>e zweite Station <strong>in</strong>nerhalb der Pe<strong>in</strong>ha führte<br />

mich <strong>in</strong> die Pre-Escola. Die Pre-Escola ist e<strong>in</strong>e auch<br />

von der Associacao geführte Vorschule. K<strong>in</strong>der bis zu<br />

7 <strong>Jahre</strong>n besuchen diese Schule. Hatte ich zu diesem<br />

Zeitpunkt schon viele Begegnungen mit K<strong>in</strong>dern, so<br />

war die Arbeit <strong>in</strong> der Pre-Escola trotzdem e<strong>in</strong>e sehr<br />

<strong>in</strong>tensive Erfahrung. Was waren das für niedliche<br />

K<strong>in</strong>der! Ich werde diese neugierigen, <strong>in</strong>teressierten<br />

Blicke nicht vergessen. Man spürte förmlich, dass dort<br />

noch etwas ganz Unberührtes den K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong>newohnt.<br />

Ich hatte das Glück, dass ich an e<strong>in</strong>e Lehrer<strong>in</strong><br />

geraten b<strong>in</strong>, die nicht nur ihren Job machte, sondern<br />

mit Herz an der Berufung des Lehrers h<strong>in</strong>g.<br />

Von Tag zu Tag begleitete mich der Gedanke, aus<br />

diesen Schülern können ganz besondere Menschen<br />

werden. Doch häufiger war die Vorstellung, diese<br />

Schüler würden gar nicht die Möglichkeit haben, ihr<br />

Potential zu nutzen, außer dass diese talentierten<br />

Menschen womöglich aus ihrem Leben e<strong>in</strong> Überleben<br />

machen müssen. Dieser Gedanke löst bei mir<br />

immer noch e<strong>in</strong> tiefes Trauergefühl aus.<br />

Was man selber bisher für e<strong>in</strong> Leben geführt hat,<br />

e<strong>in</strong> Bewusstwerden der eigenen Lebensumstände,<br />

sowie Gedanken der eigenen Lebensführung schlossen<br />

sich diesem Trauergefühl an. Die Tatsache, dass<br />

ich Mitglied e<strong>in</strong>er privilegierten Gesellschaft b<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>er<br />

Gesellschaft, die eigentlich die optimalen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

hat. E<strong>in</strong>e Gesellschaft, die eigentlich den<br />

bestmöglichen Nährboden gibt, geistiges Leben zu<br />

entwickeln. Doch der Mensch <strong>in</strong> dieser Gesellschaft<br />

ist nicht zufrieden. Hat er vielleicht e<strong>in</strong>fach nicht die<br />

Möglichkeit, diesen privilegierten Status richtig zu<br />

erkennen? Was ist es, was ihm diese Erkenntnis vorenthält?<br />

E<strong>in</strong> Besuch <strong>in</strong> der öffentlichen Schule verstärkte das<br />

Gefühl der Sprachlosigkeit. Ich traf auf müde, unmotivierte<br />

Lehrer. Mir wehte e<strong>in</strong> W<strong>in</strong>d der Lethargie entgegen.<br />

„Schlechte Schüler“ werden gar nicht beachtet.<br />

Hier also ist der Ort, der die K<strong>in</strong>der eher dazu erzieht,<br />

sich mit ihrem Schicksal unkritisch abzuf<strong>in</strong>den, als<br />

sich diesem Schicksal mutig entgegenzustellen!<br />

Ich hoffe, dass auch die Pe<strong>in</strong>ha auf dem besten Weg<br />

ist, ihr Schicksal nicht e<strong>in</strong>fach so h<strong>in</strong>zunehmen, sondern<br />

versucht, voller Tatendrang diesem entgegenzuwirken.


9 <strong>25</strong> <strong>Jahre</strong> Freiwillige <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong><br />

E<strong>in</strong>e Pflanze, die dem Licht zustrebt<br />

“...Als ich mich entschloss, bei <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> für e<strong>in</strong> Voluntáriojahr zubewerben, lebte ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Lebens- und<br />

Werkgeme<strong>in</strong>schaft für Jugendliche mit Drogenproblemen. Dort verbrachte ich fünf <strong>Jahre</strong>, währendessen machte<br />

ich auch e<strong>in</strong>e Ausbildung zur Hauswirtschafter<strong>in</strong>. Da me<strong>in</strong> Leben zwischen 14 und 17 <strong>Jahre</strong>n sehr schwierig und<br />

orientierungslos war, hatte ich <strong>in</strong> dieser Zeit versucht, me<strong>in</strong>e Probleme mit Drogen zu lösen.<br />

Während me<strong>in</strong>er Therapie beschäftigte ich mich<br />

mit dem Thema Straßenk<strong>in</strong>der <strong>in</strong> Südamerika und<br />

bewarb mich 1995 bei <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong>. Zu me<strong>in</strong>er Überraschung<br />

wurde ich genommen!<br />

Ich wollte nach Brasilien um das Land, die Kultur,<br />

die Menschen und die Situation <strong>in</strong> der Favela kennenzulernen.<br />

Auf ke<strong>in</strong>en Fall wollte ich mit der<br />

E<strong>in</strong>stellung, e<strong>in</strong> großer Helfer aus dem reichen<br />

Europa zu se<strong>in</strong> <strong>in</strong> die Favela gehen.<br />

Die ersten E<strong>in</strong>drücke, haben mich von Anfang an<br />

sehr begeistert. Ich sehnte mich schon jahrelang<br />

danach e<strong>in</strong> anderes Land kennenzulernen, e<strong>in</strong> Land<br />

das nicht ganz so „äußerlich“ perfekt ist wie<br />

Deutschland. Mich fasz<strong>in</strong>ierte die chaotische<br />

Atmosphäre von São Paulo, die streunenden Hunde,<br />

die eng besiedelten Flächen und die unperfekten<br />

Häuser und Straßen.<br />

Als ich <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> e<strong>in</strong>e doch sehr organisierte <strong>in</strong><br />

formgehaltene Favela antraf war ich sehr verwundert.<br />

Bei der ersten großen Reuniao (Versammlung), begeisterten<br />

mich die vielen lebendigen, fröhlichen<br />

Menschen, die für mich e<strong>in</strong>e ideale Arbeitsgeme<strong>in</strong>schaft<br />

ausstrahlten.<br />

Zunächst wurde ich e<strong>in</strong>geteilt, im Bercario<br />

(K<strong>in</strong>derkrippe) zu arbeiten. Da waren viele schreiende<br />

Babys, die sich erstmal nicht von mir versorgen lassen<br />

wollten. Tag für Tag versuchte ich mit Spielereien,<br />

Geduld und ruhiger Art, den Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>dern zu begegnen.<br />

Nach e<strong>in</strong>igen Wochen klappte die sprachliche<br />

Verständigung besser und so ließ ich mir e<strong>in</strong>ige biographische<br />

Geschichten der K<strong>in</strong>der erzählen. E<strong>in</strong>ige<br />

K<strong>in</strong>der haben ke<strong>in</strong>e Väter mehr und mussten schon<br />

<strong>in</strong> den ersten Monaten sehr prägende schmerzhafte<br />

Erlebnisse machen. Mir g<strong>in</strong>g und geht es sehr nahe,<br />

dass hier erschreckend viele Menschen me<strong>in</strong>en, durch<br />

Mord die Probleme aus dem Weg zu schaffen.<br />

Nach und nach konnte ich mich mit den K<strong>in</strong>dern<br />

und den Frauen aus dem Bercario anfreunden, und<br />

die Arbeit bedeutete mir immer mehr. Auch die<br />

K<strong>in</strong>der ließen sich nach e<strong>in</strong>er Zeit von mir versorgen,<br />

ohne sich zu wehren und ohne Geschrei. Ich arbeitete<br />

me<strong>in</strong>e ganze Volu-Zeit dort, und mir ist auch wirklich<br />

die Arbeit mit den Frauen und den K<strong>in</strong>dern ans<br />

Herz gewachsen.<br />

Nach drei Monaten wollte ich unbed<strong>in</strong>gt auch<br />

Nachmittags mit K<strong>in</strong>dern arbeiten, und so kam ich <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e Gruppe mit Schulk<strong>in</strong>dern. Mich hat es sehr<br />

geschockt, wie respektlos die K<strong>in</strong>der mit uns<br />

Betreuern umgegangen s<strong>in</strong>d. Auf mich wirkten die<br />

K<strong>in</strong>der sehr agressiv, grenzenlos und formlos.<br />

Sehr oft musste ich mich <strong>in</strong>nerlich davor schützen,<br />

wenn e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d mich beschimpfte oder nach mir<br />

schlug. In dieser Zeit kannte ich die Arbeit mit Siebenbis<br />

Zwölfjährigen noch zu wenig, um e<strong>in</strong>en Weg zu<br />

f<strong>in</strong>den, mit ihnen zu arbeiten und sie zu verstehen.<br />

Aber me<strong>in</strong> Wille war von Anfang an, e<strong>in</strong>e Hilfe zu<br />

se<strong>in</strong> und E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die von <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> angewendete<br />

Waldorfpädagogik zu bekommen.<br />

Mich fasz<strong>in</strong>ierte immer mehr wie lebendig, fröhlich<br />

und offen die Menschen auf mich wirkten. Ich war so<br />

davon begeistert, dass ich mir die traurige Seite nicht<br />

richtig bewusst machte. Erst nach e<strong>in</strong>er drei wöchigen<br />

Reise mit Judith bekam ich Abstand von <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong><br />

und konnte mir Gedanken machen. Während dieser<br />

Reise nahm ich mir vor, das zweite Halbjahr ernster<br />

und bodenständiger anzugehen. Ich merkte, dass ich<br />

durch diese doch völlig anderen Umstände <strong>in</strong><br />

Brasilien sehr aus dem Häuschen war. Vom durchstrukturierten,<br />

geradl<strong>in</strong>igen, kühlen Deutschland, <strong>in</strong><br />

das chaotische, temperamentvolle heiße Brasilien!<br />

Das zweite Halbjahr g<strong>in</strong>g ich tatsächlich durchdrun-


<strong>25</strong> <strong>Jahre</strong> Freiwillige <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> 10<br />

gener an und merkte immer mehr wie oft doch die<br />

Fröhlichkeit der Menschen hier oberflächlich war.<br />

Mir wurde bewusster, wie sehr jeder e<strong>in</strong>zelne hier zu<br />

kämpfen hat. Soziale Strukturen, wie Sozialhilfe und<br />

Arbeitslosengeld, die uns <strong>in</strong> Deutschland das Leben<br />

viel leichter machen s<strong>in</strong>d hier e<strong>in</strong> sehr stark bemerkbares<br />

Defizit.<br />

Zwar s<strong>in</strong>d sehr viele Menschen aus ganz Brasilien<br />

nach São Paulo gezogen um ihre Lebenssituation<br />

durch das größere Arbeitsangebot hier zu verbessern,<br />

doch nun leben sie <strong>in</strong> Favelas zwischen Hochhäusern<br />

und sechsspurigen Straßen und müssen noch immer<br />

hart dafür arbeiten und kämpfen um zu überleben.<br />

E<strong>in</strong>ige Menschen s<strong>in</strong>d jetzt viel unglücklicher als<br />

zuvor.<br />

Im August wechselte ich <strong>in</strong> die K<strong>in</strong>dergruppe von<br />

Cida, von der ich sehr viel lernte. Mit viel Ruhe, Liebe<br />

und auch Strenge arbeitete sie im regelmäßigen<br />

Rhythmus mit den K<strong>in</strong>dern. Die K<strong>in</strong>der hatten trotz<br />

anfänglichen Schwierigkeiten bee<strong>in</strong>druckende Ergebnisse,<br />

z. B. bei Formenzeichnen, Aquarellmalerei,<br />

Handarbeit und Tonarbeit.<br />

Da Cida durch ihr Studium an zwei Tagen verh<strong>in</strong>dert<br />

war, sollte ich die Gruppe e<strong>in</strong>mal alle<strong>in</strong>e übernehmen.<br />

Nach nur zweiwöchigem Kennen lernen der<br />

K<strong>in</strong>der, stand ich also plötzlich, mit etwas Zweifel,<br />

aber trotzdem viel Optimismus, alle<strong>in</strong>e mit ca. 20<br />

K<strong>in</strong>dern da. Natürlich waren die K<strong>in</strong>der sehr chaotisch,<br />

und testeten erstmal aus wie weit sie bei mir<br />

gehen konnten. Dadurch lernte ich, <strong>in</strong> den extremsten<br />

Situationen ruhig und überlegt zu se<strong>in</strong>, ohne <strong>in</strong> Panik<br />

zu geraten.<br />

Für mich habe ich sehr schöne und aufbauende<br />

Situationen erlebt, aber auch viele schmerzhafte. Von<br />

Zeit zu Zeit, wurde me<strong>in</strong>e Arbeit mit den K<strong>in</strong>dern<br />

besser, jedoch noch sehr weit von Cidas Arbeitsweise<br />

entfernt. Trotzdem habe ich es geschafft e<strong>in</strong>en Weg<br />

zu f<strong>in</strong>den, die K<strong>in</strong>der zu beschäftigen und ihnen<br />

Aktivitäten nahezubr<strong>in</strong>gen, die sie noch nicht kannten.<br />

Nun b<strong>in</strong> ich fast e<strong>in</strong> Jahr <strong>in</strong> Brasilien und fühle mich<br />

hier sehr wohl und Zuhause. In der ganzen Zeit hier,<br />

habe ich mich nicht e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Mal nach<br />

Deutschland gesehnt. Ich habe hier viele Menschen<br />

kennengelernt, die mir unheimlich viel bedeuten.<br />

Dieses Jahr <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> werde ich niemals vergessen<br />

und all die Menschen <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Herzen bewahren.<br />

Für die Zukunft versuche ich, all die positiven<br />

D<strong>in</strong>ge die ich hier erlebt und gelernt habe <strong>in</strong> mir weiter<br />

leben zu lassen.<br />

Es fällt mir sehr schwer, wieder nach Deutschland<br />

zu gehen, denn <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> ist für mich me<strong>in</strong>e<br />

Familie geworden. <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong>, ist für mich der richtige<br />

Weg und e<strong>in</strong>e Chance für alle Favelabewohner<br />

von <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong>, Pe<strong>in</strong>ha und Chacara um Licht <strong>in</strong> das<br />

graue Leben von São Paulo zu br<strong>in</strong>gen.<br />

<strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> ist für mich e<strong>in</strong>e Pflanze die dem Licht<br />

entgegenstrebt und jedem Keim die Chance gibt zu<br />

gedeihen.<br />

Com muito car<strong>in</strong>ho, Claudia.*<br />

*Name von der Redaktion geändert.


11 <strong>25</strong> <strong>Jahre</strong> Freiwillige <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong><br />

Lilian und Carol:<br />

zwei “ganz normale” Favelak<strong>in</strong>er<br />

Wer als Freiwilliger längere Zeit <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> mitgearbeitet hat, bekommt oft am Ende des Aufenthalts die<br />

Aufgabe, e<strong>in</strong>es der betreuten K<strong>in</strong>der näher zu beschreiben. Von den vielen lebendigen und e<strong>in</strong>drücklichen<br />

Berichten über Begegnungen mit den K<strong>in</strong>dern möchten wir hier zwei abdrucken.<br />

Lilian: das pfiffige dunkle Mädchen mit den<br />

schwarzen Kruselhaaren, hatte es mir zwar von Anfang<br />

an angetan, aber letztendlich habe eigentlich nicht ich<br />

sie ausgesucht, sondern vielmehr sie mich. Immer hat<br />

sie me<strong>in</strong>e Nähe gesucht, wollte beim Morgenkreis und<br />

auf Ausflügen an me<strong>in</strong>er Hand se<strong>in</strong> und erzählte mir<br />

alle Neuigkeiten aus der Familie. So war es also nahe<br />

liegend, gerade dieses K<strong>in</strong>d für e<strong>in</strong>e Beschreibung auszusuchen.<br />

Und das ist ganz gut so, denn Lilian ist ke<strong>in</strong><br />

herausragendes K<strong>in</strong>d, weder besonders begabt, noch<br />

hat sie übermäßige Schwierigkeiten. Sie ist e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong><br />

„ganz normales“ K<strong>in</strong>d aus der Favela Pe<strong>in</strong>ha.<br />

Lilian geht wohl oft erst spät zu Bett – wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

schaut sie so lange fern, denn morgens ist sie oft<br />

furchtbar müde. Mit halboffenen Augen und den<br />

schräg hängenden Kopf <strong>in</strong> die Arme gestützt, hängt sie<br />

dann <strong>in</strong> ihrer Bank. Manchmal schläft sie sogar ganz<br />

e<strong>in</strong> und wird dann unter lautem Gelächter der anderen<br />

K<strong>in</strong>der geweckt.<br />

Diese Müdigkeit und Energielosigkeit machen es ihr<br />

schwer im Unterricht. Mit dem Lernen der<br />

Buchstaben hat sie Schwierigkeiten. Fast immer, wenn<br />

die meisten K<strong>in</strong>der schon mit der Lektion fertig s<strong>in</strong>d<br />

und draußen spielen, sitzt sie noch da und versucht<br />

mit kritzliger Schrift die Worte von der Tafel <strong>in</strong>s Heft<br />

zu übertragen. Wenn der „<strong>in</strong>tervalo“ beg<strong>in</strong>nt, wacht<br />

sie dann aber plötzlich auf und die Müdigkeit ist wie<br />

weggeblasen!<br />

Lilian hat ke<strong>in</strong>e speziellen Freunde. Sie rennt<br />

immer dort h<strong>in</strong>, wo gerade das Geschehen ist. Bei<br />

Streitereien, z.B. um die Schaukel, kann sie recht jähzornig<br />

werden und vertritt ihre Ziele auch gerne mal<br />

mit den Fäusten. Dabei kann man die drohende<br />

Stimme ihrer Mutter aus ihrem Mund hören: „você<br />

vai ver, men<strong>in</strong>a!“ (Du wirst schon sehen, Mädchen!)<br />

Wie ich erst später nach und nach gemerkt hate,<br />

kommt Lilian aus e<strong>in</strong>er selbst für hiesige Verhältnisse<br />

armen und vor allem verwahrlosten Familie. Man<br />

merkt dies schon an der Kleidung: oft kommt sie im<br />

W<strong>in</strong>ter, wenn es so kalt ist, dass ich mit Wollpullover<br />

und zwei Paar Socken noch friere, mit kurzem<br />

Kleidchen und nur mit Schlappen an den nackten<br />

Füßen <strong>in</strong> der pré-escola an. Wenn Mercedes sie dann<br />

heimschickt, sich umzuziehen, steht sie kurze Zeit später<br />

wieder <strong>in</strong> der Türe, mal mit den viel zu großen<br />

Socken vom Vater, mal mit der viel zu engen<br />

Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gshose vom kle<strong>in</strong>en Bruder, die ihr dann gerade<br />

mal übers Knie reicht. Aber gerade weil sie nicht<br />

das Modezeug trägt (das ihr ihre Mutter vielleicht<br />

sogar gerne kaufen würde) sieht Lilian oft so nett aus<br />

mit ihrem zu großen violetten Samtjäckchen oder dem<br />

uralten Spitzenkleidchen, das wohl mal weiß gewesen<br />

war. Die Kleidung könnte aber e<strong>in</strong>er der Gründe se<strong>in</strong>,<br />

warum ihr der Weg <strong>in</strong> die tonangebende Mädchen-<br />

Clique versperrt bleibt, denn bei dieser spielt die<br />

Kleidung leider e<strong>in</strong>e große Rolle. Lilian selbst sche<strong>in</strong>t<br />

diesen Unterschied glücklicherweise noch nicht zu<br />

bemerken.<br />

Oft schon wollte ich Lilian zuhause besuchen, doch<br />

wie das so ist wenn zwei organisatorisch völlig untalentierte<br />

Menschen (sie und ich) e<strong>in</strong>en Term<strong>in</strong> ausmachen,<br />

hat er irgendwie nie klappen wollen. Schließlich<br />

hat mich der Krankenpfleger Andreas e<strong>in</strong>es nachmittags<br />

e<strong>in</strong>fach bei ihrem Haus abgestellt, und ich b<strong>in</strong><br />

auch prompt herzlich empfangen worden.<br />

Die Mutter, die ich nur vom Sehen kenne, war leider<br />

noch nicht von der Arbeit zurück, denn sie arbeitet<br />

am fernen Flughafen. Der Vater ist e<strong>in</strong> ganz schmales,<br />

weißhaariges Männchen mit gutmütigem, faltenreichen<br />

Gesicht und wirkt für so junge K<strong>in</strong>der sehr alt.


<strong>25</strong> <strong>Jahre</strong> Freiwillige <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> 12<br />

Er war sehr freundlich und offen, aber irgendwie<br />

unbeholfen. Er ist e<strong>in</strong> ganz, ganz e<strong>in</strong>facher Mann, der<br />

aus wirtschaftlichen Gründen aus dem Nordosten<br />

nach São Paulo gekommen ist. Jetzt ist er ohne Arbeit<br />

und bei schlechter Gesundheit.<br />

Lilian hat zwei ältere Schwestern, e<strong>in</strong>en älteren<br />

Bruder (von dem der Vater nicht so genau wusste, ob<br />

er nun sieben oder neun ist) und e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en vierjährigen<br />

Bruder, der nur mit Schnuller im Mund rumläuft.<br />

Die K<strong>in</strong>der – sogar Lilian, aus deren Armen ich<br />

mich <strong>in</strong> der Pré-escola manchmal fast gewaltsam<br />

befreien muß – waren alle anfangs sehr verklemmt<br />

und haben nur heimlich gekichert, was sich aber bald<br />

gelegt hat.<br />

Das Haus besteht aus großer Küche, kle<strong>in</strong>em<br />

Wohnzimmer und Schlafzimmer. Alles ist voll gestellt<br />

und überall liegt Wäsche herum. Aber wo sollen die<br />

Sachen auch h<strong>in</strong>, wenn e<strong>in</strong>fach ke<strong>in</strong> Platz da ist? Ich<br />

hatte den E<strong>in</strong>druck, dass die ganze Familie recht chaotisch<br />

bzw. unorganisiert ist, und Andreas, der die<br />

Familie gut kennt, hat mir das bestätigt. Es ist übrigens<br />

e<strong>in</strong> Gespräch zwischen dieser Familie und e<strong>in</strong>er Ärzt<strong>in</strong><br />

von der Krankenstation <strong>in</strong> der Pe<strong>in</strong>ha geplant.<br />

Manchmal, wenn ich mir Lilian so anschaute, dachte<br />

ich mir: Was wird wohl aus ihr, wenn sie älter wird?<br />

Wird sie sich haufenweise Gel <strong>in</strong> die Haare schmieren<br />

um die Krussellocken glatt zu bekommen, dick<br />

Lippenstift auftragen und den neuesten Modetanz<br />

nachahmen, wie so viele von den jungen Mädchen<br />

hier? Wird sie vielleicht auch e<strong>in</strong>e von den jungen<br />

Müttern se<strong>in</strong>, die im Ambulatório auf die Hebamme<br />

Angela warten? In dem schönen K<strong>in</strong>dergesicht ist<br />

noch alles so offen und alles möglich, aber wenn man<br />

auf die Umgebung schaut, die kle<strong>in</strong>e Favela-Kultur,<br />

sieht alles schon so vorgeplant aus. Für jemanden der<br />

dann nicht e<strong>in</strong>e Familie hat, die ihn vor diesen<br />

E<strong>in</strong>flüssen schützen kann, muß es doch unglaublich<br />

schwer se<strong>in</strong>, se<strong>in</strong>en eigenen Weg zu f<strong>in</strong>den.<br />

Autor<br />

unbekannt<br />

Aufzeichunungen<br />

uber Carol<br />

Carol war e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, mit dem ich anfangs nur sehr<br />

schwer zurecht kam. Ihre zurückgezogene, widerspenstige<br />

Art verunsicherte mich sehr, und umso weniger<br />

konnte Carol Vertrauen zu mir fassen. Im Rückblick<br />

fällt mir auf, dass ich sie <strong>in</strong> der Anfangszeit <strong>in</strong> der<br />

Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>dergruppe am wenigsten wahrnahm. Sie zog<br />

sich eben sehr zurück vor mir, von diesem neuen,<br />

fremden Voluntário; und ich ließ dieses problematische<br />

K<strong>in</strong>d auch so weit wie möglich <strong>in</strong> Ruhe.<br />

Das änderte sich mit e<strong>in</strong>em Mal, als ich mit me<strong>in</strong>er<br />

Geduld am Ende war und e<strong>in</strong>fach nicht mehr nachgiebig<br />

und verständnisvoll auf Carols verkrampfte<br />

Ablehnung reagieren konnte. Als sie sich wieder e<strong>in</strong>mal<br />

weigerte, sich vor dem Essen die Hände zu<br />

waschen, trug ich das strampelnde K<strong>in</strong>d zum<br />

Waschbecken und sagte deutlich zu ihr „Jetzt müssen<br />

wir aber die Hände waschen!“ - und sie ließ es e<strong>in</strong>fach<br />

über sich ergehen. Sie hätte sich mühelos losreißen<br />

und wegrennen können, aber sie folgte me<strong>in</strong>em energischen<br />

Verhalten und machte mit.<br />

Ich erlebte da zum ersten Mal ganz klar zwei Seiten<br />

von Carol: die e<strong>in</strong>e Seite war wie e<strong>in</strong> verängstigtes und<br />

verletzliches Wesen, das schrie, und sich weigerte, den<br />

Mund zu waschen. Die andere Seite war weicher und<br />

k<strong>in</strong>dlicher und fügte sich vertrauensvoll dem, was ich<br />

mit ihr machte.<br />

Ich hatte den E<strong>in</strong>druck, dass Carol e<strong>in</strong>en Kampf<br />

führte, den viele K<strong>in</strong>der der Favela führen müssen,<br />

zwischen zwei Extremen: e<strong>in</strong>er k<strong>in</strong>dlichen, weichen,<br />

der Welt offenen Seite, und e<strong>in</strong>er aus dieser<br />

Weichheit herausgerissenen, schutzlosen und verletzten<br />

Seite. Sie schwankte jeden Tag zwischen diesen<br />

Extremen.<br />

Beim Spielen suchte sie die Nähe anderer K<strong>in</strong>der,<br />

konnte sich ihnen gegenüber jedoch nur selten richtig<br />

öffnen. Oft blieb sie <strong>in</strong>nerlich verschlossen und abwei-


13 <strong>25</strong> <strong>Jahre</strong> Freiwillige <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong><br />

send, raffte alles Spielzeug mit ihren Händchen<br />

zusammen, schrie „me<strong>in</strong>s! me<strong>in</strong>s!“ und verteidigte es<br />

mit Schlägen und Kniffen gegen die anderen K<strong>in</strong>der.<br />

Das Loslassen, das sich <strong>in</strong>s Spiel h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geben, was ja<br />

k<strong>in</strong>dliches Spielen erst ausmacht, fiel ihr unendlich<br />

schwer.<br />

Nur manchmal konnte ich beobachten, wie es ihr<br />

wirklich gelang, <strong>in</strong> diese Welt e<strong>in</strong>zutauchen. Meist saß<br />

sie dann alle<strong>in</strong> auf ihrem Liebl<strong>in</strong>gsstuhl <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ecke,<br />

auf dem Schoss e<strong>in</strong>e Puppe, mit der sie völlig h<strong>in</strong>gebungsvoll<br />

<strong>in</strong>s Spielen vertieft war. Mit dieser Puppe,<br />

so schien es mir, brauchte sie ke<strong>in</strong>e Verletzungen oder<br />

Angriffe zu erwarten, und deshalb konnte sie dann alle<br />

Härte ablegen und sich öffnen. Manchmal gab es solche<br />

Phasen selbstvergessenen Spielens auch mit anderen<br />

K<strong>in</strong>dern, jedoch fast nie, wenn Erwachsenen zu<br />

nah bei ihr waren. Und leider konnten diese Phasen<br />

auch sehr schnell und übergangslos wieder vorbei<br />

se<strong>in</strong>, dann sprang sie plötzlich auf und riss e<strong>in</strong>em<br />

anderen K<strong>in</strong>d die Spielsachen aus der Hand, oder vertrieb<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em plötzlichen Wutanfall alle K<strong>in</strong>der aus<br />

ihrer Nähe. Die regelmäßig darauf folgenden<br />

Ermahnungen der Erzieher<strong>in</strong>nen hatten dann meistens<br />

zur Folge, dass Carol sich trotzig zurückzog und<br />

heulte.<br />

Lass uns Samen pflanzen!<br />

Immer wenn wir im Garten waren, merkte ich, wie<br />

sehr Carol das brauchte. Als würde das saftige Grün<br />

die Kanten abfedern, die Carol so oft gegen ihre<br />

Außenwelt zeigt. Als würde das Rascheln der Blätter<br />

des großen Avocado-Baumes ihre Anspannung mit<br />

sich forttragen.<br />

Ich wollte Carol e<strong>in</strong> wenig den Reichtum der Natur<br />

um uns herum zeigen und gab ihr e<strong>in</strong>en verästelten<br />

Pflanzenstängel, den ich im Gras gefunden hatte. Er<br />

war ganz verzweigt und hatte viele kle<strong>in</strong>e, grüne<br />

Samenhülsen. Nach e<strong>in</strong>er kurzen Phase des Staunens<br />

und des vorsichtigen Betastens der Zweige f<strong>in</strong>g Carol<br />

jedoch an, mit ihrem F<strong>in</strong>gernagel die Hülsen zu schälen<br />

und das weiche Innere zwischen den F<strong>in</strong>gern zu<br />

zerdrücken - als wollte sie sehen, was sich <strong>in</strong> den<br />

Hülsen verbirgt. Mit fast fieberhafter Verbissenheit<br />

zupfte sie erst alle Hülsen von dem Zweig und zerstükkelte<br />

dann e<strong>in</strong>en nach dem anderen mit ihren<br />

F<strong>in</strong>gernägeln. Ihre weiche, staunende Offenheit hatte<br />

sich gleich wieder <strong>in</strong> diese Härte und Verbissenheit<br />

verwandelt, die Carol <strong>in</strong> letzter Zeit so dom<strong>in</strong>ierte.<br />

Brauchte sie e<strong>in</strong> Ventil für überschüssige Kraft?<br />

Plötzlich hatte ich e<strong>in</strong>e Idee: „Lass uns Bäume pflanzen!“<br />

sagte ich und begann, kle<strong>in</strong>e Löcher <strong>in</strong> die Erde<br />

zu graben und mit Carols Hilfe die Samen here<strong>in</strong>zulegen.<br />

Plötzlich war sie wieder weg, diese destruktive<br />

Verbissenheit. Ich erklärte ihr, dass bald viele kle<strong>in</strong>e<br />

Bäumchen aus den Samen wachsen würden, wenn<br />

wir sie nur ganz vorsichtig <strong>in</strong> die Löcher legten und<br />

mit Erde bedeckten. Etwas ungläubig zwar, aber sehr<br />

hilfsbereit machte sie mit, bis alle Samen sorgsam mit<br />

Erde bedeckt waren.<br />

Leider hielt sich auch diese Stimmung nicht lange <strong>in</strong><br />

ihr. Nach e<strong>in</strong>iger Zeit begann sie wieder, mit ihren<br />

F<strong>in</strong>gern die Erde aufzuwühlen und die Samen herauszuholen.<br />

Sie sammelte alle <strong>in</strong> ihrer kle<strong>in</strong>en Faust<br />

zusammen. „Me<strong>in</strong>e, me<strong>in</strong>e!“ sagte sie nur und schaute<br />

mich mit e<strong>in</strong>em Blick an, als würde ich ihr die<br />

Samen wieder wegnehmen wollen.<br />

In den Gassen der “Pe<strong>in</strong>ha”<br />

Später <strong>in</strong> den Sommerferien besuchte ich e<strong>in</strong>ige<br />

K<strong>in</strong>der öfter unten <strong>in</strong> den engen Gässchen der Favela<br />

Pe<strong>in</strong>ha, um dort mit ihnen zu spielen. Dort lernte ich<br />

auch Carols Mutter kennen.<br />

Um Carol kümmerte sie sich weder aktiv, noch<br />

konnte sie das Mädchen <strong>in</strong>nerlich so loslassen, dass es<br />

selbständig und frei hätte spielen können. Ich sah oft,<br />

wie sie Carol unter e<strong>in</strong>em Vorwand zu sich rief, ihre<br />

Aufmerksamkeit aber dann nicht wirklich auf Carol<br />

richtete, sondern mit ihren Tätigkeiten fortfuhr, ohne<br />

sie weiter zu beachten. Hier merkte ich sehr, dass die<br />

wirklichen Probleme vieler Menschen <strong>in</strong> der Favela


<strong>25</strong> <strong>Jahre</strong> Freiwillige <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> 14<br />

nicht <strong>in</strong> ihrer materiellen Armut liegen, sondern dar<strong>in</strong>,<br />

dass sie ihr eigenes Leben nicht mehr aktiv gestalten<br />

können. Es war ja nicht böser Wille, wie sie mit ihren<br />

K<strong>in</strong>dern umg<strong>in</strong>g, sondern sprach vielmehr von e<strong>in</strong>em<br />

Mangel an Kraft und e<strong>in</strong>er tiefen Orientierungslosigkeit<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em so grauen Alltag.<br />

Ich er<strong>in</strong>nere mich noch an e<strong>in</strong> Erlebnis gegen Ende<br />

der Ferien: Es war e<strong>in</strong> typischer brasilianischer<br />

Sommertag, die Sonne hatte schon stundenlang aus<br />

dem wolkenlosen Himmel heruntergeschienen, <strong>in</strong><br />

den Baracken war es backofenheiß – so heiß, als wäre<br />

die Zeit stehen geblieben und nichts würde sich mehr<br />

bewegen.<br />

Irgendwo sah ich Carol, die sich aber nicht zu den<br />

anderen K<strong>in</strong>dern traute, sondern sich halb h<strong>in</strong>ter ihrer<br />

Mutter versteckte, welche müde mit e<strong>in</strong>igen anderen<br />

Frauen im Schatten saß und auch nur auf das<br />

Vergehen der Zeit zu warten schien. Nach e<strong>in</strong>iger Zeit<br />

ragte Carols lockiger Kopf immer wieder h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>em<br />

Mauerabsatz hervor, brüllte e<strong>in</strong>ige wüste D<strong>in</strong>ge und<br />

verschwand dann wieder. Erst konnte sie die Gruppe<br />

der spielenden K<strong>in</strong>der nicht stören, doch dann nahm<br />

sie kle<strong>in</strong>e Ste<strong>in</strong>e vom Boden und begann sie gezielt<br />

nach uns zu schmeißen. Bei allem Verständnis für ihre<br />

Situation packte mich da doch die Wut; auch mich<br />

machte die flimmernde Hitze mürrisch und kraftlos,<br />

und ich konnte so etwas wirklich nicht gebrauchen.<br />

Ich verspürte große Lust, Carol wütend anzuherrschen.<br />

Die anderen K<strong>in</strong>der begannen schon damit,<br />

Carol h<strong>in</strong>terher zu rennen, um sie zu verjagen - ewig<br />

dasselbe Spiel.<br />

So besann ich mich und versuchte, irgendwie diese<br />

unsichtbare Grenze aufzulösen, die Carol von den<br />

anderen K<strong>in</strong>dern trennte. Ich bat sie e<strong>in</strong>fach, uns<br />

noch mehr von diesen kle<strong>in</strong>en Ste<strong>in</strong>chen zu br<strong>in</strong>gen.<br />

Irritiert von dieser unerwarteten Reaktion ließ Carol<br />

die Hand s<strong>in</strong>ken, mit der sie gerade e<strong>in</strong>en Kiesel hatte<br />

schmeißen wollen. „Komm, br<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> paar Ste<strong>in</strong>chen,<br />

wir können damit spielen!“ rief ich. Carol ließ die<br />

Ste<strong>in</strong>e los und kam zu uns, setzte sich auf die Treppe<br />

ganz dicht neben mich. Seit langem hatte sie nicht<br />

mehr so sehr me<strong>in</strong>e Nähe gesucht. Schön war auch<br />

die Reaktion der anderen K<strong>in</strong>der, die Carol eben<br />

noch Beschimpfungen h<strong>in</strong>terher geschrien hatten, sie<br />

aber jetzt sofort <strong>in</strong>s Spiel <strong>in</strong>tegrierten, als wäre nichts<br />

gewesen. Lange blieb Carol nicht bei uns, bald sprang<br />

sie wieder auf, und lief zur Baracke ihrer Mutter –<br />

aber etwas hüpfender als vorher.<br />

... Was Hoffnung gibt<br />

Manchmal fragt man sich da, was für e<strong>in</strong>e Hoffnung<br />

noch bleibt, angesichts so schwieriger Umstände, <strong>in</strong><br />

denen K<strong>in</strong>der wie Carol aufwachsen müssen.<br />

Manchmal bleibt wirklich nichts als Frust, wenn man<br />

e<strong>in</strong> solches K<strong>in</strong>d begleitet, das ke<strong>in</strong> gesundes Umfeld<br />

hat, sich kaum k<strong>in</strong>dgerecht entfalten kann. Und doch<br />

gibt es diese Hoffnung, auch und gerade bei solchen<br />

K<strong>in</strong>dern wie Carol. Sie zeigt sich <strong>in</strong> der Kraft, wenn<br />

Carol strahlend die Treppe zum kle<strong>in</strong>en Garten unserer<br />

M<strong>in</strong>i Grupo heraufstürmt.<br />

Und e<strong>in</strong>e solche Hoffnung erlebt man auch, wenn<br />

man die Arbeit der Associação miterlebt. Wenn man<br />

sieht, was für e<strong>in</strong> menschliches Mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> der<br />

Favela <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> seit 22 <strong>Jahre</strong>n trotz aller<br />

Schwierigkeiten entstehen konnte. Wenn man<br />

geme<strong>in</strong>sam mit den vielen Mitarbeitern des Vere<strong>in</strong>s <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er Versammlung das Lied Franz von Assisis s<strong>in</strong>gt<br />

und merkt, was für e<strong>in</strong>e Kraft da ist. Wie lebendig und<br />

stark die Arbeit des Vere<strong>in</strong>s ist. Obwohl viele der<br />

Mitarbeiter <strong>in</strong> ihrer K<strong>in</strong>dheit mit ähnlichen<br />

Problemen zu kämpfen hatten, wie Carol.<br />

In schwierigen Momenten dachte ich manchmal, man<br />

sollte eigentlich nur die Augen schließen und auf diese<br />

lebendige, göttliche Kraft vertrauen, die <strong>in</strong> allen<br />

Menschen ist - besonders <strong>in</strong> K<strong>in</strong>dern. Denn diese<br />

Kraft ist da, auch wenn sie manchmal von all dem Leid<br />

verdeckt ist. Ich glaube, wirkliche Hilfe bedeutet; diese<br />

Kraft, diese Hoffnung <strong>in</strong> den Menschen zu fördern.<br />

Jan Mergelsberg, 2001


15 <strong>25</strong> <strong>Jahre</strong> Freiwillige <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong><br />

Sao Paulo: “welcome to where<br />

the th<strong>in</strong>gs are different...”<br />

Manchmal geht man für e<strong>in</strong> Jahr nach <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong>, und bleibt für viel länger. Dennis Pausch<strong>in</strong>ger zum Beispiel,<br />

der 2002 als Freiwilliger kam, ist <strong>in</strong> Brasilien geblieben, um an der Universidade de São Paulo zu studieren und<br />

für <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> zu arbeiten. Regelmäßig schrieb er an Freunde se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>drücke über das Leben <strong>in</strong> dieser<br />

Großstadt voller Gegensätze, zwischen Wolkenkratzern im “Centro” und der armen “Periferia”, wo auch die<br />

Favela <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> liegt.<br />

Wenn man e<strong>in</strong>e Muschel an se<strong>in</strong> Ohr hält, hört man<br />

e<strong>in</strong> Rauschen. Ich habe letztens gelernt, dass dieses<br />

Rauschen nicht se<strong>in</strong> eigenes Blut ist, was man zirkulieren<br />

hört, oder das es das Meeresrauschen wäre, sondern<br />

dass die Architektur der Muschel dafür verantwortlich<br />

ist. Geräusche, die man sonst nie hören<br />

würde, hört man im Muschelgehäuse wiederkl<strong>in</strong>gen<br />

und so funktioniert das auch, wenn man se<strong>in</strong>e Hand<br />

krümmt und an se<strong>in</strong> Ohr hält.<br />

Wenn ich Nachts nach Hause komme, auf dem<br />

Dach des Hauses vor me<strong>in</strong>er Wohnung stehe und <strong>in</strong><br />

das Lichtermeer der größten Stadt Südamerikas blikke,<br />

benötigt man ke<strong>in</strong>e Muschel, um dieses Rauschen<br />

wahrnehmen zu können, welches São Paulo ausströmt.<br />

Es ist, als wenn man am Meer ist und dass<br />

Meeresrauschen nicht <strong>in</strong> Wellen kommt, sondern stetig<br />

da ist. Man braucht auch se<strong>in</strong>e Hand nicht zu<br />

krümmen und an se<strong>in</strong> Ohr zu halten, denn die<br />

Geräuschekulisse ist stark genug, um bis <strong>in</strong> die<br />

Peripherie zu dr<strong>in</strong>gen. Es sche<strong>in</strong>t, als höre man e<strong>in</strong><br />

Meer. E<strong>in</strong> Meer aus Lebenden, stetig Sterbenden und<br />

stetig Geborenen. E<strong>in</strong> Meer aus Technologie und<br />

Fortschritt. E<strong>in</strong> Meer aus Armut und Reichtum. E<strong>in</strong><br />

Meer aus Liebe und Gewalt. E<strong>in</strong> Meer aus denen, die<br />

auf der Suche nach Hoffnung s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> Meer aus<br />

Gegensätzen. Und doch trifft auch die Vorstellung des<br />

Rauschens des Blutes. Blut des Lebens und Blut des<br />

Sterbens. Die offenen Venen Late<strong>in</strong>amerikas. Sie s<strong>in</strong>d<br />

hier sichtbar, genauso wie <strong>in</strong> vielen anderen Ländern<br />

dieses Kont<strong>in</strong>ents.<br />

Jazz im Zentrum<br />

Die Nacht ist angenehm warm. Die Brücke, unter der<br />

man auf dem Weg zur Bühne durch muss, ist ab 22<br />

Uhr Revier der Straßenk<strong>in</strong>der von São Paulo. Die<br />

Situation ist nicht gut und der Weg wird schneller als<br />

eigentlich nötig zurückgelegt. An der Bühne angelangt,<br />

tummelt sich alles quer durche<strong>in</strong>ander.<br />

Straßenbewohner, Bierverkäufer - und Menschen<br />

aller Klassen lauschen dem Sound e<strong>in</strong>er Jazzband. In<br />

der Musik s<strong>in</strong>d alle gleich. Alle haben die gleiche Art<br />

von plastischen Ohren und alle wippen im Sound der<br />

Blasmusik. Der Typ, der oben <strong>in</strong> dem Altbau auf der<br />

Fensterbank alles mit verfolgt. Der Mann <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

immer getragenen Kutten und dem Vollbart, die Jungs<br />

mit Ahnung, die Mädels mit Style.<br />

welcome to the periphery!<br />

Bevor der Regen e<strong>in</strong>setzt, ist man zurück im<br />

Term<strong>in</strong>al. Der Regen platscht und reißt <strong>in</strong> anderen<br />

Teilen der Stadt Menschen aus dem Schlaf, weil das<br />

Wasser <strong>in</strong>s Bett strömt. Noch wird man nicht nass, da<br />

das schmale Dach des Term<strong>in</strong>als noch e<strong>in</strong>igermaßen<br />

Schutz bietet. Im Bus aber wird es problematischer,<br />

denn es tropft und plätschert aus allen Fugen.<br />

Immer wenn der Bus zurück nach <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> die<br />

João Dias Brücke überquert, denke ich <strong>in</strong>nerlich an<br />

e<strong>in</strong>e Stewardess, die „welcome to the periphery“ sagt:<br />

„Welcome to where th<strong>in</strong>gs are different. Where life<br />

means someth<strong>in</strong>g else than <strong>in</strong> the common sense.<br />

Where life means surviv<strong>in</strong>g and where people are life<br />

artists. Where always is music <strong>in</strong> the streets and where<br />

drugs are easy to buy. Where it is easy to die and hard<br />

to live. Where are millions of people with abilities that<br />

are not seen. Where Hip-Hop is a style of life and a<br />

movement and not only a lifestyle. Where the girls are<br />

more beautiful. Where sex still means sex and not<br />

only kiss<strong>in</strong>g. Where, when you have a gun and a<br />

motorcycle, you are considered k<strong>in</strong>g. Where the<br />

people’s happ<strong>in</strong>ess lives everywhere. Where markets<br />

are visited and where fruits and vegetables are fresh.<br />

Where meat and chicken is sold <strong>in</strong> the streets. Where<br />

poverty is visible. Where the Motels costs 4 dollars the<br />

night. Where the car’s garages are churches and bars<br />

<strong>in</strong> the even<strong>in</strong>g. Where people are sitt<strong>in</strong>g at the borders<br />

of streets and are do<strong>in</strong>g noth<strong>in</strong>g than watch<strong>in</strong>g the<br />

movement. Where people from the center never goe<br />

to. Where television only reports from, if there died<br />

somebody. Where people are not from São Paulo.<br />

Where social movements are do<strong>in</strong>g impressive work.<br />

Yeah. It is where you need to be, to know what life<br />

means.” Atterissage accompli.


<strong>25</strong> <strong>Jahre</strong> Freiwillige <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> 16<br />

Rap-Text:<br />

Impressionen – Sao Paulo – Peripherie<br />

Ich schließ me<strong>in</strong>e Tür, mit nem Quietschen geht sie zu, / Dreh den Schlüssel im Schloss und geb<br />

mir nen Stoss; los! / E<strong>in</strong> leichter Nebel <strong>in</strong> der Luft, <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Hals steckt e<strong>in</strong> Klos / bloß e<strong>in</strong> paar<br />

Meter weiter bis zum Ziegelhüttenchaos.<br />

Irgendwo da oben rattert e<strong>in</strong> Heli, sucht die Gegend ab / Br<strong>in</strong>gt Licht <strong>in</strong>s Dächerdickicht, wie jeden<br />

Tag / Bis auf das unbestimmte Rauschen, dem Puls der Stadt, / Das e<strong>in</strong>zige Geräusch – es ist heiß<br />

und feucht. / Doch noch zu beiden Seiten nette Häuschen sich ausbreiten, / H<strong>in</strong>ter Mauern Gekläff<br />

– Hunde zeigen Präsenz.<br />

Der Daumen zeigt nach oben, da geht’s bergauf – me<strong>in</strong> Blick <strong>in</strong>s Tal / Fahl spiegelt sich das<br />

Morgenlicht, die Wunde sche<strong>in</strong>t schmal, doch ist da / klar und sichtbar, rot und unausradierbar,<br />

prägt sich e<strong>in</strong>, immer tiefer, / bei jedem, der mal hier war.<br />

Die L<strong>in</strong>ie ist klar def<strong>in</strong>ierbar / schon auf der andern Straßenseite kle<strong>in</strong>e Würfel / den Hang entlang<br />

verteilt: Irgendwie, irgendwo, übere<strong>in</strong>ander getapelt, / gequetscht, Wände an Wände, / w<strong>in</strong>dschief,<br />

Wellblech über den Köpfen / bröckelnder Backste<strong>in</strong>, steile Betontreppen, lange Leitungen /<br />

Wäschele<strong>in</strong>en, K<strong>in</strong>der schre<strong>in</strong>, Bars mit P<strong>in</strong>ga, We<strong>in</strong> / Arbeitslosen, kurzen Hosen, bloßen Füssen<br />

süßlicher Geruch, Hunde, Müllsäcke markierend – ihr Fressen / währendessen Fraun; braun<br />

gebranntmarkt am Waschtank.<br />

Hab Forro <strong>in</strong> den Ohren, Armut vor den Augen / doch auch Liebe im Herzen! / - Favela!<br />

Refra<strong>in</strong>:<br />

Verdammt gut, mal so etwas zu Gesicht zu bekommen<br />

- verstehn und wissen, was es wirklich heißt,<br />

aus der ersten, technisierten Welt zu kommen,<br />

aus dem Zentrum, nicht der Periferie;<br />

hier wohnt e<strong>in</strong> andrer<br />

Zeitgeist!<br />

Komm <strong>in</strong> Gegenden, die haben schon von Beg<strong>in</strong>n an verloren / Die Menschen dort schon <strong>in</strong> die<br />

Scheisse re<strong>in</strong>geboren / Misere – sie hängt über der Szenerie wie Smog, / Tag für Tag e<strong>in</strong> neuer<br />

Schock, Tag für Tag Kampf um Brot / Rot – die Farbe von Ziegelhäusern, Mauern unverputzt /<br />

grau – die Wege, Staub und Strassen, Schmutz, /<br />

benutzt von Massen kunterbunter Blechkarossen-Karawnen / und nebendran, Menschen, die ihr<br />

Leben lang zugesehn haben, wie andere sich den Weg bahnen / zu Arbeit und Geld / darüber stellt<br />

der Himmel se<strong>in</strong> schönes Blau zur Schau<br />

- übrigens genau das selbe Blau, wie <strong>in</strong> Deutschland auch!<br />

Sebastian Knust,<br />

Voluntário 2002


17 <strong>25</strong> <strong>Jahre</strong> Freiwillige <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong><br />

Gewalt und Menschlichkeit<br />

2006 war e<strong>in</strong> Jahr voller Gewalt <strong>in</strong> São Paulo. Auch <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> gab es e<strong>in</strong>e Zeit großer Unruhe. Felix<br />

Strobach war ab Juli diesen <strong>Jahre</strong>s als Freiwilliger <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> und hat sich <strong>in</strong>tensiv mit der Frage der Gewalt<br />

<strong>in</strong> den Favelas beschäftigt.*<br />

Seit im Mai diesen <strong>Jahre</strong>s 2006 São Paulo erschüttert<br />

wurde durch e<strong>in</strong>e Reihe von Anschlägen der krim<strong>in</strong>ellen<br />

Organisation “Primeiro Comando da Capital”, s<strong>in</strong>d<br />

die Themen Gewalt, Armut und Krim<strong>in</strong>alität <strong>in</strong><br />

Brasilien auf e<strong>in</strong>mal stark <strong>in</strong>s Blickfeld der weltweiten<br />

Presse gerückt.<br />

Immer wieder werden die Favelas der Grossstädte als<br />

Brutherde für Krim<strong>in</strong>alität und Gewalt genannt. Es ist<br />

<strong>in</strong>teressant, sich die Favela <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> sowie die Arbeit<br />

der Associação Comunitária <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> im H<strong>in</strong>blick<br />

auf diese Themen mal ganz konkret anzusehen.<br />

Kurz bevor im Grossraum São Paulo im Mai die<br />

Gewalt eskalierte, kam es auch <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong>, nach<br />

langer Zeit des Friedens, zu e<strong>in</strong>em Mord. Der Tod<br />

von José Maía, dem als Mitarbeiter der Associação<br />

sehr viel bei der baulichen Sanierung der Favela zu<br />

verdanken ist, der aber auch als “Favelachef” mit krim<strong>in</strong>ellen<br />

H<strong>in</strong>tergrund gefürchtet war, zeigte, dass es<br />

auch <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> nach wie vor Probleme mit<br />

Gewalt- und Krim<strong>in</strong>alität gibt.<br />

Die Favela als Wohnort represäntiert normalerweise<br />

ja schon von Anfang an e<strong>in</strong>e illegale Situation, da sie<br />

<strong>in</strong> der Regel von wohnungslosen, armen Menschen<br />

auf Brachland errichtet wird. Die Menschen, die hier<br />

leben, s<strong>in</strong>d mit großen Problemen konfrontiert, ihr<br />

E<strong>in</strong>kommen auf legale Weise zu organisieren und<br />

ebenso mit e<strong>in</strong>er Versuchung es durch illegale<br />

Erwerbsquellen, wie z.B. Drogenhandel, Diebstähle<br />

oder Prostitution zu verdienen.<br />

Me<strong>in</strong>e Vermutung ist, dass im brasilianischen Staat,<br />

<strong>in</strong> dem die Umsetzung von Recht und Gesetz durch<br />

Polizei und andere Institutionen schlecht funktioniert,<br />

ganz <strong>in</strong>dividuell Wege gefunden werden, sich<br />

Sicherheit zu schaffen. Das führt dann auch zu<br />

Positionen sogenannter “Favelachefs”, die um ihre<br />

Ideale umzusetzen, zu Methoden der krim<strong>in</strong>ellen<br />

Subkultur greifen und Selbstjustiz ausüben. Für die<br />

Associação stellte diese Situation immer e<strong>in</strong>e grosse<br />

Herausforderung dar, denn ihr war und ist es wichtig,<br />

sich von diesen krim<strong>in</strong>ellen Handlungen zu distanzieren,<br />

aber gleichzeitig den Kontakt zu allen Menschen<br />

<strong>in</strong> der Favela und deren Umfeld aufrecht zu halten<br />

sowie zu vertiefen.<br />

Die Associação versucht <strong>in</strong> jedem Menschen die<br />

positiven Fähigkeiten zu sehen und diese zu fördern.<br />

Von K<strong>in</strong>dheit an wird versucht, den Menschen dabei<br />

zu helfen, e<strong>in</strong> gesundes Selbstvertrauen und<br />

Selbstwertgefühl zu vermitteln. Menschen, die <strong>in</strong><br />

schwierigen Lebenssituationen stecken, sei es schlicht<br />

durch Armut oder weil sie <strong>in</strong> krim<strong>in</strong>elle Kreise geraten<br />

s<strong>in</strong>d, wird dabei geholfen, ihren eigenen Weg zu<br />

f<strong>in</strong>den und sich weiterzuentwickeln.<br />

So wurde zum Beispiel bei José Maáa e<strong>in</strong> großes<br />

Potential als Leiter der Urbanisierung <strong>in</strong> der Favela<br />

gesehen und ihm ermöglicht, sich auf diese positive<br />

Weise zu verwirklichen. Jugendlichen, die <strong>in</strong> der<br />

Favela durch Drogenhandel auffielen, wurde angeboten,<br />

e<strong>in</strong>e eigene Papier-Recycl<strong>in</strong>gwerkstatt zu leiten<br />

und sie wurden zu Aktivitäten, Festen oder Treffen<br />

der Associação e<strong>in</strong>geladen.<br />

In Planung ist e<strong>in</strong> Projekt “Die erste E<strong>in</strong>stellung”, <strong>in</strong><br />

dem versucht wird, Jugendlichen e<strong>in</strong>e erste richtige<br />

Arbeitssituation für e<strong>in</strong> Jahr mit fester Anstellung <strong>in</strong>kl.<br />

Gehalt zu ermöglichen. Damit können sie sich dann<br />

weiter bewerben und haben e<strong>in</strong>en ersten Schritt <strong>in</strong> die<br />

Selbstständigkeit und vor allem die Arbeitswelt<br />

geschafft.<br />

Ich persönlich habe <strong>in</strong> den letzten drei Monaten<br />

hier <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> ke<strong>in</strong>e Gewalt oder Krim<strong>in</strong>alität<br />

gesehen. Die Eskalationen im Mai diesen <strong>Jahre</strong>s habe<br />

ich nicht miterlebt und seitdem ist es <strong>in</strong> der Favela<br />

ruhig geblieben. Es gibt nach wie vor versteckten<br />

Drogenkonsum- und auch Handel, aber durch die<br />

Arbeit der Associação wird die Hemmschwelle, <strong>in</strong> solche<br />

Strukturen abzurutschen, verstärkt.<br />

*Aus Platzgründen musste der Artikel gekürzt werden.<br />

Die ungekürzte Version kann direkt bei Felix<br />

bezogen werden unter strobaer@gmx.de


Aktuelle Berichte 18<br />

VIVA heißt: Wie Traume<br />

wahr werden konnen.<br />

Bei all den Freiwilligen aus aller Welt, die <strong>in</strong> den letzten<br />

<strong>25</strong> <strong>Jahre</strong>n die Realität e<strong>in</strong>er brasilianischen Favela kennen<br />

lernten, kommt die Frage auf, ob nicht auch bei manchen<br />

Brasilianern der Traum besteht, e<strong>in</strong>mal die Realität auf<br />

der anderen Seite des Atlantiks kennen zu lernen. E<strong>in</strong>e<br />

Theatergruppe aus <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> hatte <strong>in</strong> diesem Herbst<br />

die Chance dazu: Mit dem <strong>in</strong>terkulturellen Theaterprojekt<br />

“VIVA heißt lebe!”<br />

Die deutsche Schauspieler<strong>in</strong> Katja Mergelsberg f<strong>in</strong>g vor<br />

zwei <strong>Jahre</strong>n an, von e<strong>in</strong>em Theaterprojekt im Austausch<br />

mit Brasilianern zu träumen; gleichzeitig träumte auch<br />

die Theatergruppe <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> von e<strong>in</strong>er Deutschlandtour.<br />

Durch “VIVA heißt lebe!” konnte e<strong>in</strong>e Gruppe<br />

von Deutschen und Brasilianern e<strong>in</strong>en ihrer Träume verwirklichen<br />

und jeweils die „andere Seite der Welt“ kennenlernen.<br />

Zunächst kam die deutsche Gruppe im Juni nach São<br />

Paulo. Nach <strong>in</strong>tensiver Vorbereitung entstand <strong>in</strong> nur drei<br />

Wochen aus geme<strong>in</strong>samer Tanz- und Schauspielarbeit das<br />

Stück VIVA. Nach der erfolgreichen Premiere im Centro<br />

Cultural von <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> tourte die Gruppe nun im Herbst<br />

durch Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen.<br />

Im Stück geht es um e<strong>in</strong>e deutsche und e<strong>in</strong>e brasilianische<br />

Tanzgruppe, die geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong>e Choreografie erarbeiten.<br />

Zunächst läuft alles gut, bis es zu e<strong>in</strong>em<br />

Zwischenfall kommt und die Vorurteilslosigkeit des<br />

Tanzes durchbrochen wird. Die deutsche Lara vermisst<br />

plötzlich ihre Wertsachen. Auch ihr Tagebuch ist weg,<br />

dem sie bis dah<strong>in</strong>, immer wieder ihren Traum anvertraut<br />

hatte, Tänzer<strong>in</strong> zu werden. Nur jemand aus der Gruppe<br />

hat den Diebstahl begehen können.<br />

Dieser Vorfall trennt die Gruppen und löst Beschuldigungen<br />

und Mißtrauen aus. Mar aus der brasilianischen<br />

Gruppe verh<strong>in</strong>dert e<strong>in</strong>e Eskalation der Situation, weil sie<br />

den Diebstahl gesteht und Lara ihren Traum schildert, mit<br />

dem Geld Tänzer<strong>in</strong> zu werden. Woraufh<strong>in</strong> auch Lara von<br />

ihren wirklichen Wünschen erzählt, gegen den Wunsch<br />

ihrer karrierebewußten Eltern e<strong>in</strong>e Tanzausbildung zu<br />

machen. Sie ermutigen sich gegenseitig und geben sich<br />

Kraft nicht nur zu träumen, sondern ihr Leben <strong>in</strong> die<br />

Hand zu nehmen und ihre Träume zu leben, ohne<br />

Diebstahl und Krim<strong>in</strong>alität, ohne sich von Zweifeln,<br />

Armut und Zukunftsangst davon abbr<strong>in</strong>gen zu lassen.<br />

Als nun die beiden Tanzgruppen geme<strong>in</strong>sam mal den<br />

energievollen “Coco” tanzen und dann wieder zu klassischen<br />

Takten baletthaft durch den Raum tanzen, spürt<br />

der Zuschauer etwas von dieser gegenseitigen Kraft.<br />

Improvisieren und Planen:<br />

Nicht nur im Stück, sondern auch bei den Aufführungen<br />

kam es zu aufregenden Zwischenfällen <strong>in</strong> dem sich der<br />

Zusammenhalt der Schauspielgruppen beweisen sollte<br />

und das Vertrauen zu der doch sehr verschiedenartigen<br />

Arbeitsweise herausstellte. Generell war die Erfahrung,<br />

dass die Deutschen alles sehr genau planten, während<br />

sich die Brasilianer gerne mal auf die spontane<br />

Improvisation verliessen. Beispielsweise war es <strong>in</strong><br />

Brasilien Katjas große Sorge, dass die Musikanlage versagt,<br />

daher sollte es vorbeugend e<strong>in</strong>en Plan B geben,<br />

e<strong>in</strong>en Ersatz-Ghettoblaster. Als aber bei e<strong>in</strong>er Aufführung<br />

auf der Chacarà der Fall C e<strong>in</strong>trat, weil die<br />

Anlage ausfiel und ke<strong>in</strong> Ghettoblaster organisiert war,<br />

schien es, als müsste die Aufführung scheitern. Doch sie<br />

konnte sich auf die Art der brasilianischen Improvisation<br />

verlassen. Jonny, der Percussionist der Gruppe, übernahm.<br />

Er begleitete die gesamte Aufführung mit e<strong>in</strong>em<br />

großen Trommelsolo. Nachdem die Tänzer also, bei<br />

Ausfall der Musik weitertanzten, konnte das Publikum<br />

alle möglichen Musikstücke von Bach bis Em<strong>in</strong>em von<br />

e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Trommler hören.<br />

Bei der Frage an Jonny wie er denn diese Aufführung<br />

auf der Chacara so gut meistern konnte, me<strong>in</strong>te er nur<br />

lässig und mit e<strong>in</strong>em Gr<strong>in</strong>sen über das ganze Gesicht:<br />

„Improvisieren ist nichts was man erklären kann; das<br />

improvisiert man eben!“<br />

(Ja man möchte es fast traurig f<strong>in</strong>den, dass es <strong>in</strong><br />

Deutschland nie zu e<strong>in</strong>em Plan C kam.)<br />

Anja Peter


Inhalt dieser Ponte <strong>Azul</strong>:<br />

03.... Vorwort<br />

04.... Grußwort von Ute Craemer, Impressum<br />

05.... 1983: E<strong>in</strong> Spaziergang durch die Favela<br />

06.... Die erste K<strong>in</strong>dergruppe <strong>in</strong> der Favela “Pe<strong>in</strong>ha”<br />

07.... Erlebnisbericht e<strong>in</strong>es Praktikanten<br />

09.... „E<strong>in</strong>e Pflanze, die dem Licht zustrebt“<br />

11.... Carol und Lilian: Beobachtungen über zwei Favelak<strong>in</strong>der<br />

15.... São Paulo: “welcome to where the th<strong>in</strong>gs are different...”<br />

16.... Rap-Text: Impressionen – São Paulo – Peripherie<br />

17.... Gedanken zur Gewalt <strong>in</strong> São Paulo<br />

18.... Aktuelles: Bericht über das Theaterprojekt “VIVA”<br />

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