Das Grundeinkommen - Werner Friedl
Das Grundeinkommen - Werner Friedl
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<strong>Das</strong> <strong>Grundeinkommen</strong><br />
Erzählung von <strong>Werner</strong> <strong>Friedl</strong><br />
Als mich die Nachricht vom Tod meines Freundes Arne erreichte, war ich zutiefst erschüttert. Er war in<br />
den Alpen Opfer eines Steinschlags geworden. An einem föhnblauen, gleißendklaren Tag Ende<br />
September, nachmittags gegen drei Uhr, hatte er auf einem schmalen, selten begangenen Steig in den<br />
Leoganger Steinbergen einen steilen Hang queren wollen und war von einigen hoch über ihm<br />
losgebrochenen Felstrümmern getroffen und über zweihundert Meter in die Tiefe gerissen worden.<br />
Wanderer hatten den Unfall beobachtet und versucht, zu ihm abzusteigen. Als sie Arne nach mehreren<br />
Stunden erreicht hatten, war er tot. Sein Rucksack war weitere hundert Meter in eine Schlucht gestürzt, er<br />
konnte nicht gleich geborgen werden.<br />
*<br />
Arne war Philosoph und Naturforscher, in einem wirklich so allgemeinen Sinn, wie es heute gar nicht<br />
mehr gebräuchlich ist. Man ist heute Molekulargenetiker, Kognitionswissenschaftler, Quantenphysiker<br />
oder vielleicht Wissenschaftshistoriker. Arne war alles in einem. Dazu war er Schriftsteller wie ich. Ein<br />
besserer, wie ich zugeben muss, auch wenn er die Vermarktung seiner Bücher mit noch geringerem Erfolg<br />
betrieben hatte als ich. „Egal was du produzierst“, sagte er einmal zu mir, „Schuhe, Kartoffeln,<br />
Wissenschaft oder Literatur: nie hat die Welt auf deine Produkte gewartet. Es gibt immer schon genügend<br />
viele andere, die dasselbe machen. <strong>Das</strong> Schaffen ist eine Sache, das Verkaufen eine andere.“ Zwar war er<br />
bei seiner Arbeit sorgfältig, gründlich, bisweilen auch penibel bis hin zur Pedanterie, aber das bezog sich<br />
viel mehr auf den Inhalt und die Qualität seiner Schriften als auf das Marketing.<br />
Durch Arne habe ich gelernt, mich mit Themen wie dem Leib-Geist-Problem, der Meditation und<br />
wissenschaftlicher Esoterik auseinander zu setzen. Er hat mir die Angst genommen, dass es sich bei diesen<br />
Gegenständen um abgehobene, unbrauchbare, ja irgendwie alberne Dinge handeln könnte, die man als<br />
ernst zu nehmender Mensch besser nicht anfasst, ohne sich der Lächerlichkeit auszusetzen. Arne war ein<br />
geradliniger, in seinen Ansichten überzeugender und zutiefst lebenspraktischer Mensch, und allein der<br />
Umstand, dass er sich mit einer Sache näher beschäftigte, verlieh dieser den Charakter von Seriosität.<br />
Eine von Arne mit großem Einsatz beackerte Flur war die systematische wissenschaftliche Eroberung<br />
immaterieller Lebensbereiche. Sein Anliegen war, so weit wie möglich auf rein geistige Gebiete<br />
vorzudringen, ohne dabei seinen streng wissenschaftlichen Anspruch aufzugeben, den er gerne in allem,<br />
was er tat, an den Tag legte. Er verabscheute die Haltung vieler Naturwissenschaftler, sich gegenüber<br />
geistigen, religiösen oder allgemein ideellen Fragestellungen abzugrenzen und sich für nicht zuständig zu<br />
erklären. Fasziniert beobachtete er zum Beispiel bestimmte Grundlagenforschungen in der Physik, die ihm<br />
in seiner Auffassung, dass sichtbare Welt und geistiger Grund Ein und <strong>Das</strong>selbe waren, Recht zu geben<br />
schienen. „Wie kann es“, fragte er mich eines Tages, „einen Urknall gegeben haben, ohne eine Kraft, die<br />
ihn in Gang gesetzt hat? Wie kann jemand wie Stephen Hawking, der das Weltmodell des Big Bang<br />
geschaffen und jahrzehntelang gelehrt hat, allen Ernstes von sich sagen, er sei Atheist? Der ist doch nicht<br />
nur gelähmt, sondern in erster Linie blind!“<br />
Arne befasste sich viel mit Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie und deren Geschichte, sowie mit<br />
Philosophie und Theologie. Die Philosophie des Geistes und die Theosophie und schließlich die<br />
Anthroposophie wurden zu seinen bevorzugten Arbeitsfeldern. Er studierte die Schriften von Leibniz und
Kant, von Steiner und Haeckel, von Darwin, Einstein und Pauli, dazu neuere Arbeiten aus<br />
Neurophysiologie, Psychologie und Quantenphysik. Im Verlauf seiner Studien stieß er unter vielen<br />
anderen Denkern auf den Anatom und Physiologen Emil du Bois-Reymond, der in der zweiten Hälfte des<br />
19. Jahrhunderts einer der führenden Köpfe der deutschen Naturwissenschaft war. Dieser, so erklärte mir<br />
Arne während eines langen Spaziergangs an einem trüben Vorfrühlingsnachmittag, betrachtete das<br />
menschliche Bewusstsein als grundsätzlich nicht wissenschaftlich erklärbar und behauptete in einer wohl<br />
berühmt gewordenen Rede vor der versammelten Naturforscherelite des deutschen Reiches, dass eine<br />
solche Erklärung auch niemals geschehen könne: Ignorabimus!<br />
<strong>Das</strong> war für Arne nun gerade Anlass, sich mit all den Philosophen und Gelehrten zu beschäftigen, die du<br />
Bois-Reymond heftig widersprochen hatten, und von denen es offenbar eine ganze Menge gegeben hatte.<br />
Was Arne an diesem Thema, das mir zuerst eher theoriegrau, spekulativ und irgendwie vorgestrig<br />
daherzukommen schien, so begeisterte, war die Tatsache, dass man das Bewusstsein oder, wie er es<br />
nannte, den Geist, zu jener Zeit offenbar noch mit großer Selbstverständlichkeit als eigenständige Instanz<br />
des Seins betrachtete. Er holte weit aus. „Gott, Geist, das Absolute oder wie immer man früher dazu<br />
gesagt hat: von der Antike durch das ganze Mittelalter hindurch bis hinein in die Aufklärung zu Kant und<br />
Hegel hat man dessen Existenz nie angezweifelt. Der Fortschritt an Wissen und Naturverständnis war zu<br />
keiner Zeit ein Hinderungsgrund, den Geist als etwas faktisch Lebendiges zu akzeptieren. Ob sich das wie<br />
bei Descartes in dualistischer Weise ausprägt, man die Welt also in eine res cogitans und eine res extensa teilt<br />
– wo er eigentlich Platon folgt, nicht wahr, der das Göttliche jenseits des Seins ansiedelte –, oder aber wie<br />
bei Giordano Bruno, Spinoza und anderen ‚Ketzern’, die die Welt einheitlich als göttliche Substanz<br />
definierten und damit die Kirche eher überflüssig machten: stets war der Geist eine unumstößliche<br />
Realität. Und noch nach der Aufklärung, die ganze Klassik und Romantik hindurch: immer war das<br />
Verhältnis von Geist und Materie beherrschendes Thema. Wie drückt Gott oder der Geist sich aus – in<br />
der Welt, im Menschen? Und welchen Weg finden wir zu ihm? Was könnte ich dir dazu von Novalis<br />
zitieren! Goethe sowieso. Oder der deutsche Idealismus – denk nur an Schelling!“<br />
Nicht immer fiel es mir leicht, den Gedankenflügen meines Freundes zu folgen.<br />
„Im neunzehnten Jahrhundert fing dann das Übel an.“ Arne war in Fahrt geraten. „Je mehr die<br />
Wissenschaft über die physische Beschaffenheit der Welt und des Menschen Bescheid wusste, desto eher<br />
glaubte sie auf den Geist verzichten zu können. Und dieser du Bois-Reymond steht gewissermaßen an der<br />
Schwelle. Zwar gesteht er dem Geist ein Existenzrecht zu, irgendwo über oder hinter dem Materiellen,<br />
aber er meint auf eine Erforschung verzichten zu können, da dies ohnehin unbetretbares Gelände sei.<br />
Weder die Gegner noch die Befürworter dieser These von der wissenschaftlichen Unzugänglichkeit des<br />
menschlichen Bewusstseins stellen aber dessen reale Existenz in Frage. Und das, finde ich, ist wiederum<br />
das eigentlich Bemerkenswerte an der ganzen Sache. Schau sie dir dagegen heute an, die Damen und<br />
Herren Gelehrten: da ist doch alles bloß noch Neuron, Hormon, Gen. Den Geist haben sie aus den<br />
Wissenschaften exorziert“, spottete Arne. „Wenn ich schon höre, dass sie wieder ein Gen oder Enzym<br />
oder so was gefunden haben, das für irgendetwas verantwortlich sein soll, Krebs oder eine andere Krankheit.<br />
So ein Ding trägt doch für die Erkrankung nicht mehr Verantwortung als der Lichtschalter fürs<br />
Hellwerden!“<br />
Du Bois-Reymond, so fuhr Arne fort, habe immerhin noch zweifelsfrei festgestellt, dass es den Geist gebe<br />
und seine Wechselwirkung mit der menschlichen Physis ausführlich zu erforschen versucht. „<strong>Das</strong>s er<br />
dann sich selber vom Begreifen dieses Geistes ausgeschlossen hat und alle anderen Wissenschaftler dazu<br />
und das für alle Zeiten, das verstehe ich nicht! Er hätte doch, wenn er schon das Geistige als etwas<br />
wirklich Vorhandenes, quasi Handfestes ansah, nur den kleinen Schritt tun müssen, sich eben mit rein<br />
geistigen Mitteln an die Erforschung zu machen, nicht mit seinen Laborgeräten oder sonstigem physischem<br />
Kram. Da kommt er natürlich nicht weit. <strong>Das</strong> Denken selber ist das Instrument, das er sich zum<br />
Werkzeug hätte zurechtmachen sollen. Lies mal Steiner.“<br />
Arne sortierte die Lager: auf der einen Seite die Naturwissenschaftler klassischer, quasi du Bois-<br />
Reymond’scher Prägung, deren Überzeugung es war und bis heute ist, dass es im Geistigen einen Bereich<br />
gebe, der sich grundsätzlich und auf ewig dem erforschenden Zugriff entziehen würde. „Die scheuen alles,<br />
was auch nur von Ferne nach Geist riecht, wie der Teufel das Weihwasser und überlassen das lieber den<br />
Kollegen von der philosophischen Fakultät. Oder noch besser den Pfarrern.“ Überraschenderweise wies<br />
Arne aber auch die Pfarrer selbst, beziehungsweise die Theologen und alle, die mit einer religiösen<br />
Grundhaltung an dieses Thema herangehen, in dieses Lager ein, schlössen sie doch nach seiner Meinung<br />
ebenfalls einen rationalen wissenschaftlichen Zugang zu Geist, Gott und Ewigkeit aus. Ihnen sei – ebenso<br />
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wie den klassischen Naturforschern – die unüberwindliche Grenze zwischen Geist und Materie zur<br />
zweiten Natur geworden<br />
Auf der anderen Seite standen für Arne diejenigen, welche die Existenz eines geistig-immateriellen<br />
Bereichs von vornherein in Frage stellten, da ihrer Ansicht nach grundsätzlich und ausnahmslos alles im<br />
Universum aus materieller Grundsubstanz bestehe und man daher jegliches Geistige – falls es nicht<br />
ohnehin nur eine Illusion darstellt – als eine Funktion dieser Materie anzuschauen habe. Epiphänomenologen<br />
nannte Arne die Propagandisten dieser Haltung, die das Bewusstsein nur als von der Materie abgeleitete<br />
Erscheinung gelten lassen wollten, oder, geringschätziger, Vulgärmaterialisten. Am meisten liebte er aber die<br />
Bezeichnung Neurophilosophen, auf die er im Zuge seiner Nachforschungen gestoßen war. „<strong>Das</strong> sagt doch<br />
alles“, meinte Arne.<br />
Nein, Arne wollte sich dieser unheiligen Allianz scheinbar verfeindeter Lager nicht anschließen, deren<br />
Vertreter aller Seiten für ihn blind wie die Maulwürfe waren. Keine dieser Fraktionen sollte ihn daran<br />
hindern, mit seinem Verstand als Laterne jenes Land des Geistes zu betreten, das die einen vor ihm<br />
versperren wollten und die anderen ihm gar stumpf verleugneten, und welches doch so verheißungsvoll<br />
und klar vor ihm lag. Gleichzeitig war er sich der Gefahr bewusst, unversehens in eine der zahlreichen<br />
Fallgruben billiger Esoterik, wie sie spätestens seit den siebziger Jahren allenthalben auf dem Markt war,<br />
zu stolpern. Er wandte sich, um eine hochwertige Grundlage für seine denkerischen Entdeckungsreisen zu<br />
schaffen, daher zunächst nah- und fernöstlichen spirituellen Weisheitslehren zu, denen er allein durch ihr<br />
Jahrhunderte und Jahrtausende währendes Bestehen eine gewisse Solidität zuerkannte. Er studierte Zen-<br />
Buddhismus, arbeitete sich durch die Bhagavad Gita und las Dschalal ad-Din Rumi. Geduldig erlernte er<br />
Meditationstechniken, die es ihm erlaubten, störende Einflüsse aus der Umgebung, aber auch solche, die<br />
aus seiner eigenen körperlichen wie geistigen Lebendigkeit hereinzuwirken drohten, auszuschalten und<br />
sich ganz auf Offenbarungen nichtmaterieller Art zu konzentrieren, die ihm von seinen Studienobjekten in<br />
Natur und Geisteswelt entgegentraten. Er lernte dabei, wie er es für du Bois-Reymond gefordert hatte,<br />
sein eigenes Denken wie eine Art Rohmaterial zu benutzen, um daraus Werkzeuge und Organe zu<br />
schaffen, mit denen er forscherisch in das Land des Geistes vordringen konnte. Ihm eröffneten sich auf<br />
diesem Wege phantastische Einblicke: <strong>Das</strong> Leben der Tiere und der Pflanzen enträtselte sich ihm auf<br />
einzigartige Weise, er erlebte die ubiquitäre Gegenwart geistiger Wesen und tauchte in ungeahnte Gründe<br />
seiner eigenen geistig-seelischen Existenz ein. Er betrat diese Welten aber nicht wie ein frommer<br />
Glaubender, der in stummer Hingabe geoffenbarte göttliche Weisheiten entgegennimmt, sondern drang<br />
von Anfang an als selbstbewusster Forscher mit kühlem Verstand und wissenschaftlich geschulter<br />
Methodik in jenes Geisterreich vor, das ihm im Lauf der Zeit so vertraut wurde wie einem Chemiker sein<br />
Labor oder einem Medizinprofessor sein anatomisches Kabinett. Es erschloss sich ihm eine für die<br />
gewöhnlichen fünf Sinne nie erreichbare Welt endloser lebendiger Vielfalt, und er lernte, in sie nach<br />
Belieben einzutauchen und sich frei in ihr zu bewegen.<br />
*<br />
Als ich Arne begegnete, war er in seinen Bemühungen um ein wissenschaftliches Verständnis der geistigen<br />
Welt bereits weit fortgeschritten. Da ich zu jener Zeit ähnliche Interessen pflegte, verstanden wir uns auf<br />
Anhieb. Mir wurde allerdings bald klar, dass für mich eine theoretische Annäherung an die übersinnliche<br />
Welt ausreichen musste, hatte ich doch nach verhältnismäßig kurzer Zeit verstanden, dass mir im<br />
Gegensatz zu Arne zur praktischen Ausführung dieser Disziplin wichtige Voraussetzungen fehlten.<br />
Vielleicht war es ja nur die ungenügende Ausdauer, mit der ich die nötigen Übungen verfolgte, vielleicht<br />
war aber auch mein Interesse nicht streng genug auf eben diese ganz besondere Art, Geistiges zu erleben,<br />
gebündelt. Wie dem auch gewesen sein mag, meine Wahrnehmungen blieben meist von flüchtiger,<br />
allgemeiner Art, während sich Arne immer tiefer und weiter reichende Bezirke der nicht sinnlich fassbaren<br />
Welten erschloss. Unserer entstehenden Freundschaft taten die unterschiedlichen Fertigkeiten keinen<br />
Abbruch. Wir verstanden und mochten uns, auch wenn ich Arne auf seinen immer ausgedehnteren<br />
Ausflügen in jenseitige Gebiete bald nicht mehr begleiten konnte und mochte. Ich begnügte mich mit<br />
seinen farbigen und dabei überaus klar strukturieren Berichten.<br />
Arne lebte sehr diszipliniert. Er stand früh auf und begann jeden Tag mit meditativen Übungen von<br />
mindestens einer Stunde – oft waren es auch zwei oder mehr Stunden –, die er stets mit ein- und<br />
derselben Vorbereitung einleitete. Ich kenne sie recht genau, da wir sie oft gemeinsam ausgeführt haben.<br />
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Sie hilft ungemein, die alltägliche Unruhe, die uns alle ständig begleitet, abzustreifen und stimmt einen<br />
wunderbar auf weiteres geistiges Arbeiten ein. Es ist nicht so, dass man einfach „die Welt anhalten“ kann,<br />
wie einst Carlos Castaneda solche Praktiken genannt hat, so von einem Moment auf den anderen, um in<br />
geistige Gefilde vorzustoßen. Wenigstens nicht, solange man in dieser Disziplin nicht außerordentlich<br />
versiert ist. Versuchen Sie einmal selbst, Ihr Bewusstsein soweit von dem ständigen Geraune und<br />
Geplätscher Ihrer Gedanken und Empfindungen freizuräumen, dass sich Anderes bemerkbar machen<br />
kann, auf das Sie sich konzentrieren könnten. Nichts wie Unrast, Gezappel, Störungen, nicht wahr?<br />
Deswegen ist diese kleine einleitende Übung so wertvoll. Wollen Sie wissen, wie sie geht? Sie brauchen<br />
dafür keine besondere Erfahrung, keine bestimmte anspruchsvolle Sitzhaltung oder sonstige speziellen<br />
Voraussetzungen. Setzen Sie sich einfach ruhig, gerade und möglichst locker auf einen Stuhl, die Füße mit<br />
den Sohlen fest auf dem Boden. Dann schließen Sie die Augen, entspannen sich noch einen Moment und<br />
versuchen danach festzustellen, wo sich in diesem Augenblick Ihr Bewusstsein befindet. Suchen Sie nicht<br />
lange herum, Sie werden es mit ziemlicher Sicherheit im oberen Bereich Ihres Kopfes lokalisieren können,<br />
etwa in einer Ebene mit den Augen und den Ohren. Sodann setzen Sie Ihr Bewusstsein in Bewegung.<br />
Schieben Sie es als erstes entschlossen nach vorne zur Stirn. Dann wandern Sie damit ein kleines Stück<br />
nach unten, zur Nasenwurzel. Gehen Sie langsam den Nasenrücken entlang hinunter über die Nasenspitze<br />
bis zu den Lippen. Dann weiter zum Kinn, dort teilen Sie ihr Bewusstein in zwei Ströme, führen je einen<br />
wie in einem kleinen Sprung zu jeder Schulter und weiter zu den Ellenbogen und zu den Händen. Von<br />
dort lassen Sie Ihre beiden Bewusstseinsströme wieder einen sanften Sprung machen, jetzt zu den<br />
Beckenknochen. Weiter zu den Knien und über die Knöchel bis hinunter zu den Fußsohlen. Verweilen<br />
Sie dort einen längeren Augenblick und spüren Sie den Boden unter Ihren Füßen, bevor Sie sich auf den<br />
Rückweg begeben. Lassen Sie Ihr Bewusstsein langsam und mit großer Aufmerksamkeit die einzelnen<br />
Stationen entlanggehen. Nehmen Sie jede Körperregion genau wahr und halten Sie sich dort je einen<br />
kurzen Moment auf. Für den Rückweg nehmen Sie einen anderen Pfad: nicht mehr die harten Knochen<br />
und äußeren Körperpartien, sondern die inneren Organe und Muskeln bilden nun den Weg Ihres<br />
Bewusstseins. Begeben Sie sich von den Füßen zunächst in die Waden, dann in die Oberschenkel,<br />
anschließend ins Gesäß. Von dort gehen Sie weiter über den Unterbauch in den Oberbauch, dann zum<br />
Solarplexus, zum Magen und weiter zum Herz- und Brustbereich. Weiter aufwärts bis zum Hals und<br />
anschließend zu dessen Rückseite, dem Genick und dem Hinterkopf, von wo Sie wieder zu jener Ohren-<br />
Augen-Ebene zurückkehren, von der Sie ausgegangen sind. Verweilen Sie für einen Moment, atmen Sie<br />
ruhig ein und aus.<br />
Wo sind nun Ihre Zappeligkeit und Ihr Mangel an Konzentration?<br />
Ach, ich verstehe. Es ist nicht so einfach, wie es sich anhört. Wir alle haben diese abwegigen<br />
Schwierigkeiten, wenn es darum geht, einmal für zehn Minuten in unserem eigenen Körper drin zu<br />
bleiben. Aber wenn wir nicht in unserem Körper sind, wo sind wir denn dann? Es ist immer der nächste<br />
Moment, die nächste Stunde, der nächste Tag, die uns mit ihrer fragwürdigen künftigen Existenz in die<br />
Gegenwart hineinquatschen. Dabei gibt es eine Zukunft doch nur in unserer Vorstellung, in Wirklichkeit<br />
durchleben wir ausschließlich gegenwärtige Momente. Aber wir verjagen fortwährend unser<br />
augenblickliches Leben, um es irgendwann später einmal zu genießen, ist es nicht so?<br />
Aber falls Sie an dieser Übung Gefallen finden, dann wandeln Sie sie doch nach Ihren eigenen Ideen ab<br />
oder erweitern sie, Sie werden möglicherweise verblüffende Entdeckungen machen. Vielleicht stellen Sie<br />
fest, dass Ihr Kinn sich nicht jedes Mal gleich ausgeprägt oder „energisch“ anfühlt, Ihre Schultern etwa<br />
heute breiter sind als gestern, Ihre Oberschenkel scheinbar gewachsen sind oder ähnliche Erscheinungen.<br />
Sie erleben unter Umständen eine beunruhigende Variabilität Ihrer eigenen Körperlichkeit. Keine Angst:<br />
das ist nur der Ausdruck sich verändernder und entwickelnder Lebendigkeit, die dem geistigen Abbild<br />
Ihres Körpers innewohnt und welche sich im alltäglichen Leben eben materiell nicht äußern kann. Aber<br />
wenn Sie solche Dinge an sich feststellen, so haben Sie schon einen großen ersten Schritt in jenes Reich<br />
getan, das den gewöhnlichen Sinnen verborgen bleibt. Bleiben Sie dran.<br />
Arne hielt sich mit unspektakulären Übungen wie Radfahren, Schwimmen, vor allem aber dem Wandern<br />
in den Bergen körperlich fit. Er fand, die andauernde Betätigung mit geistigen Inhalten brauche unbedingt<br />
ein physisches Pendant. Anderenfalls, so meinte er, geriete er eventuell in ein Ungleichgewicht, das sich<br />
störend auf die weitere Ausformung seiner Fertigkeiten auswirken könnte. Beim Üben wie beim Forschen,<br />
Denken und Schreiben ging Arne sehr geordnet und meist streng methodisch vor. Übertrieben asketisch<br />
lebte er dagegen nicht. Arne war in keiner Hinsicht dogmatisch, er war zum Beispiel kein strikter<br />
Vegetarier, man konnte sich mit ihm abends in einer Kneipe auf ein Bier und eine fette Bratwurst treffen<br />
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oder auch mal zusammen ein Fußballspiel anschauen. Manche Menschen können ja sehr unangenehm<br />
werden, wenn sie glauben, in ihrem Leben bestimmten Regeln folgen zu müssen und dabei Rituale<br />
entwickeln, die sie womöglich noch fortwährend zur Schau stellen, um anderen zu zeigen, dass sie die<br />
besseren Menschen sind. Und dabei immer genau wissen, was für die anderen richtig ist. In diese<br />
Kategorie gehörte Arne nun überhaupt nicht. <strong>Das</strong> Meditieren und die geistige Forschung waren dezente<br />
Selbstverständlichkeiten in seinem Alltag, der sich ansonsten wenig von dem anderer geistig arbeitender<br />
Zeitgenossen unterschied.<br />
Die Erkenntnisse und Einsichten, die ihm durch seine kontemplative Tätigkeit geschenkt worden waren,<br />
hielt Arne meist sehr ausführlich in schriftlicher und oft auch bildnerischer Form fest, indem er<br />
Zeichnungen oder gelegentlich auch kleine Plastiken anfertigte, mit denen er seine geistigen Erfahrungen<br />
anschaulich wiederzugeben versuchte. Gerne erzählte er mir von seinen Ausflügen und dann und wann<br />
beneidete ich ihn um seine Erlebnisse. „Kannst du dir vorstellen, dass es sich radikal anders anfühlt, unter<br />
einer Eiche zu stehen als unter einer Kastanie oder einer Buche?“ fragte er mich eines Abends, nachdem<br />
er den halben Tag im Park zugebracht hatte. „Kastanien haben etwas so viel Menschenfreundlicheres, sie<br />
wollen für dich da sein, wollen dir etwas schenken. Eichen sind dagegen viel souveräner, stehen über den<br />
menschlichen Dingen. Da gibt es viel mehr Abstand zwischen ihnen und uns.“ Ich weiß nicht, ob er sich<br />
etwas dabei gedacht hatte, einfach so unter den Bäumen herumzustehen, in seine Betrachtungen<br />
versunken, während durch den Park doch ständig Leute gingen, Kinder um ihn herum spielten, Hunde ihr<br />
Geschäft verrichteten und so weiter. Aber das schien ihn nicht weiter zu stören. Arne war keiner, der sich<br />
vor der Welt versteckte.<br />
Regelmäßig berichtete er mir von Entdeckungen auf neuen Forschungsfeldern, die er von Zeit zu Zeit<br />
beschritt. So beschrieb er mir zum Beispiel eines Tages die Formen und Farben meiner Aura, oder wies<br />
mich auf das emsige Leben und Treiben elementarer Wesen in einer sonnigen Steinmauer hin, an der wir<br />
bei einem Spaziergang entlanggingen. Lebewesen, die sich dort angesiedelt hatten und diesen scheinbar<br />
still in der Nachmittagssonne ruhenden Ort unsicht- und unhörbar bevölkerten. Es wurde zu einer von<br />
Arnes köstlichsten Leidenschaften, Wesenheiten aufzuspüren, die unseren Augen und Ohren<br />
üblicherweise nicht zugänglich sind. Er scheute sich auch nicht, sie mit den Namen traditioneller Esoterik<br />
zu belegen: Kobolde, Trolle, Feen, Nixen, Elfen – Wesen aller Art stöberte er auf Schritt und Tritt um<br />
sich herum auf. Manchmal, wenn ich einen guten Tag hatte, konnte ich ihm bei seinen Beobachtungen ein<br />
Stück weit folgen und eines oder mehrere dieser verborgenen Geschöpfe ebenso wie er wahrnehmen.<br />
Dann freute sich Arne mit mir. Meistens aber begnügte ich mich damit, ihn bei seinen Begegnungen zu<br />
begleiten und zu beobachten und hatte meinerseits Freude an seinen immer weiter fortschreitenden<br />
Erkenntnissen.<br />
Ich fand, dass Arne sich mit der Zeit veränderte. Nicht, dass er auf irgendeine Weise seltsam wurde, wie<br />
man vielleicht vermuten könnte. Er wurde ruhiger und selbstsicherer. Er schien mir den Eindruck eines<br />
Menschen zu machen, der mehr und mehr von den Dingen und Erscheinungen der Welt versteht und vor<br />
allem von den Menschen. Sein Zugewinn an Menschenkenntnis und sein Verständnis für Situationen und<br />
Begebenheiten aller Art wuchsen in jener Zeit ganz außerordentlich. Und da ich regelmäßiger Nutznießer<br />
von Arnes Forschungen war, gewann auch ich mehr und mehr Einblicke in meine Umwelt, die sichtbare<br />
ebenso wie die unsichtbare. Anderen konnten Arnes Veränderungen vielleicht ungewöhnlich erscheinen,<br />
falls ihn überhaupt jemand so intensiv beobachtete wie ich. Ich wusste, dass sie mit Arnes meditativen<br />
Forschungen zusammenhingen und von daher für ihn ein stetes geistiges Sich-Entfalten darstellten. Ich<br />
habe meinen Freund Arne wahrhaft bewundert und verehrt.<br />
*<br />
Man könnte jetzt meinen, Arne wäre ein rundum zufriedener, glücklicher Mensch gewesen. Einer, der mit<br />
seinem Leben so gut zurechtkommt, wie uns das eben auf dieser Welt nur möglich ist. Nun, in der<br />
Grundtendenz stimmte das sicher, allerdings gab es einen Bereich, der ihm immer wieder sehr zu schaffen<br />
machte, und der leider eine fatale Wichtigkeit besaß: ich spreche vom Geld. Nicht wahr, es ist dies ein<br />
Thema, das keinen von uns kalt lässt, es sei denn, wir gehören zu denjenigen, die soviel davon haben, dass<br />
es wirklich vergeudete Energie wäre, sich darum Sorgen zu machen. Aber weder Arne noch ich gehörten<br />
zu jener privilegierten Spezies, und so brach aus ihm trotz aller Souveränität, mit der er durchs Leben<br />
schritt, gelegentlich die Angst hervor, nicht zu wissen, wie er mit seinen Schulden und seinem<br />
5
überzogenen Bankkonto umgehen sollte. Es schien dann zuweilen ein seltsamer Widerspruch zu seiner<br />
sonst zur Schau getragenen ruhigen Sicherheit auf, mit der er gewöhnlich seine Mitmenschen<br />
beeindruckte.<br />
Ich weiß nicht mehr genau, wann und bei welcher Gelegenheit es war, dass wir in einem Gespräch über<br />
politische Fragen, die uns beide gerade bewegten, auf das Thema einer allgemeinen finanziellen<br />
Absicherung für alle Bürger des Landes kamen. Sie wissen, wovon ich spreche: diese Idee, von der<br />
gegenwärtig so viel die Rede ist, dass ein jeder einen für seine Grundbedürfnisse ausreichenden<br />
monatlichen Geldbetrag zur Verfügung bekommt, ohne dafür eine Gegenleistung erbringen zu müssen.<br />
Angesichts der sozialen Probleme, die allerorten zu beobachten sind, und die zu bewältigen unsere<br />
Politiker – und da nehme ich keine Farbe aus – offensichtlich weit überfordert sind, ist es ja auch kein<br />
Wunder, dass man sich radikalen Lösungsversuchen zuwendet. Radikal meine ich jetzt nicht im Sinne<br />
eines barrikadenstürmenden revolutionären Aufstandes gegen die herrschenden Verhältnisse. Nein, davon<br />
verspreche ich mir in der gegenwärtigen Lage rein gar nichts, und Arne war in dieser Hinsicht mit mir<br />
völlig einer Meinung. Wir verstanden „radikal“ eher so, dass man sich an den Wurzeln unserer<br />
gesellschaftlichen Organisation zu schaffen machen müsste.<br />
Haben Sie sich schon einmal überlegt, dass so vieles von dem, was wir heute für selbstverständlich und<br />
unabänderlich halten, keineswegs auch tatsächlich so sein muss? Denken Sie einmal nur an den<br />
vermeintlich unbezweifelbaren Zusammenhang zwischen der täglichen Arbeit, die wir verrichten und dem<br />
Geld, das wir zum Leben brauchen. Nicht wahr, wir arbeiten, um jenes Geld zu verdienen. Aber, frage ich<br />
Sie, sind das denn nicht eigentlich zwei paar Stiefel? Auf der einen Seite steht die Arbeit, die wir mehr oder<br />
weniger gerne ausüben, für die wir einen beträchtlichen Teil unserer Zeit und unserer Energie aufwenden,<br />
vielleicht, wenn wir (und unserer Arbeitgeber) Glück haben, sogar unsere Phantasie und Schöpferkraft.<br />
Und auf der anderen Seite steht die Notwendigkeit, unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Schließlich<br />
müssen wir wohnen, essen, brauchen Kleidung, wollen die Kinder versorgen und haben nebenbei<br />
vielleicht auch noch das Bedürfnis nach ein wenig Kultur. Und nachdem Arne und ich uns über derartige<br />
Fragen nächtelang die Köpfe heiß geredet haben, ich mir also ausreichend Gedanken über dieses Thema<br />
gemacht habe, stelle ich Ihnen die Frage: Was hat denn das eine mit dem anderen eigentlich zu tun?<br />
Arne hatte verblüffende Vorstellungen, wie man seiner Ansicht nach eine gerechtere und freiere<br />
Gesellschaft schaffen könnte. Lange bevor öffentlich davon groß die Rede war, äußerte er einmal die<br />
Ansicht, dass es zu einer fundamentalen sozialen Wende führen könnte, die möglicherweise die meisten<br />
der heute so quälenden Probleme lösen würde, wenn jeder Mensch genügend Geld hätte, um seine<br />
Grundbedürfnisse zu befriedigen. „Wenn ich mich an meine Jugend erinnere“, sagte er, „das war Anfang<br />
der siebziger Jahre, da nahm das mit den Maschinen und den Robotern gerade seinen Lauf, dass sie die<br />
Arbeit in den Fabriken übernahmen. War alles noch eher am Anfang, aber man konnte wunderbare<br />
Utopien hören und lesen: ‚Wir gehen goldenen Zeiten entgegen’, hieß es, ‚in dreißig, vierzig Jahren<br />
arbeiten wir alle nur noch die Hälfte!’ Na und jetzt? Jetzt haben wir genau diesen Zustand und alle halten<br />
ihn für ein Unglück. Was ist denn aus den Versprechungen von damals geworden? Natürlich machen jetzt<br />
die Maschinen die Arbeit, dafür hat man sie ja erfunden, aber anstatt dass wir die Zeit, die wir geschenkt<br />
bekommen haben, genießen und besser nützen, überarbeitet sich die eine Hälfte von uns, während die<br />
andere keine Aussicht auf einen Job mehr hat. Schau sie dir doch an, alle diejenigen, die keine Arbeit mehr<br />
finden, weil sie zu alt oder zu wenig qualifiziert oder zu sonst was sind: die fühlen sich doch überhaupt<br />
nicht mehr als vollwertige Menschen! Und dabei hätten sie doch gerade jetzt die Zeit, das zu tun, was sie<br />
vielleicht schon immer tun wollten: sich bilden, reisen, vielleicht irgendwas Kreatives machen: malen,<br />
musizieren, schreiben. Da hätten wir doch alle was davon! Die Menschen haben zuwenig Geld, um ein<br />
normales Leben zu führen, und genau das ist der Grund dafür, dass sie nichts Vernünftiges auf die Beine<br />
stellen. Klar, dass einer, der nicht weiß, wie er die Kinder durchbringen oder wovon er die Miete bezahlen<br />
soll, das Gefühl hat, sein Leben ist versaut. So einer ist natürlich nicht kreativ. Vor allem, wenn ihm von<br />
allen Seiten eingehämmert wird, dass er ein Versager ist und wie schön sein Leben doch wäre, wenn er<br />
sich nur genug leisten könnte. Gib ihm und seiner Familie jeden Monat soviel, dass sie genug zum Essen<br />
haben, dass die Wohnung mitsamt dem Telefon und von mir aus dem gottverdammten Fernseher bezahlt<br />
ist, und dass sie sich auch noch ein bisschen was extra leisten können, zwei Wochen Urlaub im Jahr<br />
vielleicht, ein bisschen Kino, Konzert, Bücher oder so, und das alles, ohne dass sie was dafür tun<br />
müssen.“<br />
Ich war einigermaßen verblüfft. Dieses Thema schien Arne weit mehr zu fesseln, als ich zunächst<br />
angenommen hatte. Aber ich konnte nicht alles von dem, was er gesagt hatte, unwidersprochen lassen.<br />
6
„Konzert, Bücher – da hast du etwas naive Vorstellungen“, warf ich ein, „vergiss die anderen nicht“, sagte<br />
ich, „diejenigen, die sich in ihrer Arbeitslosigkeit recht gut eingerichtet haben, die haben doch im Prinzip<br />
alles, was sie brauchen, und wenn ihnen die Stütze nicht ausreicht, dann arbeiten sie halt nebenbei noch<br />
schwarz. Mit einem regulären Arbeitsplatz kannst du die doch jagen. Weißt du, was die mit dem Geld<br />
machen würden? Noch mehr McDonald’s, noch mehr Computerspiele, noch mehr Glotze, noch mehr<br />
Mallorca. Da würde das Geld hingehen. Und davon hättest weder du etwas noch alle anderen.“<br />
„Doch“, gab Arne zurück, „ich hätte ja auch mein Geld. Jeder hätte es dann. Und was die mit ihrem Geld<br />
machen, ist deren Sache, das ist doch gerade der Clou, dass keiner irgendwem Rechenschaft ablegen muss,<br />
was er mit dem Geld macht, er kriegt es ohne jegliche Gegenleistung. Wahrscheinlich hätten sie auch nicht<br />
mehr als jetzt, es fallen ja alle anderen Sozialleistungen weg. Und wenn du auf diese Unterschichtdebatte<br />
rauswillst: Klar ist mit Geld alleine nicht viel geholfen, aber wenn alle ihr Auskommen haben, dann<br />
können viele sich endlich in den Bereichen engagieren, für die jetzt kein Geld da ist, alles Soziale zum<br />
Beispiel oder Bildung. Bildung ist es nämlich, was dieser so genannten Unterschicht in erster Linie fehlt.<br />
Dabei gäbe es überall engagierte Menschen mit guten Ideen, um dieses ganze Elend zu bekämpfen, aber<br />
allen fehlt das Geld, ihre Vorstellungen fachgerecht und wirkungsvoll umzusetzen.“<br />
Arne wusste, wovon er sprach. Er war seit langem an einem Projekt beteiligt, das sich in einem<br />
Ganztagskindergarten in einem dieser Problemviertel am Stadtrand um Sprachnachhilfe für Ausländerkinder<br />
kümmerte. Und immer wieder beklagte er die Situation, dass man von Seiten der Politik zwar die<br />
Bemühungen lobte und den Beitrag zur Integration als richtig und zielführend anerkannte und gleichzeitig<br />
die Mittel immer mehr kürzte.<br />
„Ich kann den Menschen doch keine Arbeit abverlangen, wenn es eh keine mehr gibt, gerade in diesen<br />
wenig qualifizierten Bereichen. Und das ist es, was ich unseren Politikern vorwerfe: dass keiner von denen<br />
sich hinzustellen traut und sagt: ‚Leute, die Zeiten der Vollbeschäftigung sind vorbei und sie werden auch<br />
nie wieder zurückkommen. Wir machen jetzt alles ganz anders.’ Stattdessen versuchen sie sich gegenseitig<br />
im ‚Ankurbeln der Wirtschaft’, im ‚Schaffen neuer Arbeitsplätze’ zu übertrumpfen, und versprechen uns<br />
das Blaue vom Himmel. Wie soll denn das gehen? Jeder technische Fortschritt, jede dieser Innovationen,<br />
die dieselben Politiker immer so himmelhoch preisen, ist doch zwangsläufig mit dem weiteren Abbau von<br />
Arbeitsplätzen verbunden. <strong>Das</strong> geht doch schon seit hundert oder zweihundert Jahren so. Die<br />
Produktivität der einzelnen Arbeitskraft nimmt doch einem Maße zu, wie wir uns das nie erträumt hätten.<br />
Ich kenne ein paar Landkreise, da fahren sie zum Beispiel seit ein paar Monaten mit vollautomatischen<br />
Müllautos rum, die brauchen keinen zweiten oder gar dritten Mann mehr, um die Tonne in den Greifer<br />
einzuhängen, das macht jetzt der Fahrer mit einem Knopfdruck vom seinem Sitz aus. Gezielte, öffentlich<br />
geförderte und gewollte Herbeiführung von Arbeitslosigkeit ist das. Und das geht überall so, wo<br />
irgendetwas produziert oder wo überhaupt noch mit körperlichem Einsatz gearbeitet wird. Schau dir die<br />
Landwirtschaft an, um ein anderes Beispiel zu nehmen: alles nur noch Ein-Mann-Betriebe, wo noch vor<br />
zwei Generationen die ganze Familie mit fünf, sechs Arbeitskräften beschäftigt war. Der Bauer steigt doch<br />
heute nicht mehr von seinem Schlepper ab, nur weil er den Ladewagen an- oder abkuppeln will. Ein<br />
Druck auf den Hydraulikhebel reicht. Er pflügt mit den heutigen Maschinen in derselben Zeit einen<br />
zwanzigmal so großen Acker wie sein Großvater, der ja auch schon nicht mehr mit dem Pferd gearbeitet<br />
hat. Aber ich will das gar nicht kritisieren, versteh mich nicht falsch, das ist der Lauf der Welt. Und im<br />
Grunde wollen das auch alle so haben. Man sollte nur aufhören so zu tun, als könne man das Rad<br />
zurückdrehen und Arbeit für jeden herbeizaubern. <strong>Das</strong> Geld, das wir zum Leben brauchen, kann einfach<br />
nicht mehr aus der Arbeit kommen, wenn es keine mehr gibt.“<br />
Ich war nicht ganz vom Segen dieses allgemeinen Geldes überzeugt. „Aber werden wir nicht auf diese<br />
Weise diese Parallelgesellschaft noch verstärken, die wir schon jetzt andeutungsweise haben. Ich meine,<br />
dass diese Leute, denen Arbeit, Leistung, Kreativität, Bildung und so weiter völlig schnuppe sind, sich<br />
einfach nur immer noch mehr ihren faulen Lenz machen und sich ins gesellschaftliche Nirwana abseilen,<br />
immer dicker, dümmer und arbeitsscheuer und zur riesigen Last für alle werden?“<br />
„Nein, das glaube ich eben nicht. Kein Jugendlicher träumt im Alter von zwölf oder dreizehn davon, ein<br />
Leben lang nichts zu tun außer Sozialhilfe einzuschieben. Im Gegenteil, sie haben alle irgendwelche<br />
Vorstellungen davon, was sie später einmal machen wollen, vom Automechaniker oder der<br />
Kindergärtnerin bis zum Raumfahrtingenieur oder der Biologin oder was weiß ich. Aber da geht’s doch<br />
schon los: Als Automechaniker musst du heute EDV-Spezialist sein und dass Kindergärtnerinnen am<br />
besten ein Studium hätten, darin ist man sich auch einig. Jetzt scheitern sie im Grunde doch alle daran,<br />
dass ihnen keiner was beibringt, solange sie jung sind und sie keiner braucht, wenn sie älter sind, weil<br />
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ihnen keiner was beigebracht hat. Die qualifizierten Jobs, die, wo man seinen Kopf braucht, haben Mangel<br />
an Arbeitskräften. Wenn die Menschen die Möglichkeit haben, alles zu lernen, was sie möchten, einfach<br />
nur so, weil es unbegrenzt Lehrstellen gibt, die ja die Betriebe dann kaum mehr etwas kosten, dann<br />
werden sich die meisten von denen, die jetzt durch alle Maschen fallen, mit Feuereifer in ein<br />
Betätigungsfeld stürzen. Niemand muss ihnen ja später einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen, der Geld<br />
kostet, und sie wollen vielleicht erst mal auch gar keinen. Nur irgendwas lernen, weil das eben interessant<br />
ist. Was man später damit anfängt, ergibt sich dann von selber, es hängt keine Existenz mehr dran. Da<br />
geht dann die freie Kreativität los, die uns allen zugute kommen könnte. Bildung, Ausbildung – das, woran<br />
es heute hoffnungslos fehlt, wird plötzlich frei zur Verfügung stehen. Jeder hat ja sein Geld in der Tasche,<br />
ob er sich ausbilden will oder ob er anderen eine Ausbildung anbietet. Es ist ganz falsch, wenn du davon<br />
ausgehst, dass Initiative und Bildung den Leuten schnuppe sind. Du musst sie nur früh genug im Leben<br />
abfangen und ihnen die entsprechenden Angebote machen. Umsonst und für alle. Und du wirst sehen,<br />
plötzlich engagieren sich die Menschen wieder für Dinge, die jetzt zu kurz kommen, weil sie keiner<br />
bezahlen kann. Der ganze soziale Bereich ist doch jetzt völlig unterbezahlt. Wenn erst jeder sein Nötigstes<br />
in der Tasche hat, dann kann eine Riesenmenge an Interesse, Zeit und Energie freigesetzt werden, die<br />
dann in die bisher unterversorgten Bereiche fließen.“<br />
In jener Nacht sprachen wir bis in die frühen Morgenstunden über diese Idee. Arne hatte noch<br />
ausgezeichnete Argumente, wies mir nach, dass das Geld, das man für die Umsetzung brauchte, mehr als<br />
ausreichend vorhanden war, und welche ungeheueren Möglichkeiten sich für eine zukünftige Gesellschaft<br />
auftun würden. <strong>Das</strong> größte Problem der Gegenwart, die Arbeitslosigkeit, wäre mit einem Schlag erledigt,<br />
weil es schlicht kaum noch Arbeitssuchende gäbe. Arne schwärmte von der Freiheit eines jeden<br />
Einzelnen, vom Versiegen der Kriminalität, von der Überflüssigkeit der Drogen. Alles Folgen des<br />
verpflichtungsfreien Einkommens für alle.<br />
Aber ich sehe, ich komme immer weiter von der Geschichte weg, die ich eigentlich erzählen wollte.<br />
*<br />
Wovon ich tatsächlich berichten will, ist jener Gedanke Arnes, der ihm schließlich zu einer Art fixer Idee<br />
wurde. Überdies ein Floh, den wohl ich ihm ins Ohr gesetzt habe, was ich heute natürlich sehr bereue. Er<br />
hatte immer schon, wenn er von einer Sache überzeugt war, in der Folge eine gewisse nachhaltige, oft<br />
geradezu erbitterte Leidenschaft dafür entwickelt. Eine einmal aufgenommene Spur verfolgte er mit<br />
imponierender Energie und Konsequenz und genau diese Eigenschaft war es ja auch, die ihn bei seinen<br />
spirituellen Streifzügen weiter und immer weiter geführt hatte. Arne war gerade aufgrund seiner<br />
Hartnäckigkeit und Zielstrebigkeit zu einem brillanten Erforscher der geistigen Welt geworden, und ich<br />
durfte das Privileg genießen, seine Berichterstattungen aus einer Art von Jenseits, welches für ihn<br />
inzwischen zu einem alltäglichen Aufenthaltsraum geworden war, regelmäßig aus erster Hand dargeboten<br />
zu bekommen.<br />
Als er mir eines Abends sehr anschaulich seine Begegnungen mit Wesenheiten aller Art schilderte, die er<br />
auf einer seiner geistigen Exkursionen vorgefunden hatte, kam mir ein – wie mir schien, naheliegender –<br />
Gedanke.<br />
„Arne“, sagte ich, „was meinst du, wäre es nicht einen Versuch wert, die geistige Welt, in der du dich so<br />
selbstverständlich bewegst, einmal um Rat zu fragen, wie du aus deinem ständigen finanziellen<br />
Schlamassel rauskommen könntest?“ Er sah mich verständnislos an. „Ich meine, du hast es da doch mit<br />
Kräften oder Wesen oder was auch immer zu tun, die irgendwie auch auf unser Leben Einfluss nehmen<br />
können. Wenn ich das alles richtig verstehe, was du mir erzählst“, fügte ich hinzu, als ich seinen immer<br />
noch etwas ratlosen Gesichtsausdruck sah.<br />
„Hm.“ Mehr war für längere Zeit aus Arne nicht herauszukriegen, und ich wollte ihn beim Nachdenken<br />
nicht stören. Er lehnte sich weit in seinen Sessel zurück, er schien verstanden zu haben, was ich ihm nahe<br />
legen wollte.<br />
„Du meinst“, sagte er schließlich, „ich soll um Geld bitten?“<br />
„So direkt habe ich es gar nicht gemeint, ich dachte eher an Ratschläge oder Hinweise. Aber wo du es<br />
sagst: warum nicht auch um Geld bitten? Du bist ein integerer Mensch, Arne. Alle deine Ideen und<br />
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Projekte, deine ganze literarische Arbeit, das ist doch alles höchst ehrenwert, sozial und künstlerisch<br />
überaus wertvoll und so. Wenn einer Unterstützung verdient, dann bist du das. Wenn du von heute auf<br />
morgen viel Geld hättest, würdest du es doch nicht verprassen oder verschwenden, du würdest doch<br />
etwas Vernünftiges damit anfangen, oder? Etwas, wo auch andere was davon hätten.“<br />
„Hm“, brummte er wieder und verstummte erneut. Nach einer Weile sagte er: „Ich muss darüber<br />
nachdenken.“<br />
Als wir uns das nächste Mal trafen, meinte Arne, diese Idee sei schon etwas, was sich weiter zu verfolgen<br />
lohne, aber er müsse sehr behutsam damit umgehen, es sei ein außerordentlich sensibles Thema. „Es ist<br />
nicht so einfach, wie du dir das vielleicht vorstellst. Es gibt da keine Adresse oder irgendein konkretes<br />
Gegenüber, an das ich mich wenden könnte und sagen: bitte gib mir Geld. Wir machen alle unser<br />
Schicksal selber, unser Lebenslauf wird nicht von unberechenbaren übergeordneten Mächten gestrickt,<br />
sondern wir selber sind die Verantwortlichen dafür. Auch wenn uns das meistens nicht bewusst ist. <strong>Das</strong><br />
heißt in letzter Konsequenz, ich müsste mich an eine Instanz in mir selber wenden, um meine Probleme<br />
zu lösen.“<br />
Ich hatte befürchtet, dass er etwas in der Richtung äußern würde. Also war das Ganze eine bloße<br />
Schnapsidee von mir gewesen?<br />
„Nein, das nicht, aber ich sehe noch keinen Einstieg in das Vorhaben. ‚Da drüben’ – was eigentlich nichts<br />
anderes bedeutet als ‚da drinnen’ – ist alles viel formbarer, weniger eindeutig, nichts ist endgültig definiert,<br />
verstehst du? Ich suche noch nach dem Hebel, mit dem ich die Sache in Bewegung setzen kann.“<br />
So kam es also, dass sich Arne auf ganz neue Art und Weise mit seiner eigenen Biographie zu befassen<br />
begann. Er versuchte zu verstehen, worin die Gründe lagen, dass es ihm bisher nie recht gelungen war,<br />
ausreichende wirtschaftliche Grundlagen für sein Leben zu schaffen. Mit der ihm eigenen Gründlichkeit<br />
durchforstete er seinen bisherigen Lebenslauf und suchte ihn nach Anhaltspunkten ab, ob er vielleicht<br />
dann und wann entscheidende Hinweise übersehen haben könnte, wie er in seine unkomfortable<br />
finanzielle Lage geraten war. Denn dass es sich dabei um etwas Grundsätzliches in seinem Leben handeln<br />
musste, dessen wurde er sich rasch bewusst, erkannte er doch, wenn er sich an die wichtigsten Stationen<br />
seines Lebenswegs zurückversetzte, dass er kaum je eine andere Situation als seine gegenwärtige<br />
kennengelernt hatte: immer viel zu wenig Geld, hinten und vorne.<br />
Ein paar Wochen nach diesem Gespräch kam Arne wieder auf das Thema zurück. Er war in seiner<br />
Haltung eher schwankend. „Diese Geldmisere scheint zu mir zu gehören, sie ist ein Teil meines Lebens.<br />
Ich sollte das vielleicht akzeptieren.“ Ich war etwas verwundert, diese fatalistische Haltung passte nicht zu<br />
Arne, wie ich fand. „Was willst du?“ sagte er, „das fehlende Geld hat mich doch bisher nie davon<br />
abgehalten, die Dinge zu tun, die ich für richtig halte.“<br />
„Schon, aber die Idee mit dem <strong>Grundeinkommen</strong> zum Beispiel, über das wir so viel gesprochen haben, ist<br />
deiner Ansicht nach doch grundsätzlich richtig“, sagte ich. „Dann steht dir so ein Geld also auch zu, so<br />
wie es allen anderen zusteht, nicht wahr.“ Ich dachte daran, wie gut auch mir so ein fixer Betrag jeden<br />
Monat tun würde. „Ich meine, von einem moralischen Standpunkt her betrachtet, ist das kein Almosen<br />
oder ein Geschenk, für das man irgendwem dankbar sein müsste. Und es ist doch logisch, dass, wenn wir<br />
in Zukunft unser Einkommen nicht mehr aus der Arbeit beziehen können, es von woanders herkommen<br />
muss. Deine Worte.“<br />
„<strong>Das</strong> ist alles richtig“, gab Arne zurück. „Aber ich kann nicht dem Ablauf der Geschichte vorgreifen. So<br />
eine Sache muss in der Gesellschaft reifen, sie muss ihren richtigen Zeitpunkt finden, muss auch von<br />
vielen Menschen als richtig erkannt und dann initiiert werden. Wenn ich als Einzelner mich da einmische,<br />
hat das überhaupt keinen Wert. Ich kann das hundertmal richtig finden, davon kommt dieses Geld noch<br />
lange nicht in die Welt.“<br />
„Es soll ja zunächst auch nur zu dir kommen.“ Ich ließ nicht locker. „Du bist in so vielen Dingen ein<br />
Pionier, da solltest du auch im Umgang mit Geld vorangehen. Wenn du deine monatliche Summe erst mal<br />
hast, dann liegt es doch an dir, daraus ein Beispiel für andere zu machen. Also vorzuleben, was man als<br />
geistig aktiver und sozial engagierter Mensch alles machen könnte, wenn man finanziell abgesichert ist.<br />
Verstehst du, was ich meine? Du könntest haufenweise Projekte unterstützen, deine Kindergartensache<br />
zum Beispiel weiter vorantreiben, du könntest dich viel entspannter deinem Schreiben widmen, hättest<br />
mehr Zeit für alles, was dir wichtig ist. Also ich an deiner Stelle würde diese Sache schon weiter verfolgen.<br />
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Was kannst du denn dabei schon verlieren?“ Wenn ich geahnt hätte, was kommen würde, hätte ich diesen<br />
Satz nicht einfach so dahin gesagt.<br />
Er sei bei der Erforschung seiner Biographie auf Anhaltspunkte gestoßen, die ihm nahe legten, dass er<br />
nun in einem Stadium angelangt sei, wo Wesentliches zum Abschluss käme, sagte Arne. „Ich glaube, es ist<br />
Zeit, dass etwas Neues beginnt. Ich bin jetzt fast achtundvierzig, da sollte man dann vielleicht auch einen<br />
Gang zulegen, die Jahre vergehen ja immer schneller. Und so gesehen, könntest du recht haben, dass ich<br />
mich für diese Sache jetzt einsetzen sollte. Es widerstrebt mir nur, ausgerechnet bei mir selber anzufangen.<br />
Es gibt sicher tausend andere, die es viel nötiger hätten.“<br />
„Dann sollen die auch drum bitten“, sagte ich. „<strong>Das</strong> muss dein Anliegen doch gar nicht berühren.“ Ein<br />
Argument, dem Arne nichts entgegensetzte.<br />
Es vergingen einige weitere Wochen, der Sommer zog herauf und Arne verbrachte ganze Tage mit<br />
Spaziergängen im Wald und auf den Hügeln vor der Stadt. Er nahm sich eine lange Bedenkzeit für seinen<br />
Entschluss.<br />
*<br />
Als wir uns das nächste Mal trafen, sagte mir Arne mit einer Ernsthaftigkeit, die er sonst mir gegenüber<br />
selten an den Tag legte, dass er gründlich über diese Idee einer jenseitigen Anfrage nachgedacht habe.<br />
„Es ist mir sehr schwer gefallen, wirklich. Es ist irgendwie so ganz anders als alles, was ich bisher gemacht<br />
habe, und ganz geheuer ist mir die Sache immer noch nicht. Weißt du, wie man früher so etwas genannt<br />
hätte?“<br />
Ich schaute ihn fragend an.<br />
„Schwarze Magie.“<br />
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung, erreichte damit aber nur, dass an dem Tag zu diesem<br />
Thema aus Arne nichts mehr rauszukriegen war. Eine Woche später war er dann wie ausgewechselt: „Ich<br />
hab den Kampf durchgefochten, jetzt mach ich es!“ Er war wieder ganz der Arne, den ich so gut kannte:<br />
selbstsicher und zuversichtlich. Er machte den Eindruck, ernsthaft und konzentriert an der Materie<br />
gearbeitet zu haben.<br />
„Hast du inzwischen ‚den richtigen Hebel’ gefunden,“ wollte ich wissen, „den für den Einstieg?“<br />
„Ich glaube schon. Aber wichtiger ist, dass ich mich im Einklang mit allen Kräften und Wesen fühle,<br />
denen ich begegnet bin und die ich um Rat gefragt habe. Ich glaube, es ist alles in Ordnung.“<br />
„Und“, wollte ich wissen, „hast du denn schon wegen dem Geld gefragt?<br />
„Langsam! <strong>Das</strong> war erst nur ein scheues Vorfühlen, da muss ich noch ganz viel dazu tun. <strong>Das</strong> ist nicht so<br />
einfach wie wenn ich hier zum Bäcker gehe und zwei Brötchen verlange.“ <strong>Das</strong> verstand ich.<br />
Beim nächsten Mal überraschte mich Arne mit der Nachricht, er werde in Zukunft Lotto spielen. <strong>Das</strong><br />
fand ich nun banal. Überdies hielt ich ihm vor, damit nur Geld, das er gar nicht hatte, zum Fenster<br />
hinauszuwerfen. „Du verstehst nicht“, erwiderte er, „ich muss den Schicksalsmächten doch eine Chance<br />
geben, wenn sie mir helfen sollen, und Lottospielen ist mit Abstand die einfachste Art, wie man mir etwas<br />
zukommen lassen kann. Alles andere bräuchte irgendeine umständliche Zufallskonstruktion, vielleicht<br />
sogar etwas Tragisches, wie einen Todesfall mit Erbschaft oder so. Beim Lotto kann man von jenseits<br />
ganz elegant eingreifen, die Kugeln rollen sowieso völlig unberechenbar und scheinbar zufällig, dann<br />
können sie gut mal in meinem Sinne rollen.“ Er schien schon völlig überzeugt.<br />
Es vergingen einige Wochen, in denen wir uns wenig sahen. Als wir wieder die Gelegenheit zu einem<br />
längeren Gespräch hatten, kamen wir natürlich auch auf das Thema Geld und Jenseits zu sprechen. „Ich<br />
habe das verfeinert“, sagte Arne, „einfach nur so um Geld zu bitten, scheint mir nicht angemessen. Ich<br />
möchte meine Wünsche auf eine solide Grundlage stellen. Alles, was mit diesen jenseitigen Kräften oder<br />
Wesen zu tun hat, ist sehr viel vernunftgemäßer, als wir uns das gewöhnlich vorstellen. Es folgt nur ganz<br />
anderen Gesetzen und ist auch viel komplizierter als wir es aus unserer herkömmlichen Logik gewohnt<br />
sind.“ Ich kannte derartige Aussagen schon von Arne, und wusste auch um seine präzise ausgearbeiteten<br />
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Strategien, mit denen er sich stets an die Ausführung seiner Vorhaben machte. Und daher wunderte ich<br />
mich auch nicht über den gewissenhaft berechneten und methodisch sorgfältigen Plan, den er mir<br />
darlegte.<br />
„Ich möchte gern diese Idee des <strong>Grundeinkommen</strong>s auf sichere Füße stellen.“ sagte er. „<strong>Das</strong> heißt, ich<br />
habe mir mal ausgerechnet, was ich in meiner Situation brauchen würde, um einigermaßen abgesichert<br />
über die Runden zu kommen. Für die Miete zahle ich 330 Euro, die Nebenkosten betragen ungefähr 300,<br />
Krankenkasse und Rentenversicherung 450, Monatskarte, Zeitschriften, ein bisschen Kultur und sonstiger<br />
Kleinkram sagen wir 200, das ist großzügig, und zum Essen und Trinken vielleicht auch 200. <strong>Das</strong> wären<br />
also an die 1.500 Euro jeden Monat, davon könnte ich komfortabel leben. Und ich glaube, dass das auch<br />
für die meisten Menschen reichen würde, und wenn nicht, dann kann man ja noch etwas hinzuverdienen.<br />
Wenn nicht mehr alle Welt mit Arbeit versorgt werden muss, dann gibt es ja vielleicht wieder einen<br />
Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt.“<br />
Wir hatten solche und ähnliche Rechnungen schon früher angestellt, und es fiel mir nicht schwer, Arnes<br />
Gedankengängen zu folgen. Mit 1.500 Euro, so Arne, käme auch er zurecht für den Fall, dass seine<br />
literarischen Marketingversuche weiterhin so erfolglos wie bisher bleiben sollten. Er hätte dann auf jeden<br />
Fall eine abgesicherte Existenz und könnte vermutlich noch das eine oder andere nützliche Projekt<br />
unterstützen.<br />
„Dann muss es also jetzt nur noch mit dem Lottogewinn klappen“, meinte ich. „Wieviel soll’s denn<br />
werden?“ <strong>Das</strong> hätte er sich auch schon überlegt, sagte Arne. „Es hängt natürlich davon ab, wie alt ich<br />
werde, nicht wahr? <strong>Das</strong> muss irgendwie in die Bitte mit einfließen.“<br />
Ich muss ihn etwas verunsichert angeschaut haben, denn er beeilte sich, mir seine Überlegungen zu<br />
erklären. „Wenn ich 1.500 Euro im Monat haben möchte, und das Geld jetzt auf einmal in Form eines<br />
Lottogewinns bekommen soll, dann muss doch feststehen, für wie lange das Geld reichen soll.“<br />
„Und wer soll das festlegen? Ich meine, das geht doch zu weit, oder? Wenn dein Gewinn jetzt so und so<br />
hoch ist, und du teilst das durch 1.500, dann ...“ Ich unterbrach mich, mir war Arnes Gedankengang nicht<br />
geheuer. „Wie hast du dir denn das gedacht?“<br />
„Na, ist doch alles nur ein Versuch. Irgendwie muss ich doch auf eine bestimmte Summe kommen, und<br />
jetzt mache ich mir eben mal Gedanken darüber, wie alt ich werden will. <strong>Das</strong> ist doch eine prima<br />
Gelegenheit, nicht?“<br />
Er habe sich überlegt, was für ein Alter für ihn angemessen wäre und auch zu seinen ererbten Familiengegebenheiten<br />
passen würde, sagte Arne. Alle verstorbenen Mitglieder seiner Familie, seine Großeltern,<br />
seine Eltern, einige Onkels und Tanten seien zwischen fünfundsiebzig und neunzig Jahre alt geworden<br />
und ein derartiges Alter zu erreichen – irgendwo dazwischen – würde auch ihm gut anstehen, fände er.<br />
„So um die fünfunddreißig, vierzig Jahre will ich noch leben. Hm, das sollte ich vielleicht gleich mal<br />
genauer festmachen.“ Seine Sätze klangen jetzt eher wie ein Selbstgespräch. „Neunzig? Ich weiß nicht.<br />
Sagen wir neunundachtzig. Da kann man sich nicht beklagen, wenn man gesund bleibt. Dann bleiben mir<br />
also einundvierzig Jahre.“<br />
Arne stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und holte einen Taschenrechner. „Einundvierzig Jahre sind<br />
492 Monate. Und wenn ich für jeden Monat von einem Einkommen von 1.500 Euro ausgehe, sind das,<br />
Moment ..., 738.000 Euro. <strong>Das</strong> ist eine Menge Kohle!“ Jetzt schaute er mich wieder an. Die Höhe der<br />
Summe schien ihn selber zu überraschen.<br />
„Na, das ist doch mindestens die Höhe, in der sich ordentliche Lottogewinne abspielen, oder? Eigentlich<br />
geht’s da doch erst los“, sagte ich. „Da brauchst du keine Skrupel zu haben.“ Ich fragte ihn, ob er bei<br />
einem Gewinn in einer solchen Höhe dann vielleicht auch etwas für gemeinnützige oder wohltätige<br />
Zwecke abzweigen wollte, das wäre doch angebracht.<br />
„Natürlich. Ich denke da an den zehnten Teil.“<br />
„Mindestens. Warum nicht mehr?“<br />
„Auch darüber hab ich mir Gedanken gemacht. Man kann das sicher beliebig in die Höhe treiben, aber<br />
das führt eher auf einen Abweg. Entscheidend ist doch der Kerngedanke, dass ich mein Grundgehalt frei<br />
zur Verfügung habe und dann verantwortungsvoll damit umgehe. Ich werd’s schon<br />
gemeinschaftsverträglich einsetzen.“<br />
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Arne fing wieder an, Zahlen in den Taschenrechner einzutippen. „Besser, ich nehme die zehn Prozent von<br />
dem Betrag, der über meine derzeitigen Schulden hinausgeht. Denn da geht ja gleich ein Batzen von dem<br />
Gewinn weg, ist sofort verschwunden, das muss ich also anders rechnen.“ Seine Stimme wurde wieder<br />
leiser, er murmelte Zahlen vor sich hin, während er weiter den Taschenrechner bearbeitete.<br />
„Was rechnest du?“<br />
„Also, wenn ich zu den 738.000 einfach zehn Prozent dazu rechnen würde, um diesen Teil dann zu<br />
spenden, das wäre ja ganz einfach, aber das will ich nicht, weißt du. Da käme ein anderer Betrag raus, als<br />
wenn ich die zehn Prozent von meiner Zielsumme abziehe, damit mir meine 738.000 bleiben, verstehst<br />
du? Ich will ehrliche zehn Prozent von dem, was mir übrig bleibt, weitergeben. Ich hätte sonst das Gefühl,<br />
anderen etwas vorzuenthalten, das ihnen zusteht.“ Er sagte tatsächlich meine 738.000. Ich sagte nichts und<br />
war auch nicht sicher, ob ich ihn ganz verstanden hatte.<br />
Es schien ein komplizierter Rechengang zu sein, denn Arne ging jetzt nochmals zum Schreibtisch, nahm<br />
einen Stift und kritzelte Zahlen auf ein Blatt Papier. „Bist du gut in Mathe?“ fragte er.<br />
„Nein, warum?“<br />
„Wie stelle ich es an, wenn ich einen Betrag ausrechnen will, der um zehn Prozent erhöht eine bestimmte<br />
Summe ergibt?“ Ich hatte keine Ahnung, und Arne kritzelte und tippte weiter. Schließlich war er soweit.<br />
„Hör zu“, sagte er. „Wenn ich richtig gerechnet habe, müssen es 820.000 Euro sein, die ich gewinne,<br />
damit 90% davon meine 738.000 ergeben; dazu kommen 15.000 an gegenwärtigen Schulden, das macht<br />
dann 835.000 Euro.“ Er machte eine Pause. „<strong>Das</strong> ist die Summe, um die ich die geistige Welt bitten will.<br />
<strong>Das</strong> mit den Schulden will ich auch noch genauer ausrechnen, nicht einfach über den Daumen<br />
fünfzehntausend ansetzen. Dazu brauch ich aber erst meine Kontoauszüge.“<br />
Mir kam Arnes Rechnerei kleinkrämerisch vor. Warum bat er nicht einfach um einen ‚ausreichend großen’<br />
Geldbetrag, das sollte doch genügen. <strong>Das</strong> Ganze wäre in jedem Fall ein riesengroßes Geschenk, da käme<br />
es auf ein paar Euros hin oder her doch nicht an.<br />
„Nein, weißt du, ich glaube, dass mein Anliegen durch diese Genauigkeit eher an Überzeugungskraft<br />
gewinnt. Ich habe das Gefühl, ich sollte meinen Wohltätern genaue Rechenschaft über meine Bedürfnisse<br />
und über die Verwendung des Geldes ablegen.“<br />
Nun, mein Freund war von der Richtigkeit seines Vorgehens überzeugt und ging mit Inbrunst an die<br />
Verwirklichung. Er zog sich mehrere Tage zurück, fastete ein wenig und wollte in dieser Zeit niemanden<br />
sehen. Als er sich nach etwa einer Woche bei mir meldete, konnte ich schon am Telefon spüren, wie sehr<br />
ihn die Beschäftigung der vergangenen Tage bewegt hatte. Fast möchte ich sagen, dass er mir gereift,<br />
geläutert, wenn nicht sogar ein wenig entrückt vorkam.<br />
„Ich bin auf einem guten Weg.“ Er sprach ernst und doch auch gelöst, mit dieser wunderbaren stillen<br />
inneren Harmonie, die ich manchmal an ihm beobachtet hatte, wenn er von einer außergewöhnlich<br />
erfolgreich verlaufenen meditativen Reise zurückgekehrt war. „Es dauert nicht mehr lang. Wenn ich am<br />
nächsten Samstag zu dir kommen kann, dann kannst du dabei sein.“<br />
„Bei was?“ Es dauerte einen Moment, bis ich begriffen hatte, dass er die Ziehung der Lottozahlen meinte.<br />
Arne hatte keinen Fernsehapparat, darum wollte er bei mir die Ziehung anschauen, und ich durfte dabei<br />
sein, wie er das <strong>Grundeinkommen</strong> für den Rest seines Lebens gewinnen würde.<br />
*<br />
Als wir beide am Samstagabend vor dem Fernseher saßen, war ich gebührend aufgeregt. Arne war<br />
dagegen die Ruhe selbst. Er strahlte eine felsenfeste Sicherheit aus, er wusste genau, dass ihm die Mächte<br />
des Himmels seine Bitte erfüllen würden, und sah dem Ereignis mit der allergrößten Gelassenheit<br />
entgegen. Der ausgefüllte Lottoschein, das heißt der Quittungsdurchschlag, lag vor uns auf dem Tisch.<br />
„Du hast den Schein doch abgegeben?“ fragte ich. Arne schaute mich nur kurz an, sagte nichts. Ich<br />
entschuldigte mich stumm, nahm den Zettel zum x-ten Mal in die Hand und blickte auf die acht<br />
12
ausgefüllten Felder. „Warum hast du alle acht ausgefüllt? Wenn dir deine Freunde wirklich helfen, dann<br />
hätte doch die Mindestanzahl auch genügt, zwei, das wäre billiger gewesen.“<br />
„Ja, aber ich hätte dabei kein gutes Gefühl gehabt, ich wäre mir irgendwie knauserig vorgekommen. Und<br />
vielleicht hätte ich sogar noch irgendwo ein Problem verursacht.“<br />
„Was für ein Problem?“<br />
„Schau her: wenn die mir jetzt also einen Gewinn schenken wollen,“ – er hatte meine saloppe Redeweise<br />
übernommen, und sprach jetzt auch von ‚ihnen’, nachdem er sich bisher nicht auf eine Präzisierung<br />
eingelassen hatte, mit was oder wem er eigentlich Kontakt aufgenommen hatte – „dann ist es doch besser,<br />
ich lasse ihnen etwas Auswahl mit den Zahlen. Es spielen ja noch Millionen andere an diesem<br />
Wochenende Lotto, und vielleicht haben ja andere dieselben Zahlen wie ich getippt.“<br />
„Na und, dann gewinnt eben noch jemand außer dir. Was spielt das für eine Rolle?“<br />
„Aber ein großer Lottogewinn ist doch auf jeden Fall ein Eingriff in das Schicksal. Egal, ob derjenige wie<br />
ich persönlich darum gebeten hat oder nicht. <strong>Das</strong> muss doch irgendwie in die individuelle Biographie<br />
passen.“<br />
So hatte ich mir das noch nicht überlegt. Ich war immer einfach von einem Zufall ausgegangen, und wen<br />
ein Lottogewinn traf, der hatte eben Glück gehabt, und alle anderen Pech. Aber ich verstand, was Arne<br />
meinte. Wenn es wirklich möglich war, mit Kräften in Verbindung zu treten, die in der Lage waren, diesen<br />
– dann nur noch so genannten – Zufall zu steuern, dann lag es nahe, in sämtlichen Lottogewinnen, jeden<br />
Samstag und jeden Mittwoch, das Walten eines übergeordneten Geschickes zu sehen. Und damit musste<br />
natürlich sorgfältig umgegangen werden.<br />
Inzwischen hatte die Lottomusik eingesetzt, die Ansagerin begrüßte die Zuschauer, und die gläserne<br />
Trommel mit den neunundvierzig kleinen weißen Bällen fing an, sich zu drehen. Ich spürte, wie ich<br />
feuchte Hände bekam und blickte Arne von der Seite an. Er hatte sich wieder zurückgelehnt, saß<br />
unbeweglich neben mir auf dem Sofa und schaute mit halb geschlossenen Lidern auf den Bildschirm. Fast<br />
kam er mir teilnahmslos vor. Oder versuchte Arne jetzt noch meditativ Einfluss auf den Ablauf der<br />
Ziehung zu nehmen?<br />
Die Trommel hielt an, kehrte ihre Drehrichtung um, einige der Kugeln wurde von der langen gabelartigen<br />
Auffangvorrichtung erfasst, die sie der Öffnung zuführte, dann fiel die erste Kugel in das röhrenförmige<br />
Auffanggefäß. Es war die Neun.<br />
„Hast du die Neun irgendwo?“ Ich überflog den Schein hastig und suchte nach der Neun auf den<br />
Zahlenfeldern.<br />
„Natürlich hab ich die Neun. Mehrmals.“<br />
Tatsächlich, die Neun war viermal auf dem Schein angekreuzt. Ich griff zu dem Stift, den ich mir<br />
zurechtgelegt hatte, und machte um jede der Neunen einen Kringel.<br />
Die Trommel drehte sich inzwischen wieder, blieb stehen, kehrte wieder um und entließ ein zweites Mal<br />
einen der kleinen weißen Bälle. Die Zehn.<br />
Auf zwei der acht Felder war die Zehn angekreuzt. Ich umringelte sie. Auf beiden Feldern war auch die<br />
Neun angekreuzt. Bleib ruhig, sagte ich mir, zwei oder drei Richtige, das ist nichts Besonderes.<br />
„Fängt gut an“, sagte ich. Arne bewegte sich nicht.<br />
Die Trommel setzte sich zum dritten Mal in Bewegung. Die Sechsundvierzig fiel in die kleine Röhre. Mein<br />
Blick flog über den Schein. Zweimal sechsundvierzig, davon einmal in einem der Felder, in denen auch die<br />
Neun und die Zehn angekreuzt waren. „Drei Richtige. Deinen Einsatz hast du wenigstens wieder.“ Arne<br />
sah mich kurz mit hochgezogenen Augenbrauen an, sein Blick schien mir etwas spöttisch.<br />
Vierte Runde. Als die Kugeln bei der Rückwärtsdrehung von der Gabelbahn aufgenommen wurde,<br />
versuchte ich die Zahlen auf der vordersten Kugel, welche in den Glaszylinder fallen würde, zu erkennen,<br />
aber es gelang mir nicht. Gebannt verfolgte ich, wie sie sich drehte. Dann öffnete sich die Klappe, und die<br />
Kugel fiel. Es war die Achtzehn. Ich wusste, dass die Achtzehn in dem Feld angekreuzt war, in dem sich<br />
schon drei meiner Kringel befanden, ich hatte mir die restlichen drei Zahlen in diesem Feld gemerkt, da es<br />
jetzt als einziges für einen Gewinn in Frage kam.<br />
13
„Vier!“ Ich stieß Arne den Ellbogen in die Seite. Er schaute mich strafend an.<br />
„Weißt du denn die Zahlen auf dem ganzen Zettel auswendig?“ fragte ich ihn, da er bisher noch keinen<br />
einzigen Blick auf den Schein geworfen hatte.<br />
„Nein, aber das brauch ich auch nicht, solange du hier so ein Theater aufführst.“<br />
Ich wollte etwas erwidern, unterließ es aber.<br />
„Außerdem weiß ich sowieso, dass ich gewinne.“ Jetzt lächelte er mich an, ganz freundlich, kein Spott<br />
mehr.<br />
Die Trommel drehte sich zum fünften Mal. Ich versuchte ruhig zu bleiben, atmete bewusst langsam ein<br />
und aus und schloss die Augen. In dem Feld hatte Arne noch die Fünfundzwanzig und die<br />
Sechsunddreißig angekreuzt. Als ich das Klacken der Kugel hörte, während sie in ihre endgültige Position<br />
fiel, riss ich meine Augen wieder auf. Fünfundzwanzig!<br />
„Arne“, flüsterte ich. Ich hörte, wie er tief ein- und ausatmete. Er schaute mich an, strahlte dabei eine<br />
große Zufriedenheit aus, nickte kaum merklich, brummte ein leises ‚Hmm’ und schloss für ein paar<br />
Sekunden die Augen.<br />
Als sich die Kugel zum sechsten Mal zu drehen begann, fühlte ich, wie mir der Schweiß den Rücken hinab<br />
rann. Jetzt musste nur noch die Sechsunddreißig fallen. Ich schloss ebenfalls die Augen. Durch die Musik<br />
hindurch war deutlich das Anhalten der Trommel zu hören, das klackende Geräusch der ständig<br />
gegeneinander prallenden kleinen Bälle verstummte für einen Moment, bevor es wieder einsetzte. Die<br />
Trommel war auf ihrem Rücklauf, jetzt mussten die Kugeln die lange gebogene Gabel entlang rollen, jetzt<br />
musste die Klappe aufgehen, jetzt, jetzt ... Klack! Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie die<br />
Sechsunddreißig in das Gefäß plumpste.<br />
Ich riss die Augen auf.<br />
Die Zahl auf der Kugel in dem Röhrchen war die Vier.<br />
„Nein!“ entfuhr es mir. Ich hielt die Luft an.<br />
Arne, der ebenfalls bis zu diesem Augenblick die Augen geschlossen hatte, sah irritiert auf. Er blickte auf<br />
den Bildschirm, sah die Vier, griff dann zu dem Schein, als ob er nicht glauben wollte, was er gesehen<br />
hatte und schaute ratlos von einem Zahlenfeld zum andern und wieder zum Fernseher. Dann schaute er<br />
zu mir.<br />
„Also, ich, na ja ...“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Dann gewann ich meine Balance wieder.<br />
„Mann, Arne, hey! Fünf Richtige! <strong>Das</strong> ist doch Klasse! <strong>Das</strong> ist ein Haufen Geld!“ Er sah mich immer<br />
noch verwirrt an, schien nicht recht zu verstehen, was da vor sich ging.<br />
„Mensch, freu dich doch!“ Ich boxte ihn in gegen den Oberarm.<br />
„Da stimmt was nicht“, murrte er in sich hinein.<br />
Inzwischen war die Trommel zum letzten Mal angelaufen, um die Zusatzzahl auszulosen. Wir schauten<br />
beide nur noch mit halbem Interesse auf den Bildschirm. Arne, weil er immer noch wie entgeistert war<br />
und nicht verstand, was da geschehen war, und ich, weil ich jetzt anfing, mich über ihn zu ärgern. Wie<br />
konnte man nur so verbohrt sein. Fünf Richtige, das waren doch auf jeden Fall ein paar tausend Euro!<br />
Wieso freute sich dieser undankbare Kerl nicht darüber! Fast war mir sein Verhalten peinlich gegenüber<br />
den unsichtbaren Geistern, die ihm dieses Geschenk gemacht hatten.<br />
Die Zusatzzahl fiel. Es war die Sechsunddreißig.<br />
Ich schnappte noch einmal nach Luft, damit hatte ich nicht mehr gerechnet.<br />
„Ah!“ stöhnte Arne auf. „Wenigstens Fünf mit Zusatzzahl. Aber irgendwas stimmt trotzdem nicht.“<br />
Fünf Richtige mit Zusatzzahl. <strong>Das</strong> war womöglich richtig viel Kohle. <strong>Das</strong> konnten hunderttausend Euro<br />
oder mehr sein. Ich hatte mich schlau gemacht, hatte den halben Nachmittag Lottostatistiken studiert.<br />
Und dieser Klotz saß neben mir, konfus, und fand, dass etwas nicht stimmte. Ich wurde richtig wütend.<br />
„Du spinnst! Da regnet es einen Riesenhaufen Geld vom Himmel auf dich herunter und dir fällt nichts<br />
anderes ein, als dich zu beklagen! Du kannst wohl den Hals nicht voll genug kriegen!“<br />
14
„Nein, nein, du verstehst das nicht. Doch, ich freu mich. Und ich bin auch dankbar, wirklich. Aber ich<br />
verstehe es trotzdem nicht.“<br />
Er wollte mir nicht mehr dazu erklären und verabschiedete sich nach kurzer Zeit. Er wolle jetzt allein sein,<br />
sagte er. Äußerlich hatte er seine Fassung wieder zurückgewonnen. „Es wird schon seine Richtigkeit<br />
haben. Die wissen schon, was sie tun“, sagte er an der Tür.<br />
Am nächsten Tag, Sonntag, traf ich Arne noch einmal, wir hatten uns zum Frühstück in unserem<br />
Stammcafé verabredet. Er hatte sich wieder vollständig gefangen, strahlte wieder jene ruhige Sicherheit<br />
aus, die ich an ihm gewohnt war und die ich so schätzte.<br />
„Es ist immer in Ordnung, wie ‚die’ es wenden. Ich bin sehr dankbar, es ist ein großartiges Geschenk. Ich<br />
war nur so sicher, dass meine Bitte vollständig verstanden worden war und erfüllt würde. Der Kontakt<br />
war irgendwie so ... so perfekt, verstehst du?“<br />
Ich verstand nicht ganz, aber ich vertraute darauf, dass Arne wusste, wovon er sprach. „Ich hab gestern<br />
noch im Internet gesucht, wie viel deine Fünf mit Zusatzzahl bringen könnte“, sagte ich zu ihm. Willst du<br />
es wissen?“<br />
„Lass hören.“<br />
„Es schwankt sehr. Ich hab die letzten drei Jahre durchgeschaut, zwischen zwölf- und zweihunderttausend<br />
Euro waren es, meistens so um die sechzig- bis achtzigtausend. Ein vernünftiges <strong>Grundeinkommen</strong> für<br />
den Rest deines Lebens gibt das eher nicht.“<br />
„Schon klar.“ Wieso schien Arne so mäßig interessiert, dachte ich, ließ aber nicht locker und zog einen<br />
Zettel hervor, auf dem ich mir zuhause Notizen gemacht hatte.<br />
„Ich hab mal angefangen zu rechnen, mit den Zahlen, die du mir genannt hast. Also, wenn du 492 Monate<br />
lang etwas von dem Geld haben willst, vorher deine 15.000 Euro Schulden bezahlst und vom Rest zehn<br />
Prozent spendest, dann bleiben dir, wenn wir mal den höchstmöglichen Gewinn von ungefähr<br />
zweihunderttausend nehmen, jeden Monat 338 Euro. Wenn du das mit den zehn Prozent sein lässt, wird’s<br />
etwas mehr.“<br />
„Kommt nicht in Frage. <strong>Das</strong> ist eine feste Abmachung, ein Vertrag, verstehst du. <strong>Das</strong> war wichtig bei<br />
meinen Verhandlungen.“<br />
Verhandlungen. <strong>Das</strong> fand ich bemerkenswert.<br />
„Aber“, fuhr er fort, „mit diesen Zweihunderttausend brauche ich nicht zu rechnen. Du sagst doch selber,<br />
dass das wahrscheinlich der höchstmögliche Gewinn ist. Genauso gut kann ich den geringsten Betrag,<br />
zwölftausend, nehmen, dann bleiben mir sogar noch Schulden.“<br />
Wir wendeten die Angelegenheit noch ein bisschen hin und her, aber ich spürte, dass Arne nicht in<br />
geselliger Stimmung war, und wir trennten uns bald. „Vielleicht fahre ich einige Zeit weg“, sagte er beim<br />
Abschied. Ich ahnte nicht, dass ich meinen Freund nie wieder sehen würde. Er schien mir zu schwanken<br />
zwischen respektvoller Dankbarkeit dafür, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit seine Schulden los war<br />
und einer grüblerischen Unruhe über die Beweggründe der geistigen Welt, ihm ein ausreichendes<br />
<strong>Grundeinkommen</strong> zu verweigern. Er war immer noch vollkommen von der Richtigkeit seiner Idee<br />
überzeugt, es gab seiner Ansicht nach kein vernünftiges Argument dagegen.<br />
Am Montagabend besorgte ich mir im Internet die Gewinnquoten. Gewinnklasse drei, Fünf Richtige mit<br />
Zusatzzahl brachten 18.121 Euro und 50 Cent. Ein weit unterdurchschnittliches Ergebnis, aber Arne war<br />
mit einem Schlag seine Schulden los und es blieb ihm noch genug Geld, um einen Urlaub zu finanzieren.<br />
Ich wusste, dass er seit langem brennend gerne eine richtig große Wanderung in den Hochalpen gemacht<br />
hätte, mehrere Wochen lang, aber keine Ahnung hatte, wovon er die Reisekosten bezahlen sollte. Die<br />
hohen Berge waren für ihn immer eine Art Seelenheimat gewesen, dort war er den spirituellen Sphären<br />
näher. Ich hoffte sehr für Arne, dass er trotz des geringen Gewinns zufrieden sein würde. Ich ließ ihn<br />
einige Tage in Ruhe.<br />
Als ich am Freitagabend bei ihm anrief, schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Arnes Stimme sagte, dass<br />
er in die Alpen gefahren war und zwei Monate wandern wollte. Für mich hatte er einen kleinen<br />
persönlichen Gruß hinterlassen, er hätte mich nicht erreicht, und er würde sich Anfang Oktober wieder<br />
melden. <strong>Das</strong> war nicht ungewöhnlich, er hatte öfter persönliche Nachrichten für mich oder andere<br />
15
Freunde auf seinen Anrufbeantworter gesprochen, wenn er sich eine Auszeit vom Alltag genommen hatte.<br />
Ich machte mir keine Sorgen, war im Gegenteil froh darüber, dass er genau das unternommen hatte, was<br />
er sich die ganze Zeit wegen Geldmangels versagt hatte: ein Reise in die Berge.<br />
Am frühen Abend des 26. September erreichte mich die Nachricht von Arnes Tod. Die Gendarmerie in<br />
Leogang im Salzburgischen rief bei mir an, man habe bei einem verunglückten Bergsteiger eine Notiz<br />
gefunden mit dieser Telefonnummer und meinem Namen, um mich bei einem Unfall zu verständigen.<br />
*<br />
Die Trauerfeier war sehr bewegend, in einem kleinen Kreis. Arne hatte nicht viele Freunde, kaum Familie.<br />
Es wurde vereinbart, dass ich als sein engster Freund, der in den letzten Jahren seine Verhältnisse am<br />
besten kannte, mich um die Abwicklung der wirtschaftlichen Dinge und um seinen schriftstellerischen<br />
Nachlass kümmern sollte, während ein Cousin die Wohnung auflöste. Arne und ich hatten schon vor<br />
längerem uns gegenseitig Vollmachten für unsere Bankkonten ausgestellt für genau einen solchen Fall, wie<br />
er nun eingetreten war. In Absprache mit diesem Cousin, der offenbar der nächste Verwandte war, aber<br />
wenig Kontakt zu Arne gehabt hatte, übernahm ich sämtliche Geldangelegenheiten. Der Cousin schien<br />
sehr erleichtert zu sein, als er hörte, dass Arne keine Schulden hinterlassen hatte. Soweit schien er seinen<br />
verstorbenen Verwandten gekannt zu haben.<br />
Ich setzte mich an Arnes Schreibtisch und machte mich an die Arbeit. Sie fiel mir sehr schwer. Ich ging<br />
Blatt für Blatt seine Papiere durch und versuchte zunächst, mich durch die Geldangelegenheiten zu<br />
arbeiten, bevor ich mich an sein literarisches Erbe wagte. Nachdem ich mir einen ersten Überblick<br />
verschafft hatte, ging ich zu seiner Bank und ließ mir die Kontoauszüge geben. Sie durchzusehen war ein<br />
deprimierendes Unterfangen und erinnerte mich fatal an meine eigenen Verhältnisse. Der letzte Stand vor<br />
dem Lottogewinn waren 15.091,85 Euro gewesen. Mit einem „S“ für „Soll“ dahinter. Ich löste Arnes<br />
Sparbuch auf, auf dem sich, nachdem die Zinsen nachberechnet waren, 69,63 Euro befanden, und ließ<br />
den Betrag auf das laufende Konto einzahlen. Arnes Gesamtsaldo hatte somit vor dem Lottogewinn<br />
minus 15.022 Euro und 22 Cent betragen.<br />
Am Donnerstag nach dem Gewinnsonntag war von der Lottogesellschaft die Summe von 18.121,50 Euro<br />
auf sein Konto einbezahlt worden. Prompte Lieferung. Dreitausendneunundneunzig Euro und<br />
achtundzwanzig Cent betrug demnach Arnes Überschuss aus seinem Gewinn, nach Ausgleich des<br />
Sollbetrags. <strong>Das</strong> <strong>Grundeinkommen</strong> hatte er sich anders vorgestellt. Am Tag nach der Überweisung hatte<br />
Arne tausend Euro abgehoben und war in die Berge gefahren.<br />
Inzwischen lag die Rechnung des Beerdigungsunternehmens vor, das auch die Überführung besorgt hatte.<br />
1.869,20 Euro, dazu noch die Bewirtungskosten vom Tag der Beerdigung, die ich ausgelegt hatte, aber<br />
nach Absprache mit Arnes Cousin mir von dem Konto wieder holen sollte. Gerne hätte ich mich hier<br />
großzügig gezeigt, aber meine finanzielle Lage ist, wie schon gesagt, um Weniges besser als es Arnes war.<br />
<strong>Das</strong> waren also noch einmal 210 Euro, eine glatte, fürs Trinkgeld aufgerundete Summe. Die Wohnung<br />
wollte der Cousin bis Ende des Monats behalten, die Oktobermiete, 330 Euro, sollte ich von Arnes Konto<br />
überweisen lassen und das Konto dann schließen. Noch anfallende Strom-, Telefon- und sonstige Kosten<br />
würde er übernehmen. Eine Mietkaution war zwischen Arne und seinem Vermieter nicht vereinbart<br />
worden.<br />
Ich ging zur Bank. Es waren die Überweisungen an das Beerdingungsinstitut zu erledigen und an mich<br />
selber, diese ausgelegten 210 Euro, was ich mit flauem Gefühl tat. Die Oktobermiete war natürlich schon<br />
abgebucht worden, es war inzwischen schon ein paar Tage nach dem Ersten. Ich hatte überschlägig damit<br />
gerechnet, dass nach diesen Transaktionen Arnes Konto mehr oder weniger leer sein würde.<br />
„<strong>Das</strong> haben Sie gut ausgerechnet“ sagte die Dame am Schalter zu mir, als sie mit den Papieren zurückkam<br />
und eine letzte Unterschrift von mir erbat. „Soll ich Ihnen den einen Cent auf ein Konto überweisen oder<br />
nehmen Sie ihn in bar mit?“<br />
Ein Cent war also von Arnes Geld übrig geblieben. Ausgerechnet hatte ich mir das aber nicht. Ich nahm<br />
den Cent und steckte ihn in den Plexiglaskasten, der neben dem Schalter bereitstand, von wo er<br />
zusammen mit Hunderten anderer Münzen irgendeinem guten Zweck zugeführt werden würde.<br />
16
Zurück an Arnes Schreibtisch, setzte ich mich wieder auf seinen alten abgewetzten ledernen Drehstuhl,<br />
ohne für den Augenblick eine bestimmte Aufgabe in Angriff zu nehmen. Unsere letzten Gespräche gingen<br />
mir wieder durch den Kopf, ich dachte an sein unerschütterliches Vertrauen in seine übersinnlichen<br />
Fähigkeiten, an seine Zuversicht, die er in Bezug auf diesen rätselhaften Lottogewinn hegte. Je mehr ich<br />
darüber nachsann, desto mehr kam ich zu der Überzeugung, dass er doch in allem recht gehabt haben<br />
musste. Er war sich seiner Sache hundertprozentig sicher gewesen, es gab nicht die geringste Unschärfe in<br />
seinen Vorhersagen. Und es war tatsächlich alles so eingetroffen, wie er es angekündigt hatte. Bis auf das<br />
Detail mit der sechsten Zahl, die nur als Zusatzzahl anstatt als reguläre Zahl gezogen worden war. Wie<br />
Arne, so schien auch mir jetzt dieser Umstand kaum erklärbar. Wenn die Wirklichkeit in allen Einzelheiten<br />
so perfekt mit den Ergebnissen von Arnes Verhandlungen übereinstimmte, warum dann nicht auch in<br />
diesem letzten Detail? Er hatte mit tiefster Überzeugung mit einem Betrag gerechnet, der ihm bis an sein<br />
Lebensende mit einer Summe versorgen würde, die er selber in diesen Verhandlungen festgelegt hatte:<br />
1.500 Euro Monat für Monat.<br />
Bis an sein Lebensende. Und auf einmal begann ich zu ahnen, was passiert war. Man hatte ihm seine<br />
monatlichen 1.500 Euro zugebilligt! Ich zog meinen Kalender hervor. Arnes Lottogewinn hatte am 1.<br />
August stattgefunden, sein Todestag war der 26. September. 56 Tage waren ihm nach seinem<br />
Geldgeschenk, das er seinen jenseitigen Beziehungen verdankte, geblieben. <strong>Das</strong> war’s doch! Ich suchte<br />
nach einem Taschenrechner, fand aber in Arnes ausgeräumtem Schreibtisch keinen mehr. Ein Blatt Papier<br />
und ein Stift mussten reichen. Wie rechneten die Finanzleute, wenn sie die Monate mit ihren<br />
unterschiedlichen Tagen in ein einheitliches Berechnungssystem einbinden wollten? Da bekam jeder<br />
Monat einfach dreißig Tage zugewiesen, das Jahr dreihundertsechzig. 1.500 Euro geteilt durch dreißig war<br />
finanztechnisch gesehen Arnes von den Engeln erbetenes durchschnittliches Einkommen eines jeden<br />
Tages. Genau fünfzig Euro. 56 Tage entsprachen demnach 2.800 Euro. <strong>Das</strong> war über den Daumen gepeilt<br />
die Summe, die ich als seinen Überschuss errechnet hatte, nach Bezahlung aller seiner Schulden.<br />
Mein Gott! Arnes Tage waren bereits gezählt gewesen, als ihn sein Gewinn erreichte. Es war unglaublich!<br />
Man hatte ihm sein Einkommen zugebilligt, war also offenbar mit seiner Idee grundsätzlich einverstanden<br />
gewesen, hatte ihm aber zugleich seine Lebenszeit auf weniger als zwei Monate zusammengestrichen.<br />
Aber warum? Und hatte das eine mit dem anderen überhaupt etwas zu tun? Ich versank tief in Arnes<br />
Schreibsessel und brütete. Dann fing ich noch einmal zu rechnen an. Ganz genau stimmte die Sache nicht,<br />
das störte mich. Wieso passten diese Summen jetzt nur so ungefähr zueinander, wo doch alles andere von<br />
einer unheimlichen Präzision zu sein schien. Ich holte die Kontoauszüge wieder hervor und überprüfte sie<br />
erneut. Sein Gewinnüberschuss in Höhe von knapp 3.100 Euro hätte bei einem Tagessatz von 50 Euro<br />
für rund 62 Tage reichen müssen. Warum hatte Arne 6 Tage früher sterben müssen? Meine Überlegung,<br />
dass er eigentlich erst am 2. Oktober hätte ums Leben kommen müssen, damit diese abstruse Rechnung<br />
aufging, hatte etwas Makaberes und daher verdrängte ich diesen Gedanken gleich wieder.<br />
Da ich nicht weiterkam, räumte ich schließlich meine Sachen zusammen, hinterließ ein paar Zeilen auf<br />
dem Schreibtisch für Arnes Cousin, der am nächsten Tag den Rest der Möbel abholen wollte, und ging<br />
nach Hause. Wahrscheinlich war meine ganze Rechnerei kompletter Blödsinn. Es gab weder Arnes<br />
Verhandlungen mit irgendwelchen jenseitigen Mächten noch hingen die Zeitpunkte des Lottogewinns und<br />
seines Todes in irgendeiner Weise miteinander zusammen. Es war, wie jeder vernünftige Mensch einsehen<br />
musste, nichts als ein Zufall, der Geld und Tod jetzt miteinander zu verknüpfen schien.<br />
*<br />
Als ich am späten Nachmittag in meiner Wohnung ankam, befand sich eine Nachricht auf dem<br />
Anrufbeantworter. Es war die Gendarmerie in Leogang im Salzburgischen, mit der ich bereits nach dem<br />
Auffinden von Arnes Leiche zu tun gehabt hatte. Man bat mich zurückrufen.<br />
Arnes Rucksack war gefunden worden, darin sein Portemonnaie mit ungefähr dreihundert Euro. Da auch<br />
Arnes Personalpapiere sich darin befanden, konnte man den Rucksack dem vor einem Monat unterhalb<br />
des Birnhorns abgestürzten Bergwanderer zuordnen. Man fragte mich, ob ich die Gegenstände in nächster<br />
Zeit abholen könnte. Ich rief Arnes Cousin an. Ihm war es sehr recht, dass ich mich auch um den<br />
Rucksack kümmerte. <strong>Das</strong> Geld aus dem Portemonnaie solle ich für die Reisekosten und sonstigen<br />
Auslagen behalten.<br />
17
Der Rucksack enthielt nichts Außergewöhnliches. Er war durch den Absturz in die Klamm durchnässt<br />
und verschmutzt worden, inzwischen aber wieder getrocknet, so dass man ihm das Drama nicht mehr<br />
ohne weiteres ansah. Ich fand Wäsche, Regenkleidung, Mütze, Handschuhe, eine Dose mit Proviant, eine<br />
Wasserflasche, das Tagebuch. <strong>Das</strong> Portemonnaie hatte man auf der Wache schon durchsucht, man gab es<br />
mir gesondert. Ich musste mich ausweisen, eine Quittung unterschreiben, dann konnte ich Arnes<br />
Hinterlassenschaft mitnehmen.<br />
Zu Hause angekommen, nahm ich mir zunächst das Tagebuch vor. Ich las etwa ein, zwei Stunden darin<br />
und bewunderte Arnes originelle und klare Gedankengänge, seine eleganten Formulierungen und mitunter<br />
witzig-ironischen Anmerkungen. Sorgfältig hatte er den Weg festgehalten, der ihn zu den spendablen<br />
Geistern geführt hatte. Alles war absolut einleuchtend, sachlich und strikt rational geschildert, keine Spur<br />
irgendeiner nebulösen Mystik. Die nüchterne wissenschaftliche Logik seines jenseitigen Unternehmens<br />
war bestechend. <strong>Das</strong> Tagebuch würde noch ein wichtiger Bestandteil seines literarischen Vermächtnisses<br />
werden, es enthielt aber nichts, was mich bei meinen Überlegungen bezüglich seines <strong>Grundeinkommen</strong>s<br />
weitergebracht hätte. Er wusste sich uneingeschränkt auf dem richtigen Weg, es gab keinen Zweifel, dass<br />
er fest mit einem monatlichen Geldgeschenk in der von ihm geplanten Höhe für den Rest seines Lebens<br />
rechnete. Die letzte Eintragung zu diesem Thema stammte vom 31. Juli, dem Tag vor der Lottoziehung.<br />
Die späteren Einträge bezogen sich auf Erlebnisse in den Bergen, enthielten Schilderungen der Natur und<br />
einige Gedanken zum Wandern als Symbol für den Lebensweg. <strong>Das</strong> mochte vielleicht wenig originell sein,<br />
war aber streckenweise außerordentlich schön formuliert. Obwohl Arne sonst fast täglich etwas in das<br />
Tagebuch geschrieben hatte, klaffte zwischen dem Tag vor dem Lottogewinn und dem nächsten Eintrag<br />
eine Lücke von über einer Woche. Kein Wort zu seiner Reaktion auf den Gewinn, über seine<br />
Betroffenheit, die ich ihm an jenem Samstagabend angesehen hatte. Hatte ihn die scheinbare Abweichung<br />
von der getroffenen Vereinbarung dermaßen bestürzt, dass er keine Worte dazu gefunden hatte?<br />
Ich legte das Tagebuch zur Seite und versuchte nachzudenken. Die Einträge sprachen eine derart klare<br />
Sprache voller unerschütterlicher Gewissheit, dass ich mich veranlasst sah, meine Überlegungen wieder an<br />
der Stelle aufzunehmen, an der ich sie ein paar Tage zuvor als unsinnig abgebrochen hatte. Es schien doch<br />
etwas an meiner Ahnung dran zu sein, dass man ihm von Seiten der geistigen Welt nur noch eine geringe<br />
Lebensspanne zumessen wollte. Die fünfzehnhundert Euro monatliches Grundgehalt waren ihm, so<br />
schien es, anstandslos zugestanden worden. Arne hatte nur in der Schätzung seiner verbleibenden<br />
Lebensspanne gewaltig daneben gelegen.<br />
Ich machte mir keine Hoffnungen, etwas über die Gründe für seinen frühen Tod herauszufinden. Auf ein<br />
Spekulieren ließ ich mich besser nicht ein, wo hätte ich da anfangen sollen. Gottes Wege sind unerforschlich<br />
oder so. <strong>Das</strong> widersprach zwar völlig Arnes Überzeugung, denn gerade die Erforschbarkeit jenseitiger<br />
Vorgänge war ja sein Credo gewesen und hatte ihn auf diesen Weg geführt, der einerseits so fruchtbar war<br />
und doch sein Weg in den Tod geworden war. Aber das mochte im Geheimnis von Arnes Lebensweg<br />
verborgen bleiben. Die Biographien der Menschen sind auf eine derart unergründliche Weise individuell,<br />
dass sie von außen niemals völlig durchschaut werden können. Außer dem Betroffenen selbst kann kein<br />
anderer jemals die tieferen Ursachen für die entscheidenden Wendungen eines Lebenslaufs entschlüsseln.<br />
Darum werden auch die Versuche, einen anderen Menschen verstehen zu wollen, immer Stückwerk<br />
bleiben.<br />
Ich griff zu Arnes Portemonnaie. Es enthielt außer dem Geld seine Kontokarte, ein paar von seinen<br />
Visitenkarten mit Adresse und Telefonnummer, seinen Blutspenderausweis, vier Briefmarken und die<br />
Krankenversicherungskarte. Die verlorengegangene Bedeutung der Gegenstände berührte mich tief. <strong>Das</strong><br />
Konto war aufgelöst, das Telefon abgemeldet, die Visitenkarten, die Karte von der Versicherung und der<br />
Blutspenderausweis gehörten einem Menschen, den es nur noch in der Erinnerung einiger Anderer gab.<br />
Wie viele Fäden doch der Tod durchtrennt. Nur die Briefmarken hatten über Arnes Tod hinaus ihre<br />
Bestimmung behalten. Und natürlich das Geld. Geld ist die unpersönlichste Sache der Welt, heute gehört<br />
es dem einen, morgen dem anderen, es verändert sich selber dabei nicht im Geringsten. Wenn wir nicht in<br />
einer Gesellschaft lebten, in der ausnahmslos alle davon überzeugt sind, dass diese Papiere eine<br />
weiterführende Bedeutung tragen, dann wäre das, was ich jetzt aus Arnes Geldbeutel nahm, nichts weiter<br />
als ein Häufchen bunter Papierschnipsel mit Bildern und Zahlen drauf.<br />
Ich begann das Geld zu zählen. Auf der Quittung, die man mir gegeben hatte, stand zwar der genaue<br />
Betrag, und ich hatte auf der Gendarmerie schon die Summe überflogen, aber irgendwie rührte mich<br />
dieses Geld, Arnes Geld, eigenartig an. Ja, der Betrag stimmte mit der Zahl auf der Quittung überein, es<br />
waren 307 Euro und 72 Cent. Was war jetzt eigentlich damit? Musste ich es bei dieser obskuren Rechnung<br />
18
zu Arnes <strong>Grundeinkommen</strong> noch hinzufügen? Dann hätte eine noch größere Kluft zwischen Soll und<br />
Haben, zwischen den ihm zugestandenen sechsundfünfzig Tagen und dem zur Verfügung gestellten Geld<br />
bestanden. Nein, Unsinn, das Geld war ja der Rest von jenen tausend Euro, die Arne nach der<br />
Überweisung seines Gewinns abgehoben hatte, und somit Bestandteil seines Überschusses von etwa 3.100<br />
Euro. Es spielte also keine Rolle, wie viel er davon verbraucht hatte, beziehungsweise welcher Rest davon<br />
noch übrig war. <strong>Das</strong> Geld in meiner Hand war so und so Teil dieses verrückten Salärs.<br />
Da fielen mir diese sechs Tage ein, die Arne „zu kurz“ gelebt hatte und über die ich gestolpert war. Sechs<br />
Tage, das mussten bei einem Tagessatz von fünfzig Euro ja gerade diese dreihundert Euro sein, die ich<br />
eben gezählt hatte, und von denen ich das Münzgeld noch in den Fingern hielt. Als ob das Geld plötzlich<br />
glühend heiß geworden wäre, ließ ich die Münzen fallen. Auf die Schreibtischplatte kullerten zwei<br />
Euromünzen, eine 50-Cent-, eine 20-Cent-Münze und zwei Ein-Cent-Stücke. Mich fröstelte. Mir war, als<br />
ob ich Arnes letzte Lebenstage in der Hand hielte, die ihm nicht mehr vergönnt gewesen waren. Auf<br />
einmal schien diese gespenstische Rechnung lückenlos aufzugehen.<br />
Nach ein paar Schrecksekunden holte mich die Logik wieder ein. <strong>Das</strong> stimmte doch alles nicht. Arne<br />
hätte, ohne diese seltsame Gleichung zu verletzen, seine restlichen sechs Tage zu Ende leben und dabei<br />
diese dreihundert Euro – oder auch nur einen Teil davon – verbrauchen können. 3.100 Euro bei fünfzig<br />
Euro Tagessatz, das ergab nun einmal zweiundsechzig Tage und nicht sechsundfünfzig, daran war<br />
überhaupt nicht zu rütteln.<br />
Inzwischen war es spät geworden. Ich gab den fruchtlosen Gedankenkreislauf auf, sammelte das<br />
Münzgeld zusammen, steckte es wieder ins Portemonnaie und ging zu Bett. Und überhaupt war das alles<br />
sowieso nur Schwachsinn.<br />
In der letzten oder vorletzten Sekunde meines Wachseins, in jenem eigenartigen nebelhaften Bereich<br />
zwischen Bewusstheit und Schlaf, der uns manchmal Fenster in einen jenseitigen Raum zu öffnen scheint,<br />
sah ich mit einem Schlag, was mir bis dahin entgangen war. Ich war wieder hellwach. Mir war eingefallen,<br />
mit welchem Nachdruck Arne darauf bestanden hatte, einen bestimmten Teil seiner Vereinbarungen mit<br />
dem Jenseits einzuhalten. „<strong>Das</strong> ist eine feste Abmachung, ein Vertrag“, hatte er gesagt, und dabei diese<br />
zehn Prozent gemeint, die er von einem Gewinnüberschuss für wohltätige Zwecke zu spenden gedachte.<br />
<strong>Das</strong> war es. Nicht seine Lebenszeit war ihm um sechs Tage gekürzt worden, sondern Arne war einfach<br />
nicht mehr dazu gekommen, sein Versprechen einzulösen. <strong>Das</strong> Geld im Portemonnaie war das<br />
Spendengeld, genau zehn Prozent seines Überschusses. Die Briefmarken mit eingerechnet.<br />
Ich stürzte aus dem Bett, um diese plötzliche Offenbarung noch einmal von der anderen Seite her<br />
durchzurechnen. Jetzt aber genau: 3.099,28 Euro minus jene zehn Prozent, das ergab 2.789 Euro und 35<br />
Cent. Teilte man diesen Betrag durch fünfzig Euro, den Tagessatz, so kam eine Spanne zwischen 55 und<br />
56 Tagen heraus. Genau 55 Tage und knappe 19 Stunden. Nein, ich wollte es noch genauer wissen: 55<br />
Tage, 18 Stunden und 53 Minuten, so errechnete ich, waren ihm – von wem auch immer – als<br />
Restlebenszeit zugestanden worden, nachdem er seinen Lottogewinn erhalten hatte. Zum Zeitpunkt der<br />
Ziehung, dem 1. August, 19 Uhr 59 – jetzt wurde ich kleinlich, wenn die andere Seite es auch war –,<br />
hinzugezählt, ergab diese Spanne den 26. September, 14 Uhr 52.<br />
Eine genauere Bestimmung von Arnes Todeszeitpunkt als „nachmittags gegen drei Uhr“, wie es die<br />
Bergwanderer ausgesagt hatten, die nach dem Felssturz zu ihm abgestiegen waren, würde ich von<br />
offizieller Seite nicht mehr erhalten. Mir genügte das Ergebnis meiner Rechnung als Beweis für Arnes<br />
beispiellose Kontaktaufnahme mit geistigen Mächten, weit jenseits des gewöhnlichen menschlichen<br />
Erfahrungshorizonts.<br />
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Seit der Nacht mit dieser letzten Rechnung sind ein paar Tage vergangen, und mir geht das Ganze nicht<br />
mehr aus dem Kopf, wie man leicht verstehen wird. Ich habe Arnes Sachen zur Kleidersammlung gegeben<br />
– mir hätten sie nicht gepasst, ich bin fast einen Kopf kleiner und deutlich weniger schlank als Arne es<br />
war. Auch der Cousin hatte kein Interesse an Arnes schlichter Garderobe gezeigt. Den Rucksack behalte<br />
ich als Andenken. <strong>Das</strong> Tagebuch habe ich in die Kiste gelegt, in der ich Arnes schriftlichen Nachlass, seine<br />
Zeichnungen und die kleinen figürlichen Darstellungen seiner Visionen aufbewahre, bis ich mehr Zeit zur<br />
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Aufarbeitung finde. <strong>Das</strong> Geld habe ich in das Portemonnaie zurückgetan, es liegt jetzt auf meinem<br />
Nachttisch. Ich warte auf eine Eingebung, welcher Einrichtung ich es in Arnes Sinn übergeben könnte.<br />
Vielleicht gibt es einen Verein, der sich mit übersinnlicher wissenschaftlicher Forschung beschäftigt, ich<br />
werde mich mal umhören. Allzu viel Zeit möchte ich nicht mehr verstreichen lassen und dreihundert<br />
Euro sind ja auch kein Betrag, über den man sich endlos den Kopf zerbrechen müsste. Die Briefmarken<br />
habe ich an mich genommen und dafür zwei Euro zwanzig in den Plastikkasten in der Bank gesteckt.<br />
Ich habe die ganze Angelegenheit noch ein paar Mal nachgerechnet, weil ich es einfach so unfassbar finde,<br />
wie alles zueinander passt. Ich glaube inzwischen, diese pingelige Übergenauigkeit, mit der man von der<br />
anderen Seite an dieses Thema des <strong>Grundeinkommen</strong>s für Arne herangegangen ist, könnte gut eine<br />
Reaktion auf seine eigene pedantische Art sein, mit der er sich seine Rente berechnet hatte. Schon bis er<br />
endlich diese zehn Prozent ermittelt hatte! <strong>Das</strong> Leben drüben ist vielleicht nichts anderes als ein Spiegel<br />
unseres gewöhnlichen diesseitigen Verhaltens. Für manche Menschen mag das nicht unbedingt eine<br />
erfreuliche Aussicht sein.<br />
Nun, wir werden sehen. Ich verfüge nicht über Arnes Fähigkeiten und kann daher auch nichts weiter dazu<br />
sagen. Eine Sache allerdings gibt mir noch zu denken. Wie ich schon erwähnt habe, ist es um meine<br />
Finanzen ähnlich dürftig bestellt wie um die Arnes zu seinen Lebzeiten. Ich habe ebenfalls hin und wieder<br />
Lotto gespielt, das lasse ich jetzt aber besser bleiben, auch wenn mein Kontostand derzeit bei knapp<br />
dreitausend Miesen liegt, mit der Tendenz nach unten. Ich will mein Schicksal nicht herausfordern. Ein<br />
Lichtblick ist das Angebot eines Verlags, der diese Geschichte in einen Sammelband aufnehmen möchte<br />
und mir dafür fünftausend Euro geboten hat. Ich will gar nicht wissen, ob das ein gutes oder schlechtes<br />
Angebot ist, ich weiß nur nicht, ob ich es überhaupt annehmen soll, verstehen Sie? Ich fürchte nämlich,<br />
dass ich mich nicht von der Vorstellung lösen könnte, die nach Abzug meiner Schulden verbleibenden<br />
zweitausend würden mir nur noch eine Lebensspanne von fünf Wochen bescheren. Ich hätte das Geld ja<br />
gewissermaßen mit Arnes Schicksal verdient und wäre womöglich in diese sonderbaren Vereinbarungen<br />
mit den jenseitigen Kräften hineingeraten. Und ich wüsste nicht, ob ich vielleicht noch zehn Prozent<br />
abziehen und irgendeiner guten Sache spenden müsste. Oder ob ich, um mein Leben zu verlängern, mich<br />
mit einem minimalen Trinkgeld von sagen wir vier oder fünf Euro im Monat begnügen sollte. <strong>Das</strong> würde<br />
dann vielleicht noch fünfunddreißig bis vierzig Jahre reichen. Ich bin jetzt fünfundvierzig und mit einer<br />
solchen Lebenserwartung könnte ich mich anfreunden. Aber mit wem bitte soll ich über eine Abänderung<br />
des Vertrags verhandeln?<br />
Was soll ich tun?<br />
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