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Das Grundeinkommen - Werner Friedl

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Der Rucksack enthielt nichts Außergewöhnliches. Er war durch den Absturz in die Klamm durchnässt<br />

und verschmutzt worden, inzwischen aber wieder getrocknet, so dass man ihm das Drama nicht mehr<br />

ohne weiteres ansah. Ich fand Wäsche, Regenkleidung, Mütze, Handschuhe, eine Dose mit Proviant, eine<br />

Wasserflasche, das Tagebuch. <strong>Das</strong> Portemonnaie hatte man auf der Wache schon durchsucht, man gab es<br />

mir gesondert. Ich musste mich ausweisen, eine Quittung unterschreiben, dann konnte ich Arnes<br />

Hinterlassenschaft mitnehmen.<br />

Zu Hause angekommen, nahm ich mir zunächst das Tagebuch vor. Ich las etwa ein, zwei Stunden darin<br />

und bewunderte Arnes originelle und klare Gedankengänge, seine eleganten Formulierungen und mitunter<br />

witzig-ironischen Anmerkungen. Sorgfältig hatte er den Weg festgehalten, der ihn zu den spendablen<br />

Geistern geführt hatte. Alles war absolut einleuchtend, sachlich und strikt rational geschildert, keine Spur<br />

irgendeiner nebulösen Mystik. Die nüchterne wissenschaftliche Logik seines jenseitigen Unternehmens<br />

war bestechend. <strong>Das</strong> Tagebuch würde noch ein wichtiger Bestandteil seines literarischen Vermächtnisses<br />

werden, es enthielt aber nichts, was mich bei meinen Überlegungen bezüglich seines <strong>Grundeinkommen</strong>s<br />

weitergebracht hätte. Er wusste sich uneingeschränkt auf dem richtigen Weg, es gab keinen Zweifel, dass<br />

er fest mit einem monatlichen Geldgeschenk in der von ihm geplanten Höhe für den Rest seines Lebens<br />

rechnete. Die letzte Eintragung zu diesem Thema stammte vom 31. Juli, dem Tag vor der Lottoziehung.<br />

Die späteren Einträge bezogen sich auf Erlebnisse in den Bergen, enthielten Schilderungen der Natur und<br />

einige Gedanken zum Wandern als Symbol für den Lebensweg. <strong>Das</strong> mochte vielleicht wenig originell sein,<br />

war aber streckenweise außerordentlich schön formuliert. Obwohl Arne sonst fast täglich etwas in das<br />

Tagebuch geschrieben hatte, klaffte zwischen dem Tag vor dem Lottogewinn und dem nächsten Eintrag<br />

eine Lücke von über einer Woche. Kein Wort zu seiner Reaktion auf den Gewinn, über seine<br />

Betroffenheit, die ich ihm an jenem Samstagabend angesehen hatte. Hatte ihn die scheinbare Abweichung<br />

von der getroffenen Vereinbarung dermaßen bestürzt, dass er keine Worte dazu gefunden hatte?<br />

Ich legte das Tagebuch zur Seite und versuchte nachzudenken. Die Einträge sprachen eine derart klare<br />

Sprache voller unerschütterlicher Gewissheit, dass ich mich veranlasst sah, meine Überlegungen wieder an<br />

der Stelle aufzunehmen, an der ich sie ein paar Tage zuvor als unsinnig abgebrochen hatte. Es schien doch<br />

etwas an meiner Ahnung dran zu sein, dass man ihm von Seiten der geistigen Welt nur noch eine geringe<br />

Lebensspanne zumessen wollte. Die fünfzehnhundert Euro monatliches Grundgehalt waren ihm, so<br />

schien es, anstandslos zugestanden worden. Arne hatte nur in der Schätzung seiner verbleibenden<br />

Lebensspanne gewaltig daneben gelegen.<br />

Ich machte mir keine Hoffnungen, etwas über die Gründe für seinen frühen Tod herauszufinden. Auf ein<br />

Spekulieren ließ ich mich besser nicht ein, wo hätte ich da anfangen sollen. Gottes Wege sind unerforschlich<br />

oder so. <strong>Das</strong> widersprach zwar völlig Arnes Überzeugung, denn gerade die Erforschbarkeit jenseitiger<br />

Vorgänge war ja sein Credo gewesen und hatte ihn auf diesen Weg geführt, der einerseits so fruchtbar war<br />

und doch sein Weg in den Tod geworden war. Aber das mochte im Geheimnis von Arnes Lebensweg<br />

verborgen bleiben. Die Biographien der Menschen sind auf eine derart unergründliche Weise individuell,<br />

dass sie von außen niemals völlig durchschaut werden können. Außer dem Betroffenen selbst kann kein<br />

anderer jemals die tieferen Ursachen für die entscheidenden Wendungen eines Lebenslaufs entschlüsseln.<br />

Darum werden auch die Versuche, einen anderen Menschen verstehen zu wollen, immer Stückwerk<br />

bleiben.<br />

Ich griff zu Arnes Portemonnaie. Es enthielt außer dem Geld seine Kontokarte, ein paar von seinen<br />

Visitenkarten mit Adresse und Telefonnummer, seinen Blutspenderausweis, vier Briefmarken und die<br />

Krankenversicherungskarte. Die verlorengegangene Bedeutung der Gegenstände berührte mich tief. <strong>Das</strong><br />

Konto war aufgelöst, das Telefon abgemeldet, die Visitenkarten, die Karte von der Versicherung und der<br />

Blutspenderausweis gehörten einem Menschen, den es nur noch in der Erinnerung einiger Anderer gab.<br />

Wie viele Fäden doch der Tod durchtrennt. Nur die Briefmarken hatten über Arnes Tod hinaus ihre<br />

Bestimmung behalten. Und natürlich das Geld. Geld ist die unpersönlichste Sache der Welt, heute gehört<br />

es dem einen, morgen dem anderen, es verändert sich selber dabei nicht im Geringsten. Wenn wir nicht in<br />

einer Gesellschaft lebten, in der ausnahmslos alle davon überzeugt sind, dass diese Papiere eine<br />

weiterführende Bedeutung tragen, dann wäre das, was ich jetzt aus Arnes Geldbeutel nahm, nichts weiter<br />

als ein Häufchen bunter Papierschnipsel mit Bildern und Zahlen drauf.<br />

Ich begann das Geld zu zählen. Auf der Quittung, die man mir gegeben hatte, stand zwar der genaue<br />

Betrag, und ich hatte auf der Gendarmerie schon die Summe überflogen, aber irgendwie rührte mich<br />

dieses Geld, Arnes Geld, eigenartig an. Ja, der Betrag stimmte mit der Zahl auf der Quittung überein, es<br />

waren 307 Euro und 72 Cent. Was war jetzt eigentlich damit? Musste ich es bei dieser obskuren Rechnung<br />

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