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Das Grundeinkommen - Werner Friedl

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zu Arnes <strong>Grundeinkommen</strong> noch hinzufügen? Dann hätte eine noch größere Kluft zwischen Soll und<br />

Haben, zwischen den ihm zugestandenen sechsundfünfzig Tagen und dem zur Verfügung gestellten Geld<br />

bestanden. Nein, Unsinn, das Geld war ja der Rest von jenen tausend Euro, die Arne nach der<br />

Überweisung seines Gewinns abgehoben hatte, und somit Bestandteil seines Überschusses von etwa 3.100<br />

Euro. Es spielte also keine Rolle, wie viel er davon verbraucht hatte, beziehungsweise welcher Rest davon<br />

noch übrig war. <strong>Das</strong> Geld in meiner Hand war so und so Teil dieses verrückten Salärs.<br />

Da fielen mir diese sechs Tage ein, die Arne „zu kurz“ gelebt hatte und über die ich gestolpert war. Sechs<br />

Tage, das mussten bei einem Tagessatz von fünfzig Euro ja gerade diese dreihundert Euro sein, die ich<br />

eben gezählt hatte, und von denen ich das Münzgeld noch in den Fingern hielt. Als ob das Geld plötzlich<br />

glühend heiß geworden wäre, ließ ich die Münzen fallen. Auf die Schreibtischplatte kullerten zwei<br />

Euromünzen, eine 50-Cent-, eine 20-Cent-Münze und zwei Ein-Cent-Stücke. Mich fröstelte. Mir war, als<br />

ob ich Arnes letzte Lebenstage in der Hand hielte, die ihm nicht mehr vergönnt gewesen waren. Auf<br />

einmal schien diese gespenstische Rechnung lückenlos aufzugehen.<br />

Nach ein paar Schrecksekunden holte mich die Logik wieder ein. <strong>Das</strong> stimmte doch alles nicht. Arne<br />

hätte, ohne diese seltsame Gleichung zu verletzen, seine restlichen sechs Tage zu Ende leben und dabei<br />

diese dreihundert Euro – oder auch nur einen Teil davon – verbrauchen können. 3.100 Euro bei fünfzig<br />

Euro Tagessatz, das ergab nun einmal zweiundsechzig Tage und nicht sechsundfünfzig, daran war<br />

überhaupt nicht zu rütteln.<br />

Inzwischen war es spät geworden. Ich gab den fruchtlosen Gedankenkreislauf auf, sammelte das<br />

Münzgeld zusammen, steckte es wieder ins Portemonnaie und ging zu Bett. Und überhaupt war das alles<br />

sowieso nur Schwachsinn.<br />

In der letzten oder vorletzten Sekunde meines Wachseins, in jenem eigenartigen nebelhaften Bereich<br />

zwischen Bewusstheit und Schlaf, der uns manchmal Fenster in einen jenseitigen Raum zu öffnen scheint,<br />

sah ich mit einem Schlag, was mir bis dahin entgangen war. Ich war wieder hellwach. Mir war eingefallen,<br />

mit welchem Nachdruck Arne darauf bestanden hatte, einen bestimmten Teil seiner Vereinbarungen mit<br />

dem Jenseits einzuhalten. „<strong>Das</strong> ist eine feste Abmachung, ein Vertrag“, hatte er gesagt, und dabei diese<br />

zehn Prozent gemeint, die er von einem Gewinnüberschuss für wohltätige Zwecke zu spenden gedachte.<br />

<strong>Das</strong> war es. Nicht seine Lebenszeit war ihm um sechs Tage gekürzt worden, sondern Arne war einfach<br />

nicht mehr dazu gekommen, sein Versprechen einzulösen. <strong>Das</strong> Geld im Portemonnaie war das<br />

Spendengeld, genau zehn Prozent seines Überschusses. Die Briefmarken mit eingerechnet.<br />

Ich stürzte aus dem Bett, um diese plötzliche Offenbarung noch einmal von der anderen Seite her<br />

durchzurechnen. Jetzt aber genau: 3.099,28 Euro minus jene zehn Prozent, das ergab 2.789 Euro und 35<br />

Cent. Teilte man diesen Betrag durch fünfzig Euro, den Tagessatz, so kam eine Spanne zwischen 55 und<br />

56 Tagen heraus. Genau 55 Tage und knappe 19 Stunden. Nein, ich wollte es noch genauer wissen: 55<br />

Tage, 18 Stunden und 53 Minuten, so errechnete ich, waren ihm – von wem auch immer – als<br />

Restlebenszeit zugestanden worden, nachdem er seinen Lottogewinn erhalten hatte. Zum Zeitpunkt der<br />

Ziehung, dem 1. August, 19 Uhr 59 – jetzt wurde ich kleinlich, wenn die andere Seite es auch war –,<br />

hinzugezählt, ergab diese Spanne den 26. September, 14 Uhr 52.<br />

Eine genauere Bestimmung von Arnes Todeszeitpunkt als „nachmittags gegen drei Uhr“, wie es die<br />

Bergwanderer ausgesagt hatten, die nach dem Felssturz zu ihm abgestiegen waren, würde ich von<br />

offizieller Seite nicht mehr erhalten. Mir genügte das Ergebnis meiner Rechnung als Beweis für Arnes<br />

beispiellose Kontaktaufnahme mit geistigen Mächten, weit jenseits des gewöhnlichen menschlichen<br />

Erfahrungshorizonts.<br />

*<br />

Seit der Nacht mit dieser letzten Rechnung sind ein paar Tage vergangen, und mir geht das Ganze nicht<br />

mehr aus dem Kopf, wie man leicht verstehen wird. Ich habe Arnes Sachen zur Kleidersammlung gegeben<br />

– mir hätten sie nicht gepasst, ich bin fast einen Kopf kleiner und deutlich weniger schlank als Arne es<br />

war. Auch der Cousin hatte kein Interesse an Arnes schlichter Garderobe gezeigt. Den Rucksack behalte<br />

ich als Andenken. <strong>Das</strong> Tagebuch habe ich in die Kiste gelegt, in der ich Arnes schriftlichen Nachlass, seine<br />

Zeichnungen und die kleinen figürlichen Darstellungen seiner Visionen aufbewahre, bis ich mehr Zeit zur<br />

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