lass fallen anker 1-08 | incl. Korr. Herausgeber ... - Friedemann Scheer
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themA | seeleute am limit<br />
Anpassung ihres biologischen Rhythmus keine Probleme hätten.<br />
Nach einigen Tagen auf See zeigt sich aber, dass auch manch kräftiger<br />
junger Bursche recht träge in der Mannschaftsmesse sein Essen<br />
herunter mümmelt. Kaum, dass sich die Seeleute an die Zeitzonen<br />
ihrer Bestimmungshäfen gewöhnen können, geht die „Zeit-Reise“<br />
wieder los. Je nach Herkunftsland und Heuervertrag erdulden die<br />
Seeleute diese zermürbenden Touren vier bis neun Monate lang.<br />
Selbst für Seeleute, die auf diesen Seerouten einem geregelten<br />
Dienst nachgehen können, bedeutet das, dass sich ihr Körper für<br />
eine unverhältnismäßig lange Zeit auf keinen geregelten Rhythmus<br />
einstellen kann. Aber nicht nur der Biorhythmus verliert jede Balance.<br />
Der gesamte Lebensrhythmus wird prekär.<br />
lange heuern und kaum jemals landgang <strong>lass</strong>en das Leben<br />
in der Dauerroutine an Bord erlahmen. (Hier ist nicht von jener<br />
monotonen Arbeit die Rede, wonach der automatisierte Schiffsbetrieb<br />
dazu führe, dass Seeleute keine Gelegenheit für kreativen<br />
Input hätten. Die Technikgläubigkeit einiger Vertreter dieser fragwürdigen<br />
These, geht sogar so weit, dass sie mit<br />
technischem Gerät Fatigue rechtzeitig entdecken<br />
wollen.)<br />
Hier geht es vielmehr um Lebens- und Arbeitsbedingungen,<br />
die das Lebensgefühl soweit beeinträchtigen,<br />
dass die Arbeitsleistung unwillkürlich<br />
darunter leiden muss.<br />
Beobachtungen zeigen, dass die Leistungskurve<br />
nach einer kurzen Eingewöhnungszeit nur für<br />
einige Wochen aufwärts geht. Schon nach zwei<br />
Monaten lässt sie kontinuierlich nach.<br />
Äußere Anreize, die diesen Trott unterbrechen könnten, sind durch<br />
die kurzen Liegezeiten in Häfen weit hinter den Horizont gerückt.<br />
Das neue Sicherheitssystem der Hafenkontrolle ISPS (International<br />
Ship and Port Facility Security Code) hat die Seeleute nunmehr vollständig<br />
in die Laufgitter des globalen Warenverkehr gezwängt.<br />
Überlastungssyndrome zeigen sich aber nicht nur infolge von<br />
Schlafmangel oder Arbeitsüberlastung einerseits und Eintönigkeit<br />
andererseits. Aus der langen Liste der Ursachen, die zu Fatigue<br />
führen können, nehme ich nur einige heraus. Dazu zählen ungenügende<br />
Qualifikation, Angst, Kommunikationsbarrieren und gestörte<br />
soziale Beziehungen.<br />
Viele Vorgesetzte tun sich mit der Überwindung kultureller Barrieren<br />
schwer. Ein Ingenieur, der nicht ahnt, was seine philippinischen<br />
Motorleute können, oder ein Kapitän, der nicht weiß, was er seinem<br />
indischen Offizier zutrauen kann, muss aber weit mehr als nur<br />
hierarchische Barrieren überwinden.<br />
Was bleibt, ist eine virulente Unsicherheit und damit zugleich ein<br />
Stressfaktor auf beiden Seiten.<br />
Auch rein technische Probleme <strong>lass</strong>en nicht selten Zweifel an der<br />
eigenen Kompetenz und sogar Selbstzweifel aufkommen. Etwa,<br />
wenn über Wochen hinweg Fehler einer elektronischen Steuerkarte<br />
nicht diagnostiziert werden können. Wenn es sich zudem noch<br />
um ein zentrales Steuerelement des Maschinenbetriebs handelt,<br />
liegen die Nerven irgendwann blank. Da tröstete es auch wenig<br />
- weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft -, wenn sich<br />
später herausstellt, dass selbst die Experten an Land keine Erklärung<br />
finden können.<br />
Immer wieder kommt es auch zu Situationen, in denen sich die<br />
Grenze zwischen technischem und menschlichem Versagen verwischt.<br />
Manchmal kann die Ursache ganz einfach in Handbüchern<br />
liegen, aus denen nicht zu entnehmen ist, wie ein unzuverlässig<br />
arbeitender Dampfkessel wieder in den Griff bekommen werden<br />
kann.<br />
10 <strong>lass</strong> <strong>fallen</strong> <strong>anker</strong> 1/ 0<strong>08</strong><br />
Lange Heuern,<br />
kaum Landgang<br />
- das Leben an<br />
Bord erlahmt in<br />
Dauerroutine.<br />
Zusätzlich gibt es aber auch so etwas wie technische institutionalisierte<br />
Selbstzweifel. So schreibt ein philippinischer Chief: „Bei<br />
normalen Betrieb, ohne Notfallarbeiten, führen wir routinemäßige<br />
Instandhaltungsarbeiten durch. Vorausgesetzt, dass wir die Routinearbeiten<br />
korrekt ausführen ..., haben wir keine Probleme.“ Hier<br />
werden mögliche Probleme als Ausnahme, ja als Ergebnis eigener<br />
Fehler beschrieben.<br />
Normalfall ist aber, dass der gewöhnliche Dauerbetrieb an der<br />
Grenze der Leistungsfähigkeit einer Maschinenanlage gefahren<br />
wird. Unter solchen Bedingungen bedarf es nicht einmal schlechten<br />
Wetters, damit Probleme auftauchen. Es genügen schon ungünstige<br />
Bedingungen, wie hohe Seewassertemperaturen, Seegang usw., um<br />
die Grenzen menschlicher und technischer Belastungen zu erreichen.<br />
Da darf kein halber Knoten herunter geregelt werden. Da fragt auch<br />
keiner, ob erst der Mensch oder erst die Maschine einen black out<br />
erleidet. Werden diese Arbeitsbedingungen in Betracht gezogen, so<br />
kommen wir einer zutreffenden Beschreibung des Normalbetriebs<br />
sehr viel näher.<br />
„Fatigue-management“: Die körperliche<br />
und psychische Belastung der Seefahrt sollen<br />
sich Untersuchungen zufolge durch gesunde<br />
Ernährung und Leibesübungen mildern <strong>lass</strong>en.<br />
Entsprechende Empfehlungen sind in den<br />
„Richtlinien zur Linderung von Fatigue und<br />
Fatigue Management“ zu finden.<br />
Darin werden Seeleute aufgefordert, die gewährten<br />
Ruhezeiten auch tatsächlich zur Erholung<br />
zu nutzen, oder gar die Organisation ihrer<br />
Arbeit selbst zu bestimmen, indem sie nach eigenem Körperbefinden<br />
zwischen Schwerstarbeit und leichter Tätigkeit wechseln. Wenn<br />
das alles nicht hilft, werden gymnastische Übungen, vernünftige<br />
Regulierung von Raumklima und Licht in den eigenen Kammern und<br />
zu guter Letzt „gesunde Ernährung“, als individuelle Maßnahme<br />
gegen Fatigue vorgeschlagen.<br />
Im Notfall könne das Prinzip der gesunden Ernährung jedoch<br />
kurzeitig verletzt werden. Dann empfehle es sich, gegen Müdigkeit,<br />
Koffein zuzuführen. „Unnötiges Grübeln“ hat auf jeden Fall zu<br />
unterbleiben. Solche Empfehlungen sind sicher gut gemeint und wissenschaftlich<br />
korrekt. Angesichts der heutigen Arbeitsbedingungen<br />
in der Seeschifffahrt lesen sie sich dennoch wie Hohn.<br />
Als Ausfluss der realen Bedingungen hat sich in manchen Revieren<br />
inzwischen ein Fatique-Management am Rande der Legalität<br />
eingebürgert. Lotsen fungieren dann nicht nur als Berater der<br />
Schiffsführung, sondern als regelrechte Wachablösung. Wenn sich<br />
Losten ohne Heuerschein zu Mitgliedern der Crew machen <strong>lass</strong>en,<br />
dann nur deshalb, weil sie es für ihre seemännische Pflicht halten,<br />
Besatzungen, die „einfach nicht mehr können“, sicher in den Hafen<br />
zu geleiten.<br />
Folgt man Lotsen und ihren Verbandsvertretern, dann können<br />
ihre Berichte - mit spitzer Zunge zusammengefasst - den Anschein<br />
erwecken, dieses Gewerbe habe sich zusehends zu einem präventiven<br />
Bergungsunternehmen gewandelt. Ein Rettungswesen in<br />
Sachen Fatigue.<br />
Richtlinien zur Milderung von Fatigue mögen individuell Erleichterung<br />
schaffen. Fatigue Management kann ebenfalls dazu<br />
beitragen.<br />
Was jedoch auf jeden Fall die Gefahr von Fatigue mindern und die<br />
Sicherheit der Schifffahrt fördern würde, das wären angemessene<br />
Besatzungsstärken und kürzere Vertragsdauern. Kurzum: ein ausgewogenes<br />
Crew Management. Ein geschulter „Fatigue Management<br />
Trainer“ an Bord wird da kaum reichen. •