05.11.2013 Aufrufe

Der erweiterte Phänotyp - Scinexx

Der erweiterte Phänotyp - Scinexx

Der erweiterte Phänotyp - Scinexx

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Richard Dawkins<br />

<strong>Der</strong> <strong>erweiterte</strong> <strong>Phänotyp</strong><br />

<strong>Der</strong> lange Arm der Gene<br />

Mit einem Nachwort von Daniel Dennett<br />

Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Mayer


Titel der Originalausgabe:<br />

The Extended Phenotype – The Long Reach of the Gene<br />

Die englische Originalausgabe ist erschienen bei Oxford University Press Oxford New York<br />

© Richard Dawkins 1982, 1999<br />

Afterword: © Daniel Dennett 1999<br />

Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Mayer<br />

Wichtiger Hinweis für den Benutzer<br />

<strong>Der</strong> Verlag, der Autor und der Übersetzer haben alle Sorgfalt walten lassen, um vollständige und<br />

akkurate Informationen in diesem Buch zu publizieren. <strong>Der</strong> Verlag übernimmt weder Garantie<br />

noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für die Nutzung dieser Informationen,<br />

für deren Wirtschaftlichkeit oder fehlerfreie Funktion für einen bestimmten Zweck. <strong>Der</strong><br />

Verlag übernimmt keine Gewähr dafür, dass die beschriebenen Verfahren, Programme usw. frei<br />

von Schutzrechten Dritter sind. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen<br />

usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu<br />

der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung<br />

als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. <strong>Der</strong> Verlag hat<br />

sich bemüht, sämtliche Rechteinhaber von Abbildungen zu ermitteln. Sollte dem Verlag gegenüber<br />

dennoch der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche<br />

Honorar gezahlt.<br />

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;<br />

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media<br />

springer.de<br />

© Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg 2010<br />

Spektrum Akademischer Verlag ist ein Imprint von Springer<br />

10 11 12 13 14 5 4 3 2 1<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb<br />

der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig<br />

und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen<br />

und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Planung und Lektorat: Dr. Ulrich Moltmann, Dr. Christoph Iven<br />

Redaktion: Dr. Peter Wittmann<br />

Herstellung und Satz: Crest Premedia Solutions (P) Ltd, Pune, Maharashtra, India<br />

Umschlaggestaltung: wsp design Werbeagentur GmbH, Heidelberg<br />

Titelbilder: © Getty Images; © Sebastian Kaulitzki, Fotolia.com<br />

ISBN 978-3-8274-2706-9


Vorwort zur deutschen Ausgabe von<br />

<strong>Der</strong> <strong>erweiterte</strong> <strong>Phänotyp</strong><br />

<strong>Der</strong> <strong>erweiterte</strong> <strong>Phänotyp</strong> ist aus einem Vortrag entstanden, den ich ursprünglich in<br />

Deutschland gehalten habe. Deshalb ist es für mich eine besondere Freude, das Vorwort<br />

für die deutsche Ausgabe dieses Buches zu schreiben. Die International Ethological<br />

Conference, gegründet 1952 durch Konrad Lorenz und Nico Tinbergen, tritt<br />

alle zwei Jahre zusammen. 1977 war die Universität Bielefeld die Gastgeberin und<br />

ich empfand es als große Ehre, dass Professor Klaus Immelmann, der Organisator<br />

der Konferenz, mich zu einem Plenarvortrag einlud. Mein erstes Buch Das egoistische<br />

Gen war kurz davor erschienen und ich beschloss, meinen Vortrag zu nutzen,<br />

um den Hauptgedanken in eine unerwartete – aber durchaus logische – Richtung<br />

weiterzuentwickeln. Ich gab ihm die Überschrift: „Replikatorauslese und der Erweiterte<br />

<strong>Phänotyp</strong>“; er wurde in der Zeitschrift für Tierpsychologie veröffentlicht,<br />

die von Wolfgang Wickler, dem Nachfolger von Konrad Lorenz, herausgegeben<br />

wurde. Man kann dieses Buch als Erweiterung und Entwicklung dieses Aufsatzes<br />

betrachten.<br />

Auf dieses Buch bin ich aus mehreren Gründen besonders stolz. Mit Sicherheit<br />

kann ich damit den Anspruch erheben, einen eigenständigen Beitrag sowohl zur<br />

Philosophie als auch zur Biologie geleistet zu haben, besonders in den letzten vier<br />

Kapiteln, in denen der Gedanke des <strong>erweiterte</strong>n <strong>Phänotyp</strong>s entwickelt wird. Als ich<br />

1989 gebeten wurde, eine zweite Ausgabe des Egoistischen Gens herauszubringen,<br />

ließ ich den ursprünglichen Text unverändert, aber fügte zwei neue Kapitel hinzu,<br />

von denen das eine, „<strong>Der</strong> lange Arm der Gene“, eine Kurzfassung der letzten vier<br />

Kapitel des Erweiterten <strong>Phänotyp</strong>s waren. Ich glaube, diese Zusammenfassung war<br />

zu knapp, um meiner Idee gerecht zu werden. Das ist ein weiterer Grund für meine<br />

Freude darüber, dass die englische Originalausgabe von <strong>Der</strong> Erweiterte <strong>Phänotyp</strong><br />

weiterhin ohne Unterbrechung lieferbar ist (und sich weiterhin sehr gut verkauft),<br />

und dass ich die Gelegenheit habe, jetzt eine neue deutsche Ausgabe vorzustellen.<br />

Seit dem Jahr, als <strong>Der</strong> Erweiterte <strong>Phänotyp</strong> erschienen ist, hat es viele neue<br />

Entwicklungen gegeben. Mag sein, dass ich voreingenommen bin, aber ich glaube,<br />

dass diese die Hauptthese meines Buches eher gestärkt als angegriffen haben. So<br />

ist zum Beispiel das Kapitel über „Outlaws und Modifikatoren“ durch jede Menge<br />

Schriften über „egoistische genetische Elemente“ bestätigt worden, mit denen sich<br />

Austin Burt und Robert Trivers in ihrem 2008 erschienen Buch Genes in Conflict:<br />

v


vi<br />

Vorwort zur deutschen Ausgabe von <strong>Der</strong> Erweiterte <strong>Phänotyp</strong><br />

the biology of selfish genetic elements in hervorragender Weise auseinandergesetzt<br />

haben.<br />

<strong>Der</strong> Philosoph Kim Sterelny, Herausgeber von Biology and Philosophy , veranlasste<br />

eine spezielle Rückschau auf den <strong>erweiterte</strong>n <strong>Phänotyp</strong> . Dazu wurden drei<br />

Autoren aufgefordert, einen Rückblick auf die zwei Jahrzehnte zu geben, die seit<br />

der Publikation vergangen waren, und ich wurde eingeladen, darauf zu antworten.<br />

Als erster versuchte Kevin Alard mit „Extending the Extended Phenotype“ [Die Erweiterung<br />

des <strong>erweiterte</strong>n <strong>Phänotyp</strong>s] den Gedanken des <strong>erweiterte</strong>n <strong>Phänotyp</strong>s zu<br />

verallgemeinern, um „Niche Construction“ [Die Einrichtung seiner ökologischen<br />

Nische durch den Organismus selbst] in dem Sinn einzubeziehen, wie er und Odling-Smee<br />

ihn entwickelt hatten, in Übereinstimmung mit anderen, wie etwa R. C.<br />

Lewontin. Als zweiter nutzte J. Sott Turner in „Extended Phenotypes and Extended<br />

Organisms“ [Erweiterte <strong>Phänotyp</strong>en und Erweiterte Organismen] seine eigene<br />

Arbeit über Termiten, um seine Auffassung des „<strong>erweiterte</strong>n Organismus“ zu erläutern.<br />

In „From Replicators to Heritably Varying Phenotypic Traits: The Extended<br />

Phenotype Revisited” [Von Replikatoren zu erblich variierenden phänotypischen<br />

Eigenschaften: Eine Wiederbegegnung mit dem <strong>erweiterte</strong>n <strong>Phänotyp</strong>] betrachtete<br />

als dritte Eve Jablonka neue Entwicklungen in der Entwicklungsgenetik, darunter<br />

sogenannte „epigenetische“ Wirkungen und ihre Bedeutung für die „Replikator/<br />

Vehikel“-Unterscheidung, welche Kapitel 5 und 6 in diesem Buch beherrschen.<br />

Meine Antwort auf diese drei wohl durchdachten Beiträge unter dem Titel „The<br />

Extended Phenotype – But Not Too Extended“ [<strong>Der</strong> <strong>erweiterte</strong> <strong>Phänotyp</strong> – aber<br />

nicht zu stark erweitert] nahm ihre Kritik zur Kenntnis, aber ließ, wie ich glaube,<br />

die Kernthese des Buches unangetastet. Meiner Meinung nach habe ich namentlich<br />

den fundamentalen Unterschied zwischen dem <strong>erweiterte</strong>n <strong>Phänotyp</strong> und „niche<br />

construction“ deutlich gemacht. Meine Abhandlung kann unter folgendem Link gelesen<br />

werden:<br />

http://www.scribd.com/doc/351530/Richard-Dawkins-Extended-Phenotype .<br />

Meine Antwort habe ich abgeschlossen mit der fantastischen Vision von einem<br />

zukünftigen Luftschloss, der pompösen Eröffnung des „EPI, Extended Phenotypics<br />

Institute (also des Instituts für Erweiterte <strong>Phänotyp</strong>en) in einer unserer großen<br />

Universitätsstädte. Nach der formellen Eröffnung durch einen Nobelpreisträger<br />

(gekrönte Häupter würden als nicht gut genug erachtet) würde den beeindruckten<br />

Gästen das neue Gebäude vorgeführt. Es bestünde aus drei Flügeln, dem Zoological<br />

Artefact Museum (ZAM, Museum für zoologische Artefakte), dem Parasite Extended<br />

Genetics (PEG, Laboratorium für <strong>erweiterte</strong> Genetik der Parasiten) und dem<br />

Centre for Action at a Distance (Zentrum für Wirkung auf Distanz, CAD).“ Diese<br />

Bezeichnungen und ihre Abkürzungen sind nur für diejenigen verständlich, die die<br />

Kap. 11, 12 und 13 gelesen haben. Vielleicht können sie den Appetit des Lesers auf<br />

das Buch selbst steigern.<br />

In gewisser Weise stellten sie das Gerüst für eine faszinierende Konferenz dar,<br />

zu welcher der irische Biologe David Hughes im November 2008 unter der Schirmherrschaft<br />

der European Science Foundation an einen wunderschönen Ort bei Kopenhagen<br />

einlud. Hughes und seine Mitorganisatoren Jacobus Boomsma und Fréderic<br />

Thomas versammelten eine illustre Gruppe internationaler Wissenschaftler zu


Vorwort zur deutschen Ausgabe von <strong>Der</strong> Erweiterte <strong>Phänotyp</strong><br />

vii<br />

einer Diskussion über „The New Role of the Extended Phenotype in Evolutionary<br />

Biology“ [Die neue Rolle des <strong>erweiterte</strong>n <strong>Phänotyp</strong>s in der Evolutionsbiologie]. Sie<br />

leiteten die Konferenz mit folgenden Worten ein: „<strong>Der</strong> <strong>erweiterte</strong> <strong>Phänotyp</strong> ist ein<br />

bedeutendes Konzept in der Evolutionsbiologie. Unser ESF-Workshop wird eine<br />

hochangesehene Gruppe von Evolutionsbiologen aus verschiedenen Unterdisziplinen<br />

zusammenführen, um sich einigen neueren Herausforderungen zu stellen und<br />

über die neue Rolle des Erweiterten <strong>Phänotyp</strong>s in der Evolutionsbiologie zu debattieren.“<br />

Die Konferenz war höchst anregend und ein großer Erfolg, wie man das im<br />

Bericht der Ausgabe der Medical News Today von 22. Januar 2009 ( http://www.<br />

medicalnewstoday.com/articles/136278.php ) und im EMBO-Bericht von Philipp<br />

Hunter (2009) nachlesen kann. Wichtige Themen wurden verdeutlicht, zum Beispiel<br />

der Unterschied zwischen dem <strong>erweiterte</strong>n <strong>Phänotyp</strong> und „niche construction“<br />

(siehe oben). Einer der besten Aspekte der Konferenz war, dass sie Vorfreude auf<br />

künftige Forschungsarbeit weckte.<br />

Im ursprünglichen Vorwort für The Extended Phenotyp habe ich um Nachsicht<br />

dafür gebeten, dass dieses Buch eine Art Verteidigung darstellt – eher einen Versuch,<br />

unsere Denkweise zu verändern, als eine exakte Theorie, die überprüfbare<br />

Voraussagen machte. Vielleicht war es ein Beitrag ebenso zur Philosophie wie zur<br />

Biologie, ein Gesichtspunkt, den Daniel Dennett in seinem wunderbaren Nachwort<br />

zur Ausgabe der Neuauflage dieses Buches von 1999 bei Oxford University<br />

Press aufnahm. Nach der Kopenhagener Konferenz dachte ich, dass ich weniger<br />

um Nachsicht hätte bitten sollen, sondern lieber stärker auf meinen Anspruch hätte<br />

pochen sollen. Ich verließ Kopenhagen mit dem angenehmen und ermutigenden<br />

Gefühl, dass die Idee des <strong>erweiterte</strong>n <strong>Phänotyp</strong>s ein Spätzünder war, deren Zeit nun<br />

gekommen war.<br />

Burt, A & R. Trivers (2006). Genes in Conflict: the biology of selfish genetic elements. Harvard<br />

University Press, Cambridge, Mass.<br />

Dawkins, R. (1978) Replicator Selection and the Extended Phenotype. Zeitschrift für Tierpsychologie<br />

47, 61–76.<br />

Dawkins, R. (1994). Das egoistische Gen. Spektrum, Heidelberg.<br />

Hunter, P. (2009). Extended Phenotype Redux. Embo Reports, 10, 212–215. ( http://www.nature.<br />

com/embor/journal/v10/n3/full/embor200918.html )<br />

Sterelny, K. (2004, Ed). The Extended Phenotype at Twenty one: a Retrospective. Biology and<br />

Philosophy, 19, 313–396.


Inhalt<br />

1 Necker-Würfel und Büffel ........................................................................ 1<br />

2 Genetischer Determinismus und genetischer Selektionismus ............... 11<br />

3 Beschränkungen der Perfektion .............................................................. 33<br />

Zeitliche Verzögerungen ............................................................................. 38<br />

Entwicklungsgeschichtliche Beschränkungen ............................................ 42<br />

Verfügbare genetische Variation .................................................................. 45<br />

Beschränkungen der Kosten und Materialien ............................................. 50<br />

Unvollkommenheiten auf einer Ebene als Folge der Selektion<br />

auf einer anderen Ebene .............................................................................. 54<br />

Fehler aufgrund von umweltbedingten Unwägbarkeiten oder<br />

„Böswilligkeit“ ............................................................................................ 57<br />

4 Wettrüsten und Manipulation ................................................................. 59<br />

5 <strong>Der</strong> aktive Keimbahn-Replikator ............................................................ 87<br />

6 Organismen, Gruppen und Meme: Replikatoren oder Vehikel? ......... 103<br />

7 Egoistische Wespe oder egoistische Strategie? ....................................... 125<br />

8 Outlaws und Modifikatoren ..................................................................... 141<br />

„Gene, die das System sprengen“ ............................................................... 144<br />

Modifikatoren .............................................................................................. 145<br />

Geschlechtsabhängige Outlaws ................................................................... 147<br />

Egoistisches Sperma .................................................................................... 150<br />

Grünbärte und Achselhöhlen ....................................................................... 152<br />

9 Egoistische DNA, springende Gene und ein lamarckistisches<br />

Schreckgespenst ........................................................................................ 167<br />

Egoistische DNA ......................................................................................... 167<br />

xv


xvi<br />

Inhalt<br />

Ein lamarckistisches Schreckgespenst ...................................................... 176<br />

Die Schwäche des Präformationismus ...................................................... 185<br />

10 Eine Quälerei in fünf Akten [An Agony in Five Fits] .......................... 191<br />

Fitness zum Ersten .................................................................................... 193<br />

Fitness zum Zweiten ................................................................................. 194<br />

Fitness zum Dritten ................................................................................... 195<br />

Fitness zum Vierten ................................................................................... 197<br />

Fitness zum Fünften .................................................................................. 199<br />

11 Die genetische Evolution tierischer Artefakte ...................................... 209<br />

12 Wirtsphänotypen von Parasitengenen .................................................. 223<br />

13 Wirkung auf Distanz ............................................................................... 243<br />

14 Die Wiederentdeckung des Organismus ............................................... 267<br />

Nachwort .......................................................................................................... 283<br />

Glossar .............................................................................................................. 289<br />

Kurzbiographien ............................................................................................. 305<br />

Literatur ............................................................................................................ 307<br />

Sachverzeichnis ............................................................................................... 323


Kapitel 2<br />

Genetischer Determinismus und<br />

genetischer Selektionismus<br />

Noch lange nach seinem Tod hielten sich zähe Gerüchte, dass Adolf Hitler munter<br />

und vergnügt in Südamerika oder in Dänemark gesehen worden sei, und jahrelang<br />

hat eine erstaunlich große Zahl von Leuten, die ihm keineswegs nahe standen, nur<br />

widerwillig zugegeben, dass er wirklich tot war (Trevor-Roper 1972). Im ersten<br />

Weltkrieg kam eine Geschichte weithin in Umlauf, dass hunderttausend russische<br />

Soldaten bei der Landung in Schottland beobachtet worden seien „mit Schnee an<br />

ihren Stiefeln“ – wahrscheinlich gerade, weil das Bild von diesem Schnee sich<br />

so lebendig einprägt (Taylor 1963). Auch in unserer Zeit sind uns solche Mythen<br />

schon sprichwörtlich bekannt, wie die von Computern, die beharrlich Rechnungen<br />

für Haushaltsstrom über eine Million Pfund verschicken (Evans 1979), oder wie<br />

die von gutbetuchten Wohlfahrtsschnorrern, die vor ihrer mit öffentlichen Geldern<br />

bezahlten Sozialwohnung zwei Luxusautos stehen haben. Es gibt da also einige<br />

Unwahrheiten oder Halbwahrheiten, die in uns offenbar den starken Drang erwecken,<br />

sie zu glauben und weiterzugeben, obwohl wir sie unerfreulich finden oder<br />

– vertrackterweise – manchmal auch, weil wir sie unerfreulich finden.<br />

Computer und elektronische „Chips“ tragen ungebührlich viel zu dieser Mythenbildung<br />

bei, vielleicht weil die Computertechnologie mit einer geradezu erschreckenden<br />

Geschwindigkeit fortschreitet. Ich kenne einen älteren Herrn, der von<br />

einem guten Gewährsmann weiß, dass „Chips“ menschliche Fähigkeiten in einem<br />

Ausmaß an sich reißen, dass sie nicht nur „Traktoren steuern“ sondern auch „Frauen<br />

befruchten“. Gene sind, wie ich zeigen werde, die Quelle einer Geschichte, welche<br />

die Mythen der Computer weit übertrifft. Man stelle sich das Ergebnis vor, wenn<br />

diese beiden mächtigen Mythen verbunden werden, der Gen-Mythos und der Computer-Mythos!<br />

Ich glaube, dass ich unbeabsichtigt in den Köpfen einiger weniger<br />

Leser meines vorigen Buches so eine unglückselige Verbindung hergestellt habe,<br />

und das Ergebnis war ein komisches Missverständnis. Glücklicherweise waren diese<br />

Missverständnisse nicht sehr weit verbreitet, aber ich will mich bemühen, so<br />

etwas in diesem Buch zu vermeiden, und das ist der Zweck dieses Kapitels. Ich<br />

werde den Mythos des genetischen Determinismus entlarven und erklären, warum<br />

man eine Sprache benutzen muss, die unglücklicherweise als genetischer Determinismus<br />

missverstanden werden kann.<br />

11


12<br />

2 Genetischer Determinismus und genetischer Selektionismus<br />

Ein Rezensent von Wilsons (1978) Über die menschliche Natur schrieb: „…<br />

auch wenn er bei der Annahme geschlechtsspezifischer Gene für ‚Schürzenjägerei’<br />

nicht so weit geht wie Richard Dawkins ( The Selfish Gene …), haben für Wilson<br />

männliche Menschen einen genetisch bedingten Hang in Richtung Vielweiberei<br />

und weibliche zur Beständigkeit (schimpft nicht mit euren Partnern, meine Damen,<br />

wenn sie fremdgehen, sie können nichts dafür, sie sind genetisch programmiert).<br />

<strong>Der</strong> genetische Determinismus schleicht sich immer wieder durch die Hintertüre<br />

herein“ (Rose 1978). Die klare Folgerung des Rezensenten lautet, dass die besprochenen<br />

Autoren an das Bestehen von Genen glauben, welche Menschenmänner<br />

dazu zwingen, unheilbare Schürzenjäger zu sein, die deshalb nicht wegen ehelicher<br />

Untreue getadelt werden dürfen. <strong>Der</strong> Leser wird mit dem Eindruck zurückgelassen,<br />

dass diese Autoren Vorkämpfer in der „Anlage-oder-Umwelt“-Auseinandersetzung<br />

sind und, noch darüber hinaus, in der Wolle gefärbte Vertreter der Vererbungslehre<br />

mit Neigungen zum männlichen Chauvinismus.<br />

Tatsächlich war meine Aussage über schürzenjagende Männchen gar nicht auf<br />

Menschen gemünzt. Es war das einfache mathematische Modell eines nicht näher<br />

bestimmten Tieres (in meiner Vorstellung war es ein Vogel – aber das tut hier nichts<br />

zur Sache). Es war nicht ausdrücklich (siehe unten) ein genetisches Modell, und<br />

wenn es von Genen gehandelt hätte, dann eher von geschlechtsunabhängigen als<br />

von geschlechtsspezifischen Genen. Es war ein Modell von „Strategien“ im Sinne<br />

Maynard Smith’ (1974). Die „Schürzenjäger “-Strategie wurde nicht vorausgesetzt<br />

als die Art, wie Männer sich verhalten, sondern als eine von zwei hypothetischen<br />

Möglichkeiten, wobei die andere die Treuheits-Strategie war. Das einfache Modell<br />

sollte lediglich aufzeigen, unter welchen Bedingungen entweder die Schürzenjägerei<br />

von der natürlichen Auslese bevorzugt oder aber Treue belohnt würde. Es wurde<br />

nicht davon ausgegangen, dass Schürzenjägerei bei Männern wahrscheinlicher wäre<br />

als Zuverlässigkeit. Tatsächlich ergab sich nämlich aus dem dargestellten Simulationsdurchlauf<br />

eine gemischte männliche Population mit einem leichten Übergewicht<br />

für Treue (Dawkins 1976a, S. 165 siehe auch Schuster & Sigmund 1981). Rose irrt<br />

nicht nur in einem Punkt, in seinen Bemerkungen offenbart sich ein ganzes Bündel<br />

von Missverständnissen. Da gibt es ein wollüstiges Verlangen nach Missverstehen.<br />

Es trägt den Abdruck von schneebedeckten russischen Soldatenstiefeln, von kleinen<br />

schwarzen Mikrochips, welche die Rolle der Männer an sich reißen und unsere<br />

Traktorfahrerjobs stehlen. Es ist die Erscheinung eines gewaltigen Mythos, in diesem<br />

Fall des großen Gen-Mythos.<br />

<strong>Der</strong> Gen-Mythos ist zusammengefasst in Roses beiläufig erzähltem Scherz von<br />

den werten Damen, die ihre Männer nicht tadeln sollen, weil sie fremdgehen. Es ist<br />

der Mythos des genetischen Determinismus. Offenkundig ist für Rose genetischer<br />

Determinismus ein Zwang im philosophischen Sinn, unumstößlich und unvermeidbar.<br />

Er nimmt an, dass die Existenz eines Gens „für“ X bedeutet, dass X nicht vermieden<br />

werden kann. Gould (1978, S. 238) kritisiert den „genetischen Determinismus“<br />

mit den Worten: „Wenn wir zu dem programmiert sind, was wir sind, dann<br />

sind diese Züge unabwendbar. Im besten Fall könnten wir sie bändigen, aber wir<br />

können sie nicht ändern, weder durch Willen, noch durch Erziehung, noch durch<br />

Kultur.“


2 Genetischer Determinismus und genetischer Selektionismus<br />

13<br />

Über die deterministische Sichtweise und ihre Tragweite für die moralische<br />

Verantwortlichkeit eines Individuums für sein Handeln streiten Philosophen und<br />

Theologen seit Jahrhunderten, und sie werden wohl auch noch in hundert Jahren<br />

darüber streiten. Ich vermute, dass sowohl Rose als auch Gould insofern Deterministen<br />

sind, als sie an eine physikalische, materialistische Grundlage für alle<br />

unsere Handlungen glauben. Ich teile diese Auffassung. Und wahrscheinlich stimmen<br />

wir drei auch darin überein, das menschliche Nervensystem als so komplex<br />

anzusehen, dass wir in der Praxis den Determinismus vergessen und uns so verhalten<br />

können, als ob wir einen freien Willen besäßen. Neuronen können Verstärker<br />

für grundlegend undeterminierte physikalische Vorgänge sein. Ich möchte<br />

darauf hinweisen, dass es – wie immer man zum Determinismus steht – keinerlei<br />

Unterschied macht, wenn man das Wörtchen „genetisch“ hinzufügt. Als überzeugter<br />

Determinist wird man glauben, dass alle Handlungen durch physikalische<br />

Ursachen in der Vergangenheit vorherbestimmt sind, und man kann die Ansicht<br />

vertreten oder auch nicht, dass man deshalb keine Verantwortung für seine sexuellen<br />

Treulosigkeiten trägt. Aber wie dem auch sei, welchen Unterschied würde<br />

es machen, wenn einige dieser physikalischen Ursachen genetisch sind? Warum<br />

hält man genetische Determinanten für noch schwerer vermeidbar als „umweltbedingte“?<br />

<strong>Der</strong> Glaube, dass Gene im Unterschied zu Umweltursachen gewissermaßen<br />

superdeterministisch wirken, ist ein kaum auszurottender Mythos, der zu einer<br />

ernsthaften psychischen Belastung führen kann. Ich war mir dessen nicht deutlich<br />

bewusst – bis ich an einem Treffen der American Association for the Advancement<br />

of Science 1978 teilnahm. Eine junge Frau fragte den Referenten, einen bekannten<br />

„Soziobiologen“, ob es irgendeinen Beweis für die Verschiedenheit der Geschlechter<br />

in der Psychologie des Menschen gäbe. Ich hörte die Antwort des Dozenten<br />

kaum, so erstaunt war ich über die Erregung, mit der die Frage gestellt wurde. Die<br />

Frau schien der Antwort größtes Gewicht beizulegen und war den Tränen nah. Nach<br />

einem Augenblick echter und unschuldiger Verblüffung kam mir schlagartig die<br />

Erleuchtung. Etwas oder jemand, aber bestimmt nicht der bedeutende Soziobiologe<br />

selbst, hatte sie glauben gemacht, dass genetische Bestimmung endgültig sei; sie<br />

glaubte ernsthaft daran, dass ein „Ja“ auf ihre Frage sie als weibliches Wesen zu<br />

einem Leben mit weiblichen Beschäftigungen verdammte, für immer eingesperrt<br />

in Küche und Kinderzimmer. Aber wenn sie, anders als die meisten von uns, eine<br />

Deterministin in diesem strengen calvinistischen Sinn wäre, müsste sie gleichermaßen<br />

aufgebracht sein, sei es, dass die Ursachen dafür genetisch, sei es dass sie<br />

„umweltbedingt“ sind.<br />

Was bedeutet es denn letztlich zu behaupten, dass irgendetwas determiniert würde<br />

durch irgendetwas? Philosophen machen, vielleicht mit Recht, viel Wind um den<br />

Begriff der Kausalität , aber für einen Biologen in der Praxis ist Kausalität eher ein<br />

einfaches statistisches Konzept. In der Realität lässt sich nicht beweisen, dass ein<br />

bestimmter beobachteter Vorgang C ein bestimmtes Ergebnis R verursacht hat, auch<br />

wenn ein kausaler Zusammenhang oft für wahrscheinlich gehalten wird. Was Biologen<br />

in der Praxis üblicherweise tun, ist statistisch nachzuweisen, dass Ereignisse<br />

der Klasse R zuverlässig Ereignissen der Klasse C folgen. Dazu benötigen sie eine


14<br />

2 Genetischer Determinismus und genetischer Selektionismus<br />

größere Zahl miteinander verbundener Einzelfälle: Ein einmaliger Vorgang reicht<br />

dafür nicht aus.<br />

Selbst die Beobachtung, dass R-Ereignisse dazu neigen, C-Ereignissen innerhalb<br />

eines bestimmten Zeitraums zu folgen, liefert nur die Arbeitshypothese, dass R-Vorgänge<br />

durch C-Vorgänge verursacht werden. Die Hypothese gilt – statistisch – erst<br />

dann als bestätigt, wenn die C-Ereignisse nicht nur von einem Beobachter notiert<br />

werden, sondern wenn ein Experimentator sie auslöst und diese dann immer noch<br />

zuverlässig von R-Vorgängen gefolgt sind. Dabei ist es weder unbedingt nötig, dass<br />

jedem C ein R folgt, noch dass jedem R ein C vorausgeht (wer hätte sich noch nicht<br />

mit einem Argument von der Art herumschlagen müssen: „Rauchen kann keinen<br />

Lungenkrebs verursachen, weil ich einen Nichtraucher kannte, der daran gestorben<br />

ist, und einen starken Raucher, der noch im neunzigsten Lebensjahr topfit ist“?).<br />

Statistische Methoden helfen uns, bis zu einem bestimmbaren Grad von erwartbarer<br />

Wahrscheinlichkeit abzuschätzen, ob die Ergebnisse, die wir erhalten, wirklich auf<br />

einen kausalen Zusammenhang hinweisen.<br />

Wenn es also zuträfe, dass der Besitz eines Y-Chromosoms einen ursächlichen<br />

Einfluss, etwa auf musikalische Begabung oder eine Vorliebe für das Stricken ausübt,<br />

was würde das bedeuten? Es würde bedeuten, dass in einer bestimmten Population<br />

und in einer bestimmten Umgebung ein Beobachter, der das Geschlecht<br />

einer Person kennt, in der Lage wäre, eine statistisch genauere Vorhersage über die<br />

musikalischen Fähigkeiten dieser Person abzugeben als ein Beobachter, der nicht<br />

über das Geschlecht der Person Bescheid weiß. Die Betonung liegt auf dem Wort<br />

„statistisch“ – und lassen sie uns für eine gute Messung noch einfügen „wenn alle<br />

anderen Bedingungen gleich sind“. Würden dem Beobachter zusätzliche Informationen<br />

vorliegen, etwa über die Ausbildung oder die Erziehung einer Person, könnten<br />

diese ihn veranlassen, seine auf der Kenntnis des Geschlechts beruhende Voraussage<br />

zu überdenken oder gar ins Gegenteil zu verkehren. Wenn Frauen mit höherer<br />

statistischer Wahrscheinlichkeit als Männer Freude am Stricken haben, bedeutet das<br />

nicht, dass alle Frauen Freude am Stricken haben, und es heißt nicht einmal, dass<br />

das bei der Mehrheit der Frauen so ist.<br />

Das deckt sich mit der Ansicht, dass Frauen deshalb Freude am Stricken haben,<br />

weil die Gesellschaft sie zur Freude am Stricken erzieht. Wenn die Gesellschaft<br />

systematisch Kinder ohne Penisse zum Stricken und zum Spielen mit Puppen konditioniert<br />

und Kinder mit Penissen zum Spielen mit Waffen und Plastiksoldaten,<br />

sind alle sich daraus ergebenden geschlechtsspezifischen Unterschiede bei den<br />

Vorlieben streng genommen genetisch determinierte Unterschiede: Sie sind gesellschaftlich<br />

bestimmt durch die Tatsache des Besitzes oder Nichtbesitzes eines Penis<br />

– und damit (sofern nicht chirurgisch oder mit Hormonen eingegriffen wird) durch<br />

Geschlechtschromosomen.<br />

Anhänger dieser Sichtweise dürften erwarten, dass die normalen Vorlieben leicht<br />

umzukehren sind, indem Jungen zum Spielen mit Puppen und Mädchen zum Spielen<br />

mit Waffen erzogen würden. Das wäre ein interessanter Versuch, denn es könnte<br />

sich herausstellen, dass Mädchen auch dann Puppen und Jungen noch immer Waffen<br />

bevorzugen. Wäre das so, könnte uns das einiges über die Beharrlichkeit eines<br />

genetischen Unterschiedes angesichts einer bestimmten Beeinflussung der Umge-


2 Genetischer Determinismus und genetischer Selektionismus<br />

15<br />

bung verraten. Aber alle genetischen Ursachen müssen in Zusammenhang mit einer<br />

irgendwie gearteten Umwelt wirken. Macht sich ein genetischer Geschlechtsunterschied<br />

nur auf dem Weg über ein geschlechtsbezogenes Erziehungssystem bemerkbar,<br />

so handelt es sich dennoch um einen genetischen Unterschied. Tritt dieser aufgrund<br />

irgendeiner anderen Bedingung zutage und wird durch einen Eingriff in das<br />

Erziehungssystem nicht beeinflusst, handelt es sich im Prinzip genauso um einen<br />

genetischen Unterschied wie im vorigen Beispiel für einen erziehungsabhängigen<br />

Vorgang. Zweifellos könnte irgendein anderer Umweltfaktor gefunden werden, der<br />

ihn gestört hätte .<br />

Psychologische Eigenschaften des Menschen unterscheiden sich in fast ebenso<br />

vielen Aspekten, wie Psychologen messen können. Das ist in der Praxis schwierig<br />

(Kempthorne 1978), aber im Prinzip lassen sich diese Unterschiede auf eine ganze<br />

Reihe potentieller Kausalfaktoren zurückführen, zum Beispiel Alter, Größe, Bildungsniveau,<br />

Erziehung, Geschwisterzahl, Geburtsrangfolge, die Augenfarbe der<br />

Mutter oder das Geschick des Vaters als Hufschmied und natürlich auf Geschlechtschromosomen.<br />

Wir könnten auch Wechselwirkungen zwischen jeweils zwei dieser<br />

Faktoren oder zwischen allen Faktoren untersuchen. Für unsere Zwecke ist der entscheidende<br />

Punkt, dass die Unterschiedlichkeit, die wir erklären wollen, viele Ursachen<br />

hat, und dass diese Ursachen sich auf komplexe Art gegenseitig beeinflussen.<br />

Genetische Vielfalt ist ohne Frage eine bedeutende Ursache von phänotypischer<br />

Vielfalt der beobachteten Populationen, aber die Auswirkungen genetischer Vielfalt<br />

könnten durch andere Ursachen aufgehoben, verändert, verstärkt oder umgekehrt<br />

werden. Gene sind in der Lage, die Auswirkungen anderer Gene wie auch von Umwelteinflüssen<br />

abzuändern. Innere wie äußere Umwelteinflüsse könnten die Auswirkungen<br />

der Gene und die Auswirkungen anderer Umwelteinflüsse variieren.<br />

Kaum jemand zweifelt an der Veränderungskraft „umweltbedingter“ Wirkungen<br />

auf die menschliche Entwicklung. Wenn ein Kind schlechten Mathematikunterricht<br />

hatte, wird zugestanden, dass die daraus folgende Schwäche durch besonders guten<br />

Unterricht im Folgejahr ausgeglichen werden kann. Aber jede Andeutung, dass die<br />

Schwäche des Kindes einen genetischen Ursprung haben könnte, stößt auf vehemente<br />

Ablehnung: Wenn es in den Genen liegt, dann „steht es geschrieben“, ist es<br />

„determiniert“ und unabänderlich; man könnte gleich den Versuch aufgeben, dem<br />

Kind Rechnen beizubringen. Das ist natürlich kompletter Unsinn und geradezu<br />

bösartig. Genetische Ursachen und umweltbedingte Ursachen unterscheiden sich<br />

grundsätzlich nicht voneinander. Bestimmte Einflüsse, ob genetische oder umweltbedingte,<br />

sind nur schwer umkehrbar, andere dagegen lassen sich leicht umkehren.<br />

Oft kommt es nur darauf an, das richtige Mittel einzusetzen. Entscheidend ist:<br />

Es existiert kein allgemeiner Grund für die Annahme, dass genetische Einflüsse<br />

schwieriger umzukehren sind als umweltbedingte.<br />

Wie haben die Gene sich diesen unheimlichen götzengleichen Ruf eingehandelt?<br />

Warum machen wir nicht ähnlich viel Aufhebens um die Krippenerziehung oder<br />

den Konfirmationsunterricht? Warum schreiben wir den Genen viel größere Macht<br />

zu als dem Fernsehen, Nonnen oder Büchern? Schimpft eure Partner nicht, meine<br />

Damen, weil sie fremdgehen, es ist nicht ihre Schuld, sie sind durch Pornographie<br />

erregt worden! Die scheinbare Anmaßung der Jesuiten , „Gebt uns das Kind für die


16<br />

2 Genetischer Determinismus und genetischer Selektionismus<br />

ersten sieben Lebensjahre und wir geben euch den Mann“, könnte einige Berechtigung<br />

haben. Die Auswirkungen von Erziehung oder anderen kulturellen Einflüssen<br />

mögen unter bestimmten Umständen genauso unveränderlich und unumkehrbar<br />

sein, wie von Genen und „den Sternen“ gemeinhin gedacht wird.<br />

Ich vermute, das Schreckgespenst der deterministischen Gene ist auf eine Verwechslung<br />

zurückzuführen, die auf der bekannten Tatsache beruht, dass erworbene<br />

Merkmale nicht vererbbar sind. Noch im 19. Jahrhundert war die Auffassung verbreitet,<br />

Erfahrungen und andere Errungenschaften im Leben eines Individuums seien<br />

in dessen Erbsubstanz eingeprägt und würden an die Nachkommen weitergegeben.<br />

Die Überwindung dieses Glaubens durch Weismanns Lehre von der Stetigkeit des<br />

Keim-Plasmas und seine molekulare Entsprechung, das „Zentrale Dogma“, ist eine<br />

der größten Errungenschaften der modernen Biologie. Wenn wir bis in die Tiefen der<br />

Weismannschen Lehre vordringen, scheint es darin wirklich etwas Götzenhaftes und<br />

Unerbittliches bei den Genen zu geben. Sie marschieren durch Generationen, indem<br />

sie Gestalt und Verhalten einer aufeinander folgenden Zahl sterblicher Organismen<br />

beeinflussen, ohne dabei – mit Ausnahme seltener und unbestimmter Mutationswirkungen<br />

– selbst durch die Umwelteinwirkungen, denen diese ausgesetzt sind, jemals<br />

beeinflusst zu werden. Die Gene in mir stammen von meinen vier Großeltern; sie<br />

sind durch meine Eltern auf mich übergegangen, und nichts, was meine Eltern erreicht,<br />

erworben, erlernt oder erfahren haben, hatte auch nur die geringste Auswirkung<br />

auf diese Gene bei ihrer Durchreise. Das könnte in der Tat etwas Unheimliches<br />

haben. Aber so unerbittlich und bestimmend die Gene bei ihrem Marsch durch die<br />

Generationen auch sein mögen, so sind ihre Auswirkungen auf die Körper, die sie<br />

weitertragen, doch keineswegs unausweichlich. Wenn ich reinerbig für ein Gen G<br />

bin, dann kann, Mutation außer Acht gelassen, mich nichts davon abhalten, dass ich<br />

G an alle meine Kinder weitergebe. So viel ist unabänderlich. Aber ob meine Kinder<br />

oder ich die phänotypischen Auswirkungen, die man normalerweise mit dem Besitz<br />

von G verbindet, aufweisen oder nicht, kann in hohem Maße davon abhängen, wie<br />

wir aufgewachsen sind, wie wir uns ernährt haben oder erzogen wurden und welche<br />

anderen Gene wir besitzen. Von den beiden Auswirkungen der Gene – die Herstellung<br />

von Kopien ihrer selbst und die Beeinflussung von Erscheinungsformen – ist also nur<br />

die erste unveränderlich, wenn man von der seltenen Möglichkeit einer Mutation absieht;<br />

die zweite Eigenschaft kann dagegen äußerst variabel sein und zu vielfältigen<br />

Anpassungen führen. Ich denke, dass der Mythos des genetischen Determinismus zu<br />

einem Teil auf der Verwechslung von Evolution und Entwicklung beruht.<br />

Aber es gibt noch einen weiteren Mythos, der die Dinge erschwert. Ich habe ihn<br />

am Anfang des Kapitels bereits erwähnt. <strong>Der</strong> Computer-Mythos hat sich fast genauso<br />

tief in das moderne Denken eingenistet wie der Gen-Mythos. Man beachte,<br />

dass beide zitierten Abschnitte das Wort „programmiert“ enthalten. Rose hat zwar<br />

die untreuen Männer nur scherzhaft vor Tadel in Schutz genommen, weil sie genetisch<br />

programmiert sind. Gould aber sagt, wenn wir darauf programmiert sind, zu<br />

sein, was wir sind, dann sind diese Veranlagungen unvermeidbar. Und tatsächlich<br />

verwenden wir üblicherweise das Wort „programmiert“, um etwas Mechanisches<br />

und damit das Gegenteil von Freiheit zum Handeln zu beschreiben. Computer und<br />

„Roboter “ haben den Ruf, stur zu sein, Anweisungen buchstabengetreu ausführen,<br />

auch wenn die Folgen offenkundig unsinnig sind. Warum würden sie sonst die Mil-


2 Genetischer Determinismus und genetischer Selektionismus<br />

17<br />

lionen-Pfund-Rechnungen versenden, die irgendein Bekannter von irgendjemandem<br />

immer bekommt? Ich hatte weder an den mächtigen Computer-Mythos noch<br />

an den hartnäckigen Gen-Mythos gedacht, sonst hätte ich besser aufgepasst, als<br />

ich von Genen innerhalb „riesiger, schwerfälliger Roboter …“ schrieb und von uns<br />

selbst als „Überlebensmaschinen – Robotervehikeln, blind darauf programmiert,<br />

die egoistischen Moleküle zu bewahren, die als Gene bekannt sind“ (Dawkins<br />

1976a). Triumphierend, als Beleg für einen blindwütigen Determinismus , wurden<br />

diese Sätze immer wieder zitiert, oft aus zweiter und sogar dritter Hand (z. B. Nabi<br />

1981). Ich entschuldige mich nicht dafür, dass ich das Bild der Robotertechnik benutzt<br />

habe. Ich würde es ohne zu zögern wieder tun. Aber mir ist klar geworden,<br />

dass man es erläutern muss.<br />

Aus der Erfahrung von dreizehn Jahren, in denen ich in der Lehre im Zusammenhang<br />

mit der natürlichen Auslese von einer „Überlebensmaschine für egoistische<br />

Gene“ spreche, weiß ich, dass dieses Bild die Gefahr von Missverständnissen<br />

in sich birgt. Das Bild des intelligenten Gens, das berechnet, wie es sein eigenes<br />

Überleben am besten sichert (Hamilton 1972), ist kraftvoll und einleuchtend. Aber<br />

es kann leicht dazu verführen, den Genen einsichtsvolle Klugheit und „strategischen“<br />

Weitblick zuzuschreiben. Mindestens drei von zwölf Missverständnissen<br />

der Verwandtenselektion (Dawkins 1979a) sind auf diesen Irrtum zurückzuführen.<br />

Immer wieder haben Nichtbiologen versucht, eine Art Gruppenselektion vor mir<br />

zu rechtfertigen, indem sie den Genen Voraussicht unterstellen. „Die langfristigen<br />

Interessen eines Gens verlangen die durchgängige Existenz der Art; muss man deshalb<br />

nicht von Anpassungen ausgehen, die das Aussterben einer Art verhindern,<br />

selbst auf Kosten des kurzfristigen Fortpflanzungserfolgs eines Einzelnen?“ Weil<br />

ich solche Irrtümer ausschließen wollte, habe ich die Sprache der Automation und<br />

Robotertechnik gewählt und das Wort „blind“ benutzt, um auf die genetische Programmierung<br />

hinzuweisen. Aber natürlich sind es die Gene, die blind sind, und<br />

nicht die Lebewesen, welche durch sie programmiert werden. Nervensysteme können<br />

genauso wie von Menschen erbaute Computer hinreichend komplex sein, um<br />

Intelligenz und Weitblick an den Tag zu legen.<br />

Symons (1979) macht den Computer-Mythos deutlich:<br />

Ich möchte darauf hinweisen, dass Dawkins’ Unterstellung – durch die Verwendung<br />

von Wörtern wie „Roboter“ und „blind“ – dass die Evolutionstheorie zum<br />

Determinismus neigt, absolut unbegründet ist … Ein Roboter ist ein geistloser<br />

Automat. Vielleicht sind einige Tiere Roboter (es gibt keine Möglichkeit, das<br />

herauszufinden); wie auch immer, Dawkins bezieht sich nicht auf einige Tiere,<br />

sondern auf alle Tiere und in diesem Fall speziell auf Menschen. Nun kann man<br />

mit Stebbing „Roboter“ als Gegensatz zum „denkenden Wesen“ betrachten oder<br />

den Begriff im übertragenen Sinn benutzen, um eine Person zu bezeichnen,<br />

die mechanisch zu handeln scheint. Aber es gibt keine im allgemeinen Sprachgebrauch<br />

begründete Bedeutung des Begriffs „Roboter“, aufgrund derer die<br />

Behauptung sinnvoll wäre, dass alle Lebewesen Roboter sind (S. 41).<br />

Worauf es Stebbing in dem von Symons zitierten Abschnitt ankam, ist die vernünftige<br />

Überlegung, dass X ein unnützes Wort ist, wenn es nicht einige Dinge gibt,<br />

die nicht X sind. Wenn alles ein Roboter ist, dann hat das Wort Roboter keinerlei


18<br />

2 Genetischer Determinismus und genetischer Selektionismus<br />

Aussagekraft. Aber mit dem Wort Roboter verbinden sich auch andere Assoziationen,<br />

und starre Unveränderlichkeit war nicht die Assoziation, an welche ich gedacht<br />

hatte. Ein Roboter ist eine programmierte Maschine, und ein wesentlicher Aspekt<br />

von Programmierung ist, dass sie bereits vor der eigentlichen Ausführung des Verhaltens<br />

stattgefunden hat und unabhängig von diesem abgeschlossen wurde. Ein<br />

Computer ist programmiert, um ein Verhalten wie die Berechnung einer Quadratwurzel<br />

oder ein Schachspiel auszuführen. Die Beziehung zwischen einem Schach<br />

spielenden Computer und der Person, die ihn programmiert hat, ist nicht eindeutig<br />

und damit offen für Missverständnisse. Man könnte denken, dass der Programmierer<br />

den Verlauf des Spiels beobachtet und die Anweisungen Zug für Zug in den<br />

Computer eingibt. Tatsächlich ist aber die Programmierung in jedem Fall abgeschlossen,<br />

bevor das Spiel beginnt. <strong>Der</strong> Programmierer bemüht sich, Zusammenhänge<br />

vorherzusehen und baut bedingte Anweisungen von großer Komplexität ein.<br />

Aber wenn das Spiel einmal begonnen hat, darf er nicht mehr eingreifen und dem<br />

Computer keine neuen Hinweise geben. Würde er während des Spiels eingreifen,<br />

wäre er kein Programmierer, sondern Mitspieler und sein Eingriff würde beim Wettkampf<br />

für unzulässig erklärt. In der von Symons kritisierten Arbeit habe ich den<br />

Vergleich mit Computerschach benutzt, um zu erläutern, dass Gene das Verhalten<br />

nicht in dem Sinn beeinflussen, dass sie in dessen Ausführung eingreifen. Sie kontrollieren<br />

das Verhalten nur in dem Sinn, wie man Maschinen vor dessen Ausführung<br />

programmiert. Diese Assoziation, und nicht die mit geistloser Sturheit, wollte ich<br />

mit dem Begriff Roboter wecken.<br />

Was die Assoziation mit geistloser Sturheit betrifft, so hätte sie vielleicht noch<br />

eine gewisse Berechtigung zu der Zeit gehabt, als das Steuerungssystem einer<br />

Schiffsmaschine mit Nocken und Wellen den Höhepunkt der Automation darstellte<br />

und Kipling „McAndrew’s Hymn“ schrieb:<br />

Vom Kupplungsflansch zur Spindelführung sehe ich Deine Hand, o Gott –<br />

Vorherbestimmung im Zuge dieser Pleuelstange.<br />

John Calvin könnte das Gleiche geschmiedet haben –<br />

Aber das war 1893, als Dampfmaschinen modernste Technologie waren. Heute leben<br />

wir im Zeitalter der Elektronik. Wenn man Maschinen jemals mit der Vorstellung<br />

von eiserner Starrheit in Verbindung gebracht hat – und ich gebe zu, dass das<br />

so war – ist es jetzt wirklich an der Zeit, sich von dieser Vorstellung zu verabschieden.<br />

Es gibt heute Computerprogramme, die Schach auf dem Niveau internationaler<br />

Großmeister spielen (Levy 1978), die in korrektem Englisch von hoher Komplexität<br />

Gespräche führen und argumentieren (Winograd 1972), die auf elegante und<br />

ästhetisch befriedigende Art neue Beweise mathematischer Theoreme ermöglichen<br />

(Hofstadter 1979), die Musik komponieren und Krankheiten diagnostizieren; und<br />

es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sich das rasante Tempo, mit dem auf diesem<br />

Gebiet Fortschritte erreicht werden, verlangsamen könnte (Evans 1979). Auf dem<br />

Gebiet der fortgeschrittenen Programmierung, bekannt als Künstliche Intelligenz,<br />

herrschen Bewegung und Zuversicht (Boden 1977). Von denjenigen, die sich hier<br />

auskennen, würde kaum einer dagegen wetten, dass innerhalb der nächsten zehn<br />

Jahre ein Computerprogramm die stärksten Großmeister im Schach besiegt. Dominiert<br />

heute in der öffentlichen Meinung noch das Bild eines schwachsinnigen, un-


2 Genetischer Determinismus und genetischer Selektionismus<br />

19<br />

beirrbaren Zombies mit ruckenden Gliedern, wird die Bezeichnung Roboter eines<br />

Tages zu einem Inbegriff von Flexibilität und rascher Auffassungsgabe werden.<br />

Unglücklicherweise habe ich den zitierten Satz wohl etwas voreilig formuliert.<br />

Ich habe ihn unmittelbar nach dem Besuch einer aufschlussreichen und anregenden<br />

Tagung über die Programmierung künstlicher Intelligenz aufgeschrieben und<br />

vergaß in meiner ehrlichen und unschuldigen Begeisterung, dass man Roboter gemeinhin<br />

für stupide Idioten hält. Ich muss außerdem für die Tatsache um Nachsicht<br />

bitten, dass auf dem Einband der deutschen Ausgabe des Egoistischen Gens das<br />

Bild einer menschlichen Puppe dargestellt ist, die an den Enden von Fäden hängt,<br />

die von dem Wort „Gen“ ausgehen, und dass auf dem Umschlag der französischen<br />

Ausgabe kleine Männer mit Melonenhüten abgebildet sind, in deren Rücken ein<br />

Uhrwerkschlüssel steckt – beides ist ohne mein Wissen entstanden. Ich habe Dias<br />

beider Titelbilder zusammengestellt, um zu veranschaulichen, was ich nicht ausdrücken<br />

wollte.<br />

Symons hat mit vollem Recht etwas kritisiert, wovon er dachte, ich hätte es behauptet,<br />

dabei habe ich etwas ganz anderes darstellen wollen (Ridley 1980a). Zweifellos<br />

kann man mir eine Teilschuld an dem Missverständnis geben, aber wir sollten<br />

jetzt vorgefasste Meinungen beiseite lassen („… die meisten Leute haben nicht die<br />

geringste Ahnung von Computern“ – Weizenbaum 1976 S. 9) und uns stattdessen<br />

auf einige faszinierende neuere Bücher über Robotik und Computerintelligenz stürzen<br />

(z. B. Boden 1977; Evans 1979; Hofstadter 1979).<br />

Abermals könnten sich Philosophen über die letztendliche Beschränktheit von<br />

Computern streiten, die dazu programmiert wurden, sich in künstlich intelligenter<br />

Weise zu verhalten. Wenn wir uns auf dieses Niveau der Philosophie begeben,<br />

könnten viele der vorgebrachten Argumente auch auf die menschliche Intelligenz<br />

zutreffen (Turing 1950). Sie würden fragen: Was ist denn ein Gehirn anderes als<br />

ein Computer, und ist Erziehung nicht eine Art von Programmierung? Es ist sehr<br />

schwierig, eine nicht-übernatürliche Erklärung des menschlichen Gehirns, menschlicher<br />

Gefühle und scheinbar freien Willens zu geben, ohne das Gehirn in gewisser<br />

Weise als eine Entsprechung zu einer programmierten, sich selbst steuernden Maschine<br />

zu betrachten. <strong>Der</strong> Astronom Sir Fred Hoyle (1964) drückt sehr lebendig aus,<br />

was, wie mir scheint, jeder Evolutionist über Nervensysteme denken muss:<br />

Wenn ich [auf die Evolution] zurückblicke, bin ich von dem Eindruck überwältigt,<br />

wie die Chemie nach und nach der Elektronik Platz gemacht hat. Es ist nicht unangemessen,<br />

die ersten lebenden Geschöpfe als chemisch geprägt zu beschreiben.<br />

Während elektrochemische Prozesse für Pflanzen wichtig sind, kommt Elektronik<br />

im Sinne der Datenverarbeitung in der Pflanzenwelt schlechterdings nicht vor.<br />

Aber einfache Elektronik kommt sofort ins Spiel, wenn wir es mit einem Lebewesen<br />

zu tun haben, das sich im Raum fortbewegt … Die ersten elektronischen<br />

Systeme, die in primitiven Tierorganismen arbeiteten, waren im Wesentlichen<br />

Orientierungssysteme, logische Entsprechungen von Sonar und Radar. Sehen wir<br />

uns höher entwickelte Tiere an, finden wir elektronische Systeme, die nicht nur<br />

der Orientierung dienen, sondern auch der Navigation zu einer Futterquelle …<br />

Man kann die Situation mit einem Lenkgeschoss vergleichen, dessen Zweck es<br />

ist, andere Lenkgeschosse abzufangen und zu zerstören. In unserer Welt werden


20<br />

2 Genetischer Determinismus und genetischer Selektionismus<br />

die Methoden von Angriff und Verteidigung immer ausgeklügelter, und genau<br />

das Gleiche passierte bei den Tieren. Und mit zunehmender Raffinesse werden<br />

immer bessere elektronische Systeme notwendig. Was in der Natur geschah,<br />

zeigt eine deutliche Parallele zu den Entwicklungen der Elektronik moderner<br />

militärischer Systeme … Ich halte es für einen ernüchternden Gedanken,<br />

dass wir ohne die Zahn-und-Klauen-Existenz im Urwald unsere intellektuellen<br />

Fähigkeiten nicht besäßen, wir wären nicht in der Lage, die Struktur des Universums<br />

zu untersuchen, und nicht imstande, eine Symphonie von Beethoven zu<br />

würdigen … In diesem Licht betrachtet hat die mitunter gestellte Frage – können<br />

Computer denken? – etwas Ironisches. An dieser Stelle meine ich natürlich die<br />

Computer, die wir selbst aus anorganischen Materialien herstellen. Was in aller<br />

Welt glauben eigentlich diejenigen, die so fragen, was sie selbst sind? Einfach<br />

Computer, nur unendlich komplizierter als irgendeiner, den wir bisher zu bauen<br />

gelernt haben. Man bedenke, dass unsere Computerindustrie gerade einmal zwei<br />

oder drei Jahrzehnte existiert, während wir das Ergebnis einer Entwicklung von<br />

Hunderten Millionen Jahren sind (S. 24–26).<br />

Andere könnten diese Schlussfolgerung ablehnen, aber ich denke, dass die einzigen<br />

Alternativen dazu religiöser Natur sind. Wohin diese Debatte auch führen mag, sie berührt<br />

– um auf die Gene und das Hauptanliegen diese Kapitels zurückzukommen – in<br />

keiner Weise den Gegensatz zwischen Vorherbestimmung und freiem Willen , egal, ob<br />

man eher die Gene als ursächliche Kräfte ansieht oder eher die Umweltbedingungen.<br />

Zur Verteidigung sei aber gesagt, es gibt keinen Rauch ohne Feuer. Funktionsorientierte<br />

Verhaltensforscher und „Soziobiologen“ müssen etwas gesagt haben,<br />

wofür sie verdienen, mit genetischen Deterministen in einen Topf geworfen zu werden.<br />

Oder wenn das alles ein Missverständnis ist, muss es eine gute Erklärung dafür<br />

geben, denn derart weit verbreitete Missverständnisse entstehen nicht ohne Grund,<br />

selbst dann nicht, wenn ihnen kulturelle Mythen Vorschub leisten, die so mächtig<br />

sind wie der Gen-Mythos und der Computer-Mythos in ihrer unheiligen Allianz. Ich<br />

spreche für mich, wenn ich sage, dass ich den Grund zu kennen glaube. Das Missverständnis<br />

hat seine Ursache in der Art und Weise, wie wir über ein ganz anderes<br />

Thema sprechen: das der natürlichen Auslese. Auslese auf der Ebene der Gene, was<br />

eine Art ist, über Evolution zu sprechen, wird missverstanden als genetischer Determinismus,<br />

was eine Art ist, Entwicklung zu betrachten. Leute wie ich nehmen andauernd<br />

Gene „für“ dies und Gene für das an. Man könnte glauben, wir wären von<br />

Genen und „genetisch programmiertem“ Verhalten geradezu besessen. Ist es ein<br />

Wunder, dass wir beschuldigt werden, Deterministen zu sein, wenn man Parallelen<br />

zieht zu dem bekannten Mythos der calvinistischen Vorherbestimmtheit durch Gene<br />

und durch „programmiertes“ Verhalten, dem das Bild einer Marionette entspricht?<br />

Warum sprechen denn so viele funktionsorientierte Verhaltensforscher von Genen?<br />

Weil wir uns für die natürliche Auslese interessieren und natürliche Auslese<br />

das unterschiedliche Überleben von Genen ist. Wenn wir schon so weit sind, über<br />

die Möglichkeit zu diskutieren, dass sich Verhaltensmuster durch natürliche Auslese<br />

entwickeln, dann müssen wir auch genetische Vielfalt annehmen im Hinblick<br />

auf den Hang oder die Fähigkeit, dieses Verhaltensmuster auszuführen. Damit wird

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!