Migranten fuer PDF - Burkhard Hergesell
Migranten fuer PDF - Burkhard Hergesell
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<strong>Burkhard</strong> <strong>Hergesell</strong><br />
„Eine Hand voll Zukunft ...“<br />
Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten<br />
in Bremerhaven 1955–2005<br />
Hauschild Bremen
<strong>Burkhard</strong> <strong>Hergesell</strong><br />
„Eine Hand voll Zukunft ...“1<br />
Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten<br />
in Bremerhaven 1955–2005<br />
Fotografien von Mareike Schreuder<br />
Verlag H. M. Hauschild GmbH
Abbildungen auf dem Schutzumschlag:<br />
1. Reihe v.l.n.r.: Eduardo Ventimiglia, Nigar Kesdiren, Songül Yorgun, Mahmut Yapici, Alojzija Wilmes<br />
2. Reihe v.l.n.r.: Slobodanka Pavlovic, Elvira Cabaleiro Bastos, Maria Martinez Cabaleiro, Hasan und Fatma Doğanay,<br />
Hasan Doğanay<br />
3. Reihe v.l.n.r.: Adriano Noro, David Paulo Magueta Fernandes, Constantino Martinez, Serdar Büyükkayikci,<br />
Yasemin und Cahit Karakus<br />
(alle Fotos: Mareike Schreuder)<br />
© 2005 beim Autor und dem Verlag H. M. Hauschild GmbH, Bremen<br />
Lektorat: Gerd Hüsener, Bremen<br />
Buchgestaltung: Rolf Wernet, Bremen<br />
Gesamtherstellung: H. M. Hauschild GmbH, Bremen<br />
ISBN 3-89757-302-4
Inhalt<br />
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
50 Jahre Arbeitsmigration in Bremerhaven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />
Gespräche<br />
Neapel – „Geld verdienen mit Schweiß und Fleiß ...“<br />
Eduardo Ventimiglia verlädt Container im Hafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31<br />
Auswanderung ohne Rückkehr<br />
Nigar Kesdiren arbeitet seit ihrem achten Lebensjahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />
Bei Pflegeeltern in Bremerhaven aufgewachsen<br />
Songül Yorgun ist ihr „ganzes Leben rebellisch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45<br />
Ein Abenteurer aus Istanbul<br />
Der ehemalige Möbeltischler Mahmut Yapici ist der Schifffahrt und dem Fußball verbunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53<br />
Als Anwerber in Jugoslawien<br />
Onno Carstensen sucht Fischarbeiterinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58<br />
Soziales Leben gestalten<br />
Für Alojzija Wilmes ist Jugoslawien ihre Heimat, aber in Bremerhaven ist sie zu Hause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />
Mit historischem Gedächtnis<br />
Slobodanka Pavlovic wäre nicht gekommen, wenn sie gewusst hätte, was sie erwartet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />
„Spanische Fliege!“<br />
Elvira Cabaleiro Bastos wollte nur ein Haus bauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81<br />
Träumen zwischen zwei Welten<br />
Maria Martinez Cabaleiro erfüllt sich ihre Lebenswünsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87<br />
Eine großstädtische, liberale Frau aus Izmir<br />
Fatma Doğanay, ein Leben gegen konservative Konventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />
5
Aus Kappadokien nach Norddeutschland<br />
Hasan Doğanay schweißte in Bremerhaven Schiffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99<br />
„Ich bin immer der Vagabund!“<br />
Adriano Noros Flucht aus familiärer Enge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105<br />
Der Barco Moliceiro<br />
David Paulo Magueta Fernandes, ein später Nachgekommener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />
„Hauptsache weg, der Rest ergibt sich!“<br />
Constantino Martinez fährt Fisch im Fischereihafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121<br />
Ein deutscher Flugzeugbauer türkischer Herkunft<br />
Serdar Büyükkayikci integriert sich perfekt, was bleibt, ist der Name . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127<br />
Aus dem zentralanatolischen Sivas<br />
Der Politikwissenschaftler Cahit Karakus in multikultureller Sozialarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135<br />
... es war nur eine Hand voll Zukunft<br />
Zusammengefasste Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143<br />
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147<br />
6
50 Jahre Arbeitsmigration in Bremerhaven<br />
Wanderung<br />
„Migration, das Wandern von Menschen und Gütern, ist keine<br />
neue Erscheinung. Immer wieder und unvermeidlich sind<br />
Menschen gereist, umgezogen, ausgewandert.“ 2 Wer wüsste<br />
das besser als die Bremerhavenerinnen und Bremerhavener,<br />
wanderten doch viele Menschen mit der Stadtgründung 1827<br />
nach Bremerhaven, um sich am Bau des neuen Bremer<br />
Hafens und dem sich damit entwickelnden Handel zu beteiligen.<br />
Darüber hinaus ist die Gründung der Stadt auch eng mit<br />
der bald einsetzenden millionenfachen überseeischen Auswanderung<br />
über den Bremer Hafen verbunden. Ebenfalls nicht<br />
unbekannt ist das Phänomen der saisonalen Arbeitsmigration<br />
von vielen insbesondere jungen Frauen aus dem Ruhrgebiet<br />
und vom Niederrhein, die während der Heringsfangsaison<br />
nach Bremerhaven zur Arbeit in der Fischwirtschaft kamen,<br />
oder das Phänomen der saisonalen Hollandgänger in früherer<br />
Zeit des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem Königreich Hannover<br />
und der Hansestadt Bremen, die in der holländischen<br />
Landwirtschaft, im Torfabbau oder Walfang arbeiteten. 3<br />
Neben die Auswanderung über und die saisonale Arbeitsmigration<br />
nach Bremerhaven, die Emigration aus der Region um<br />
Lehe, Geestendorf, Wulsdorf, Weddewarden und aus dem<br />
umliegenden Niedersachsen bzw. Königreich Hannover nach<br />
Holland tritt vor 50 Jahren die Wanderung ausländischer<br />
Menschen zum Zweck der ganzjährigen Arbeit nach Bremerhaven<br />
hinzu, aus der dann später großteils, wie wir erst aus<br />
der Retrospektive wissen, eine Einwanderung und ein Verbleib<br />
auf Dauer wurde.<br />
Welche Motive hatten diese Menschen zu migrieren, und<br />
warum führte sie der Weg ausgerechnet nach Bremerhaven?<br />
In lebensgeschichtlichen Gesprächen, die der Autor mit 15<br />
Migrantinnen und <strong>Migranten</strong> geführt hat, wurde danach<br />
gefragt, wie die Anwerbung erfolgte, wie diese Reise damals<br />
stattfand, wie sich der Empfang in Bremerhaven darstellte. Mit<br />
welchen Ängsten, Freuden, Erwartungen startete man den<br />
Neubeginn? Wie gestalteten sich die Arbeit und das Leben in<br />
der Fremde, mit welchen Erfolgen und Frustrationen waren sie<br />
verbunden? Welche Berufs- und Lebensbiografien und individuellen<br />
Strategien entwickelten sich daraus? Wie gestaltete<br />
sich das Alltagsleben in der Stadt, und welche Zukunftsperspektiven<br />
ergaben sich daraus? Die subjektive Perspektive,<br />
der Blick und die Interpretationen der Migrantinnen und<br />
<strong>Migranten</strong> selber, das Aufzeigen der Widersprüche in den<br />
Lebensstrategien und in ihren persönlichen Anschauungen<br />
stellen den Mittelpunkt der Gespräche dar. Mit dieser Publikation<br />
soll auch ein erster Ansatz gemacht werden, eine Lücke<br />
in der Stadtgeschichtsforschung Bremerhavens zu schließen.<br />
Staatsverträge, der Beginn und die kurze Zeit<br />
der Anwerbung<br />
Am 22. Dezember 1955 wurde das bilaterale Abkommen zwischen<br />
Deutschland und Italien über die Anwerbung von<br />
Arbeitsmigranten und -migrantinnen abgeschlossen. Italiens<br />
Politik setzte zur Unterstützung der wirtschaftlichen Krisenregionen<br />
Süditaliens und Siziliens große Hoffnungen in die<br />
Beschäftigung von einheimischen <strong>Migranten</strong> in Deutschland.<br />
Aber auch der damalige Bundeswirtschaftsminister, Ludwig<br />
Erhard, sah keine nach oben gesetzte Grenze für die Zahl italienischer<br />
Arbeitsmigranten insbesondere in der bundesdeutschen<br />
Bau- und Landwirtschaft. 4<br />
Man prognostizierte, dass,<br />
bei Anhalten der positiven wirtschaftlichen Entwicklung sowohl<br />
in Deutschland allgemein als auch in Bremerhaven speziell,<br />
der Bedarf an zukünftig nötigen Arbeitskräften nicht<br />
mehr ausschließlich durch inländische Arbeiter und Arbeiterinnen<br />
zu decken sein würde. 5<br />
Auch die zurückgekehrten<br />
Kriegsgefangenen und die vom Arbeitsmarkt aufgenommenen<br />
Flüchtlinge würden dann dafür nicht mehr ausreichen.<br />
In den ersten Jahren nach Abschluss dieses Abkommens und<br />
dieser optimistischen Prognosen war der Bedarf an Arbeitsmigranten<br />
jedoch zunächst noch gering. Bis 1959 waren weniger<br />
als 50 000 Italiener nach Deutschland gekommen. 6<br />
Erst die<br />
Vollbeschäftigung Anfang der 1960er Jahre und der Mauerbau<br />
1961 ließen die Nachfrage nach Arbeitskräften aus den südeuropäischen<br />
Ländern und der Türkei schnell ansteigen.<br />
Dem ersten Abkommen 1955 folgten deshalb 1960 Verträge<br />
mit Spanien und Griechenland, 1961 mit der Türkei, mit Portugal<br />
1964 und in den folgenden Jahren bis 1968 weitere mit<br />
Jugoslawien und anderen Ländern. Damit begann die Zuwan-<br />
13
„Nordsee-Nachrichten“, Mai 1963 (Archiv frozen fish international)<br />
derung von ‚Gastarbeitern’, wie diese Menschen in der damaligen<br />
Sprachregelung genannt wurden, in die Bundesrepublik<br />
Deutschland.<br />
Die Arbeitsmigration war von den behördlichen Stellen auch in<br />
Bremerhaven als vorübergehender Aufenthalt in einer Zeit der<br />
Hochkonjunktur mit Arbeitskräftemangel gedacht. 7<br />
Die Arbeitsverträge,<br />
so sah zumindest die Zielvorgabe der Bundesregierung<br />
aus, wurden „in der Regel für die Dauer von neun<br />
Monaten abgeschlossen“. 8 „Als ‚Konjunkturpuffer’ sollten die<br />
angeworbenen Arbeitnehmer nach einigen Jahren in ihre Heimatländer<br />
zurückkehren und, je nach Bedarf, durch neue<br />
‚Gastarbeiter’ ersetzt werden.“ 9 Da sich aber die Industrie gegen<br />
das permanente Anlernen neuer und zumeist ungelernter<br />
Arbeiter sträubte, wurde aus der zunächst kurzzeitigen Aufenthaltsdauer<br />
eine langfristige.<br />
1960 sah auch der Präsident des bremischen Arbeitsamtes<br />
einen zukünftigen Arbeitskräftemangel voraus. Neben der vermehrten<br />
Einstellung von Frauen – tatsächlich wurden beispielsweise<br />
in Bremen bei der AG „Weser“ auch Frauen als<br />
Schiffsschweißerinnen eingestellt 10 – sah er als zweite Lösung<br />
dieses Problems die Anwerbung italienischer <strong>Migranten</strong>. Die<br />
Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung richtete, um weitere italienische<br />
Arbeitskräfte nach Deutschland zu holen, ein zweites<br />
Werbebüro in Neapel ein.<br />
„‚Erhebliche Sorgen machen wir uns vor allem über die<br />
Arbeitsmarktlage in den bremischen Häfen’, schloß der Präsident<br />
des Landesarbeitsamtes seinen Ausblick auf 1960. ‚Es<br />
kann die Situation eintreten, daß im Bedarfsfalle praktisch<br />
keine zusätzliche Arbeitskraft zu vermitteln sein wird.’“ 11<br />
1961 kamen die ersten griechischen Seeleute und Arbeiterinnen<br />
für die Fischindustrie nach Bremerhaven, und die „Nordsee-Zeitung“<br />
berichtete erstmalig in ihrer Ausgabe vom 6. Juli<br />
1961 über angeworbene Arbeitsmigranten. Unter der Überschrift<br />
„Zahl der offenen Stellen steigt weiter“ wurde vermeldet:<br />
„Für die Heringssortierung der Loggerfischer wurden<br />
griechische Arbeiterinnen angefordert. 35 griechische Seeleute<br />
konnten im Juni auf Heringslogger vermittelt werden.“ 12 Es<br />
folgten 1962 spanische Matrosen und Fischarbeiterinnen. 13<br />
Die Belegschaftszeitung der NORDSEE DEUTSCHE HOCH-<br />
SEEFISCHEREI GmbH, die „Nordsee-Nachrichten“, berichtete<br />
erstmals in ihrer Mai-Ausgabe 1963 über die neuen spanischen<br />
Arbeiterinnen bei den Tochterfirmen BAUMGARTEN,<br />
FISCH-INS-LAND und WOLLMEYER. 14<br />
Damit begann die Zuwanderung<br />
von <strong>Migranten</strong> aus den klassischen Anwerbeländern<br />
nach Bremerhaven. Im Jahre 1965 lebten schon 164 Spanier,<br />
137 Italiener, 71 Türken, 39 Griechen, 35 Portugiesen und<br />
26 Jugoslawen in Bremerhaven. 15 „Im Juni 1965 waren bereits<br />
insgesamt 638 ‚Gastarbeiter‘ in Bremerhaven beschäftigt.“ 16<br />
Die Bremerhavener Werften zogen 1965 nach und forderten<br />
ebenfalls die Anwerbung von <strong>Migranten</strong>. 17<br />
Für Bremerhaven stellt Ekkehard Bock in seiner Studie eine<br />
parallele Entwicklung zum gesamten Bundesgebiet fest. Nach<br />
dem Konjunktureinbruch 1966 wächst die Wirtschaft und steigen<br />
die <strong>Migranten</strong>zahlen auch in Bremerhaven ab 1967 wieder<br />
an. Die größten Nationalitätengruppen sind inzwischen die<br />
Türken mit 556, gefolgt von den Jugoslawen mit 334 und den<br />
Spaniern mit 176 Personen. 18<br />
Während die Männer vorwiegend<br />
in der Eisen- und Metallindustrie, dem Schiffbau, in der<br />
Bauwirtschaft und in der Seefahrt beschäftigt sind, arbeiten<br />
die Frauen zu fast 75 % in der Fischindustrie.<br />
1973 erfolgte dann der Stopp der Anwerbungen durch die<br />
sozialdemokratisch-liberale Bundesregierung. Zu diesem Zeitpunkt<br />
leben 2612 Türken, 967 Jugoslawen, 657 Portugiesen,<br />
420 Spanier und 235 Italiener in Bremerhaven. 19 Dieser Stopp,<br />
„der von den bundesdeutschen Gewerkschaften mitinitiiert<br />
worden war, konnte aber aus der aktuellen Arbeitsmarktlage<br />
14
Annoncen aus der „Nordsee-Zeitung“ vom 14. August 1968 (o.l.), 15. Juli 1961 (u.l.) und 1.Mai 1965 (r.)<br />
kaum erklärt werden“. 20<br />
Die offizielle Arbeitslosigkeit betrug<br />
nämlich lediglich 1,2 % der Erwerbstätigen. 21 Vielmehr, so analysiert<br />
der Soziologe Andreas Treichler, geriet das System der<br />
bundesdeutschen Anwerbung dadurch in die Krise, dass sich<br />
insbesondere die Zuwanderung aus der Türkei verselbständigte<br />
und nicht mehr am Bedarf des Arbeitsmarktes orientierte<br />
und außerdem „ethnisch-kulturelle Distanzierungen und Vorbehalte<br />
seitens der einheimischen Bevölkerung insbesondere<br />
gegenüber türkischen Nationalitätsangehörigen“ 22 zunahmen.<br />
Nach Beendigung der Anwerbungen kamen nur noch Familienangehörige<br />
im Rahmen der Familienzusammenführung<br />
aus den Anwerbeländern nach Deutschland.<br />
In einem Punkt weicht die Bremerhavener etwas von der bundesweiten<br />
Entwicklung ab und geht früher in einen negativen<br />
Trend über, dem später aber die allgemeine wirtschaftliche<br />
Entwicklung in ganz Deutschland folgte. Während bundesweit<br />
die Arbeitslosenzahl im August 1972 bei 1 % liegt, beträgt sie<br />
in Bremerhaven bereits 2,5 %. 23<br />
Dagegen setzt sich auch in<br />
15
Bremerhaven fort, dass trotz des Anwerbestopps 1973 die<br />
Zahlen der <strong>Migranten</strong> durch Familienzusammenführung weiter<br />
steigen. 1971 sind es knapp 4400, 1973 dann 5500, 1975<br />
letztlich ca. 8500 Personen. 24 Aber die aktive Anwerbung von<br />
Arbeitsmigranten und Migrantinnen ist im Jahre 1973 in Bremerhaven<br />
etwa 13 Jahre nach ihrem Beginn bereits wieder zu<br />
Ende.<br />
Doppelstrategie Vertreibung und Integration<br />
Nach dem Anwerbestopp 1973 wurde die These, dass<br />
Deutschland kein Einwanderungsland sei, allgemein akzeptiert.<br />
In der Folgezeit waren mehrere Beschlüsse und Maßnahmen<br />
für Arbeitsmigranten folgenschwer. 1981 beschlossen<br />
die Bundesländer die Einschränkung des Ehegatten- und<br />
Kindernachzugs. 25<br />
Es folgten die Steuerung des Arbeitsmarktes<br />
durch die Befristung und Beschränkung von Arbeitserlaubnissen<br />
und die bevorzugte Vermittlung von deutschen<br />
Arbeitslosen durch die Arbeitsämter. 26 Mit den Massenentlassungen<br />
in Bremerhaven bei den Werften und im Schiffbau, der<br />
Reduzierung der deutschen Fischfangflotte durch die politischen<br />
Fangbeschränkungen und den Rationalisierungen zum<br />
Beispiel durch den Einsatz neuer Filetiermaschinen 27<br />
in der<br />
Fischverarbeitung in den 1980er Jahren fielen die Maßnahmen<br />
der Bundesregierung zur „Förderung der Rückkehrbereitschaft“<br />
zusammen. Auf Antrag konnten sich zurückkehrende<br />
<strong>Migranten</strong>familien die selbst eingezahlten Rentenversicherungsbeträge<br />
erstatten lassen. Dabei gingen die Rentenansprüche<br />
verloren wie die Arbeitgeberanteile an den Rentenbeiträgen.<br />
28<br />
„Wachsende Ausländerfeindlichkeit und die Untätigkeit<br />
gewerkschaftlicher Organisationen haben seit Beginn<br />
der [19]80er Jahre vor allem bei den Portugiesen zu<br />
großer Resignation und massenhafter Rückkehr geführt“ 29 , kritisiert<br />
der Jurist Rolf Geffken die Konsequenzen dieser Politik<br />
und resümiert, dass innerhalb eines Jahres 40 000 Portugiesen<br />
und 1984 etwa 300 000 Türken Deutschland verlassen<br />
hatten.<br />
Diese Politik der Vertreibung wurde – allerdings in abgeschwächter<br />
Form – auch in Bremerhaven betrieben und zeigte<br />
auch hier Wirkung. Der größte Arbeitgeber Bremerhavens,<br />
der auch in Bremerhaven seinen Hauptsitz hatte, war die<br />
NORDSEE DEUTSCHE HOCHSEEFISCHEREI GMBH. 1982<br />
beschäftigte sie 1800 Mitarbeiter in der Hauptverwaltung und<br />
den Produktionsbetrieben in der Stadt. Im Gesamtkonzern<br />
einschließlich den internationalen Töchtern waren 7900 Mitarbeiter<br />
beschäftigt. Während das Unternehmen am Standort<br />
Cuxhaven die Fangflotte durch die politisch bedingten Fangbeschränkungen<br />
stark reduzieren musste, blieb die Belegschaft<br />
in Bremerhaven weitgehend erhalten. Dennoch wurden<br />
hier in Aushängen am Schwarzen Brett die Mitarbeiter zum<br />
freiwilligen Ausscheiden aufgefordert. Die „Nordsee-Zeitung“<br />
vom 15. Dezember 1982 schrieb dazu: „Knapp 30 Arbeitskräfte<br />
machten davon Gebrauch. Besonders Gastarbeiter nutzten<br />
die Chancen, mit einem zusätzlichen Bonus in die Heimat reisen<br />
zu können.“ 30<br />
Die zwei Entlassungswellen bei der NORDSEE im Jahre 1982<br />
waren mit eindeutigen Drohungen verbunden: „Die erste [Entlassungswelle;<br />
d. A.] lief bereits vor vier Wochen durch den<br />
Betrieb, als Kündigungsschreiben an 30 Mitarbeiter gingen,<br />
die überdurchschnittlich viel Fehlzeiten aufwiesen. Schon vor<br />
einem Jahr hatte die Betriebsleitung damit begonnen, nachhaltiger<br />
auf die hohe Krankenquote hinzuweisen.“ 31 Die „Nordsee-Zeitung“<br />
schrieb in ihrer Ausgabe vom 12. Januar 1985<br />
unter der Überschrift „Immer mehr Ausländer verlassen die<br />
Stadt“, dass der Anteil der Arbeitsmigranten an der Wohnbevölkerung<br />
Bremerhavens auf 6,7 % gesunken sei und resümiert<br />
weiter, dass ein Drittel der <strong>Migranten</strong> aus Spanien und<br />
Portugal Bremerhaven bereits verlassen hätte. 32<br />
Bereits zwei<br />
Jahre vorher schrieb die selbe Zeitung in ihrer Ausgabe vom<br />
18. April 1983, dass der „Umgang mit Behörden besonders<br />
gefürchtet“ sei. „Jeden Monat packen zwei türkische Familien<br />
ihre Koffer und kehren in die Heimat zurück. Die Verunsicherung<br />
über die Zukunft der Arbeitsplätze war auch am Sonnabend<br />
in der Strandhalle spürbar. Der Verein für deutsch-türkische<br />
Freundschaft [...] hatte den türkischen Generalkonsul<br />
aus Hannover [...] eingeladen, wobei die türkischen Landsleute<br />
ihre Sorgen abladen konnten. Im Mittelpunkt stand die<br />
Frage nach den Heimreiseprämien, über die seit einem Jahr in<br />
der Bundesrepublik diskutiert wird.“ 33 Es ließen sich keine Hinweise<br />
in den lokalen Zeitungen darauf finden, dass solche Aufforderungen<br />
zur Rückkehr und Prämienzahlungen auch auf<br />
den Werften und im Stahlbau erfolgten, in den Branchen, die<br />
sich in einer viel größeren ökonomischen Krise befanden.<br />
Auch Bremerhavener Politiker waren für die Förderung der<br />
Rückkehrbereitschaft. Die „Nordsee-Zeitung“ vom 9. März<br />
1982 berichtete von einer Veranstaltung, auf der die CDU-Politiker<br />
Bernd Ravens und Michael Teiser dem Anwerbestopp für<br />
Arbeitsmigranten „und Anreize für eine freiwillige Rückkehr“<br />
16
zustimmten. Diese forderten auch „die Integration der hier<br />
heimisch gewordenen Ausländer“ unter Erhalt deren eigener<br />
Kultur, also ohne Forderungen zur Aufgabe deren eigener Kultur<br />
zu stellen. 34<br />
Offensichtlich gab es massive Widerstände im Land Bremen<br />
gegen diese Politik der Vertreibung, denn im Juni 1984 sah<br />
sich die Bremische Bürgerschaft gezwungen, eine zweitägige<br />
Anhörung durchzuführen. Die „Nordsee-Zeitung“ berichtete<br />
über die Anhörung folgendermaßen: „Hilflos und zwischen<br />
zwei Stühlen plaziert: So fühlten sich die sogenannten ‚Gastarbeiter‘<br />
durch das neue Rückkehrhilfegesetz der Bundesregierung<br />
in die Enge getrieben. Eben dieses Gesetz stand am<br />
zweiten Tag der Ausländer-Anhörung im Plenarsaal der Bremischen<br />
Bürgerschaft (Landtag) zur Debatte. Immer wieder<br />
wurde von den Anzuhörenden die Frage aufgeworfen, ob die<br />
Rückkehrförderung nicht eher einer Abschiebung gleichzusetzen<br />
sei. In diesem Zusammenhang sprach die Vertreterin der<br />
Institution ‚Haus der Familie‘ sogar von einer ‚Kopfprämie‘, die<br />
als Existenzgrundlage für ausländische Mitbürger nicht ausreiche<br />
und menschenunwürdig sei.<br />
Während der umfassenden Debatte wurde deutlich, daß<br />
besonders für zurückkehrende Türken und Griechen der ‚Zug<br />
in ihr Heimatland abgefahren‘ sei. Nur selten würden diese<br />
Heimkehrer wieder richtig Fuß fassen. Vertreter der evangelischen<br />
Kirche und des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB)<br />
lehnten es sogar grundsätzlich ab, daß Ausländer auf diese Art<br />
und Weise zur Heimkehr veranlaßt werden sollen.“ 35<br />
<strong>Migranten</strong> fühlten sich von dem neuen Gesetz unter Druck<br />
gesetzt und mit ihren Problemen allein gelassen. Der Artikel<br />
der „Nordsee-Zeitung“, aus dem hier zitiert wurde, fährt dann<br />
fort: „Das oberflächlich verlockende Angebot der Rückkehrhilfe<br />
lasse viele an eine freiwillige Heimkehr denken. Ihre Kinder<br />
jedoch seien zum Teil in der Bundesrepublik geboren und in<br />
diese Gesellschaft auch hineingewachsen. [...] Reise eine ausländische<br />
Familie jedoch nicht mit Kind und Kegel ab, verlösche<br />
auch der Anspruch auf Rückkehrhilfe. Die Summe von<br />
10 500 Mark, die nach dem Rückkehrförderungs-Gesetz jedem<br />
Ausländer gezahlt wird, wenn er freiwillig das Land mit<br />
seiner Familie verläßt, ist nach Meinung vieler ausländischer<br />
Arbeitnehmer im Vergleich zu den bereits erworbenen Sozialansprüchen<br />
nicht annehmbar. Seit zehn Jahren zahle er nun<br />
350 Mark Rentenbeitrag pro Monat, sagte ein Teilnehmer der<br />
Anhörung, und dann soll er mit 10 500 Mark abgespeist werden?“<br />
In den Jahren 1989 bis 1992 stieg die Zuwanderung nach<br />
Deutschland trotz Anwerbestopp und Rückkehrförderung<br />
durch Familienzusammenführung und Asylsuchende wieder<br />
stark an. 36 Gleichzeitig hatte sich die Stimmung, auch geschürt<br />
durch politische Wortmeldungen, diskriminierende und rassistische<br />
Darstellungen von Ausländern und insbesondere des<br />
Islam in den Medien 37 , in der Bevölkerung gegen die Migrantinnen<br />
und <strong>Migranten</strong> verschlechtert. Der Migrationshistoriker<br />
Klaus J. Bade sieht die zunehmende Aggressivität gegenüber<br />
Ausländern in Deutschland in der Konstellation einer trotz<br />
Anwerbestopp relativ ungehemmten Zuwanderung, einer Regierung<br />
und Opposition, die die jeweilige andere Seite des<br />
Versagens bezichtigten, aber nicht die Kraft zur politischen<br />
Lösung der Tatsache fanden, dass Deutschland schon lange<br />
ein Einwanderungsland geworden war, von Politikern und Medien<br />
in Umlauf gebrachte Vorurteile gegen Asylbewerber. 38<br />
Die Pogromstimmung durch Anschläge gegen <strong>Migranten</strong>familien<br />
und Asylunterkünfte in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen,<br />
Mölln und Solingen zwischen 1991 und 1993 war letztlich<br />
auch im selben Jahr noch in Bremerhaven angekommen.<br />
Schon fragten sich türkische Kinder im Evangelischen Sozialzentrum<br />
Finkenstraße: „Wird unser Haus nun auch angezündet?“<br />
39<br />
Die „Nordsee-Zeitung“ berichtete unter dieser Überschrift<br />
von einer Stadtteilkonferenz, nach der Verstörung und<br />
Angst unter türkischen und deutschen Familien vor jugendlichen<br />
Gewalttätern in Grünhöfe herrschten.<br />
In Bremerhaven dominieren nach einer in den 1980er Jahren<br />
eher auf Vertreibung ausgerichteten Politik in den 1990er Jahren<br />
und bis heute anhaltend die Integration befördernden<br />
Initiativen in Pädagogik und Kultur. Sozial engagierte Pädagogiken<br />
verschiedener Ansätze fördern <strong>Migranten</strong> bei der Integration<br />
und sensibilisieren generell Bürgerinnen und Bürger,<br />
Einheimische wie <strong>Migranten</strong>, für Diskriminierung und Rassismus.<br />
Die Ansätze sind unterschiedlich und vielfältig. Der 1988<br />
eröffnete Kulturladen Grünhöfe bietet in Kooperation mit dem<br />
Solidaritätsverein Alphabetisierungskurse für <strong>Migranten</strong> an,<br />
Beratungen zu Rechtsfragen, Übersetzungsservice, Sprachkurse,<br />
Auslandsreisen, PC-Kurse für <strong>Migranten</strong>. 40<br />
Der Solidaritätsverein<br />
ist unter dem Vorsitzenden Remzi Cengiz eine<br />
Selbsthilfeorganisation, die sich insbesondere um türkische<br />
Menschen kümmert und sehr erfolgreich integrative Seniorenarbeit<br />
leistet. Ergänzt wird das pädagogische Konzept<br />
durch Kulturveranstaltungen wie mit dem türkischen Frauen-<br />
Kabarett vom Kölner Arkadas-Theater 41 oder einem internatio-<br />
17
Hausaufgabenhilfe für drei türkische Mädchen in der Sozialeinrichtung<br />
„Die Wohnung“ im April 2005 (<strong>Burkhard</strong> <strong>Hergesell</strong>)<br />
nalen Kulturfest „Total international gegen Gewalt und Rassismus“<br />
42 . Der Verein veranstaltet 2005 bereits zum 29. Mal das<br />
Internationale Kulturfest und eine Internationale Begegnung<br />
zum Thema „50 Jahre Arbeitsmigration“. 43 Das zum Kulturladen<br />
Grünhöfe gehörende „Radio Grünhöfe“ produzierte 2004<br />
zwei Radiosendungen mit Lebensportäts einer slowenischen<br />
Arbeitsmigrantin und eines türkischen Arbeitsmigranten. 44 Die<br />
10. Dokumentar-Videowoche des Kulturladens stand 2004<br />
unter folgender Fragestellung: „Im kommenden Jahr werden<br />
bundesweit verschiedenste Veranstaltungen zum Thema ‚50<br />
Jahre Arbeitsmigration‘ stattfinden. Wie geht es hier lebenden<br />
Zugewanderten jetzt? Welche Stationen im Leben erinnert<br />
man gerne, welche weniger? Wie war die erste Arbeitsstelle?<br />
Was sagen die Kollegen von damals, von heute? Wie haben<br />
Fernsehen, Radio oder Zeitungen in Deutschland und im Ausland<br />
berichtet über diejenigen, die ihre Heimat verlassen<br />
haben? In diesem Jahr soll mit unterschiedlichen filmischen<br />
Ansätzen dem nachgespürt werden, was gemeinhin mit ‚Identität‘<br />
oder auch mit dem Begriff ‚Heimat‘ um- und beschrieben<br />
wird.“ 45<br />
Die 1991 auf Initiative des DGB Kreis Bremerhaven gegründete<br />
Gesprächsrunde gegen Fremdenfeindlichkeit veranstaltet<br />
Diskussionen und seit 1995 die „Interkulturelle Woche“. „Wir<br />
wollen, dass Bremerhavener und <strong>Migranten</strong> aufeinander zugehen“,<br />
46 so formuliert Walter Rentzel die selbstgesteckte Aufgabe.<br />
Seit dem Jahre 2000 wird dieser Arbeitsansatz auch im<br />
Dienstleistungszentrum Grünhöfe umgesetzt. Vier verschiedene<br />
Träger bieten Integrationskurse für Aussiedler, Menschen<br />
aus anderen Herkunftsländern werden an Computern ausgebildet,<br />
und die AWO betreibt eine Beratungsstelle für <strong>Migranten</strong>.<br />
47<br />
Die Gemeinschaftsinitiative „Equal“ berät ebenfalls <strong>Migranten</strong>,<br />
wie zum Beispiel ausländische Schulabschlüsse anerkannt<br />
werden können, oder vermittelt die Finanzierung für<br />
und die Teilnahme von Intensivsprachkursen. 48 Es fanden Jobbörsen<br />
statt, auf denen insbesondere Jugendlichen mit Migrationshintergrund<br />
bei der Lehrstellensuche Hilfe angeboten<br />
wurde 49 , und Antirassismusfachtagungen. 50<br />
Außerdem<br />
kommen täglich viele Kinder unterschiedlicher Nationalität<br />
zur Hausaufgabenhilfe oder dem gemeinsamen Spielen ins<br />
Haus.<br />
Im Stadtteil Lehe arbeitet der Verein Aktion Rückenwind für<br />
Leher Kinder sehr engagiert mit ausschließlich unbezahlten<br />
Menschen. „Speziell für <strong>Migranten</strong>kinder und -enkel zusammen<br />
mit Kindern anderer Muttersprachen führen wir Deutsch<br />
als Zweitsprache-Förderkurse [...] durch. In diesem Jahr startet<br />
ein entsprechender Kurs für Eltern ‚Deutsch von Anfang<br />
an‘, der sich als von der VHS usw. angebotener Anfängerkurs<br />
versteht. [...] In allen Kindergruppen, also beim Spielen,<br />
Bauen, (Vor-)Lesen, Trommeln, Kochen, bei Experimenten und<br />
natürlich bei der Erarbeitung der Kinderzeitung führen wir<br />
ganz bewusst türkische, italienische und portugiesische mit<br />
albanischen, irakischen und deutschen Kindern zusammen.<br />
Wir möchten ihnen allen die Möglichkeit geben, selbst Erfahrungen<br />
miteinander zu machen, um Vorurteilen, die von außen<br />
kommen, mit eigenem Wissen entgegentreten zu können.“ 51<br />
Die Sozialeinrichtung „Die Wohnung“ in Wulsdorf ist seit<br />
1976 ein Projekt des Amtes für Jugend und Familie. Sie liegt<br />
in einem sozial benachteiligten Wohngebiet, der Einzugsbereich<br />
der Einrichtung umfasst etwa 150 Wohnungen in<br />
Schlichtbauweise sowie etwa 200 zeitgemäßere Wohnungen<br />
in einer Hochhausanlage. Im Jahre 2005 sind fast 50 % der<br />
Bewohnerinnen und Bewohner türkischer Herkunft 52 , der restliche<br />
Teil der Anwohner sind Menschen unterschiedlicher<br />
Nationalität. Der Großteil der Anwohner ist arbeitslos und<br />
bezieht öffentliche Transferleistungen. Die soziale Situation im<br />
Wohnquartier beinhaltet ein beträchtliches Konfliktpotential.<br />
18
„Die Wohnung“ ist eine wichtige Anlauf- und Kontaktstelle für<br />
die Bewohner in diesem sozialen Brennpunkt. Die Einrichtung<br />
bietet zwanglose Gesprächstreffen, Informationen, Beratungen,<br />
unbürokratische Hilfen, die Begleitung und Unterstützung<br />
von Familien, Kinder- und Erwachsenengruppen an. „Die<br />
langjährige und kontinuierliche Arbeit und des täglichen Miteinanders<br />
ließen eine Nähe zu den dort lebenden Anwohnern<br />
entstehen, die es ermöglicht, auf einer vertrauensvollen Ebene<br />
Kontakt zu den bekanntermaßen nicht leicht zugänglichen<br />
Menschen zu finden und damit Voraussetzungen für eine<br />
präventive Sozialarbeit zu schaffen. Die Mitarbeiter der ‚Wohnung‘<br />
haben dadurch die Chance, die Lebenssituation der<br />
Bewohner besser zu verstehen, ihre Benachteiligung zu erleben,<br />
ihre Bedürfnisse zu erfahren und durch diese Kenntnisse<br />
notwendige Veränderungen gemeinsam zu erkennen und<br />
umzusetzen, wichtige Voraussetzungen einer auf Integration<br />
und Akzeptanz orientierten Sozialarbeit.“ 53<br />
Eine weitere<br />
pädagogische Ergänzung dieses Konzeptes bietet in unmittelbarer<br />
räumlicher Nähe der orientalisch gestaltete Kinderspielplatz.<br />
54<br />
Die Sozialeinrichtung „Die Wohnung“ und der Kulturladen<br />
Wulsdorf veranstalteten multikulturelle Feste wie die „Nacht<br />
der Lichter“ auf dem „Märchenspielplatz aus 2001 Nacht“.<br />
Dabei war es Manfred Klenner, dem Leiter der Sozialeinrichtung,<br />
und Jochen Hertrampf, dem Leiter des Kulturladens,<br />
gelungen, „die Wohnbevölkerung aktiv in die Planung und<br />
Durchführung dieses quartierbezogenen Festes einzubeziehen“.<br />
55<br />
In Antirassismus-Projekten fördert die Lehrerin Anne<br />
Schmeckies seit langem in den Kaufmännischen Lehranstalten<br />
über die künstlerische Kreativität auch die Sensibilität für<br />
Rassismus und Diskriminierung, ein nachhaltiger Beitrag,<br />
beide Phänomene zu bekämpfen. 56<br />
In Kooperationsprojekten<br />
mit Künstlern und anderen Pädagogen gibt die Schulpädagogin<br />
Sabine Wilcken wie viele andere Lehrerinnen und Lehrer<br />
auch den <strong>Migranten</strong>kindern ihrer Klassen beispielsweise in<br />
ihrem pädagogisch sehr anspruchsvollen Deutschunterricht<br />
vielfältige Hilfen zur Integration. Beleg dafür sind die Texte der<br />
türkischen und deutschen Kinder ihrer vierten Klasse zum<br />
Krieg im Irak. 57 Gleichzeitig fördert sie unter den inländischen<br />
Kindern die Bereitschaft, diese Integration als Bereicherung zu<br />
erkennen und sich solidarisch zu verhalten. 58<br />
Die Frage nach der Integration wäre sicherlich für die verschiedenen<br />
Nationalitätengruppen unterschiedlich zu beantworten.<br />
Während die Italiener als völlig integriert in die deutsche<br />
Kultur und Gesellschaft gelten, wird doch eine größere<br />
Distanz zwischen Deutschen und Türken festgestellt. Außerdem<br />
scheint auch innerhalb der Nationalitäten eine genauere<br />
Analyse nötig. Offensichtlich bedarf es aber auch eines Blicks<br />
mit größerer emotionaler Distanz zu einem weit verbreiteten<br />
deutschen Schuldkomplex, wie ihn eine Soziologin und Volkswirtin<br />
türkischer Herkunft einnimmt und den Fokus bei der<br />
Frage nach der Verantwortung für ein Scheitern der Integration<br />
mehr auf die eigenen Landsleute richtet. Für Necla Kelek<br />
ist es jedenfalls eindeutig eine Mehrheit von integrationsunwilligen<br />
Türkinnen in Deutschland, die das Problem für ein<br />
Misslingen der Integration darstellen. 59<br />
„Wir brauchen die<br />
Deutschen nicht, hat mir die seit vielen Jahren hier lebende<br />
‚Importbraut‘ Shayize gesagt“ 60 , ist als ein ernüchterndes<br />
Resümee in dieser Beziehung zu lesen.<br />
Inzwischen sind 50 Jahre seit dem Anwerbevertrag mit Italien<br />
vergangen. Unter den circa 117 700 (Stand Juli 2004) Bremerhavenerinnen<br />
und Bremerhavenern leben heute ungefähr<br />
12 500 Migrantinnen und <strong>Migranten</strong> oder Menschen mit<br />
Migrationshintergrund und der zweiten und dritten Generation.<br />
Der Ausländeranteil im Jahre 2000 beträgt in Bremerhaven<br />
10,2 %. 61<br />
Viele <strong>Migranten</strong> arbeiten immer noch in den<br />
Fischfabriken im Fischereihafen und auf den allerdings viel<br />
weniger und kleiner gewordenen Werften oder in der Baubranche,<br />
inzwischen aber auch in ihren eigenen Firmen der<br />
Dienstleistungs- und Informationsbranche, im Handwerk, einige<br />
wenige auch in Zukunftsbranchen wie dem Containerhafen<br />
und dem Flugzeugbau bei AIRBUS in Nordenham. Aber viele<br />
sind inzwischen auch arbeitslos. Während die Arbeitslosenquote<br />
im Jahre 1999 im Land Bremen für die Deutschen<br />
bei 14,3 % lag, betrug sie im selben Jahr bei den Ausländern<br />
29,5 %. 62<br />
Im Sinne von Max Frischs Diktum „Wir riefen Arbeitskräfte<br />
und es kamen Menschen“ stellen sich in diesem Buch 15<br />
Migrantinnen und <strong>Migranten</strong> vor und erzählen ihre persönlichen<br />
Migrationsgeschichten. Ziel des Buches ist es, jene Bremerhavenerinnen<br />
und Bremerhavener zu Wort kommen zu<br />
lassen, die ansonsten immer noch auch in der stadthistorischen<br />
Forschung und in der musealen Stadtgeschichtsdarstellung<br />
nicht vorkommen. So wird beispielsweise in keinem<br />
der Museen am Ort die Geschichte der Arbeitsmigration nach<br />
Bremerhaven in den Ausstellungen thematisiert. Während<br />
üblicherweise, wenn Integration gefordert wird, damit Forde-<br />
19
ungen an ‚die Ausländer’ gestellt werden, kehren wir den<br />
Blick um. Die Integrationsleistungen der Inländer, der Deutschen,<br />
werden herausgefordert. Die Möglichkeit zur Selbstdarstellung<br />
des eigenen Lebens nutzen jene, die bisher keine<br />
dazu hatten.<br />
Zeitzeuginnen und Zeitzeugen<br />
Der 50. Jahrestag des ersten Anwerbeabkommens mit Italien<br />
ist der Anlass zu dieser Publikation über Arbeitsmigration<br />
nach und Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter in Bremerhaven.<br />
In dieser Publikation werden Personen befragt, die<br />
der Arbeit wegen nach Deutschland kamen. Unberücksichtigt<br />
bleiben Menschen, die der Liebe wegen migrierten, vor politischer<br />
Verfolgung, religiöser Diskriminierung oder Krieg flüchteten,<br />
der wissenschaftlichen oder künstlerischen Karriere<br />
wegen reisten. Ebenfalls bleiben Spätaussiedler, also zurückkehrende<br />
deutsche Auswanderer, unberücksichtigt. Bei der<br />
Auswahl der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen wurde darauf geachtet,<br />
dass Menschen derjenigen Nationalitäten vertreten<br />
sind, die in Bremerhaven die großen <strong>Migranten</strong>gruppen stellen:<br />
Türken, Jugoslawen, Portugiesen, Spanier, Italiener. So<br />
sind Portugiesinnen und Spanierinnen in Bremerhaven mit die<br />
ersten Migrantinnen gewesen, die für die Arbeit in der<br />
Fischwirtschaft angeworben worden waren. Es sollten Männer<br />
und Frauen in etwa gleich großer Anzahl zu Wort kommen,<br />
ebenso wie Personen der verschiedenen <strong>Migranten</strong>generationen.<br />
63 Die Abgrenzung der „<strong>Migranten</strong>generationen“ ist dabei<br />
allerdings nicht so trennscharf, wie man annehmen könnte,<br />
sondern eher diffus. Zur zweiten Generation werden diejenigen<br />
Personen gezählt, die sich selber als zweite Generation definieren<br />
und wesentlich jünger sind als die ersten angeworbenen<br />
<strong>Migranten</strong>. Es kann sich dabei um bereits in Deutschland<br />
geborene Personen mit Migrationshintergrund handeln oder<br />
um im Ausland geborene, die sich aber aufgrund des Alters<br />
nicht zur älteren Generation der ersten angeworbenen Menschen<br />
zählen und deren Eltern bereits emigriert waren. In<br />
einem Interview wurde außerdem ein deutscher Vertreter der<br />
Personalabteilung eines großen fischverarbeitenden Unternehmens<br />
befragt, der selber über mehrere Jahre in Jugoslawien<br />
Arbeiterinnen und Arbeiter für sein Unternehmen angeworben<br />
hatte. Es waren Fragen nach der Art und Weise der Anwerbung,<br />
der Werbung vor Ort, den damit verbundenen Problemen,<br />
des Erfolgs oder Misserfolgs der Werbung zu stellen.<br />
Oral History ...<br />
Oral History wird als Forschungsmethode üblicherweise mit<br />
den Subjekten oder sozialen Gruppen in Verbindung und zur<br />
Anwendung gebracht, die in der traditionellen Geschichtsschreibung<br />
ignoriert wurden, die nicht in der Position waren,<br />
ihre Geschichte erzählen zu können. 64 „Die Oral History richtet<br />
den Blick auf den Alltag, auf die Lebenswelten auch der ‚Kleinen<br />
Leute‘ und deren Sichtweisen. Als Zugang dienen meist<br />
narrative Einzelinterviews. Dieser Ansatz, der in engem<br />
Zusammenhang mit dem Aufkommen der neuen Geschichtsbewegung<br />
in den [19]80er Jahren steht, formuliert explizit Kritik<br />
an der ‚traditionellen’ Erforschung der Geschichte als Herrschaftsgeschichte.“<br />
65<br />
Die Oral History soll aber nicht als das<br />
alleinige methodische Allheilmittel angepriesen werden. Zu<br />
häufig täuscht sich die Erinnerung über einen Sachverhalt, ein<br />
Ereignis, in einem Datum. Die mit dem eigenen Leben verbundene<br />
Emotionalität verstellt zu oft den Weg zu einer objektiveren<br />
Einschätzung.<br />
Die der vorgelegten Studie zugrunde liegende Forschungsmethode<br />
stellt einen Mix in der Methode und einen Kompromiss<br />
in der schriftlichen Präsentation dar. In der Methode wurden<br />
neben den qualitativen Interviews insbesondere Artikel der<br />
lokalen Zeitungen, Statistiken und stadtrelevante Studien,<br />
soweit vorhanden, herangezogen. 66<br />
Die Rahmenbedingungen<br />
für die Interviews waren sehr verschieden. In zwei Fällen übernahmen<br />
Verwandte die Aufgabe des Dolmetschens. Während<br />
mancher Interviews wurden Kinder mit betreut oder beaufsichtigt,<br />
oder es lief parallel zum Interview ein nationales Fernsehprogramm<br />
ohne Ton mit.<br />
... und die Repräsentation ihrer Lebensgeschichte im Text<br />
Idealerweise würden die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in den<br />
hiermit vorgelegten Texten ihre Geschichte der Arbeitsmigration<br />
selbst erzählen. Damit könnte vielleicht einigen der nicht<br />
erst mit der Krise des ethnologischen Schreibens aufgeworfenen<br />
kritischen Fragen entgangen werden. 67 Nach der Ethnologin<br />
Ulla Siebert bestehen die Verunsicherung der Wissenschaft<br />
und die dadurch ausgelöste Krise darin, dass die<br />
Wissenschaft „ihren Gegenstand, die fremde Kultur, nicht beschreibt<br />
bzw. nicht repräsentieren kann, sondern ihn bzw. sie<br />
selbst herstellt. [...] Kulturen würden nicht repräsentiert, sondern<br />
im Text erfunden.“ 68 Aber wenn die Zeitzeugen ihre Texte<br />
20
selber erzählen würden, wäre dadurch das Problem nur<br />
scheinbar gelöst worden, selektieren dann die Zeitzeugen selber<br />
und nicht der Wissenschaftler bestimmte Ereignisse, an<br />
die sie und er sich erinnern, die sie für erzählenswert halten<br />
oder die sie unterdrücken. Die Texte werden aber auch durch<br />
die Tatsache beeinflusst, dass Analphabeten ihre Lebenserzählung<br />
nicht selbst abfassen und schon gar nicht kontrollieren<br />
könnten. Der Kulturwissenschaftler Bernd Jürgen Warneken<br />
hatte schon 1985 mit seinen Studien über die populare<br />
Autobiographik die Sensibilität bezüglich der Textproduktion<br />
zu schärfen versucht. Dabei geht es Warneken nicht darum,<br />
jegliche Korrekturen an biografischen Interviews für eine Textfassung<br />
abzulehnen. Für sinnvoll hält er vielmehr: „Orthographische<br />
und grammatikalische Korrekturen z.B., die die Lesbarkeit<br />
des Textes erhöhen und seinen Autor vor hämischer<br />
Rezeption schützen; ebenso das Herausnehmen von Passagen,<br />
die den Leumund des Autors schädigen oder diesen gar<br />
Sanktionen aussetzen würden.“ 69<br />
Der Kompromiss in unserer Art der Textproduktion besteht<br />
darin, dass alle Interviews nach ihrer Verschriftlichung und<br />
Bearbeitung durch den Autor, insbesondere ihrer Kürzung,<br />
den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bzw. den Dolmetscherinnen<br />
mit der Bitte um Korrektur, Ergänzung, Überarbeitung,<br />
Streichung von Passagen und Autorisierung für eine Publikation<br />
vorgelegt wurden. Die Zeitzeugen nahmen in sehr unterschiedlichem<br />
Umfang Korrekturen, Überarbeitungen und<br />
Streichungen an diesen Texten vor und hatten dabei auch<br />
diplomatisch Rücksichten auf Familie und nationale Community<br />
zu nehmen.<br />
Der interessierte Leser, die interessierte Leserin wird an dieser<br />
Stelle vielleicht neugierig geworden sein, was für Textpassagen<br />
denn möglicherweise warum herausgestrichen worden<br />
sind. Manchmal kann das Weggelassene interessanter als das<br />
Ausgesprochene und zur Veröffentlichung Autorisierte sein.<br />
Zu allen Interviews sei angemerkt, dass die Zeitzeuginnen und<br />
Zeitzeugen nur im geringen Umfang Streichungen gewünscht<br />
haben. Begeistert war der Autor über den Mut und die Souveränität<br />
der Befragten, auch kritische Textstellen im Manuskript<br />
zu belassen.<br />
Ein sehr markantes Beispiel für eine gewünschte Streichung<br />
sei an dieser Stelle erwähnt. Befragt nach seiner Vorstellung<br />
von Heimat, antwortete ein Zeitzeuge, der für sich die Vorstellung<br />
nach dem „da wo du begraben bist, ist dein zu Hause“<br />
ablehnte: „Wenn man tot ist, ist alles aus! Feierabend. Genauso<br />
wie ein Lichtschalter. Ausschalten! Fertig! Erledigt! [...]<br />
Glaubensgeschichten von Jesus Christus Gottes Sohn oder<br />
vom muslimischen Propheten Mohammed sind nur billige<br />
Geschichten.“ Da die hier zitierte Person sehr bekannt und in<br />
ihrer Community angesehen ist, sollten aus diplomatischen<br />
Gründen diese Sätze gestrichen werden, denn sie wollte vermeiden,<br />
die religiösen Gefühle (Glaube an das Jenseits) anderer<br />
zu verletzen.<br />
Kulturelle Identität<br />
Kultur, ein von ökonomischen und sozialen Bedingungen abhängiges<br />
Bedeutungssystem, ist immer eine Art der Lebensbewältigung<br />
und deshalb auch nicht unveränderlich, sondern<br />
reagiert auf Veränderungen mit Veränderungen. Bezogen auf<br />
die Situation der MigrantInnen bedeutet dies, dass kulturelle<br />
Traditionen des Herkunftslandes den Lebensbedingungen in<br />
der Migration angepasst werden. Sitten und Bräuche sind hier<br />
nicht mehr selbstverständlich, sondern Mittel der Selbstvergewisserung<br />
und des Zusammenhalts in der Fremde. Zusätzlich<br />
ist zu berücksichtigen, dass sich MigrantInnen bei der Entwicklung<br />
adäquater Lebensformen nicht nur mit ihrer mitgebrachten<br />
kulturellen Ausstattung auseinandersetzen, sondern<br />
auch Elemente aus anderen, in der „Gastgesellschaft“ existierenden<br />
Kulturen, mit denen sie in Berührung kommen, aufnehmen,<br />
verarbeiten und ihrer spezifischen Lebenssituation<br />
anpassen.<br />
Wenn dieser, von Hermann Bausinger 70<br />
entwickelte Gedanke<br />
und die zentrale kulturwissenschaftliche Erkenntnis, dass Kultur<br />
nichts Statisches und Homogenes ist, ernst genommen<br />
würden, könnten Migrantinnen und <strong>Migranten</strong> nicht immer<br />
wieder mit wirklichkeitsfernen Forderungen nach Integration<br />
und der Anpassung an eine „deutsche Leitkultur“ gedemütigt<br />
werden. <strong>Migranten</strong> und Migrantinnen verändern ihre Kultur<br />
während der Migration, sie passen sie den neuen Bedingungen<br />
an. Damit können Konflikte mit Menschen der eigenen<br />
ethnischen Gruppe oder sogar innerhalb der eigenen Familien,<br />
häufig aber mit Menschen der Aufnahmegesellschaft einhergehen.<br />
Es entstehen in diesen Situationen neue Kulturen. Der<br />
Plural ist dabei bewusst gewählt, handelt es sich doch sowohl<br />
bei den ethnischen Gruppen als bei der aufnehmenden Gesellschaft<br />
um Multikulturen, die sich in soziale Schichten und kulturelle<br />
Milieus strukturieren und keineswegs homogen sind.<br />
Zudem verändert sich auch die Kultur der Aufnahmegesell-<br />
21
schaft mit den Eingewanderten, wenn auch vielleicht nicht so<br />
deutlich wahrnehmbar oder auch gewollt nicht wahrgenommen.<br />
Der Begriff der kulturellen Identität beinhaltet eine individuelle<br />
und eine soziale Dimension von Identität. Die individuelle<br />
Dimension meint das Mit-sich-selber-identisch-Sein, das sich<br />
Vergewissern der eigenen Biografie, „seiner kulturellen Ausstattung<br />
mit einer bestimmten Sprache, mit bestimmten Überlieferungen,<br />
bestimmten Eigenheiten der materiellen Kultur,<br />
mit Normen und Werten“ 71 über alle Brüche und Veränderungen<br />
hinweg. Die zweite Dimension meint das Identischsein<br />
mit einer sozialen Gruppe. Hermann Bausinger weist kritisch<br />
auf die politische Dimension hin, wenn eine Mitgliedschaft zu<br />
einer sozialen Identität auch erzwungen werden kann und um<br />
das Zugehören oder Ausgeschlossenwerden Macht einer<br />
dominanten Gruppe ausgeübt wird. 72<br />
Die eigene Kultur, das<br />
relativ selbstbestimmte Auswählen kultureller Muster als die<br />
eigenen und als der eigenen Lebenssituation adäquat, die aktive<br />
Integrationsarbeit in verschiedene soziale und ethnische<br />
Gruppen sind ein „schwieriges Integral“ und eine „Komposition“<br />
73 und nur die eine Seite einer Medaille. Es besteht auf der<br />
anderen Seite immer auch ein Moment des Zwanges zur kulturellen<br />
Identität, ein Moment von Verhaltenserwartungen<br />
durch einzelne Personen, Familienangehörige, durch Arbeitskollegen<br />
oder Institutionen wie der Politik der Aufnahmegesellschaft,<br />
denen man sich nicht ganz freiwillig gegenüberstehen<br />
sieht.<br />
Wenn sich Migrantinnen und <strong>Migranten</strong> mit der eigenen mitgebrachten<br />
kulturellen Ausstattung wie mit Kulturelementen<br />
der Aufnahmegesellschaft auseinander setzen müssen, dann<br />
tun sie das zudem generationsspezifisch unterschiedlich. Der<br />
Kulturanthropologe Werner Schiffauer hat mit Bezug auf die<br />
Türken in Deutschland darauf hingewiesen, dass sich die<br />
Situation der ersten Generation anders als die der zweiten darstellt.<br />
„Das Problem konkurrierender und zum Teil sich widersprechender<br />
Normen- und Wertsysteme wird bei den hier<br />
geborenen und aufgewachsenen Deutsch-Türken (bzw. Turko-<br />
Deutschen) durch einen zweiten Aspekt überlagert: Sie wurden<br />
heimisch in einer Gesellschaft, die ihnen den Status der<br />
Zugehörigkeit verweigert, sie weiterhin als Fremde behandelt<br />
und durch Gewaltakte ausgrenzt.“ 74<br />
Auch in den Interviews<br />
beschreiben einige Zeitzeugen die Nichtakzeptanz und ihre<br />
verweigerte Anerkennung in der Migrationsgesellschaft: „Also<br />
solche Sprüche findet man immer wieder. Aber man kann<br />
machen, was man will. [...] Ich bin hier groß geworden. Ich bin<br />
hier zur Schule gegangen. Ich hab hier gelernt. Ich arbeite hier.<br />
Ich habe den deutschen Pass. Alles! Aber ich bin immer noch<br />
Ausländer! Ich bin immer noch Türke! Und so werde ich auch<br />
angesehen! Und ich kann machen was ich will, das wird sich<br />
nicht ändern. [...] Und das wird auch so bleiben. Und ich<br />
glaub, ich hab mich damit abgefunden. [Er lacht.] Das ist so.<br />
Und man kann das nicht ändern.“ 75<br />
Was passiert mit der Heimat und der Identität in der Emigration?<br />
Alle Identitätskategorien bekommen Risse. Welche<br />
nationale Identität besitzt eine Jugoslawin, ein Italiener, eine<br />
Türkin griechischer Abstammung nach 35 Jahren in Deutschland?<br />
Was ist es, das in der Unsicherheit der Migration ein<br />
neues Identitätskonzept bieten kann jenseits von nationalistischen<br />
und rassistischen Grenzziehungen? Wie gehen die<br />
befragten Personen kreativ mit der Situation der Unsicherheit<br />
um? Aber auch die bisher unterstellte kulturelle Identität selber<br />
wird in Frage gestellt dadurch, wenn im Fortgehen in der<br />
Familie mit den Eltern Konflikte um das Weggehen aufbrechen<br />
und die Nichtidentifikation mit manchen Werten, Normen und<br />
Handlungsweisen in der Familie, im Dorf und Ort deutlich wird<br />
oder Werte und Bewertungen sich durch eine veränderte ökonomische<br />
Situation verändern. Was heißt in einem solchen<br />
Moment noch Heimat, wenn man in einer fundamentalen<br />
Lebensentscheidung mit Konflikten und Ablehnung selbst<br />
innerhalb der eigenen Familie konfrontiert wird?<br />
Heimat<br />
„In Deutschland leben und arbeiten sie, im Ausland sind sie zu<br />
Hause. Statt einer Heimat besitzen Gastarbeiter deren zwei –<br />
und damit oft auch keine mehr.“ 76<br />
Heimat ist nicht einfach ein geografischer Ort der eigenen<br />
Herkunft oder sind nicht nur die sich einstellenden Emotionen,<br />
wenn man beispielsweise zum ersten Mal wieder im Urlaub<br />
die gute, saubere Luft des kappadokischen Heimatdorfes Zentralanatoliens<br />
atmet oder wenn man mit dem Auto nach<br />
einem Urlaub in Neapel nach Norddeutschland zurückkommt,<br />
das satte Grün sieht und wegen der frischen Luft und der landschaftlichen<br />
Ruhe tief einatmet. Es sind auch nicht einfach<br />
zwei Orte die geografische Heimat, wenn man in seiner alten<br />
galizischen Geburtsstadt Urlaub macht und nach zwei Wochen<br />
schon an den kleinen Schrebergarten in Bremerhaven-<br />
Lehe denken muss, weil man ihn vermisst. Die beiden befrag-<br />
22
ten jugoslawischen Migrantinnen, aber auch andere, die darüber<br />
hinaus befragt wurden, reagierten sehr emotional auf<br />
den nicht mehr vorhandenen roten jugoslawischen Pass, auf<br />
den sie ihr Leben lang stolz waren. Das Nichtidentischsein mit<br />
einer historischen Entwicklung in Jugoslawien lässt die nationale<br />
Heimat deutlicher werden: „[...] wenn ich an die Grenze<br />
komme und da steht Republik Slowenien, auf eine Schulter<br />
klopf ich mir und die andere hängt runter [...]“. 77<br />
Heimat, das sind die Freunde, die Bekannten und Verwandten,<br />
die man nach der Arbeit trifft, mit denen man die Freizeit verbringt,<br />
die man besucht, wenn man Probleme hat und Hilfe<br />
braucht, oder mit denen man gemeinsam feiert. Heimat hat<br />
aber nicht nur diese private, sondern auch eine politische<br />
Dimension. „[...] zur Heimat gehörten nicht in erster Linie gefühlvolle<br />
Erinnerungen, sondern alle Bemühungen um gerechtere<br />
soziale Verhältnisse und eine freundlichere Umwelt“. 78<br />
Oder wie es der Bremerhavener Werftarbeiter türkischer Herkunft,<br />
Necmiddin Gezmen, in seinen Worten ausdrückte: „Heimat<br />
ist, wo man satt wird und nicht arm ist.“ 79 Die Heimat wird<br />
brüchig, und man verliert sie, wenn sich herausstellt, dass es<br />
keine gemeinsame Basis der angenommenen gemeinsamen<br />
kulturellen Wertmuster gibt, wenn das Bemühen um gerechtere<br />
soziale Verhältnisse vor einer ethnischen, einer sozialen<br />
oder anderen Grenze Halt macht, wenn die deutschen Arbeitskollegen<br />
einen auffordern, zurückzugehen, weil die Arbeit<br />
nicht für alle reichen würde, wenn der Rassismus stärker ist<br />
als die Solidarität.<br />
Heimat ist aber auch die Erinnerung an die eigene Kindheit, an<br />
die Straße, auf der man als Kind gespielt hat. Heimat ist da,<br />
wo man geboren wurde und die Kindheit erlebte, eine Kindheit,<br />
die man positiv in Erinnerung hat, die meistens schön ist<br />
und verklärt wird.<br />
Thesen und Fragen<br />
Aus der migrations- und kulturwissenschaftlichen Forschung<br />
ist bekannt, dass Arbeitsmigranten vorwiegend aus dem<br />
„ländlich-agrarischen Milieu“ (...) „wirtschaftlich weniger entwickelten<br />
Regionen Südeuropas und der Türkei [stammen]“. 80<br />
Damit war in der frühen Migrationsforschung und Ethnologie<br />
häufig die Annahme einer homogenen und in sich geschlossenen<br />
<strong>Migranten</strong>kultur verbunden. Es wird in dieser Untersuchung<br />
zugegebenermaßen nicht erstmals aber auch zu zeigen<br />
sein, dass die <strong>Migranten</strong>communities weder von der sozialen<br />
Struktur noch von der kulturellen Identität her homogen sind.<br />
Vielmehr stammen die <strong>Migranten</strong> aus verschiedenen sozialen<br />
Schichten ihrer Herkunftsländer und gehören unterschiedlichen<br />
kulturellen Milieus an. Darüber hinaus sind ihre Kulturen,<br />
wie sie sich in der Migration weiter entwickeln, „Basteleien“<br />
(Bricolagen). 81 Sie sind zusammengesetzt aus Elementen ihrer<br />
Herkunftskultur, manche Elemente werden in der Fremde<br />
in Frage gestellt und manchmal aufgegeben, und es treten<br />
in der Aufnahmegesellschaft auch neue Kulturelemente hinzu.<br />
Es entwickelt sich in einer neuen Situation eine Umgehens-<br />
und Lebensweise heraus, die als mehr oder weniger<br />
gelungen anzusehen ist und in dieser Situation unterstützend<br />
wirkt.<br />
Die Vorstellung, dass die zur Arbeit in Deutschland angeworbenen<br />
Menschen vorwiegend Armutsemigranten seien, das<br />
heißt, dass der Grund ihres Wanderns in ihrer Verarmung und<br />
Arbeitslosigkeit in der Heimat liegt, ist verkürzt. Es wird zu<br />
zeigen sein, dass diese Vorstellung viele Ursachen und Motive<br />
der Migration ausblendet. In vielen, möglicherweise den meisten<br />
Fällen mag diese Annahme zutreffen. Oftmals liegen die<br />
Gründe der Emigration aber in einer Mischung mehrerer Motive<br />
und Ursachen, und erst das Zusammenkommen von mehreren<br />
Faktoren, beispielweise die Flucht vor einer Ehekrise verbunden<br />
mit Arbeitslosigkeit oder die Verlockungen eines<br />
Abenteuers in Zeiten einer nationalen Wirtschaftskrise, wird<br />
zum Anstoß dafür, ins Ausland zu gehen und die Heimat<br />
zunächst auf Zeit zu verlassen.<br />
Zudem sind die Migrationsmotive nach Geschlecht unterschiedlich:<br />
82 „Insgesamt stellten Frauen ab Mitte der [19]60er<br />
Jahre einen Anteil von ca. 20 % der angeworbenen Gastarbeiter.“<br />
83<br />
Migrantinnen in Bremerhaven sind nicht immer, vielleicht<br />
nicht einmal vorwiegend als Abhängige ohne eigene<br />
Entscheidung mit den Männern gewandert. Vielmehr geht der<br />
Autor davon aus, dass Frauen allein, als Ehefrau mit oder ohne<br />
Familie teilweise gegen den Wunsch von Ehemann oder der<br />
Familie, manchmal im Konflikt mit Familienangehörigen,<br />
manchmal mit Zustimmung, aber oftmals selbstbestimmt emigrierten.<br />
Diese These soll aber nicht den Blick auf ein bisher<br />
wenig berücksichtigtes Phänomen im türkischen Leben in<br />
Deutschland verstellen oder gar verharmlosen, den „Importbräuten“.<br />
Es handelt sich dabei, wie Necla Kelek feststellt, um<br />
Bräute, die von ihren Eltern für Geld nach Deutschland verkauft<br />
werden, und sie nennt es modernen Sklavenhandel. 84 Im<br />
oben definierten Sinne handelt es sich also nicht um Arbeits-<br />
23
migrantinnen, dennoch wird man sich damit zukünftig auch<br />
wissenschaftlich auseinandersetzen müssen.<br />
Es wird in dieser Untersuchung auch der These nachzugehen<br />
sein, ob tatsächlich Migrantinnen und <strong>Migranten</strong> in beruflichbetrieblichen<br />
Zusammenhängen relativ weniger Diskriminierung<br />
85<br />
und Rassismus ausgesetzt seien als im Wohnumfeld<br />
und in anderen sozialen Zusammenhängen. 86 Der Autor steht<br />
dieser These skeptisch gegenüber. Nach seiner Einschätzung<br />
und aufgrund der Forschungsergebnisse seiner eigenen betriebsethnologischen<br />
Untersuchung 87<br />
handelt es sich eher<br />
auch aufgrund der ungünstigen Forschungslage oder Presseberichterstattung<br />
um ein Wahrnehmungsdefizit. Die Kulturwissenschaftlerin<br />
Carola Lipp hat bereits 1993 auf die Notwendigkeit<br />
hingewiesen, interethnischen Fragestellungen in<br />
der Arbeiterkulturforschung nachzugehen. Und der Volkskundler<br />
Klaus Roth konkretisiert, dass sich die Volkskunde in<br />
Deutschland, aber auch die internationale Kulturwissenschaft<br />
bisher nicht mit Fragen beispielsweise der interkulturellen<br />
Kommunikation und des Kulturkontakts in Betrieben befasst<br />
haben. 88 Bei einem unserer Fototermine konnten wir spontan<br />
ein Beispiel für nicht besonders ausgeprägte Sensibilität für<br />
eine Gleichstellungspolitik unter Arbeitskollegen eines Betriebes<br />
aufnehmen, die in ihrer Konsequenz für <strong>Migranten</strong> und<br />
Frauen diskriminierend wirken kann, falls die Einstellungs- und<br />
Personalpolitik des Unternehmens nicht entgegenwirken. Die<br />
Mitarbeiter waren stolz uns zu erzählen, dass dieses Unternehmen<br />
in nächster Zeit weitere 60 Mitarbeiter einstellen<br />
wird. Trotz der Anwesenheit eines italienischen Vorarbeiters<br />
und einer Fotografin war für die Mitarbeiter Konsens, dass für<br />
Frauen die Arbeit zu schwer sei und Ausländer aus kommunikativen<br />
Gründen nicht eingestellt werden sollten.<br />
Die Arbeitsmigration führt für die Menschen selber zu sehr<br />
widersprüchlichen Ergebnissen. Die Arbeitsmigranten sind<br />
zum großen Teil als Arbeiterinnen und Arbeiter nach Deutschland<br />
angeworben worden. Für die Mehrheit von ihnen ist<br />
damit ein relativer ökonomischer Wohlstand verbunden, verglichen<br />
mit der ökonomischen Situation jener in der Heimat<br />
Gebliebenen. Jedoch ist die Dynamik eines gesellschaftlichen<br />
Aufstiegs eher gering. Die meisten verbleiben im untersten<br />
Segment der Pyramide der Arbeiterklasse. 89 Kaum einem oder<br />
einer gelingt der Aufstieg in einen Facharbeiterberuf einer<br />
Zukunftsbranche oder zum Beispiel in den Meister- oder Ingenieurberuf.<br />
Kaum eine oder einer ist während ihrer oder seiner<br />
beruflichen Biografie nennenswert weitergebildet oder gar<br />
ausgebildet worden, um an modernen Produktionsanlagen<br />
oder in Zukunftsbranchen zu arbeiten. Verhältnismäßig selten<br />
ist ein beruflicher Aufstieg in die Schicht der Akademiker.<br />
Gleichzeitig gilt für fast alle eine hohe zeitliche Arbeitsintensität<br />
zumeist weit über eine 38 1 /2-Stunden-Woche hinaus. Für<br />
diese zeitliche Intensität der Arbeit können mehrere Ursachen<br />
ausgemacht werden. Es sind die äußeren Bedingungen zu<br />
nennen, das Einfordern von Überstunden durch die Betriebe,<br />
häufig entspricht das aber auch den eigenen Wünschen nach<br />
möglichst vielen Arbeitsstunden und einem maximalen Einkommen.<br />
Des Geldes wegen ist man schließlich gekommen.<br />
Viele stehen auch unter dem inneren Druck der eigenen<br />
Ansprüche, es denen zu Hause zeigen zu müssen, dass man<br />
es geschafft hat und dass die damalige Entscheidung richtig<br />
war!<br />
Daraus resultiert vielfach neben der körperlichen und nervlichen<br />
Überbelastung auch ein weitgehender Ausschluss von<br />
der Teilhabe und eigenen Aktivität an bürgerlicher Kultur in<br />
Form von Kino, Theater, Musik, aber auch von Vereinsleben,<br />
sportlichen Aktivitäten. Zu leiden hat häufig die Unterstützung<br />
der eigenen Kinder bei der schulischen Ausbildung oder<br />
einfach auch die gemeinsame Freizeit mit Kindern und Familie.<br />
90<br />
In meinem Forschungsansatz gehe ich nicht von der These<br />
aus, wie sie von vielen Journalisten und auch WissenschaftlerInnen<br />
vertreten wird, dass <strong>Migranten</strong> und MigrantInnen<br />
zwischen zwei Kulturen stünden. 91<br />
Dies reduziert die Menschen<br />
auf Mängelwesen und macht deren angebliche Defizite<br />
einseitig für Integrationskonflikte verantwortlich. Vielmehr<br />
wird davon ausgegangen, dass die <strong>Migranten</strong> in einer besonderen<br />
Situation eine für diese Situation spezifisch neue Kultur<br />
entwickeln, die auch (mehr oder weniger gelungen) situationsadäquat<br />
ist.<br />
Arbeitsbedingungen und gesellschaftlicher Status<br />
Die ökonomischen Rahmenbedingungen, die zur Anwerbung<br />
von Arbeitskräften nach Deutschland führten, waren im Vergleich<br />
zu heute in den 1950er Jahren gänzlich andere. Während<br />
Bremerhaven inzwischen mit einer Massenarbeitslosigkeit<br />
von um die 26,2 % zu kämpfen hat (Stand Januar 2005),<br />
vermeldete die „Nordsee-Zeitung“ im Dezember 1955: „Wie<br />
der Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium Sauerborn in<br />
Bonn erklärte, sei ein Rückgriff auf ausländische Arbeitskräfte<br />
24
„Nordsee-Nachrichten“, Mai 1963, das Ibbrigheim in Geestemünde<br />
an der Ibbrigstraße (Archiv frozen fish international)<br />
Das Mädchenwohnheim der Firma WOLLMEYER an der<br />
Straße Am Lunedeich (Archiv frozen fish international)<br />
In Baracken wie Tiere leben musste in Bremerhaven zwar niemand.<br />
Ansonsten war die Wohnsituation aber in dieser Stadt<br />
genauso schwierig, wie Claudia Koch-Arzberger sie in ihrer<br />
1985 erschienenen Untersuchung generell für Deutschland<br />
charakterisierte. Noch 1968 wohnten etwa „31 % der männlichen<br />
und 14 % der weiblichen“ <strong>Migranten</strong> in Arbeiter-Wohn-<br />
1956 nicht mehr zu vermeiden.“ 92 Im Juli 1968 wird dann der „They live in those barracks like animals“ 96<br />
Niedrigrekord einer Arbeitslosenquote für Bremerhaven von<br />
2 % gemeldet! 93<br />
Die Einschätzung, dass Migrantinnen und <strong>Migranten</strong> bis heute<br />
noch die schwerste, gefährlichste, unqualifizierteste Arbeit mit<br />
den geringsten Aufstiegschancen zu leisten hatten und haben,<br />
trifft auch auf Bremerhaven zu. Es waren und sind Arbeiten<br />
und Berufe ohne oder mit geringem gesellschaftlichem Ansehen,<br />
und es sind Berufe – von wenigen Ausnahmen abgesehen<br />
– ohne Zukunftsperspektive. Der 1986 vom Sozialausheimen.<br />
97<br />
schuss der Stadtverordnetenversammlung Bremerhaven in<br />
Auftrag gegebene „Sachstandsbericht über die Situation ausländischer<br />
Mitbürger in Bremerhaven“ schätzt ein: „Durch<br />
Unterprivilegierungen, Milieuverlust und Stigmatisierung werden<br />
Ausländer überwiegend zu Randständigen in unserer<br />
Gesellschaft. So gehören ausländische Arbeitnehmer tendenziell<br />
zur unteren Unterschicht und erhalten vergleichsweise<br />
zur deutschen Bevölkerung die geringste Ausbildung, die niedrigste<br />
Entlohnung, das geringste Vermögen, die niedrigste<br />
Einstellung im Beruf und das niedrigste Sozialprestige.“ 94 <strong>Migranten</strong><br />
in gehobenen Positionen, als Vorgesetzte, Meister, in<br />
Zukunftsbranchen wie zum Beispiel dem Containerumschlag<br />
im Hafen oder der Luft- und Raumfahrtindustrie, als Angestellte<br />
oder Managerinnen und Manager zum Beispiel in<br />
Bank-, Versicherungs- oder Konzernverwaltungen sind die<br />
Ausnahmen. Das ist bis heute so geblieben. 95<br />
Diese Wohnform reduzierte sich erst bis 1982 auf<br />
1 % bei den Frauen und 5 % bei den Männern. Solche Arbeiter-Wohnheime,<br />
in denen man sich mit mehreren ein Zimmer<br />
teilte, waren in Bremerhaven zum Beispiel das Ibbrigheim in<br />
Geestemünde für junge Frauen und Ehepaare, die in der<br />
Fischwirtschaft arbeiteten, das Männerwohnheim Auf der Bult<br />
in Grünhöfe und das Mädchenwohnheim für Spanierinnen der<br />
Firma WOLLMEYER bei den KLIPPFISCHWERKEN im Fischereihafen.<br />
Die Firmen FISCH-INS-LAND und BAUMGARTEN<br />
mieteten an der Thunstraße in Wulsdorf Wohnungen für ihre<br />
Arbeiter an. Am Krummenacker in Wulsdorf hatte die NORD-<br />
SEE mehrere Wohnblocks für ihre angeworbenen Arbeiterinnen<br />
und Arbeiter angemietet.<br />
Es waren die gestiegenen Wohnansprüche der Arbeitsmigranten<br />
und die Familienzusammenführung, die neue Wohnformen<br />
erforderten. Wenn auch das Wohnheim oder die einfachste<br />
GEWOBA-Wohnung bis in die 1980er Jahre weitgehend<br />
gegen eine Mietwohnung und in seltenen Fällen gegen<br />
25
eine Eigentumswohnung oder ein Eigenheim eingetauscht<br />
wurde, hieß das nicht, dass sich die Wohnsituation entscheidend<br />
gebessert hätte. In der Forschung kommt man in den<br />
1980er Jahren zu dem Fazit, dass die Ausländer im Durchschnitt<br />
in „schlechter ausgestatteten Wohnungen [leben],<br />
häufiger in alten Häusern mit schlechter Bausubstanz, häufiger<br />
in infrastrukturell unterdurchschnittlich versorgten Gebieten,<br />
häufiger auf zu kleinem Raum. Und dafür mußten sie<br />
auch noch relativ mehr Miete zahlen als die deutschen Bewohner<br />
bei gleicher Wohnqualität.“ 98<br />
Bezüglich der Belegungsdichte<br />
der Wohnungen steht ihnen 1978 auch nur halb so viel<br />
Platz zur Verfügung wie den Deutschen. 99 Bereits der Zugang<br />
zum privaten Wohnungsmarkt ist für <strong>Migranten</strong> viel schwieriger<br />
als für Deutsche. Der „Sachstandsbericht über die Situation<br />
ausländischer Mitbürger in Bremerhaven“ resümiert dazu:<br />
„Große Sorge bereitet die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt.<br />
Ausländer haben viele Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche,<br />
da ihnen auf privatem Sektor kaum eine zur Verfügung<br />
gestellt wird.“ 100 Nicht nur der Zugang ist verstellt. „[...]<br />
die Wohnsituation der ausländischen Familien ist in Bremerhaven<br />
teilweise ebenfalls schlechter als die der deutschen<br />
Bevölkerung“. 101<br />
Claudia Koch-Arzberger kommt in ihrer Untersuchung zu dem<br />
Schluss, dass, wenn auf der Seite der Arbeitsmigranten eine<br />
relativ hohe Bereitschaft besteht, in eine bessere Wohnung zu<br />
ziehen und dafür mehr Miete zu zahlen, die Wohnsituation<br />
dennoch auf dem untersten Niveau stagniert, es andere Gründe<br />
als das Einkommen der <strong>Migranten</strong>familien geben muss, die<br />
den Zugang zu besseren Wohnungen beeinflussen. Sie sieht<br />
diese Gründe im mit dem Beruf verbundenen sozialen Status,<br />
in der sozialen Kompetenz, den deutschen Sprachkenntnissen,<br />
dem mit einem Beruf verbundenen Prestige und der Diskriminierung<br />
durch deutsche Vermieter, wenn diese Faktoren<br />
als zu niedrig und ungenügend bewertet werden.<br />
Ein weiterer Faktor für die beschriebene Situation wird in der<br />
genannten Untersuchung darin gesehen, dass eine kommunale<br />
Wohnungspolitik mancherorts darauf hinausläuft, dass<br />
sanierungsbedürftige Siedlungen durch Ausländer „profitabel<br />
heruntergewohnt“ werden. Das Fazit von Koch-Arzberger fällt<br />
für diese Wohnpolitik entsprechend vernichtend aus, dass<br />
nämlich damit keine integrationsfördernde Politik in Richtung<br />
einer gerechten Verteilung von Wohnraum zwischen Deutschen<br />
und <strong>Migranten</strong> stattfindet. 102 Ein solches Herunterwohnen<br />
wurde auch in Bremerhaven festgestellt, jedoch beschränkte<br />
sich dieses Phänomen nicht auf <strong>Migranten</strong>, sondern<br />
auch Asylbewerber, Flüchtlinge und Deutsche waren davon<br />
betroffen.<br />
Alltagsrassismus 103 in Bremerhaven<br />
Gibt es Formen von Alltagsrassismus in Bremerhaven, und<br />
wie äußern sie sich? Wie drückt sich Feindlichkeit gegen<br />
Migrantinnen und <strong>Migranten</strong> aus? Welche Formen von Diskriminierungen<br />
im städtischen Lebensalltag gibt es? Wie können<br />
diese Phänomene erklärt werden? Gibt es Akteurinnen und<br />
Akteure der Gegenwehr und solidarische Politiken auf der<br />
lokalen und der betrieblichen Ebene? Durch die Recherche im<br />
Archiv der „Nordsee-Zeitung“ sollten Erkenntnisse zu diesen<br />
Fragen gewonnen werden, denn, wie schon Mark Terkessidis<br />
in seinen Interviews erfuhr und für diese Forschung zu bestätigen<br />
ist, antworten viele <strong>Migranten</strong> auf die Frage nach persönlich<br />
erlebtem Rassismus oder erlebter Diskriminierung: „‚Habe<br />
ich noch nie erlebt.’ Damit meinen sie, dass sie noch nie von<br />
einem Neonazi verprügelt oder von einem NPD-Mitglied<br />
beschimpft worden sind. [...] In Interviews, die ich mit <strong>Migranten</strong><br />
zweiter Generation über Rassismus geführt habe, zeigte<br />
sich, dass die Probleme eher in einer Abfolge von kleinen Vorkommnissen<br />
im Alltag liegen, in welchen den hier aufgewachsenen<br />
Personen klar gemacht wird, dass sie nicht dazugehören.<br />
Oder in den Klischees, mit denen sie penetrant konfrontiert<br />
werden.“ 104<br />
Es sollen an dieser Stelle nur summarisch einige Überschriften<br />
von Berichten genannt werden, die als erste Indizien für Rassismus,<br />
aber auch Hinweise auf antirassistische Politik und<br />
Pädagogik geben, an die zukünftige stadthistorische Forschungen<br />
anknüpfen sollten: „Jusos fordern klare Absage an<br />
Neonazis“ (NZ vom 2. April 1982). „Bei Ausländerdiskussionen<br />
werden Vorurteile laut“ (NZ vom 9. März 1982). „Den Vorurteilen<br />
durch mehr Information entgegenwirken“ (NZ vom 6.<br />
Oktober 1982). „Die SPD lehnt ‚Abschiebeprämie‘ ab“ (NZ<br />
vom 10. Dezember 1982). „Ausländer und Deutsche feiern gemeinsam.<br />
Zu einer gemeinsamen Silvesterfeier lädt der Solidaritätsverein<br />
der Arbeiter aus der Türkei Ausländer und<br />
Deutsche ein“ (NZ vom 24./25. Dezember 1982). „Zum Folkloreabend<br />
Ausländer eingeladen.“ Unter diesem Titel wird<br />
über eine Weihnachtsfeier der Gewerkschaft Nahrung, Genuss,<br />
Gaststätten (NGG) berichtet, die damit gegen Ausländerfeindlichkeit<br />
wirken will (NZ vom 23. Dezember 1982).<br />
26
„Umgang mit Behörden besonders gefürchtet“ (NZ vom 18.<br />
April 1983). „Immer mehr Ausländer verlassen die Stadt“ (NZ<br />
vom 12. Januar 1985) „‚Sündenböcke?‘ beschreibt Problematik<br />
der zunehmenden Ausländerfeindlichkeit“ (NZ vom 6. Mai<br />
1983). „Mit HipHop gegen Diskriminierung“ (NZ vom 17.<br />
November 2000). „Jugendwettbewerb gegen den Hass“ (NZ<br />
vom 7. Februar 2001). „Jugendliche oft rechtslastig“ (NZ vom<br />
23. Februar 2001).<br />
Unter dem Titel „Rechtsradikaler Jargon“ wird auch über eine<br />
offene Kritik gegenüber rassistischen Äußerungen von lokalen<br />
Politikern berichtet: „Der stellvertretende CDU-Kreisvorsitzende<br />
und Bürgerschaftsabgeordnete Michael Teiser und Innensenator<br />
Bernt Schulte würden ausländische Bürger in einem<br />
Atemzug mit Betrug, organisierter Kriminalität und Drogenhandel<br />
und ‚angeblich fehlender innerer Sicherheit‘ in Zusammenhang<br />
bringen. ‚Das alles ist rechtsradikaler Jargon und<br />
fördert Rassismus, faschistisches Denken und Handeln’, so<br />
Klaus Görke von Literatur und Politik“ (NZ vom 15. November<br />
2000).<br />
Die größte politische Veranstaltung gegen Rassismus und<br />
Gewalt in Bremerhaven war die Menschenkette anlässlich des<br />
Jahrestages der Nazi-Pogrome vom 8. November 1938, an der<br />
30 000 Menschen am 9. November 2000 teilnahmen. Der<br />
Redakteur der „Nordsee-Zeitung“, Torsten Melchers, bewertet<br />
diese Menschenkette ganz richtig, indem er schreibt: „Bremerhaven<br />
hat ein bundesweit beachtetes Zeichen gesetzt:<br />
30 000 Menschen sind gegen Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz<br />
aufgestanden – mehr Bürger, als 1996 bei der großen<br />
Werften-Demonstration. Unüberhörbar haben sie gesagt: In<br />
dieser Stadt sind Ausländer willkommen. Hier soll die jüdische<br />
Gemeinde wachsen und gedeihen. Nie wieder soll Menschenfeindlichkeit<br />
das Sagen haben. Es stimmt zwar, dass die DVU<br />
seit 13 Jahren in der Stadtverordnetenversammlung sitzt,<br />
doch seit gestern weiß ganz Deutschland, dass die Rechtsextremen<br />
hier nur eine Außenseiterrolle spielen. [...] Wovor sich<br />
aber alle Teilnehmer hüten müssen, ist Selbstzufriedenheit<br />
über den Erfolg. Toleranz erweist sich erst im Alltag: Wenn<br />
Minderheiten diskriminiert werden, ist Wegschauen nicht<br />
erlaubt.“ 105<br />
In Bremerhaven werden Menschen und Institutionen zunehmend<br />
veranlasst, sich auch mit pädagogischer und wissenschaftlicher<br />
Unterstützung gegen Rassismus und Rechtsextremismus<br />
zur Wehr zu setzen. Es wurde zu einem „Jugendwettbewerb<br />
gegen den Hass“ 106 aufgerufen, an dem man sich<br />
mit Liedern, Gedichten, Märchen, Theaterstücken, Zeichnungen,<br />
Fotos, Plakaten beteiligen sollte. Am 21. April 2001 berichtet<br />
das „Sonntagsjournal“ von einer Veranstaltung mit<br />
dem Politikwissenschaftler Prof. Reinhard Kühnl im Historischen<br />
Museum Bremerhaven/Morgenstern-Museum unter<br />
dem Titel „Antisemitismus und Rassismus in den 1920er Jahren<br />
und heute“. 107 „In den vergangenen Jahren und Monaten<br />
sind die Meldungen über die Zunahme rechtsradikaler Gewalt<br />
deutlich angestiegen“, wird als das Motiv für die angekündigte<br />
Veranstaltung genannt. Wie bereits angemerkt, handelt es<br />
sich hierbei nur um einen ersten Pressespiegel und nicht um<br />
wissenschaftliche Ergebnisse einer systematischen Recherche<br />
und Analyse, denen zukünftige Untersuchungen vorbehalten<br />
bleiben.<br />
Arbeitsmigrantenkultur<br />
Einiges von dem, was die Leserinnen und Leser im Folgenden<br />
durch die Arbeits- und Lebensbiografien von Migrantinnen<br />
und <strong>Migranten</strong> erfahren werden, wird schwer nachvollziehbar<br />
sein. Warum verspielt ein ungelernter Arbeiter, von dessen<br />
Einkommen in Anatolien fünf Menschen leben und abhängig<br />
sind, alles Ersparte im Glücksspiel? Warum denken die wenigsten<br />
in politischen Kategorien, obwohl die Arbeitslosigkeit<br />
unter den <strong>Migranten</strong> etwa doppelt so hoch ist als unter den<br />
Deutschen? Warum spricht eine Türkin oder Spanierin nach 35<br />
Jahren Arbeit in Deutschland so schlecht die Landessprache,<br />
dass ein Interview nur mit Hilfe einer dolmetschenden Tochter<br />
stattfinden kann?<br />
Für uns, die wir mehrheitlich in einem modernen Industrieland<br />
aufgewachsen und gut ausgebildete Arbeiter, Arbeiterinnen,<br />
Angestellte oder Akademiker sind, kommen insbesondere in<br />
den Arbeitsmigranten- und Migrantinnenbiografien der ersten<br />
Generation kaum vorstellbare Widersprüche und biografische<br />
Brüche zusammen. Als Kind noch für einen Eimer Mehl (!) pro<br />
Saison Schafe hüten müssen, sieht ein Mann als 30jähriger in<br />
Bremerhaven seine Chance: Im Glücksspiel könnte er sein hart<br />
erarbeitetes Geld plötzlich in einer Nacht ins Gigantische steigern<br />
und mit etwas Glück aus der Not und Armut entfliehen.<br />
Leicht wäre es, an diesen <strong>Migranten</strong> den Vorwurf zu richten,<br />
warum er in den folgenden Jahren dieses gewonnene Geld<br />
und alles Ersparte leichtfertig verspielte, das seine Familie so<br />
dringend gebraucht hätte. Aber eine solche diffamierende Haltung<br />
gegenüber der Arbeitsmigrantenkultur würde nichts er-<br />
27
klären oder erhellen, sondern nur das mangelnde Vorstellungsvermögen<br />
für die Herkunfts- und Lebensbedingungen<br />
der oftmals aus absolutem Elend Emigrierten erkennen lassen.<br />
Hermann Bausinger versuchte die Distanz, die zwischen manchen<br />
<strong>Migranten</strong> und uns Nordwesteuropäern liegt, folgendermaßen<br />
begreiflich zu machen: „Im Blick auf die Zuwanderer<br />
aus der äußersten südlichen und vor allem südöstlichen Peripherie<br />
Europas ist gesagt worden, sie hätten 2000 Kilometer<br />
und ein Jahrhundert zu überbrücken. Denkt man an die<br />
Strecke bis ins Innere Anatoliens und an die dort herrschenden<br />
vorindustriellen Verhältnisse, dann sind beide Angaben<br />
noch untertrieben. Jedenfalls handelt es sich um gewaltige<br />
kulturelle Entfernungen, zumal die Immigranten ja nicht nur<br />
aus Ländern der Peripherie, sondern auch innerhalb der Entsendeländer<br />
oft aus den rückständigsten Regionen kommen.“<br />
108<br />
Aber wahrscheinlich ist auch der Druck nur schwer nachvollziehbar,<br />
der auf diesen Menschen lastet. Fast zerrissen werdend<br />
zwischen dem Elend der Familie und Verwandten in Anatolien,<br />
Sizilien 109<br />
oder Portugal, in den 1960er Jahren noch<br />
extreme Armutsregionen in Europa, oftmals unmenschlichen<br />
Arbeits- und Wohnbedingungen in Deutschland ausgeliefert<br />
und durch drohende Vorgesetzte verunsichert, wenn der<br />
Akkord nicht geschafft wird oder die Krankheitstage zunehmen,<br />
mit der Aussicht konfrontiert, in einer Nacht mit einem<br />
Spiel dem entfliehen zu können, lässt ihn den Verführungen<br />
unterliegen, die eine Hafenstadt wie Bremerhaven den Menschen<br />
anbietet. Das suggerierte Glück ist greifbar nahe. Hier<br />
wird die Spielsucht zur Flucht aus den oftmals frustrierenden<br />
und krank machenden eigenen Lebensbedingungen in Bremerhaven<br />
und dem heimatlichen Elend.<br />
28
Gespräche
Ein deutscher Flugzeugbauer türkischer Herkunft<br />
Serdar Büyükkayikci integriert sich perfekt, was bleibt, ist der Name<br />
Serdar Büyükkayikci wurde 1968 in Izmir geboren, einer Metropole,<br />
in der damals eine halbe Million Menschen lebten. Nachdem<br />
seine Eltern 1970 nach Bremerhaven emigrierten, wuchs<br />
er mit zwei seiner drei Geschwister bei der Oma auf. Sie war bis<br />
zum zwölften Lebensjahr seine Bezugsperson. Als er fünf Jahre<br />
alt war, gab es den ersten Versuch der Familienzusammenführung,<br />
und die Oma kam mit dem Jungen nach Deutschland.<br />
Aber der Versuch scheiterte daran, dass es beiden nicht gefiel<br />
und das Kind mit schlimmen Allergien auf die neue Situation<br />
reagierte. Nach zwei Jahren schickte man sie wieder nach Izmir<br />
zurück. An diese ersten zwei Jahre hat Serdar kaum noch Erinnerungen,<br />
auch nicht an die erste Klasse in der deutschen Schule.<br />
Erst 1980, Serdar hatte soeben die sechste Schulklasse<br />
beendet, als während seines Deutschlandurlaubs die Oma in<br />
Izmir starb, blieb er in Bremerhaven bei den Eltern.<br />
Serdar war jetzt zwölf Jahre alt. Da er kein Deutsch sprach,<br />
ging er ein Jahr in eine Vorbereitungsklasse für Deutschunterricht<br />
an der Paula-Modersohn-Schule in Wulsdorf und wurde<br />
in die fünfte Klasse eingeschult. Die Sprache lernte er schnell.<br />
Überhaupt war er ein guter Schüler, der in Mathematik immer<br />
auf Eins stand, aber auch in den anderen Fächern gute Noten<br />
nach Hause brachte, so dass er nach der zehnten Klasse mit<br />
der Mittleren Reife die Schule abschloss. Serdar war in all den<br />
Jahren immer der älteste Schüler in seiner Klasse und wollte<br />
jetzt endlich Geld verdienen. Deshalb kam das Abitur auch<br />
nicht mehr für ihn in Frage.<br />
Er bewarb sich bei der SEEBECKWERFT, der DEUTSCHE<br />
POST AG und FROZEN FISH INTERNATIONAL GMBH für eine<br />
Lehrstelle und bekam von allen drei Unternehmen eine Zusage.<br />
Letztlich entschied er sich für die SEEBECKWERFT. Serdar<br />
Büyükkayikci lernte zweieinhalb Jahre den Beruf des Schiffbauers.<br />
Auch die Lehre schloss er als bester Auszubildender<br />
seines Jahrgangs mit einer Eins in der Theorie und einer Zwei<br />
in der praktischen Prüfung ab. In den folgenden sieben Jahren<br />
schweißte er bei der SEEBECKWERFT Schiffsbrücken und<br />
Hinterschiffssektionen zusammen.<br />
Serdar Büyükkayikci am Arbeitsplatz bei AIRBUS in<br />
Nordenham im April 2005 (Mareike Schreuder)<br />
Laut Berufsgenossenschaft ist der Beruf des Schiffbauers mit<br />
anderen Berufen in der höchsten Gefahrenklasse eingruppiert.<br />
Tödliche Unfälle kommen bis heute auf Werften vor. Auch Serdar<br />
hat einen Schwager durch einen Unfall verloren und war<br />
selber auch einmal abgestürzt. Er hatte Nachtschicht und war<br />
abgelenkt, als er von der Leiter die Hinterschiffssektion betrat.<br />
Das Loch war für ihn unsichtbar. Jedenfalls kann er sich an<br />
nichts mehr erinnern. Er hatte Glück und kam mit einer Schul-<br />
Serdar Büyükkayikci als Schiffbauer auf der SEEBECKWERFT<br />
(Serdar Büyükkayikci)<br />
127
terverletzung und Prellungen davon. Aber seitdem hatte er<br />
einen großen Respekt vor der Unfallgefahr und wollte nach<br />
dem Tod seines Schwagers gar nicht mehr auf der Werft weiterarbeiten.<br />
Außerdem war man im Freien Wind, Regen,<br />
Schnee und Eis ausgesetzt, was den Beruf noch gefährlicher<br />
machte. Eine Schiffbauhalle gibt es in Bremerhaven nicht.<br />
Irgendwann war dann im Hinterkopf nur noch der Gedanke:<br />
Bloß weg hier! Aber wenn man den Beruf schon zehn Jahre<br />
macht und eine Familie hat, kann man ihn nicht so einfach<br />
aufgeben. Im Nachhinein gesehen waren die Werftenkrise und<br />
der Konkurs der SEEBECKWERFT, bei dem die Arbeitsplätze<br />
von über 2000 Beschäftigten auf etwa 650 reduziert wurden,<br />
für ihn von Vorteil. Während viele Kollegen entlassen wurden,<br />
wollte die Werft nicht auf ihn verzichten und übernahm Serdar<br />
Büyükkayikci in die Auffanggesellschaft. Aber die Zeiten wurden<br />
nicht besser für den Schiffsneubau. Die Belegschaft verzichtete<br />
zwar auf die Bezahlung der Überstunden und leistete<br />
weitere unbezahlte Arbeit, wurde aber nur noch ausgenommen,<br />
und Serdar sah keine Perspektive mehr in dieser Branche.<br />
Er wollte sich die Chance für einen Neuanfang in einem<br />
weniger gefährlichen und zukunftssicheren Beruf verschaffen.<br />
Zukunftsbranche Flugzeugbau<br />
Serdar Büyükkayikci bewarb sich bei den BREMER STAHL-<br />
WERKEN, bei MERCEDES-BENZ in Bremen und bei der Firma<br />
AIRBUS DEUTSCHLAND GMBH in Nordenham. Von allen drei<br />
Unternehmen bekam er eine Zusage für einen neuen Arbeitsplatz.<br />
Die längere Probezeit von sechs Monaten bei MERCE-<br />
DES-BENZ und der kürzere Arbeitsweg nach Nordenham auf<br />
der anderen Weserseite, aber in Sichtweite von Bremerhaven,<br />
ließen ihn sich für das Airbusunternehmen entscheiden. Trotz<br />
dass er jetzt als Berufsfremder in seinen neuen Beruf des Fluggerätemechanikers<br />
einstieg, war sein Verdienst schon höher<br />
als noch auf der Werft.<br />
Eine neue Ausbildung musste er nicht machen, zumal es Ähnlichkeiten<br />
in den Kenntnissen beider Berufe gibt. Das räumliche<br />
Vorstellungsvermögen war im Schiffbau schon sehr gut<br />
geschult worden, um die technischen Zeichnungen lesen zu<br />
können. Auch der Aufbau eines Flugkörpers und die Begriffe<br />
der Bauteile wie Spanten und Träger sind überraschenderweise<br />
nicht so weit von einem Schiffskörper entfernt. Serdar<br />
wurde von einem älteren Kollegen in der Produktion des Flugzeugrumpfes<br />
eingearbeitet.<br />
Wie bei einem Puzzle werden die einzelnen Rumpfschalen<br />
zusammengestellt und vom Automaten genietet. Was die<br />
automatische Nietanlage nicht erreicht, wird anschließend<br />
von Hand gemacht, genauso wie die Halterungen handgenietet<br />
werden, die später die elektrischen Leitungen und Geräte<br />
aufnehmen oder die Fensterrahmen. Dabei schießt Serdar<br />
oder einer der Kollegen von außen mit dem Presslufthammer<br />
das Aluniet, während ein zweiter von innen mit dem Vorhalteeisen<br />
gegenhält. Eigentlich ist das Prinzip das selbe wie das<br />
Nieten von Stahlplatten im Schiffbau vor 80 Jahren, nur dass<br />
die meisten Produktionsschritte bei AIRBUS automatisiert<br />
sind, statt Stahl Aluminium und Kohlefaser verarbeitet werden<br />
und die Arbeitsbedingungen wesentlich angenehmer sind.<br />
Nur der Lärm während des Nietens ist noch derselbe und lässt<br />
die Arbeiter Gehörschutz tragen. Die fertigen Rumpfschalen<br />
werden mit Containern ins AIRBUS-Werk nach Hamburg weitertransportiert,<br />
wo sie zu Rumpftonnen vernietet werden.<br />
In einer beheizten, hellen und, da wo die modernen Nietautomaten<br />
stehen, relativ lärmgedämpften Halle arbeitet Serdar<br />
Büyükkayikci jetzt schon seit sieben Jahren. Nach den neuesten<br />
ergonomischen Erkenntnissen sind die Arbeitsplätze eingerichtet,<br />
so dass die Produktionsarbeiter keine bzw. möglichst<br />
selten gesundheitsgefährdende Arbeitshaltungen einnehmen<br />
müssen.<br />
Bei AIRBUS würde kein Mensch auf die Idee kommen zu<br />
sagen, dass die inzwischen mehr als 60 Arbeiter türkischer<br />
Herkunft 127 nicht gut arbeiten würden. Danach befragt, was er<br />
von dem Urteil eines deutschen Schiffbauers hält, nach dem<br />
die türkischen Schiffbauer auf den Werften nicht genauso gut<br />
arbeiteten, ist die Antwort für den Autor sehr überraschend.<br />
Serdar zögert und denkt kurz nach: „Und ich kann [er lacht]<br />
Ihren [Informanten] auch verstehen. Das stimmt!“ Er erklärt,<br />
dass die meisten auf den Werften als Schiffsschweißer arbeitenden<br />
Türken keine Ausbildung haben. Sie hätten inzwischen<br />
vielleicht eine zehn- oder zwanzigjährige Berufserfahrung,<br />
aber richtige Schiffbauer seien das nicht. „Und die meisten,<br />
also ich kann sagen 90 %, konnten auch keine Zeichnung<br />
lesen. [...] Die meisten, die da arbeiten, das sind keine Schiffbauer!<br />
Die ganzen Leihfirmen, die holen hier die Leute aus den<br />
Kneipen oder Cafés, und dann stellen sie die da als Schiffbauer<br />
ein oder als Schweißer. Aber das sind gar nicht Ausgebildete,<br />
sage ich mal. Oder einige sind Leute, die noch nie ein<br />
Schiff gesehen haben oder noch nie Schiffbauer waren. Und<br />
das ist wirklich so! Aber die Leute können nichts dafür! [Er<br />
128
ist ja in Ordnung, aber die andern! Ja, immer die andern. Also<br />
sind wir alle schlecht sozusagen. Das wird sich auch niemals<br />
ändern, glaube ich nicht! [...] Ja, klar, fühle ich mich angegriffen!<br />
Aber ich kann nicht jedes Mal dagegen angehen! Das sitzt<br />
bei den Leuten im Kopf, und das wird sich nicht ändern! Solche<br />
Sprüche muss man sich immer anhören! Wirklich!<br />
Immer!“<br />
Nach der Arbeit<br />
Serdar Büyükkayikci und ein Arbeitskollege beim Nieten von<br />
Schalenteilen eines Airbus-Flugzeuges (Mareike Schreuder)<br />
lacht.] Die wollen arbeiten. [...] Wenn ich arbeitslos bin und da<br />
kommt einer an und sagt, möchtest du arbeiten? Ja! Hier, als<br />
Schiffbauer kannst anfangen. Ja, o. k., da mach ich das!“<br />
Aber es gibt den Unterschied zwischen denjenigen, die ein<br />
Urteil über türkische Arbeiter aufgrund von tatsächlichen<br />
Beobachtungen abgeben, und denen, die „dumme Sprüche“<br />
über Ausländer machen. „Aber das hat man überall“, ist Serdars<br />
frustrierende Erfahrung. „Das hat man, das wird sich<br />
auch niemals ändern, glaube ich. [...] Ja, wenn man jetzt zusammensitzt<br />
in der Pause, da schimpfen die über Ausländer<br />
oder Türken oder so, und meistens heißt es, ja, aber du bist ja<br />
o. k. Mit dir ist ja alles klar, aber die andern, die andern. Immer<br />
die andern! Aber die wollen das nicht kapieren: Wenn die<br />
sagen, die andern, mit den andern meinen sie vielleicht meinen<br />
Vater, meine Mutter, meine Geschwister. Und meine<br />
Schwester sagt das auch immer bei ihr auf der Arbeit. Ja, du<br />
Zwar sind es mit Hin- und Rückfahrt auch elf Stunden, die er<br />
aus dem Haus ist, aber trotz Drei-Schicht-Betrieb bleibt Zeit<br />
genug für Hobbys und Familie. Bis vor zwei Jahren hat Serdar<br />
immer noch Fußball gespielt. Angefangen beim TSV Wulsdorf,<br />
spielte er später bei der FTG im Bürgerpark und beim OSC Bremerhaven.<br />
Dann boxte er zwischendurch sechs Jahre beim<br />
TSV Lunestedt. Bis vor zwei Jahren spielte er noch einmal<br />
beim Kultur- und Sportverein Anadolu Fußball. Heute macht er<br />
immer noch Krafttraining und geht bestimmt viermal die<br />
Woche ins Fitnessstudio. Er bringt auch seinen Sohn, der<br />
beim BSC Grünhöfe Fußball spielt, zum Training oder schaut<br />
bei dessen Spiel zu. Oft gehen die beiden auch gemeinsam<br />
zum Schwimmen oder zum Einkaufen. Mit seiner kleinen<br />
Tochter unternimmt er noch nicht so viel, außer man macht<br />
einen gemeinsamen Spaziergang in der Stadt. Die ist ihm<br />
noch „zu quaddelig“.<br />
„Es wird immer ein Schuldiger gesucht!“<br />
Serdar Büyükkayikci ist sich sicher, dass die erste Generation<br />
Arbeitsmigranten es zwar nicht leichter hatte, aber doch nicht<br />
so diskriminiert wurde wie die zweite. Man braucht einen<br />
Schuldigen, um die Krise zu erklären. „Ja, die erste Generation,<br />
die hat man akzeptiert, wie sie ist, obwohl sie kein<br />
Deutsch gekonnt hat, obwohl die neu in Deutschland und<br />
fremd in Deutschland war. Die hat man irgendwie so akzeptiert.<br />
Aber die zweite, uns, ich weiß nicht, vielleicht kommt es<br />
auch daher, weil es nach einer Zeit zu viele wurden, zu viele<br />
Ausländer in Deutschland. [...] Und dann die Arbeitslosigkeit<br />
stieg. [...] Ja, das ist es! Die Arbeitslosigkeit stieg, und dann<br />
hat man eben einen Schuldigen gesucht. Und das sind wir.<br />
Und jetzt, wie ich das so jetzt mitkrieg, sind das die Russen<br />
und die Polen. Jetzt schimpft man nicht mehr also überwiegend<br />
über Türken, sondern über Russen und Polen. [Ach<br />
129
echt?] Überall, wo ich hinhör, [ja?] über Russen und Polen.<br />
Wirklich! Diskotheken zum Beispiel: ‚Oh, da sind ja nur Russen<br />
und Polen.’ Gab’s Schlägerei: Wieder die Russen. Bestimmt<br />
Russen oder Polen! Früher hat man immer gesagt, die Türken.<br />
Letztens hab ich auf der Fahrt zur Arbeit einen Arbeitskollegen<br />
angesprochen, ich sag: Es hat eine russische Diskothek eröffnet,<br />
da würde ich gerne mal hingehen! Mal gucken, wie das<br />
so ist. Was? [Er macht die empörte Reaktion nach.] Du spinnst<br />
doch! Da sind doch nur Russen! ‚Da würde ich doch niemals<br />
hingehen! Da gibt’s doch bestimmt Schlägerei und so!’ Ich<br />
sag: ‚Das kannst du doch gar nicht beurteilen! Du warst ja<br />
noch nie da!’ [Genau!] Aber immer solche Sachen.“ 128<br />
Soziale und kulturelle Integration<br />
Serdar Büyükkayikci würde von sich selber sagen, dass er es<br />
auf eine Art schwerer hatte als noch seine Eltern. Man hatte<br />
den Verhaltenserwartungen der eigenen Eltern, der türkischen<br />
Community in Bremerhaven und der Aufnahmegesellschaft<br />
gleichzeitig zu genügen. Damit waren Anpassungs- und Integrationsleistungen<br />
an mehrere Kulturen in Übereinstimmung<br />
zu bringen. „Also ich kann das jetzt für mich sagen, ich hab’s<br />
wirklich schwer gehabt. [...] Wir standen damals unter der<br />
Obhut unserer Eltern. Unsere Eltern, die haben eine ganz<br />
andere Mentalität gehabt. Und da mussten wir uns anpassen,<br />
an unsere Eltern und an die deutsche Gesellschaft, und da<br />
standst du zwischendrin, mittendrin!“<br />
Aber es waren nicht nur kulturelle Unterschiede, es konnte<br />
ebenso die eigene soziale Schichtzugehörigkeit zu Problemen<br />
führen. „Ich bin zur Schule gegangen. Meine Eltern wollten<br />
zum Beispiel nicht, dass ich auf Klassenfahrt gehe. Und bei<br />
Mädchen damals war das ja noch schlimmer. […] Die durften<br />
ja überhaupt nicht.“<br />
Frage: „Wovor hatten die Angst, die Eltern?“<br />
S. B.: „Wegen, also überwiegend wegen Schweinefleisch.“ (Er<br />
lacht.)<br />
Frage: „Ach so, na das kann ich natürlich verstehen. Naja,<br />
o. k.“<br />
S. B.: „Und bei Mädchen war das eben halt so ...“<br />
Frage: „Jungs?“<br />
S. B.: „... Jungs. Und jetzt hat sich das alles geändert! Jetzt bei<br />
der dritten Generation ...“<br />
Frage: „Waren Sie denn sauer, wenn Sie nicht mitdurften?“<br />
S. B.: „Klar!“<br />
Frage: „Und haben die Lehrer dann drauf Rücksicht genommen<br />
und auch drauf geachtet, dass es eben kein Schweinefleisch<br />
gab? War das damals schon so in Deutschland, dass<br />
man darauf Rücksicht genommen hatte?“<br />
S. B.: „Jaja, doch, haben sie. Die haben das auch ... Meine<br />
Lehrer, die waren auch ein paar Mal bei meinen Eltern und<br />
haben gesagt: Ja, wieso nicht? Weshalb kommt der nicht?<br />
Aber wir waren damals zu dritt, also meine jüngste Schwester,<br />
die war ja noch gar nicht auf der Welt, aber drei Kinder zur<br />
Schule, ich weiß nicht. Vielleicht war es für meine Eltern auch<br />
nicht möglich, jetzt alle drei auf Klassenfahrt zu schicken und<br />
finanziell auch nicht. [...] Das muss man auch berücksichtigen.<br />
Und dadurch hat man auch, schätz ich mal, Schwierigkeiten<br />
gehabt, sich anzupassen oder mit den anderen jetzt besser in<br />
Kontakt zu kommen.“<br />
Frage: […] „Gab’s denn mit den Eltern Konflikte im Laufe der<br />
Jahre?“<br />
S. B.: „Ja, klar!“<br />
Frage: „Jetzt nicht nur wegen Schule oder was?“<br />
S. B.: „Wegen Schule, wegen Klamotten, wegen Ausgehen,<br />
wegen alles eigentlich.“<br />
Frage: „Und Ihre Schwestern, hatten die auch Konflikte mit<br />
Ihren Eltern?“<br />
S. B.: „Die hatten noch mehr Konflikte.“<br />
Frage: „Worüber die?“<br />
S. B.: „Ja, auch wegen Ausgehen, die durften ja sowieso nicht<br />
ausgehen, nein! Klamotten, und die konnten nicht das anziehen,<br />
was sie wollten. Also was weiß ich, Minirock oder irgendwie<br />
so was. Das war in unserer Zeit wirklich schlimm, sehr<br />
streng. Aber wenn man jetzt die türkischen Mädchen draußen<br />
sieht, die sind viel freizügiger.“<br />
Frage: „Und wie sehen Ihre Eltern das heute?“<br />
S. B.: „Die sehen das auch lockerer. [Aha.] Jaja. Die sehen das<br />
auch lockerer. Meine Nichte zum Beispiel, die wohnt unter<br />
mir, die ist jetzt 16, die ist auch freizügiger. Die kann anziehen,<br />
was sie will. Und meine Eltern, die haben auch nichts dagegen.<br />
Also, die sagen auch nichts. Die sehen das viel lockerer<br />
jetzt. Naja, die lernen auch dazu, sag ich mal, oder die passen<br />
sich auch langsam an.“<br />
Es waren nicht immer kulturelle Unterschiede, die eine Teilnahme<br />
an Schulaktivitäten verhinderten. Serdar nimmt an,<br />
dass bei drei Kindern auch die knappen Finanzen die Beteiligung<br />
an Klassenfahrten verhinderten.<br />
Serdar ist sich sicher darin, dass keine der beiden Seiten,<br />
130
Serdar Büyükkayikci mit Vater, Schwester, Oma (von links)<br />
und unbekannten Personen (Serdar Büyükkayikci)<br />
weder die erste Generation türkischer Arbeitsimigranten noch<br />
die Deutschen, sich bemüht hatten, aufeinander zuzugehen<br />
und sich kennen zu lernen. In seiner, der zweiten Generation,<br />
geht das schon etwas besser, ist er überzeugt. Aber die dritte<br />
Generation ist schon so „eingedeutscht“, da kann man nicht<br />
mehr von hundertprozentigen Türken sprechen. Sein eigener<br />
achtjähriger Sohn beispielsweise „spielt Fußball, der geht<br />
schwimmen, in der Schule hat er nur deutsche Freunde“. Sein<br />
Sohn besucht seine vorwiegend deutschen Freunde und auch<br />
andersherum und darf auch bei denen übernachten. Für Serdar<br />
gab es das noch nicht.<br />
Die Diskussionen in Deutschland um Integration hält Serdar<br />
für richtig und notwendig. Er war selber damals sehr isoliert<br />
von der deutschen Bevölkerung, als er zwischen 1980 und<br />
1988 im Krummenacker in Wulsdorf aufwuchs. Er spielte zu<br />
der Zeit nur mit türkischen Kindern. Erst kürzlich traf er einen<br />
seiner Freunde aus der Zeit wieder und war ganz frustriert darüber,<br />
dass der nach 20 Jahren in Deutschland immer noch<br />
nicht richtig deutsch spricht und nicht einmal ein deutsches<br />
Formular lesen kann, obwohl er hier zur Schule gegangen ist.<br />
Die Ursache dafür sieht er in diesen Wohngettos, die man<br />
abschaffen müsste.<br />
Als die Häuser der Siedlung aus seiner Kindheit abgerissen<br />
und 14 Grundstücke zum Kauf angeboten wurden, interessierte<br />
er sich auch dafür. Seine Bank bot ihm eins der noch<br />
freien Grundstücke an. Während des Beratungsgespräches<br />
erfuhr er, dass von den 14 Grundstücken bereits elf verkauft<br />
und neun der Käufer Türken sind. Konsequent zieht er sein<br />
Interesse zurück, weil er aus Gründen der Integration will,<br />
dass seine Kinder in ethnisch gemischtem Wohngebiet aufwachsen.<br />
„Da muss ich Ihren Politikern Recht geben, diese<br />
Gettos, die muss man abschaffen, sonst klappt das nicht.“<br />
Serdar achtet darauf, dass sein Sohn sowohl mit deutschen<br />
als auch mit türkischen Kindern spielt. Dabei ist er sich sicher,<br />
dass es für ihn besser ist, wenn er mit deutschen Kindern<br />
spielt. „Da lernt er auch besser Deutsch, dann lernt er die Kultur<br />
besser kennen. Der soll ja jetzt nicht unsere Kultur vergessen,<br />
der soll das nicht alles aufgeben. Das will ich ja auch<br />
nicht. Aber er muss sich auch ein bisschen anpassen, und da<br />
wird man auch ein bisschen besser anerkannt.“<br />
Er versucht seinen Kindern die türkische Kultur und den muslimischen<br />
Glauben zu vermitteln, aber dogmatisch wird das in<br />
der Familie nicht praktiziert. Serdar glaubt an Allah, aber er<br />
lacht auch verschmitzt, als er zugibt, Alkohol zu trinken. Aber<br />
die Regeln und Rituale sollen die Kinder kennen.<br />
Zu Hause spricht seine Ehefrau Gül, die in Deutschland geboren<br />
wurde, mit den beiden Kindern meistens deutsch,<br />
während er mit ihnen türkisch spricht. Zu Weihnachten werden<br />
bei der Familie Büyükkayikci Lichterketten aufgehangen,<br />
und es gibt Geschenke und einen Nikolaus aus Schokolade.<br />
Genauso lernen die Kinder auch den muslimischen Fastenmonat<br />
Ramadan kennen, und Serdar nimmt seinen Sohn mit in<br />
die Moschee zum Beten und erklärt ihm alles. „Der soll beides<br />
mal kennen lernen. Der soll unsere Kultur nicht vergessen,<br />
aber der soll das auch hier mitmachen. Weil, ich hab nichts<br />
davon, wenn ich ihm verbiete, irgendwie Weihnachten zu feiern.<br />
In der Schule erzählen sie: Du, ich hab zu Weihnachten<br />
das und das gekriegt, dies und jenes. Und du? Ja, wir haben<br />
früher nichts gekriegt. Und da stand ich da! [...] Ja, ich hab<br />
nichts gekriegt.“<br />
Serdar heiratet<br />
Mit 23 Jahren, als Serdar und seine Frau Gül heirateten, zog er<br />
bei den Eltern aus. Die waren dem Sohn schon einige Zeit mit<br />
dem Thema Heiraten auf die Nerven gegangen und hatten ihm<br />
Frauen nahe gelegt, die doch in Frage kämen. „Du musst jetzt<br />
heiraten, du bist 22! Du verdienst jetzt dein eigenes Geld! Das<br />
ist jetzt so weit! [...] Immer wieder. Hier, wie wär’s denn mit<br />
131
Familie Büyükkayikci auf der Geestemole im Mai 2005 (Mareike Schreuder)<br />
der? Was ist mit ihr da? Die wär doch was für dich?“ (Er lacht.)<br />
Dem jungen Mann war das Thema aber eher lästig. Eines<br />
Tages waren seine spätere Frau und deren Mutter bei seinen<br />
Eltern zu Besuch. Der junge Mann war zufällig zu Hause und<br />
sah auch Gül. Seinen Schwestern erzählte er später, dass ihm<br />
die junge Frau gefallen hätte, und die Schwestern wiederum<br />
teilen das den Eltern mit. Bei gemeinsamen Bekannten informierte<br />
man sich jetzt über die Familie und ließ anfragen, ob<br />
man gerne gesehen wäre, falls man um die Hand der Tochter<br />
anhalten würde. Und schon bald kündigte sich das Ehepaar<br />
Büyükkayikci mit ihrem Sohn zum Besuch an. Offiziell hielt der<br />
Vater um die Hand seiner potentiellen Schwiegertochter an<br />
und führte das Gespräch. „Ich muss mal mit meiner Tochter<br />
reden, hat er [der Vater der späteren Braut] dann gesagt.<br />
Wenn sie o. k. sagt, dann hab ich auch nichts dagegen. Ja,<br />
dann haben wir uns einmal, glaube ich, zusammengesetzt mit<br />
ihr, und da haben wir gesprochen, wie wir uns das vorstellen.“<br />
Verloben und heiraten gingen danach schnell, sagt Serdar und<br />
132
lacht etwas verlegen. Er kannte seine Frau vorher nur vom<br />
Sehen. Sie waren weder zusammen im Kindergarten noch auf<br />
der selben Schule gewesen. Auch aus der Disko kannten sie<br />
sich nicht. „Tanzschule gibt’s nicht, Disko sowieso nicht. Die<br />
Mädchen, die gehen ja nicht in die Disko. Ich meine, heutzutage<br />
ja, aber damals, zu meiner Zeit gab’s das nicht.“<br />
Frage: „Aber ich stelle mir das schwierig vor, wie soll man<br />
denn überhaupt eine Frau kennen lernen?“<br />
S. B.: „Ja, später, wenn man verheiratet ist, soll man sich kennen<br />
lernen.“ (Er lacht.)<br />
Kulturelle Identität<br />
So wie die deutschen Kinder mit ihren Eltern umgingen, das<br />
hatte er nicht aus der Türkei gekannt. Widerworte gegen die<br />
eigenen Eltern, das gab’s für Serdar auch nicht. Und Alkohol<br />
würde er auch heute nicht in Anwesenheit des Vaters trinken.<br />
Das ist einfach eine Frage des Respekts. „Nein. Also dürfte ich<br />
vielleicht jetzt schon, aber ich mach das nicht aus Respekt.<br />
Das macht man nicht. Und bei den Deutschen war das halt<br />
anders. Die haben anders mit ihren Eltern gesprochen. Die<br />
haben sie angeschrien. Ich kann meinen Eltern jetzt immer<br />
noch nicht widersprechen. [...] Und das war mir da fremd. Und<br />
das war auch viel lockerer, die Beziehung zwischen deutschen<br />
Eltern zu den Kindern. Unsere Eltern, die waren ja viel strenger.<br />
Das war irgendwie jetzt fremd für mich.“<br />
„Also solche Sprüche findet man immer wieder. Aber man<br />
kann machen, was man will. Ich bin hier groß geworden, sag<br />
ich mal, o. k., ich bin mit zwölf Jahren hergekommen, aber ich<br />
bin jetzt seit 25 Jahren hier. Ich bin hier groß geworden. Ich<br />
bin hier zur Schule gegangen. Ich hab hier gelernt. Ich arbeite<br />
hier. Ich habe den deutschen Pass. Alles! Aber ich bin immer<br />
noch Ausländer! Ich bin immer noch Türke! Und so werde ich<br />
auch angesehen! Und ich kann machen, was ich will, das wird<br />
sich nicht ändern. Früher haben unsere Eltern diese VW-Busse<br />
gefahren, meistens. Die meisten Türken, die haben VW-Busse<br />
gefahren. [Ford Transit!] Und Ford Transit. Da haben sie uns<br />
ausgelacht. Ja, die Türken, die fahren immer Ford, die fahren<br />
immer Ford und dies und jenes. Da wurden immer so dumme<br />
Sprüche gelassen. Und guckt man sich heute um, 90 % der<br />
Türken, die fahren Mercedes oder BMW. Und da wird man<br />
immer noch angemacht! Ah, die Türken, die fahren sowieso<br />
immer Mercedes oder BMW. Man kann machen, was man<br />
will, man wird blöd angemacht. Und das wird auch so bleiben.<br />
Und ich glaub, ich hab mich damit abgefunden. [Er lacht.]<br />
Das ist so. Und man kann das nicht ändern. Entweder muss<br />
man sich ein bisschen besser kennen lernen ...<br />
Das war ja damals bei meiner Freundin auch so. Ich hab ne<br />
Freundin gehabt mit 18, wir waren mehrere Jahre zusammen,<br />
ihre Eltern waren nicht einverstanden, obwohl sie mich nicht<br />
kannten.“<br />
Frage: „Eine deutsche Freundin?“<br />
S. B.: „Eine deutsche Freundin. O. k., meine Eltern haben<br />
nichts dagegen gehabt, aber ich durfte sie nicht mit nach<br />
Hause nehmen. Das war so bei uns. Das hat man nicht gerne<br />
gesehen. Die wussten, dass ich ne deutsche Freundin habe,<br />
o. k., aber draußen! Aber ihre Eltern, die wollten das nicht.<br />
Und da sie ja schon auch 18 war, haben sie auch gesagt, o. k.,<br />
du bist 18, mach, was du willst, aber er kommt hier nicht<br />
hoch! Ich durfte sechs oder sieben Monate nicht zu ihr nach<br />
Hause in die Wohnung. Da haben wir uns immer draußen<br />
getroffen. Und da haben sie irgendwann einmal gesagt: ‚Du,<br />
bevor ihr euch da irgendwo rumtreibt, bring ihn hoch.’ Und da<br />
haben sie mich kennen gelernt. Und da waren wir die besten<br />
Freunde! Wir haben jetzt immer noch guten Kontakt zueinander.<br />
Man muss sich nur besser kennen lernen, das ist wichtig!<br />
Man kann nicht von Anfang an sagen, das ist ein Türke, den<br />
will ich gar nicht haben, oder umgekehrt auch. [...] Und um<br />
das zu schaffen, das sagte ich ja eben, diese Gettos, die muss<br />
man abschaffen. Wenn die Leute immer untereinander sind,<br />
dann werden sie auch untereinander bleiben. Da kommen die<br />
da nämlich gar nicht raus. [...]“<br />
133