MARXISMUS & GEWERKSCHAFTEN - MARX IS MUSS 2013
MARXISMUS & GEWERKSCHAFTEN - MARX IS MUSS 2013
MARXISMUS & GEWERKSCHAFTEN - MARX IS MUSS 2013
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<strong><strong>MARX</strong><strong>IS</strong>MUS</strong> &<br />
<strong>GEWERKSCHAFTEN</strong><br />
theorie21<br />
KÄMPFEN<br />
IN DER<br />
KR<strong>IS</strong>E!<br />
Erneuerung<br />
durch<br />
Streik!<br />
die eigene<br />
Macht nutzen!<br />
ABER WIE?<br />
BÜROKRATIE<br />
VS. BAS<strong>IS</strong>?
<strong><strong>MARX</strong><strong>IS</strong>MUS</strong> &<br />
<strong>GEWERKSCHAFTEN</strong><br />
theorie21
Die deutsche Bibliothek – CIP – Einheitsaufnahme –<br />
Marxismus und Gewerkschaften / mit Beiträgen von Nils Böhlke, Joseph Choonara,<br />
Bill Dunn, Heiner Dribbusch, Jürgen Ehlers, Frank Renken, Volkhard Mosler,<br />
et. al. / theorie21 (1/<strong>2013</strong>) / 2. Jahrgang / Nr. 3<br />
– 1. Aufl. – Frankfurt am Main <strong>2013</strong>, <strong>IS</strong>BN 978-3-934536-48-7<br />
Impressum<br />
1. Auflage Frankfurt am Main, <strong>2013</strong><br />
© Verein für Geschichte und Zeitgeschichte der Arbeiterbewegung e.V. (VGZA<br />
e.V.), Frankfurt am Main – edition aurora –<br />
Übersetzungen aus dem Englischen: Rosemarie Nünning, David Paenson,<br />
David Meienreis, Jan-Peter Herrmann<br />
Typografie, Satz und Druck: Yaak Pabst, David Paenson<br />
Umschlaggestaltung: Yaak Pabst<br />
Redaktion: Stefan Bornost, Klemens Braun, Mona Dohle, Michael Ferschke, Leandros<br />
Fischer, Jan Maas, David Meienreis, Volkhard Mosler, Rosemarie Nünning,<br />
Yaak Pabst, Frank Renken, Paul Severin, Thomas Walter, Luigi Wolf<br />
Redaktionskontakt: luigiw@gmx.net<br />
Abonnement: theorie21 erscheint zwei Mal im Jahr. Das Abo kostet 6,50 Euro<br />
(Normal-Abo) bzw. 10,00 Euro (Förder-Abo) pro Ausgabe inkl. Versandkosten.<br />
Kontakt und Abonnement: edition.aurora@yahoo.de<br />
Vertrieb: VGZA e.V., Wolfsgangstraße 81, 60322 Frankfurt am Main<br />
edition.aurora@yahoo.de, www.edition-aurora.de<br />
<strong>IS</strong>BN: 978-3-934536-48-7
Inhaltsverzeichnis<br />
Editorial...................................................................................................................5<br />
Der aufhaltsame Abstieg......................................................................................7<br />
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung ....................................................31<br />
Von Führung und Basis......................................................................................79<br />
Gewerkschaften bei Marx und Engels...........................................................101<br />
Die Arbeiterklasse heute..................................................................................119<br />
Globalisierungsmythen und die »New Economy«......................................139<br />
Streiks in Deutschland – ein neuer Aufschwung?.......................................165<br />
Demokratisierung von Streiks<br />
– Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit....................................................175<br />
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse................................................191<br />
Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit................................................................237<br />
Die Klassenkämpfe in Europa........................................................................267<br />
Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand......................................303<br />
Zu Theorie, Geschichte und Funktion des Rassismus...............................319<br />
Nützt Rassismus den »weißen« Arbeitern?...................................................331<br />
Autorenangaben................................................................................................339
Editorial<br />
Gewerkschaften am Scheideweg<br />
Zustand, Wesen und Strategie der Gewerkschaften ist ein komplexes und vielschichtiges<br />
Thema. Deshalb hat sich die theorie21-Redaktion entschlossen, ihren<br />
Hauptbeitrag zur Gewerkschaftsfrage im Folgenden in drei Beiträge mit unterschiedlicher<br />
Fragestellung und Schwerpunktsetzung aufzuteilen. Doch es gibt ein<br />
großes verbindendes Element: Wir denken, Marx hatte Recht, als er sagte, dass<br />
Menschen ihre eigene Geschichte machen, aber nicht unter selbst gewählten<br />
Umständen. Auf unser Thema bezogen heißt das: Gewerkschaften handeln unter<br />
Rahmenbedingungen, die sie oft wenig bis gar nicht beeinflussen können –<br />
den Zustand der Weltwirtschaft etwa. Sie handeln in einem rechtlichen und politischen<br />
Rahmen, der, zum Guten wie zum Schlechten, Ergebnis vorheriger Auseinandersetzung<br />
ist und nicht einfach außer Kraft gesetzt werden kann. Das für<br />
Deutschland kennzeichnende Betriebsratswesen ist zum Beispiel eine unverrückbare<br />
Tatsache des politischen Lebens und des betrieblichen Alltags. Eine konkrete<br />
Analyse muss diese Rahmenbedingungen erfassen.<br />
Gleichzeitig sind Gewerkschaften Akteure, sie handeln innerhalb dieser Rahmenbedingungen<br />
und können sie wiederum, zum Guten wie zum Schlechten, in<br />
Teilen verändern. Die Rede von »den Gewerkschaften« ist schon viel zu ungenau<br />
– innerhalb der Gewerkschaften gibt es verschiedene Akteure: unterschiedliche<br />
Flügel der gewerkschaftlichen Führungen mit unterschiedlichen Strategien, engagierte<br />
Basisaktivisten, politische Akteure wie Parteien, die sowohl in Führungen<br />
wie an der Basis repräsentiert sind.<br />
Dieses Spannungsfeld zwischen Rahmenbedingungen, Handeln und Ändern<br />
wollen wir hier ausloten. In unserem ersten Beitrag stellt theorie21-Redakteur<br />
Volkhard Mosler den Weg in die gegenwärtige Misere dar. Der nächste Beitrag<br />
von Luigi Wolf befasst sich mit den Gegenkräften – den Potenzialen für eine gewerkschaftliche<br />
Erneuerung, wie sie jetzt schon existieren und entwickelt werden<br />
können. Zum Abschluss nähern wir uns dem Wesen der Gewerkschaften und<br />
den Möglichkeiten ihrer Veränderung auf theoretischer Ebene, in einer Darstellung<br />
von und Auseinandersetzung mit marxistischer Theorie zu den Gewerkschaften.<br />
Wir hoffen, dass diese Beiträge in Kombination einige neue Impulse zu<br />
einer dringend notwendigen Debatte geben können.<br />
In seinem Beitrag zu Gewerkschaften bei Marx und Engels arbeitet Frank Renken<br />
heraus, wie eng die Theorieentwicklung mit dem jeweiligen Zustand der Ar-
eiterbewegung verflochten ist und welche Konsequenzen dies für eine marxistische<br />
Gewerkschaftstheorie hat.<br />
Sei es nun das »Ende der Arbeitsgesellschaft« oder die Entdeckung der »Multitude«<br />
– bis jetzt hat jede Generation ihre Version des »Abschieds vom Proletariat«<br />
hervorgebracht. Nils Böhlke, Mitarbeiter im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen<br />
Institut (WSI), macht eine Bestandsaufnahme der Arbeiterklasse<br />
heute.<br />
»Dann verlagern wir nach …« ist wohl einer der gewichtigsten Drohungen, die<br />
in den letzten 15 Jahren immer wieder in Kämpfen um Arbeitsplätze ausgesprochen<br />
wurde. Bill Dunn überprüft in seinem Beitrag gängige Mythen der Globalisierung<br />
und der New Economy.<br />
Im Interview mit der Theorie21-Redaktion geht Dr. Heiner Dribbusch, Arbeitskampfexperte<br />
des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-<br />
Böckler-Stiftung, der Frage nach, ob wir es mit einem neuen Aufschwung von<br />
Klassenauseinandersetzungen in Deutschland zu tun haben.<br />
Die Forderung nach Demokratisierung von Streikbewegungen erhebt Bernd<br />
Riexinger, Vorsitzender der LINKEN und ehemals Geschäftsführer bei ver.di<br />
Stuttgart. Wir dokumentieren seine Rede auf der Konferenz »Erneuerung durch<br />
Streik«, die am 1.–3. März in Stuttgart über 500, vor allem junge Aktive aus den<br />
Gewerkschaften angezogen hat.<br />
Mit der Initiative zur 30-Stundenwoche von Heinz Jürgen Bontrop und anderen<br />
wird Arbeitszeitverkürzung als gewerkschaftliche Strategie gegen die Massenarbeitslosigkeit<br />
wieder in Gewerkschaften diskutiert. Grund genug für Jürgen<br />
Ehlers, sich mit den großen Anläufen zur Einführung einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung<br />
Ende der 1970er und Mitte der 1980er Jahre zu beschäftigen.<br />
Carolin Hasenpusch und Olaf Klenke zeigen das weibliche Gesicht der jüngsten<br />
Arbeitskämpfe und zeigen auf, welches Potenzial eine Organisierung des<br />
weiblichen Teils der Arbeiterklasse entfalten könnte.<br />
Mit dem Artikel »Klassenkämpfe in Europa« von Joseph Choonara wollen wir<br />
einen Überblick über die sozialen Verwerfungen, aber auch den Widerstand in<br />
Europa geben.<br />
Catarina Principe, selbst in der Organisierung prekärer Beschäftigter in Portugal<br />
aktiv gewesen, diskutiert die strategischen Implikationen des schwierigen Verhältnisses<br />
von Gewerkschaften und »Prekären«.<br />
Schließlich sind wir als Redaktion von theorie21 sehr froh, ein erstes Feedback<br />
auf unsere Publikation abdrucken zu können. Benjamin Opratko, der zu antimuslimischem<br />
Rassismus in Österreich promoviert, kommentiert den Artikel<br />
von Volkhard Mosler aus Ausgabe Nr. 2 »Rassismus im Wandel«.
Der aufhaltsame Abstieg<br />
Die Gewerkschaften haben viel ihrer ehemaligen Kraft eingebüßt. Unvermeidlich<br />
war dies aber nicht. Volkhard Mosler skizziert, wie falsche Antworten<br />
auf geänderte Rahmenbedingungen die Gewerkschaften in die heutige<br />
Krise führten.<br />
Der Politikwissenschaftler Frank Deppe hat in seinem Buch »Gewerkschaften<br />
in der Großen Transformation« eindrucksvoll den Machtverlust der Gewerkschaften<br />
in den vergangenen Jahrzehnten dargestellt. Er spricht von einer »gewaltigen<br />
Veränderung der Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit seit<br />
den 1980er Jahren«. 1 Ein Indikator des Machtverlustes sind die Mitgliederverluste<br />
der DGB-Gewerkschaften seit Beginn der 1990er Jahre. Sie fielen von<br />
11,8 Millionen (1991) auf 6,15 Millionen (2012). Aussagekräftiger über das gesellschaftliche<br />
Gewicht der Gewerkschaften ist der Organisationsgrad, also der<br />
Anteil der im DGB organisierten Mitglieder an der Gesamtzahl der Arbeitnehmer.<br />
Er fiel im gleichen Zeitraum von 36,8 auf 16,6 Prozent. Selbst wenn man<br />
berücksichtig, dass die rasche Deindustrialisierung der ehemaligen DDR in den<br />
1990er Jahren einen unvermeidlich hohen Einbruch bei den Mitgliederzahlen<br />
mit sich brachte, bleibt ein Verlust an Organisationsmacht von über 50 Prozent.<br />
Die Zahl der Arbeitnehmer/-innen stieg von 32 Millionen im Jahr 1991 auf 37<br />
Ende 2012, die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder (DGB) hat sich in der gleichen<br />
Zeit nahezu halbiert! Der moderate Aufschwung von 2009 bis 2012 und<br />
die damit einhergehende Zunahme auch regulärer Beschäftigungsverhältnisse<br />
hat den Niedergang zwar verlangsamt, aber nicht aufhalten können; die DGB-<br />
Gewerkschaften haben in diesem Zeitraum noch einmal 110.000 Mitglieder verloren.<br />
Einen ähnlichen Einbruch haben die deutschen Gewerkschaften nur in den<br />
Jahren des ersten Weltkriegs (von 2,5 Millionen Mitgliedern 1913 auf 0,9 Millionen<br />
1916) und dann noch einmal während der 1920er Jahre (von 8,1 Millionen<br />
Mitgliedern allein im ADGB im Jahr 1920 auf 3,8 Millionen Mitglieder im Krisenjahr<br />
1932) erlitten. Mit der Zerschlagung der Gewerkschaften am 2. Mai<br />
1933 fiel der Organisationsgrad auf Null. Mit 6,15 Millionen Mitgliedern erreichte<br />
der DGB 2012 seinen niedrigsten Mitgliederbestand seit 1956, trotz ei-<br />
1<br />
Deppe, Frank: Gewerkschaften in der Großen Transformation. Von den 1970er Jahren bis<br />
heute. Eine Einführung, Papyrossa, 2012, 148 Seiten, S. 4
8 Der aufhaltsame Abstieg<br />
ner Zunahme der abhängig Beschäftigten um etwa 18 Millionen im gleichen<br />
Zeitraum.<br />
In allen drei Phasen des Niedergangs lassen sich objektive Gründe dafür angeben:<br />
Im ersten Weltkrieg war dies der Einzug der großen Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder<br />
in die Armee, in den Jahren der Weimarer Republik die große<br />
Massenarbeitslosigkeit in der Weltwirtschaftskrise, und in den letzten Jahrzehnten<br />
war dies die Deindustrialisierung in den Neuen Ländern in den 1990er Jahren<br />
und die Entstehung eines riesigen Sektors von »geringfügig Beschäftigten« in<br />
prekären Arbeitsverhältnissen von 7,3 Millionen Arbeitnehmern (2012) gegenüber<br />
1,2 Millionen 1991 2 . Andere Indikatoren des Niedergangs waren die abnehmende<br />
Bindekraft von Tarifverträgen, das Auftreten einer »negativen Lohndrift«,<br />
das heißt, das Zurückbleiben von Effektivlöhnen hinter den Tariflöhnen, und die<br />
Verlängerung der effektiv gearbeiteten Wochenstunden und ihre zunehmende<br />
Abkoppelung von tariflich vereinbarten Maximalstandards.<br />
Der Verweis auf allgemeine, vorgegebene gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche<br />
Umstände, die den Rahmen gewerkschaftlichen Handelns bestimmen,<br />
kann allerdings dazu verführen, die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Gegenwehr<br />
geringer zu schätzen, als sie tatsächlich sind, und den Niedergang von Organisationsmacht<br />
der Gewerkschaften und die Verschiebung von Kräfteverhältnissen<br />
zwischen den Klassen als unvermeidlich darzustellen. Solch historischer Fatalismus<br />
hat in der Geschichte der Arbeiterbewegung eine unheilvolle Rolle gespielt.<br />
In seiner optimistischen Variante hat er dazu geführt, die Zerstörungskräfte des<br />
Kapitalismus zu unterschätzen und umgekehrt hat er, in seiner pessimistischen<br />
Variante, dazu geführt, schwere Niederlagen im Nachhinein als unvermeidlich<br />
darzustellen. 3<br />
Die These von der Unvermeidlichkeit von Niederlagen erfreut sich großer Beliebtheit<br />
bei den Verfechtern des Krisenkorporatismus der Gewerkschaften, das<br />
heißt bei den Verfechtern der sozialpartnerschaftlichen Zusammenarbeit von<br />
Gewerkschaften, Staat und Kapital. Aber sie findet auch Anhänger bei einem<br />
Teil der linken Kritiker. Michael Wendl hat dies 2002 am Beispiel der Transformationsthese<br />
und der Globalisierungsthese deutlich gemacht. Von Anhängern<br />
der Transformationsthese wird behauptet, dass Umbrüche in der Organisation<br />
der gesellschaftlichen Arbeit (»Krise des Fordismus« 4 ) dazu geführt hätten, die<br />
2<br />
Zahlen des statistischen Bundesamtes<br />
3<br />
So hat der sozialdemokratische Wirtschaftstheoretiker Rudolf Hilferding 1927 auf einem SPD-<br />
Parteitag begründet, warum anders als in Italien der Faschismus in Deutschland an dessen Modernität<br />
scheitern werde, um nach dessen Sieg das Gegenteil zu behaupten, nämlich dass der Faschismus<br />
nicht zu verhindern gewesen sei.<br />
4<br />
Die Anhänger der Fordismus-These bezeichnen damit eine Epoche der kapitalistischen industriellen<br />
Massenproduktion zwischen 1920 und Mitte der 70er Jahre. Diese sei u. a. dadurch gekennzeichnet,<br />
dass es zwischen den Unternehmen der Massenproduktion eine Partnerschaft gegeben
Der aufhaltsame Abstieg 9<br />
rechtliche Regulierung von Arbeitsverhältnissen z. B. durch Flächentarifverträge<br />
zu unterlaufen oder gar unmöglich zu machen. Die Globalisierungsthese besagt,<br />
dass mit der zunehmenden Internationalisierung der Produktion die Grenzen nationalstaatlicher<br />
Regulierung des Systems der Arbeitsbeziehungen erreicht seien.<br />
Michael Wendl sagt richtig: »Beiden Thesen ist gemeinsam, […] dass sie in der<br />
Konsequenz einen tarifpolitischen Fatalismus vorschlagen.« Die Tarifpolitik habe<br />
bis zum Preis der Selbstaufgabe das nachzuvollziehen, was aus der Transformation<br />
bzw. aus der Globalisierung für die Regelung der Arbeitsverhältnisse scheinbar<br />
zwangsläufig folgt. 5<br />
Beide Theoreme haben jedoch ein wahres Element: Der Rückgang der industriellen<br />
Arbeitsplätze und das weitgehende Verschwinden einzelner Industriezweige<br />
(z. B. des Bergbaus) mit traditionell hohem gewerkschaftlichen Organisationsgrad<br />
und das Entstehen eines großen neuen Dienstleistungssektors hat die<br />
Gewerkschaften zunächst sicher geschwächt. Auch die Liberalisierung der Finanzmärkte<br />
nach dem Zusammenbruch des Systems fester Wechselkurse 1973,<br />
die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes, die Entstehung der Eurozone<br />
und andere internationale Abkommen zur Öffnung der Weltmärkte erleichterten<br />
die Bewegung von Kapital, nicht nur von Waren. Dies trifft aber für den gesamten<br />
öffentlichen Dienst, für den Einzelhandel, für Gaststätten und viele andere<br />
Bereiche nicht zu. Auch große kapitalintensive Anlagen können nicht einfach<br />
verlagert werden – oder die Verlagerung braucht einen langen Zeitraum. 2012<br />
hatten acht Prozent aller Unternehmen an Produktionsverlagerungen teilgenommen;<br />
bei reinen »kostenbedingten« Verlagerungen kommt es häufig zur Rückkehr.<br />
Sehr häufig wurde mit der Produktionsverlagerung gedroht, um Belegschaften,<br />
Betriebsräte und Gewerkschaften zu erpressen.<br />
Der wichtigste neue Faktor, der die Gewerkschaften in die Defensive zwang,<br />
war die Rückkehr der zyklischen Konjunkturkrisen, die über 30 Jahre lang weitgehend<br />
verschwunden waren. Mit der Rückkehr der Krisen kehrte auch die Massenarbeitslosigkeit<br />
zurück und mit den Krisen erhöhte sich der internationale<br />
Konkurrenzdruck auf die einzelnen Marktteilnehmer.<br />
Innerhalb von etwa 20 Jahren nach Ausbruch der ersten großen Nachkriegskrise<br />
1973 setzte sich in den Gewerkschaften – sowohl auf zentraler wie auch auf<br />
betrieblicher Ebene – ein neuer Krisenkorporatismus durch. Damit ist eine weitgehende<br />
Übernahme der betriebswirtschaftlichen Argumentation der Kapitalseihabe,<br />
die es den Gewerkschaften erlaubt hätte, ein hohes Lohnniveau durchzusetzen. Eine solche<br />
Partnerschaft hat es in den 1920er und 1930er Jahren aber nirgends gegeben. Erst mit dem<br />
langen Aufschwung, der durch den zweiten Weltkrieg ausgelöst wurde, erlangten die Gewerkschaften<br />
eine größere Durchsetzungsfähigkeit. Höhere Löhne waren nicht die Ursache, sondern<br />
die Folge des langen Booms nach 1945.<br />
5<br />
Michael Wendl, »Jenseits des Tarifgitters, Krise und Erosion des Flächentarifvertrags in Deutschland«,<br />
S. 545
10 Der aufhaltsame Abstieg<br />
te gemeint, in der die Löhne als Kostenfaktor erscheinen, deren relative Höhe<br />
bestimmenden Einfluss auf die Beschäftigung habe. Karl Marx hat den Widerspruch<br />
des Lohnes als Kostenfaktor und als Nachfragefaktor aus der Sicht des<br />
Kapitalisten so wiedergegeben: »Mit Ausnahme seiner eigenen Arbeiter erscheint<br />
jedem Kapitalisten gegenüber die Gesamtmasse aller anderen Arbeiter nicht als<br />
Arbeiter, sondern als Konsumenten.« Jeder Kapitalist sieht in seinem Arbeiter<br />
nicht den Konsumenten, sondern den Produzenten »und wünscht seinen Konsum,<br />
i. e. seine Tauschfähigkeit, sein Salär (Lohn d. V.) möglichst zu beschränken.<br />
Er wünscht sich natürlich die Arbeiter der anderen Kapitalisten als möglichst<br />
große Konsumenten seiner Ware. Aber das Verhältnis jedes Kapitalisten zu seinen<br />
Arbeitern ist das Verhältnis überhaupt von Kapital und Arbeit, das wesentliche<br />
Verhältnis.« 6<br />
Solange es Vollbeschäftigung gab, erfreute sich das linkskeynesianische Argument<br />
einer den Krisen entgegenwirkenden offensiven Lohnpolitik in den Gewerkschaften<br />
großer Popularität.<br />
Das widersprüchliche Bewusstsein des Unternehmers, der sich eine möglichst<br />
hohe Kaufkraft bei allen Arbeitern außer bei seinen eigenen wünscht, findet sich<br />
auch in der wettbewerbsorientierten Tarifpolitik der IG Metall und anderer Gewerkschaften<br />
wieder. In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau wird Detlef<br />
Wetzel, stellvertretender Vorsitzender der IG Metall, mit der Forderung des<br />
Wirtschaftsweisen Peter Bofinger konfrontiert, der für <strong>2013</strong> eine Steigerung der<br />
Löhne um fünf Prozent »über alle Branchen« gefordert hat, um der Eurokrise<br />
entgegenzuwirken. Wetzel antwortet darauf, dass die IG Metall seit der Jahrtausendwende<br />
»keine Lohnzurückhaltung« geübt habe, dass sie vielmehr »den verteilungsneutralen<br />
Spielraum – Inflation plus Produktivitätszuwachs – seit der Jahrtausendwende<br />
mehr als ausgeschöpft« habe. Gleichwohl wünscht sich Wetzel<br />
eine Stärkung der Binnennachfrage »durch höhere Abschlüsse in binnenmarktorientierten<br />
Branchen wie […] dem Handel und dem öffentlichen Dienst«, also<br />
nicht in der Exportindustrie. 7<br />
Nach Berechnungen der IG Metall blieben die Tariflöhne in der Metall- und<br />
Elektrobranche zwischen 2000 und 2008 allerdings um 9,4 Prozent hinter dem<br />
Verteilungsspielraum zurück. 8 Wetzel argumentiert hier ähnlich wie der Kapitalist,<br />
der sich eine Kaufkraftsteigerung überall wünscht, nur nicht bei den Beschäftigten<br />
seines Betriebs.<br />
6<br />
Karl Marx, Grundrisse, S. 332<br />
7<br />
FR 16./14.2.<strong>2013</strong>. Bofinger geht davon aus, dass Deutschland über viele Jahre Lohnzurückhaltung<br />
geübt habe und dies habe mit zur Krise in Südeuropa beigetragen. Um die Eurokrise zu<br />
entschärfen, sei nun eine Anpassung nötig – auf beiden Seiten. (SZ 6.1.<strong>2013</strong>)<br />
8<br />
IG Metall Hauptvorstand, Dokumentation zur Tarifrunde 2012
Der aufhaltsame Abstieg 11<br />
Den Grund für diese Entwicklung analysiert Detlef Wetzel an anderer Stelle,<br />
wenn er sich mit der Krise des Flächentarifvertrages befasst. In einem Thesenpapier<br />
zur »Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit« 9 fasst Wetzel diese Entwicklung<br />
zusammen: »Öffnungen und Abweichungen verlagern Aushandlungsprozesse<br />
auf die einzelbetriebliche Ebene. Schon jetzt existiert etwa bei der Arbeitszeit ein<br />
wahrer Flickenteppich über Branchen, Regionen, Betriebe und Beschäftigungsgruppen.«<br />
Die leise Selbstkritik, die aus dem Begriff der »Öffnung« erahnt werden<br />
kann, lässt aufhorchen: Die »Abweichungen« waren dabei nur eine Folge der<br />
»Öffnung« der Tarifverträge. Betriebsräte, die in den letzten Jahren solche Betriebsvereinbarungen<br />
unterschrieben haben, die »Abweichungen« von Tarifverträgen<br />
nach unten zuließen, sind dazu über Jahre von der IG Metall unterstützt<br />
und ermuntert worden. Wer den heutigen Zustand des Flächentarifvertrages beklagt,<br />
sollte mit einer ehrlichen Bestandsaufnahme der Arbeitszeitpolitik der IG<br />
Metall beginnen. Genau das wollen wir im Folgenden versuchen.<br />
Arbeitszeitflexibilisierung<br />
Abweichungen und Entgrenzungen der Arbeitszeit waren das gemeinsame Werk<br />
von IG Metall und Unternehmerverbänden. Ihren Ausgangspunkt hatte die Öffnung<br />
1984 im Kampf um die 35-Stunden-Woche mit einem Einstieg ins »Concession<br />
Bargaining«. Der Begriff entstand in den USA in den 1980er Jahren. Unter<br />
dem Druck wachsender Massenarbeitslosigkeit tauschten die Gewerkschaften<br />
Löhne und Leistungen gegen Arbeitsplatzsicherung. In Deutschland tauschten<br />
die IG Metall und die IG Drupa Arbeitszeitflexibilisierung gegen Arbeitszeitverkürzung.<br />
Schon vor den Verhandlungen hatten die beiden Vorsitzenden der IG<br />
Metall (Mayr und Steinkühler) den Unternehmern signalisiert, dass eine Arbeitszeitverkürzung<br />
»kostenneutral« sein solle und dies mit niedrigen Lohnforderungen<br />
einerseits und mit Arbeitszeitflexibilisierung andererseits erkauft werden sollte.<br />
Nach einem sechswöchigen Streik mit Massenaussperrungen durch den Arbeitgeberverband<br />
wurde eine Arbeitszeitverkürzung um eineinhalb Stunden vereinbart,<br />
die dann in weiteren fünf Stufen (1987, 1988, 1989 , 1993, 1995) schließlich<br />
bei 35 Stunden angekommen sollte. Und anders als bei der Einführung der<br />
40-Stunden-Woche in den 1950er und 1960er Jahren blieb das Modell der 35-<br />
Stunden-Woche dieses Mal auf die Organisationsbereiche der IG Metall, der Gewerkschaft<br />
Holz, Keramik und auf die Druckindustrie beschränkt.<br />
Der damalige Betriebsratsvorsitzende von Opel-Rüsselsheim, Richard Heller,<br />
sagte auf dem IG Metall-Gewerkschaftstag 1983 in München: Wenn es die Tak-<br />
9<br />
Detelef Wetzel, Jörg Weigand, Sören Niemann-Findeisen, Thorsten Lankau »Organizing: Die<br />
mitgliederorientierte Offensivstrategie für die IG Metall. Acht Thesen zur Erneuerung der Gewerkschschaftsarbeit.<br />
Herunterzuladen unter: www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Veranstaltungen/2011/IG_Metall_Thesen_Wetzel_Organizing.pdf
12 Der aufhaltsame Abstieg<br />
tik sei, den Arbeitgebern erst die 35-Stunden-Woche abzuringen und dann die<br />
Arbeits- und Leistungsbedingungen »nach Verhandlungen« auf betrieblicher<br />
Ebene regeln zu wollen, »dann graust mit vor dieser Auseinandersetzung.« 10 Und<br />
die 1983 noch von Franz Steinkühler geführte Bezirksleitung der IG Metall Baden<br />
Württemberg stellte auf dem Gewerkschaftstag 1983 den Antrag, die Forderung<br />
nach Arbeitszeitverkürzung mit Forderungen zu verknüpfen, die »Leistungsverdichtungen«<br />
verhindern, weil diese sonst dazu führen würden, dass die<br />
Arbeitnehmer […] in »35 Stunden genauso viel leisten müssen wie in 40 Stunden.«<br />
Dem Betriebsrat müsse durch den Tarifvertrag »ein Reklamationsrecht« gegen<br />
jede Leistungsverdichtung zugestanden werden. Der Antrag fand auf Intervention<br />
des Hauptvorstandes keine Mehrheit. Der Hauptvorstand vertrat dagegen<br />
die Position, dass eine Flexibilisierung der Arbeit durch Betriebsvereinbarungen<br />
möglich sein müsse. 11<br />
Die in den folgenden Jahren dann abgeschlossenen weiteren Stufenverträge zur<br />
Arbeitszeitverkürzung führten dazu, dass die Grenzen der Flexibilisierung erweitert<br />
wurden. Die Flexibilisierung der alten Normalarbeitszeit bezog sich einmal<br />
auf die Differenzierung der Wochenarbeitszeit, nach der die vereinbarte Wochenarbeitszeit<br />
nur im Durchschnitt aller Beschäftigen, nicht aber bei jedem einzelnen<br />
zu erreichen sein muss. So können in vielen Bereichen der Metall- und der<br />
Stahlindustrie bis zu 18 Prozent der Beschäftigten auf eine 40-Stunden-Woche<br />
verpflichtet werden, die dann für die geleistete Mehrarbeit keinen Anspruch auf<br />
Überstundenzuschläge mehr haben. Sie bezog sich zweitens auf den sogenannten<br />
Arbeitszeitkorridor, innerhalb dessen die vereinbarte Wochenarbeitszeit für<br />
alle erzielt werden muss. 1985 betrug dieser Korridor für die Metallindustrie zwei<br />
Monate, für die Druckindustrie mit ihrem größeren Anteil an saisonal bedingten<br />
Aufträgen ein Jahr.<br />
Die Arbeitszeitabkommen der IG Metall und der IG Drupa von 1984 wurden<br />
damals von der Gewerkschaftsführung als großer Erfolg gefeiert. Hans Mayr, damals<br />
1. Vorsitzender der IG Metall, sprach von einem »historischen<br />
Durchbruch«. Detlef Hensche, damals 2. Vorsitzender der IG Druck und Papier,<br />
sah in den Abschlüssen »einen Teilerfolg, aus dem die Gewerkschaften letztlich<br />
gestärkt hervorgegangen sind«. Franz Steinkühler, 2. Vorsitzender der IG Metall,<br />
sah in der Verlagerung von Kompetenzen durch die vereinbarte Fexibilisierung<br />
der Arbeitszeit auf die Betriebsräte eine »große Chance für eine Neubelebung<br />
der gewerkschaftlichen Arbeit in den Betrieben.« Andere sahen es damals schon<br />
kritischer: Hans Janssen, für Tarifpolitik zuständiges Mitglied des Vorstandes der<br />
IG Metall, sah »keinen Grund zum Jubeln«. 12<br />
10<br />
Frankfurter Rundschau, 17.10.1983<br />
11<br />
Frankfurter Rundschau, 28.09.1983<br />
12<br />
Michael Kittner, Gewerkschaftsjahrbuch 1985, Köln 1985, S. 73
Der aufhaltsame Abstieg 13<br />
Marxistische Kritiker sahen Verlauf und Resultat der Streikbewegung noch<br />
skeptischer. In seiner Einschätzung, dass der Kampf trotz formaler Verkürzung<br />
der Arbeitszeit auf zunächst 38,5 Stunden eine Niederlage war, verwies Horst<br />
Haenisch auf einen Zusammenhang, der sich in den Jahren danach in seiner ganzen<br />
Tragweite zeigte: »Fragen, die herkömmlich in die Tarifautonomie (der Gewerkschaften,<br />
d. V.) fallen, werden nun den Betriebsräten zugeschoben, offenbar<br />
in dem Bewusstsein, das sie dort besser aufgehoben sind. Für die Gewerkschaftsbewegung<br />
ist dies mit einer Schwächung verbunden […] Indem die Arbeitszeitregelung<br />
durch die Flexibilisierung praktisch den Betriebsräten überantwortet wird,<br />
wird sie zugleich der Friedenspflicht unterworfen. Die Gewerkschaft hat in diesem<br />
Punkt auch formell auf das Streikrecht verzichtet!« 13<br />
Die IG-Metall-Führung hatte 1984 versucht, ihr Flexibilisierungsangebot an<br />
die Arbeitgeber den eigenen Mitgliedern unter dem Begriff der »individuellen<br />
Zeitsouveränität« schmackhaft zu machen. Flexible Arbeitszeiten seien, so ihr<br />
Argument damals, auch im Interesse der Belegschaften mit ihren sehr unterschiedlichen<br />
und individuellen Zeitbedürfnissen. Eine Untersuchung von 1997<br />
über die »Reform des Flächentarifvertrags« beschreibt die Realität, die sich unter<br />
dem Etikett der individuellen Zeitsouveränität in den Betrieben entwickelt hatte:<br />
»Dieser Konflikt zwischen der von der IG Metall gewollten Stärkung individueller<br />
Zeitsouveränität einerseits und der von den Arbeitgebern verlangten schrankenlosen<br />
Verfügung über die Arbeitszeit andererseits bestimmte in den letzten<br />
Jahren die Umsetzung der tariflichen Arbeitszeitregelungen in den Betrieben.«<br />
Und: Dieser Konflikt sei »nicht gerade zugunsten der Arbeitnehmerinteressen<br />
entschieden worden.« Ihre Befragung unter Betriebsräten der Metallindustrie<br />
habe »nach einhelliger Auffassung aller Gesprächspartner« gezeigt, dass sich »in<br />
den Auseinandersetzungen um die Flexibilisierung der Arbeitszeit die Interessen<br />
der Unternehmer auf breiter Front durchgesetzt« hätten. 14<br />
Arbeitszeitflexibilisierung im Sinne der Schaffung von Arbeitszeitkorridoren<br />
führte zur Einrichtung von individuellen Arbeitszeitkonten (Ausgleichszeiträume).<br />
1999 verfügten 35 Prozent aller abhängig Beschäftigten über solche Konten,<br />
2011 waren es bereits 54 Prozent. 15<br />
Die bereits erwähnte Studie von 1997 beschrieb die Folgen der Einrichtung<br />
solcher individueller Zeitkonten. Zum einen würden die Mitbestimmungsrechte<br />
und Eingriffsmöglichkeiten des Betriebsrates in Fragen von Überstunden und in<br />
13<br />
Horst Haenisch, Klassenkampf, Zeitschrift der Sozialistischen Arbeitergruppe, Nr. 23, 8/9 1984.<br />
Die Arbeitgeberverbänge werteten das Ergebnis schon damals »nicht als Einstieg in die 35-Stundenwoche,<br />
sondern als Ausstieg aus der generellen Arbeitszeitverkürzung.« (Kittner, a.a.O.) Genauso<br />
so ist es leider eingetreten.<br />
14<br />
H. Bergmann, E. Brückmann, H. Dabrowski, »Reform des Flächentarifvertrags«? Hamburg<br />
1998, S. 27<br />
15<br />
Institut für Arbeitsmarkts- und Berufsforschung, IAB-Kurzbericht 3/<strong>2013</strong>
14 Der aufhaltsame Abstieg<br />
allen Fällen vorübergehender Beschäftigungsprobleme weitgehend ausgedünnt.<br />
»Wesentliche interessenpolitische Druckmittel, etwa Mehrarbeitsanträge nicht<br />
oder nur gegen Zugeständnisse zu genehmigen, oder die Zustimmung zur Kurzarbeit<br />
zu verweigern, werden somit weitgehend neutralisiert, wenn nicht bedeutungslos.«<br />
16<br />
Zum anderen sei die Folge, dass »nach Auskunft der Betriebsräte Mehrarbeitszuschläge<br />
(Überstunden, Samstagsarbeit u. a., d. V.) praktisch in der Versenkung<br />
verschwunden sind«. 17 Damit sei aber das klassische Instrument der IG Metall,<br />
über die Verteuerung der Mehrarbeit Druck auf Einstellungen auszuüben, wirkungslos<br />
geworden. Durch die »lohnpolitische Neutralisierung der Überstunden«<br />
seien diese »erst recht zur hauptsächlichen Kapazitätsreserve« geworden. Und<br />
anstelle der ursprünglich einmal erhofften individuellen Arbeitszeitgestaltung<br />
nach persönlichen Bedürfnissen sei »der Druck zur Anpassung der privaten Lebensorganisation<br />
an saisonale Marktmechanismen getreten. In vielen Betrieben<br />
sei »das Thema Arbeitszeitregulierung zu einem Reizthema« geworden und die<br />
Autoren der Studie zitieren stellvertretend dazu einen Vertrauensmann: »Den<br />
Kollegen stinkt nicht nur die ständige Veränderung. Sie ärgert ganz besonders,<br />
dass immer kurzfristiger entschieden wird, ob man noch eine Stunde an die Spätschicht<br />
dranhängen muss, oder ob auch am Samstag Produktion gefahren wird.<br />
Das führt immer häufiger zu derben Auseinandersetzungen.« 18<br />
Schließlich weisen die Autoren der Studie auf einen weiteren Trend hin, der<br />
das ganze Ausmaß der Zerstörung kollektivvertraglicher Regulierung der Arbeitszeit<br />
infolge der Verbetrieblichung der Arbeitszeitpolitik durch Öffnungsklauseln<br />
in den Manteltarifverträgen der IG Metall aufzeigt. Es dränge sich der<br />
Eindruck auf, dass durch die nach Tarifverträgen vorgesehene Arbeitszeitflexibilisierung<br />
»Tendenzen zur Entgrenzung der Arbeitszeiten naturwüchsig freigesetzt<br />
wurden«. Die »einmal losgelassene Flexibilisierungsdynamik« habe »die vergleichsweise<br />
harmlose Öffnungsoption der manteltarifvertraglichen Regelung<br />
weit überschritten«. In vielen Betrieben würde offensichtlich nach dem Motto<br />
verfahren: »Es ist alles erlaubt, was im Tarifvertrag nicht ausdrücklich verboten<br />
ist.« Offensichtlich würden in vielen Fällen die entsprechenden Vorschriften des<br />
Tarifvertrages »nur noch als unverbindliche Orientierung wahrgenommen, die<br />
zwar eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten ermöglichen, sie aber nicht eindeutig<br />
und wirksam begrenzen können.« 19<br />
Da wundert es nicht, wenn Berthold Huber auf dem IG-Metall-Gewerkschaftstag<br />
2007 die 500 Delegierten mit der Aussage überrascht, dass im Metall-<br />
16<br />
Bergmann u.a., S. 31<br />
17<br />
ebda.<br />
18<br />
ebda. S.32<br />
19<br />
ebda., S.34
Der aufhaltsame Abstieg 15<br />
bereich »inzwischen durchschnittlich 39,9 Stunden gearbeitet wird, trotz tariflicher<br />
35-Stunden-Woche.« 20 Im ersten Quartal 2011 lag die geleistete Arbeitszeit<br />
in der Metall- und Elektroindustrie bei durchschnittlich 41 Stunden in der Woche.<br />
21 Eine Umfrage aus dem Jahr 2011 unter 9000 Betriebsräten der IG Metall<br />
in Baden-Württemberg bestätigt die Befunde von Bergmann u. a. aus ihrer Befragung<br />
von 1997. 66 Prozent der Befragten gaben an, dass in ihrem Betrieb »Arbeitszeit<br />
verfällt«. Das bedeutet, dass die in den Arbeitszeitkonten angesparten<br />
Überstunden teilweise überhaupt nicht mehr bezahlt oder durch Freizeit abgegolten<br />
werden, geschweige denn wie früher mit Überstundenzuschlägen von 20<br />
bis 50 Prozent vergolten werden. Das ist ein alarmierendes Ergebnis. 22<br />
In der Wirtschaftskrise von 1993 war es in zahlreichen Branchen zu ähnlichen<br />
und noch weitergehenden Formen der Arbeitszeitflexibilisierung gekommen. Allerdings<br />
dann schon ohne das Zugeständnis einer Absenkung der tariflichen Wochenarbeitszeit.<br />
In mehreren Tarifverträgen wurden zum ersten Mal Arbeitszeitverkürzungen<br />
ohne Lohnausgleich gegen Kündigungsschutz vereinbart (Steinkohle,<br />
VW, Papierindustrie, Stahl, Metall, Leder, Kautschuk, Feinkeramik u. a.).<br />
In der Chemischen Industrie wurde eine regelmäßige Wochenarbeitszeit von 37,5<br />
Stunden bei einem Arbeitszeitkorridor von 35 bis 40 Stunden und einem Verteilzeitrahmen<br />
von 12 Monaten vereinbart.<br />
In den Aufschwungsjahren der Nachkriegszeit hatte die IG Metall immer wieder<br />
den Türöffner für bahnbrechende Erfolge gemacht. Jetzt in der Krise hat sie<br />
dem kontinuierlichen Abbau früher erkämpfter sozialer Rechte die Tür geöffnet.<br />
Betriebliche Bündnisse für Arbeit wurden allenthalben geschlossen, die das »concession<br />
bargainig« nun auf Dauer institutionalisierten. Nur waren es zumeist keine<br />
Verbesserungen gegen Verschlechterungen mehr – wie noch bei dem Einstieg<br />
in die 35-Stunden-Woche in den 1980er Jahren – sondern Verschlechterungen<br />
(Lohnabbau, Verlängerung der Arbeitszeit, Abschaffung der Überstunden- und<br />
Samstagszuschläge u. a.) gegen eine befristete Unterlassung von Massenentlassungen<br />
und betriebsbedingten Kündigungen, gegen Standortverlegungen und damit<br />
einhergehenden Schließungen oder Teilschließungen. Der Tauschhandel<br />
droht zu einer Spirale nach unten zu werden, die von Krise zu Krise immer weitere<br />
Zugeständnisse zu Lasten der Beschäftigten nach sich zieht: »concession<br />
bargaining« nach dem Modell des Märchens vom Hans im Glück, der mit einem<br />
Goldklumpen startet und mit leeren Händen endet.<br />
Das Versprechen von mehr Zeitsouveränität, wie es Steinkühler und die IG<br />
Metall 1984 einmal gegeben hatten, verwandelte sich ins Gegenteil. »Die sozialen<br />
20<br />
Tagesspiegel, 8.11.2007<br />
21<br />
Detlef Wetzel, Helga Schnitzer, Hans-Jürgen Urban »Arbeitszeit gestalten, Fakten – Hintergründe<br />
– Vorgehen«, Themenheft der IG Metall 2011, S.9<br />
22<br />
ebda., S.11
16 Der aufhaltsame Abstieg<br />
Intentionen gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik sind hoffnungslos unter die Räder<br />
geraten«, schreiben Bergmann u. a. »Diese bestanden aber gerade darin, in<br />
den Fragen der Arbeitszeitgestaltung den Verfügungsanspruch der Unternehmen<br />
gegenüber den Arbeitnehmern zu begrenzen. Das arbeitsfreie Wochenende, die<br />
Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf maximal acht Stunden und vor allem<br />
stabile, verlässliche Arbeitszeit- und Schichtregelung bildeten die Eckpfeiler einer<br />
interessenbezogenen Gestaltungsprogrammatik, die die Autonomieansprüche<br />
der Arbeitnehmer außerhalb der Arbeit, ihre Bedürfnisse nach gesellschaftlicher<br />
und kultureller Teilhabe sichern sollten«. Von dieser Programmatik seien »heute<br />
vielfach kaum noch Spuren vorhanden« und von »planbaren, die Zeitsouveränität<br />
der Arbeitnehmer respektierenden Arbeitszeitregelungen (kann) nicht mehr die<br />
Rede sein«. 23<br />
Entscheidend für die Frage der Gewordenheit der Geschichte, für die Rolle der<br />
strategischen Entscheidung, der Alternativen, ist die Frage, ob diese Entwicklung<br />
alternativlos war. Die Erzählung von der Großen Transformation oder der Globalisierung<br />
lässt die einzelnen Kämpfe, die Alternativen verschwinden. Allerdings<br />
gab es solche Alternativen. Gerade der Kampf um die Arbeitszeitverkürzung<br />
macht dies deutlich.<br />
Anders, als es heutige Darstellungen vermuten lassen, war die neoliberale Antwort<br />
auf die Krise, also die beschriebene Politik der Anpassung und Öffnung in<br />
der Arbeiterbewegung keineswegs hegemonial. Anfangs gab es durchaus starke<br />
gewerkschaftliche Gruppen, die auf Grundlage einer langen Periode der Prosperität<br />
großes Selbstbewusstsein aufgebaut hatten und in deren Mitte viele linke betriebliche<br />
und gewerkschaftliche Funktionäre wirkten. Als nun die Rückkehr der<br />
Krisenzyklen in der Weltwirtschaft und in Deutschland seit Mitte der 1970er Jahre<br />
und in deren Folge die Verschärfung des Konkurrenzkampfes und der Massenarbeitslosigkeit<br />
die Gewerkschaften vor eine völlig neue Situation stellte, waren<br />
diese Gruppen nicht bereit, die Arbeitslosigkeit einfach hinzunehmen, sondern<br />
suchten nach Wegen, ihre betriebliche Stärke in einer gesellschaftliche Bewegung<br />
gegen Arbeitslosigkeit umwandeln zu können. Die Voraussetzungen dafür<br />
standen nicht schlecht. Die Arbeitslosigkeit vor 1933 wurde von vielen Menschen<br />
in Deutschland als zentrale Ursache für den Aufstieg des Faschismus gesehen<br />
und es gab eine breite gesellschaftliche Stimmung, eine Rückkehr in die Massenarbeitslosigkeit<br />
nicht einfach hinzunehmen. Insofern konnten betriebliche<br />
Kämpfe auf eine gesellschaftliche Resonanz hoffen. Die Zeit der Vollbeschäftigung<br />
hatte eine selbstbewusste und anspruchsvolle Arbeiterklasse hervorgebracht.<br />
Der Aufschwung der Arbeiterbewegung und der Anstieg der Gewerkschaftsmitgliedschaft<br />
in den 1970er Jahren hatten mehrere Ursachen, aber eine<br />
23<br />
Bergmann u. a., S. 34 f.
Der aufhaltsame Abstieg 17<br />
entscheidende war die Erfahrung von 20 Jahren Vollbeschäftigung und Marktmacht.<br />
Als kampfstarke Teile der Klasse (Stahlarbeiter, Drucker) in der zweiten<br />
Hälfte der 1970er Jahre sich dann plötzlich von Massenentlassungen und sozialem<br />
Abstieg bedroht sahen, forderten sie von ihren Gewerkschaften Schutzmaßnahmen<br />
ein. So kam es 1978/79 sowohl in der Stahlindustrie als auch in der<br />
Druckindustrie zu Streiks für die Forderung nach Einführung der 35-Stunden-Wwoche<br />
bei vollem Lohnausgleich. Beide Streiks erreichten ihr Ziel nicht;<br />
stattdessen wurden in beiden Branchen mehr Urlaub und einige Freischichten<br />
pro Jahr erkämpft, die 40-Stunden-Woche aber bis 1984 festgeschrieben.<br />
1982/83 kam es zu einer Welle von Betriebsbesetzungen in der Metall- und in<br />
der Werftindustrie gegen Betriebsschließungen. Bei den Konflikten handelte es<br />
sich um Abwehrkämpfe gegen Massenentlassungen, Betriebsschließungen und<br />
Entqualifizierung, wovon in zunehmendem Maße auch die zentralen Facharbeitergruppen<br />
bedroht waren, die in der Vergangenheit die Strukturen der Gewerkschaften<br />
auf der unteren Ebene (Vertrauensleutekörper, Kreisverwaltungen) und<br />
die Betriebsräte dominiert hatten.<br />
Allerdings mussten sich diese Teile der Gewerkschaftsbewegung zunächst intern<br />
gegen erhebliche Widerstände durchsetzen: So wurde der Kampf um die allgemeine<br />
Verkürzung der Arbeitszeit auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall<br />
1977 gegen den Widerstand des Hauptvorstandes beschlossen, der die Meinung<br />
vertrat, die Forderung sei unter den schwierigen Marktbedingungen nicht durchsetzbar.<br />
24 Mit dem sechswöchigen Stahlstreik war eine wesentliche Chance vertan<br />
worden, gestützt auf besonders gut organisierte, kampffreudigen und kampferprobten<br />
Belegschaften ein Exempel zu setzen. 1978 hagelte es Kritik aus den<br />
Vertrauenskörpern an der zentralen Streikführung durch die IG Metall; sie erhielt<br />
bei der Urabstimmung nach Streikende nicht mal eine Mehrheit. Auch der<br />
Druckerstreik scheiterte, auch hier wurden einige Urlaubstage und Freischichten<br />
anstelle einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit erkämpft. Das große gesellschaftliche<br />
Projekt einer Offensive gegen Massenarbeitslosigkeit war damit gescheitert.<br />
Über die Gründe des Abbruchs des Streiks durch den Vorstand der IG Metall<br />
ist viel spekuliert und gerätselt worden. Es ist jedoch eine Tatsache, dass er von<br />
Beginn an nicht hinter der Forderung stand. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum<br />
einen waren schon damals »Standortargumente« wichtig; der Anteil der deutschen<br />
Stahlproduktion an der Weltproduktion für Stahl war von 1970 bis 1978<br />
von 7,5 auf 5,8 Prozent zurückgegangen. Zum anderen gab es durchaus ernst zu<br />
nehmende Überlegungen, dass der Hauptvorstand den in den vorangegangenen<br />
Jahren immer selbstbewusster agierenden Vertrauenskörpern, vor allem von<br />
24<br />
»IG-Metall-Chef stellt 35-Stundenwoche in Frage«, dpa 08.112007
18 Der aufhaltsame Abstieg<br />
Hoesch und Mannesmann, aber auch von Klöckner (Bremen) und weiteren<br />
Standorten einen Dämpfer verpassen wollte. Dafür spricht, dass solche Überlegungen<br />
bereits 1971 in einer Konferenz der mächtigen IG-Metall-Arbeitsdirektoren<br />
geäußert worden waren und dass der Hauptvorstand noch während des<br />
Stahlstreiks für die Metallindustrie die Forderung nach längerem Urlaub gewissermaßen<br />
als Ersatz für die Wochenzeitverkürzung aufgestellt hatte und dass sofort<br />
nach Streikende eine Hetzkampagne gegen die aufmüpfigen Vertrauenskörper<br />
von Hoesch und Mannesmann anlief: Sie wurden verdächtigt, mit K-Gruppen<br />
zusammenzuarbeiten. Gegen einzelne Sprecher gab es eine regelrechte<br />
Treibjagd, die schließlich in einem Ausschlussverfahren aus der IG Metall (1980)<br />
gegen den Kopf der linken Opposition in den Stahlbetrieben, den Betriebsratsvorsitzenden<br />
von Mannesmann Huckingen, Herbert Knapp, gipfelte. 25<br />
Unter anderen, schon wesentlich schlechteren Vorzeichen wiederholte sich das<br />
Gleiche bei dem nächsten großen Wendepunkt, dem Streik um die 35-Stunden-<br />
Woche 1984. Die Arbeitslosigkeit war in der zweiten großen Krise 1981/82 auf<br />
über 2 Millionen angestiegen. 1978/79 war die Mobilisierung für den Streik in<br />
der Stahlindustrie noch problemlos und in kurzer Zeit möglich gewesen, dank<br />
der hervorragenden Vernetzung selbstbewusster Vertrauenskörper in den großen<br />
Stahlbetrieben. 1984 hatte die IG Metall zunächst große Schwierigkeiten, Mehrheiten<br />
für die gleiche Forderung zu mobilisieren.<br />
Die Niederlage 1978 und die zunächst in ihren weitreichenden Konsequenzen<br />
für die zukünftige Tarifpolitik nicht sofort spürbare Niederlage von 1984 in<br />
Kombination mit fast ausnahmslos verlorenen Kämpfen um Betriebsbesetzungen<br />
26 leiteten eine lange Phase des Niedergangs von Klassenauseinandersetzungen<br />
ein. 27 Zwar hatte es auch in früheren Jahren Niederlagen gegeben (Bayernstreik<br />
in der Metallindustrie 1954, Chemietarifrunde 1971), aber es waren Niederlagen<br />
in der Offensive gewesen, die rasch überwunden werden konnten. Die Niederlagen<br />
von 1978 bis 1982 leiteten eine lange Periode des Niedergangs von<br />
Klassenkämpfen in der BRD ein, die bis heute nachwirkt. Die kampflose Hinnahme<br />
von Massenentlassungen, Betriebsschließungen und Reallohnkürzungen<br />
über drei Jahre hinweg (1981-83) durch die zentralen Gewerkschaftsführungen<br />
vertrugen keine linken Oppositionsgruppen und schon gar keine aktive kämpfe-<br />
25<br />
Angaben nach Rainer Wiedemann »Revier-aktueller betrieblicher Pressedienst« – Ein Erfahrungsbericht<br />
aus dem Stahlarbeiterstreik. Otto Jakobi u. a. , S. 157<br />
26<br />
siehe Artikel von Jürgen Ehlers: Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit in dieser Ausgabe.<br />
27<br />
Alle Betriebsbesetzungen mit Ausnahme eines Autozulieferbetriebes (Rockwell Golde) endeten<br />
letztlich mit Niederlagen, nicht zuletzt weil die IG Metall sich mehr oder weniger offen gegen sie<br />
stellte, 1982 fasste der Beirat der IG Metall einen entsprechenden Beschluss. Eine Ausnahme<br />
war der damalige IGM-Bezirksleiter Franz Steinkühler von Ba.-Wü., der eine Betriebsbesetzung<br />
bei Video-Color in Ulm unterstützt hatte. Aber auch er stellte sich nachdem er 1983 zweiter<br />
Bundesvorsitzender der IGM geworden war, gegen Betriebsbesetzungen.
Der aufhaltsame Abstieg 19<br />
rische Basisbewegung – sie könnte ihnen gefährlich werden. Nicht zufällig<br />
kommt es in der IG Chemie-Papier-Keramik und IG BSE Anfang der achtziger<br />
Jahre zur Ausschaltung linker Bezirke und Funktionäre, die den neuen Kurs der<br />
offenen Kapitulation in der Tarifpolitik nicht mittragen wollten und deshalb –<br />
wie Herbert Knapp – in immer schärferen Gegensatz zur Führung gerieten. Die<br />
einsetzende Resignation in den Betrieben, der Rückzug einst kämpferischer Arbeitergruppen<br />
in die Überwinterung, gab den Vorständen Auftrieb, oppositionelle<br />
Kräfte in den Gewerkschaftsapparaten, aber vor allem in den Betrieben zurückzudrängen.<br />
Sie zogen sich zurück, passten sich an oder wurden mundtot gemacht.<br />
Beschäftigungssicherung gegen Lohnabbau<br />
Die Verbetrieblichung der Tarifpolitik blieb nicht bei der Arbeitszeit stehen. 1993<br />
kam es in der ostdeutschen Metallindustrie zu einem Tarifvertrag, der eine so genannte<br />
Härtefallklausel für gefährdete Betriebe vorsah. Damit wurde erstmals die<br />
Unterschreitung des Tariflohns durch Betriebsvereinbarung (bei notwendiger<br />
Zustimmung der IG Metall) beschlossen. Im ersten halben Jahr kam es in 75 von<br />
800 Metallbetrieben zu solchen Härtefallvereinbarungen. Die grundsätzliche Bedeutung<br />
dieser Vereinbarung war die erstmalige Anerkennung einer einzelbetrieblichen<br />
Sicht. Die Durchsetzung einheitlicher Mindeststandards für Löhne<br />
und Arbeitszeiten für bestimmte Berufsgruppen, Arbeitszweige und Regionen<br />
und die damit erzielte Verringerung der Konkurrenz untereinander war aber von<br />
Beginn an das Wesen der Gewerkschaftsbewegung. Die Gewerkschaften standen<br />
in Deutschland nach der Vereinigung von 1990 vor der großen Herausforderung,<br />
die Verschärfung der Konkurrenz durch ostdeutsche Niedriglöhne möglichst<br />
rasch zu beseitigen. Es wird in normalen Zeiten und besonders in Krisenphasen<br />
immer Einzelbetriebe geben, die sich solche Mindeststandards nicht »leisten«<br />
können, und es ist das Prinzip des Gewerkschaftsgedankens, solche »Schmutzkonkurrenz«<br />
durch besonders niedrige Löhne nicht zuzulassen. Die Aufgabe dieses<br />
Prinzips bedroht das Existenzprinzip von Gewerkschaften. Die weitere Entwicklung<br />
hat gezeigt, welche verheerende Auswirkung die Zulassung solcher Öffnungsklauseln<br />
im Tarifvertrag hat. Damit war das Argument etabliert, dass niedrigere<br />
Löhne Arbeitsplätze sichern helfen, ein Argument, das der betriebswirtschaftlichen<br />
Sichtweise konkurrierender Einzelunternehmen entspricht. 1995 bot<br />
die IG Metall-Führung moderate Lohnpolitik als Gegenleistung für Beschäftigungsaufbau<br />
und Verzicht auf Sozialabbau an. 28 Ende 1996 wurde auch in den<br />
28<br />
Bahnmüller, Reinhard/Bispinck, Reinhard/ Weiler, Anni: »Tarifpolitik und Lohnpolitik in<br />
Deutschland, WSI-Diskussionspapier Nr. 79, 1999. Die Autoren formulieren darin, wie das Ost-<br />
West-Gefälle die tarifpolitische Entwicklung in ganz Deutschland beeinflusste: »Der Konflikt<br />
um das Tempo der Tarifangleichung an das westdeutsche Niveau führten zur Aufnahme von
20 Der aufhaltsame Abstieg<br />
westlichen Tarifgebieten für Betriebe mit gravierenden Schwierigkeiten eine Sonderregelung<br />
vereinbart. Bei den getroffenen Regelungen stand das Krisenmanagement<br />
noch im Vordergrund: Erst wenn eine wirtschaftliche Gefährdung des<br />
Unternehmens bereits nachweisbar eingetroffen war, stimmte die Gewerkschaft<br />
einem Ergänzungstarifvertrag mit vom Flächentarifvertrag abweichenden Vereinbarungen<br />
zu.<br />
1996 erfuhren die Arbeitgeber allerdings einen schweren Rückschlag in ihrem<br />
Bemühen, die Tarifverträge aufzuweichen. Nachdem die Kohl-Regierung die<br />
1956/57 erstreikte und dann zum Gesetz erhobene Lohnfortzahlung im Krankheitsfall<br />
per Gesetz wieder aufgehoben hatte, stellten sich die Arbeitgeberverbände<br />
auf den Standpunkt, dass damit auch tarifvertragliche Regelungen zur Lohnfortzahlung<br />
hinfällig seien. Als der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall<br />
die Metallunternehmer dazu aufrief, das neue Gesetz in die Tat umzusetzen,<br />
kam es in Baden-Württemberg und in NRW zu einer spontanen Streikwelle,<br />
die dieses Mal von der IG Metall-Führung allerdings wohlwollend toleriert wurde.<br />
Die BILD-Zeitung sprach von einem »Wut-Aufstand«. Für die Arbeitgeber<br />
und die Regierung endete die Auseinandersetzung mit einer schweren Niederlage.<br />
Die Gewerkschaften gingen gestärkt aus dem Konflikt hervor. Allein die IG<br />
Metall hatte zwischen Oktober und Dezember 1996 28.000 neue Mitglieder aufgenommen.<br />
Im Lager der Unternehmerverbände kam es im Herbst 1996 zu einer<br />
Debatte über Reform oder Abschaffung des Flächentarifvertrags. Der Sieg<br />
der Arbeiter im Lohnfortzahlungskonflikt stärkte die Anhänger einer Reform,<br />
die am Flächentarifvertrag grundsätzlich festhalten wollten. 29 BDA-Chef Dieter<br />
Hundt, der zu den Befürwortern einer »Reform« gehörte, begründete seine Haltung<br />
mit dem Hinweis, dass es in Deutschland »viele starke Gewerkschaften«<br />
gäbe und zog daraus den Schluss: »Betriebliche Erfordernisse sind somit besser<br />
mit als gegen die Gewerkschaften durchzusetzen.« »Reform« des Flächentarifvertrags<br />
bedeutete aus ihrer Sicht, dass die »Verbetrieblichung« der Lohn- und Gehaltstarife«<br />
nach dem Modell der Arbeitszeitflexibilisierung weiter vorangetrieben<br />
werden müsse und die Arbeitszeit vollständig aus den Flächentarifen herausgenommen<br />
und auf die Einzelbetriebliche Ebene verlegt werden solle.<br />
Um das zu erreichen, mussten die »vielen, starken Gewerkschaften«, allen voran<br />
die IG Metall, in die Knie gezwungen werden. Die Schröder-Regierung<br />
Härtefall- und Öffnungsklauseln. Die in den neuen Ländern zu beobachtende Tendenz zu Tarifbruch<br />
und Tarifflucht wirkte mit zeitlicher Verzögerung auf die alten Länder zurück und beschleunigte<br />
dort die seit einiger Zeit zu beobachtende Tendenz der Erosion des Flächentarifvertrags.«,<br />
S. 12<br />
29<br />
Der spätere Präsident des BDA (Bund deutscher Arbeitgeberverbände) wies damals darauf hin,<br />
dass im »Arbeitgeberlager« die Zustimmung zur Regelung wesentlicher Punkte durch Flächentarifvertrag<br />
»mit dem Streit um die Lohnfortzahlung ... nochmals gestiegen« sei. DER SPIEGEL,<br />
Nr. 50/1906
Der aufhaltsame Abstieg 21<br />
schaffte das, woran Kohl letztlich gescheitert war: Sie schaffte es mit einer Mischung<br />
von Knüppel und Überredung. In seiner Agenda-Rede 2003 drohte SPD-<br />
Kanzler Gerhard Schröder den Gewerkschaften mit gesetzlichen Schritten, wenn<br />
sie die Flächentarifverträge nicht weiter öffneten: »Ich erwarte, dass sich die Tarifparteien<br />
auf betriebliche Bündnisse einigen. Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber<br />
handeln.« Die Drohung mit einer gesetzlichen Reform des Tarifvertragswesens<br />
führte schließlich zum gewünschten Erfolg: Mit dem Pforzheimer<br />
Abkommen zwischen der IG Metall und Südwestmetall Gesamtmetall aus dem<br />
Jahr 2004 wurde eine neue rechtliche Grundlage für die nun auf breiter Front<br />
einsetzende Durchlöcherung und Aufweichung des Flächentarifs geschaffen. Die<br />
wichtigsten Unterschiede zu den Vereinbarungen von 1993 und 1996 waren, dass<br />
Abweichungen vom Flächentarifvertrag jetzt auch zur Krisenprävention vorgesehen<br />
waren, das heißt zu Verbesserung der Konkurrenzsituation des Unternehmens.<br />
Sämtliche tariflichen Standards können unterschritten werden, also auch<br />
Lohn- und Gehaltszahlungen. Und das Abkommen erweiterte noch einmal den<br />
Rahmen für Arbeitszeitflexibilisierung. Die Quote der Beschäftigten, deren Arbeitszeit<br />
wöchentlich 40 statt der 35 Stunden über sechs Monate pro Woche betragen<br />
darf, wurde für Betriebe mit einem hohen Facharbeiter- und Technikeranteil<br />
von 18 auf 50 Prozent erhöht, Überstundenzuschläge werden nicht bezahlt.<br />
Die eingehandelten Zusagen der Unternehmer betrafen Beschäftigungszusagen<br />
(75,2 Prozent), Standortzusagen (52,8 Prozent) Erfolgsbeteiligung (35,4 Prozent)<br />
und Investitionszusagen (33,8 Prozent). 30<br />
Von Februar 2004 bis Juni 2008 sind auf der Grundlage des Abkommens 642<br />
Ergänzungstarifverträge beschlossen worden, allerdings die meisten davon von<br />
tarifgebundenen Firmen, wo immerhin ein Drittel aller Firmen ein betriebliches<br />
Bündnis abgeschlossen hatte. Die Zugeständnisse der Arbeitnehmer bezogen<br />
sich zu 56 Prozent auf freiwillige übertarifliche und durch den Betriebsrat geregelte<br />
Leistungen und zu 44 Prozent auf tarifliche Normen. Bei den Zugeständnissen<br />
beim Entgelt macht der Wegfall von Mehrarbeitszuschlägen den höchsten<br />
Anteil aus (50,6 Prozent), dann kamen Kürzungen oder Streichungen von außertariflichen<br />
Sonderzahlungen (43,7 Prozent) oder des Urlaubsgelds (33,3 Prozent)<br />
und das Absenken von übertariflichen Entgeltbestandteilen (41,2 Prozent). 31<br />
Die neue Formel heißt »Lohnverzicht gegen Arbeitsplatzsicherheit«. Nach verschiedenen<br />
Erhebungen und Untersuchungen halten sich zwischen 80 und 90<br />
Prozent der Unternehmer an die vereinbarten Zusagen. Daraus zu schließen,<br />
dass die »Bündnisse für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit«, wie sie noch in den<br />
1990er Jahren genannt wurden, sich bewährt und dazu beigetragen hätten, Arbeitslosigkeit<br />
einzudämmen oder zu verhindern, wäre jedoch falsch. Das Ziel der<br />
30<br />
Hagen Lesch, Betriebliche Bündnisse für Arbeit, Köln Oktober 2008. IW-Report 4/2008<br />
31<br />
Lesch, a.a.O., S. 8
22 Der aufhaltsame Abstieg<br />
Pakte ist eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens durch<br />
Kostensenkung. Die Beschäftigungszusagen erkaufen die Zustimmung der Belegschaften<br />
und Betriebsräte.<br />
In einer Untersuchung der Standortvereinbarungen in der deutschen Automobilindustrie<br />
zwischen 1993 und 2006 weisen die Autoren nach, dass die erhoffte<br />
»Beschäftigungssicherung« in mehrfacher Weise durch die Bündnisse gefährdet<br />
und unterlaufen wurde: 32<br />
• Beschäftigungspakte führen zu gewollten Produktivitätssprüngen, die wiederum<br />
Arbeitsplätze überflüssig machen.<br />
• Die Mehrheit der Pakte waren Betriebsvereinbarungen, die nach drei Monaten<br />
kündbar sind und in mehreren Fällen auch gekündigt wurden, um neue Zugeständnisse<br />
für das gleiche Angebot einer Beschäftigungssicherung zu erzielen.<br />
• Es wurden auch in solchen Unternehmen Pakte geschlossen, die hohe Gewinne<br />
und gute Auftragslagen zu verzeichnen hatten (Daimler-Benz, Audi).<br />
• In allen Automobilwerken entstanden seit Beginn der 1990er Jahre beträchtliche<br />
»Randbelegschaften« in Form von Leiharbeitern, die die Beschäftigungssicherheit<br />
für einen Teil der Belegschaften zurücknahmen und einen »Sicherheits«-Puffer<br />
einführten.<br />
• Die Zusagen der Unternehmen variierten zwischen Garantie des Erhalts einer<br />
bestimmten Beschäftigungshöhe bis hin zu reinen Standortzusagen. Selbst diese<br />
Zusage wurde jetzt im Fall von Opel-Bochum von General Motors zurückgezogen.<br />
• Von den Vereinbarungen geht die Gefahr eines Unterbietungswettbewerbs bei<br />
Löhnen und Arbeitsbedingungen aus, der nicht auf Deutschland beschränkt<br />
ist, sondern auf die gesamte europäische Autoindustrie ausstrahlt.<br />
Trotz der Beschäftigungspakte kam es in dem Zeitraum von 1993 bis 2006 zu einem<br />
massiven Abbau von Arbeitsplätzen in mehreren Unternehmen (VW, Ford,<br />
Opel). So kommen die Autoren der Studie zu dem Ergebnis, dass die Pakte<br />
»nicht zu einer Stabilisierung der Beschäftigung geführt haben, wohl aber die<br />
Form des Arbeitsplatzabbaus bestimmt haben, indem sie betriebsbedingte Kündigungen<br />
ausschlossen«. 33 Die Chefs der Konzerne haben in vielfacher Weise die<br />
verschiedenen Standorte in Europa und sogar innerhalb Deutschlands gegeneinander<br />
ausgespielt. Zu einer Bilanz einer wettbewerbsorientierten Tarifpolitik gehört<br />
auch, dass die zurückbleibende Kaufkraft auf den Konsum und damit die<br />
deutsche Binnenkonjunktur drückt, die Exportabhängigkeit weiter steigt. Unter<br />
32<br />
Jürgens, Ulrich/Krzywdzinski, Martin: Globalisierungsdruck und Beschäftigungssicherung.<br />
Standortsicherungsvereinbarungen in der deutschen Automobilindustrie zwischen 1993 und<br />
2006, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2006<br />
33<br />
Jürgens, a.a.O, S. 54
Der aufhaltsame Abstieg 23<br />
dem Druck der Beschäftigungspakte sind die Effektivverdienste, 34 das heißt die<br />
tatsächlich ausgezahlten Löhne, in der Metallindustrie zwischen 2000 und 2008<br />
um 9,3 Prozent geringer angestiegen als die Tariflöhne. 35 Die Steigerung der<br />
Wettbewerbskraft des eigenen Unternehmens bringt die Beschäftigten in Konkurrenz<br />
zu anderen Unternehmern. Sie steht in einem fundamentalen Widerspruch<br />
zum Solidarprinzip der Gewerkschaftsbewegung. Jedem Sieger auf dem<br />
Markt steht ein Verlierer gegenüber. IG-Metall-Chef Huber hat sich kürzlich<br />
über zu hohe Lohnsteigerungen der spanischen Arbeiter geäußert und gab damit<br />
indirekt den spanischen Gewerkschaften Schuld an der steigenden Massenarbeitslosigkeit<br />
in ihrem Land. Das ist kein Ausrutscher gewesen, es entspricht der<br />
Logik einer wettbewerbsorientierten Tarifpolitik.<br />
Die Krise 2009: Erfolg des Krisenkorporatismus?<br />
Die Verfechter eines Krisenkorporatismus in den Gewerkschaften sehen sich<br />
durch die Erfahrungen der Krisenjahre 2008–2009 bestätigt und gestärkt. So verteidigt<br />
der Vorsitzende der IG BCE, Michael Vassiliadis, den Beschäftigungspakt<br />
zwischen Bundesregierung, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden von<br />
2008 mit den Worten: »Wir haben die Krise ohne Entlassungen im großen Stil<br />
durchgestanden. Das ist ein Riesenerfolg. Insgesamt wurde das gegenseitige Vertrauen<br />
neu gefestigt und die Idee der Sozialpartnerschaft gestärkt.« 36<br />
In einer Pressemitteilung des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen<br />
Instituts (WSI) war unter der Überschrift »Das Jobwunder« zu lesen:<br />
»3,1 Millionen Arbeitsplätze sind in Deutschland über die Finanz- und Wirtschaftskrise<br />
gerettet worden, weil die Arbeitszeiten reduziert wurden und Unternehmen<br />
in der Hoffnung auf eine relativ rasche wirtschaftliche Erholung Beschäftige<br />
gehalten haben.« 37<br />
Dabei spielte die Verlängerung der Bezugszeit von Kurzarbeitergeld auf 24<br />
Monate eine entscheidende Rolle. Ein kleinerer Teil der auftragsbedingten Reduzierung<br />
der gearbeiteten Stunden pro Arbeitnehmer um 3,4 Prozent wurde durch<br />
die Entlassung von Leiharbeitern ausgeglichen; die Stammbelegschaften konnten<br />
ihre Arbeitsplätze behalten.<br />
Zum Verständnis des glimpflichen Verlaufs dieses tiefsten Konjunktureinbruchs<br />
seit den 1930er Jahren ist ein Vergleich mit der letzten Rezession interessant.<br />
Dazu schreibt das WSI: »In der langen Schwächephase 2000–2005 wurde<br />
[…] Kurzarbeit kaum eingesetzt.« Die Schröder-Regierung nutzte stattdessen die<br />
Krise, um durch Abbau von Kündigungsschutz, Erleichterung von Leiharbeit<br />
34<br />
Negative Lohndrift bei Metall«, Quelle IG Metall und Statistisches Bundesamt (VGR 2009)<br />
35<br />
a.a.O.<br />
36<br />
Interview mit Chemie-Report, Zeitung des Verbandes der chemischen Industrie e. V.,10.06.2010<br />
37<br />
WSI Pressemitteilungen 2010, 02.11.2010
24 Der aufhaltsame Abstieg<br />
und Minijobs und durch die Einführung des Arbeitslosengeldes II (Hartz IV)<br />
den Druck auf Arbeitslose und Beschäftigte mit dem Ziel zu erhöhen, einen riesigen<br />
Niedriglohnsektor zu schaffen und die Lohnstückkosten der gesamten<br />
Wirtschaft zu senken. Die Arbeitslosigkeit stieg um über eine Million. Warum ließen<br />
sich die Arbeitgeber 2008–2009 auf einen solchen Beschäftigungspakt ein,<br />
der auch ihre Lohnkosten kurzfristig anstiegen ließ?<br />
Entscheidend hierfür war einmal, dass sich Ende 2008, als die Verlängerung<br />
der Kurzarbeit von der Bundesregierung beschlossen wurde, nach einem drastischen<br />
Einbruch und daraus folgender Katastrophenstimmung die leichte Hoffnung<br />
regte, dass die Krise zumindest für die deutsche Wirtschaft glimpflicher<br />
verlaufen könnte als zuerst angenommen. Die Regierungen der großen Industriestaaten<br />
hatten die Finanzmärkte mit billigen Staatskrediten geflutet und diverse<br />
Konjunkturprogramme beschlossen. Das WSI schrieb: »Unternehmen haben ein<br />
Interesse, Beschäftigte zu halten, wenn sie davon ausgehen müssen, dass die<br />
Kosten für Entlassungen und für Neueinstellungen nach der Krise (durch Kosten<br />
für Anlernzeiten, d. V.) hoch ausfallen.« Außerdem übernahm die Regierung<br />
einen Teil der sogenannten Redundanzkosten, das sind Mehrkosten, die dem Unternehmer<br />
durch Beteiligung am Lohnausgleich aufbringen müssen, so dass die<br />
Kosten der Kurzarbeit 2009 und 2010 fast ausschließlich von der Arbeiterklasse<br />
und der Allgemeinheit (Steuerzahler) aufgebracht wurden. Weiterhin verzichteten<br />
die Gewerkschaften 2009 und teilweise auch 2010 auf die Erhöhung von Löhnen<br />
und Gehältern, auch dies gehört zum »concession bargaining«, des Tausches<br />
von Arbeit gegen Löhne. Die IG Metall vereinbarte 2009 eine Einmalzahlung,<br />
die das Tariflohnniveau unverändert ließ. Und schließlich war der Konkurrenzvorsprung<br />
des deutschen Kapitals (Lohnkosten pro Produktionseinheit) in den<br />
Jahren 2000 bis 2008 im internationalen Vergleich so drastisch gestiegen, dass es<br />
auf eine Neuauflage der Schröderschen Agendapolitik erst einmal verzichten<br />
konnte. Schließlich waren die Arbeitszeitkonten der großen Mehrheit der Beschäftigten<br />
mit über zwei Milliarden Stunden gut gefüllt – auch dies floss in die<br />
Rechnung der Unternehmerverbände mit ein. All diese Faktoren zusammen ergaben,<br />
dass es für die Unternehmer billiger und opportuner war, eine zeitweise<br />
Verkürzung der Arbeitszeiten einer Welle von Massenentlassungen vorzuziehen.<br />
Ob sie sich bei der nächsten Krise noch einmal kampflos bereit erklären werden,<br />
diesen Weg zu gehen, hängt davon ab, wie lang die Krise sein wird und ob<br />
die Arbeiterklasse erneut bereit ist, die Kosten der Kurzarbeit durch niedrigere<br />
Löhne und höhere Steuern und Sozialabgaben zu bezahlen.<br />
Zum politischen Preis der Krisenbewältigung gehört auch, dass durch die<br />
nochmalige Absenkung der Löhne und Gehälter die Exportabhängigkeit der<br />
deutschen Wirtschaft weiter angewachsen ist und sich so die Krise der Eurozone<br />
weiter zugespitzt hat. Der Export von Waren ist auch ein Export von Arbeitslo-
Der aufhaltsame Abstieg 25<br />
sigkeit. Die Krise wurde so kurzfristig nach außen verlagert, gelöst wurde sie<br />
nicht.<br />
Die Kritik Berthold Hubers an der Lohnpolitik der spanischen Gewerkschaften<br />
zeigt, dass er und wohl die Führung der IG Metall und anderer Gewerkschaften<br />
sich sehr bewusst sind, dass die Exporterfolge der deutschen Industrie mit<br />
Lohnverzicht und Niedriglöhnen »bezahlt« wurden. Hubers Kritik läuft darauf<br />
hinaus, dass die Eurokrise durch die Verallgemeinerung des deutschen Modells<br />
überwunden werden soll. Hartz IV und Niedriglohnsektor, Deregulierung der<br />
Arbeitsmärkte zur Senkung der Lohnkosten und Steigerung der Ausbeutungsraten<br />
– das ist auch die Linie, die Kanzlerin Merkel gerade in Zypern durchgesetzt<br />
hat. Der »Export« des Modells funktioniert aber nicht. Ganz Südeuropa, England<br />
und Frankreich befindet sich in der Dauerrezession mit steigender Jugendarbeitslosigkeit<br />
und sozialer Verelendung von Millionen Beschäftigten. Der angeblich<br />
funktionierende Krisenkorporatismus hat nicht zur Überwindung der<br />
Krise von 2008/2009 geführt. Die Erholung der Konjunktur, die verbesserte<br />
Auftragslage sind alleine der erfolgreichen Exportoffensive geschuldet.<br />
Doch die Krise ist durch die Flutung der Finanzmärkte mit billigen Staatskrediten<br />
nicht überwunden. Der von Merkel verordnete Austeritätspakt hat die Eurokrise<br />
nicht entschärft, sie ist eine tickende Zeitbombe. Und Daimler-Arbeiter<br />
sollten sich nicht gegen Daimler-Arbeiter ausspielen lassen, Opel-Arbeiter nicht<br />
gegen Opel-Arbeiter, aber auch nicht deutsche VW-Arbeiter gegen spanische<br />
Seat-Arbeiter. Es ist höchste Zeit, dass sich deutsche Gewerkschafter an die antikapitalistische<br />
Tradition ihrer eigenen Organisation in der Nachkriegszeit erinnern<br />
und das Prinzip von Klassensolidarität wiederentdecken, das sie einmal<br />
stark gemacht hat und ohne das sie auf Dauer nicht überleben können.<br />
Verpasste Chancen und Alternativen heute<br />
Wir wollen nicht leugnen, dass die Rückkehr der Krisen des Kapitalismus mit<br />
Massenarbeitslosigkeit und weltweiten sozialen und politischen Krisen die Bedingungen<br />
für den »Guerrila-Krieg gegen die Übergriffe der Kapitalisten« (Marx)<br />
grundlegend verändert hat im Vergleich zu den »goldenen« Zeiten des »Wirtschaftswunders«,<br />
aber auch gegenüber der Zwischenzeit der Schmidt- und Kohlregierung,<br />
in denen Krisen und Wachstumsphasen einander abgelöst hatten. Die<br />
Maßstäbe für Erfolg und Scheitern der Gewerkschaftsbewegung haben dem<br />
Rechnung zu tragen. »Korporatismus«, das heißt die Ideen und die Praxis einer<br />
sozialpartnerschaftlichen Richtung in den Gewerkschaften gab es auch schon vor<br />
der Krise, in den Zeiten des langen Aufschwungs. Allerdings ist die Bilanz des jeweiligen<br />
Tauschgeschäfts eine gänzlich andere.
26 Der aufhaltsame Abstieg<br />
Auf dem IG Metall Gewerkschaftstag 1960 fasste der damalige Vorsitzende<br />
Otto Brenner die Erfolge der vergangenen Jahre seit Verkündigung eines Aktionsprogramms<br />
durch den DGB zusammen. In dem Jahrzehnt von 1950 bis 1960<br />
ergab sich »eine reale Steigerung des Stundenverdienstes des Metallarbeiters um<br />
rund 58 Prozent.« Gleichzeitig sei es der IG Metall gelungen, »die tarifliche und<br />
effektive Wochenarbeitszeit um rund vier Stunden zu verringern ... und eine weitere<br />
Kürzung der Wochenarbeitszeit bis 1965 »auf 40 Stunden mit vollem Lohnausgleich«<br />
zu vereinbaren. Weiter nannte Brenner »die Verbesserung der Frauenlöhne,<br />
die Urlaubsverlängerung und die Angleichung des Krankheitsschutzes für<br />
Arbeiter und Angestellte.« Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter<br />
wurde in einem 16 Wochen dauernden Streik in Schleswig Holsteins Werftindustrie<br />
durchgesetzt und kurze Zeit später durch die Adenauer-Regierung zum Gesetz<br />
erhoben. Otto Brenner nannte auch den allgemeinen wirtschaftlichen Hintergrund<br />
dieser Erfolge: »Wir haben die Verknappung der Arbeitskräfte, die ständig<br />
steigenden Gewinne und die wachsende Produktion in gewerkschaftliche Erfolge<br />
umgemünzt.«<br />
Wie stark die Stellung der Gewerkschaften damals war, kann man aus der Tatsache<br />
ableiten, dass das Bad Homburger Arbeitszeitabkommen von 1960 mit einer<br />
Verkürzung der Wochenarbeitszeit um vier Stunden ohne einen einzigen<br />
Streiktag errungen worden war.<br />
Berthold Huber hat auf dem Gewerkschaftstag seiner Gewerkschaft 2011 keine<br />
Bilanz der Erfolge vorlegen können. Stattdessen sprach er von »Angriffen auf<br />
Tarifverträge, auf Mitbestimmung und soziale Sicherungssysteme«, von »Apartheid<br />
in den Betrieben«, von der »Spaltung der Belegschaften mit prekärer Beschäftigung«,<br />
von »zunehmendem und krankmachendem Leistungsdruck«, von<br />
der Veränderung der »Kräfteverhältnisse im Betrieb«, von der Notwendigkeit,<br />
»die Normierungskraft von Tarifverträgen zu erhalten«. In »vielen Firmen« würde<br />
die »Arbeitszeit grenzenlos ausgedehnt« und allzu oft würde »diese geleistete<br />
Arbeitszeit weder durch Freizeit noch durch Geld entgolten«. Einen Erfolg hob<br />
Huber aber doch hervor, die Krisenintervention der IG Metall 2008/2009 sei erfolgreich<br />
gewesen. Dabei erwähnte er die Verlängerung der Kurzarbeit. Aber er<br />
warnte auch: »Wer glaubt, wir hätten die Krise schon hinter uns, […] der ist jenseits<br />
von dieser Welt. Wir sind mitten in einer Banken- und Schuldenkrise.«<br />
Otto Brenner forderte eine »volkswirtschaftliche Gesamtplanung, Überführung<br />
der Schlüsselindustrie in Gemeineigentum und Mitbestimmung der Arbeitnehmer«,<br />
eine Hymne auf die Marktwirtschaft hat er nicht gesungen, obwohl der<br />
Nachkriegskapitalismus mit seinen hohen Wachstumsraten große Spielräume für<br />
die gewerkschaftliche Tagespolitik eröffnete. Hubers Rede spiegelt dagegen die<br />
hereinbrechende Krise des Kapitalismus wider und zugleich singt er ein Loblied<br />
auf die »innovativen Potenziale«, die die Märkte hervorbrächten, »die Exzesse
Der aufhaltsame Abstieg 27<br />
entfesselter Märkte« stoßen ihn dagegen ab. Er teilt den Traum vom gezähmten<br />
Kapitalismus, von einer schiedlich-friedlichen Marktwirtschaft, in der die Gesetze<br />
von Konzentration und Zentralisation des Kapitals außer Kraft gesetzt sind.<br />
Kein Wort über die zerstörerischen Konsequenzen gerade der deutschen Exporterfolge<br />
auf die schwächere südeuropäischen Peripherie. Die Eroberung der europäischen<br />
Märkte durch die deutsche Exportindustrie – auch das ist ein »Exzess<br />
entfesselter Märkte«, aber er betrifft ja nicht unmittelbar die deutschen Metallarbeiter<br />
– obgleich die Schließung des Opelwerks in Bochum bereits eine indirekte<br />
Folge der Krise in Südeuropa ist, als wären der Erfolg von VW und die Krise<br />
von Opel voneinander zu trennen. Huber beruft sich ganz zu Unrecht auf Karl<br />
Marx, der auch schon zwischen innovativen und zerstörerischen Seiten der Märkte<br />
unterschieden habe. 38 Nach Marx rufen aber die Krisen des Kapitalismus »den<br />
Konkurrenzkampf unter den Kapitalen hervor, nicht umgekehrt.« 39 Und da diese<br />
unvermeidlich sind, sind auch die von Huber beklagten »Exzesse der Märkte«<br />
unvermeidlich. Die Märkte erscheinen »produktiv« im Aufschwung, sie erscheinen<br />
zerstörerisch in der Krise. Sowenig Aufschwung und Krise im Kapitalismus<br />
voneinander zu trennen sind, so wenig können Innovations- und Zerstörungskräfte<br />
der Märkte getrennt werden. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben.<br />
Wo Brenner noch klagt, dass »statt sozialistischer Vorstellungen […] heute wieder<br />
die Überzeugung vertreten (werde), dass der Kapitalismus die einzig mögliche,<br />
sogar die einzig demokratische Wirtschaftsordnung sei«, 40 fordert Huber,<br />
dass »die Gesellschaft die positiven Mechanismen von Märkten nutzen« sollte.<br />
Zugleich klagt er aber, »dass der entfesselte Markt zur Gefahr der Freiheit geworden«<br />
sei.<br />
Natürlich ist Bertholt Huber mit seinem Bekenntnis zum sozialen, gezähmten<br />
Kapitalismus nicht verantwortlich für die Krisen des Kapitalismus, so wenig wie<br />
Otto Brenner etwas für den Nachkriegsboom konnte. Aber die Absage an die<br />
Kapitalismuskritik, die Verbreitung von völlig realitätsfernen sozialpazifistischen<br />
Marktideologien durch die Gewerkschaftsführungen heute, liefert die Mitglieder<br />
schutzlos den herrschenden Ideen aus, schickt sie mit Sommerkleidung in einen<br />
Schneesturm.<br />
Zwischen der Politik eines Otto Brenners und Berthold Hubers gibt es Unterschiede,<br />
aber es gibt auch wesentliche Gemeinsamkeiten. Die Trennung von politischem<br />
und ökonomischem Kampf, die Unterwerfung unter die Spielregeln der<br />
parlamentarischen Demokratie und damit des bürgerlichen Staates, die Unterwerfung<br />
unter die Schillersche Konzertierte Aktion oder die Schrödersche Agen-<br />
38<br />
Berthold Huber, Zukunftsreferat – 22. Ordentlicher Gewerkschaftstag, Karlsruhe, 12. Oktober<br />
2011, S.20<br />
39<br />
Karl Marx, Bd. 25. S. 266 f.<br />
40<br />
Otto Brenner, Durch Mitbestimmung zur sozialen Demokratie, Bochum 1960, S. 34
28 Der aufhaltsame Abstieg<br />
da-Politik sind solche Gemeinsamkeiten. Trotzdem gibt es Unterschiede und sie<br />
sind nicht völlig unwichtig: Otto Brenners Kritik am Kapitalismus hatte es Sozialisten<br />
in den Gewerkschaften leichter gemacht als die völlig illusionäre Vorstellung<br />
eines Berthold Hubers von einer Rückkehr zur sozialen Marktwirtschaft<br />
und zu einem gezähmten, regulierten Kapitalismus. Aber auch damals gab es<br />
einen rechten Flügel im DGB, der sich schon sehr früh in den 1950er Jahren zu<br />
einem (gezähmten) Kapitalismus bekannt hat, und auch sie haben damals erfolgreiche<br />
Tarifpolitik betreiben können. Der Aufschwung des Kapitalismus vergrößerte<br />
beides: Produktionsmacht und Marktmacht der abhängig beschäftigten<br />
Klassen. Damals unterschieden linke Sozialwissenschaftler zwischen »konfliktorischen«<br />
und »kooperativen« Gewerkschaften, 41 diesen Unterschied macht heute<br />
niemand mehr, und es ist interessant zu fragen, warum oder besser seit wann diese<br />
Unterscheidung sich überholt hat.<br />
Hier lässt sich ein historischer Wendepunkt ziemlich exakt benennen: der<br />
Stahlarbeiterstreik von 1978/79. In der IG Metall und in den anderen Gewerkschaften<br />
waren seit Ende der 1960er Jahre erstmals wieder klassenbewusste politische<br />
Minderheiten entstanden, die in einer Phase des Aufschwungs von Kämpfen<br />
öfter Mehrheiten für einen kämpferischen Kurs, für offensive Forderungen<br />
gewinnen konnten, und zugleich waren die Gewerkschaftsführungen – auch der<br />
linken oder konfliktorischen Gewerkschaften – unter dem politischen Druck der<br />
Sozialdemokratie zurückgewichen. So wurde der Kampf um die 35-Stundenwoche<br />
von 1978-9 zu einem Wendepunkt. Die Führung der IG Metall (und der anderen<br />
Gewerkschaften) war nicht stark genug, zu verhindern, dass eine kämpferische<br />
Basis die Forderung in den Gremien der Gewerkschaft durchsetzte, aber sie<br />
war stark genug, den Kampf so zu führen, dass er in einer Niederlage endete.<br />
Damals empfanden dies die Vertrauensleute der großen Stahlwerke als Verrat,<br />
die Streikfront stand und die Führung brach ihn ohne Not ab. Bei der Welle der<br />
Betriebsbesetzungen Anfang der 1980er wiederholte sich das Szenario: einige<br />
Dutzend größere und kleinere Betriebe wurden von den Belegschaften besetzt,<br />
weil sie Massenentlassungen und Schließungen verhindern wollten. Die Führung<br />
der IG Metall fühlte sich dieses Mal – weil es nicht die großen Bataillone waren –<br />
stark genug, den Kollegen die Unterstützung zu verweigern. Später entschied der<br />
Beirat der IG Metall, dass Betriebsbesetzungen grundsätzlich zu verwerfen seien.<br />
1984 im zweiten großen Streik um die 35-Stundenwoche wiederholte sich das<br />
Szenario von 1979. Die Arbeitgeber hatten zur scharfen Waffe der Massenaussperrung<br />
gegriffen, die IG Metall wich vor diesem Angriff zurück – wieder ohne<br />
Not, das heißt, ohne dass eine Zwangslage durch Abbröckeln der Streikfront<br />
durch die eigene Mitgliedschaft entstanden gewesen wäre. 1979, 1982 und 1984<br />
41<br />
Joachim Bergmann, Otto Jacobi, Walter Müller-Jentsch, Gewerkschaften in der Bundesrepublik,<br />
Frankfurt-Köln, 1975, S. 26
Der aufhaltsame Abstieg 29<br />
brachten Kämpfe gegen die hereinbrechende Massenarbeitslosigkeit, und diese<br />
Kämpfe hätten mit einer anderen, wirklich »konfliktorischen« Führung anders<br />
ausgehen können. Die Furcht vor einer kämpferischen Basisbewegung war größer<br />
als die Furcht vor einer Niederlage im Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit.<br />
Heute steht die Gewerkschaftsbewegung vor einem Neuanfang: Die Unterwerfung<br />
unter die angebliche Marktmacht der herrschenden Klasse hat dazu geführt,<br />
dass soziale Errungenschaften, die in »besseren« Zeiten erkämpft wurden,<br />
schrittweise auf dem Weg des »concession bargaining« wieder verloren gehen.<br />
Dieser Weg gleicht einer abschüssigen Ebene. Von Krise zu Krise werden die<br />
Zugeständnisse größer, die die andere Seite fordert, ein Ende scheint nicht in<br />
Sicht. Umso wichtiger ist es, einen Neuanfang zu wagen, nämlich im Aufbau<br />
klassenkämpferischer Minderheiten in den Betrieben und Gewerkschaftsgliederungen,<br />
deren erste Aufgabe es ist, den zerstörerischen Anforderungen des Krisenkorporatismus<br />
entgegenzutreten und Stück für Stück Kolleginnen und Kollegen<br />
zu überzeugen. Denn wenn auch die Verfechter der Sozialpartnerschaft zur<br />
Zeit in den Gewerkschaften vor Kraft kaum laufen können – ihr Ordnung ist<br />
auf Sand gebaut.
Strategien<br />
gewerkschaftlicher<br />
Erneuerung<br />
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch (Friedrich Hölderlin)<br />
Inmitten einer tiefen Krise gewerkschaftlicher Politik zeigen sich Ansätze<br />
der Erneuerung. Luigi Wolf schreibt über demokratische Streiks, die Vergesellschaftung<br />
des Protests und den Beitrag der LINKEN.<br />
Die heutige Situation ist durch eine anhaltende Defensive der Gewerkschaftsbewegung<br />
geprägt. Immer mehr Arbeitgeber versuchen, aus dem Tarifvertrag auszutreten<br />
oder durch Privatisierungen im öffentlichen Dienst oder Ausgliederung<br />
(»Outsourcing«) einzelner Unternehmensbereiche die Tarifbindung zu unterlaufen<br />
und damit die Standards zu senken.<br />
Die Veränderung in der Bindekraft des Tarifvertragswesens ist drastisch: In<br />
Westdeutschland ist die Tarifbindung von 1998 bis 2011 von 76 auf 61 Prozent<br />
zurückgegangen. 1 In Ostdeutschland hat die Tarifbindung im gleichen Zeitraum<br />
von 63 Prozent 1998 auf 49 Prozent 2011 abgenommen.<br />
Allerdings sind Unternehmen, insbesondere Großbetriebe, noch immer in ihrer<br />
überwältigenden Mehrheit tarifgebunden. Das Gleiche gilt für die Existenz<br />
von Betriebsräten. Auch hier ist eine deutliche Abnahme zu verzeichnen. Hatten<br />
1996 noch 57 Prozent der Betriebe einen Betriebsrat, so waren es 2011 51<br />
Prozent, wobei sich der Anteil derjenigen Betriebe ohne Betriebsrat und ohne<br />
Tarifvertrag im gleichen Zeitraum von 24 auf 36 Prozent erhöhte. Aber auch<br />
hier gilt, dass Großbetriebe davon weniger betroffen sind. So gibt es bei Betrieben<br />
mit 500 Mitarbeitern und mehr zu 88 Prozent einen Betriebsrat. Der Anteil<br />
der Beschäftigten mit Betriebsrat, die in Betrieben mit 500+ Mitarbeitern arbeiten,<br />
liegt bei 92 Prozent, im Vergleich zu 44 Prozent der Beschäftigten insgesamt,<br />
wobei es ab dieser Betriebsgröße zwischen West und Ost keinen Unterschied<br />
gibt.<br />
1<br />
IAB-Betriebspanel zitiert aus dem Tarifhandbuch <strong>2013</strong> des WSI. Alle folgenden Zahlen sind,<br />
wenn nicht anders gekennzeichnet, ebenfalls dem Tarifhandbuch entnommen.
32 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
Die Tarifabdeckung gestaltet sich je nach Sektor sehr unterschiedlich. Im<br />
Dienstleistungsgewerbe ist sie sehr niedrig. Auch im Handel und im Bereich des<br />
ehemaligen öffentlichen Dienstes sind die Entwicklungen alarmierend.<br />
Im Gegensatz dazu ist die Abdeckung in der Metall- und Elektroindustrie immer<br />
noch flächendeckend, obwohl auch hier die Zahl nicht tarifgebundener Arbeitgeber<br />
steigt. In neuen Industrien wie der Windenergiebranche gibt es keine<br />
Tarifbindung und schwache Betriebsratsstrukturen. Hinzu kommen Bereiche im<br />
öffentlichen Dienst, wo öffentliche Arbeitgeber oder die neuen privaten Arbeitgeber<br />
bewusst Absenkungstarifverträge oder tarifvertragsfreie Zonen geschaffen<br />
haben.<br />
Diese Entwicklung ist insgesamt negativ und verweist darauf, dass wichtige<br />
Kämpfe in der Vergangenheit verloren gegangen sind oder dass die Gewerkschaften<br />
dem Klassenkampf der Unternehmer nichts entgegensetzen konnten.<br />
Ein gutes Beispiel für die Entwicklung im öffentlichen Dienst, wo es eine massive<br />
Zunahme von Outsourcing und Privatisierungen gegeben hat, ist der Pflegebereich:<br />
Bis zur Verabschiedung des Pflegegesetztes 1992 war dieser Bereich<br />
komplett tarifgebunden und in der Hand von öffentlichen oder quasi-öffentlichen<br />
Anbietern. Seit der Deregulierung durch das Pflegegesetz werden nunmehr<br />
40 Prozent der Dienste privat betrieben und die anderen Träger wie Caritas, Diakonie,<br />
Arbeiterwohlfahrt sind einem Preisgestaltungssystem unterworfen, die sie<br />
in Konkurrenz zu den privaten Anbietern versetzt. Das gleiche ist etwa im Krankenhaussektor<br />
passiert, wo die Einführung des DRG-Systems 2 2003/4 zu einer<br />
durchgreifenden Konkurrenz geführt hat, die zwischen privaten, öffentlichen<br />
und sogenannten »freigemeinnützigen« (kirchlichen etc.) Arbeitgebern auf Kosten<br />
der Beschäftigten ausgetragen werden. Von 1991 bis 2009 sanken die in Vollzeit<br />
gerechneten Stellen von 334.890 auf 303.656 bei gleichzeitiger Steigerung<br />
der Fallzahlen um 25 Prozent. Die abnehmende Verweildauer kompensiert dies<br />
nicht. 3<br />
Aber auch in anderen Branchen lässt sich beobachten, dass vormals sicher geglaubte<br />
sozialpartnerschaftliche Vereinbarungen von der Kapitalseite aufgekündigt<br />
werden. Etwa indem Betriebsratsgründungen und Tarifbindung im Einzelhandel<br />
massiv unterlaufen werden, auch bei den vormals im Flächentarifvertrag<br />
gebundenen Großbetrieben.<br />
All dies bedeutet für die Beschäftigten enorme Verschlechterungen. Ausbruch<br />
aus der Tarifbindung bedeutet Lohnverluste. Aber auch die Arbeitsbedingungen<br />
2<br />
Zentrales Abrechnungssystem für alle Krankenhäuser der Krankenkassen seit 2004 obligatorisch.<br />
3<br />
Braun, Bernard, Sebastian Klinke, Rolf Müller und Rolf Rosenbrock, 2011: Einfluss der DRGs<br />
auf Arbeitsbedingungen und Versorgungsqualität von Pflegekräften im Krankenhaus, Universität<br />
Bremen, artec-paper Nr. 173
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 33<br />
haben sich massiv verschärft: Arbeitsverdichtung und offene oder versteckte Arbeitszeitverlängerung<br />
sind die Folgen.<br />
Die Veränderung wird noch dramatischer, weil gleichzeitig die Zahl der Firmentarifverträge<br />
seit 1990 von 2.550 auf heute 10.116 zugenommen hat. Das<br />
heißt auch dort, wo noch Tarifverträge existieren, gib es eine deutliche Tendenz<br />
weg von Branchentarifverträgen hin zu Firmen- und Haustarifverträgen. Dazu<br />
kommt, dass auch für bestehende Tarifverträge immer mehr Öffnungsklauseln<br />
abgeschlossen werden.<br />
Neben der Abdeckung ist auch die Laufzeit ein Indiz für die Defensive der Gewerkschaftsbewegung.<br />
Allgemein haben die Beschäftigten ein Interesse an möglichst<br />
kurzen Laufzeiten von Tarifverträgen, um möglichst oft neue Tarifsteigerungen<br />
erstreiten zu können. Während die Laufzeiten im Westen in den 1990er<br />
Jahren in der Regel bei 12 bis 14 Monaten lagen, ist seit den 2000er Jahren eine<br />
Zunahme auf etwa 22 Monate zu beobachten. Im Jahr 2012 hatten 37,6 Prozent<br />
der Abschlüsse eine Laufzeit von 24 Monaten und mehr.<br />
In einem Bilanz-Papier der tarifpolitischen Grundsatzabteilung von ver.di wird<br />
eine bemerkenswert offene Bilanz gezogen:<br />
Die Zahlen und Daten der Tarifpolitik in ver.di sprechen eine deutliche Sprache. In<br />
den Kernbranchen (Banken, Druckindustrie, Telekom, Post, Einzelhandel und ÖD)<br />
wurde zwischen 2002 und 2008 lediglich eine tabellenwirksame Tarifsteigerung von<br />
im Durchschnitt rund 1,7 % pro Jahr erreicht. Die Verbraucherpreise stiegen im gleichen<br />
Zeitraum im Durchschnitt jährlich aber schon um 1,8 %. Dabei sind Steuerund<br />
Abgabenerhöhungen noch nicht berücksichtigt. Insgesamt lag für den o. g. Zeitraum<br />
also für ver.di-Mitglieder in den Kernbranchen eine leicht negative Reallohnentwicklung<br />
vor. Dass diese Entwicklung in den schwächeren Tarifbereichen und im<br />
tariffreien Sektor vermutlich viel drastischer verlief, tröstet dabei nicht.<br />
Viele Abschlüsse in den ver.di Tarifbereichen zwischen 2002 und 2008 weisen<br />
zudem erhebliche Verschlechterungen bei der jeweiligen Wochenarbeitszeit, bei<br />
Zeitzuschlägen und Sonderzahlungen auf. Insbesondere zu familienfeindlichen<br />
Arbeitszeiten muss wieder oft mit geringeren Zuschlägen gearbeitet werden.<br />
Mancher gerade noch akzeptable Tarifabschluss im Entgelt wurde mit solchen<br />
Zugeständnissen bei der Arbeitszeit erst möglich. Ver.di steht dabei allerdings<br />
nicht allein, insgesamt stellt das WSI diesbezüglich fest:<br />
Der jahrzehntelange Trend zu kürzeren Normalarbeitszeiten endete etwa 2003. Im<br />
Zuge der Konjunkturkrise, steigender Arbeitslosigkeit und des verschärften internationalen<br />
Wettbewerbs setzten Unternehmen und deren Verbände eine Zeitenwende<br />
durch. Seitdem stieg die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit um knapp eine
34 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
Stunde. Trotz längerer Arbeitszeiten blieben die Einkommen häufig unverändert. Indirekt<br />
wurden so die Stundenlöhne gekürzt.' 4<br />
Gleichzeitig hat mit der Zersplitterung des Tarifwesens eine Zunahme von Konflikten<br />
stattgefunden. Hier findet eine deutliche Verschiebung der Konflikte statt.<br />
Während bis Ende der 1980er Jahre die Metallindustrie die meisten, wenn auch<br />
wenige Streiks zu verzeichnen hatte und sie meist der Taktgeber für das Tarifgeschehen<br />
in den übrigen Branchen war, hat sich nun eine massive Verlagerung der<br />
Streiks in den Dienstleistungsbereich und den öffentlichen Dienst ergeben. Seit<br />
der Gründung von ver.di gab es über 1000 Arbeiterkämpfe allein in ihrem Organisationsbereich:<br />
waren es 2004 noch 36 Streiks, so waren es im Jahr 2012 188,<br />
die von ver.di genehmigt wurden. Die Anzahl der tatsächlich stattgefundenen<br />
Streiks liegt mit 211 sogar darüber, da manche Genehmigungen im Jahr zuvor erteilt<br />
worden waren. Mit Unterbrechung der Krise 2008/9 ist die Zahl kontinuierlich<br />
angestiegen.<br />
Streiks bei ver.di seit 2004<br />
Quelle: Dribbusch, Heiner: Tendenzen der Streikentwicklung in Deutschland, Folienvortrag,<br />
6.4.<strong>2013</strong> in Düsseldorf<br />
Besonders plastisch ist dies am Beispiel des öffentlichen Dienstes. In der Geschichte<br />
der Bundesrepublik bis in die 1990er Jahre gab es überhaupt nur zwei<br />
große Streiks im öffentlichen Dienst (1974 und 1992). Seit dem Jahr 2000 gab es<br />
4<br />
Tarifinitiative 2015. Tarifpolitische Kräfte in verdi gezielt nutzen und einbinden. Arbeitspapier<br />
der tarifpolitischen Grundsatzabteilung
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 35<br />
alleine im Krankenhausbereich, der zuvor quasi nie gestreikt hat, 90 Arbeitskämpfe.<br />
Damit hat sich im Organisationsbereich von ver.di die Anzahl seit ihrer<br />
Gründung im Durchschnitt vervierfacht, 5 allerdings ohne dass die Zahl der<br />
Streiktage gestiegen ist, da viele der Streiks von kurzer Dauer sind, bzw. oft in<br />
einzelnen Betrieben um Haustarifverträge ausgefochten werden.<br />
Zu diesen bekannten und registrierten Streiks kommen noch einmal eine Vielzahl<br />
kleiner, spontaner Streiks, die nie statistisch erfasst werden, weil es in<br />
Deutschland keine zentrale Streikerfassung gibt, weder bei der Regierung noch<br />
bei den Gewerkschaften. Auch diese können aber von großer Bedeutung sein,<br />
wie etwa die prominenten Beispiele bei Opel-Bochum 2004 oder bei Mercedes in<br />
Sindelfingen 2009 zeigen, als Belegschaften kollektiv ihr »Informationsrecht« von<br />
den Betriebsräten einforderten und auf diesem Weg de facto wild streikten. 6<br />
Die Krise als Chance?<br />
Paradoxerweise eröffnet die Offensive des Kapitals in der Zerstörung der Flächentarifverträge<br />
auch Chancen einer »Revitalisierung« der Gewerkschaftsbewegung,<br />
wie sie in den letzten Jahren auch immer wieder von Teilen der Gewerkschaftslinken<br />
gefordert wurde, ohne dass diese jedoch einen Weg aus der Krise<br />
weisen konnte. 7 Diese zu erkennen und dementsprechende strategische Schlüsse<br />
zu ziehen, scheint uns entscheidend, statt nur den negativen Status Quo zu beklagen.<br />
8<br />
Die Chancen bestehen darin, dass sich in den tariffreien Zonen Gewerkschafter<br />
sammeln, die um Flächentarifvertragsanerkennung oder Haustarifverträge<br />
kämpfen. Diese Kämpfe werden oft aus sehr ungünstigen Bedingungen heraus<br />
begonnen, können aber relativ schnell zu substanziellen Erfolgen führen und gewerkschaftliche<br />
Organisationsmacht neu aufbauen. In den hier zu beobachtenden<br />
Häuserkämpfen sind die Gewerkschaftsführungen unter Umständen bereit,<br />
mit kämpferischen und aktivierenden Strategien zu experimentieren, da sie weni-<br />
5<br />
Insgesamt ist Deutschland ein streikarmes Land. So fielen im Durchschnitt der Jahre 2004-2010<br />
laut Schätzungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) 15 Arbeitstage<br />
streikbedingt aus, während es in Frankreich 162, in Belgien 64, in Italien 40 und in Großbritannien<br />
24 Tage waren. Siehe auch Interview mit Heiner Dribbusch in dieser Ausgabe.<br />
6<br />
Der Arbeitskampfexperte Heiner Dribbusch vom WSI schätzt, dass von den 1.000 Streiks im<br />
Bereich von Verdi 80 % auf Haustarifverträge entfallen. Die Anzahl der wilden, unerfassten<br />
Streiks schätzt er auf mehrere Hundert im Jahr, wenn auch nicht so spektakuläre Fälle wie die<br />
genannten bei Opel oder Daimler. Siehe Interview in diesem Heft.<br />
7<br />
Vgl. z.B. Hans-Jürgen Urban, Die Mosaiklinke, Blätter für deutsche und internationale Politik<br />
(5), S. 231-238<br />
8<br />
Vgl. Brinkmann, Ulrich/Choi, Hae-Lin/Detje, Richard/Dörre, Klaus/Holst, Hajo/Karakayali,<br />
Serhat/Schmalstieg, Catharina (2008), Strategic Unionism: Aus der Krise zur Erneuerung? Umrisse<br />
eines Forschungsprogramms, Wiesbaden.
36 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
ger zu verlieren haben und weil sozialpartnerschaftlich eingestellte Betriebsräte<br />
oft nicht vorhanden sind, die sich gegen Unruhe im Betrieb stellen könnten. Oft<br />
ist das Kräfteverhältnis zwischen Gewerkschaftsapparaten und lokalen Aktivisten<br />
für letztere günstiger.<br />
In einem stabilen Flächenvertragssystem sind Gewerkschafter in einem ständigen<br />
Verhandlungsaustausch mit dem Arbeitgeber. Sie haben immer einen großen<br />
Informationsvorsprung vor (kämpferischen) Basis-Mitgliedern und tendieren<br />
dazu, bereits nur solche Forderungen aufzustellen, die aus ihrer Sicht auch »realistisch«<br />
sind und ohne großes Kräftemessen mit dem Arbeitgeber erfüllt werden<br />
können. Und sie sind oft das einzige Medium, durch das eine Vernetzung etwa<br />
zu anderen Betrieben hergestellt wird.<br />
In den anderen zu beobachtenden Häuserkämpfen stehen sich aktive Belegschaftskerne<br />
und das Management direkt gegenüber. Die Gewerkschaft wird<br />
dann von den kämpferischen Betriebskernen hereingerufen, um den Konflikt zu<br />
führen, und hat dabei natürlich auch einen enormen Informations- und Erfahrungsvorsprung.<br />
Gleichzeitig gibt es aber weniger etablierte Strukturen und Pfade,<br />
auf die eine sozialpartnerschaftliche Tradition zurückgreifen kann. Insofern<br />
kann die Gestaltungsfähigkeit von kämpferischen Kernen in den Betrieben gegenüber<br />
der Gewerkschaft höher sein.<br />
Betriebliche Aktiven-Kerne können die Erfahrung machen, dass ihre kämpferische<br />
Initiative unmittelbar Erfolge mit sich bringt. Dies steht durchaus im Kontrast<br />
zu den Erfahrungen in den großen Flächentarifvertragsbewegungen, wo die<br />
kämpferische oder passive Haltung der Beschäftigten einzelner Betriebe oft nur<br />
sehr mittelbar einen Effekt auf das Gesamtergebnis hat. Die Kollegen können in<br />
diesen Häuserkämpfen sehr stark beteiligt sein und in Form von betrieblichen<br />
Tarifkommissionen auch direkt sehr weitgehend das Tarifbewegungsgeschehen<br />
kontrollieren. Auf diese Weise können sie direkt den Erfolg ihrer Arbeit in einer<br />
erfolgreichen Mobilisierung und schließlich in Bezug auf materielle Durchschlagskraft<br />
ihrer Bewegung erleben. Dies kann eine sehr hohe Motivation der<br />
neuen Mitglieder und eine Positivspirale von Erfolg zu Beteiligung und Aktivität<br />
zu mehr Erfolg mit sich bringen. So kann etwa in der größten Uniklinik Europas,<br />
in der Charité, beobachtet werden, dass die Gewerkschaftsgruppe dort systematisch<br />
die Streiks nutzte, um neue Aktivisten zu gewinnen, und in der Folge diese<br />
Aktivisten auf die Listen für die Betriebsratswahlen setzte. Während normalerweise<br />
die Betriebsräte sich an enge und langjährige Kooperation mit der Geschäftsleitung<br />
gewöhnen und es dazu viele institutionelle Anreize gibt, kann hier<br />
beobachtet werden, dass eine kämpferische Basisgruppe nach den Streiks 2006<br />
und 2011 jeweils die Betriebsratswahlen 2008 und 2012 nutze, um zentrale<br />
Streikaktive nach sehr kurzer Zeit auf die Liste für die Freistellungen zu setzen.<br />
D. h. während normalerweise die Sozialpartnerschaft und ihre Institutionen die
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 37<br />
Tarifbewegungen prägen und nur in Ausnahmefällen eine kämpferische Politik<br />
durchbrechen kann, kann hier ein kämpferischer Kern im Konflikt neue Aktive<br />
gewinnen und dann die Institution Betriebsrat mit diesen umbauen. 9<br />
Allerdings ist die Voraussetzung für die Herausbildung solcher betrieblichen<br />
Kerne, dass die Beschäftigten über strukturelle Macht verfügen: entweder durch<br />
eine günstige Arbeitsmarktsituation oder durch Produktionsmacht aus dem Produktionsprozess<br />
heraus und/oder dass es ein öffentliches Interesse an dem Produkt<br />
(Altenpflege, Kitas, Reinigungskräfte) gibt. Gerade in Niedriglohnbereichen<br />
ohne größere Qualifikation kann die Zerschlagung der Tarifstrukturen Organisierung<br />
auf Dauer sehr stark behindern. 10<br />
Günstige konjunkturelle und Produktionsmacht-Konstellationen<br />
erkennen und nutzen.<br />
Klassenbewusstsein besteht vereinfacht gesagt aus zwei Bestandteilen: einmal aus<br />
dem Selbstbewusstsein und dem Selbstvertrauen, als Klasse eine bedeutende<br />
Kraft darzustellen, zum anderen aus der radikalen und kompromisslosen Ablehnung<br />
des Kapitalismus als ökonomische und politische Ordnung. Selbstbewusstsein<br />
und Kapitalismuskritik wachsen in Zeiten großer Kämpfe, in denen die<br />
Klasse selbst Erfahrungen mit den Institutionen des Kapitals macht. Dann machen<br />
auch Interpretationsangebote von sozialistischen oder antikapitalistischen<br />
Organisationen plötzlich Sinn. Selbstbewusstsein ist also eine unabdingbare Voraussetzung<br />
für die Entstehung von Klassenbewusstsein.<br />
Voraussetzung für eine kämpferische Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung<br />
jenseits der Sozialpartnerschaft ist, dass sich Kerne von klassenbewussten Lohnabhängigen<br />
neu entwickeln, und dazu bedarf es Beschäftigter, die sich mächtig<br />
fühlen, selbst etwas zu erstreiten, statt auf die stellvertreterische Aktivität anderer<br />
zu hoffen. Die Frage der objektiven, strukturellen Macht der Beschäftigten und<br />
ob sie diese auch als solche wahrnehmen, spielt dabei eine entscheidende Rolle.<br />
Im Folgenden sollen zwei Möglichkeiten der Machterschließung diskutiert werden.<br />
Eine basiert darauf, dass die Dynamik des Kapitalismus ständig die Produktion<br />
9<br />
Dies ist durchaus konfliktiv. In der Charité hält die verdi-Liste knapp die absolute Mehrheit. Alle<br />
anderen Listen sind laut Aussage eines Aktivisten ehemalige verdi oder ötv-Betriebsräte, die von<br />
der Aktivistengruppe an dem einen oder anderen Punkt nicht mehr erneut aufgestellt wurden.<br />
10<br />
Ein verdi-Sekretär erzählte etwa von der Situation der Volkshochschulen. Diese seien früher Teil<br />
des öffentlichen Dienstes gewesen. Heute sind sie einer privaten Konkurrenz ausgeliefert. Volkshochschulkurse<br />
verlangen keine besonders hohe Qualifikation und keine großen Produktionsabläufe.<br />
Dementsprechend kann hier ein krasser Unterbietungswettbewerb von neuen Konkurrenten<br />
stattfinden. Die Volkshochschulen sind diesem schutzlos ausgeliefert und die Beschäftigten<br />
dort sind zwar teilweise gut organisiert, können sich aber faktisch nicht wehren, weil sonst der<br />
Arbeitgeber einfach insolvent geht. Hier müsste eine politische Reregulierung erfolgen, die aber<br />
nicht in Sicht ist.
38 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
revolutioniert und dabei alte strukturelle Arbeitermacht schwächt, aber gleichzeitig<br />
auch neue, potenzielle Machstrukturen hervorbringt. Die zweite basiert darauf,<br />
dass Produktion insbesondere von Dienstleistungen darauf beruht, dass es<br />
einen Abnehmer, einen »Kunden« gibt. Auch dieses Verhältnis ermöglicht eine<br />
Politisierung und Erschließung von Machtpotenzialen für die Beschäftigten.<br />
Aus marxistischer Perspektive sollte sich der Entwurf einer Strategie zur »Revitalisierung«<br />
der Gewerkschaften nicht an den bestehenden Gewerkschaftsstrukturen,<br />
sondern an den Machtpotenzialen von Beschäftigtengruppen und den sich<br />
daraus ergebenden Handlungsmöglichkeiten orientieren. Neben einem konjunkturellen<br />
und arbeitsmarktbedingten Machtpotenzial sind vor allem diejenigen<br />
nicht direkt konjunkturabhängigen Machtpotenziale, die sich aus der Stellung im<br />
Produktionsprozess ergeben, von großer Relevanz. 11<br />
Erstens sind neue Industrien entstanden, bei denen Arbeitergruppen Produktionsmacht<br />
erlangen können. Beispielsweise zählt etwa die Windenergiebranche im<br />
Jahr 2012 101.000 Beschäftigten, das ist seit 2003 mehr als eine Verdoppelung. 12<br />
Hier könnten Gewerkschaften versuchen, systematisch Fuß zu fassen, und teilweise<br />
passiert dies auch im Rahmen von Organizing-Kampagnen. 13<br />
Zweitens gibt es Industrien und Unternehmen, die schon lange existieren, bei<br />
denen aber sozialpartnerschaftliche Traditionen der jeweiligen Gewerkschaften<br />
den Einsatz von Produktionsmacht verhindert hat. Lange haben hier Beschäftigte<br />
systematische Angriffswellen erleiden müssen, bis schließlich Gewerkschaften<br />
ihre Produktionsmacht eingesetzt haben. Die systematische Erschließung dieser<br />
Bereiche würde enorme Potenziale mit sich bringen. Hierzu zählt der gesamte<br />
Verkehrssektor, die Eisenbahnen, aber auch die Flughäfen. Wenn Globalisierung<br />
die immer größere Beschleunigung des Waren- und Kapitalumschlags bedeutet,<br />
dann setzt diese eine territorial festgesetzte Infrastruktur des Verkehrs voraus.<br />
Diejenigen Arbeitergruppen, die diese Infrastruktur in Gang halten und den Personen-<br />
und Warenverkehr organisieren, haben eine Schlüsselstellung. Die wach-<br />
11<br />
Siehe Diskussion um Produktionsmacht bei Silver im Beitrag »Über Führung und Basis« in diesem<br />
Heft: »Produktionsmacht dagegen entwickeln Arbeiterinnen und Arbeiter in hochintegrierten<br />
Produktionsprozessen, die durch örtlich begrenzte Arbeitsniederlegungen an Schlüsselstellen<br />
in einem Umfang gestört werden können, der weit über die Arbeitsniederlegung selbst hinausgeht.<br />
Diese Macht zeigt sich, wenn ganze Fließbänder durch Arbeitsniederlegungen gestoppt<br />
und ganze Konzerne, die von just-in-time-Zulieferung abhängen, durch Eisenbahnstreiks zum<br />
Stillstand gebracht werden.« Silver, Beverly: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung<br />
seit 1870. Assoziation A Berlin 2003.<br />
12<br />
Meldung Bundesverband Windenergie 27.3.<strong>2013</strong> http://www.wind-energie.de/infocenter/meldungen/2012/aufwind-bei-beschaeftigtenzahl-der-windbranche.<br />
13<br />
Im Jahr 2012 gab es die erste Streikbewegung aus dem Organizing-Projekt der IG Metall heraus<br />
in der Windenergiebranche. Nach zwei Warnstreiks mit großer Beteiligung kam es zu einem ersten<br />
Tarifvertrag in dieser Branche.
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 39<br />
senden Konflikte bei den Eisenbahnern aber auch den Flugbegleitern, die 2012<br />
erstmalig die Lufthansa sehr effektiv bestreikten, sind dafür ein Hinweis.<br />
Dabei muss es nicht unbedingt um Transportarbeiter im engeren Sinne geben.<br />
So haben etwa die Fluglotsen oder die Vorfeldarbeiter, aber auch die Sicherheitsdienste<br />
am Flughafen die gleiche Fähigkeit, die Transportwege empfindlich zu<br />
stören. Der Streik im Wach und Sicherheitsgewerbe an den Flughäfen in NRW<br />
ist dafür ein interessantes Beispiel. Die Branche ist insgesamt sehr stark von prekärer<br />
Beschäftigung betroffen. Wenige hundert Beschäftigte im Flughafenbereich<br />
nutzten nun ihre Produktionsmacht sehr effektiv, um zu beweisen, welche Stellung<br />
sie in dem Produktionsprozess haben, in dem sie an den einzelnen Streiktagen<br />
den Flugverkehr empfindlich stören konnten. Mit einer guten Organisierung<br />
dieser Schlüsselbeschäftigten konnte wiederum der Flächentarifvertrag im Sicherheitsgewerbe<br />
in NRW mit mehreren zehntausend Beschäftigten substanziell verbessert<br />
werden, obwohl der Organisationsgrad in der Fläche sehr gering ist. Die<br />
Produktionsmacht in dem Teil der Flughäfen konnte also erfolgreich auf alle Sicherheitsbeschäftigten<br />
ausgeweitet werden.<br />
Drittens gibt es eine Entwicklung, innerhalb bestehender Industrien und<br />
Dienstleistungssektoren durch neue Produktionsketten neue potenziell mächtige<br />
Akteure herauszubilden. Hierzu zählt etwa die Entwicklung von Amazon. War<br />
der Buchhandel noch vor wenigen Jahren hauptsächlich an Buchläden, oft kleine<br />
eigenständige Buchhandlungen gebunden, so hat sich hier eine enorme Konzentration<br />
ergeben, die neue produktionsmächtige Arbeitergruppen erschaffen hat.<br />
Hatte etwa eine Angestellte in einer einzelnen Buchhandlung früher keinerlei<br />
Produktionsmacht, weil sie meist direkt von ihrem Buchladen angestellt war, so<br />
haben heute Arbeiter in den Amazon-Versandfabriken enorme Produktionsmacht<br />
erhalten. Verlief der Weg des Buches von der Herstellung zum Kunden<br />
früher über eine Ladenstruktur, in der der einzelne Beschäftigte höchstens seinen<br />
eigenen Buchladen bestreiken konnte, so verfügen heute 9000 festangestellte Arbeiter<br />
in den Versandfabriken von Amazon über die Macht, den Umsatz von 9<br />
Milliarden Dollar jährlich zu bedrohen. 14<br />
Das gleiche gilt für enorm konzentrierte Betriebe mit Einzelhandelsfilialen. Seit<br />
1962 die ersten Discounter aufmachten, sind sie zu riesigen Konzernen angewachsen.<br />
Zuvor war die Lebensmittelversorgung ebenso von kleinen, oft selbstständigen<br />
Märkten geprägt. Heute sieht dies anders aus: »Die Zahl der Discounter<br />
ist bis Anfang 2012 in Deutschland auf rund 16.300 Filialen gestiegen. Das<br />
Umsatzniveau erreichte dabei 60,5 Mrd. EUR. Damit gibt es inzwischen mehr<br />
Discounter als traditionelle Supermärkte (11.300 Filialen über 100 qm). Jeder<br />
Haushalt hierzulande kann inzwischen mit dem Auto im Durchschnitt 3 ver-<br />
14<br />
Amazon hat seinen Umsatz innerhalb von nur zwei Jahren um 60 Prozent gesteigert. (Quelle:<br />
»Riesige Amazon-Umsätze überraschen Analysten.«, Die Welt 5.2.<strong>2013</strong>)
40 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
schiedene Discounter innerhalb von 10 Minuten erreichen.« 15 Der Marktanteil<br />
am Lebensmittelkonsum allein der Discounter liegt bei über 40 Prozent. Damit<br />
entsteht ein hochkomplexes System, bei dem alle Räder ineinandergreifen müssen.<br />
Jeden Tag müssen Lebensmittel frisch angeliefert werden. Die großen Ketten<br />
achten genau auf die Kundenströme und organisieren den Personalbestand<br />
dementsprechend. Auch hier haben Beschäftigte objektiv an Produktionsmacht<br />
gewonnen. Früher, meist in Familienbetrieben organisierte Beschäftigung mit direkter<br />
Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber ist Riesenkonzernen mit hunderttausenden<br />
Beschäftigten gewichen, wo insbesondere diejenigen, die die Versorgungslogistik<br />
kontrollieren (Lager, Transport, Verwaltung und Abrechnung der<br />
Warenströme) enorme Produktionsmacht besitzen.<br />
Viertens gibt es Restrukturierungen in Unternehmen, wie Privatisierungen<br />
oder die Einführung von internen Marktmechanismen, die oft bewusst dazu eingeführt<br />
wurden, um die Gewerkschaften in diesen Bereichen zu schwächen oder<br />
Konkurrenz dort einzuführen, wo zuvor ein Monopol oder ein übergreifender<br />
Flächentarifvertrag eine Konkurrenz verhinderte.<br />
Diese Restrukturierungen haben aber oft eine widersprüchliche Wirkung auf<br />
die Machtpotenziale der Beschäftigten. Früher gab es bei der Post ein Zentrallager<br />
für Pakete in Frankfurt. Wenn dieses gestreikt hat, lag alles lahm. Heute gibt<br />
es mehrere regionale Lager, die im Zweifelsfall auch untereinander aushelfen<br />
könnten, sollte eines ausfallen. Die alte Machtposition des Zentrallagers besteht<br />
also nicht mehr. Das Lager ist jetzt nur noch eines von mehreren.<br />
Allerdings ist es mittlerweile so, dass alles über ein Barcodesystem ausgeliefert<br />
wird. Wenn dieses ausfällt, etwa durch einen Streik beim IT-Service, bricht sofort<br />
das gesamte System zusammen.<br />
Solche Neuzusammensetzungen der Produktionsmacht gibt es viele, auch dort,<br />
wo man sie nicht vermutet: In Krankenhäusern gab es noch Anfang der 1990er<br />
Jahre Tagespauschalen für jeden Patienten. Die Liegezeiten waren fast doppelt so<br />
lang. Wenn Krankenhäuser bestreikt wurden, dann ist der Arbeiterbereich (Kantine,<br />
Wäscherei etc.) in den Streik getreten und die Beschäftigten in der Pflege<br />
sind auf Sonntagschicht ausgedünnt worden. Die Patienten waren da und konnten<br />
auch nicht verlegt werden. Der ökonomische Schaden für den Arbeitgeber<br />
war gleich null. Der Streik hatte eher eine politische Bedeutung.<br />
Heutzutage bedeutet das DRG-System, dass jede Leistung einzeln mit einer<br />
Fallpauschale belegt wird. Die Liegezeiten haben sich halbiert, so dass Patienten<br />
schneller entlassen werden (bis hin zur sog. »blutigen«, vorzeitigen Entlassung).<br />
Wenn jetzt aber Pflegekräfte streiken und per Notdienstvereinbarung Operationen<br />
oder Patienten(neu)belegung verhindern, dann hat dies einen enormen Ef-<br />
15<br />
Axel Springer Marktanalyse: Trend topic, September 2012. 13 Seiten, S. 5
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 41<br />
fekt auf die Einnahmen des jeweiligen Krankenhauses. Auf diese Weise konnten<br />
die Pflegekräfte in der Charité innerhalb von fünf Tagen Streik 1500 von 3300<br />
Betten sperren und der Klinik einen enormen finanziellen Schaden zufügen.<br />
Nach fünf Tagen gab die Geschäftsleitung wesentlichen Forderungen nach. Das<br />
heißt, die Ökonomisierung und Veränderung der Produktionsabläufe kann neue<br />
Arbeitermacht schaffen und die Zerstörung des Flächentarifvertrages kann dazu<br />
führen, dass kämpferische Betriebskerne sich diese Macht dezentral erschließen.<br />
Sich Macht zu erschließen ist aber keineswegs ein Automatismus, der sich aus<br />
dem Potenzial einfach ableiten lässt. Ein Beispiel aus der Berliner Charité:<br />
Bei der Berliner Charité wurde der Flächentarifvertrag von der Unternehmensleitung<br />
im Jahr 2005 verlassen, ein Absenkungstarifvertrag zur Verhandlung gestellt, eine<br />
Service-Gesellschaft mit dem ehemalig kampfstarken Arbeiterbereich ausgegründet<br />
und eine Ausgründung der neu einzustellenden Pflegekräfte angestrebt. […] (d)ie<br />
Geschäftsleitung überzog ihr Handeln gerade angesichts der Schwäche gewerkschaftlicher<br />
Akteure so weit, dass sie diesen überraschende Handlungsspielräume eröffnete.<br />
Die Geschäftsleitung hatte im Vorfeld der Tarifverhandlungen das Personal<br />
der Operationssäle (OPs) so restrukturiert, dass diese nicht mehr einem OP zugeordnet,<br />
sondern übergreifend als Springer eingeteilt waren, so dass wenig hochqualifiziertes<br />
Personal quasi in permanenter Springertätigkeit die OPs am Laufen hielt.<br />
Diese Veränderung des Arbeitsprozesses rekonstituierte die strukturelle Macht der<br />
Beschäftigten. Allerdings kann daraus keine direkte Ableitung von Handlungsstrategien<br />
oder realem Handeln erfolgen. Denn die Beschäftigten erkannten zu diesem<br />
Zeitpunkt diese latente strukturelle Macht noch nicht – sie dachten eher, dass sie immer<br />
stärker überarbeitet wären. 16 Erst als die Geschäftsleitung die schon sehr weitgehende<br />
Konzessionsbereitschaft von ver.di so strapazierte, dass eine kleine Gruppe<br />
von AktivistInnen aus einer der drei Kliniken sich mit einer Ablehnung der Zugeständnisse<br />
durchsetzen konnte, eskalierte der Konflikt. Diese Gruppe setzte auf<br />
Konflikt – ebenfalls zunächst, ohne die Veränderung der Machtressourcen zu kennen.<br />
Sie argumentierten aus grundsätzlicher Perspektive, die Konzessionsbereitschaft<br />
16<br />
Ein gutes Bild der Situation bietet ein Interview mit einem Beschäftigten aus dem OP-Bereich<br />
im Jahre 2006 vor dem Streik: » ›Ich bin körperlich fit, laufe Marathon, aber auch ich kann bald<br />
einfach nicht mehr‹, sagt Mark (Name von der Redaktion geändert), der seit vier Jahren als OP-<br />
Pfleger in Europas größter Uniklinik arbeitet. Acht von 20 Kollegen hätten seither dort aufgehört,<br />
aber keine einzige Stelle sei neu besetzt worden, berichtet er. Das Arbeitsvolumen habe<br />
sich hingegen nicht reduziert. Im Gegenteil: Durch die seit dem 1.Mai geltenden neuen Dienst -<br />
pläne haben sich die Bedingungen, unter denen die Bereitschaftsdienste abgeleistet werden müssen,<br />
deutlich verschlechtert. ›Während man früher zu zweit in Bereitschaft war, macht das heute<br />
einer‹, erklärt Mark. Außerdem müßten die Pfleger nun in den OPs anderer Fachgebiete aushelfen.<br />
Das führt dazu, daß während des ›Bereitschaftsdienstes‹, der zu 65 Prozent des tariflichen<br />
Stundensatzes entlohnt wird, die meiste Zeit gearbeitet wird.« (Behruzi 2006) Hier wird deutlich,<br />
dass die Beschäftigten in diesem Bereich dies zunächst einfach nur als weitere, zusätzliche Belastung<br />
wahrgenommen haben, ohne allerdings die »revolutionäre Unterseite des Elends« – nämlich<br />
ihre gestiegene strukturelle Macht – zu erkennen.
42 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
sei zu weit gegangen. Aber im Laufe der Streikvorbereitungen suchten sie nach<br />
Machtressourcen und fanden die OP-Kräfte und ihre besondere Situation, was ihnen<br />
einen »halbwegs erfolgreichen« Streik durch Lahmlegung der OPs ermöglichte –<br />
auch aus einer Minderheitenposition der kämpferischen Elemente innerhalb der Belegschaft<br />
und in Kontrast zur bis dato eher sozialpartnerschaftlichen vorherrschenden<br />
Tradition heraus. 17<br />
Das heißt, solche Machtzusammensetzungen führen nicht automatisch zu mehr<br />
Macht. Macht muss erkannt und systematisch erschlossen werden. Wenn dies<br />
nicht geschieht, können die immer neuen Restrukturierungen des Arbeitsprozesses<br />
auch einfach von einer demoralisierten Belegschaft erduldet werden.<br />
Streiks und Arbeitskämpfe vergesellschaften<br />
Ein weiteres Machtpotenzial der Beschäftigten besteht darin, das Verhältnis zum<br />
Kunden bzw. zum Abnehmer der Ware zum Ausgangspunkt einer Mobilisierungsstrategie<br />
zu machen. Streiks werden einerseits durch den ökonomischen<br />
Schaden gewonnen, die ein Streik auf den Arbeitgeber ausübt. Allerdings werden<br />
sie auch in der Öffentlichkeit ausgefochten. Selbst bei Streiks etwa in der Metallund<br />
Elektroindustrie spielt das Ringen um die Öffentlichkeit, das heißt um Zustimmung<br />
oder Ablehnung eine wichtige Rolle. Sie ist ein »politisches« Element<br />
in jedem Streik, das die Entwicklung der Kräfteverhältnisse in einem Kampf mit<br />
beeinflussen kann.<br />
Ein »negatives« Beispiel aus der jüngsten Geschichte könnte der Streik um die<br />
Einführung der 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland 2003 sein. Damals ist der<br />
betriebliche Kampf um die 35-Stunden-Woche im Osten nicht als gesellschaftlicher<br />
Kampf gegen Arbeitslosigkeit und für mehr Jobs im Osten mit einer breiten<br />
Kampagne vorbereitet worden. Stattdessen hat man sich auf betriebliche<br />
Macht ohne politische Mobilisierung verlassen und wurde dann von Betriebsratsvorsitzenden<br />
der großen Automobilindustrie im Westen hängen gelassen. 18 Eine<br />
breite gesellschaftliche Kampagne mit der Aussage »die 35-Stunden-Woche<br />
schafft Jobs« wäre da eine Möglichkeit gewesen. Stattdessen gelang es dem Un-<br />
17<br />
Unveröffentlichtes Manuskript, Kurzfassung findet sich in: Nachtwey, Oliver/Wolf, Luigi: »Strategisches<br />
Handlungsvermögens und gewerkschaftliche Erneuerung im deutschen Modell industrieller<br />
Beziehungen« in Schmalz, Stefan/ Dörre,Klaus: Comeback der Gewerkschaften?<br />
Machtressourcen, innovative Praktiken, internationale Perspektiven, Campus-Verlag <strong>2013</strong><br />
18<br />
So berichtete die Welt vom 26.6.2003 über die Betriebsratsvorsitzenden der großen westdeutschen<br />
Automobilwerke: "... Schon bei der Betriebsrätekonferenz am Montag hatte der Gesamtbetriebsratschef<br />
von Daimler-Chrysler, Erich Klemm, die Streikstrategie in Ostdeutschland ungewöhnlich<br />
deutlich kritisiert. Klemm soll den für den Streik verantwortlichen zweite Vorsitzenden<br />
der IG Metall Jürgen Peters einen "tarifpolitischen Geisterfahrer" genannt haben. Um den<br />
Streik zu Ende zu bringen, hatte der Gesamtbetriebsratsvorsitzende von VW, Klaus Volkert,<br />
einen Austritt des Konzerns aus dem Arbeitgeberverband Sachsen ins Gespräch gebracht...."
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 43<br />
ternehmerlager und den Medien, die Interessen der Beschäftigten nach einer Verkürzung<br />
der Arbeitszeit sogar als potenzielle Gefahr für Arbeitsplätze und Investitionen<br />
in Ostdeutschland darzustellen und damit die Arbeitslosen gegen die Beschäftigten<br />
zu mobilisieren.<br />
Dass es auch anders hätte gehen können, lässt ein Blick auf das darauffolgende<br />
Jahr vermuten. Der Streik für die 35-Stunden-Woche im Osten begann im Juni<br />
2003. Ein Jahr später, im August 2004, zeigte sich, welche Dynamik in der Bewegung<br />
der Arbeitslosen in den Hartz-IV-Demonstrationen insbesondere in Ostdeutschland<br />
steckte. Mit einer langfristig angelegten Interaktion aus politisch-gesellschaftlicher<br />
Mobilisierung gegen Arbeitslosigkeit und der betrieblichen Forderung<br />
nach einer 35-Stunden-Woche hätte die Isolierung der Streiks in der Bevölkerung<br />
verhindert werden können und wahrscheinlich wäre es den West-Betriebsräten<br />
auch schwerer gefallen, sich der Dynamik zu entziehen.<br />
Ein ungewöhnliches Beispiel, wie selbst in Bereichen von Personenbezogenen<br />
Dienstleistungen vom Gebrauchswert der Arbeit her eine gewisse Kampfperspektive<br />
abgeleitet werden kann, stellt das Beispiel der Schlecker-Frauen in Baden-Württemberg<br />
dar. Dort ist der Gebrauchswert der Dienstleistung der<br />
Schlecker-Frauen ein Ausgangspunkt für eine Weiterführung des Kampfes geworden.<br />
Nach der Pleite versuchten sie mit Hilfe eines Genossenschaftssystems die Bevölkerung<br />
und die Politik zu mobilisieren, um ihren Betrieb als Genossenschaft<br />
weiterzuführen. Systematisch organisieren die Schlecker-Frauen Solidaritätsnetzwerke<br />
und versuchen, diese für die Unterstützung ihrer Genossenschaften zu gewinnen.<br />
DER SPIEGEL beschreibt dies in der Kommune Stetten in Baden-Württemberg,<br />
einem 5000-Einwohner-Ort, wo eine Bürgerversammlung für<br />
die Gründung der Genossenschaft vor Ort stattfand: »200 Einwohner haben sich<br />
dort im Versammlungsraum eingefunden. Ein Genossenschaftsberater sagt, es<br />
sollten mindestens 200 ›Stützlis‹, sogenannte Unterstützungsmarken für die Genossenschaft<br />
verkauft werden. ›Das sind Wertmünzen zu 50 oder 100 Euro. […]<br />
Ihren Stützli können Sie dann in drei Jahren als Warengutschein einlösen.‹ Und<br />
wer Teilhaber werde, könne zum Beispiel auch einen Bringservice nutzen. ›Diese<br />
Damen verkaufen auch ein ganz großes Stück Menschlichkeit‹, sagt Gröll und<br />
deutet zu den vier Verkäuferinnen. Die Zuhörer klatschen.« Hier geht es jetzt<br />
nicht darum, wie erfolgsversprechend das Modell einer Genossenschaft ist. 19 Uns<br />
geht es an dieser Stelle darum zu zeigen, dass der Gebrauchswert der Dienstleistung<br />
für die Bewohner des Ortes – in diesem Fall des einzigen Ladens in einem<br />
Ort von 5000 Einwohnern – ein Ausgangspunkt der Netzwerk- und Organisierungsarbeit,<br />
also von Organisationsmacht in die Gesellschaft hinein sein kann.<br />
19<br />
Eine kritische Würdigung des Genossenschaftskonzeptes findet sich bei Jürgen Ehlers Der<br />
Kampf gegen Arbeitslosigkeit in dieser Ausgabe.
44 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
Vor allem gilt das Potenzial und die Notwendigkeit für die Politisierung von<br />
Streiks natürlich für Streiks im öffentlichen Dienst und bei personenbezogenen<br />
sozialen Dienstleistungen. Bernd Riexinger, Parteivorsitzender der LINKEN<br />
und ehemals Geschäftsführer von ver.di in Stuttgart, hat dies in seiner Rede auf<br />
der Konferenz »Erneuerung durch Streik« auf den Punkt gebracht:<br />
Wie schon erwähnt, sind Streiks im öffentlichen Dienst immer eine öffentliche Angelegenheit<br />
und damit per se eine politische Auseinandersetzung. Es geht um die<br />
Verwendung von Steuergeldern, den Stellenwert der öffentlichen Daseinsvorsorge,<br />
um die Bedeutung öffentlicher Dienstleistungen und der Beschäftigten im öffentlichen<br />
Sektor.<br />
Deshalb müssen diese Arbeitskämpfe, sollen sie erfolgreich sein, immer im öffentlichen<br />
Raum geführt werden. Streikziele und die Notwendigkeit des Streiks müssen<br />
der Bevölkerung vermittelt werden. Es schwächt den Streik, wenn Eltern über Gebühr<br />
die streikenden Erzieher/innen unter Druck setzen, sich Bürger/innen massenhaft<br />
über wachsende Müllberge beschweren oder Pflegekräfte im Krankenhaus beschuldigt<br />
werden, Leib und Leben der Patienten/innen aufs Spiel zu setzen.<br />
Dabei geht es sowohl um die Legitimität des Streiks bei den Streikenden selbst, als<br />
auch in der Gesellschaft. Dies hängt aber gerade bei sozialen Dienstleistungen<br />
oft miteinander zusammen. Denn oft wird die Identifikation der Beschäftigten<br />
mit ihrem Beruf, also die besondere Verantwortung, der (oft) weiblichen Pflegekräfte,<br />
Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer für ihre Patienten,<br />
Schüler, zu betreuenden Kinder von den jeweiligen Dienstherren ausgenutzt, um<br />
Akzeptanz bzw. Erduldung von immer schlimmeren Arbeitsbedingungen zu<br />
schaffen. Streiks können in diesen Sektoren demobilisiert werden, wenn etwa die<br />
Beschäftigten das Gefühl haben, die ihnen anvertrauten Personen im Stich zu<br />
lassen.<br />
Andererseits bieten Streiks und Arbeitskämpfe in diesen Sektoren aber auch<br />
die Möglichkeit, gewerkschaftliche Kämpfe als Kämpfe für die Interessen der Patienten,<br />
Schülerinnen und zu betreuenden Kinder in die Gesellschaft hineinzutragen<br />
und auch auf diese Weise Akzeptanz für die Ziele der Streikenden zu erreichen.<br />
Dies kann natürlich dann besonders gut gelingen, wenn die Gewerkschaft<br />
neben den Lohnforderungen etwa auch versucht, die qualitativen Forderungen<br />
der Beschäftigten aufzunehmen. Im Pflegebereich, in Krankenhäusern oder in<br />
den Kindertagesstädten ist etwa die Forderung nach einer ausreichenden Personalbesetzung<br />
eine der wichtigsten Anliegen der Beschäftigten – einerseits, weil<br />
die Arbeit in den letzten Jahren immer mehr verdichtet wurde, so dass Arbeitsunfähigkeit<br />
oder Burnout massiv zugenommen haben, und andererseits aber<br />
auch, weil die Arbeit mittlerweile so verdichtet ist, dass die Pflegekräfte oder<br />
auch Erzieherinnen das Gefühl haben, sie könnten ihren Job nicht mehr richtig<br />
im Interesse der ihnen anvertrauten Personen leisten. Eine Aufnahme dieser For-
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 45<br />
derungen durch die Gewerkschaft könnte eine wichtige strategische Bedeutung<br />
erhalten.<br />
Ein interessantes Beispiel für eine solche Herangehensweise ist der bevorstehende<br />
Tarifkonflikt an der Charité in Berlin. Dort hat sich die Betriebsgruppe<br />
von ver.di vorgenommen, erstmals in der Bundesrepublik eine Tarifbewegung<br />
gegen den Personalmangel in Krankenhäusern zu führen. Die Kernforderungen<br />
sind dabei feste Quoten von Beschäftigten zu Patienten für Intensiv- und Normalstationspflege.<br />
Keine Beschäftigte soll zukünftig mehr »eine Nacht allein« auf<br />
Station arbeiten. Zur Durchsetzung soll der Arbeitgeber zu drastischen Strafzahlungen<br />
an die Arbeitenden verpflichtet werden, wenn unterhalb dieser Standards<br />
gearbeitet wird.<br />
Diese qualitative Forderung hat das Potenzial, ein Bündnis von Beschäftigten<br />
und Patienten/Bürgern zu ermöglichen. Denn wenn das systematische Unterbesetzen<br />
von Pflegekräften so teuer wird, dass es für den Arbeitgeber wieder billiger<br />
wird, mehr festes Personal einzustellen, profitieren Patienten, weil die Pflegekraft<br />
wieder mehr Zeit für sie hat – sei es nun für das sichere Händewaschen<br />
oder ein beruhigendes Gespräch am Krankenbett. Wegen Personalmangel, Arbeitsverdichtung<br />
oder steigendem DRG-System-bedingtem Dokumentationsaufwand<br />
nicht mehr genügend Zeit für umfassende, ganzheitliche Pflege zu haben,<br />
wird in allen Umfragen und Untersuchungen über die Arbeitszufriedenheit als einer<br />
der Hauptgründe für Unzufriedenheit im Beruf unter Pflegekräften angegeben.<br />
20<br />
Personalmangel zum Gegenstand einer Tarifbewegung zu machen, hat, wie<br />
wohl kaum ein anderes Thema, das Potenzial, den Arbeitsethos der Pflegekräfte<br />
anzusprechen, und könnte gleichzeitig zum Vorbild für andere sorgetätige Beschäftigte<br />
und ihre Gewerkschaften werden. Auf diese Weise in einer Tarifbewegung,<br />
im Streik den Arbeitsethos der Beschäftigten zu mobilisieren, funktioniert<br />
also nicht nur nach innen. Es kann auch zu den Patienten, den Medien – der Gesellschaft<br />
gegenüber seine Wirkung entfalten. Der ökonomische Schaden für die<br />
Klinik und die Beeinträchtigung des öffentlichen Lebens durch den Streik verschafft<br />
diesem eine sichere mediale Aufmerksamkeit und damit die Chance, diese<br />
Form der kollektiven Artikulation auf der Mikro-Ebene für einen Hegemoniekampf<br />
in der Gesellschaft zu nutzen.<br />
Dabei ist gesundheitspolitische Hegemonie keine Voraussetzung für das Verändern<br />
von Kräfteverhältnissen. Sie ist aber auch kein Reflex des ökonomischen<br />
Kampfes. Die machtvolle Selbstmobilisierung der Streikenden schafft die Arena,<br />
in der ein Wechselspiel zwischen Beschäftigten- und universellen Gesundheitsinteressen<br />
der Patienten bzw. der Gesamtgesellschaft sich langsam wechselseitig<br />
20<br />
Bartholomeyczik, Sabine, Elke Donath, Sascha Schmidt, Monika Rieger und Elisabeth Berger,<br />
2008: Arbeitsbedingungen im Krankenhaus, Dortmund/Berlin/Dresden
46 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
stützen und entfalten können. Dabei zu denken, dass sowohl Beschäftigte als<br />
auch »die Öffentlichkeit« erst in einer wohl durchdachten PR-Kampagne gewonnen<br />
werden müssten, stellt die Sache auf den Kopf. Die authentische Artikulation<br />
der Beschäftigteninteressen schafft – gerade weil den Beschäftigten ihre Arbeit<br />
und die Patienten am Herzen liegen – die Grundlage einer universellen Artikulation<br />
auch allgemeiner Bürger-, Patienten- und Betroffeneninteressen. Zumindest<br />
hatten die Streikenden der Charité im Jahr 2011 keine ausgefeilte Öffentlichkeitsstrategie,<br />
sondern überzeugten sich und die Medien, die generell sehr positiv<br />
berichteten, durch ihre authentische Selbstmobilisierung.<br />
Der Streik im Nahverkehr in Baden-Württemberg 2012 ist ein weiteres Beispiel,<br />
wie Streikmacht klug mit einer guten Öffentlichkeitsarbeit verbunden werden<br />
kann. Denn in diesem Bereich gibt es ein Problem mit der traditionellen<br />
Streikstrategie. Bernd Riexinger beschreibt das folgendermaßen:<br />
Nun sind Streiks bei der Straßenbahn einerseits sehr wirkungsvoll, weil kein Bus und<br />
keine Bahn aus den Betriebshöfen rausfährt, aber sie üben keinen ökonomischen<br />
Druck auf den Eigentümer aus. Öffentliche Verkehrsbetriebe sind in der Regel Zuschussbetriebe<br />
und der kaufmännische Direktor freut sich, dass ihm die Gewerkschaft<br />
die Gehälter bezahlt, und dauert der Konflikt länger, gibt es größeren Ärger<br />
mit den Fahrgästen, die nicht zur Arbeit oder zur Schule kommen.<br />
Deswegen entwickelten die Straßenbahnfahrer eine neue Streiktaktik. Der Betriebsrat<br />
Wolfgang Hoepfner beschreibt diese Streiktaktik so:<br />
Die Fahrer haben nur tageweise gestreikt, obwohl die Kollegen zum wochenlangen<br />
Vollstreik bereit waren. Stattdessen haben wir Bereiche dauerhaft bestreikt, die den<br />
Verkehr nicht lahmlegen und den Arbeitgebern gleichzeitig finanziell wehtun. Dauerhaft<br />
gestreikt haben vor allem die Arbeiter in den Werkstätten und Kunden-Centern,<br />
die Fahrkartenkontrolleure und der Automatendienst. Dadurch konnten die Leute<br />
zwar fahren, aber oft keine Fahrkarten kaufen, und sie wussten, dass sie nicht kontrolliert<br />
werden. Außerdem sind die Automaten bald ausgefallen, weil die Münzspeicher<br />
voll waren und sie nicht gewartet wurden.« 21<br />
Auf diese Weise konnte die Streikmacht so entfaltet werden, dass sie einerseits<br />
dem Arbeitgeber empfindliche Gewinneinbußen einbrockte, die Streikkasse der<br />
Gewerkschaft schonte und gleichzeitig die Kunden und Bürger in diesem Fall<br />
möglichst mit einbezogen hat.<br />
21<br />
»Die Arbeitgeber gerieten in Panik«, Interview Wolfgang Hoepfner, Betriebsrat SSB in Stuttgart.<br />
http://marx21.de/content/view/1584/32/
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 47<br />
Aktivierung durch Streik – Der Nutzen demokratischer und<br />
partizipativer Streikformen<br />
Die »Entdeckung« von Produktionsmacht im Betrieb, die Aktivierung und Politisierung<br />
der Belegschaft gegenüber der Gesellschaft und den Kunden und generell<br />
eine kämpferische und nicht sozialpartnerschaftliche Politik erfordert die Aktivierung<br />
der Mitgliedschaft für Arbeitskämpfe. Dies ist ein neuralgischer Punkt.<br />
Sozialpartnerschaftliche und stellvertreterische Gewerkschaftspolitik stützt sich<br />
bei ihren Verfechtern meist auf die Ansicht, die Basis würde gar nicht aktiviert<br />
werden wollen und deswegen sei gar keine andere Politik als die des Stellvertretertums<br />
möglich. Im Kern einer Strategiediskussion muss also die Frage stehen,<br />
wie die Basis aktiviert werden kann.<br />
Auf der Konferenz »Erneuerung durch Streik« in Stuttgart im März <strong>2013</strong> wurden<br />
wichtige Elemente einer solchen partizipativen Kultur dargestellt, die versucht,<br />
durch Arbeitskämpfe eine aktivierende, partizipative Gewerkschaftskultur<br />
zu schaffen. Die Studie von Catharina Schmalstieg »Partizipative Arbeitskämpfe,<br />
neue Streikformen, höhere Streikfähigkeit?« über die partizipativen Streikformen,<br />
die der Bezirk von ver.di-Stuttgart entwickelt hat, arbeitet wesentliche Elemente<br />
einer demokratischen Streikführung heraus. 22 Besonders wohltuend ist dabei die<br />
Abgrenzung zur Pseudopartizipation. Denn mittlerweile ist rhetorisch jede Gewerkschaft<br />
auf große Partizipation festgelegt. Doch können darunter sehr unterschiedliche<br />
Dinge verstanden werden. So beschreibt Schmalstieg etwa, dass die<br />
Mitgliederbefragung zu abgeschlossenen Tarifergebnissen kaum als echte Partizipation<br />
behandelt werden kann, da die Mitglieder am Zustandekommen der Ergebnisse,<br />
an einer strategischen Bewertung, an der Erarbeitung möglicher Alternativen<br />
nicht beteiligt sind. Demgegenüber beschreibt sie Elemente, die bei verdi<br />
Stuttgart herausgearbeitet wurden, die einer echten Partizipation der Mitglieder<br />
näher kommen.<br />
22<br />
Schmalstieg, Catharina: Partizipative Arbeitskämpfe, neue Streikformen, höhere Streikfähigkeit?<br />
Rosa-Luxemburg-Stiftung, 36 S. <strong>2013</strong>
48 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
(i) tägliche Streikversammlungen<br />
Mit den täglichen Streikversammlungen schafft ver.di Stuttgart einen Raum, in<br />
dem Selbstbewusstsein entstehen kann: »Die Streikversammlung stärkt den<br />
Rücken, das ist einfach mal gut, wenn da drei-, vierhundert Leute im Saal sind.<br />
[…] Das ist einfach ein Gemeinschaftserlebnis.« 23 Gleichzeitig ist es ein Rahmen,<br />
wo unterschiedliche Streikende zusammenkommen können und Gegensätze in<br />
einem gemeinsamen Solidaritätserlebnis und einer gemeinsamen Debatte bearbeitet<br />
werden können. Dies bedeutet durchaus eine bewusste Abgrenzung zu der<br />
Situation früher, wo alle nur auf die starken Bataillone wie die Müllwerker geguckt<br />
haben. Gerade für fragmentierte Belegschaften ohne gemeinsame Großbetriebe,<br />
wie bei den Kitas oder im Einzelhandel spielen die Streikversammlungen<br />
eine wichtige soziale und organisatorische Funktion.<br />
Vor allem ermöglichen die Streikversammlungen aber, wichtige Krisen zu<br />
überwinden. Der neunwöchige Streik gegen die Arbeitszeitverlängerung im öffentlichen<br />
Dienst im Jahr 2009 konnte laut Aussagen von Ehrenamtlichen und<br />
Hauptamtlichen nur durch diese Versammlungen erfolgreich geführt werden.<br />
Hier konnten Ängste offen angesprochen werden und in dieser Versammlung<br />
konnten auch schnelle Reaktionen auf Angriffe der Arbeitgeber organisiert werden.<br />
24<br />
(ii) aktivistische Vorbereitungskomitees für Tarifbewegungen, um den<br />
Informationsvorsprung der Hauptamtlichen abzubauen und die Ehrenamtlichen für<br />
Beweglichkeit und Strategiediskussionen einzubeziehen<br />
Neben der täglichen Streikversammlung beschreibt Schmalstieg die Streikleitungsversammlungen<br />
als entscheidendes Element »echter« Partizipation. Hier<br />
werden Ehrenamtliche und Hauptamtliche in einem Gremium von 30 Beteiligten<br />
zusammengefasst. Diese Leitung konstituiert sich schon lange vor dem Konflikt<br />
und diskutiert eigene Strategien und Handlungsideen. Auf diese Weise werden<br />
Informationsvorsprünge der Hauptamtlichen abgebaut und die ehrenamtlichen<br />
Funktionäre aus den Betrieben können rechtzeitig die strategischen Planungen<br />
nachvollziehen, mitdiskutieren und mitbestimmen. Traditionell werden in vielen<br />
anderen Bereichen Streikleitungen erst kurz vor dem ersten Warnstreik formiert,<br />
so dass es nie eine echtes Entscheidungsgremium, sondern eher ein Weitergabe-<br />
Gremium der aus Hauptamtlichen bestehenden Streikleitung wird. Das Gremi-<br />
23<br />
Schmalstieg: Partizipative Arbeitskämpfe, S. 22<br />
24<br />
Wie etwa die innerhalb von einem Tag organisierte Blockade des Heizkraftwerkes, um zu verhindern,<br />
dass Streikbrecher-Müllautos den Müll zu Müllverbrennung bringen konnten. Diese zweiwöchige<br />
Blockade gilt als Schlüssel, um die Stadt Stuttgart in die Knie gezwungen zu haben. Diese<br />
war aber nur möglich, weil auf der Streikversammlung die Tradition bestand Probleme offen<br />
zu diskutieren und dann schnell handlungsfähig zu sein.
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 49<br />
um in Stuttgart geht langfristig vor einer Auseinandersetzung in Klausur in einer<br />
Bildungsstätte und versetzt sich dort, manchmal unter Anleitung von Organizing-Beratern,<br />
in die Lage, Strategiediskussionen zu führen und Kampagnenelemente<br />
außerhalb des Zeitdrucks des Alltags zu diskutieren und entwickeln.<br />
(iii) eine Kultur der Stärke und Aktivierung bei Streikversammlungen und<br />
Demonstrationen<br />
Schließlich bemüht sich der Bezirk Stuttgart in den Streikversammlungen und<br />
Demonstrationen um eine starke aktivistische Tradition und Erscheinungsbild.<br />
Die Stuttgarter Demonstrationen gleichen eher einer Blockupy-Demonstration<br />
als einem IG Metall-Warnstreik. Es gibt viele selbstgemalte Transparente und es<br />
gibt Sprechchöre, Parolen und Lieder, die von Streikenden gesungen werden.<br />
Dies mag ein Detail sein, aber es zeigt, dass die Aktiven in Stuttgart über den<br />
Streik eine aktivierende Kultur forcieren wollen, die sich bewusst von dem Stellvertretertum<br />
durch Hauptamtliche absetzt.<br />
(iv) alle Entscheidungen müssen von den Streikenden selbst getroffen werden<br />
Ein Kernproblem ist, dass Streiks immer große Partizipationswünsche schaffen<br />
und die Gewerkschaften dann oft nicht in der Lage oder auch nicht willens sind,<br />
den Streikenden einen Rahmen für ihre Aktivität zu geben, bzw. die Aktivierung<br />
auch von einer Beteiligung zu einer aktiven, demokratischen Gestaltung zu bringen.<br />
Die Ursache hierfür liegt in der Verhandlungsfunktion, die Gewerkschaften<br />
bzw. die Hauptamtlichen Gewerkschaftssekretäre wahrnehmen. Streiks und Arbeitskämpfe<br />
werden oft von dem Verlauf der Verhandlungen und auf das herzustellende<br />
Kräfteverhältnis in diesen angeordnet, nicht aus der Perspektive, eine<br />
Aktivierung der Beschäftigten herzustellen. Ist das gewünschte Ergebnis erreicht,<br />
werden die Beschäftigten auch wieder demobilisiert. Dies ist umso schwieriger, je<br />
stärker die Aktivierung und Mobilisierung zuvor stattgefunden hat. Deswegen<br />
entwickeln Hauptamtliche oft eine Haltung, die eine zu große Aktivierung der<br />
Basis vermeiden will. Bernd Riexinger kritisiert diese Haltung sehr treffend:<br />
Nach meinem Verständnis können Streiks Emanzipationsbewegungen sein, wenn die<br />
Streikenden tatsächlich Akteure der Auseinandersetzung sind und nicht Objekte. Der<br />
so ziemlich blödeste Spruch in Tarifauseinandersetzungen ist: ›Denk daran, wenn du<br />
die Leute auf die Bäume treibst, musst du sie auch wieder herunterholen.‹ Unser<br />
Verständnis ist nicht das einer Herde von Menschen, die irgendwo hingetrieben werden<br />
können und denen nachher dann ein Ergebnis vermittelt werden muss, für das<br />
sie tatsächlich nicht auf die Bäume geklettert sind. Oder noch schlimmer, damit dieser<br />
Widerspruch erst gar nicht aufkommt, verzichten wir doch besser gleich auf eine<br />
umfassende Mobilisierung.
50 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
Anstatt die Beschäftigten erst stellvertreterisch irgendwohin zu mobilisieren und<br />
sie dann wieder zu demobilisieren, wenn die Verhandlungen abgeschlossen sind,<br />
fordert Riexinger, die Beschäftigten in eine Diskussion und Entscheidungsfindung<br />
direkt mit einzubeziehen.<br />
Das Ergebnis muss den Streikenden schmecken, nicht der Verhandlungsführung. Es<br />
ist leider eine leidige und sich ständig wiederholende Erfahrung, dass Arbeitskämpfe<br />
selten zu Schultersiegen führen und die Streikenden mit dem Ergebnis zufrieden<br />
sind. Dafür gibt es unterschiedliche Ursachen. Zum einen kann es sein, dass die Gewerkschaft<br />
tatsächlich ihre Kampfkraft nicht ausgeschöpft hat und ein Ergebnis unter<br />
den tatsächlichen Möglichkeiten erzielt hat. Dann ist Kritik völlig berechtigt.<br />
Zum anderen ist es häufig der Fall, dass bei Flächentarifauseinandersetzungen die<br />
Kampfkraft regional sehr unterschiedlich entwickelt ist. Die einen würden weiterstreiken,<br />
den anderen geht die Luft aus und wieder andere haben erst gar nicht richtig<br />
angefangen. Besonders ärgerlich ist es, wenn diese Zusammenhänge nicht transparent<br />
sind und sich die verschiedenen Akteure kein wirkliches Bild machen können<br />
und den Behauptungen ihrer Führung glauben können oder nicht. Gerade bei ver.di<br />
ist es ein großes Problem, dass die Fähigkeit zum Streiken regional sehr unterschiedlich<br />
ausgeprägt ist. Das führt häufig zu Frust in den Streikhochburgen, die durchaus<br />
bereit wären, für ein besseres Ergebnis weiter zu streiken, während andere froh sind,<br />
dass es endlich vorbei ist. Wir haben daraus folgende Schlussfolgerungen gezogen:<br />
• Wir lassen unsere Streikbereitschaft davon nicht beeinflussen. Unsere Botschaft ist<br />
immer: Wer besser streiken kann, muss vorangehen und ein positives Beispiel schaffen.<br />
• Über die Verhandlungsstände und Tarifergebnisse wird offen auf den Streikversammlungen<br />
diskutiert und ein Meinungsbild hergestellt. Gibt es Kritik, wird diese<br />
formuliert und in die innergewerkschaftliche Diskussion eingebracht. Die<br />
Kollegen/innen sollen sich ihre Gewerkschaft aneignen und kein Dienstleistungsverhältnis<br />
zu ihrer Organisation entwickeln. Teilweise konnten wir sogar durchsetzen,<br />
dass nach dem Verhandlungsergebnis noch ein Tag länger gestreikt wurde, um auf<br />
der Streikversammlung über das Ergebnis diskutieren zu können.<br />
• Der Entscheidungsprozess über das Tarifergebnis muss ebenfalls demokratisiert<br />
werden. Hier hat ver.di im öffentlichen Dienst ganz gute Ansätze entwickelt. So wurden<br />
bei verschiedenen Streiks, insbesondere im Erzieher/innenstreik bundesweite<br />
Streikdelegiertentreffen organisiert. Delegierte aus den Betrieben diskutierten gemeinsam<br />
über den Verhandlungsstand und über die weitere Vorgehensweise. Es<br />
wurde vereinbart, dass die große Tarifkommission nur dann einem Verhandlungsergebnis<br />
zustimmt, wenn es vorher dafür eine Mehrheit auf der Streikdelegiertenversammlung<br />
gegeben hat.<br />
Auf diesem Weg muss weitergemacht werden. Eine Arbeitsteilung, dass die einen<br />
streiken und die anderen über das Ergebnis entscheiden, ist auf die Dauer wenig erfolgsversprechend.<br />
Diejenigen die streiken sollen auch über das Ergebnis entscheiden<br />
und die Verhandlungen mit dem Arbeitgeber führen. Widersprüche und unterschiedliche<br />
Sichtweisen müssen offen ausgetragen und demokratisch entschieden
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 51<br />
werden. So entstehen lebendige Gewerkschaften, die den Mitgliedern nicht fremd<br />
sind.<br />
Diese Konzeption einer Demokratisierung von Streikbewegungen setzt sich eine<br />
maximale Aktivierung der Beteiligten zum Ziel und deutet gleichzeitig mit der<br />
Nennung der Streikdelegiertengremien auch an, dass dies sich in neuen demokratischen<br />
Strukturen niederschlagen kann, die erst durch den Streik entstehen und<br />
erst durch seine Aktivierung der Mitgliedschaft an Dynamik und Beteiligung gewinnt.<br />
An dieser Stelle drängt sich allerdings die Frage auf, wieso nicht alle verdi-Bezirke,<br />
wieso nicht auch die anderen Gewerkschaften eine solche Aktivierende Tarifpolitik<br />
betreiben. Das Problem deutete auch Bernd Riexinger in seiner Rede<br />
auf dem Kongress in Stuttgart an:<br />
Diese Konferenz, ich hoffe auch die von mir zusammengefassten Prinzipien, bieten<br />
eine Fülle von Beispielen, die zeigen, dass es möglich ist, Streikerfahrung in bisher<br />
eher unerfahrenen Bereichen zu organisieren, neue Kämpfe zu führen und dabei<br />
eine Vielzahl neuer Methoden und Streikformen zu entwickeln, die geeignet sind, die<br />
Kräfteverhältnisse zu unseren Gunsten zu verschieben. Wir sollten von unseren Gewerkschaften<br />
verlangen, dass Ehren- und Hauptamtliche ausgebildet werden, diese<br />
Methoden zu erlernen und einen großen Werkzeugkasten für die Führung von<br />
Streiks und Tarifbewegungen an der Hand zu haben. 25<br />
Im Umkehrschluss bedeutet dies ja: Die Gewerkschaften haben bis heute diesen<br />
Werkzeugkasten ihren ehrenamtlichen Funktionären und Hauptamtlichen nicht<br />
zugänglich gemacht. Sicher gilt für viele ehren- wie hauptamtliche Gewerkschafterinnen,<br />
dass sie von der langen Phase der Defensive so verunsichert sind, dass<br />
sie sich kaum kämpferische Initiativen zutrauen und auf Grund von guten Beispielen<br />
und deren systematischer Aufbereitung für eine solche Politik gewonnen<br />
werden können. Und es ist auch richtig, dass es solcher Konferenzen wie der in<br />
Stuttgart bedarf, um einen Raum zu schaffen, wo Aktivisten voneinander lernen<br />
können. Die oben beschriebenen Beispiele zeigen, dass es seit der Zunahme von<br />
Streiks, insbesondere im Organisationsbereich von ver.di eine ganze Reihe von<br />
Kolleginnen und Kollegen, aber auch von konfliktfreudigen Gewerkschaftssekretären<br />
gibt, die sich neu kämpferisch aufstellen wollen. 1000 Streiks im Organisationsbereich<br />
von Verdi seit 2001 ist eine große Zahl. In jedem dieser Streiks haben<br />
AktivistInnen wichtige Erfahrungen gemacht und gelernt, unter neuen, schwierigen<br />
Bedingungen zu streiken. Als Marxisten sollten wir nicht nur theoretisch abgeleitete<br />
Erkenntnisse präsentieren. Wir sollten auch den Anspruch haben, aus<br />
den aktuellen Kämpfen zu lernen, aus ihnen zu verallgemeinern und unsere<br />
theoretischen Diskussionen in einem solchen Lernprozess fruchtbar machen.<br />
25<br />
Rede Bernd Riexinger S. 8
52 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
Marx lernte von dem Aufstand der Pariser Kommune (1871) und konkretisierte<br />
im Licht der Erfahrungen der Kommune seine Idee von einem Arbeiterstaat<br />
und einer sozialistischen Demokratie. Lenin lernte in der Revolution 1905 aus<br />
den frühen Koordinationsversuchen der Streikenden in Form von Sowjets. Anfänglich<br />
war er sogar sehr skeptisch, was diese neuen Organisationsansätze anging<br />
– später verallgemeinerte er diese dann zu einer Theorie einer rätebasierten<br />
Staatsform. Wir denken es ist heute auch an der Zeit, dass Marxisten und radikale<br />
Linke von diesen neuen Kämpfen und strategischen Ansätzen, die wir oben<br />
beschrieben haben, lernen. Insofern halten wir es für entscheidend, dass ein strategischer<br />
Suchprozess die Erfahrungen der kämpferischen Minderheit aufnimmt<br />
und durchdenkt und diesen kreativen Prozess, der über die letzten zehn Jahre<br />
stattgefunden hat, zum Ausgangspunkt einer theoretischen Reflektion macht.<br />
Allerdings besteht die Gefahr, die Durchsetzung von kämpferischen Ansätzen<br />
darauf zu reduzieren, dass die neuen Ansätze einfach vorgemacht und verbreitert<br />
werden müssen. Dies wäre eine große Unterschätzung der Gegenkräfte, die einer<br />
kämpferischen Politik entgegenstehen.<br />
Die 1970er Jahre: Laboratorium der gewerkschaftlichen<br />
Erneuerung<br />
Ein Blick in die Geschichte der Klassenkämpfe der 1970er Jahre kann hier helfen.<br />
Die spontanen, selbständigen Streiks 26 1969 und 1973, aber generell die<br />
1970er Jahre bis zur Rückkehr der kapitalistischen Krisenzyklen und, damit einhergehend,<br />
der Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit (1975, 1982) zeigen, wie<br />
kämpferische Ansätze sich aus betrieblichen Kämpfen heraus entwickeln und<br />
verallgemeinern können – und auf welche Herausforderungen sie dann stoßen.<br />
Der Aufschwung von Streiks und Klassenkämpfen in den Jahren von 1969 bis<br />
1974 ist in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig. 27 Der Arbeitskampfexperte<br />
Heiner Dribbusch beschreibt: »Zwischen 1969 und 1976 lassen sich allein<br />
im erweiterten Bereich der Metall-, Elektro- und Stahlindustrie 1110 Arbeitsnie-<br />
26<br />
Zur Begrifflichkeit »spontane Streiks« schrieb Walter Müller-Jentsch richtig: «Wegen des negativen<br />
Beigeschmacks des Wortes »wild« wird von Arbeitern und Gewerkschaftern die Bezeichnung<br />
»spontane Streiks« bevorzugt. Freilich wissen dabei die meisten, dass spontane Streiks nicht<br />
so spontan sind, dass sie keiner Vorbereitung und Absprachen oder Organisierung bedürften.«<br />
In »Die Spontane Streikbewegung 1973«, Kritisches Jahrbuch ´74, S.44<br />
27<br />
»Zwischen 1960 und 1989 stieg die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder im DGB um ca. 1,5 Millionen,<br />
wovon mit ca. 840.000 deutlich mehr als die Hälfte allein auf die IG Metall entfielen. Der<br />
entscheidende Wachstumsschub der IG Metall fand in den sieben Jahren zwischen 1967 und<br />
1974 statt.« Dribbusch, Heiner: Organisieren am Konflikt: Zum Verhältnis von Streik und Mitgliederentwicklung<br />
in: Dörre, Klaus/Haipeter, Thomas (Hrsg): Gewerkschaftliche Modernisierung,<br />
VS-Verlag 2011, S. 248
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 53<br />
derlegungen feststellen, was in etwa 80 % aller Streiks entspricht.« 28 Innerhalb<br />
weniger Jahre wuchs die Anzahl der Gewerkschaftsmitglieder rapide an. Zwischen<br />
1967 und 1974 wächst allein die IG Metall um 28 Prozent. Zentrum der<br />
Streikbewegungen in der IG Metall ist der Bezirk Baden-Württemberg. Hier werden<br />
auch mit der so genannten Steinkühler-Pause, einer Bandpause von fünf Minuten<br />
pro Stunde, erstmals eine qualitative Forderungen aufgestellt und in diesem<br />
Bezirk finden auch viele der spontanen Streiks statt. So ist es nicht verwunderlich,<br />
dass in dem Bezirk Baden-Württemberg die Mitgliedschaft um 58 Prozent<br />
innerhalb von nur 7 Jahren anwächst 29 . Dabei treten insbesondere diejenigen,<br />
die auch die Subjekte der Streiks waren, in die Gewerkschaften ein. Im Streikjahr<br />
1973 konnte die IG Metall mit plus 12,8 Prozent dreimal so viele weibliche<br />
Mitglieder dazu gewinnen wie insgesamt, zwischen 1969 und 1974 gewann die<br />
IG Metall fast 150.000 (27 %) weibliche Mitglieder hinzu, die ÖTV konnte in ihrem<br />
erfolgreichen Streikjahr 1974 31.000 oder 17 Prozent Frauen dazugewinnen.<br />
Insgesamt traten zwischen 1969 und 1974 300.000 Frauen den DGB-Gewerkschaften<br />
bei. Einen ähnlich rasanten Zuwachs gab es in diesen Jahren bei den<br />
Migranten, die bei den betrieblichen Kämpfen oft in der ersten Reihe standen. 30<br />
Der Aufschwung von Streiks und Klassenkämpfen in den Jahren 1969 bis 1974<br />
hatte wirtschaftliche und politische Ursachen. Die wirtschaftlichen Entwicklung<br />
der Jahre war einerseits durch die erste Nachkriegsrezession geprägt (1966/67)<br />
und einen sich ab Mitte 1968 anschließenden Konjunkturaufschwung, der bis<br />
zum Herbst 1974 andauerte. 31 Der Wechsel von Rezession und Aufschwung, die<br />
Politisierung der Lohnkämpfe durch die Vorgabe staatlicher Lohnleitlinien, insgesamt<br />
niedrigere Produktivitätszuwachsraten als in der Nachkriegszeit – all das<br />
signalisierte eine Verhärtung und Politisierung der Verteilungskämpfe in dieser<br />
Jahren.<br />
Politisch war diese Zeit geprägt durch eine allgemein Linksentwicklung infolge<br />
der 68er Jugendrevolte, die – obwohl sie zunächst von der Mehrheit isoliert schien<br />
– in die Arbeiterjugend (Lehrlingsbewegung) 32 überschwappte und von dort<br />
in die Betriebe und Gewerkschaftsjugend eindrang. Die Linksentwicklung führte<br />
1969 und vor allem 1972 zu Wahlsiegen der SPD unter Willy Brandt und zum<br />
28<br />
Dribbusch, Heiner: Organisieren am Konflikt, S. 248<br />
29<br />
Dribbusch, Heiner: Organisieren am Konflikt, S. 249<br />
30<br />
Michael Kittner, Gewerkschaftsjahrbuch 1988, Köln 1988 S, 66 f.<br />
31<br />
Im Jahr 1970 wurde mit 0,7 Prozent die niedrigste Arbeitslosigkeit der Geschichte der Bundesrepublik<br />
erhoben. Dribbusch, Heiner: Organisieren am Konflikt, S. 248<br />
32<br />
1969 entstand eine bundesweite Lehrlingsbewegung, die eine breite Schicht der Arbeiterjugend<br />
erfasste und die Gewerkschaftsjugend bis in die 70er Jahre hinein radikalisierte. Eine weitere<br />
Nahtstelle zwischen Arbeiterbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition waren Migrantengruppen,<br />
damals vor allen die spanischen Migranten, die durch die Ereignisse in Spanien<br />
– Massenstreiks gegen die Franco Diktatur – hoch politisiert waren.
54 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
Ende der konservativen Hegemonie, symbolisiert in der seit 1949 ununterbrochenen<br />
Ära von CDU-Bundeskanzlern. In den 1950er und frühen 1960er Jahren<br />
war die Tarifpolitik der deutschen Gewerkschaften außerordentlich erfolgreich<br />
gewesen, sie entsprach den Erwartungen der Mitglieder. Ab 1968 gingen Erwartungen<br />
von großen Teilen der Mitgliedschaft (»Basis«) und der Politik der Führung<br />
streckenweise stark auseinander. Der Grund war, dass die Gewerkschaften<br />
unter dem Druck der 1966 erstmals in die Bundesregierung eingetreten SPD auf<br />
ihre »Marktmacht« freiwillig verzichtete. Zuvor hatten die Gewerkschaften 1965<br />
und 1966 den CDU-Kanzler Erhard scharf kritisiert, der angesichts sinkender<br />
Profitraten und steigender Lohnstückkosten die Gewerkschaften wiederholt zum<br />
»Maßhalten« aufgerufen hatte. Was Erhard nicht gelungen war, nämlich die<br />
Lohnkosten zu senken und die Profite wieder zu steigern, gelang der SPD als Regierungspartei.<br />
Ihr Wirtschaftsminister Karl Schiller griff zum Instrument staatlich<br />
verordneter Lohnleitlinien (»Konzertierte Aktion«), die nicht überschritten<br />
werden sollten. Das rechtskeynesianische Programm Schillers bestand aus<br />
Lohnabbau zur Stabilisierung der Profite, Senkung der Lohnstückkosten zur<br />
Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und<br />
in Staatsaufträgen für die Investitionsgüterindustrie zur Ankurbelung der Binnenkonjunktur.<br />
Alle Gewerkschaften des DGB unterwarfen sich Schillers Lohnleitlinien<br />
in Höhe von 3 Prozent. Die Gewerkschaften hielten sich auch dann<br />
noch an Schillers Lohnleitlinien, als Mitte 1968 ein breiter Konjunkturaufschwung<br />
einsetzte.<br />
Als die Stahlarbeiter 1969 den Aufschwung durch Neueinstellungen und Überstunden<br />
überall spürten, erkämpften sie höhere Löhne (30 Pfennig pro Stunde)<br />
an den Gewerkschaftsführungen vorbei. Der Vorgang wiederholte sich 1972/73,<br />
als sich die Gewerkschaften erneut mit niedrigen Lohnabschlüssen und langen<br />
Laufzeiten der Tarifverträge den staatlichen Lohnleitlinien unterwarfen. Es kam<br />
zu einer zweiten Welle von Streiks, die erneut die von den Gewerkschaften zunächst<br />
befolgten Lohnleitlinien durchbrach.<br />
Der Aufschwung von Klassenkämpfen entwickelte sich in zwei Phasen, die<br />
beide durch spontane Streiks ausgelöst und angestoßen wurden. Die erste Phase<br />
(1969–71) wurde ausgelöst durch spontane Streiks in der Stahlindustrie 1969<br />
(»Septemberstreiks«) – meist getragen von deutschen, besser verdienenden Facharbeitern<br />
und organisiert durch Vertrauensleute und linke Betriebsräte.<br />
Die zweite Phase wurde wieder ausgelöst von Streiks in der Stahlindustrie, ergriff<br />
aber bald beträchtliche Teile der Automobil- und Elektroindustrie, des Öffentlichen<br />
Dienstes, des Bergbaus und weitere. Getragen wurde diese Welle von<br />
den unteren Schichten der »Massenarbeiter« 33 an den Fließbändern der Großseri-<br />
33<br />
Der Begriff wurde in den 60er Jahren von der Strömung der Operaisten in Italien geprägt und<br />
bezeichnete die damals sich rasch vermehrende Gruppe von an- und ungelernten Beschäftigten
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 55<br />
enproduktion (Autos, Fernseher) – von der bürgerlichen Presse wurden die<br />
Streiks auch »Ausländerstreiks« genannt, Marxisten sprachen dagegen vom »Aufstand<br />
der Angelernten.« 34 Die Bezeichnung »Ausländerstreiks« hat insofern auch<br />
ein Element von Wahrheit, da in manchen Bereichen der Massenproduktion der<br />
Ausländeranteil damals bei 90 Prozent lag, in der Autozulieferer- und in der<br />
Elektroindustrie waren die Streiks beides, weiblich und migrantisch.<br />
Die Streiks der 1970er Jahre sind insgesamt durch starkes Selbstbewusstsein<br />
und hohe Mobilisierung und Aktivierung der Mitglieder gekennzeichnet. Dieses<br />
Selbstbewusstsein kam gerade auch in den spontanen Streiks des Jahres 1973<br />
zum Ausdruck. Im Vergleich zu den Septemberstreiks 1969 waren diese breiter<br />
und erfassten vor allem die unteren Schichten der Arbeiterklasse stärker. Die Gewerkschaftsführungen<br />
und viele der Betriebsräte verhielten sich ausgesprochen<br />
feindselig. In einem Teil der Betriebe (z. B. Stahlindustrie) waren die Vertrauensleutekörper<br />
die Organisatoren und das Zentrum des Streiks, in anderen Betrieben,<br />
wo die Vertrauensleutekörper noch unter der Kontrolle rechter Betriebsräte<br />
standen, kam es zur Bildung von spontan in Massenversammlungen gewählten<br />
Streikleitungen (Hella, Pierburg). Die Entstehung solcher neuer Organisationsformen<br />
waren Ausdruck davon, dass gerade die »Massenarbeiter« mit ihrem hohen<br />
Anteil an Frauen und Ausländern sich mit ihren Interessen in den Betriebsräten<br />
und Vertrauenskörpern kaum vertreten sahen.<br />
Die anschwellenden Arbeitskämpfe ließen die offiziellen gewerkschaftlichen<br />
Organisationsformen nicht unberührt. In vielen Bereichen der IG Metall, der IG<br />
Chemie, der ÖTV entwickelten sich die Vertrauensleute zu eigenständigen,<br />
selbstbewusst handelnden Körpern. Vertrauensleute sind die unterste Vertretungsebene<br />
der Gewerkschaften in den Betrieben. Die IG Metall (und andere)<br />
waren mit der Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes 1952 aus den Betrieben<br />
bedrängt worden, der Organisationsgrad ging kontinuierlich zurück. Dadurch<br />
wurde der verstärkte Aufbau und Ausbau von gewerkschaftlichen Vertrauensleutekörpern<br />
neben den Betriebsräten für die Industriegewerkschaften zu<br />
Notwendigkeit. 35 Außerdem entwickelten gerade die Betriebsräte der Großbetriebe<br />
in den 1950er und 1960 Jahren eigene Machtbastionen durch das Aushandeln<br />
von nicht tariflich gesicherten Sozialleistungen und Löhnen. Versuche der IG<br />
Metall, die übertariflichen Löhne durch eine »betriebsnahe Tarifpolitik« abzusiin<br />
den Industrien mit Großserienproduktion. Die Massenarbeiter litten unter niedrigen Löhnen<br />
bei zugleich großer Entfremdung und Arbeitstempo der Fließbandarbeit.<br />
34<br />
Vgl. Volkhard Mosler »Der Aufstand der Angelernten«, Klassenkampf (erste Serie), Oktober<br />
1973<br />
35<br />
Vgl. hierzu Eberhard Schmidt, Die Auseinandersetzung um die Rolle der Vertrauensleute in der<br />
IG Metall,, Kritisches Jahrbuch ’74, S.130
56 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
chern, konnten die Betriebsräte durch ihren bestimmenden Einfluss im Betrieb<br />
abwehren.<br />
Auch wurden den Vertrauensleutekörpern wenig Rechte eingeräumt, und so<br />
blieben sie meist eher von den Betriebsräten kontrolliert als andersherum. 36 Das<br />
änderte sich aber vielfach nach den Septemberstreiks 1969. Gerade in dieser Zeit<br />
wuchs die Anzahl der Vertrauensleute enorm an, sogar noch schneller als der sowieso<br />
rasante Anstieg der Mitgliederzahlen: allein in der IG Metall von 1967 bis<br />
1973 von 88.001 auf 121.595, eine Steigerung um 40 %. 37 Gleichzeitig stieg der<br />
Anteil der gewählten statt bloß ernannten Vertrauensleute im Metallbereich zwischen<br />
1967 und 1973 von 72 auf 90 Prozent und der Anteil an Vertrauensleutekörperleitungen,<br />
die vom Betriebsratsvorsitzenden oder von einem anderen Betriebsrat<br />
geführt wurde, sank beträchtlich.<br />
In einigen der Streiks 1973 (Pierburg 38 ) gelang es den »Angelernten« während<br />
des Streiks die (deutschen) Facharbeiter für den Streik zu gewinnen. In anderen<br />
Fällen – der bekannteste war ein mehrtägiger Streik bei Ford Köln – stellten sich<br />
die Betriebsräte offen gegen die Streiks und gingen sogar zusammen mit dem<br />
Werkschutz gegen türkische und andere Streikaktivisten vor. Der Vertrauenskörper<br />
tagte kein einziges Mal während des Streiks und duldete so das Vorgehen des<br />
Betriebsrats. Generell erzwang die organisierte Macht der Vertrauensleute in den<br />
Betrieben aber eine Öffnung der Organisation nach unten. Zwar reagierten die<br />
Gewerkschaftsführungen auf beide Streikwellen widersprüchlich. 1969 duldete<br />
die IG Metall-Führung die spontanen Streiks, die IG Bergbau stellte sich offen<br />
dagegen, 1973 »griffen die Vorstandmitglieder mit aller Härte ein und versuchten,<br />
die Autorität der Gewerkschaftsführung gegenüber den Mitgliedern wiederherzustellen«.<br />
39 Als sich die Streikbewegung im Sommer 1973 auf immer mehr<br />
metallverarbeitende Betriebe ausweitete – am Höhepunkt im August streikten<br />
90.000 Arbeiter/innen in 107 Betrieben –, sahen sie sich zu einem Kurwechsel<br />
gezwungen: »Die offene Ablehnung wich einer indifferenten Zurückhaltung.«<br />
Als die Streiks im September zuletzt auf den öffentlichen Dienst überzuspringen<br />
drohten, kündigte der Vorsitzende der ÖTV eine Lohnforderung von nicht unter<br />
15 Prozent für das kommende Jahr an, um so der weiteren Ausdehnung der<br />
Streiks die Spitze zu nehmen. Ähnlich kündigten die Vorstände von IG Metall<br />
und anderen an, in den jeweils folgenden Tarifrunden selbst in die Offensive zu<br />
gehen, sich sozusagen nach unten zu öffnen. So kam es 1970 und 1973/4 zu<br />
36<br />
Zoll, Rainer: Partizipation oder Delegation. Gewerkschaftliche Betriebspolitik in Italien und in<br />
der Bundesrepublik Deutschland, 227 Seiten, 1981.<br />
37<br />
Koopmann, Klaus: Vertrauensleute. Arbeiterbewegung im Betrieb, 1981, 165 Seiten. S. 49<br />
38<br />
Zu diesem Streik gibt es eine neue Dokumentation: Dieter Braeg [Hg.]: "Wilder Streik - das ist<br />
Revolution"Der Streik der Arbeiterinnen bei Pierburg in Neuss 1973, Die Buchmacherei 176<br />
Seiten inklusive DVD 2012<br />
39<br />
Müller-Jentsch,1974, S.49
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 57<br />
großen und erfolgreichen Streikbewegungen in der Metallindustrie und im öffentlichen<br />
Dienst mit unvergleichlich hohen Lohnabschlüssen. In der Metallindustrie<br />
kam es in Nordwürttemberg unter Bezirksleiter Steinkühler sogar zu einem<br />
erfolgreichen Streik für stündliche Kurzpausen von 5 Minuten für die Massenarbeiter<br />
mit ihren elenden, Nerven und Körper zermürbenden Arbeitsbedingen.<br />
Die Vertrauensleute forderten zunehmend die Kontrolle über die Gewerkschaften<br />
ein. Dabei sind zwei Tendenzen interessant, wenn es darum geht zu beurteilen,<br />
wie eine Aktivierung und Demokratisierung der Gewerkschaften aussehen<br />
könnte.<br />
Die eine besteht darin, überbetrieblich lokale Vertrauensleute zu vernetzen, um<br />
auf diese Weise regional eine politische und gewerkschaftliche Kultur der Aktivierung<br />
und Aneignung der Gewerkschaften voranzutreiben. Dies ist beispielsweise<br />
durch einen Zentralen Vertrauensleuteausschuss (ZVA) in Frankfurt geschehen.<br />
Dieser existierte von 1971 bis 1975. In dem Ausschuss waren die Vertrauensköperleitungen<br />
aller großen Frankfurter Kommunalbetriebe vom Friedhof<br />
über die Müllabfuhr bis zu den Städtischen Bühnen vertreten. Entstanden<br />
war der ZVA aus einem spontanen Streik der kommunalen Betriebe 1971 gegen<br />
die Kürzung sogenannter Deputatsleistungen, das waren Gratisleistungen städtischer<br />
Betriebe für die Beschäftigten und ihre Familien. Der ZVA traf sich monatlich,<br />
griff mit eigenen Anträgen in Mitgliederversammlungen und Delegiertenkonferenzen<br />
ein, stellte eigene Forderungen für die jährlichen Tarifrunden<br />
und mobilisierte zu Aktionen und Demonstration wie den 1. Mai.<br />
Dem (rechten) Kreisvorstand war der (linke) ZVA von Beginn an ein Dorn im<br />
Auge, er sah in ihm eine Art Nebenregierung. 1975 löste der Kreisvorstand dann<br />
den ZVA in einem Moment auf, als dieser schon stark an Auszehrung litt. Einer<br />
der Gründe für die »Auszehrung« – es kamen gerade von den großen Arbeiterbetrieben<br />
wie Müllabfuhr oder Gartenamt keine Delegierten mehr zu den Sitzungen<br />
– war der Umstand, dass der ZVA immer mehr zu einem Diskussionsforum<br />
und auch Aktionszentrum verschiedener politischer Gruppen geworden war, für<br />
die der ZVA offen war. Zum Schluss dominierten die politischen Gäste mit ihren<br />
Debatten. Der ZVA hatte seine Bedeutung als Organisationspol aktiver Gewerkschafter<br />
längst verloren, als der Kreisvorstand ihn schließlich als »satzungswidrig«<br />
auflöste.<br />
Die zweite Tendenz im Ringen um eine Demokratisierung bestand darin, sich<br />
in einzelnen Branchen und Gewerkschaften zu vernetzen. Hier ist insbesondere<br />
die Arbeit der Vertrauensleute in der Stahlindustrie von Bedeutung. Das mit den<br />
erfolgreichen Streiks gewachsene Selbstbewusstsein der Vertrauensleutekörper<br />
führte tendenziell zu einer Umkehrung des Verhältnisses zwischen Betriebsrat<br />
und Vertrauenskörper. Der Sozialwissenschaftler Eberhard Schmidt beschrieb
58 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
1974 dieses gewandelte Verhältnis zwischen Betriebsrat, Vertrauensleutekörper<br />
und Gewerkschaft für den Metallbereich folgendermaßen: Bis 1964 war es der<br />
IG Metall gelungen, Vertrauenskörper in über 4600 Betrieben aufzubauen. Die<br />
Betriebsräte seien dennoch »weiterhin der zentrale Bezugspunkt der Gewerkschaften<br />
im Betrieb«. In einer Arbeitsanleitung des Hauptvorstandes hieß es, dass<br />
der VK »den Betriebsrat ergänzt.«<br />
Die Betriebsräte »stellten und stellen aus der Sicht der Gewerkschaftsführung<br />
[…] vor allem den verlängerten Arm der Gewerkschaft und des gewerkschaftlich<br />
organisierten Betriebsrates dar«. 40<br />
Die Vertrauensleutekörper haben »die Aufgabe, die Politik der IG Metall im<br />
Betrieb zu erläutern und zu vertreten, neue Mitglieder zu werben, die Tarifverträge<br />
zu erklären und […] Probleme an die zuständige Ortsverwaltung oder an den<br />
Betriebsrat weiterzugeben.« 41 Aus der Sicht der Gewerkschaftsführung sind Mitgliederwerbung<br />
und Sicherung der Loyalität der Mitglieder zentral. Sie sind ein<br />
wichtiger Transmissionsriemen der Gewerkschaft in die Belegschaft hinein.<br />
Den Umschlag von passiver Gefolgschaft in aktive Interessenvertretung der<br />
Mitglieder gegenüber Betriebsrat und Gewerkschaftsführung sieht Schmidt dadurch<br />
verursacht, dass die Vertrauensleute selbst zunehmend unter Druck einer<br />
selbstbewussteren Mitgliedschaft geraten sind. Gerade ihre Basisnähe macht sie<br />
aber für solchen Druck viel eher empfänglich als die oberen, bürokratisch abgeschotteten<br />
gewerkschaftlichen Führungsgremien. Und so kommt Schmidt zu der<br />
Einschätzung, dass bis 1974, »eine immer größere Zahl von Vertrauensleuten<br />
den Druck, unter den sie geraten sind, nach oben weitergeben und so die auf sozialpartnerschaftliche<br />
Kooperation ausgerichtete Politik der Gewerkschaftsspitze<br />
gefährden. Die Führung der IG Metall reagierte wiederum darauf mit dem Versuch,<br />
den Spielraum der Vertrauensleute […] einzuschränken.«<br />
Die gewerkschaftspolitischen Auswirkungen waren riesig. So wurden bei den<br />
Betriebsratswahlen 1972 nach Angaben des DGB fast die Hälfte aller Betriebsräte<br />
erstmalig als neu in den Betriebsrat gewählt, eine solche Erneuerungsquote<br />
hatte es bei keiner Betriebsratswahl seit 1949 gegeben. In einer Reihe von Großbetrieben<br />
entstanden linke Listen bei den Betriebsratswahlen 1972, die aus dem<br />
Stand ein Drittel oder mehr der Sitze erobern konnten. Bei wichtigen Urabstimmungen<br />
über Tarifvereinbarungen (z. b. Stahlindustrie) empfahlen Vertrauenskörper<br />
ihren Belegschaften mit Nein abzustimmen, obwohl die Gewerkschaftsführung<br />
eine Annahme gefordert hatte.<br />
1972 tauchte das Protokoll eines Geheimtreffens von IG Metall-Arbeitsdirektoren<br />
und Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmerseite der Stahlindustrie auf,<br />
in dem diese sich beim Vorstand beschwerten, dass Vertrauensleute »sich anmaß-<br />
40<br />
Eberhard Schmidt, ». 130<br />
41<br />
S.131
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 59<br />
ten, sie kontrollieren zu wollen und von ihnen bestimmte Informationen aus<br />
Ausschusssitzungen einforderten«.<br />
In den folgenden Jahren bildeten sich in mehreren großen Stahlbetrieben<br />
(Hoesch, Mannesmann, Thyssen, Klöckner) kämpferische Vertrauenskörper heraus,<br />
aus deren Reihen schließlich die Forderung nach der 35-Stundenwoche bei<br />
vollem Lohnausgleich in die Gewerkschaften hineingetragen und erstmals auf<br />
dem Gewerkschaftstag der IG Metall 1977 mehrheitlich als Forderung verabschiedet<br />
wurde – gegen die Empfehlung des Hauptvorstandes. Das war ein bis<br />
dahin und auch heute wieder undenkbarer Vorgang. Er signalisierte den partiellen<br />
Bruch der Gewerkschaften mit der Politik der Sozialpartnerschaft.<br />
Auf dem gleichen Gewerkschaftstag musste der Vorstand noch eine Abstimmungsniederlage<br />
einstecken. Der Antrag betraf die Rechte der Vertrauensleute in<br />
den Großkonzernen. In diesen sollten sich die gewerkschaftlichen Vertrauensleute<br />
mehrmals im Jahr zu überregionalen Tagungen mit den Betriebsräten treffen<br />
können, um ihre gegen die Arbeitgeber gerichteten Aktionen besser zu koordinieren.<br />
42<br />
Während des sechswöchigen Stahlstreiks von 1978/79 um die Einführung der<br />
35-Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich schlossen sich einflussreiche Vertrauensleute<br />
von Hoesch, Mannesmann und Thyssen zur einer »Arbeitsgemeinschaft<br />
Ruhr« zusammen, die auch die Zeitung »Revier« herausgab. »Revier – Zeitung<br />
für das Ruhrgebiet« war 1978 von einer Gruppe von Sozialisten herausgegeben<br />
worden und diente dem Kern der linken Vertrauensleute als eine politische<br />
Plattform. Die antikapitalistische Politisierung einer Minderheit von Vertrauensleuten<br />
war wiederum eine wichtige Voraussetzung für ihr entschlossenes und koordiniertes<br />
Eintreten für weitergehende Forderungen und Streiktaktiken.<br />
Der organisatorische und intellektuelle Kopf der sich radikalisierenden Vertrauensleutebewegung<br />
war Herbert Knapp, ein Marxist in der politischen Tradition<br />
von Karl Korsch und seit 1964 Betriebsratsvorsitzender des Stahlwerks Mannesmann-Huckingen<br />
(Duisburg). Knapp organisierte über ein Jahrzehnt interne<br />
politische Schulungen für Vertrauensleute in seinem Betrieb und arbeitete eng<br />
mit der Revier-Gruppe zusammen. 1980 trat er von allen Ämtern zurück und<br />
verließ die IG Metall, nachdem der Hauptvorstand über Monate eine Kampagne<br />
und schließlich ein Ausschlussverfahren gegen ihn eingeleitet hatte. Sein Rücktritt<br />
führte wiederum zur Demoralisierung seiner Anhänger. Knapps politischer<br />
Einfluss ist ein Beispiel für die Bedeutung des »subjektiven Faktors« – einzelne<br />
Persönlichkeiten und noch mehr Netzwerke von Sozialisten können unter be-<br />
42<br />
Der Spiegel, Nr. 41/1977. Im Vorspann des Artikels über den Gewerkschaftstag der IG Metall<br />
hie es: »Gewerkschaftschef Loderer hat Ärger mit der Basis. Seit dem Düsseldorfer IG-Metall-<br />
Kongress dringen Vertreter der harten Linie nach vorn«
60 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
stimmten Bedingungen über Sieg oder Niederlage, Aufschwung oder Niedergang<br />
entscheiden.<br />
Der gewerkschaftspolitische Bedeutungszuwachs der Vertrauensleutekörper<br />
beschränkte sich nicht auf die Stahlwerke des Ruhrgebiets, er lässt sich auch in<br />
Teilen der Großchemie, der Automobilindustrie und der Werften nachweisen.<br />
1979 fasste DER SPIEGEL in einem Bericht »Front im Betrieb« diese Entwicklung<br />
zusammen: »Seit sich die Tarifkonflikte verschärft haben, gewinnen die IG-<br />
Metall-Vertrauensleute immer mehr innergewerkschaftliche Macht.«<br />
Betriebsräte als Verwalter der Tarifunterschreitung<br />
Eberhard Schmidt hat in einem bemerkenswerten Aufsatz bereits 1973 die große<br />
Bedeutung der betrieblichen Interessenvertretung für die Entwicklung der Klassenkämpfe<br />
in Deutschland nach 1918 und nach 1945 aufgezeigt. Das Spannungsverhältnis<br />
von Betriebsräten und Gewerkschaften steht dabei im Zentrum seiner<br />
Analyse. Mit Zustimmung der Gewerkschaften des ADGB war 1920 eine Betriebsrätegesetz<br />
verabschiedet worden, von dem es im »Roten Gewerkschaftsbuch«<br />
heißt: »Die Betriebsrätebewegung ist ein Kind der Revolution von 1918,<br />
jedoch ein von der Konterrevolution immer mehr zum Krüppel geschlagenes<br />
Kind.« 43 Das Gesetz von 1920 hatte aus den Aufstandsorganen der Revolution<br />
ein sozialpazifistisches Instrument gemacht, das »für möglichste Wirtschaftlichkeit<br />
der Betriebsleistung zu sorgen und […] den Betrieb vor Erschütterungen zu<br />
bewahren« hatte (§ 66 Weimarer Betriebsrätegesetzes). 1952 kam es zu einer<br />
Neuauflage dieses Gesetzes, das auch die Betriebsräte verpflichtet, zum Wohle<br />
des Betriebes zu arbeiten, und ihnen Streiks untersagt.<br />
Seit Ende der 1980er Jahren haben die Betriebsräte noch einmal einen Funktionswandel<br />
erfahren. Der Sozialwissenschaftler Hermann Kotthoff hat darauf<br />
hingewiesen, dass die anfänglichen Hoffnungen, dass die Betriebsräte von einem<br />
Zuwachs an Aufgaben durch die Öffnung der Flächentarifverträge einen machtpolitischen<br />
Zugewinn haben könnten, sich als großer Irrtum herausgestellt hätten.<br />
44 Kotthoff spricht von einem »Paradox«. Die Zunahme an Mitwirkungsmöglichkeiten<br />
durch die Verbetrieblichung der Tarifpolitik gehe einher mit einer Abnahme<br />
seiner interessenpolitischen Wirksamkeit als Vertreter und Beschützer der<br />
Arbeitnehmer. Schon für 1997 zeigten diverse Untersuchungen, dass auf breiter<br />
43<br />
Enderle, August/Schreiner, Heinrich/Walcher, Jacob/Weckerle, Eduard: Das rote Gewerkschaftsbuch.<br />
Berlin 1932 191 Seiten<br />
44<br />
Kotthoff spricht von einer »euphorischen Interpretationslinie Anfang der 90er Jahre« bei vielen<br />
kritischen Sozialwissenschaftlern in »Mitbestimmung in Zeiten interessenpolitischer Rückschritte.<br />
Betriebsräte zwischen Beteiligungsofferte und gnadenlosem Kostensenkungsdiktat«. In : Industrielle<br />
Beziehungen : Zeitschrift für Arbeit, Organisation und Management, Jg. 5,, H. 1, S.77
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 61<br />
Front eine »Deregulierung und Flexibilisierung« stattfand. Die Reaktion der Betriebsräte<br />
sei dabei durch drei Gesichtspunkte geprägt:<br />
1. Durch eine »ökonomistische Sicht«, d. h. sie »halten die Entscheidungen für<br />
notwendig und alternativlos, weil der Weltmarkt, die Konkurrenz usw. sie diktiert.«<br />
2. Durch die »sozialverträgliche Abpolsterung der Nagativmaßnahmen« 3.<br />
Durch eine »Beteiligung um der Beteiligung willen […] Schlimmer als der Misserfolg,<br />
ist für sie, nicht dabei gewesen zu sein, denn das würde die Substanz ihrer<br />
Funktion schwächen.« 45<br />
Was jahrelang den Arbeitgebern nicht gelungen sei, nämlich »ein substantieller<br />
Abbau von arbeits-, sozial- und tarifpolitischen Standards«, gelinge »neuerdings<br />
[…] sozusagen durch einen Freundschaftsvertrag, genannt ›Beschäftigungssicherungsvertrag‹«.<br />
Betriebsräte schließen Betriebsvereinbarungen ab, in denen sie<br />
den Verzicht des Unternehmens auf betriebsbedingte Kündigungen für eine bestimmte<br />
Zeit mit einer Vielzahl von Verschlechterungen für die Beschäftigten<br />
»kaufen«. Typische Beispiele seien: »Streichung/Kürzung von Pausen und Erholzeiten«,<br />
»Einführung von/Zunahme von Schicht-, Nachtschicht, und Wochenendarbeit,<br />
Überschreitung von Höchstarbeitszeiten pro Tag und Woche, weitgehende<br />
Flexibilisierung von Arbeitszeiten durch Zeitkonten und mit langen Ausgleichszeiten<br />
und damit Anpassung der Arbeitszeit an die Auftragslage, dadurch<br />
Obsoletwerden des Tatbestandes »Überstunde« somit auch von Überstundenzuschlägen<br />
und Überstundengenehmigung durch den Betriebsrat, damit Preisgabe<br />
eines klassischen Machtinstruments des Betriebsrats; Anrechnung übertariflicher<br />
Lohnbestandteile, pauschale Verkürzung von Vorgabezeiten, Zustimmung des<br />
Betriebsrates zu bestimmten Kostensenkungsprogrammen und zu leistungspolitischen<br />
Deregulierungen, Senkung des Krankenstandes um eine vereinbarte Prozentzahl.«<br />
46<br />
Vergleicht man diese Horrorliste mit den Tätigkeiten der Betriebsräte bis in die<br />
frühe 1980er Jahre, so muss man von einem Systemwechsel sprechen. Betriebsräte<br />
früher machten z. B. die Zustimmung zu Überstunden von der Gewährung<br />
von Vergünstigungen abhängig, Der angedrohte »Überstundenstreik« war ein<br />
wirksames Mittel des »concession bargaining«, des Tauschhandels zugunsten der<br />
Belegschaften. Dieses Druckmittel ist durch die Arbeitszeitflexibilisierung weitgehend<br />
abhanden, an seine Stelle ist das Druckmittel der anderen Seite durch die<br />
Drohung mit zukünftigen Entlassungen getreten. Die »Institution« der Mitbestimmung<br />
sei ungebrochen, die Betriebsräte werden mehr zu Rate gezogen als<br />
früher, aber »bei gleichzeitigem Ausverkauf von Arbeitsrechten«. So hat das Modell<br />
der Sozialpartnerschaft in der Krise ein neues Gesicht erhalten, das Gesicht<br />
45<br />
Kotthoff, S. 91 f.<br />
46<br />
Kotthoff, S. 93
62 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
eines sukzessiven Abgleitens in direktes Durchschlagen von Markt, Konkurrenz<br />
und Krise auf die betriebliche Ebene.<br />
Allerdings zeigt Hermann Kotthoff auch, dass hier neue Konfliktlinien entstehen<br />
und neue Aufgaben und Möglichkeiten für aktive Widerstandskerne in den<br />
Betrieben. Er beobachtete 1997, dass es eine wachsende Kritik an der Zugeständnisbereitschaft<br />
der Betriebsräte gebe.<br />
Kotthoff sieht tendenziell sogar das »institutionelle Gerüst« der betrieblichen<br />
Mitbestimmung in Gefahr. Diese könne »als Konsens- und Kooperationsmodell<br />
längerfristig nur überleben, wenn sie vom kämpferischen Teil des Interessenhandelns<br />
arbeitsteilig entlastet ist […] Wenn die Betriebsräte die Gewerkschaft tarifpolitisch<br />
nicht nur ergänzen, sondern ersetzen müssen – was sie selbst nicht anstreben,<br />
sondern als Last empfinden –, dann wird ein Konfliktpotential in den<br />
Betrieb zurückgetragen, vor dem ihn das duale System weitgehend beschützt<br />
hat.« 47<br />
Kotthoff sieht die Möglichkeit, dass sich oppositionelle Minderheiten gegen<br />
allzu große Zugeständnisse in den Betriebsräten bilden und dass selbst kooperative<br />
Betriebsräte so unter Druck geraten könnten. 48<br />
An dieser Stelle ist auch eine Analyse der Verschärfung der sozialpartnerschaftlichen<br />
Integration der Betriebsräte wichtig. Im Organisationsbereich von IG Metall<br />
und Verdi gibt es 8.489 freigestellte Betriebsräte. Insbesondere unter diesen<br />
stellt die Hans-Böckler-Stiftung eine »Verberuflichung« der Interessenvertretung<br />
fest: »Routinierte, professionalisierte bzw. partizipationserfahrene Betriebsräte<br />
kennzeichnen somit die Interessenvertretungsarbeit in vielen Betrieben. Die ›Verberuflichung‹<br />
der Interessenvertretung scheint zum institutionellen Markenzeichen<br />
betrieblicher Mitbestimmung zu werden.« Dies drücke sich unter anderem<br />
darin aus, dass, insbesondere in Großbetrieben der Betriebsrat eine eigene berufliche<br />
»Karriere« darstellt: »In den Großbetrieben mit hochkomplexen interessenvertretungspolitischen<br />
Rahmenbedingungen ist die Betriebsrats(berufs-)karriere,<br />
hier verstanden als Betriebsratstätigkeit über mehrere Wahlperioden, ein besonders<br />
hervorzuhebendes institutionelles Strukturmerkmal der Gremien.« 49 Dies<br />
lässt sich unter anderem an den langen Amtszeiten insbesondere der Betriebsräte<br />
aus den Großbetrieben und dort noch einmal besonders der Betriebsratsvorsitzenden<br />
feststellen. 50 Dies ist deswegen von Bedeutung, da die Unternehmen eine<br />
47<br />
a.a.O. S. 97<br />
48<br />
a.a.O: S.95<br />
49<br />
Greifenstein, Ralph/ Kißler, Leo/ Lange, Hendrik: Trendreport Betriebsratswahlen 2010, Arbeitspapier<br />
231, Hans-Böckler-Stiftung 2011, 73 Seiten. S.34<br />
50<br />
Während bei den Betriebsratswahlen 2002 für 44,4 % ihre erste Amtszeit antraten und für 31,1%<br />
ihre dritte, waren es 2010 nur für 32,8 % die erste und für 42,2 % die dritte. In Großbetrieben ab<br />
1.000 Beschäftigte traten 2010 50 % der Betriebsräte ihre Amtszeit an, bei den Betriebsratsvorsitzenden<br />
stieg die Anteil der dritten Amtszeit von 2002 auf 2010 gar von 56 % auf 68 %. (Grei -
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 63<br />
Integrationsstrategie gegenüber den Betriebsräten fahren. Zwar dürfen Betriebsräte<br />
keine finanzielle Vergütung erhalten. D. h. ihr Verdienst soll lediglich den<br />
Verdienstausfall ihrer eigentlichen Tätigkeit ausgleichen. Allerdings soll eine normale<br />
Weiterentwicklung der Aufstiegsmöglichkeiten angenommen werden. Dies<br />
wird von vielen Großunternehmen so interpretiert, dass sie eine kontinuierliche,<br />
mehr oder weniger steile Karriere für ihre Betriebsräte annehmen und diese so –<br />
ganz legal – versuchen einzukaufen. 51 Damit sind alle illegalen Praktiken von<br />
Lustreisen, über luxuriöse Dienstwägen und Sonderboni und ähnliches noch<br />
nicht berücksichtigt. 52<br />
Wenn nun Hermann Kotthoff neues Konfliktpotenzial in den Betrieben diagnostiziert<br />
und zwar zwischen Belegschaften und dem Arbeitgeber, aber durchaus<br />
auch zwischen Belegschaften und den Betriebsräten, dann könnte dies dem<br />
Wiederaufbau von Vertrauensleuten und ihren Netzwerken eine neue Bedeutung<br />
geben. Eberhart Schmidt erhoffte sich 1974, dass die neue Rolle der Vertrauensleute,<br />
ihr gestiegenes Gewicht gegenüber den Betriebsräten, dazu beitragen<br />
könnte, »die Gewerkschaften im Betrieb wieder stärker als Kampforgan gegenwärtig«<br />
sein zu lassen. Nur gegen den Widerstand der Gewerkschaftsapparate<br />
und der Masse der Betriebsräte werde sich ein solcher Prozess der Neubestimmung<br />
betrieblicher Gewerkschaftspolitik durchsetzen lassen. Schmidt wies damals<br />
auf die Erfahrungen der Klassenkämpfe in Italien, Frankreich und Großbritannien<br />
hin, in denen nach 1968 betriebliche Kampforganisationen einen<br />
großen Einfluss gewonnen hatten, und schloss daraus für die zukünftige Entwicklung<br />
in Deutschland, dass »von sozialpartnerschaftlich angelegten Interessenvertretungsorganen<br />
im Betrieb die Initiativen für die Durchsetzung der Forderungen<br />
der Lohnabhängigen nicht ausgehen können. Dafür müssen sich ›Rätestrukturen‹<br />
herausbilden, die nicht wie die Betriebsräte seit 1920 auf friedliche<br />
Kooperation mit den Unternehmern festgelegt sind.« 53 Der überbetriebliche zentrale<br />
Vertrauensleute-Ausschuss in Frankfurt und die branchenweiten Vernetzungsstrukturen<br />
der Vertrauensleute in der Stahlindustrie zeigen Konturen einer<br />
fenstein u.a.: Trenreport S. 52)<br />
51<br />
BASF z.b. hatte die Verdienste ihrer Betriebsräte offengelegt: Drei der insgesamt 53 Betriebsräte<br />
verdienen den Angaben zufolge 100.000 bis 150.000 Euro im Jahr. Der Schnitt liegt bei 60.000<br />
Euro jährlich. (Quelle Focus xx)<br />
52<br />
Das Kapital ist sich seiner Integrationsbemühungen durchaus sehr bewusst: »Klaus Volkert, Ex-<br />
Betriebsratschef von VW, erinnert sich: >Klaus, wenn du nicht im Betriebsrat wärst, dann wärst<br />
du bei uns im TopmanagementDa das<br />
aber nicht so ist, gucken wir, wie wir das im Rahmen unserer Möglichkeiten hinkriegen
64 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
solchen Rätebewegung, die die sozialpartnerschaftliche Vorstrukturierung der Institution<br />
Betriebsrat untergräbt. »Rätestruktur« bedeutet in Bezug auf die gewerkschaftlichen<br />
Vertrauenskörper deren jederzeitige Abwählbarkeit und Verantwortlichkeit<br />
gegenüber ihrer Wählerbasis, den Gewerkschaftsmitgliedern in den<br />
Abteilungen und Büros. Sie kann und soll keine neue Organisation neben den<br />
Gewerkschaften sein. Ganz im Gegenteil sollen sie deren Erneuerung und Demokratisierung<br />
durch Bewegung von unten dienen. Ansätze zur Demokratisierung<br />
von Streiks, wie sie auf der Konferenz »Erneuerung durch Streik« vorgestellt<br />
wurden, werden sich wiederum nur dauerhaft etablieren, wenn sie jene<br />
Kräfte herausfordern, die einer Demokratisierung, bzw. überhaupt einer auf<br />
Streiks und Konflikte setzenden Gewerkschaftsstrategie im Weg stehen. Auch<br />
wenn solche selbstbewusste und eigenständige Organisierung der Vertrauensleute<br />
heute in weiter Ferne zu liegen scheint, könnte die Rückverlagerung des Konfliktpotentials<br />
von der überbetrieblichen auf die betriebliche Ebene hierfür einen<br />
neuen Ausgangspunkt bieten.<br />
Die Rolle der LINKEN in der Erneuerung der<br />
Gewerkschaftsbewegung<br />
Jan Ole Arps beschreibt in seinem Buch Frühschicht wie in den 1970er Jahren<br />
Tausende revolutionärer Aktivisten aus der Erkenntnis heraus, dass sie »ohne die<br />
Arbeiterklasse keine Chance hatten« 54 in die Fabriken gingen und sich vom Studenten<br />
in einen »Arbeiter« verwandelten, in der Hoffnung so besser die Arbeiterklasse<br />
organisieren zu können. Bisweilen liest sich die Geschichte als Parodie –<br />
etwa, wenn die KPD (ML) ihre Mitglieder anweist, sich dem was sie für proletarische<br />
Kultur hält anzupassen – also lange Haare ab, ordentliches Äußeres, Arbeiterlieder<br />
auf Kulturveranstaltungen hören und singen und Heirat und Familienhaushalt<br />
am besten mit Kind –, gerade zu einer Zeit wo die antiautoritäre Bewegung<br />
viele, insbesondere junge Arbeiter ansprach und sie sich die Haare wachsen<br />
ließen. 55 Die Situation heute könnte anders kaum sein. Skater, Raver, Subkulturen<br />
sind auch in der Arbeiterklasse die kommerzialisierte Regel und nicht Ausdruck<br />
politischer Widerständigkeit einer antiautoritären Minderheit. Es gibt keine Revolutionäre<br />
mehr, die sich in Fabrikarbeiter verwandeln, und eine wirkmächtige revolutionäre<br />
Linke gibt es auch nicht. Allerdings – und es ist merkwürdig, dass Jan<br />
Ole Arps dies in seinem Buch aus dem Jahr 2011 nicht erwähnt – gibt es heute<br />
die Partei die LINKE, die einen organisierten Bruch mit der Sozialdemokratie<br />
nach links bedeutet und über eine beträchtliche Wählerschaft in der Gewerkschaftsbewegung<br />
verfügt.<br />
54<br />
Arps, Jan-Ole: Klappentext<br />
55<br />
Arps, jan Ole. S.76-84
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 65<br />
Bei den Wahlen 2009 erhielt die LINKE unter gewerkschaftlich organisierten<br />
Arbeitern 17 Prozent der Stimmen, unter Gewerkschaftsmitgliedern insgesamt<br />
waren es 15 Prozent. 56 Das sind 928.000 Gewerkschaftsmitglieder, die 2009 die<br />
LINKE gewählt haben. Noch interessanter ist, dass die LINKE gerade unter<br />
Gewerkschaftsmitgliedern und Betriebsräten gut verankert ist. So definieren sich<br />
in einer Untersuchung 2007 (also zu einer Zeit, als die Ergebnisse noch nicht so<br />
hoch waren wie 2009, also eher vergleichbar mit dem Stand der Wahlumfragen<br />
<strong>2013</strong>) nur 2 Prozent der westdeutschen Wähler als »Anhänger« der LINKEN –<br />
was eine gefestigte Unterstützung der Partei bedeutet und nicht nur eine Wechselwählerschaft<br />
anzeigt. Unter Betriebsräten sind es doppelt so viele, also 4 %. Es<br />
gibt in Deutschland ungefähr 200.000 Betriebsräte aus 100.000 Betrieben. 4 Prozent<br />
davon sind ungefähr 8.000 Betriebsräte. Berücksichtigt man, dass laut der<br />
gleichen Studie in Ostdeutschland 40 Prozent der Betriebsräte sich als Anhänger<br />
der LINKEN bezeichnen, dann ist die Zahl der LINKE-Anhänger unter Betriebsräten<br />
wahrscheinlich bundesweit zwischen 10.-12.000 anzusetzen. 57<br />
Wegen dieser Verankerung in den Gewerkschaften – insbesondere bei aktiven<br />
Gewerkschaftern – halten wir die Entstehung der Partei DIE LINKE für eine<br />
historische Chance für die antikapitalistische und sozialistische Linke in Deutschland.<br />
Erstmals seit langer Zeit ist eine politische und organisatorische Alternative<br />
zur sozialdemokratischen Hegemonie in der Arbeiterbewegung in Deutschland<br />
entstanden. Und zwar eben nicht durch Maskerade und Selbstverwandlung, sondern<br />
durch einen organischen und authentischen politischen Bruch- und Differenzierungsprozess<br />
innerhalb und aus der Arbeiterbewegung heraus.<br />
Allerdings gibt es auch Probleme: Zwar brachen die Gewerkschafter, die die<br />
WASG gründeten, mit dem konkreten Inhalt der bürgerlichen Politik der SPD-<br />
Politik (Agenda 2010, Bundeswehreinsätze etc.) und schufen eine neue Partei<br />
links der Sozialdemokratie. Gleichzeitig bestehen Kernelemente eines sozialdemokratischer<br />
Politikverständnisses fort. Das wichtigste Element davon ist die<br />
Trennung von Politik und Ökonomie, wie sie etwa Klaus Ernst in der Dezemberausgabe<br />
des Disput vorbringt: »DIE LINKE muss die Interessenvertretung der<br />
abhängig Beschäftigten im Parlament sein. Die Gewerkschaften sind deren Interessenvertretung<br />
am Arbeitsplatz. Das sind für mich zwei Seiten derselben Medaille.«<br />
58 Die LINKE hat hunderte Gewerkschaftsaktivisten in ihren Reihen, darunter<br />
viele hauptamtliche Funktionäre der mittleren und unteren Ebene der Apparate,<br />
aber auch viele ehrenamtliche, betriebliche Funktionäre.<br />
56<br />
Hauptvorstand der IG Metall: Berlin aktuell. Ergebnisse der Bundestagswahl und der Landtagswahlen<br />
in Brandenburg und Schleswig-Holstein am 27. September 2009, 28.9.2009<br />
57<br />
DIW Berlin: Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 41/2008. S. 632<br />
58<br />
Ernst, Klaus: Zwei Seiten derselben Medaille DIE LINKE und die Gewerkschaften Von<br />
Klaus Ernst, disput Dezember S. 24
66 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
Viele Gewerkschafter in der LINKEN sind in einer programmistischen Strategie<br />
verfangen. Damit ist gemeint, dass sie ihre Aufgabe vor allem darin sehen, gewerkschaftliche<br />
Forderungen in der LINKEN und durch die LINKE zu verteidigen<br />
und zu vertreten. Das ist erst mal ein gutes und wichtiges Anliegen. Allerdings<br />
ist diese Strategie immer reaktiv. Sie bleibt auf die Vertretung gewerkschaftlicher<br />
Forderungen und Kämpfe im parlamentarisch-politischen Raum beschränkt<br />
und schneidet sich somit von breiteren gesellschaftlichen Kämpfen und<br />
Kampagnen mit ihrer potenziellen, auch politischen Dynamik ab.<br />
Woran kann man eine programmistische Ausrichtung erkennen?<br />
Hier ist eine Aufstellung des Inhaltes und der Autorenschaft der Zeitung der<br />
größten innerparteilichen Arbeitsgemeinschaft der LINKEN, der AG Betrieb<br />
und Gewerkschaft der letzten 10 Ausgaben (Dezember 09 bis Mai 12):<br />
Themen:<br />
Allgemeinpolitisch: 93 = 75 %<br />
Gewerkschaftspolitisch: 24 = 19 %<br />
aus dem Betrieb: 7 = 6 %<br />
Autoren:<br />
MdBs: 36 = 29 %<br />
MdL/MdEP: 18 = 14 %<br />
Mitarbeiter von Abgeordneten/Fraktionen: 21 = 17 %<br />
Gewerkschaftssekretäre: 23 = 18 %<br />
Gewerkschafter aus dem Betrieb / Betriebsräte: 12 = 10 %<br />
Sonstige: 16 = 13 %<br />
Diese Aufstellung belegt, was eine Lektüre der Publikation schon aufdrängt: Um<br />
alternative gewerkschaftliche Strategien, Impulse für eine kämpferische Gewerkschaftspolitik<br />
geht es in der Arbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft<br />
kaum. Sie beschränkt sich auf eine Vertretung und Repräsentation gewerkschaftlicher<br />
Interessen in der LINKEN. 59<br />
Nötig wäre es, ausgehend von einer grundsätzlichen Strategiediskussion einerseits<br />
und Modellprojekten andererseits mit Gewerkschaftern in der LINKEN<br />
eine interventionistische, alternative, kämpferische Gewerkschaftspolitik in Bezug<br />
auf die Gewerkschaften zu entwickeln.<br />
Denn wir machen immer wieder die Erfahrung, dass betriebliche AktivistInnen<br />
sich kaum in der LINKEN zu Hause fühlen. So fragte uns ein früheres Mitglied<br />
einer revolutionären Gruppierung, der heute Betriebsratsvorsitzender eines kom-<br />
59<br />
Hier geht es nicht darum die AG Betrieb und Gewerkschaft dafür an den Pranger zu stellen,<br />
sondern eine politische Ausrichtung der LINKEN zu reflektieren deren Teil die Autoren selbst<br />
ja auch waren.
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 67<br />
munalen Betriebs mit über 1000 Beschäftigten ist, der sich der LINKEN nicht<br />
anschließen will: »Weil diese mir mit meiner Arbeit in Betrieb und Gewerkschaften<br />
nichts bringt.« In der Tat: Klaus Ernst fordert Gewerkschaftsmitglieder auf,<br />
Mitglied in der LINKEN zu werden mit dem Argument: »Die LINKE bietet die<br />
größte Gewähr, die Interessen der Arbeiterschaft in das Parlament einzubringen,<br />
oft gegen die Stimmen aller anderen Parteien.« Mit einer solchen Perspektive, die<br />
vor allem auf Repräsentation gewerkschaftlicher Forderungen im »politischen<br />
Raum«, das heißt in Wahlkämpfen und in Parlamenten setzt, übt DIE LINKE<br />
eine geringe Anziehungskraft auf die immer noch vorhandenen Reste, bzw. sich<br />
neu bildenden Kerne einer radikalen, klassenkämpferischen Linken in den Betrieben<br />
und Gewerkschaften aus.<br />
Eine historische Warnung: die Ohnmacht der SPD-Linken durch<br />
mangelnde betriebliche Verankerung<br />
Wenn sich antikapitalistische Organisation bei der LINKEN auf Repräsentation<br />
gewerkschaftlicher Interessen im politischen Feld beschränkt und damit die<br />
Trennung von Politik und Ökonomie beibehält, verzichtet die LINKE darauf,<br />
das Potenzial von betrieblichen und tarifpolitischen Kämpfen zu aktivieren. Die<br />
Erfahrung der linken Jusos und sozialistischer Kräfte in der SPD von 1973 zeigt<br />
hier eine interessante historische Erfahrung, wo die parlamentarisch-innerparteiliche<br />
Orientierung der Linken eine Verbindung mit den betrieblichen Kämpfen<br />
erschwerte, als diese in Folge der Septemberstreiks relativ unerwartet explodierten.<br />
Die SPD-Linke und die Jusos waren einer der wesentlichen Nutznießer der<br />
enormen gesellschaftlichen Linkswende nach der 1968er Bewegung. Hunderttausende<br />
traten in die Jusos und die SPD ein. Viele, vor allem junge Neumitglieder,<br />
wollten die SPD damals in eine sozialistische Partei umgestalten. Die Jusos waren<br />
in der Partei gut verankert und haben systematisch um linke, sozialistische Positionen<br />
gekämpft. Sie waren um eigene Publikationen vernetzt und haben versucht,<br />
im Rahmen einer »Doppelstrategie« neben einem parlamentarischen<br />
Kampf innerhalb der SPD um ein Programm antikapitalistischer Strukturreformen<br />
auch in außerparlamentarischen Bewegungen impulsfähig zu sein. Vor dem<br />
Hintergrund allgemein stark mobilisierter sozialer Bewegungen waren sie sicher<br />
interventionsfähiger als die LINKE heute. Trotzdem bestand, ähnlich wie heute<br />
in der LINKEN, ein starker Fokus auf den innerparteilichen Kampf um antikapitalistische<br />
Strukturreformen und sozialistische Positionen. Dies ist in der »programmistischen«<br />
Illusion der Linken in der heutigen LINKEN durchaus ähnlich.<br />
Auch hier wird um das Programm und die Verteidigung von linken Positionen<br />
stark gekämpft und ein Hauptfeld der Auseinandersetzung gesehen.
68 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
Als die sozialliberale Regierung unter Willy Brandt zwar Reformen realisierte,<br />
aber nach den Wahl von 1972 weit hinter den Erwartungen zurückblieb und<br />
stattdessen anfing, Lohnzurückhaltung von den Gewerkschaften zu fordern und<br />
die versprochenen Reformen (Berufsausbildung) ganz stoppte, standen die Jusos<br />
und die Linke in der SPD vor einem Dilemma. Sie waren zwar in der Lage, die<br />
Regierung für ihr Zurückweichen vor dem Kapital und wegen ausbleibender Reformen<br />
zu kritisieren, aber sie hatten nicht die Möglichkeit, um eine andere, offensive<br />
Klassenkampfstrategie zu kämpfen, da ihnen eine eigenständige Verankerung<br />
in Betrieben und Gewerkschaften fehlte. Mit dem Beginn einer spontanen<br />
Streikbewegung von 1973 entstand aus der Praxis heraus eine alternative Klassenkampfstrategie.<br />
Der Juso-Bundesvorstand stellte sich hinter die Forderungen<br />
und die Praxis der Streikbewegung und ging damit offen auf Konfrontationskurs<br />
mit der Regierung unter Kanzler Willy Brandt, der in einer Fernsehansprache die<br />
Streiks angegriffen hatte. Ein Mitglied des Bundesvorstandes der Jusos ging sogar<br />
einen Schritt weiter.<br />
In einer Rede auf der Landeskonferenz der bayrischen Jusos im Juni 1973 hatte<br />
Johanno Strasser »eine strategische Umorientierung der Politik der Jungsozialisten<br />
gefordert. Die Jusos sollten seiner Meinung nach die abstrakte Strategiedebatte<br />
beenden und sich darauf vorbereiten, in aktuelle Klassenkämpfe einzugreifen.<br />
Strasser ging von einer zu erwartenden Verschärfung der Spannungen im<br />
Herbst aus […]. Er kritisierte die Stabilitätspolitik der Regierung […]. Gleichzeitig<br />
sagte er eine vorsichtige Politik der Gewerkschaftsführung voraus aufgrund<br />
ihrer Loyalität zur Regierung […]. Er forderte die Jungsozialisten auf, in einer<br />
breiten Kampagne an die konkreten Klassenkämpfe anzuknüpfen, die Forderungen<br />
und Streiks der Arbeiter zu unterstützen und angesichts der erfolglosen Stabilitätspolitik<br />
eine Verbindung zwischen konkreten Tagesforderungen und langfristigen<br />
strategischen Zielen herzustellen.« 60<br />
Die Reaktion der SPD-Führung und der Gewerkschaftsführung war hart. Sie<br />
nahmen das Anliegen der Jusos ernst und warnten, wie etwa der bayrische Vorsitzender<br />
des DGB, der extra auf der Juso-Konferenz auftrat, vor einer Politik,<br />
die einen innerparteilichen Konflikt »nun auf die Gewerkschaften übertragen<br />
und einen Keil zwischen Funktionäre und Mitglieder treiben« würde. 61 Auch Willy<br />
Brandt verurteilte die Stellungnahme der Jusos als »außerordentlich abträglich<br />
für die Sozialdemokratische Partei und die gebotene Solidarität mit den Gewerkschaften«.<br />
62 Zugleich gab es eine Solidarisierung in der SPD und in den Gewerkschaften<br />
mit den angegriffenen Jusos. Eine Erklärung zur Verteidigung der Jusos<br />
60<br />
Deppe, Rainer/ Herding, Richard / Hoß, Diedrich: Sozialdemokratie und Klassenkonflikte :<br />
Metallarbeiterstreik - Betriebskonflikt – Mieterkampf 301 Seiten. S.118<br />
61<br />
ders. S. 120<br />
62<br />
ders. S.122
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 69<br />
wurde von 34 MdBs der SPD und zahlreichen linken Bevollmächtigten der IG<br />
Metall und Betriebsräten unterschrieben.<br />
Allerdings standen die Jusos vor dem Problem, dass sie sich nie systematisch<br />
aufgestellt hatten, um eine betriebs- und gewerkschaftsinterventionistische Politik<br />
anzugehen. Sie waren auf Unterstützung von bestehenden sozialen Bewegungen<br />
und auf innerparteilichen Kampf ausgerichtet und hatten keine Idee, wie sie<br />
eine interventionistische Betriebspolitik, die spontane Dynamiken aufnehmen<br />
aber auch Konflikte mit der Gewerkschaftsführung ausfechten konnte, durchführen<br />
sollten. Eine Studie von Rainer Deppe über Opel Bochum zeigt, wie<br />
schwer es den lokalen Jusos gefallen ist, Wurzeln in dem Betrieb zu schlagen, obwohl<br />
sie eine systematische Interventionspolitik von außen organisierten (Flugblattverteilungen<br />
für die spontane Streikbewegung, Unterstützung der gewerkschaftsoppositionellen<br />
Liste). Sie konnten zwar eine alternative Liste unterstützen,<br />
hatten aber selbst keinen organisatorischen Arm in der Belegschaft. Obwohl<br />
es eine spontane Streikbewegung im Laufe des Jahres 1973 gegeben hatte und<br />
teilweise auch linke und radikal-linke Gruppen diese beeinflussten und mittrugen,<br />
waren die Jusos als einer der größten organisierten Akteure eher auf eine<br />
Solidarisierungsfunktion reduziert. Letztlich blieben sie – trotz enormer Organisationskapazitäten<br />
und vielen Tausend Aktiven – machtlos, weil sie den sozialdemokratischen<br />
und gewerkschaftlichen Machtapparaten in den Betrieben kein organisiertes<br />
Netzwerk entgegenstellten, weil sie die Trennung von politischem und<br />
ökonomischem Kampf letztlich in ihrer großen Mehrheit akzeptierten. Deshalb<br />
konnten sie keinen Beitrag zu einer Verstetigung und Organisierung der spontanen<br />
Streikwelle zu einer politischen Herausforderung des Gesamtkurses der Partei<br />
leisten. Schließlich blieb ihr Widerstand auf zeitweilige verbale Opposition<br />
ohne praktische Alternative beschränkt.<br />
Für die Linke in der LINKEN bietet diese historische Episode einige interessante<br />
Lehren. Auch die Linke in der LINKEN heute hat eigentlich kein strategisches<br />
Konzept, wie die programmatischen Forderungen der LINKEN in die<br />
Realität umgesetzt werden können. Hierbei geht es nicht um die praktische Realisierbarkeit<br />
oder ihre »Seriosität«, sondern darum, wie die Kräfteverhältnisse in<br />
der Gesellschaft so verändert werden können, dass die Forderungen Aussicht<br />
auf Durchsetzung haben. Während die Linke in der LINKEN sich darauf beschränkt<br />
zu betonen, was »auf keinen Fall« passieren darf (rote Haltelinien), gibt<br />
es keine strategische Diskussion, wie es denn zu einer Veränderung der gesellschaftlichen<br />
Kräfteverhältnisse kommen könnte, welchen Beitrag die LINKE dabei<br />
spielen könnte, wie die Gewerkschaften in Deutschland wieder zu Klassenorganisationen<br />
der Verteidigung gegen die Übergriffe des Kapitals werden können<br />
und welche Möglichkeiten die LINKE durch die Bündelung ihrer betrieblich-gewerkschaftlichen<br />
Kräfte hätte, betriebliche Widerstandkerne zu stärken und den
70 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
Einfluss des sozialdemokratischen Krisenkorporatismus zurückzudrängen. Die<br />
Krise der LINKEN ab dem Jahr 2009 bis heute (<strong>2013</strong>) ist nicht zuletzt das Resultat<br />
eines ausgebliebenen Kampfes gegen Merkels Sparpaket zu Lasten der Arbeitslosen<br />
(2010 und ihre europäische Austeritätspolitik, gegen Lohnraub, gegen<br />
den ausufernden Niedriglohnsektor und für einen Bruch mit der Politik der<br />
»wettbewerbsorientierten Tarifpolitik«). Bleibt eine solche Strategie und betrieblich-gewerkschaftliche<br />
Verankerung aus, kann die LINKE keine organisierende<br />
Kraft in den Gewerkschaften ausbilden. Es ist an der Zeit, die Diskussion über<br />
eine Gewerkschaftsstrategie zu beginnen.<br />
Die Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung und die Rolle der<br />
LINKEN<br />
Zur gewerkschaftlichen Erneuerung sollten wir das Ziel formulieren, dass die<br />
LINKE dazu beiträgt, eine neue Basis-Bewegung von betrieblich verankerten<br />
Aktivisten aufzubauen – auch wenn dieses Ziel heute noch in weiter Ferne zu liegen<br />
scheint. Der erste Schritt dazu müsste der Anstoß zu einer bewussten, strategischen<br />
Intervention der LINKEN in die Gewerkschaften sein.<br />
Die LINKE könnte zum »widerständigen« Pol für eine klassenkämpferische<br />
Gewerkschaftspolitik werden. Alle Erfahrungen zeigen, dass sich in der LIN-<br />
KEN viele aktive Gewerkschafter mit einer sozialistischen Zielrichtung zusammengeschlossen<br />
haben, die in ihrer großen Mehrheit das sozialpartnerschaftliche<br />
Standortdenken ihrer Führungen ablehnen. Leider verstehen sich manche prominente<br />
Gewerkschafter in der LINKEN nur als Sprachrohr oder als Arm der Gewerkschaften<br />
im parlamentarisch-politischen Raum. Stellvertretend sei hier der<br />
Chefökonom der LINKEN Michael Schlecht zitiert, der in einem Beitrag in dieser<br />
Zeitschrift 2008 schrieb: »DIE LINKE als Partei hat auf die inneren Prozesse<br />
in den Gewerkschaften keinen unmittelbaren Einfluss. Er wird auch nicht angestrebt.<br />
Die gewerkschaftliche politische Autonomie wird nicht nur akzeptiert,<br />
sie ist auch aus linker Sicht notwendig.« 63<br />
Es versteht sich wohl von selbst, dass die LINKE den Gewerkschaften nicht<br />
per Parteitagsbeschuss irgendwelche Ziele, Forderungen oder Kämpfe verordnen<br />
kann und darf. Aber Autonomie kann zweierlei bedeuten, es kann organisatorische<br />
Trennung und Selbständigkeit von Parteien bedeuten, es kann aber auch politische<br />
Neutralität bedeuten. Ersteres ist unbedingt richtig für ein marxistisches<br />
Verständnis zum Verhältnis von Sozialistischen Parteien zu den Gewerkschaften.<br />
Zweites läuft auf eine Trennung von politischem und gewerkschaftlichem<br />
63<br />
Schlecht, Michael: Gewerkschaftliche Autonomie und DIE LINKE. Michael Schlecht über das<br />
Verhältnis von Partei und Arbeitnehmerorganisation. http://marx21.de/content/view/373/
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 71<br />
Kampf hinaus, zum Nur-Gewerkschaftertum auf der einen und zur parlamentarischen<br />
Reformpolitik auf der anderen.<br />
Der heutige Bundesvorsitzende der LINKEN Bernd Riexinger hatte im Juli<br />
2004 auf dem ersten bundesweiten Treffen der WASG einen anderen Ton angeschlagen.<br />
Er forderte, dass eine neue Linkspartei »zum Motor der sozialen Bewegungen«<br />
werden müsse. Wie soll aber eine sozialistische Partei Motor sozialer Bewegung<br />
werden, wenn sie um die größte und potenziell machtvollste, die Gewerkschaftsbewegung,<br />
einen großen Bogen macht, wenn sich die gewerkschaftlich<br />
organisierten Mitglieder der LINKEN und ihr beträchtliches Umfeld nicht<br />
zu einer aktionsorientierenden, gestaltenden Kraft in den Gewerkschaften zusammenschließen?<br />
Ohne eine organisierte Opposition von unten, die für eine sozialistische statt<br />
korporatistische Politik eintritt, wird der Niedergang der Gewerkschaften anhalten.<br />
Und dies lähmt nebenbei auch die LINKE, die ohne außerparlamentarische<br />
Klassenkämpfe nur leere Wahlversprechungen machen kann, deren Realisierung<br />
in den Sternen steht.<br />
1906 brachte der damalige Cheftheoretiker der SPD Karl Kautsky einen Antrag<br />
auf dem Mannheimer Parteitag ein, der auf Betreiben der damals rechts von<br />
der SPD stehenden Gewerkschaftsführer verhindert wurde. In dem Antrag hieß<br />
es, dass es »für den siegreichen Fortgang des Klassenkampfes […] unbedingt<br />
notwendig ist, dass die gewerkschaftliche Bewegung von dem Geiste der Sozialdemokratie<br />
(damals synonym für Sozialismus, d. V.) beherrscht wird.« Es sei daher<br />
»Pflicht eines jeden Parteigenossen, in diesem Sinne zu wirken und sich bei<br />
der gewerkschaftlichen Tätigkeit »an die Parteitagsbeschlüsse gebunden zu fühlen<br />
[…]« Die damals rechts von der Partei stehenden Gewerkschaftsführer hatten<br />
sich gegen solche Einmischung der Partei gestellt. Demgegenüber erklärten sie<br />
die parteipolitische »Neutralität« der Gewerkschaften.<br />
Solchen Versuchen der Entpolitisierung ihrer Organisation durch die Gewerkschaftsführer<br />
trat Rosa Luxemburg in ihrer Kampfschrift »Massenstreik, Partei<br />
und Gewerkschaften« entschieden entgegen und forderte »die Gewerkschaften<br />
der Sozialdemokratie wieder anzugliedern.« Zur Vorbereitung der kommenden<br />
Periode großer proletarischer Massenkämpfe setzte sie sich gegen die Trennung<br />
von ökonomischem und politischem Kampf und für »die Wiedervereinigung der<br />
Sozialdemokratie und der Gewerkschaften« ein, nicht im organisatorischen aber<br />
im politischen Sinn. DIE LINKE ist heute die einzige politische Kraft links von<br />
der SPD, die eine beträchtliche Zahl aktiver Gewerkschaftsmitglieder, Betriebsräte<br />
und Funktionäre in ihren Reihen zählt. In Anlehnung an Kautskys Resolution<br />
von 1906 wäre es ihre Aufgabe, die gewerkschaftliche Bewegung mit ihren Ideen<br />
von einer Umverteilung von oben nach unten, vom gesetzlichen Mindestlohn
72 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
und vom politischen Massenstreik und von einer sozialistischen Gesellschaftsordnung<br />
in die Gewerkschaften hineinzutragen.<br />
Um dies zu tun müssen wir damit beginnen, Kernelemente eines positiven Anstoßes<br />
für eine Intervention der LINKEN als Motor der Bewegung in den Gewerkschaften<br />
und in den Betrieben aufzustellen. Dies bedeutet gleichzeitig strategische<br />
Vorschläge für eine Revitalisierung der Gewerkschaften als Ganzes aufzustellen<br />
– auch und gerade für diejenigen Gewerkschafter, die (noch) nicht Mitglieder<br />
der LINKEN sind. Folgende Vorschläge könnten dafür eine Diskussionsgrundlage<br />
bieten:<br />
1. Sich für eine Krise des Krisenkorporatismus rüsten<br />
»Wie Lassalle sagte, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer ›das laut zu sagen,<br />
was ist‹«. Dieser Satz Rosa Luxemburgs sollte unser Verhältnis zum Krisenkorporatismus<br />
in der Exportindustrie charakterisieren. Denn zunächst scheint<br />
der Krisenkorporatismus, also die Politik der Gewerkschaften, des Staates und<br />
der Arbeitgeber gemeinsam den Standort zu sichern, stabil und erfolgreich.<br />
Gleichzeitig basiert der »Erfolg« auch darauf, dass in vielen Betrieben seit langem<br />
eine dauerhafte Krisenpolitik stattfindet: Seit den 1980er Jahren, aber verstärkt<br />
seit 1993 findet eine permanente Bündnis-für-Wettbewerb-Konstellation auf betrieblicher<br />
Ebene statt. Tarifverträge verlieren immer mehr ihre Funktion als Verträge,<br />
die die Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten partiell überwinden helfen.<br />
Stattdessen gibt es immer mehr Öffnungsklauseln, die die Konkurrenz der Belegschaften<br />
innerhalb einer Branche organisieren, in dem etwa Investitionen von betrieblichen<br />
Bündnissen abhängig gemacht werden. Die relative Passivität der Belegschaften<br />
in der Krise muss auch durch das permanente Krisenregime in den<br />
Betrieben erklärt werden. Dies bedeutet, dass auch unmittelbare Gefahren wie<br />
etwa bei Opel Bochum oder der Frankfurter Rundschau nicht mit sofortigem<br />
Widerstand beantwortet werden. Trotzdem sollte die LINKE sich der Aufgabe<br />
stellen, den Krisenkorporatismus zu kritisieren und diejenigen Beispiele hochzuhalten,<br />
wo Widerstand auch in diesen Bereichen stattfindet. (etwa die Aktionen<br />
bei Mercedes Sindelfingen gegen die Verlagerung der C-Klasse im Dezember<br />
2009, die einen begrenzten Erfolg bedeuteten). So kann die LINKE ein Bezugspunkt<br />
für diejenigen werden, die nach einer alternativen Strategie zum Krisenkorporatismus<br />
suchen.<br />
Sollte der Krisenkorporatismus selbst in eine größere Krise geraten, etwa weil<br />
die Rezession wieder zurückkehrt und die Bundesregierung nicht willens oder in<br />
der Lage ist, mit einer Wiederauflage der Maßnahmen von 2008/2009 gegenzusteuern,<br />
dann wäre die LINKE gut positioniert, um eine Alternative Vernetzung<br />
kämpferischer Kollegen zu initiieren, selbst wenn dies heute noch in weiter Ferne<br />
erscheint. Das soll nicht bedeuten, dass Linke nur auf »die große Krise« warten
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 73<br />
sollten. Bereits jetzt gibt es viele Ansatzpunkte für eine Sammlung der kritischen<br />
Kräfte. Ein Sammelpunkt könnte dafür das Ringen um die Beteiligung der Gewerkschaften<br />
an europäischen Aktionstagen und Protesten wie Blockupy sein.<br />
Intern ist z. B. die IG Metall-Führung für ihre Passivität zum 14. November<br />
2012 etwa auf der zentralen Vertrauensleutekonferenz massiv von der Basis kritisiert<br />
worden.<br />
2. Bescheidenheit ist angesagt: Von der Klasse lernen. Für einen Vernetzungs- und<br />
Lernraum kämpferischer Kerne<br />
Die Arbeiterbewegung in Deutschland ist in der Defensive. Aber gleichzeitig gibt<br />
es viele bedeutende Kämpfe, in denen sich Aktivisten herausbilden. 1000 Streiks<br />
seit 2001 allein im Organisationsbereich von ver.di zeigen an, dass sich hier viele<br />
betriebliche und gewerkschaftliche Aktive herausbilden, die in den letzten Jahren<br />
wichtige Streikerfahrungen gesammelt haben. Allerdings bedeutet die vorherrschende<br />
mehrheitlich sozialpartnerschaftliche und sozialpazifistische Ausrichtung<br />
der Gewerkschaften, dass diese ihren betrieblichen, aber auch den kämpferischen<br />
und aktiven Hauptamtlichen wenig Austausch- und Lernräume bieten. Die Erfahrung<br />
von wichtigen Kämpfen wie etwa der Streik bei S-Direkt oder der Streik<br />
an der Charité 2011, die jeweils für ihre Bereiche Pionierarbeit geleistet haben,<br />
werden nicht verallgemeinert, meist nicht mal in der Organisation zur Diskussion<br />
gestellt. So werden etwa die Aktivisten der Charité informell in so viele Tarifkommissionen<br />
und Betriebsgruppen eingeladen, dass sie kaum hinterherkommen.<br />
Aber die Organisation als Ganzes oder die Führung des Fachbereichs Gesundheit<br />
hat sich diese Erfahrung nicht angeeignet. 64 Ein Raum, wo Aktivisten<br />
sich austauschen und voneinander lernen, ist also dringend von Nöten.<br />
Die LINKE hat sich oft lokal einen guten Namen als Solidaritätskraft gemacht.<br />
Abgeordnete sind zu den Streiks gegangen und haben sich solidarisiert (oft mehr<br />
als einmal, sondern regelmäßig). Die LINKE hat aktuelle Stunden in Parlamenten<br />
genutzt oder mit Pressearbeit geholfen und Funktionäre und einfache Mitglieder<br />
haben praktische Solidarität geleistet. Manchmal führte dies auch zum<br />
64<br />
Es ist schon absurd, dass etwa die Organizer aus den Projekten an den Uniklinika der MHH in<br />
Hannover und in Göttingen, nach dem sie dort, auch unter schwierigen Bedingungen Organizing-Projekte<br />
über zwei Jahre durchgeführt und Aktivennetzwerke »Pflege-Netzwerke« aufgebaut<br />
haben, dann zwar ein Handbuch herausbringen konnten »Wir sind die Pflegekraft« aber in<br />
der Folge in einen völlig neuen Bereich (Einzelhandel) geschickt wurden. Die wertvollen Erfahrungen<br />
wurden nicht verallgemeinert, obwohl die Organizer mit einem Tagesseminar-Angebot<br />
mit eingebauten Blitz, also einer aktiven Ansprache über die Stationen durchaus ein geeignetes<br />
Mittel gefunden hatten aktivierende Ansprachen schnell diskutier- und ausprobierbar zu machen.<br />
Ähnlich unverständlich ist das Nicht-Lernen aus dem Arbeitskampf an der Charité 2011. Auch<br />
hier wurden neue Organisationsformen pioniermäßig erschlossen, etwa eine Notdienst-Vereinbarung,<br />
die es so noch nie gegeben hatte.
74 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
Eintritt der Streikaktivisten. Allerdings ist die LINKE bis jetzt keine Kraft, die<br />
praktisch in Kämpfe interveniert und die Erfahrung von Kämpfen diskutiert und<br />
zu verallgemeinern sucht. Oft bestimmen parlamentarische Kalender und Anforderungen<br />
und Wahlkämpfe die Praxis der LINKEN. Es wäre zu wünschen,<br />
wenn sich in der LINKEN diejenigen sammeln und um konkrete Projekte formieren,<br />
die der Ansicht sind, dass die LINKE eine Verantwortung für den kämpferischen<br />
Wiederaufbau der Arbeiterbewegung hat, also die Trennung – hier gewerkschaftliche<br />
Arbeit, dort Parteiarbeit – nicht akzeptieren.<br />
3. Streiks und Gewerkschaften demokratisieren<br />
Bernd Riexinger hat mit linken Gewerkschaftssekretären und ehrenamtlichen<br />
Aktivisten in seiner Zeit als ver.di-Geschäftsführer eine Kultur demokratischer<br />
und aktivierender Tarifbewegungen entwickelt (siehe oben). Dieses Konzept<br />
setzt damit an einem neuralgischen Punkt an. Denn in den letzten Jahren wurden<br />
wichtige Tarifbewegungen von der Führung abgeblasen, bevor sie ihr Potenzial<br />
entfalten konnten, obwohl sie von vielversprechenden Mobilisierungen begleitet<br />
waren (ver.di-Tarifrunde 2012, IGM-Tarifbewegung 2012). 65 Gleichzeitig sind in<br />
Tarifkommissionen neben Hauptamtlichen auch die freigestellten Betriebsräte<br />
vorherrschend, die oft sehr sozialpartnerschaftlich geprägt sind. Hier eine Demokratisierung<br />
und Aktivierung der Tarifbewegungen zu fordern und zu einem<br />
prominenten Profil der Linken in den Gewerkschaften zu machen, birgt viel positiven<br />
Konfliktstoff mit denjenigen, die sich vor zu viel Kontrolle durch die Basis<br />
schützen wollen. 500 Besucher auf der Konferenz »Erneuerung durch Streik«,<br />
in dessen Zentrum die Demokratisierung von Streikbewegungen stand, zeigen,<br />
dass diese Herangehensweise auf große Resonanz stößt.<br />
Aus unserer Sicht ist es sinnvoll, diesen Impuls in zwei Richtungen weiterzuentwickeln.<br />
Einerseits lässt das Beispiel ver.di-Stuttgart hoffen, dass es möglich<br />
ist, auf regionaler Ebene um eine aktivierende Gewerkschaftskultur zu kämpfen.<br />
Bei ver.di-Stuttgart hat sich eine Tradition entwickelt, dass sowohl unter Ehrenamtlichen<br />
wie unter Hauptamtlichen Streiks und Tarifrunden systematisch gemeinsam<br />
angegangen werden, statt die Fragmentierung und Zerstückelung des<br />
Tarifwesens weiter hinzunehmen. 66 Sich gegenseitig Hilfestellungen zu leisten<br />
65<br />
Siehe hierzu etwa die Kritik von Bernd Riexinger in: Riexinger, Bernd: Zustimmung und Ableh -<br />
nung. Zum Tarifergebnis im öffentlichen Dienst, in: Sozialismus 2012, 39 Jg., Heft 364, S. 36-39<br />
66<br />
Neben den oben genannten Streikleitungen, die Konflikte langfristig vorbereiten, bzw. Kampagnenräten,<br />
die versuchen in politische Kampagnen etwa gegen Privatisierungen kommunaler Unternehmen<br />
Aktive aus verschiedenen Fachbereichen zusammenzuführen veranstaltet der Bezirk<br />
Stuttgart von verdi auch außergewöhnlich viele politische Veranstaltungen. Interessant ist etwa<br />
ein fachbereichsübergreifendes Bündnis zum Thema prekäre Arbeit unter dem Namen »prekärwochen«<br />
(http://prekaerwochen.blogspot.de/). Diese veranstaltete verschiedene Aktionen und<br />
begleitete betriebliche Kampagnen und organisierte u.a. eine Konferenz von Betriebs- und Per-
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 75<br />
und auf diese Weise auch Spaß an gemeinsamen Kampferfahrungen zu gewinnen<br />
und aus Kämpfen gemeinsam zu lernen, könnte Ehren- und Hauptamtliche<br />
motivieren, so fach- und gewerkschaftsübergreifend zu arbeiten. Das Problem<br />
der Fragmentierung und Zerstückelung insbesondere der Tarifarbeit wird auch<br />
auf der Führungsebene erkannt. So entwirft Gerold Haag von der tarifpolitischen<br />
Grundsatzabteilung in dem Papier »Tarifinitiative 2015« folgende Vision: 67<br />
Ver.di wird ab dem Tarifjahr 2015 jährlich zwei fachbereichsübergreifende Tarifkampagnen<br />
durchführen. Die Kampagnen haben jeweils einen Starttermin und einen beabsichtigten<br />
Endtermin, der vom Bundesvorstand mindestens 12 Monate vor Kampagnenbeginn<br />
verbindlich festgelegt wird. Ziel jeder Kampagne ist es, im Kampagnenzeitraum<br />
die teilnehmenden Tarifbereiche von der Kündigung bis zum Tarifabschluss<br />
übergreifend zu begleiten und zu unterstützen.<br />
Eine Tarifkampagne wird jeweils im Frühjahr und die zweite im Herbst positioniert.<br />
Die Kampagnen haben eine Dauer von maximal vier Monaten. Die Sommerurlaubs-<br />
und Weihnachtszeit sind kampagnenfrei.<br />
Die teilnehmenden Tarifbereiche steuern ab <strong>2013</strong> verbindlich die Laufzeiten ihrer<br />
Tarifverträge so, dass der Kündigungszeitpunkt auf den Beginn der jeweils kommenden<br />
Kampagne fällt.<br />
Diese Vision scheint bis jetzt in weiter Ferne – gerade weil die langen Laufzeiten<br />
und die Fragmentierung ja nicht Ursache einer Mobilisierung hemmenden Strategie<br />
sind, sondern Ergebnis einer sozialpartnerschaftlichen Politik. Aber sie zeigt<br />
vielleicht an, dass es viele Gewerkschaftssekretäre und Aktive gibt, die genau hier<br />
ansetzen wollen und versuchen wollen Kämpfe gemeinsam durchzuführen. Zwar<br />
lassen sich wichtige Laufzeiten und Tarifverträge nicht lokal koordinieren, da sie<br />
bundesweit aufgestellt werden. Aber trotzdem wäre eine systematisches Einreißen<br />
von der Fragmentierung und langfristige gemeinsame Kampfplanungen ein<br />
erster Schritt, um lokal zu einer kämpferischen Gewerkschaftskultur zu kommen.<br />
In der Tarifrunde des Einzelhandels in diesem Jahr zeigen sich erste Ansätze, wie<br />
eine solche Herangehensweise aussehen kann. So wurde in Hannover ein Aktionsrat<br />
gegründet, bei dem alle ver.di-Fachbereiche, aber auch alle sonstigen Gliederungen<br />
(wie Senioren, Jugend, Frauen) eingeladen sind, den Großkonflikt im<br />
Einzelhandel gemeinsam zu führen. Zunächst erfolgte eine systematische betriebsinterne<br />
Mobilisierung der Beschäftigten. In einer zweiten Phase soll der<br />
Aktionsrat dann für gewerkschaftlich und politisch Interessierte geöffnet werden<br />
und jede Woche soll ein fester »after-work«-Aktionstag stattfinden. 68 Dem liegt<br />
zu Grunde, dass ver.di in vielen Filialen so schlecht aufgestellt ist, dass sie Hilfe<br />
sonalräten gegen prekäre Arbeit an der 250 Menschen teilnahmen.<br />
67<br />
Hoog, Gerold: Tarifinitiative 2015. Tarifpolitische Kräfte in ver.di gezielt nutzen und einsetzen.<br />
Arbeitspapier<br />
68<br />
Siehe Geißler, Jeannine: Mehr Solidarität leben. In Marx 21 Nr. 30 April <strong>2013</strong>
76 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
von außen braucht, um Beschäftigte zu mobilisieren. Außerdem verspricht die<br />
Auseinandersetzung um die Kündigung des Manteltarifvertrages durch die Arbeitgeber<br />
eine sehr langfristige Auseinandersetzung zu werden, wo systematisch<br />
auch Kräfte von außen in eine Solidaritätskampagne integriert werden können.<br />
Eine regionale Vernetzung von kämpferischen Gewerkschaftern ist sicher keine<br />
neue Idee. Aber vielleicht hat sie durch die ständig steigende Anzahl von Arbeitskämpfen,<br />
das wachsende Bedürfnis betrieblicher Aktiver und konfliktorientierter<br />
Gewerkschaftssekretäre nach gemeinsamem Lernen in Kämpfen und konkreter<br />
Solidarität und die Existenz von linken, meist jungen aktivistischen Milieus<br />
69 , die sich wieder für Gewerkschaftskämpfe interessieren, eine neue Grundlage<br />
erhalten, tatsächlich mit Leben gefüllt zu werden.<br />
Ein zweiter Impuls könnte darin bestehen, dass sich, ähnlich wie dies in den<br />
1970er Jahren passierte, kämpferische KollegInnen in ihren jeweiligen Branchen<br />
vernetzen. Denn, da die Tarifpolitik für eine Branche auf Landes- oder Bundesebene<br />
koordiniert und in Tarifkommissionen diskutiert wird, ist es logisch, dass<br />
auf dieser Ebene eine Vernetzung sinnvoll erscheint. Gerade auch, wenn neue,<br />
etwa qualitative Forderungen aufgestellt werden sollen muss dies in den entsprechenden<br />
Gremien beschlossen werden. Gerade auf solchen Funktionärstagungen<br />
sind die Hauptamtlichen meist mit einem ungeheuren Informationsvorsprung<br />
und Gestaltungshoheit ausgestattet. Selbst wenn es eine demokratische<br />
Öffnung gibt, wie etwa, als für den Streik der Erzieherinnen im Jahr 2009 eine<br />
bundesweite Streik-Delegiertenversammlung eingeführt wurde, weil die bestehende<br />
Tarifkommission keine Erzieherinnen repräsentierte, bedeutet dies nicht,<br />
dass etwa in den Versammlungen entsprechend den Vorgaben der Basis abgestimmt<br />
wird. So konnte Frank Bsirske mit seinem Auftritt viele Streikdelegierte<br />
für einen Abbruch des Streiks gewinnen, obwohl sie teilweise zuvor in ihren Basis-Gliederungen<br />
für eine Fortsetzung des Streiks gestimmt hatten. Dies zeigt an,<br />
dass einer Vernetzung auch eine strategische Diskussion vorangegangen sein<br />
muss. Zweitens sind die Zusammensetzungen der Tarifkommissionen selbst oft<br />
von den freigestellten Betriebsräten dominiert. In den 1970er Jahren wurde es<br />
dann spannend, als es erstens starke betriebliche Kerne gab, die nach den spontanen<br />
Streikwellen sich in den Vertrauensleutekörpern organisierten und selbst aktionsfähig<br />
waren und dann in den darauffolgenden Betriebsratswahlen die Betriebsräte<br />
eroberten. An der Charité in Berlin, aber auch in vielen der Organizing-Projekte<br />
war dementsprechend die Neuzusammensetzung des Betriebsrates<br />
mit kämpferischen KollegInnen, die aus dem Organizing oder dem Streik zuvor<br />
69<br />
Sowohl in den Komitee für Emely, dem Solikomitee für den CFM-Streik in Berlin, für das Organizing-Projekt<br />
im Flughafen Berlin als auch die starke Präsenz nicht-gewerkschaftlich organisierter<br />
Studierender auf der Konferenz »Erneuerung durch Streik« bezeugen die Existenz dieser aktivistischen<br />
Milieus.
Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung 77<br />
gewonnen wurden, ein wichtiger Schritt, um in der Folge auch Tarifkommissionen,<br />
und Betriebsratspraxis konfliktiver zu gestalten.<br />
Allerdings sollte nicht das Prinzip Opposition Ausgangspunkt dieser Vernetzung<br />
sein, sondern ein positiver Impuls kämpferischer Tarifpolitik.<br />
4. Antikapitalismus und Aktionsvielfalt anbieten<br />
Ein wichtiges Angebot, welches Linke für betriebliche, bzw. gewerkschaftliche<br />
Aktivisten interessant machen kann, ist der Antikapitalismus als ideologische<br />
Ressource und die Aktionsvielfalt, die sich in der globalisierungskritischen Bewegung<br />
und folgenden Projekten entwickelt hat.<br />
Sei es nun die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, die Ausbreitung der<br />
Krise in Europa oder eine Kritik der deutschen Auslandseinsätze in aller Welt –<br />
radikale, antikapitalistische Theorie und Kritik ist wieder »in«. Zahlreiche Marx-<br />
Bücher und entsprechender Absatz von marktkritischen und antikapitalistischen<br />
Büchern bezeugen eine wachsende antikapitalistische Kritik. Gerade für vielbeschäftigte<br />
gewerkschaftliche und betriebliche Aktive ist eine organisierte und zugängliche<br />
Aufbereitung einer solchen Kritik sehr attraktiv. Deswegen sollte sich<br />
die Linke allgemein, aber auch die LINKE als Partei die Aufgabe stellen, systematisch<br />
antikapitalistische Bildungsangebote auch für betriebliche und gewerkschaftliche<br />
Aktive aufzubereiten. Bis jetzt sind die einschlägigen Bildungsangebote<br />
hauptsächlich bis ausschließlich auf Studierende oder Akademiker gemünzt.<br />
Das sollte sich ändern.<br />
Dies ist auch deswegen von besonderer Bedeutung, weil die Ablehnung des<br />
Wettbewerbskorporatismus, insbesondere wenn er von den Führungen der Exportgewerkschaften<br />
offensiv als Erfolgsrezept vertreten wird, anfangs nur eine<br />
Minderheitenposition darstellen wird. Gerade, weil es so scheint, als wäre<br />
Deutschland auch im Vergleich zu anderen Ländern gut durch die Krise gekommen,<br />
ist die Kritik an dem Wettbewerbskorporatismus erstmal eine theoretische,<br />
praktisch nicht leicht »beweisbare« Angelegenheit. Eine gut aufbereitete, antikapitalistische<br />
und internationalistische Kritik zu entwickeln, kann es der Linken<br />
ermöglichen, diejenigen auch in den Exportindustrien zu finden, die schon heute<br />
den Wettbewerbskorporatismus ablehnen.<br />
Zweitens bietet die globalisierungskritische Bewegung, die sich seit den Protesten<br />
in Heiligendamm 2007 in weiteren Bündnissen wie »Dresden nazifrei« oder<br />
aber auch Protesten gegen Mietenerhöhungen in Hamburg oder Volksbegehren<br />
gegen die Wasserprivatisierung in Berlin niedergeschlagen hat, ein Pool von taktischen<br />
Mitteln und Aktionsformen, die auch für gewerkschaftliche Aktive eine<br />
wichtige Ressource darstellen können – auch und gerade, wenn Streiks und betriebliche<br />
Kampagnen in der Öffentlichkeit gewonnen werden sollen. Hier könnte<br />
die Linke ebenso wie die LINKE eine Brückenfunktion einnehmen und die
78 Strategien gewerkschaftlicher Erneuerung<br />
Aktionsvielfalt und das aktivistische Potential mit den Gewerkschaftlichen und<br />
betrieblichen Aktiven zusammenbringen.
Von Führung und Basis<br />
Schon Marx und Engels analysierten Wesen und Struktur der Gewerkschaften.<br />
Seitdem haben marxistische Theoretiker sich immer wieder der Frage<br />
gewidmet. Volkhard Mosler und Luigi Wolf geben einen Überblick über aktuelle<br />
marxistische Ansätze<br />
Jede Diskussion um gewerkschaftliche Strategien und Alternativen bringt immer<br />
wieder zwei entgegengesetzte Positionen hervor: Die erste Position, die wir<br />
»Verratstheorie« nennen wollen, sieht vor allem eine kämpferische Basis, die<br />
von einer konservativen bzw. bürokratischen, stellvertreterischen Führung ausgebremst<br />
wird. Sie erfreut sich großer Beliebtheit unter Resten der radikalen<br />
Linken aus den 1970er Jahren. Die zweite, die wir »Fatalismus« nennen wollen,<br />
malt umgekehrt ein Bild, das sich unter Gewerkschaftsfunktionären größter Beliebtheit<br />
erfreut: Eine kampfbereite, engagierte Führung »würde gerne«, aber<br />
die passive, apathische, unpolitische Basis lässt sich nicht mobilisieren.<br />
Aus unserer Sicht beinhalten beide Positionen ein falsches, unhistorisches<br />
Verständnis von Führung und Basis. Historische Wandlungen und Wechselbeziehungen<br />
gehen in der Gegenüberstellung unter. Hier wollen wir ansetzen und<br />
im Folgenden versuchen, das Verhältnis zwischen Basis und Führung heute zu<br />
bestimmen. Ebenso wollen wir die Rolle von Gewerkschaften in der Gesellschaft<br />
in ihrer jeweiligen Epoche erörtern und schlagen hierfür drei Analyseebenen<br />
vor:<br />
Erstens wollen wir die ökonomischen Rahmenbedingungen berücksichtigen<br />
und wie diese sich auf die Gewerkschaften auswirken. Dabei geht es darum,<br />
wie Konjunkturzyklen mit ihren Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte die Organisations-<br />
und Kampffähigkeit von Gewerkschaften beeinflussen. Darin ist<br />
aber auch inbegriffen, wie Veränderungen in der Sozialstruktur die potenzielle<br />
Macht von Teilen von Arbeitergruppen positiv wie negativ verändern können.<br />
Zweitens wollen wir aber anknüpfen an eine marxistische Theorie, die auf<br />
Gewerkschaften selbst eine materialistische Analyse anwendet und versucht,<br />
ihre Position im entwickelten Kapitalismus zu verorten. Hierzu erscheint uns<br />
eine Theorie, die die Bürokratisierung der Gewerkschaften und die damit einhergehende<br />
Entwicklung einer Schicht hauptamtlicher Funktionäre zu ihrem<br />
Ausgang nimmt, gewinnbringend. Im deutschen Kontext kann dieser analytische<br />
Ansatz nur unter Einbeziehung der Besonderheit des dualen Systems von
80 Von Führung und Basis<br />
Interessenvertretung, also der Rolle der Betriebsräte und des hauptamtlichen Gewerkschaftsapparates,<br />
sinnvoll angewandt werden.<br />
Drittens gehen wir davon aus, dass sich die Geschichte der Arbeiterbewegung<br />
und hier der Gewerkschaften nicht ohne den Rückgriff auf einen »subjektiven<br />
Faktor« verstehen lässt. Wenn Marx sagt, dass »die Menschen ihre Geschichte<br />
machen«, wenn auch unter »vorgefundenen, gegebenen Umständen«, dann warnt<br />
er uns vor linksradikalem Voluntarismus (alles ist machbar, wenn nur der Wille<br />
stark genug ist) und zugleich vor einem opportunistischen Fatalismus/Determinismus<br />
oder auch Abwartlertum (Geschichte als Abfolge von zwangsläufigen Ereignissen).<br />
In den theoretischen Erklärungen des Niedergangs der deutschen Gewerkschaften<br />
seit den 1980er Jahren sehen wir häufig ein Übermaß an »objektiven<br />
Faktoren«, die es sicher gab und die auch sehr mächtig waren. Aber wenn<br />
Menschen ihre Geschichte selbst machen, dann gibt es immer auch Alternativen,<br />
Spielräume, Möglichkeiten und Umstände, die anders zu deuten sind, und Entscheidungen,<br />
die so oder anders zu treffen waren und sind. Insofern wollen wir<br />
versuchen, eine marxistische Position zu entwickeln, die nicht einseitig deterministisch<br />
vorgeht und die Handlungen der Gewerkschaften einfach aus den objektiven<br />
Umständen – sogenannten Sachzwängen – oder einem »ehernen Gesetz<br />
der Oligarchie« oder Bürokratie ableitet. 1<br />
Krisenentwicklung, Arbeitermacht und Selbstbewusstsein der<br />
Arbeiterklasse<br />
Es ist ein Klischee, dass Marxisten Klassenkämpfe und Streiks bis hin zu Revolutionen<br />
immer als direktes Resultat aus Krisen des Kapitalismus erwarten. Und in<br />
der Tat gab es im Gefolge der aktuellen, bislang größten Krise des Kapitalismus<br />
nach 1929 viele Marxisten, die einen Aufschwung von sozialen Kämpfen in Europa<br />
erwartet hatten. Dabei können sie sich zwar auf Marx’ Analyse eines direkten<br />
Zusammenhangs zwischen den revolutionären Kämpfen von 1848 und der<br />
ökonomischen Krise von 1847 stützen. 2 Aber soziale Kämpfe können nicht ein-<br />
1<br />
Michels, Robert: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, Leipzig 1925.<br />
Darin argumentiert Michels, dass jede Großorganisation mit zwingender Notwendigkeit zum<br />
Konservativismus und zur Verselbständigung von den Interessen ihrer Mitgliedschaft führen<br />
muss.<br />
2<br />
»Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krise. Sie ist aber ebenso sicher<br />
wie diese.«(MEW 7:44) Engels selbst hat später zugegeben, dass diese Prophezeiungen von Marx<br />
und ihm nicht eingetreten seien. Und Trotzki weist darauf hin, dass die wahre Ursache der 48er<br />
bürgerlichen Revolution nicht die Krise von 1847, sondern der Drang des jungen Kapitalismus<br />
gewesen sei, der gegen die feudalistischen Ständestrukturen anstieß und gegen sie kämpfte. Die<br />
Revolution habe mit den Überbleibseln der Leibeigenschaft ziemlich aufgeräumt und »dadurch<br />
dem Kapitalismus neue Möglichkeiten der Entwicklung gegeben.« Die Krise sei nur der »letzte<br />
Anstoß der Revolution«, und »die Hochkonjunktur der letzte Anstoß für das Ende der Revoluti-
Von Führung und Basis 81<br />
fach unmittelbar aus den ökonomischen Verhältnissen abgeleitet werden. Der<br />
Zusammenhang von Krisen und Klassenkämpfen ist komplexer. Wir gehen davon<br />
aus, dass ökonomische Krisen Klassenkämpfe hervorbringen können, aber<br />
nicht zwangsweise müssen.<br />
Eine gute Annäherung an das Verhältnis von Krisen, ökonomischen Rahmenbedingungen<br />
und Klassenkämpfen gibt der russische Marxist Leo Trotzki:<br />
Die politischen Auswirkungen einer Krise (nicht nur die Reichweite und Tiefe ihrer<br />
Wirkung, sondern auch ihre Richtung) sind durch die Gesamtheit einer bestehenden<br />
politischen Situation bestimmt und durch die Ereignisse, die der Krise vorausgingen<br />
und sie begleiten, insbesondere aber die Kämpfe, Erfolge und Niederlagen der Arbeiterklasse<br />
selbst vor der Krise. Unter bestimmten historischen Bedingungen kann<br />
eine Krise den revolutionären Taten der Arbeiterklasse einen mächtigen Anstoß<br />
bringen, unter anderen dagegen zu einer vollständigen Lähmung der Offensive des<br />
Proletariats führen. Und falls die Krise zu lang andauern sollte, die Arbeiter zu große<br />
Verluste hinnehmen müssen, könnte dies nicht nur die Angriffsfähigkeit des Proletariats<br />
extrem schwächen, sondern darüber hinaus ihre Abwehrkräfte. […] In allen kapitalistischen<br />
Ländern erreichte die Arbeiterbewegung nach dem Krieg [1914–18] ihren<br />
Höhepunkt und verlief sich dann […] in einer mehr oder weniger ausgeprägten<br />
Phase der Niederlagen und des Rückzugs und in der Aufsplitterung der Arbeiterklasse<br />
selbst. Unter solchen politischen und psychologischen Bedingungen kann eine<br />
langanhaltende Krise, auch wenn sie die Verbitterung der Arbeitermassen ohne<br />
Zweifel erhöhen würde (insbesondere unter den Arbeitslosen und Halbarbeitslosen),<br />
trotzdem gleichzeitig ihren Aktionswillen schwächen, weil dieser auf das Engste mit<br />
dem Bewusstsein der Arbeiter als unersetzliche Kraft in der Produktion verbunden<br />
ist. 3<br />
Trotzki stellt hier eine Verbindung zwischen den ökonomischen Rahmenbedingungen,<br />
der Krise und dem Selbstbewusstsein der jeweiligen Arbeiterklasse her.<br />
Dieses wiederum ist von vergangenen Kämpfen und einer Reihe wichtiger Rahmenbedingungen<br />
geprägt. 4<br />
on, nachdem diese Revolution die wichtigste unmittelbare Aufgabe, das Hinwegfegen des Zunftwesens<br />
usw., vollbracht hatte.« (Zitiert nach: Protokoll des III. Weltkongresses der Komintern,<br />
Hamburg 1921, Reprint, Bd.1, S. 71 ).<br />
3<br />
L. Trotzki, Artikel in der Prawda, Dezember 1921, zitiert und übersetzt aus dem Englischen<br />
nach »The First Five Years of the Communist International, New York 1972, Bd. 2, S76f.<br />
4<br />
Dies ist eine sehr plausible Erklärung dafür, warum die Weltwirtschaftskrise mit ihren großen sozialen<br />
Verwerfungen zunächst in keinem Land zu einem Aufschwung von Klassenkämpfen geführt<br />
hat. Trotzki verallgemeinert ganz richtig eine gewisse Gesetzmäßigkeit der Kampfzyklen,<br />
die nicht parallel zu den Konjunkturzyklen verlaufen. Nicht die Verschärfung einer Krise führe<br />
zum Aufschwung der Kämpfe. Stattdessen erwartet er vor allem von der Erholung, die einer<br />
Krise folgt, eine Steigerung des Selbstbewusstseins der Arbeiterklasse: »Die Statistik stellt Konjunkturschwankungen<br />
mit unvermeidlicher Verspätung fest. Die Belebung muss zu einem Faktum<br />
geworden sein, ehe man sie registrieren kann. Die Arbeiter spüren gewöhnlich den Konjunkturwechsel<br />
eher als Statistiker. Neue Aufträge oder selbst die Erwartung neuer Aufträge,
82 Von Führung und Basis<br />
Einen weiteren Hinweis, wie das Verhältnis von Klassenkämpfen und ökonomischer<br />
Struktur bzw. Rahmenbedingungen sich gestaltet, liefert Beverly Silver in<br />
ihrer Großstudie über Arbeiterunruhen (labor unrest) und Globalisierung in den<br />
letzten 150 Jahren. 5 Sie stellt fest, dass es zwei ökonomisch-strukturelle Quellen<br />
von Arbeitermacht gibt, die sich im Laufe ihrer Untersuchung als wesentliche<br />
Faktoren erweisen, Konflikte zu befördern. Beide fasst sie unter dem Begriff<br />
»struktureller Macht« zusammen. 6 Die eine Form dieser Macht besteht in der<br />
»Marktmacht« von Teilen oder der gesamten Arbeiterklasse, die sich entweder<br />
aus allgemeinem Arbeitskräftemangel wegen einer Hochkonjunktur oder aus<br />
speziellen Qualifikationen eines Teils der Arbeiterklasse ergibt.<br />
Eine zweite Quelle struktureller Macht, die Beverly Silver »Produktionsmacht«<br />
nennt, ergibt sich aus der Art, wie Gruppen von Arbeitern ihre Stellung in einem<br />
hochintegrierten Produktionsprozess nutzen können: »Produktionsmacht dagegen<br />
entwickeln Arbeiterinnen und Arbeiter in hochintegrierten Produktionsprozessen,<br />
die durch örtlich begrenzte Arbeitsniederlegungen an Schlüsselstellen in<br />
einem Umfang gestört werden können, der weit über die Arbeitsniederlegung<br />
selbst hinausgeht. Diese Macht zeigt sich, wenn ganze Fließbänder durch Arbeitsniederlegungen<br />
gestoppt und ganze Konzerne, die von just-in-time-Zulieferung<br />
abhängen, durch Eisenbahnstreiks zum Stillstand gebracht werden.« 7 Silver<br />
weist nach, dass von den Automobilarbeitern in jedem Land, in dem sich die Automobilindustrie<br />
ansiedelte, früher oder später Arbeiterunruhen ausgingen. Das<br />
Fertigungsband, das von einer Minderheit von Arbeitern unterbrochen werden<br />
kann, um Fabriken stillzulegen und (weltweite) Fertigungsketten zu unterbrechen,<br />
steht hier idealtypisch den Textilarbeitern gegenüber, die meist nur alleine<br />
an einer Nähmaschine arbeiten und deren Arbeitsplatz jederzeit ohne größeren<br />
Aufwand verlagert werden kann. 8<br />
Umstellung der Unternehmen auf Erweiterung der Produktion oder wenigstens Unterbrechung<br />
der Entlassungen steigern unverzüglich die Widerstandskraft und die Ansprüche der Arbeiter«<br />
(L. Trotzki. Gesammelte Werke, Bd.1, Frankfurt/M. 1971, S.395 f.)<br />
5<br />
Silver, Beverly: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Assoziation<br />
A Berlin 2003. Herangehensweise erklären.<br />
6<br />
Diese Definition geht auf Erik Olin Wright zurück. Dieser unterscheidet Organisationsmacht<br />
(»associational power«), »die aus der Bildung kollektiver Arbeiterorganisationen entsteht«, und<br />
eben: »'Strukturelle Macht' (»structural power«), dagegen ist die Macht, die Arbeitern 'einfach aus<br />
ihrer Stellung (...)im ökonomischen System erwächst.'« Silver S.30<br />
7<br />
Silver S.31<br />
8<br />
Silver beobachtet in Zusammenhang mit der Produktionsmacht unterschiedliche Formen der<br />
Arbeiterorganisierung. Während die Arbeiter mit viel Produktionsmacht ihre Stellung im Produktionsprozess<br />
nutzen könnten und daraus Selbstbewusstsein ziehen, sind Arbeiter etwa in der<br />
Textilindustrie viel stärker auf die Organisationsmacht ihrer Gewerkschaft bzw. auf sozialstaatlich-gesetzgeberische<br />
politische Kräfteverhältnisse angewiesen,.
Von Führung und Basis 83<br />
Zusammenfassend können wir in einem ersten Schritt festhalten, dass die ökonomischen<br />
Rahmenbedingungen, seien es nun verallgemeinerte Krisen und mit<br />
ihr einhergehende Angriffe auf betriebliche oder sozialstaatliche Errungenschaften,<br />
aber auch die mit dem Produktionsprozess verbundene Stellung von Beschäftigtengruppen<br />
in einer Produktionskette oder ihre Situation auf dem Arbeitsmarkt<br />
danach untersucht werden müssen, welchen Effekt sie auf den Ausbruch<br />
von Klassenkämpfen bzw. das Selbstbewusstsein der gesamten oder von<br />
Teilen der Arbeiterklasse ausüben oder ausüben könnten. Dass sie einen entscheidenden<br />
Effekt haben, ist dabei für uns unbestritten.<br />
Bürokratietheorie und Integration der Gewerkschaften in die<br />
bürgerliche Gesellschaft<br />
Marx und Engels erkannten in ihrer Zeit, dass Gewerkschaften nicht nur das Potenzial<br />
haben, »Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals«<br />
zu sein, sondern auch, dass sie der Herrschaftssicherung des Kapitalismus<br />
dienen können, wenn sie sich auf Dauer auf den nach »Kleinkrieg gegen die<br />
Wirkungen des bestehenden Systems« beschränkten statt zugleich als »organisierte<br />
Kraft zur Beseitigung des bestehenden Systems der Lohnarbeit und der Kapitalherrschaft<br />
selbst«. Denn dann müssten sie auch im Kleinkrieg gegen das Kapital,<br />
ihrer ursprünglichen und ersten Aufgabe, scheitern. Marx und Engels sehen<br />
also die Aufgaben der Gewerkschaften als doppelte an, andere Theoretiker haben<br />
im Anschluss daran vom »Doppelcharakter der Gewerkschaften« gesprochen.<br />
Die Kritik am »Nurgewerkschaftertum«, der Beschränkung auf den ökonomischen<br />
Kampf, bildet einen wichtigen Strang der marxistischen Theoriebildung.<br />
9<br />
Es ist sinnvoll dabei zwei Elemente herauszuarbeiten und zu unterscheiden,<br />
obwohl sie in der Realität in einem Zusammenhang stehen. Einerseits sind Gewerkschaften<br />
in sich ein widersprüchliches Phänomen. Arbeiter organisieren sich<br />
in ihnen gegen die Übergriffe des Kapitals, in einem »ständigen Guerillakrieg<br />
zwischen Kapital und Arbeit«. 10 Nicht durch einseitigen Aufklärungsprozess der<br />
Mehrheit durch eine aufgeklärte Minderheit, sondern als gemeinsamen, kollektiven<br />
Lernprozess im Kampf, der in seiner Dynamik keine Grenzen von Ökonomie<br />
und Politik kennt, erwartet Marx die Entwicklung von Klassenbewusstsein. 11<br />
9<br />
August Enderle u. a. in ‚Das rote Gewerkschaftsbuch, Berlin 1932, Neuauflage Frankfurt 1966,<br />
darin Kritik am »Nurgewerkschaftertum«, S. 11 ff.<br />
10<br />
MEW, 16, 197.<br />
11<br />
»Die Großindustrie bringt eine Menge einander unbekannter Leute an einem Ort zusammen.<br />
Die Konkurrenz spaltet sie in ihren Interessen; aber die Aufrechterhaltung des Lohnes, dieses<br />
gemeinsame Interesse gegenüber ihrem Meister, vereinigt sie in einem gemeinsamen Gedanken<br />
des Widerstandes- Koalition. So hat die Koalition stets einen doppelten Zweck, den, die Kon-
84 Von Führung und Basis<br />
Allerdings sind Gewerkschaften im Unterschied zu sozialistischen Parteien von<br />
ihrem Charakter als »Sammelpunkte des Widerstandes gegen die täglichen Übergriffe<br />
des Kapitals« darauf angewiesen, möglichst umfassende Organisationen zu<br />
bilden, die notwendigerweise auch solche Teile der Klasse organisieren, die sich<br />
nicht oder noch nicht im sozialistischen Sinn betätigen wollen. Dieser Charakter<br />
der Gewerkschaften als »Einheitsfrontorganisationen« bedeutet immer auch die<br />
Möglichkeit der Aufgabe ihres weitergehenden antikapitalistischen Auftrags. Die<br />
Vorstellung, die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterklasse ließen sich auf<br />
Dauer mit denen des Kapitals versöhnen, wird umso stärker sein, je größer die<br />
Erfolge der Gewerkschaften infolge langer Aufschwünge und dadurch gegebener<br />
günstiger »Marktmacht« sind. Die Entwicklung der deutschen Gewerkschaften<br />
des DGB nach 1945 von zunächst sozialistischer Prägung hin zu systemunkritischen<br />
Organisationen, die sich weitgehend einer »sozialen Marktwirtschaft« verschrieben<br />
haben, ist – wie wir zeigen – nicht zuletzt die Folge des langen Nachkriegsbooms<br />
mit ihren günstigen Bedingungen für erfolgreiche Durchsetzung gewerkschaftlicher<br />
Forderungen gewesen. Das Ausbleiben dieser Bedingungen und<br />
die Rückkehr zur kapitalistischen Normalität der Krise führt allerdings nicht<br />
schon zur Überwindung des Nurgewerkschaftertums. Unübersehbar ist allerdings,<br />
dass der rein wirtschaftliche Kampf mit dem Fortschreiten der Krisen an<br />
seine Grenzen stößt und die Gewerkschaften auf ihrem ureigensten Terrain als<br />
»Sammelpunkte des Widerstandes« gegen die Übergriffe des Kapitals scheitern<br />
müssen, wenn sie nicht wieder lernen, den wirtschaftlichen Kampf auf dem Boden<br />
des Kapitalismus mit dem politischen Kampf gegen die kapitalistische Ordnung<br />
zu verbinden.<br />
Neben dieser Funktionsbestimmung in Bezug auf die kapitalistische Gesellschaft<br />
hat die marxistische Theoriebildung immer auch die materialistische Kritik<br />
auf die Gewerkschaften als Institution selbst angewendet. Bereits Marx und Engels<br />
prägten den Begriff der Arbeiteraristokratie, mit dem mal ein Teil privilekurrenz<br />
der Arbeiter unter sich aufzuheben, um dem Kapitalisten eine allgemeine Konkurrenz<br />
machen zu können. Wenn der erste Zweck des Widerstandes nur die Aufrechterhaltung der Löhne<br />
war, so formieren sich die anfangs isolierten Koalitionen in dem Maß, wie die Kapitalisten ihrerseits<br />
sich behufs der Repression vereinigen zu Gruppen, und gegenüber dem stets vereinigten<br />
Kapital wird die Aufrechterhaltung der Assoziationen notwendiger für sie als die des Lohnes. (...)<br />
In diesem Kampfe - ein veritabler Bürgerkrieg - vereinigen und entwickeln sich alle Elemente für<br />
eine kommende Schlacht. Einmal auf diesem Punkte angelangt, nimmt die Koalition einen politischen<br />
Charakter an. Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung<br />
in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation,<br />
gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem<br />
Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekenn -<br />
zeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst.<br />
Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen<br />
Klasse ist ein politischer Kampf."(MEW4:181).
Von Führung und Basis 85<br />
gierter Arbeiter, mal eine Schicht von Funktionären der Gewerkschaften gemeint<br />
war, deren eigene materielle Interessen sich gegenüber den Interessen der gesamten<br />
Klasse verselbstständigten. Aus dem Jahr 1892 zurückblickend relativiert Engels<br />
die von Marx und ihm in früheren Jahren aufgestellte These von der Existenz<br />
einer gesonderten Schicht privilegierter Arbeiter. Zwar hält er daran fest,<br />
dass »nur eine kleine privilegierte, geschützte Minorität dauernde Vorteile hatte.«<br />
Aber »die Wahrheit« sei: »Solange Englands Industriemonopol dauerte, hat die<br />
englische Arbeiterklasse bis zu einem gewissen Grad teilgenommen an den Vorteilen<br />
dieses Monopols. Diese Vorteile wurden sehr ungleich unter sie verteilt!<br />
Die privilegierte Minderheit sackte den größten Teil ein, aber selbst die große<br />
Masse hatte wenigstens dann und wann vorübergehend ihren Teil«. 12<br />
In der Folge von Marx und Engels entwickelten sich zwei Stränge der marxistischen<br />
Theoriebildung in der materialistischen Analyse der Gewerkschaften. Die<br />
eine Richtung entwickelte eine Theorie der Arbeiteraristokratie, nach der Teile<br />
oder die gesamte Arbeiterklasse der hochentwickelten, imperialistischen Staaten<br />
von hohen Extraprofiten des Kapitals etwas abbekamen und so an das System<br />
politisch gebunden werden konnten, sich dauerhaft mit dem Kapital versöhnten<br />
und und deswegen auch für sozialistische Politik und Ideen nicht empfänglich<br />
waren. Diese Theorie, die sich auch bei Lenin und anderen Theoretikern der III.<br />
Internationale findet, entbehrt jedoch der empirischen Grundlage und trug in<br />
den nach 1918 neu entstehenden Kommunistischen Parteien der III. Internationale<br />
zu einer Unterschätzung der Gewerkschaften im Klassenkampf bei. 13<br />
12<br />
Engels, Vorwort zur 2. deutschen Auflage der »Lage der arbeitenden Klasse«, MEW, Bd. 22, S.<br />
328.<br />
13<br />
Die Position führt zur Unterschätzung der Kraft des Reformismus und seines Einfluss auf die<br />
gesamte Klasse und begünstigt ultralinke Positionen gegenüber den Gewerkschaften, die als Organisation<br />
der Aristokratie betrachtet werden, die Räte wurden dementsprechend in der ersten<br />
Revolutionszeit bis 1920 als Alternative zu den (reformistischen) Gewerkschaften gesehen. Fritz<br />
Sternberg hat in seinem Buch »Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht« Hamburg<br />
1951, S. 164 ff. auf den Irrtum Lenins in diesem Punkt hingewiesen, er schreibt: »In den Jahr -<br />
zehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs hat sich nicht nur der Lebensstandard einer<br />
verschwindenden Minorität unter den Arbeitern, einer Arbeiteraristokratie verbessert, sondern<br />
der Lebensstandard der gesamten Arbeiterschaft in allen großen Industrienationen.« In Fritz<br />
Sternberg, Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht, Hamburg 1951, S. 166. Sternberg<br />
leitete daraus eine Unterschätzung der Kraft des Reformismus durch Lenin für Westeuropa ab.<br />
Lenins Versuch, die Mehrheit der Klasse von ihrer korrupten, bestochenen Aristokratie zu trennen,<br />
sei daher von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. »Es war eine völlig falsche Einschätzung<br />
der Epoche, die ihn dazu führte, die Spaltung der europäischen Arbeiterklasse zu organisieren.«<br />
( S.157) Sternbergs Kritik führt ihn direkt zur Sozialdemokratie, seine richtige Kritik<br />
an der Aristokratie-These macht ihn blind für eine differenzierte Position. Erstens haben nicht<br />
alle Arbeiter gleich vom imperialistischen Aufschwung gewonnen, zweitens hat der Krieg dafür<br />
gesorgt, dass die vor dem Krieg gewonnen Reformen wieder zunichte gemacht wurden und das<br />
Leben für die Soldaten an der Front und auch für die zivile Arbeiterklasse in den Betrieben uner-
86 Von Führung und Basis<br />
Ein anderer Strang der marxistischen Gewerkschaftskritik nahm die sich in den<br />
Gewerkschaften entwickelnde Schicht von hauptamtlichen Gewerkschaftern ins<br />
Visier und analysierte diese als »Gewerkschaftsbürokratie«. Obwohl auch in dieser<br />
Tradition viele verkürzte Schlüsse und Pauschalurteile über Gewerkschaften<br />
und »die Bürokraten« getroffen wurden (und werden), halten wir diese Theorietradition<br />
für einen fruchtbaren Beitrag zur marxistischen Theorieentwicklung.<br />
Die Gegenposition wird sehr deutlich von einem Autorenkollektiv der VSA-<br />
Gruppe 1976 formuliert. 14 Ihr liegt zu Grunde, dass sie eine Verselbständigung<br />
des hauptamtlichen Apparates ausschließen bzw. nur in engen Grenzen für möglich<br />
halten, da diese nur die Funktion von »Dolmetschern« der Klasse darstellen<br />
würden:<br />
Das Verhältnis der Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten, ist innerhalb<br />
der bürgerlichen Produktionsweise dadurch charakterisiert, dass die ersteren immer<br />
nur formulieren und dolmetschen, was die aktiven Mitglieder der Klasse oder<br />
Klassenfraktionen aus ihrer materiellen Tätigkeit heraus empfinden; da aber für alle<br />
Glieder der Gesellschaft gilt, dass sie sich Illusionen über ihre wahre Stellung und Interessen<br />
machen müssen, können auch die theoretischen und politischen Repräsentanten<br />
nur im »Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen, worüber jener [der<br />
aktive Teil] nicht im Leben hinauskommt« (Marx, 18. Brumaire). 15<br />
Zwar schließt auch diese Traditionsbildung die Verselbständigung der aus der<br />
Lohnarbeit »freigestellten« Arbeiter nicht aus, aber die Erwartung ist, dass die<br />
Arbeiterklasse bzw. heraufziehende Klassenkämpfe eine solche Verselbständigung<br />
relativ schnell korrigieren würden:<br />
Für diese in den Gewerkschaften arbeitenden Lohnabhängigen gilt, dass sie gegenüber<br />
den von ihnen vertretenen Arbeitern in eine relativ komfortable Lage gehoben<br />
werden, da sie nicht mehr oder nur noch teilweise den Lebens- und Arbeitsbedingungen<br />
unterworfen sind, unter welchen die aktiven Mitglieder der Klasse sich zu reproduzieren<br />
gezwungen sind; die Arbeiterklasse erspart ihnen als ihr Lohnherr die<br />
Auswirkungen der Despotie des Kapitals. Diese relativ günstigere materielle Situation,<br />
in die sie gesetzt sind, mag aber zugleich dazu führen, dass sie in der Entschlossenheit<br />
der Artikulation und Vertretung der Arbeiterinteressen zeitweilig zurückbleiträglich<br />
wurde. Die Dreher, die schon vor 1914 die Grundlage und den Kern der von Reformisten<br />
beherrschten Berliner Sektion des Deutschen Metallarbeiterverbandes DMV bildeten, wurden<br />
1918 zum Zentrum der Revolution, obwohl sie unzweifelhaft zu den bestbezahlten Gruppen<br />
der damaligen Arbeiterklasse gehörten.<br />
14<br />
In dem Autorenkollektiv befanden sich auch Joachim Bischoff und Christoph Lieber, die noch<br />
immer in der Sozialismus-Redaktion aktiv sind. Die Zeitschrift Sozialismus und das darin in jeder<br />
Ausgabe erscheinende »Forum Gewerkschaften« ist noch immer die bedeutendste Formierung<br />
der gewerkschaftlichen Linken in Deutschland.<br />
15<br />
Bsichoff u.a./ Autorenkollektiv: Marxistische Gewerkschaftstheorie. Eine Einführung, Verlag<br />
für das Studium der Arbeiterbewegung, Berlin 1976, S. 192.
Von Führung und Basis 87<br />
ben hinter der Bereitschaft der Masse der Arbeiter selbst. Durch ihre relativ abgehobene<br />
Stellung als Gewerkschaftsfunktionäre und dem damit gesetzten Moment, dass<br />
bei ihnen sich die Einsicht in die Notwendigkeit der entschlossenen Vertretung und<br />
Verwaltung der Interessen der Arbeiter jetzt nur noch vermöge der Anschauung und<br />
der eigenen vergangenen Erfahrung als gewöhnlichem Lohnarbeiter bildet, ist auch<br />
die Möglichkeit einer Verselbständigung in der Weise gegeben, dass sie nicht mit jener<br />
Entschiedenheit die allgemeinen Interessen der Klasse vertreten, auf die die<br />
Klasse selbst aufgrund ihrer Erfahrung mit dem Kapital hindrängt. Es kann aber<br />
hieraus erstens keineswegs auf die Notwendigkeit einer solchen Verselbständigung<br />
geschlossen werden; und zweitens wird – wo es zu einer zeitweiligen Entfremdung<br />
der Vertreter und Sachverwalter der Interessen des Proletariats von der wirklichen<br />
Klasse kommt – diese mit jeder praktischen Kollision, d. h. der Entfaltung der Auseinandersetzung<br />
zwischen den Klassen selbst, dadurch weitgehend zurückgenommen,<br />
dass die Arbeiter ihre Organisationen stärker unter Kontrolle nehmen, als dies<br />
in liberalen und bequemen Phasen der Klassenauseinandersetzungen der Fall ist. 16<br />
Im Folgenden wollen wir versuchen, die besondere Position der Theorie von der<br />
Gewerkschaftsbürokratie herauszuarbeiten, weil uns eine Reduktion der Gewerkschaftsfunktionäre<br />
auf die Position des »Dolmetschers«, also auf eine passive Position,<br />
nicht als sinnvoller Ausgangspunkt einer Theoretisierung ihrer Rolle in der<br />
Geschichte der Klassenkämpfe erscheint.<br />
Ein guter Startpunkt kann dabei der Artikel des britischen Marxisten und Industriesoziologen<br />
Ralph Darlington darstellen. 17 Dabei benennt Darlington fünf<br />
Elemente, die die Bürokratie in Bezug auf die Entwicklung des Klassenkampfs<br />
als konservative Schicht mit eignen sozialen Interessen charakterisiert:<br />
Die soziale Stellung der Bürokratie bedeutet, dass Gewerkschaftsfunktionäre keine<br />
Arbeiter sind, die ihre Arbeitskraft verkaufen. Sie sind weder der Ausbeutung<br />
noch dem Direktionsrecht des Kapitals unterworfen.<br />
Ihr ständige Verhandlungsfunktion prägt ihre Alltagsarbeit und ihre Perspektive auf<br />
die gewerkschaftliche Arbeit. So schreibt die tarifpolitische Grundsatzabteilung<br />
von ver.di:<br />
In unserer Tarifdatenbank befinden sich derzeit 12.548 Tarifverträge. Wie aber alle<br />
Experten wissen, sind das längst nicht alle. Am Ende dürften es deshalb wohl deutlich<br />
mehr als 15.000 Verträge sein, die ver.di zu beackern hat, Tendenz steigend. […]<br />
Für jeden Tarifbereich muss eine Tarifkommission gebildet, muss eine Sekretärin<br />
bzw. ein Sekretär abgestellt werden, sind permanent Einladungen und Rundschreiben<br />
zu verschicken, sind Verteiler anzulegen, Tagungen und Sitzungen zu organisieren,<br />
Wahlen durchzuführen, Verhandlungen vor- und nachzuarbeiten und vieles<br />
16<br />
Bischoff/Autorenkollektiv S. 73<br />
17<br />
Darlington, Ralph :The Rank-and-File/Bureaucracy Analysis of Intra-Union Relations: Some<br />
Implications for Social Movement Organisation, in L. Cox, A. Nilsen, J. Krinsky, and C. Barker<br />
(Hrsg.): Marxism and Social Movements, Brill, <strong>2013</strong>.
88 Von Führung und Basis<br />
mehr. […] Wir haben zwar überall und irgendwie die Finger drin, doch wir schaffen<br />
es nicht die Hand zur Faust zu ballen. 18<br />
Hier zeichnet die ver.di-Grundsatzabteilung ein treffendes Bild dessen, was den<br />
Alltag eines Gewerkschaftssekretärs ausmacht. Er ist vor allem mit Verhandlungen<br />
beschäftigt. Der argumentative Austausch, Gespräche und unter Umständen<br />
eine sich über die Jahre entwickelnde Vertrautheit mit dem Arbeitgeber ist mit<br />
der Tätigkeit des Gewerkschaftssekretärs in den Gewerkschaften in Deutschland<br />
verbunden. Das Einarbeiten in die speziellen tariflichen Belange der Beschäftigten,<br />
die juristischen Feinheiten der oft hunderte Seiten dicken Tarifverträge gehört<br />
zu seinen Pflichten. Die Mobilisierung einer Belegschaft, das mühevolle<br />
Aufbauen von Gegenmacht und die Aktivierung der Mitglieder ist demgegenüber<br />
eine Kann-Option. 19<br />
Die materielle Position der Funktionäre hebt diese ebenso von der Mehrheit ihrer<br />
Mitglieder deutlich ab. Sie haben meist deutlich höhere Bezüge als ihre Mitglieder.<br />
Und diese Einkommen sind nicht von der Konjunktur oder dem Beschäftigungsstatus<br />
oder der Lohnhöhe ihrer Mitglieder abhängig. 20<br />
In der innergewerkschaftlichen Willensbildung verfügen Gewerkschaftsfunktionäre<br />
gegenüber einfachen Mitgliedern über eine zentralisierte und bürokratisierte<br />
Macht, die sich einer Kontrolle durch die Mitglieder weitgehend entziehen kann. Auf Grundlage<br />
einer marxistischen Analyse der deutschen Gewerkschaften formuliert Joa-<br />
18<br />
Tarifletter Ausgabe 04/2012, Herausgegeben von der tarifpolitischen Grundsatzabteilung von<br />
ver.di.<br />
19<br />
Ein Aktivist mit radikal-linkem Hintergrund, dem Organizing als Mobilisierungspraxis sehr<br />
wichtig ist, der aber heute als »normaler« Betreuungssekretär arbeitet, meinte in einem Gespräch:<br />
»Ich reiße in meiner Praxis jede rote Linie, die ich mir vorher für Organizing gesetzt habe. In<br />
meiner über einjährigen Zeit als Sekretär habe ich gerade mal zwei oder drei >Eins-zu-Eins-Gespräche<<br />
(Beschäftigte aktivierende Kontaktgespräche mit dem Ziel der Aktivistengewinnung,<br />
Anm. d.V.) geführt. Aber wenn »mein« Geschäftsführer, mein Verhandlungspartner, mir einen<br />
Gesprächstermin anbietet, dann muss ich zur Verfügung stehen.«<br />
20<br />
Das Einstiegsgehalt eines einfachen Gewerkschaftssekretärs bei ver.di liegt bei 4.317 Euro monatlich.<br />
Nach 6 Jahren steigt es auf 4.734 Euro. Bei größeren Betreuungsaufgaben oder spezialisierten<br />
Verantwortungsbereichen in der Tarifarbeit und in Abhängigkeit von der Größe des Bezirks<br />
wächst das Gehalt auf bis zu 5.733 Euro an (alle Daten aus der Gesamtbetriebsvereinbarung<br />
über die ver.di-interne Tariferhöhung vom 1.4.2012). Demgegenüber stehen Verdienste im<br />
wichtigsten ver.di-Tarifvertrag (TVöD, im öffentlichen Dienst) von 1.500-1.672 Euro in der unteren<br />
und 1.951-2509 Euro in der mittleren Verdienstgruppe, wobei es natürlich viele Tarifverträge<br />
gibt, die weit unter dem Niveau des TVöD liegen (statistisches Tarifhandbuch <strong>2013</strong>). Die<br />
Diskrepanz ist natürlich bei den Spitzenfunktionären am größten. So schreibt die Süddeutsche<br />
Zeitung: »Am meisten verdient Berthold Huber, der Erste Vorsitzende der IG Metall. Er bekommt im Jahr<br />
fast 260.000 Euro und führt die mit 2,3 Millionen Mitgliedern im Jahr 2008 größte DGB-Gewerkschaft. Am<br />
wenigsten verdient mit 105.600 Euro Transnet-Chef Alexander Kirchner, der an der Spitze einer der mit<br />
227.690 Mitgliedern kleineren DGB-Gewerkschaften steht. Viele Gewerkschafter haben zusätzlich zum Jahresgehalt<br />
Nebeneinkünfte, etwa aus Aufsichtsratsmandaten. (Quelle: SZ 17.5.2010).
Von Führung und Basis 89<br />
chim Bergmann deren zentrale Demokratiedefizite: Gewerkschaften sind zunächst<br />
formal demokratische Organisationen. Die Delegierten werden von unten<br />
nach oben gewählt, auf den Bundeskongressen wird der Bundesvorstand gewählt,<br />
der zusammen mit einem Gewerkschaftsrat die demokratische Vertretung<br />
zwischen den Kongressen darstellt. »Dem Buchstaben der Satzungen nach sind<br />
alle Organe und ihre Tätigkeit an das Delegiertensystem angebunden und damit<br />
auf den Willensbildungsprozess der Mitglieder und ihrer Delegierten verpflichtet.«<br />
21<br />
Allerdings vermisst Bergmann durchgreifende Kontrollinstanzen. Die Führungen<br />
selbst seien oft qua Amt Mitglied in den Kontrollinstanzen und würden deren<br />
Agenda bestimmen. Die organisationsinterne Presse werde durch die Führungen<br />
bestimmt, so dass kaum oppositionelle Meinungen diskutiert werden<br />
könnten. Exklusive Informationswege und Wissensvorsprünge würden diese<br />
zentralisierte formale Machtstellung ergänzen. Die hauptamtlichen Führungskräfte<br />
würden die meisten Redebeiträge auf Gewerkschaftstagen stellen, während<br />
Einzelmitglieder wenig Initiativrechte genießen würden. Bergmann zitiert<br />
mehrere Studien über Gewerkschaftstage, die zu dem Schluss kamen, dort dominiere<br />
die führungsgesteuerte Inszenierung über die demokratische Debatte. 22 Zudem<br />
hebt er das Recht der zentralen Führungen in vielen Gewerkschaften hervor,<br />
die Einsetzung ehrenamtlicher Gremien zu kontrollieren und die Einstellungspraxis<br />
neuer Funktionäre untergeordneter Gliederungen zu überwachen<br />
oder zu gestalten. In der Summe ergibt sich also ein Bild, in dem der formal-demokratischen<br />
Strukturierung der gestuften Delegiertensysteme de facto eine weitestgehende<br />
Gestaltungsmacht der Führungen gegenübersteht.<br />
Hinzu kommt die Besonderheit des deutschen Systems der dualen Interessenvertretung,<br />
die dazu führt, dass den Betriebsräten in den Gewerkschaften und<br />
hier noch einmal besonders den freigestellten Betriebsräten und Betriebsratsvorsitzenden<br />
von Großbetrieben und Konzernen eine sehr hohe Bedeutung zukommt.<br />
Deren Rolle sei aber nicht von den Mitgliedern der Gewerkschaften bestimmt,<br />
sondern weitestgehend vom Betriebsverfassungsgesetz rechtlich vorstrukturiert,<br />
womit eine organisationsexterne Beeinflussung der demokratischen<br />
21<br />
Bergmann, Joachim: Organisationsstruktur und innergewerkschaftliche Demokratie, in: Bergmann,<br />
Joachim (HG): Beiträge zur Soziologie der Gewerkschaften, Suhrkamp 1979, S. 211.<br />
22<br />
Vergl. die Studie von Gerhard Bosch über zwei Gewerkschaftstage der IG Metall 1968 und 1971<br />
in Bosch, Gerhard: Wie demokratisch sind die Gewerkschaften? Verlag Die Arbeitswelt 1974.<br />
Die Zusammensetzung und Ausgestaltung der Gewerkschaftstage, so Joachim Bergmann, würde<br />
zusätzlich nahelegen, dass die Hauptamtlichen und die freigestellten Betriebsräte die Gewerkschaften<br />
maßgeblich prägen. Studien zu Gewerkschaftstagen zeigen: Delegierte von Gewerkschaftstagen<br />
sind zwischen 20-30 % Hauptamtliche (Zahlen von 1979 für IG Metall, ötv etc.<br />
etc.), z.B. IG Chemie von 1975: 22 % Hauptamtliche, 63 % Betriebsräte, davon 54 % freigestell -<br />
te. Bergmann, S. 236.
90 Von Führung und Basis<br />
Meinungsbildung stattfinde. Zwar hätten Betriebsräte in den Gewerkschaften nur<br />
eine schwache satzungsrechtliche Position. Aber: »Da das Betriebsverfassungsgesetz<br />
die Gewerkschaften vom Betrieb fernhält, fungieren die Betriebsräte als<br />
Substitut einer betrieblichen Gewerkschaftsorganisation; einerseits nehmen sie<br />
innerhalb der vom Betriebsverfassungsgesetz restriktiv gezogenen Grenzen die<br />
Vertretung der arbeitsplatzbezogenen Interessen wahr, andererseits bestimmen<br />
sie – relativ autonom – die Präsenz und den Spielraum der Gewerkschaften im<br />
Betrieb: die Arbeit der Vertrauensleute, die gewerkschaftlichen Informationen,<br />
die Zusammenarbeit mit den lokalen hauptamtlichen Funktionären […] Durch<br />
ihre rechtlich gesicherte Stellung sowie aufgrund ihrer Funktion als betriebliche<br />
Interessenvertretung mit einer eigenen Loyalitätsbasis in den Betrieben verfügen<br />
die Betriebsräte gegenüber den Gewerkschaften über eine relative Autonomie. 23<br />
Die Betriebsräte sind im Rahmen dieser Autonomie aber mächtigen Kräften ausgesetzt,<br />
die sie in eine sozialpartnerschaftliche Politik ziehen: Sie sind auf das Betriebsgeheimnis<br />
mit dem Unternehmer verpflichtet. Sie sind auf das Wohl des<br />
Betriebes verpflichtet. Sie sind zu vertraulicher Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeber<br />
verpflichtet. Und vor allem dürfen sie nicht zu Streiks aufrufen. Gleichzeitig<br />
werden sie von allen Beschäftigten (nicht nur von Gewerkschaftsmitgliedern<br />
wie die Shop Stewards in England) gewählt und genießen deswegen eine hohe<br />
demokratische Legitimation unter den Beschäftigten. Natürlich können diese<br />
Ressourcen auch für eine kämpferische Politik genutzt werden. Aber zunächst<br />
geht es darum, die sozialpartnerschaftliche Vorstrukturierung durch den institutionellen<br />
Rahmen und die Alltagspraxis der Betriebsräte zu verstehen. Wenn diese<br />
Betriebsräte nun die innergewerkschaftliche Willensbildung und die Tarifbewegungen<br />
entscheidend prägen, dann ergibt dies für eine aktivierend-kämpferische<br />
und demokratische Strategie große Probleme.<br />
Neben diesen beiden Dimensionen der innerorganisatorischen Demokratiekritik<br />
sieht Bergmann ein weiteres Demokratieproblem darin, dass dasjenige Element<br />
gewerkschaftlicher Praxis, welches ein großer Beteiligungs- und Aktivierungsgenerator<br />
sein könnte, die Tarifpolitik, zusätzlich bürokratisch vorstrukturiert<br />
und einer demokratischen Willensbildung verschlossen ist.<br />
Dies ist aus marxistischer Sicht von entscheidender Bedeutung, weil erst in<br />
konkreten Klassenbewegungen eine Aktivierung, eine Überwindung der Vereinzelung,<br />
der Fragmentierung und Ohnmacht einer Belegschaft stattfindet. Erst in<br />
Kämpfen entstehen die Aktivisten, die Führung in den Betrieben, die man<br />
braucht, um Gewerkschaften aufzubauen und der Partizipations- und Kontrollanspruch,<br />
um diese auch zu gelebten demokratischen Organisationen zu ma-<br />
23<br />
Bergmann 1979, S. 216.
Von Führung und Basis 91<br />
chen. 24 Erst in Kämpfen entsteht der Wunsch nach demokratischer Kontrolle.<br />
Deshalb ist die Frage, wie diese Kämpfe von Mitgliedern kontrolliert und gestaltet<br />
werden können, aus marxistischem Blickwinkel von entscheidender Bedeutung.<br />
Bergmann stellt sogar eine Entkopplung der Tarifpolitik von der formalen Delegiertendemokratie<br />
fest: »Es gehört zu den Paradoxien der organisatorischen<br />
Verfassung der Gewerkschaften in der Bundesrepublik, dass ihre Satzungen, in<br />
denen die internen Beziehungen und Kompetenzen der Organe minutiös geregelt<br />
sind, nur wenige Bestimmungen über Tarifpolitik enthalten.«<br />
Lediglich tarifpolitische Richtlinien wurden von manchen Gewerkschaften beschlossen.<br />
Festgelegt ist lediglich, dass der Hauptvorstand eine enorme Gestaltungsmacht<br />
bei den Arbeitskämpfen hat. »Organe der tarifpolitischen Willensbildung<br />
sind die Tarifkommissionen; ihre Mitglieder werden teils von den Bezirksdelegiertenversammlungen<br />
gewählt, teils von den Ortsvorständen ernannt (IGM)<br />
und im Ausnahmefall von Vertrauensleuten gewählt. Hauptamtliche Funktionäre<br />
und Betriebsratsvorsitzende der Großbetriebe bilden zumeist die Mehrheit.« 25<br />
Demgegenüber sind die mitgliedernahen Organe satzungsmäßig sehr schwach<br />
ausgerüstet.<br />
»Die Rechte der Tarifkommissionen sind eingeschränkt, häufig sind sie nur befugt,<br />
Empfehlungen zur Kündigung und zum Abschluss von Tarifverträgen, zu<br />
Urabstimmungen und Streiks an die Hauptvorstände zu richten; bei diesen nämlich<br />
liegen die letzten verbindlichen Entscheidungsrechte.«<br />
»Weder den Mitgliedern noch den mitgliedernahen Organen – Vertrauensleuten,<br />
Delegierten, Ortsvorständen – steht ein Initiativrecht für Urabstimmungen<br />
oder Mitgliederbefragungen zu. Für die Tarifkommissionen besteht andererseits<br />
keine Verpflichtung, sich in ihrer Willensbildung der Mitgliedermeinungen zu<br />
versichern; ebensowenig sind sie verpflichtet, ihre Entscheidungen gegenüber<br />
den Mitgliedern zu rechtfertigen.« 26<br />
Dies hat sich seit 1979 nicht geändert. Bei ver.di etwa werden Tarifkommissionen<br />
vom Gewerkschaftsrat bestimmt: »Die Größe, Zusammensetzung und das<br />
Verfahren zur Wahl der Mitglieder der Tarifkommissionen werden in einer vom<br />
Gewerkschaftsrat zu erlassenden Tarifrichtlinie sowie in den Fachbereichsstatuten<br />
geregelt. […] Die Tarifkommissionen führen die Tarifverhandlungen und<br />
entscheiden über die Tarifforderungen, die Annahme und Ablehnung von Verhandlungsergebnissen<br />
und über das Scheitern der Verhandlungen sowie den Abschluss<br />
und die Kündigung von Tarifverträgen. Sie sind in ihren Entscheidungen<br />
eigenständig, dabei jedoch an die aufgrund von § 69 festgelegten tarifpolitischen<br />
24<br />
Siehe Fußnote 11<br />
25<br />
Bergmann 1979, S. 214.<br />
26<br />
Bergmann 1979, S. 215.
92 Von Führung und Basis<br />
Grundsätze gebunden.« Der Gewerkschaftsrat wiederum wird nach Fachbereichen<br />
zusammengesetzt (plus Jugend, Frauen etc.), aber gewählt wird er vom<br />
Bundeskongress.<br />
D. h. die Tarifkommissionen werden nicht bottom-up gewählt, sondern topdown<br />
bestimmt, aber mit der Möglichkeit, dass die obere Ebene diese demokratisch<br />
nach unten öffnet. Wenn man dann hinzuzieht, dass der Bundesvorstand jeden<br />
Arbeitskampf genehmigen muss und jede Streikleitung ernennen und absetzen<br />
kann, dann bleibt ein ziemlich bürokratisch-zentralistisches Konstrukt übrig:<br />
»Über Urabstimmungen und Arbeitskampfmaßnahmen entscheidet der Bundesvorstand.«<br />
In der Arbeitskampfrichtlinie sind dem Bundesvorstand auf allen<br />
Ebenen ständig Einschreitungsmöglichkeiten zugebilligt: Er kann Arbeitskampfanträge<br />
ablehnen, er kann Urabstimmungen übergehen, er kann Streikleitungen<br />
einsetzen (und lokale oder regionale oder von unteren Gremien bestimmte jederzeit<br />
absetzen) und jederzeit von oben Weisungen erteilen.<br />
In der engen Verbindung zur Sozialdemokratie besteht ein weiteres Element, welches<br />
den konservativen Charakter der Gewerkschaftsbürokratie ausmacht. Die<br />
große Mehrheit ehrenamtlicher wie hauptamtlicher Funktionäre geht heute von<br />
einer Rollenteilung zwischen SPD und Gewerkschaften aus, in der die Gewerkschaften<br />
im Wesentlichen für den ökonomischen Kampf für Tarifverträge zur<br />
Regulierung der Lohnarbeit in den Betrieben zuständig sind, während die Aufgabe<br />
der SPD die politische Vertretung der Arbeiterbewegung im Parlament ist.<br />
Berthold Huber bezog sich wiederholt auf das Mannheimer Abkommen von<br />
1906. 27 Damals verzichtete die SPD auf ihre bis dahin geltende sozialistische<br />
27<br />
Berhold Huber: Rede auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall 2007. Warum dieser Hinweis<br />
auf das Mannheimer Abkommen im Jahr 2007? Dies wird deutlich, wenn man die Passage seiner<br />
Rede ganz liest, die Äußerung richtet sich gegen mögliche Kritik an der Politik der Kapitulation<br />
des DGB gegenüber der Agenda-Politik Schröders und Steinbrücks und politische Einflussnahme<br />
durch die neu entstandene LINKE. Oskar Lafontaine hatte mit seiner mehr oder weniger<br />
permanenten Agitation für den politischen Massenstreik gegen die Agenda 2010 und ihre Folgen<br />
eine unsichtbare Linie überschritten, die besagt: Mischt Euch nicht ein in unsere Angelegenheiten.<br />
Ob und wann gestreikt wird, das ist allein Sache der Gewerkschaften. Huber sagte: »Wir haben<br />
unsere Positionen spätestens seit dem Mannheimer Abkommen von 1906 immer eigenständig<br />
bestimmt. Das bleibt auch in der veränderten deutschen Parteienlandschaft unser Auftrag!<br />
Wir lassen uns von niemandem instrumentalisieren! Die IG Metall war nie der Transmissionsriemen<br />
einer Partei und wird es in Zukunft nicht sein. Wer das versucht, wird scheitern!« Huber betont<br />
zugleich: »Um Arbeitnehmerinteressen auch in der politischen Arena erfolgreich zu vertreten,<br />
müssen wir die im Parlament vertretenen Parteien von unseren Themen und Inhalten überzeugen.<br />
Um unsere Ziele zu erreichen, brauchen wir die Unterstützung politischer Mehrheiten<br />
im Parlament.« Das Mannheimer Abkommen von 1906 ist in der Tat das Modell für das Verhält -<br />
nis von Partei und Gewerkschaften geblieben. Sozialistische Parteien dürfen im parlamentarischen<br />
Raum, in Wahlkämpfen und auf der Straße auch für eine sozialistische Transformation<br />
eintreten. Den erbitterten Widerstand des »Nurgewerkschafterums« werden Sozialisten dann<br />
spüren, wenn sie sich in die Gewerkschaften einmischen und dort für eine Abkehr von sozial-
Von Führung und Basis 93<br />
Führung in und gegenüber den Gewerkschaften. Sie versprach in dem zunächst<br />
geheim gehaltenen Abkommen zwischen SPD und Gewerkschaftsführung, keine<br />
Agitation für den politischen Massenstreik ohne Zustimmung der Gewerkschaftsführer<br />
zu unternehmen, den die Gewerkschaftsführer ein Jahr zuvor gegen<br />
einen Mehrheitsbeschluss eines SPD-Parteitages abgelehnt hatten. Diesem<br />
Verständnis liegt die Trennung von politischem und ökonomischem Kampf in<br />
der Arbeiterbewegung zu Grunde, die die Herausbildung eines institutionalisierten<br />
Tarifvertragswesens einerseits und die Herausbildung von Sozialstaat und Arbeitsgesetzgebung<br />
andererseits in kapitalistischen Staaten mit den Mitteln der<br />
Gesetzgebung und auf dem Wege parlamentarischer Mehrheitsentscheidungen<br />
anstrebt. In der SPD entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts eine reformistische<br />
Strömung, die darauf abzielte, den Sozialstaat immer weiter auszubauen<br />
und so allmählich auf gesetzlichem Wege den Sozialismus einzuführen. Diese<br />
Perspektive der stückweisen oder graduellen Veränderung prägte die Strategie,<br />
bedeutete aber, den Boden des bürgerlichen Staates als Grundlage der Politik zu<br />
akzeptieren. In gewissen historischen Situationen wusste das Kapital diese Disziplinierungsfunktion<br />
durchaus zu schätzen – mehrfach in der Geschichte wünschte<br />
es sich eine sozialdemokratische Regierung, damit diese bei den Gewerkschaften<br />
Dinge durchsetzte, die sonst auf erheblichen Widerstand gestoßen wären.<br />
Besonders prägnant hat dies der Industriekurier, Vorläufer des heutigen Handelsblatt,<br />
1967 kurz nach der Bildung einer großen Koalition aus CDU/CSU und<br />
SPD unter Kanzler Kiesinger (CDU) zum Ausdruck gebracht: »Die Krise, die die<br />
Regierung jetzt aufzufangen hofft, ist in Wirklichkeit die beginnende Krise des<br />
Sozialstaates. Es ist ein bemerkenswertes Zusammentreffen, dass sie gerade in<br />
dem Augenblick erkennbar wird, in dem die SPD zum ersten Male an der Regierungsverantwortung<br />
beteiligt ist. Es ist ihr Programm, dass sich jetzt als undurchführbar<br />
erweist […] Die SPD hat nun in der Regierung ihre große Aufgabe<br />
[…] Die engen Verbindungen zwischen SPD und den Gewerkschaften, die bisher<br />
als Einfluss der Gewerkschaften auf die Sozialpolitik der SPD in Erscheinung<br />
traten, müssen jetzt umgekehrt die Einflussnahme der SPD auf die Gewerkschaftsführer<br />
ermöglichen.« 28<br />
Mit dem Burgfrieden mit den kriegführenden Parteien und dem Staat, den die<br />
SPD (und die Gewerkschaftsspitzen) mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg<br />
eingingen, zeigte sich erstmals, wie groß der Preis für die Anerkennung der bürgerlichen<br />
Politik und des bürgerlichen Staates war. Seitdem hat jede sozialdemokratische<br />
Regierung sich den Erhalt und die Verteidigung des bürgerlichen Staates<br />
und der diesem zugrunde liegenden bürgerlichen Ordnung zu eigen gemacht<br />
– auch wenn diese bedeutete, frontal gegen die Arbeiterbewegung vorzugehen.<br />
partnerschaftlicher Politik eintreten.<br />
28<br />
Industriekurier, 24.01.1967.
94 Von Führung und Basis<br />
Die Niederschlagung der Novemberrevolution nach 1918, aber auch die<br />
Zwangsinstitutionalisierung mit der Etablierung der Friedenspflicht für Betriebsräte<br />
1918/20 sind dafür wichtige Beispiele. Entscheidend ist, dass die Perspektive<br />
der Machtübernahme für die SPD schon im Vorhinein die Wahl der Strategie<br />
prägt und dazu führt, dass sie Massenmobilisierung, Aufrufe zu politischen<br />
Streiks und selbst zu massenhaftem zivilen Ungehorsam wie in der Antinazibewegung<br />
in Dresden oder bei Bloccupy in Frankfurt ablehnt und diese einer stellvertreterischen,<br />
sozialpazifistischen Politik untergeordnet werden. Die Verflochtenheit<br />
der Gewerkschaftsbürokratie mit der Sozialdemokratie bringt eine enorme<br />
Disziplinierung der Arbeiterbewegung mit sich.<br />
Nehmen wir das Beispiel der Hartz-Gesetze. Die sozialdemokratisch geführte<br />
Bundesregierung stieß die Gewerkschaften vor den Kopf, indem sie Leiharbeit<br />
fast unbegrenzt zuließ, Kündigungsschutz beseitigte, Hartz IV und die Erhöhung<br />
des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre durchsetzte und so weiter. Nachdem es anfangs<br />
wenig Widerstand in den Gewerkschaften gab, 29 änderte sich dies, nachdem<br />
ein Bündnis aus Gewerkschaftslinken und Attac mit den globalisierungskritischen<br />
Protesten im Rücken am 3.11.2003 zunächst überraschend 100.000 Menschen<br />
zu einer Demonstration nach Berlin mobilisierte. Daraufhin besuchte<br />
Frank Bsirske das Sozialforum in Paris und versprach dort eine gemeinsame Mobilisierung.<br />
Am 3.4.2004 mobilisierte der DGB 500.000 Menschen zu drei<br />
großen Protestkundgebungen gegen die SPD-geführte Regierung – ein Riesenerfolg.<br />
Allerdings blieben die erhofften Korrekturen aus. Bereits im Sommer fand<br />
wieder eine Annäherung zwischen SPD und Gewerkschaftsspitzen statt. Michael<br />
Sommer trat schließlich in einer Fraktionssitzung der SPD auf und verkündete,<br />
er habe ein SPD-Mitglied geworben, im Herbst 2004 machte er sogar wieder<br />
Wahlkampf für die SPD in Schleswig-Holstein. Damit verpasste der DGB, eine<br />
Eskalationsstrategie gegen die Bundesregierung zu entwickeln, die sich dann im<br />
Herbst auf die spontanen Montags-Massendemonstrationen hätte stützen und<br />
diese verallgemeinern können. Die Episode zeigt, dass selbst wenn sich Massenprotest<br />
regt, die Verbindung zwischen Gewerkschaftsbürokratie und SPD hält,<br />
was weitreichende strategische Konsequenzen für die Mobilisierungschancen bedingt.<br />
So disziplinierend die SPD in die Arbeiterbewegung hineinwirkt, so ist doch<br />
das Verhältnis zwischen SPD und Gewerkschaften nicht einseitig und statisch zu<br />
29<br />
Der DGB hatte im Mai 2003 mit »Viertelkraft« zu Demonstrationen in Kassel und Leipzig aufgerufen,<br />
zu denen knapp 70.000 kamen. Dies wurde als Beleg dafür bewertet, dass der DGB in<br />
dieser Frage nicht mobilisierungsfähig wäre. Kurz darauf rief der DGB zu einer »Sommerpause«<br />
in den Protesten auf. Im Juli 2004 beendete die 2. Chefin des DGB Engelen-Käfer die Proteste<br />
mit dem bezeichnenden Argument: »Wir sind schließlich Demokraten« (vgl. Junge Welt<br />
14.07.2014).
Von Führung und Basis 95<br />
beurteilen. Denn dieses Verhältnis, auch die Disziplinierungsfunktion, basiert auf<br />
einer sozialdemokratischen Hegemonie in der Gewerkschaftsbewegung. Die<br />
Trennung von Politik und Ökonomie und die daraus resultierende Arbeitsteilung<br />
wird von den meisten Gewerkschaftsmitgliedern akzeptiert. Während Gewerkschaften<br />
die Klasse immer wieder neu organisieren müssen und deswegen auch<br />
Widerstand anführen und organisieren, halten wir die SPD in Lenins Worten für<br />
eine »kapitalistische Arbeiterpartei«, die zwar, um Wahlen zu gewinnen, an die<br />
Reformhoffnungen der Wählerschaft anknüpfen muss, aber gleichzeitig fest auf<br />
dem Boden des bürgerlichen Staates und des Kapitalismus steht. Ihre Funktion<br />
als Verteidigungsorganisation von Arbeiterinteressen führt die Gewerkschaften<br />
in Krisenzeiten in Widerspruch zur Sozialpartnerschaft, zum Stellvertretertum,<br />
zum Nationalismus der SPD oder zur Aufgabe ihrer ureigensten Ziele und ihres<br />
Klassenauftrages. Dieser Widerspruch muss sich dann auch in einer Herausforderung<br />
des Einflusses der SPD in den Gewerkschaften ausdrücken.<br />
Die Bedeutung des subjektiven Faktors<br />
Wir verstehen uns in der Tradition eines Marxismus, in der dem subjektiven Faktor,<br />
dem bewussten Eingriff in die Geschichte, eine große, manchmal entscheidende<br />
Rolle zugewiesen wird. Eine so verstandene Handlungstheorie unterscheidet<br />
uns von denjenigen Traditionen, die in sozialdemokratischer und stalinistischer<br />
Lesart des Marxismus die objektiven Faktoren der Geschichte zur Ableitung<br />
des Bewusstseinsstandes der Arbeiterklasse als allmächtig zugrundelegen. 30<br />
Allerdings besteht die Gefahr bei einer Überbetonung des subjektiven Faktors zu<br />
einer voluntaristischen und letztlich idealistischen Übertreibung zu kommen, die<br />
jedes Scheitern von Klassenkämpfen immer nur dem Versagen der Führung anhängt<br />
oder aber zu minoritären Stellvertreteraktionen bis hin zu abenteuerlichen<br />
Streikaufrufen führen kann, die von der Mehrheit als »verheizen« verstanden<br />
werden. 31<br />
30<br />
Klassenbewusstsein ist nach Kautsky ein bloßer Reflex auf eine bestimmte Klassenlage bzw.<br />
»Umwelt«. Natürlich entging auch Kautsky nicht, dass Menschen unter identischen Umständen<br />
zu unterschiedlichen Erkenntnissen und politischen Aktionen kamen. Aber er tröstete sich mit<br />
der Feststellung: »Die Menschen reagieren alle im Durchschnitt auf die gleichen Reize in gleicher<br />
Weise, wenn die Bedingungen die gleichen sind, unter denen der Reiz sie trifft.« (Karl Kautsky<br />
»Die materialistische Geschichtsauffassung, Bd. 2, Berlin 1927, S.458.) Kautsky benutzt hier die<br />
Begriffe der damals modernen Schule der Behavioristen (Verhaltensforscher). Die einzig gestaltende<br />
Kraft der menschlichen Geschichte sind nach Kautsky die sich entwickelnden Produktivkräfte.<br />
31<br />
Voluntarismus ist in verschiedenen Variationen in der Geschichte der Arbeiterbewegung aufgetreten,<br />
eine wichtige war der verfrühte Aufstand, der Versuch der politischen Machtergreifung<br />
nicht auf der Basis einer die gesamten Kräfteverhältnisse berücksichtigen Analyse, sondern auf<br />
Grund lokaler Ereignisse und Erfahrungen. Hierzu gehören in der Anfangsphase der deutschen
96 Von Führung und Basis<br />
Auch heute findet in der Diskussion um gewerkschaftliche Politik meist eine<br />
Objektivierung der Vergangenheit statt. Zwar wird diese nicht in einem direkt<br />
deterministischen, ableitbaren Theoriegebäude geleistet (Determinismus ist ja ein<br />
großes intellektuelles Schimpfwort im Zuge der Marxismuskritik geworden.)<br />
Sondern meist findet sie in Form etwa der Regulationstheorie oder eines sich auf<br />
Gramsci berufenden Hegemonie-Begriffs statt. Statt Organisationen, Parteien,<br />
Fraktionen und einzelne geschichtliche Persönlichkeiten sind die »Subjekte« in<br />
diesen Theorien in Regulationsweisen, Kräfteverhältnissen, historischen Blöcken<br />
usw. verschüttet.<br />
Wie sieht nun eine angemessene Theorie des subjektiven Faktors aus? Im Folgenden<br />
wollen wir versuchen, aus der marxistischen Theorie heraus eine Bestimmung<br />
des subjektiven Faktors vorzunehmen. In einer in Deutschland weitgehend<br />
unbekannten, erst 1996 in ungarischen Archiven aufgetauchten Verteidigungsschrift<br />
von »Geschichte und Klassenbewusstsein« zieht der ungarische Marxist<br />
Georg Lukács aus einer Passage von Lenin zur Bedeutung des subjektiven Faktors<br />
im Aufstand einige Schlussfolgerungen für eine allgemeine Theorie des subjektiven<br />
Faktors: 32<br />
Wenn wir nun seine Bemerkungen über den Aufstand selbst […] vom methodologischen<br />
Standpunkt, der für uns hier der gebotene ist, näher betrachten, so heben sie einerseits<br />
die bewusst gemachten, also von der subjektiven Seite (vom bewusst handelnden<br />
Subjekt) hervorgebrachten Momente heraus (Gruppierung der Kräfte, Überrumpelung,<br />
etc.) andererseits weisen sie auf die rein subjektiven Momente (Entschlossenheit,<br />
moralisches Übergewicht etc.) mit der größten Schärfe hin. Der Aufstand<br />
als Kunst ist also der Moment des revolutionären Prozesses, wo das subjektive<br />
Moment ein entscheidendes Übergewicht hat. 33<br />
In dieser Passage führt Lukács die Unterscheidung zwischen (a) gemachten,<br />
durch bewusste Handlungen erzeugten subjektiven Elementen ein, wie etwa der<br />
Strategie und der Gruppierung der Kräfte, der Überraschungsangriff und (b)<br />
solchen Elementen, die rein subjektiv sind, wie etwa die der Entschlossenheit<br />
und der moralischen Überlegenheit. Den Moment so aufzufächern, wie Lukács<br />
es hier tut, ermöglicht eine genauere Bestimmung des subjektiven Faktors: In der<br />
konkreten Situation, aber auch in der Bestimmung in einem Prozess, der zu dem<br />
Moment führt. Subjektive und objektive Komponenten lassen sich so herausarbeiten.<br />
Daraus ergibt sich für Lukács, dass der Marxismus bereits in der objektiven<br />
Analyse die subjektiven Elemente der Vergangenheit aufdeckt und mitdenkt.<br />
Revolution der »Januaraufstand« vom 5. Januar 1919, dann die Ausrufung der Münchener Räterepublik<br />
(Mai 1919) und der Aufstandsversuch der KPD im März 1921.<br />
32<br />
Lukács, Georg: Chvostismus und die Dialektik, Herausgegeben von den »Erben von Georg<br />
Lukács« 1996, 81 S.<br />
33<br />
Lukács 1996, S. 19.
Von Führung und Basis 97<br />
Gleichzeitig bezieht er sich selbst aber in das Kalkül ein und kann so auch für die<br />
Zukunft Geschichte und Prozesse als aktive, eingreifende Prozesse denken. Das<br />
heißt, es gibt keinen Moment, in dem sich die Aktivität des organisierten Eingriffs<br />
nicht lohnt, in dem es sich nicht lohnt, die Dinge auszutesten und auszuloten.<br />
34 Denn auch unter der ruhigen Oberfläche kann Bewegung stattfinden, kann<br />
der Prozess sich weiterentwickeln. Damit ist aber nicht gemeint, alles sei immer<br />
und zu jeder Zeit subjektiv beeinflussbar und nach Belieben formbar. 35 Ergänzend<br />
zu dieser Theorie des Momentes entwickelt Lukács mit Hilfe des Begriffes der<br />
Zurechnung einen Begriff des subjektiven Faktors im Rahmen der Theorie des historischen<br />
Materialismus. Wenn die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen<br />
darstellt, diese aber aus den materiellen Widersprüchen abgeleitet werden,<br />
wie verhindert man, dass man eine rein deterministische Widerspiegelungstheorie<br />
entwickelt, wo jede historische Aktivität immer dem Stand der Produktivkräfte<br />
entspricht?<br />
Lukács’ Lösung für dieses Problem ist der Begriff der Zurechnung. Er erklärt,<br />
dass jeder Person quasi idealtypisch auf Grund einer Klassenlage ein gewisses<br />
Klassenbewusstsein zugerechnet werden kann. Auf diese Weise können die Potenziale,<br />
die Handlungsspielräume der jeweiligen Klassenlage ausgelotet werden<br />
und gleichzeitig ganz bewusst die Distanz zu den realen, handelnden Personen<br />
und Klassenakteuren wie Parteien und Organisationen erfasst werden. 36<br />
34<br />
»›Es gibt keinen Moment‹, sagen die Organisationsthesen des III.Kongresses (der Komintern),<br />
›wo eine Kommunistische Partei nicht aktiv sein könnte.‹ Warum? Weil es keinen Moment geben<br />
kann, wo dieser Charakter des Prozesses, der Keim, die Möglichkeit des aktiven Einwirkens des<br />
subjektiven Momentes vollständig fehlen würde. Und was ist z. B. jeder Streik anderes, als eine<br />
kleine Krise der kapitalistischen Gesellschaft? Hatte nicht der preußische Minister des Innern,<br />
Herr Puttkammer, recht, als er den berühmten Ausspruch machte: ›In jedem Streike lauert die<br />
Hydra der Revolution!‹? Freilich schlägt gerade hier die Quantität in Qualität um. Wer jedoch seine<br />
Augen vor der Grundfrage verschließt, der wird diese Seite des Prozesses weder im Großen,<br />
noch im Kleinen je richtig erfassen können, wer […] aus Angst in einen ›Subjektivismus‹ zu verfallen,<br />
solche Momente überhaupt leugnet, wird notwendigerweise […] auf die verdeckten Momente<br />
erst recht fatalistisch chvostistisch reagieren.«<br />
35<br />
Im Besonderen greift er die Spontaneitätstheorie an, die eben in der Einschätzung, dass alles immer<br />
beeinflussbar ist, eigentlich in einen Fatalismus umkippt, weil real eben nicht immer alles beeinflussbar<br />
ist. Das Besondere an einer Theorie des subjektiven Faktors – eben herauszuarbeiten<br />
was beeinflussbar und was nicht beeinflussbar ist - würde damit verloren gehen. Lukács, Georg<br />
1996, S.19.<br />
36<br />
Lukács bezieht sich dabei auf Marx und seine historischen Schriften, wie etwa die Schriften zum<br />
Bürgerkrieg in Frankreich, wo er die nicht realisierten Potenziale der bürgerlichen Politiker beschreibt<br />
und auf diese Art und Weise eben nicht zu einer subjektlosen Geschichte, sondern zur<br />
einer Geschichte kommt, in der die Akteure in den ihnen möglichen Potentialen gemessen und<br />
beurteilt werden. Denn mit dem Begriff der Zuschreibung kann die Distanz zwischen Potenzial<br />
und Realität gemessen werden. Die Überbrückung dieser Distanz ist gerade die Aufgabe von<br />
subjektiven Kräften: von Parteien und ihren Führern. »Solange jedoch nur von Klassen die Rede<br />
ist, die – infolge ihrer ökonomischen Lage – notwendig mit falschem Bewusstsein handeln, ge-
98 Von Führung und Basis<br />
Für eine Analyse der Arbeiterbewegung in Deutschland des 21. Jahrhunderts<br />
ergeben sich daraus aus unserer Perspektive drei Konsequenzen für ein Verständnis<br />
des subjektiven Faktors:<br />
Erstens ergeben sich mit dem Konzept der Zurechnung von Lukács Möglichkeiten,<br />
den Handlungsspielraum etwa von Gewerkschaftsfunktionären auszuloten<br />
und zu versuchen, diese an den ihrer eigenen Klassenlage möglichen Potenzialen<br />
zu messen. Die objektiven Kräfte, die dabei wirken und den Spielraum bestimmen,<br />
den einzelne Führungsfunktionäre, aber auch mittlere oder untere<br />
Funktionäre haben, ist dabei der erste Schritt. Die materielle Abgehobenheit, die<br />
permanente Verhandlungsposition mit ihrem eingebauten Stellvertreterprinzip<br />
und die Verbindung zur Sozialdemokratie machen eine Fortführung des Krisenkorporatismus<br />
und den Versuch, durch eine Verbetrieblichung und weitere Anpassung<br />
auf ein Ende der Angriffe zu hoffen, zur wahrscheinlichsten Reaktion<br />
breiter Teile der hauptamtlichen Funktionäre. Einer nüchternen Einschätzung<br />
der Gewerkschaftsbürokratie sollte auch die Notwendigkeit, die eigene Position<br />
durch den Erhalt bzw. den Ausbau der Organisationsmacht zu sichern, zugrundeliegen.<br />
In der Einschätzung etwa eines Gewerkschaftsfunktionärs bedeutet<br />
dies, dass der Wunsch nach Stärkung der eigenen Organisationsmacht ihn zu einer<br />
Kritik des Stellvertretertums oder der Beförderung von Selbstaktivität bringen<br />
kann, aber keinesfalls muss. Ähnliche materielle und organisatorische Einbindungen<br />
können also ganz unterschiedliche Handlungsperspektiven hervorbringen.<br />
So sind Bertholt Huber (»die spanischen Löhne sind zu hoch« 37 ) und<br />
Bernd Riexinger (»Wir streiken, so oft wir können.« 38 ) beide objektiv gesehen<br />
nügt es in den meisten Fällen, das falsche Bewusstsein der objektiven Wirklichkeit des ökonomischen<br />
Lebens einfach gegenüberzustellen, um die geschichtliche Lage, den Verlauf des Geschichtsprozesses<br />
richtig zu begreifen. (...)Aber bereits das eben angeführte Beispiel kann uns<br />
darüber belehren, dass die einfache Gegenüberstellung nicht immer ausreichend ist. Denn auch<br />
das falsche Bewusstsein ist in dialektischer und in mechanischer Weise falsch, das heißt es gibt<br />
objektive Verhältnisse, die von einer solchen Klasse (gemäß ihrer Klassenlage) unmöglich übersehen<br />
werden können, und es gibt innerhalb der selben Verhältnisse Lagen, die erkannt werden<br />
können, Lagen, in den es (klassenmäßig) möglich ist, der objektiven Lage entsprechend, bewusst<br />
oder unbewusst, richtig zu handeln. Die tatsächlichen Gedanken über solche Lagen jedoch (bei<br />
Klassen, Parteien, Führern) treffen nicht immer dieses Richtige, das zu treffen sie klassenmäßig<br />
möglich gewesen wäre. Zwischen dem Bewusstsein, das sie tatsächlich über ihre Lage haben und<br />
zwischen dem Bewusstsein, das sie – gemäß ihrer Klassenlage – über diese Lage haben könnten,<br />
ist ein Abstand vorhanden, den möglichst zu überwinden eben die Aufgabe der Parteien und ihrer<br />
Führer ist« (Lukács 1996, S. 22).<br />
37<br />
»Die spanischen Gewerkschaften haben ihren Vorteil verspielt, weil sie sich um einen Reallohnausgleich<br />
bemüht haben.” (Bertholt Huber im Manager Forum bei phönix, http://www.phoenix.de/forum_manager_zu_gast_ig_metall_vorsitzender_berthold_huber/529407.html,<br />
Minute<br />
30-32)<br />
38<br />
Transkript einer Rede auf Marx is Muss 2011, Marx 21, veröffentlicht 16.8.2011, http://marx21.de/content/view/1497/32/.
Von Führung und Basis 99<br />
»Gewerkschaftsbürokraten« – Rosa Luxemburg sprach von Gewerkschaftsbeamten<br />
– den gleichen bzw. ähnlichen Kräften ausgeliefert, die an ihnen ziehen und<br />
ihren Spielraum prägen. Aber die konkrete Politik und Ausformung des Handlungsspielraums<br />
ist damit noch nicht bestimmt. Spielräume auszuloten bedeutet<br />
andererseits nicht auszublenden, welche Kräfte dieses Spiel bestimmen. Das Potenzial<br />
von kämpferischen Funktionärsfraktionen auszuloten, ist immer wichtig,<br />
auch und gerade in Zeiten, in denen es wenig eigenständige Kämpfe und Selbstorganisation<br />
gibt. D. h. das Konzept der Zurechnung eröffnet die Möglichkeit,<br />
Handlungsspielräume von wichtigen Akteuren zu ermessen und auf dieser<br />
Grundlage eine eigenständige sozialistische Strategie für die Gewerkschaften zu<br />
entwickeln. Es ermöglicht darüber hinaus bei Festhalten an einer materialistischen<br />
Theorie der Gewerkschaftsbürokratie deren Verantwortung und tatsächliche<br />
Handlungsmöglichkeiten zu betonen und deren eigenen Rückzug auf angebliche<br />
politische und ökonomische Sachzwänge kritisch zu hinterfragen.<br />
Zweitens brauchen wir eine konkrete Geschichtsschreibung, die den in Kämpfen<br />
der Vergangenheit zum Ausdruck gekommenen Elementen – insbesondere<br />
den Höhe- und Wendepunkten – ausreichend Raum gibt. Dabei geht es auch<br />
darum zu ermessen, welche alternativen Entwicklungen möglich gewesen wären,<br />
welche Kräfte versucht haben, alternative Strategien und Organisationsansätze<br />
umzusetzen. Gleichzeitig werden die Resultate der Kämpfe – insbesondere auch<br />
die Niederlagen der letzten 35 Jahre – dann zu einem Teil des objektiven Kräfteverhältnisses.<br />
Sie stehen uns heute als scheinbar objektive, abgeschlossene Prozesse<br />
gegenüber. Und tatsächlich prägen sie die Optionen, den potenziellen Mut<br />
der Akteure. Denn Mut ist keine angeborene Eigenschaft der Menschen, die man<br />
hat oder die man nicht hat, sondern eine, die durch kluges und entschlossenes<br />
gemeinsames Handeln von Kollektiven befördert werden kann. Und sie kristallisiert<br />
sich objektiv in gesellschaftlichen Institutionen – etwa dem Betriebsverfassungsgesetz<br />
oder eingefahrenen Verhaltensweisen wie etwa einer korporatistischen<br />
Struktur und dem dazugehörigen gewerkschaftlichen Habitus.<br />
Drittens lässt sich noch ein engerer Begriff vom subjektiven Faktor fassen.<br />
Einen Hinweis auf diesen gibt Jan Ole Arps in seinem Buch über linke Fabrikinterventionen<br />
in den 1970er Jahren, in dem er beschreibt, wer einen der größten<br />
spontanen oder selbständigen Streiks in Deutschland bei Ford in Köln 1973 ausgelöst<br />
hat:<br />
Auslösendes Moment des Streiks waren die türkischen Kollegen in der Y-Halle, die<br />
sich zu Beginn der Spätschicht weigerten, die durch die Entlassungen entstandene<br />
Mehrarbeit zu machen. Ein Türke, seit Jahren an diesem Bandabschnitt und von seinen<br />
Kollegen als Kommunist verschrien, sollte zu Beginn der Spätschicht eine zusätzliche<br />
Operation übernehmen. Er reagierte, wie schon viele Kollegen in dieser<br />
Woche reagiert hatten: er motzte und schrie rum. Schließlich hörte er ganz zu arbei-
100 Von Führung und Basis<br />
ten auf und schrie: »Kollegen, wie lange sollen wir uns das noch gefallen lassen?<br />
Wann tun wir endlich was gegen die Schweinerei?« usw. Es dauerte nur ein paar Minuten,<br />
bis die ganze Y-Halle streikte. […] Nachdem der Zug durch die W-Halle gekommen<br />
war, suchte sich ein deutscher Kollege ein Stück Pappe und einen Filzstift<br />
und begann, die Forderung nach 60 Pfennig zu malen. Als die umstehenden Türken<br />
das sahen, protestierten sie und sagen: »60 Pfennig zu wenig – muss 1 Mark!« 39<br />
In dieser Passage finden sich aus unserer Sicht zwei klassische Typen dieses engeren<br />
Typus des subjektiven Faktors wieder: Die Wildentschlossenen, diejenigen,<br />
die wie der türkische Kommunist als erster den Mut aufbringen nicht nur zu<br />
motzen, sondern zum Streik aufzurufen. Ohne diese Schicht Mutiger würde es<br />
keinen Streik, keinen Protest, keinen Widerstand geben. Weniger prominent ist<br />
der andere Typ, der »deutsche Kollege«, der mit dem Filzstift die Forderung aufschreibt.<br />
Und doch ist seine Rolle wichtig, die Forderungen der Kollegen zu artikulieren<br />
und die beginnende Streikbewegung mit einer linearen Forderung als<br />
Teil der Revolte gegen Lohnzurückhaltung zu positionieren. Tatsächlich war dieser<br />
Kollege Teil einer Minderheit von linken Aktivisten bei Ford gewesen, die zuvor<br />
diskutiert hatten, wie sie in die bevorstehende Tarifrunde intervenieren wollten.<br />
Die Mutigen und die Strategen – diese beiden Ur-Typen betrieblich-gewerkschaftlicher<br />
Aktivistinnen und Aktivisten stellen für uns den subjektiven Faktor<br />
im engeren Sinne dar, diejenigen, die Widerstand leisten wollen und schon darüber<br />
nachdenken, wie sie dies am besten tun. Sie sind es, die für eine antikapitalistische<br />
Kritik gewonnen werden können, wenn sie diese nicht sowieso schon<br />
selbst theoretisch oder in Teilen entwickelt haben. Und sie sind es, die wesentliche<br />
Träger einer Erneuerungsbewegung für die Gewerkschaften sein können.<br />
Wir vermuten beide Typen heute in jedem größeren Betrieb. 40 Diesen beiden ein<br />
Angebot von Organisierung und Strategie zu bieten, stellt für uns die Kernaufgabe<br />
von Sozialistinnen und Sozialisten in der Gewerkschaftsbewegung dar.<br />
39<br />
Arps, Jan Ole: Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den 1970er Jahren. Assoziation A, 240 ,<br />
S.95.<br />
40<br />
Während in an deren Ländern diese betrieblichen AktivistInnen auch in der wissenschaftlichen<br />
Forschung zur gewerkschaftlichen Erneuerung eine wichtige Rolle spielen, gibt es dazu in der<br />
deutschen Forschung zu gewerkschaftlicher Erneuerung kaum aktuelle Untersuchungen.
Gewerkschaften bei Marx<br />
und Engels<br />
Frank Renken<br />
Gegner der Gewerkschaften haben diese in den vergangenen drei Jahrzehnten<br />
in den Medien und der Wissenschaft immer wieder als ein im Niedergang befindliches<br />
Phänomen abgeschrieben, als ein Überbleibsel einer industriellen<br />
Ära, die immer weniger der modernen Arbeitswirklichkeit entspreche. Solche<br />
Auffassungen haben in den Gewerkschaftsapparaten selbst ihre Spuren hinterlassen.<br />
Als ich im Jahr 2001 als Stipendiat der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung<br />
mein Dissertationsvorhaben begann, war ich mit einem Vortrag aus<br />
der IG-Metall-Zentrale konfrontiert, in dem eine junge Kollegin den langjährigen<br />
Mitgliederschwund bei den im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) organisierten<br />
Gewerkschaften auf eine generelle Krise von »Großorganisationen«<br />
zurückführte. Als Beleg führte sie an, dass die Kirchen ähnliche Verluste an<br />
Mitgliedern zu verzeichnen hatten.<br />
Solch fatalistische Haltungen wirken wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.<br />
Sie lähmen die Initiative und machen es jungen Menschen am Anfang<br />
ihres Berufslebens schwer, sich für die Gewerkschaft zu begeistern. Auch für<br />
viele der neu radikalisierten jungen Linken sind die Gewerkschaften angesichts<br />
der als träge erscheinenden Politik des DGB kein Orientierungspunkt für die eigene<br />
Praxis.<br />
Doch es gibt auch Entwicklungen, die Mut machen. In den vergangenen Jahren<br />
stoppten die Gewerkschaften in einigen Bereichen den Rückgang der Mitgliedszahlen,<br />
unter anderem als Ergebnis systematischer Organizing-Kampagnen.<br />
Ungeachtet der fortschreitenden Zersplitterung der Tariflandschaft ist<br />
seit zwei Jahren auch eine steigende Zahl von – zumeist lokal begrenzten – Abwehrkämpfen<br />
zu verzeichnen. Der Druck auf die Löhne, die Verdichtung der<br />
Arbeit und die gewachsene Unsicherheit der Beschäftigungsverhältnisse lassen<br />
aus vielen Betrieben heraus ein Bedürfnis an grundlegender Neuorientierung<br />
hin zu einer aktiveren und kämpferischeren Form des Gewerkschaftertums entstehen.
102 Gewerkschaften bei Marx und Engels<br />
Das bloße Bedürfnis indes erzeugt allein noch keinen Wandel. Ob er gelingt, ist<br />
eine politische Frage. Gewerkschaften werden konfliktfreudiger gegen das Kapital,<br />
wenn klassenkämpferische politische Strömungen die Gewerkschaften als<br />
ihre Heimat empfinden, sie aktiv mit aufbauen und mit anderen Strömungen solidarisch<br />
um ihre Ausrichtung ringen.<br />
Ein solches Verständnis wächst nicht spontan aus einzelnen Konflikten heraus,<br />
sondern bedarf eines theoretischen Fundaments, aus dem sich die Rolle der Gewerkschaften<br />
in der Gesellschaft erklärt. Dabei lohnt ein Blick auf die Geschichte<br />
und den Beitrag, den Karl Marx und Friedrich Engels geleistet haben. Ihre<br />
Kernaussagen über das Wesen der Gewerkschaften können uns noch heute zur<br />
Orientierung dienen. Spannend ist, dass der »Marxismus« als eine revolutionäre<br />
Weltanschauung parallel mit den Gewerkschaften im 19. Jahrhundert entstand.<br />
Entsprechend haben Marx und Engels keine fertige Theorie über die Gewerkschaften<br />
produziert, auf die wir einfach zurückgreifen können. Ihre Positionen<br />
haben sich im Laufe ihres Lebens entwickelt und verändert, im Kontext der Auseinandersetzungen<br />
ihrer Zeit. Im Folgenden werde ich die wesentlichen Erkenntnisse<br />
aus ihrem historischen Zusammenhang herausarbeiten.<br />
Gewerkschaften als erster Schritt zur Organisierung als Klasse<br />
Sozialisten gab es schon vor Marx und Engels. Aber sie waren die ersten, die den<br />
Sozialismus als eine Gesellschaftsordnung verstanden, die nicht einfach als Utopie<br />
von großen Denkern ersonnen werden kann und dann nur noch von ihren<br />
Anhängern umgesetzt werden muss. Das, was wir heute als Marxismus verstehen,<br />
ist eine Weltanschauung, wonach eine neue Gesellschaft nur aus den Widersprüchen<br />
und Konflikten der bestehenden Gesellschaft heraus entstehen kann.<br />
Alles andere sind idealistische Illusionen. 1<br />
Der junge Marx brach 1844 mit diesem Idealismus. Er forderte gegenüber den<br />
»Junghegelianern«, einer Strömung radikaler Philosophen um Bruno Bauer, »an<br />
wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und [sich] mit ihnen zu identifizieren« – statt sich<br />
auf die bloße Kritik falscher Ideen zu beschränken. »Wir treten dann nicht der<br />
Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier knie<br />
nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir<br />
sagen ihr nicht: Lass ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen<br />
dir die wahre Parole des Kampfes zuschreien. Wir zeigen ihr nur, warum sie ei-<br />
1<br />
Als »Idealismus« werden alle jene Denkrichtungen bezeichnet, für die der historische Wandel<br />
von den Ideen ausgeht. Höchste Form des Idealismus ist der Glaube an eine übernatürliche<br />
Schöpfungsinstanz, auch »Gott« genannt. Im Gegensatz dazu versteht sich der Marxismus als<br />
eine im philosophischen Sinne »materialistische« Theorie, wonach »das gesellschaftliche Sein das<br />
Bewusstsein bestimmt.«
Gewerkschaften bei Marx und Engels 103<br />
gentlich kämpft, und das Bewusstsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss,<br />
wenn sie auch nicht will.« 2<br />
Marx hüllte seine Kritik an jenen, die sich über den Konflikten in der Gesellschaft<br />
erhaben fühlten, selbst noch in eine philosophische Sprache. Der Grund<br />
ist einfach: Marx war, wie alle anderen auch, Kind seiner Zeit. Bevor sich eine revolutionäre<br />
Theorie herausbilden konnte, wonach der Klassenkampf Motor der<br />
Geschichte ist, mussten die radikalen Denker erst die Arbeiterklasse entdecken.<br />
Doch Deutschland war in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts rückständig und<br />
weithin agrarisch geprägt. Es war auch noch kein moderner Nationalstaat. Die<br />
Aufteilung in über dreißig Fürstentümer hielt Deutschlands Entwicklung zurück.<br />
In England hingegen hatte die industrielle Revolution bereits Einzug gehalten,<br />
und mit ihr entstand der moderne Klassengegensatz zwischen Kapital und<br />
Lohnarbeitern. Friedrich Engels, der mit Marx zusammen die Grundzüge der<br />
marxistischen Weltanschauung entwickeln sollte, veröffentlichte 1844 Die Lage<br />
der arbeitenden Klasse in England. Das Buch des damals 23-Jährigen ist heute noch<br />
ein Referenzpunkt der Sozialgeschichte. Für die deutschen Philosophen seiner<br />
Zeit war es wie ein Bericht von einem anderen Planeten. Engels, der wie Marx<br />
und Bauer der Schule der Junghegelianer entstammte, ging im November 1842<br />
als Fabrikantensohn nach Manchester, das Herz des industriellen Kapitalismus.<br />
Engels war erschüttert über die Verelendung, die er hervorbrachte. Und zugleich<br />
inspiriert von den neuen Formen des Widerstands, den die arbeitende Klasse<br />
ausprobierte, um die eigenen Interessen zu verteidigen.<br />
Sein Buch war geprägt von der Massenkampagne für eine »Charta« des Volkes<br />
– ein Forderungskatalog, der unter anderem das allgemeine Wahlrecht (für Männer<br />
ab 21 Jahren) vorsah. Der mit dem Grundbesitz verbundene Teil der herrschenden<br />
Klasse, vertreten durch die konservativen Tories, sah darin die Drohung<br />
mit der sozialen Revolution. Und auch die Chartisten selbst, zumindest ein<br />
großer Teil der Bewegung, verstand den Kampf als eine soziale Frage. Engels zitiert<br />
den Geistlichen Stephens als einen Vertreter des »Arbeiter-Chartismus«, der<br />
vor 200.000 Menschen ausrief: »Der Chartismus, meine Freunde, ist keine politische<br />
Frage, wobei es sich darum handelt, dass ihr das Wahlrecht bekommt usw.;<br />
sondern der Chartismus, das ist eine Messer-und-Gabel-Frage, die Charta, das heißt<br />
gute Wohnung, gutes Essen und Trinken, gutes Auskommen und kurze Arbeitszeit.«<br />
3<br />
Die Chartisten führten die Auseinandersetzung für eine im Kern politische<br />
Forderung mit Methoden des Klassenkampfes. Als eine Petition der Chartisten<br />
2<br />
Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Berlin 1987 (Dietz), [im Weiteren: MEW], Band 1, [Marx:]<br />
Briefe aus den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern«, S. 345. Ich habe die Rechtschreibung um<br />
der Lesbarkeit willen hier wie in allen anderen Zitaten leicht modernisiert. (Anm. d. Verf.)<br />
3<br />
Engels, »Die Lage der arbeitenden Klasse in England«, MEW Bd. 2, S. 446.
104 Gewerkschaften bei Marx und Engels<br />
1842 vom Parlament zurückgewiesen wurde, trat die Arbeiterklasse in verschiedenen<br />
industriellen Zentren des Landes in Aktion. Bis zu den Massenstreiks<br />
während der russischen Revolution von 1905 sollten nirgendwo mehr Arbeiter in<br />
einen Arbeitskampf verwickelt werden. Zu seinem Höhepunkt erfasste der Streik<br />
von 1842 bis zu einer halben Million Arbeiter und überzog ein Gebiet von Dundee<br />
und den schottischen Kohlefeldern bis nach Süd-Wales und Cornwall, also<br />
praktisch die gesamte britische Insel. Es war der erste Generalstreik der menschlichen<br />
Geschichte.<br />
Die Auseinandersetzung mit den Streiks als neuer Kampfform stellte sofort die<br />
Frage nach dem Verhältnis der frühen Sozialisten zu den Arbeiterassoziationen<br />
auf die Tagesordnung, zu der Frühform der modernen Gewerkschaften. Robert<br />
Owen, der führende Sozialist in England, lehnte sie genauso ab wie die französischen<br />
Frühsozialisten Charles Fourier, Henri de Saint-Simon oder Pierre-Joseph<br />
Proudhon. Sie alle kritisierten den im Entstehen begriffenen industriellen Kapitalismus<br />
und die soziale Ungleichheit. Doch in den Arbeiterassoziationen sahen<br />
sie eine vernachlässigbare Größe, oder eine Ablenkung vom eigentlichen Kampf,<br />
oder gar eine Bedrohung für die Umsetzung ihrer Konzepte. Engels hingegen<br />
beschrieb in seiner Lage, wie eine bessere Gesellschaft unmittelbar aus den gewerkschaftlichen<br />
Konflikten erwachsen würde. Er benutzte dabei den englischen<br />
Begriff »strike«, weil es für ihn noch keine deutsche Entsprechung gab:<br />
Die unglaubliche Häufigkeit dieser Arbeitseinstellungen beweist es am besten, wieweit<br />
der soziale Krieg schon über England hereingebrochen ist. Es vergeht keine<br />
Woche, ja fast kein Tag, wo nicht hier oder dort ein Strike vorkommt – bald wegen<br />
Lohnverkürzung, bald wegen verweigerter Lohnerhöhung, bald wegen Beschäftigung<br />
von Knobsticks [Streikbrechern], bald wegen verweigerter Abstellung von<br />
Missbräuchen oder schlechten Einrichtungen, bald wegen neuer Maschinerie, bald<br />
aus hundert anderen Ursachen. Diese Strikes sind allerdings erst Vorpostenscharmützel,<br />
zuweilen auch bedeutendere Gefechte; sie entscheiden nichts, aber sie sind<br />
der sicherste Beweis, dass die entscheidende Schlacht zwischen Proletariat und Bourgeoisie<br />
herannaht. Sie sind die Kriegsschule der Arbeiter, in der sie sich auf den<br />
großen Kampf vorbereiten, der nicht mehr zu vermeiden ist […] [A]lle Arbeiter der<br />
Städte und der ländlichen Industrie [haben] sich zu Assoziationen vereinigt […].<br />
Und als Kriegsschule sind sie von unübertrefflicher Wirkung. 4<br />
Auffällig hier: Für Engels waren sowohl die Streiks, als auch die aus ihnen hervorgehenden<br />
Gewerkschaften »Kriegsschulen« für die Arbeiter. Er machte überhaupt<br />
keinen Unterschied zwischen Aktion und Organisation. Gewerkschaften<br />
entstanden aus der unmittelbaren Notwendigkeit, den Kampf zu organisieren,<br />
und waren untrennbar mit ihm verbunden.<br />
4<br />
Engels, MEW Bd. 2, S. 441.
Gewerkschaften bei Marx und Engels 105<br />
Marx griff Engels’ Beitrag auf und begann in seinen ersten Studien über<br />
Lohnarbeit und Kapital die Herausbildung von Gewerkschaften als eine ökonomische<br />
Notwendigkeit im Kapitalismus zu beschreiben. Der Klassengegensatz<br />
von Kapital und Arbeit beruhe darauf, dass Lohn und Profit in einem antagonistischen<br />
Verhältnis zueinander stehen. Aus dem Kampf um die Erhöhung oder<br />
Verminderung des Lohnes folgt unweigerlich die Bewegung zur Bildung von Arbeiterassoziationen,<br />
damals auch Koalitionen genannt.<br />
Der Kapitalismus erzeugt fortwährende Konkurrenz unter den Arbeitern, aber<br />
die Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung des Arbeitslohns drängt die Arbeiter<br />
im Gegenzug zur Einheit gegenüber den Unternehmern: »Die Großindustrie<br />
bringt eine Menge einander unbekannter Leute an einem Ort zusammen. Die<br />
Konkurrenz spaltet sie in ihre Interessen; aber die Aufrechterhaltung des Lohnes,<br />
dieses gemeinsame Interesse gegenüber ihrem Meister, vereinigt sie in einem gemeinsamen<br />
Gedanken des Widerstandes – Koalition. So hat die Koalition stets<br />
einen doppelten Zweck, den, die Konkurrenz der Arbeiter unter sich aufzuheben,<br />
um den Kapitalisten allgemeine Konkurrenz machen zu können.« 5<br />
Das heißt: Die Arbeiterklasse ist - anders als die Ausgebeuteten früherer Jahrhunderte<br />
- nicht nur zu kollektiver Aktion fähig. Sie ist sogar gezwungen, kollektiv<br />
zu agieren, will sie ihre materiellen Interessen verteidigen. Ihre Abwehrkämpfe<br />
tragen den Keim einer solidarischen Gesellschaft in sich. Diese Einsicht elektrisierte<br />
die jungen Revolutionäre Engels und Marx.<br />
Gegenüber jenen, die das Kleinklein von Kämpfen um die Lohnhöhe in Frage<br />
stellten, argumentierten sie: Wenn die Arbeiter einer Fabrik oder einer Branche<br />
nicht in der Lage sind, zu einem gemeinsamen Vorgehen um ihre unmittelbaren<br />
Interessen zu kommen, wie sollte dann der Kapitalismus als Ganzes revolutioniert<br />
werden können? Solidarität fällt weder vom Himmel, noch entsteigt sie den<br />
Büchern von Gelehrten. Kollektive Solidarität als Gegenprinzip zum individuellen<br />
Egoismus muss aufgebaut werden. Die Organisierung in der Gewerkschaft<br />
ist Ausdruck dieses elementaren Impulses. Sie ist der erste Schritt, um sich als<br />
Klasse zu finden.<br />
1847 veröffentlichte Marx Das Elend der Philosophie, eine Polemik gegen Proudhon,<br />
einen Begründer des Anarchismus. Proudhon lehnte Klassenkampf und<br />
Gewerkschaften als irrelevant ab. Marx begrüßte dagegen die Bildung von Koalitionen,<br />
das heißt Gewerkschaften, als Voraussetzung zur Überwindung der Zersplitterung<br />
der Arbeiterklasse: »Die ersten Versuche der Arbeiter, sich untereinander<br />
zu assoziieren, nehmen stets die Form von Koalitionen an.« 6<br />
Aus dem Kampf um Löhne wird rasch ein politischer Konflikt, da er die Frage<br />
nach Organisationsfreiheit aufwirft: »Wenn der erste Zweck des Widerstands nur<br />
5<br />
Marx, »Das Elend der Philosophie«, MEW, Bd. 4, S. 180.<br />
6<br />
Marx, MEW, Bd. 4, S. 180.
106 Gewerkschaften bei Marx und Engels<br />
die Aufrechterhaltung der Löhne war, so formieren sich die anfangs isolierten<br />
Koalitionen in dem Maß, wie die Kapitalisten ihrerseits sich behufs der Repression<br />
vereinigen zu Gruppen, und gegenüber dem stets vereinigten Kapital wird die<br />
Aufrechterhaltung der Assoziationen notwendiger für sie als die des Lohnes. In<br />
diesem Kampf – ein veritabler Bürgerkrieg – vereinigen und entwickeln sich alle<br />
Elemente für eine kommende Schlacht. Einmal auf diesem Punkte angelangt,<br />
nimmt die Koalition einen politischen Charakter an.« 7<br />
Dass der Lohnkampf eine Quelle des Klassenbewusstseins darstellt und damit<br />
erstmals in der Geschichte die Voraussetzung für die Überwindung der Klassengesellschaft<br />
schafft, formuliert Marx wenige Jahre später. Im Sommer und<br />
Herbst 1853 überrollte eine neue Streikwelle Großbritannien. Unterschiedlichste<br />
Teile der Arbeiterklasse gingen in den Ausstand, waren es arme Mietkutscher,<br />
Bergarbeiter in Nordengland, Werftarbeiter an der Themse oder, fast schon<br />
selbstverständlich, die Arbeiter der Textilindustrie im ganzen Land.<br />
Marx betonte, dass die Streiks ihre Wirkung nicht verfehlten. Das erste Mal seit<br />
Jahrzehnten verbesserte eine ganze Generation wenig ausgebildeter oder ungelernter<br />
Arbeiter ihre soziale Position. Hintergrund war eine Veränderung im<br />
Gleichgewicht der Klassenkräfte: Eine Auswanderungswelle nach Amerika hatte<br />
den Arbeitsmarkt ausgedünnt und ein anhaltender wirtschaftlicher Aufschwung<br />
machte die Ware Arbeitskraft zusätzlich wertvoll. Die Angst vor Arbeitslosigkeit<br />
sank und das gestärkte Selbstbewusstsein konnte in Kampfkraft übersetzt werden.<br />
Marx beobachtete: »Die ständigen Erfolge dieser Streiks trugen zu ihrer<br />
Verbreitung über das ganze Land bei […]« 8 Und mit ihnen entwickelten sich<br />
auch die Koalitionen der Arbeiter »rapide und in einem beispiellosen Ausmaße.« 9<br />
Doch dabei würde es nicht bleiben. Im Kapitalismus wechseln Boom und Krise<br />
einander ab und die nächste wirtschaftliche Depression ließe nicht lange auf<br />
sich warten. Die Arbeiter würden bald »ihre ganze Schwere zu verspüren bekommen«<br />
und dann »sehr aussichtslos gegen Lohnherabsetzungen zu kämpfen haben«.<br />
»Doch dann«, so Marx’ Hoffnung, »wird ihre Aktivität bald auf die politische Ebene<br />
übergreifen, wobei die in Streiks geschaffenen neuen Gewerkschaftsorganisationen<br />
für sie von unschätzbaren Wert sein werden.« 10<br />
Hier wird deutlich: Für Marx erschöpft sich die Bedeutung der Lohnkämpfe<br />
nicht in ihren unmittelbaren Ergebnissen. Aus ihnen gewinnen die Arbeiter<br />
Kraft und das Bewusstsein, zu einer starken Klasse zu gehören. Die aus dem<br />
Steigen und Fallen der Arbeitslöhne fortwährend resultierenden Konflikte, so<br />
Marx, halten »den Kampfgeist der Arbeiterklasse lebendig« und führen dazu,<br />
7<br />
Marx, MEW, Bd. 4, S. 180.<br />
8<br />
Marx, in der New-York Daily Tribune vom 17. Oktober 1853, MEW, Bd. 9, S. 345.<br />
9<br />
Marx, Tribune vom 14. Juli 1853, MEW, Bd. 9, S. 169.<br />
10<br />
Marx, Tribune vom 17. Oktober 1853, MEW, Bd. 9, S. 346.
Gewerkschaften bei Marx und Engels 107<br />
dass sie »in einer einzigen großen Vereinigung gegen die herrschende Klasse« zusammengefasst<br />
blieben. Sie halten die modernen Industriearbeiter davon ab, »zu<br />
Mitleid heischenden, gedankenlosen, mehr oder weniger gut genährten Produktionsinstrumenten<br />
zu werden […] Um den Wert von Streiks und Koalitionen richtig<br />
zu würdigen, dürfen wir uns nicht durch die scheinbare Bedeutungslosigkeit<br />
ihrer ökonomischen Resultate täuschen lassen […]« Ohne den ständigen Kampf<br />
der Arbeiter gegen die Fabrikanten »würde die Arbeiterklasse Großbritanniens<br />
und ganz Europas eine niedergedrückte, charakterschwache, verbrauchte, unterwürfige<br />
Masse sein, deren Emanzipation aus eigener Kraft sich als ebenso unmöglich<br />
erweisen würde wie die der Sklaven des antiken Griechenlands und<br />
Roms.« 11<br />
Lohnkampf und Gewerkschaften als Teil des kapitalistischen<br />
Systems<br />
Im Zusammenhang mit der Lohnbewegung von 1853 ging Marx auch auf die<br />
rein ökonomische Seite des Lohnkampfes ein. Wissenschaftlich gesprochen hätten<br />
»die Arbeiter ihre eigene Methode vorgezogen [..], um das Verhältnis zwischen<br />
Nachfrage und Zufuhr [ihrer Arbeitskraft] zu untersuchen, anstatt den eigennützigen<br />
Versicherungen ihrer Unternehmer Glauben zu schenken[..] Unter<br />
gewissen Umständen gibt es für den Arbeiter keine andere Möglichkeit festzustellen,<br />
ob er nach dem wahren Marktwert seiner Arbeit bezahlt wird oder nicht,<br />
als in den Streik zu treten oder damit zu drohen […] Tatsache ist, dass die Arbeiter,<br />
wie gewöhnlich, zu spät merkten, dass der Wert ihrer Arbeit bereits vor vielen<br />
Monaten um 30 % gestiegen war.« 12<br />
Hier wird deutlich: Auch wenn die Gewerkschaften und der Lohnkampf wie<br />
eine »Kriegsschule« der Arbeiterklasse funktionieren, auch wenn die Ideologen<br />
des freien Marktes gegen gewerkschaftliche Kämpfe als einen organisierten Angriff<br />
auf die Eigentumsrechte der Unternehmer wettern, so stellen sie doch keinen<br />
Eingriff wider die Marktgesetze dar. Vielmehr stellen sie sicher, dass die<br />
Ware Arbeitskraft überhaupt erst entsprechend ihrem Wert entlohnt wird. Denn<br />
der einzelne Arbeiter kann den Kapitalisten nicht dazu zwingen, den Preis zu<br />
zahlen, den seine Arbeitskraft wert ist, da dieser die Konkurrenz der Arbeiter untereinander<br />
auf dem Arbeitsmarkt ausnutzt, um den Lohn fortwährend zu<br />
drücken, gegebenenfalls auch unter die Schwelle des physischen Existenzminimums.<br />
Diese Widersprüchlichkeit des gewerkschaftlichen Kampfes, der auf der<br />
einen Seite die allseitige, freie Konkurrenz aufhebt, und damit nach Engels »die<br />
ganze bestehende Einrichtung der Gesellschaft« an ihrem »wundesten Fleck an-<br />
11<br />
Marx, Tribune vom 14. Juli 1853, MEW, Bd. 9, S. 170.<br />
12<br />
Marx, Tribune vom 17. Oktober 1853, MEW, Bd. 9, S. 345.
108 Gewerkschaften bei Marx und Engels<br />
greift«, und der auf der anderen Seite doch integraler Bestandteil zur Bestimmung<br />
der Lohnhöhe im Verhältnis zwischen Lohnarbeitern und Kapital bleibt,<br />
erzeugt den »Doppelcharakter« der Gewerkschaften. Sie sind beides – »Ordnungsfaktor<br />
und Gegenmacht«. 13 Sie führen einen Kampf gegen das Lohnsystem<br />
und sind zugleich Teil des Lohnsystems.<br />
Diese Idee entwickelte Marx zum ersten Mal ausführlich im Jahr 1865, als er im<br />
Zusammenhang mit den Aktivitäten der neugegründeten 1. Internationalen Arbeiterassoziation<br />
(IAA) eine Reihe wirtschaftswissenschaftlicher Vorträge hielt,<br />
die später als Lohn, Preis, Profit erschienen. Er begegnete damit den Ausführungen<br />
John Westons, einem Anhänger Owens, wonach der gewerkschaftliche<br />
Kampf zu keinem höheren Lebensstandard der Arbeiter führen könne und deshalb<br />
als irrelevant zu betrachten sei.<br />
Marx widersprach vehement. Er fragte zunächst, aus welcher Ursache Lohnkämpfe<br />
erwachsen und nannte eine ganze Reihe möglicher Auslöser. Sei es die<br />
Anpassung an einen veränderten Wert der Arbeitskraft, sei es als Reaktion auf<br />
inflationären Druck oder konjunkturelle Schwankungen, sei es, um eine der steigenden<br />
Arbeitsintensität entsprechende Lohnerhöhung zu erkämpfen: Immer<br />
geht das »Ringen um Lohnsteigerung nur als Nachspiel vorhergehender Veränderungen<br />
vor sich […], als Abwehraktion gegen die vorhergehende Aktion des Kapitals.«<br />
Abstrahiert man von diesen vorhergehenden Bedingungen, dann »geht<br />
ihr von einer falschen Voraussetzung aus, um zu falschen Schlussfolgerungen zu<br />
kommen.« 14 Kurzum: Lohnsystem und Lohnkampf sind unzertrennlich. Das<br />
eine abschaffen zu wollen, ohne sich auf das andere zu beziehen, ist Träumerei.<br />
Marx betonte, wie bei allen anderen Waren auch werde sich der Marktpreis der<br />
Ware Arbeit auf Dauer ihrem Wert anpassen. Aber die Wertbestimmung der Arbeit<br />
ist aufgrund ihrer eigentümlichen Merkmale kompliziert. Ihr Wert beinhaltet<br />
neben rein physischen Elementen ein historisch-gesellschaftliches Element,<br />
»einen traditionellen Lebensstandard« in dem jeweiligen Land, »entspringend aus<br />
den gesellschaftlichen Verhältnissen, in die Menschen gestellt sind und unter denen<br />
sie aufwachsen.« 15 Dieses historische oder gesellschaftliche Element kann in<br />
unterschiedlichem Maße in den Wert der Arbeitskraft eingehen, deshalb sind die<br />
Standardlöhne in verschiedenen Epochen und Ländern variable Größen. Der<br />
Wert der Ware Arbeitskraft ist nicht naturgegeben und nach abstrakten Formeln<br />
zu berechnen, sondern elastisch. In einem gewöhnlichen Industrieland zählen<br />
13<br />
So die Formulierung von Rainer Zoll, der in den 1970er Jahren eine gelungene Arbeit zur »Aktualität<br />
der Marxschen Gewerkschaftstheorie« vorgelegt hat, siehe: Rainer Zoll, Der Doppelcharakter<br />
der Gewerkschaften, Frankfurt 1976 (Suhrkamp). Zoll knüpfte an eine Grundlagenarbeit aus der<br />
Weimarer Republik an: Nelly Auerbach, Marx und die Gewerkschaften, Berlin/Leipzig 1922 (Vereinigung<br />
internationaler Verlagsanstalten).<br />
14<br />
Marx, »Lohn, Preis, Profit«, MEW, Bd. 16 S. 146 f.<br />
15<br />
Marx, MEW, Bd. 16, S. 148.
Gewerkschaften bei Marx und Engels 109<br />
heute ein Telefon und ein Fernseher zum Existenzminimum eines Arbeiters,<br />
während es im 19. Jahrhundert überhaupt noch keine elektrischen Haushaltsgeräte<br />
gab. Aber gehört heutzutage auch eine Urlaubsreise in den Süden zum Existenzminimum,<br />
die in dem Jahreslohn eines Beschäftigten in Deutschland enthalten<br />
sein muss?<br />
Marx fasst den ökonomischen Rahmen zusammen, der dem Lohnkampf zugrunde<br />
liegt: »Was aber die Profite angeht, so gibt es kein Gesetz, das ihr Minimum<br />
bestimmte.« Und umgekehrt, »obgleich wir das Minimum der Arbeitslöhne<br />
feststellen können, [können wir] nicht ihr Maximum feststellen«. Die Fixierung<br />
des Werts der Arbeitskraft »erfolgt nur durch das unaufhörliche Ringen zwischen<br />
Kapital und Arbeit […] Die Frage löst sich auf in die Frage nach dem Kräfteverhältnis<br />
der Kämpfenden.« 16<br />
Dabei blieb Marx aber nicht stehen. Gegenüber den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts<br />
hatte sich das Gewerkschaftertum gewandelt. Der revolutionäre Impuls<br />
des Chartismus war zum Erliegen gekommen. In England waren »New Model<br />
Unions« entstanden, die wesentlich unpolitischer und enger in ihrer Ausrichtung<br />
waren als die Arbeiterassoziationen der chartistischen Ära. Marx ging vor diesem<br />
Hintergrund das erste Mal auf die Schranken gewerkschaftlicher Tätigkeit ein:<br />
Gleichzeitig, und das ganz unabhängig von der allgemeinen Fron, die das Lohnsystem<br />
einschließt, sollte die Arbeiterklasse die endgültige Wirksamkeit dieser tagtäglichen<br />
Kämpfe nicht überschätzen. Sie sollte nicht vergessen, dass sie gegen Wirkungen<br />
kämpft, aber nicht gegen die Ursachen dieser Wirkungen; dass sie zwar die Abwärtsbewegung<br />
verlangsamt, nicht aber ihre Richtung ändert; dass sie Palliativmittel<br />
anwendet, die das Übel nicht kurieren. Sie sollte daher nicht ausschließlich in diesem<br />
unvermeidlichen Kleinkrieg aufgehen, der aus den nie enden wollenden Gewalttaten<br />
des Kapitals oder aus den Marktschwankungen unaufhörlich hervorgeht. […]<br />
Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die<br />
Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer<br />
Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich,<br />
sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden<br />
Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten<br />
Kräfte zu gebrauchen als Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse,<br />
d. h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems. 17<br />
Ökonomischer und politischer Kampf<br />
Als Marx 1865 im Rahmen der IAA die Orientierung der Gewerkschaften auf<br />
die endgültige Abschaffung des Lohnsystems forderte, gab es in keinem Land<br />
eine klar ausdifferenzierte Trennung zwischen Parteien der Arbeiterklasse und<br />
16<br />
Marx, MEW, Bd. 16, S. 149.<br />
17<br />
Marx, MEW, Bd. 16, S. 152.
110 Gewerkschaften bei Marx und Engels<br />
Gewerkschaften. Im Gegenteil. In Deutschland befanden sich viele Gewerkschaften<br />
im Gründungsstadium und die Sozialdemokraten zeitgleich in ihrem Einigungsprozess.<br />
Die sozialdemokratische Partei war nach ihrer Gründung im<br />
Jahr 1875 organisch mit den Gewerkschaften verbunden. Sie verstand sich mehrheitlich<br />
als eine Organisation zum Sturz des Kapitalismus. Marx’ Aussage, dass<br />
die Gewerkschaften als Teil der Gesamtbewegung ihren »Zweck verfehlen«,<br />
wenn sie dieses Ziel aus den Augen verloren, ergab sich vor diesem Hintergrund.<br />
Allerdings entwickelte sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte die Trennung von<br />
politischem und ökonomischem Kampf weiter. In vielen entwickelten Staaten<br />
differenzierte sich die Arbeiterbewegung in einen politischen und einen gewerkschaftlichen<br />
Flügel, während sich viele Gewerkschaften auf den bloßen Tageskampf<br />
beschränkten. Diese Entwicklung war im letzten Viertel des 19. Jahrhundert<br />
verstärkt spürbar. In England allerdings gab es bis in die 1890er Jahre hinein<br />
überhaupt keine Arbeiterpartei. Dies hatte negative Rückwirkungen auf die Gewerkschaftsbewegung<br />
des Landes. Engels setzte sich mit ihr 1881 in vier Artikeln<br />
für die britische Zeitung The Labour Standard auseinander.<br />
Er beginnt dort, wo Marx in Lohn, Preis und Profit endete, dem Wahlspruch der<br />
englischen Arbeiterbewegung der vorangegangenen fünfzig Jahre: »Ein gerechter<br />
Tageslohn für ein gerechtes Tageswerk«. Habe die Losung auch in den Anfangsjahren<br />
noch gute Dienste getan, sei sie nun völlig fehl am Platze. Denn für die<br />
Ökonomen sei eine »gerechte« Entlohnung nicht das, was der Arbeiter darunter<br />
verstehen mag. Engels’ Argumentation konzentriert sich auf drei Punkte:<br />
a) Der Kapitalist kann warten, wenn er sich mit dem Arbeiter nicht über die<br />
»gerechte« Entlohnung einig wird. Schließlich hat er Reichtum angehäuft und<br />
kann von diesem zehren. Der Arbeiter kann nicht warten, da er den Lohn nur<br />
zum unmittelbaren Lebensunterhalt bezogen hat, und deshalb nicht aussetzen<br />
darf.<br />
b) Die kapitalistische Entwicklung schafft fortlaufend ein Heer unbeschäftigter<br />
Arbeiter, eine industrielle Reservearmee. Diese Unbeschäftigten üben permanent<br />
Druck auf die Löhne der beschäftigten Arbeiter aus. Arbeitslosigkeit erweist sich<br />
in jedem akuten Lohnkonflikt überhaupt als der größte Vorteil des Kapitalisten.<br />
c) Schließlich zahlt der Kapitalist die Löhne nur aus jenem Reichtum, den die<br />
Lohnarbeiter selbst geschaffen haben. Somit beinhaltet »Gerechtigkeit« im Kapitalismus<br />
stets, dass das Arbeitsprodukt in Händen jener angehäuft wird, die gar<br />
nicht selbst arbeiten. Ganz gleich wie die Lohnhöhe auch sei: Kapitalismus beruht<br />
auf der Aneignung fremder Arbeit. 18<br />
Engels stellt fest, dass die englischen Gewerkschaften, die Trade-Unions, »jetzt<br />
seit fast sechzig Jahren gegen dieses Gesetz« der »ungerechtesten Teilung des<br />
18<br />
Engels, »Ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tageswerk«, MEW, Bd. 19, S. 248 f.
Gewerkschaften bei Marx und Engels 111<br />
vom Arbeiter geschaffenen Produkts« ankämpfen. »Mit welchem Ergebnis?« Sie<br />
hätten nicht eine einzige Gruppe der Arbeiterklasse über die Lage von Lohnsklaven<br />
erhoben. 19 Deswegen seien die Lohnkämpfe keineswegs nutzlos gewesen, da<br />
das Lohngesetz keine starre Linie ziehe. Die Gewerkschaften versetzen den Arbeiter<br />
überhaupt erst in die Lage, »als eine Macht« mit den Unternehmern zu verhandeln.<br />
Ihr Kampf verletze darum auch nicht die Regeln des Arbeitsmarktes<br />
von Angebot und Nachfrage, sondern bringt diese Regeln erst zur Geltung.<br />
Sonst erhielte der Arbeiter nicht einmal das, was ihnen nach diesen Regeln zusteht.<br />
Im Umkehrschluss heißt das: »Die Trade-Unions greifen demnach nicht das<br />
Lohnsystem an.« 20<br />
Hier wird eine deutliche Verschiebung in der Argumentation gegenüber seinem<br />
Frühwerk deutlich. Engels erkennt wohl die Leistungen der Gewerkschaftsbewegung<br />
auf dem rein ökonomischen Gebiet an. Doch richtet er, in einer Gewerkschaftszeitung<br />
wohl gemerkt, eine scharfe Kritik an die Trade-Unions. Trotz<br />
ständiger Auseinandersetzungen, trotz hohem Verschleiß an Kraft und Geld,<br />
gleicht der Kampf reiner Sisyphusarbeit: »Dann machen die Konjunkturschwankungen<br />
[…] das Errungene im Handumdrehen wieder zunichte.« Und: »Die Arbeiterklasse<br />
bleibt, was sie war […] – eine Klasse von Lohnsklaven. […] Soll dies<br />
das Endergebnis von so viel Arbeit, Selbstaufopferung und Leiden sein? Soll dies<br />
für immer das höchste Ziel der englischen Arbeiter bleiben?« 21<br />
Engels ist sicher, dass sich hierin die Geschichte der Arbeiterbewegung nicht<br />
erschöpft. Der Kampf zwischen den Klassen wird unvermeidlich zum politischen<br />
Kampf. So war es offen zur Zeit des Chartismus, wenn auch deren Kampf<br />
in einer Niederlage endete. »Aber der Kampf hatte auf die siegreiche Mittelklasse<br />
[gemeint: die Bourgeoisie] einen solchen Eindruck gemacht, dass diese seitdem<br />
schon froh war, um den Preis immer neuer Zugeständnisse an das werktätige<br />
Volk einen längeren Waffenstillstand zu erkaufen.« 22<br />
Die herrschende Klasse kenne die Stärke der Gewerkschaften besser als diese<br />
selbst. Dies erkläre die Ausdehnung des Wahlrechts in den 1860er Jahren unter<br />
dem Premierminister Disraeli. Hier hätten sich neue Perspektiven ergeben: »Aber<br />
wir müssen leider sagen, dass die Trade-Unions hier ihre Pflicht als Vorhut der<br />
Arbeiterklasse vergessen haben.« »Widernatürlich« sei, dass die Arbeiter nur<br />
Kleinbürger ins Parlament schickten. Seit nahezu einem Vierteljahrhundert begnügten<br />
sich die Gewerkschaften damit, Anhängsel der liberalen Partei zu sein. 23<br />
19<br />
Engels, »Das Lohnsystem«, MEW, Bd. 19, S. 251.<br />
20<br />
Engels, »Das Lohnsystem«, MEW, Bd. 19, S. 253.<br />
21<br />
Engels, »Die Trade-Unions«, MEW, Bd. 19, S. 257.<br />
22<br />
Engels, MEW, Bd. 19, S. 258.<br />
23<br />
Engels, MEW, Bd. 19, S. 258.
112 Gewerkschaften bei Marx und Engels<br />
Engels schließt seine Artikelserie hoffend und zugleich fordernd: »Neben den<br />
[gewerkschaftlichen] Verbänden in den einzelnen Industriezweigen oder über ihnen<br />
muss ein Gesamtverband, eine politische Organisation der Arbeiterklasse als<br />
Ganzes entstehen […] Die Arbeiterklasse muss begreifen, dass die ganze Tätigkeit<br />
der Trade-Unions in ihrer jetzigen Form nicht Selbstzweck, sondern Mittel<br />
ist, ein sehr notwendiges und wirksames Mittel, aber doch nur eines von verschiedenen<br />
Mitteln zu einem höheren Ziel: der Abschaffung des Lohnsystems<br />
überhaupt.« 24<br />
Bewusstes Eingreifen durch organisierte Sozialisten<br />
Die Tendenz zur Selbstbeschränkung der Gewerkschaften auf den ökonomischen<br />
Tageskampf ist nicht das Ergebnis bloßer Fehler. Sie ergibt sich vielmehr<br />
aus den Bedingungen des Lohnkampfes und dem Wesen der Gewerkschaften<br />
selbst. Bei Engels findet sich in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts ein erster<br />
funktionaler Erklärungsansatz für dieses Phänomen. Er schreibt, »die Kapitalisten<br />
sind immer gut organisiert. In den meisten Fällen brauchen sie keinen formellen<br />
Verband, keine Statuten, keine Funktionäre etc. Ihre im Vergleich zu den<br />
Arbeitern geringe Zahl, der Umstand, dass sie eine besondere Klasse bilden, ihr<br />
ständiger gesellschaftlicher und geschäftlicher Verkehr untereinander machen das<br />
alles überflüssig.« Die »Arbeiter dagegen können von allem Anfang an nicht ohne<br />
starke Organisation mit genau festgelegten Statuten auskommen, die ihren Einfluss<br />
durch Funktionäre und Komitees ausübt.« Schon, weil »die unorganisierte<br />
Arbeiterschaft keine wirksamen Mittel des Widerstands [hat].« 25<br />
Als den Arbeitern unter dem Eindruck eines sich intensivierenden Klassenkrieges<br />
nach 1824 das »Koalitionsrecht« zugebilligt worden war, folgten ausufernde<br />
Schmähungen durch die Fabrikanten und ihre Ideologen. Doch, siehe da: »Sechzig<br />
Jahre Kampferfahrung haben sie etwas einsichtiger gemacht. Die Trade-Unions<br />
sind jetzt eine anerkannte Einrichtung geworden, und ihre Funktion als mitbestimmender<br />
Faktor bei Lohnregelungen ist in demselben Maße anerkannt wie<br />
die Funktion der Fabrikgesetze als bestimmende Faktoren bei der Regelung der<br />
Arbeitszeit.« 26<br />
Noch 1844 hielt Engels es für undenkbar, dass Arbeiterassoziationen mit Ausnahme<br />
von Zeiten »außerordentlicher allgemeiner Aufregung« die Arbeiter einer<br />
ganzen Branche landesweit und dauerhaft organisieren könnten. 27 Dass Engels<br />
vier Jahrzehnte später dann doch die Herausbildung starker, landesweit agierender<br />
Organisationen mit »genau festgelegten Statuten« und »Funktionären« notie-<br />
24<br />
Engels, MEW, Bd. 19, S. 260.<br />
25<br />
Engels, MEW, Bd. 19, S. 256.<br />
26<br />
Engels, MEW, Bd. 19, S. 257.<br />
27<br />
Engels, »Die Lage der arbeitenden Klasse in England«, MEW, Bd. 2, S. 433.
Gewerkschaften bei Marx und Engels 113<br />
ren konnte, sowie die staatliche Anerkennung hinsichtlich der quasi-gesetzlichen<br />
Mitwirkung bei »Lohnregelungen«, ist insofern Ausdruck eines historischen Erfolges.<br />
Die dauerhafte Etablierung gewerkschaftlicher Strukturen zeugt von der<br />
Widerstandsfähigkeit der industriellen Arbeiterklasse. Zugleich aber geht aus dieser<br />
Verfestigung der Gewerkschaftsorganisationen eine Bürokratisierung hervor,<br />
die sie lähmen und ihrem ursprünglichen Ziel entgegenstehen.<br />
Für den Gewerkschaftsfunktionär, der stellvertretend und hauptamtlich für seine<br />
ehemaligen Kollegen die Bedingungen aushandelt, unter denen diese arbeiten,<br />
wird die Gewerkschaftsorganisation vom Mittel zum Zweck. Das erzeugt Ängste<br />
vor zu großen Klassenauseinandersetzungen, die im Falle einer Niederlage den<br />
aufgebauten Apparat schwächen oder gar zerstören können. Hinzu kommt eine<br />
veränderte Haltung gegenüber dem Klassengegner. Je weiter der Funktionär aus<br />
dem unmittelbaren Arbeitsprozess entkoppelt ist, je länger er als Dauerverhandlungspartner<br />
dem Management gegenübersitzt, desto größer wird der Einbindungsdruck.<br />
Die Versuchung wächst, einen Standpunkt im Interesse des jeweiligen<br />
»Gesamtunternehmens« in Konkurrenz zu anderen Unternehmen einzunehmen,<br />
und schließlich auch für die Gesamtheit der einheimischen Unternehmen<br />
gegenüber dem ausländischen Kapital.<br />
Die soziale Funktion des hauptamtlichen Gewerkschaftsfunktionärs besteht in<br />
der Vermittlung an sich. Das erklärt die Verherrlichung des Klassenkompromisses<br />
durch den Apparat, der zugleich stets selbstständige und unkontrollierte Aktivitäten<br />
der von ihm vertretenen Arbeiter fürchtet, da dies seine Existenzberechtigung<br />
in Frage stellt. Arbeitskämpfe sind aus dieser Sicht notwendig, um den Forderungen<br />
Nachdruck zu verleihen. Doch sie dürfen nicht ausufern. Die eigentliche<br />
Auseinandersetzung findet hinter verschlossenen Türen in Verhandlungen<br />
mit den Vertretern der Geschäftsführung statt.<br />
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann sich diese Entwicklung erst<br />
abzuzeichnen. Deutlicher wurde sie in Großbritannien als dem fortgeschrittensten<br />
Industrieland. Zu Lebzeiten hatten Marx und Engels indes kaum die Gelegenheit,<br />
ihre verstreut zu findenden Erklärungsansätze für die Verkrustungen der<br />
britischen Gewerkschaftsbewegung in eine umfassende Theorie zu entwickeln.<br />
Die Herausbildung einer ganzen sozialen Schicht von Bürokraten innerhalb der<br />
Arbeiterbewegung und die daraus erwachsene Theorie von der »Sozialpartnerschaft«<br />
– begleitet von der illusionären Hoffnung auf eine schrittweise Überwindung<br />
der kapitalistischen Gesellschaftsordnung auf dem Weg der parlamentarischen<br />
Reform – nahm erst ihren Anfang.<br />
Aber die Auseinandersetzung mit den Problemen ihrer Zeit verdeutlicht eine<br />
Methode, die uns heute ebenso dienen kann. Insbesondere haben Marx und Engels<br />
die Entwicklung der Gewerkschaften aus den Bedingungen erklärt, unter denen<br />
diese operierten. Auch die Tendenz zur Bürokratisierung ist nicht das Ergeb-
114 Gewerkschaften bei Marx und Engels<br />
nis eines Komplotts, sondern entspringt aus der Natur der Gewerkschaften und<br />
der Beschränktheit ihrer Aufgaben. Führung und Basis stehen dabei nicht in einem<br />
mechanischen Gegensatz, sondern in einem dialektischen Verhältnis zueinander.<br />
Ein entscheidender Faktor in diesem Feld ist das Einwirken politischer<br />
Strömungen.<br />
Engels bemerkte 1878 im Zusammenhang mit der deutschen Gewerkschaftsbewegung:<br />
»Ein großer Vorteil für die deutsche Bewegung ist, dass die Gewerkschaftsorganisation<br />
mit der politischen Organisation Hand in Hand arbeitet. Die<br />
unmittelbaren Vorteile, die die Gewerkschaften gewähren, ziehen viele sonst<br />
Gleichgültige in die politische Bewegung hinein, während die Gemeinsamkeit der<br />
politischen Aktion die sonst isolierten Gewerkschaften zusammenhält und ihnen<br />
gegenseitige Unterstützung gewährleistet.« 28<br />
Engels spricht hier die Frage der Zusammensetzung der Gewerkschaften an.<br />
Es liegt in ihrer Natur, dass sie möglichst viele Arbeiter gewinnen wollen, unabhängig<br />
davon, was diese Arbeiter politisch denken oder ob es sich bei ihnen um<br />
»Gleichgültige« handelt. Insofern kann die Gewerkschaft in Zeiten, in denen die<br />
Mehrheit der Arbeiter nicht revolutionär ist, auch nicht revolutionär aufgestellt<br />
sein. Dieses Manko wurde in Deutschland durch die enge Verzahnung der Gewerkschaften<br />
mit einer revolutionären Strömung unter August Bebel und Wilhelm<br />
Liebknecht kompensiert, die 1869 aus den Gewerkschaften heraus entstanden<br />
und später in der Sozialdemokratischen Partei aufgegangen war. Für Engels<br />
war die bewusste Intervention durch revolutionäre Sozialisten in die Angelegenheiten<br />
der Gewerkschaften ein historischer Vorteil – für beide, für Partei und<br />
Gewerkschaften, im gemeinsamen Interesse.<br />
Doch eine solche Konstellation besteht nicht zu allen Zeitpunkten und an allen<br />
Orten. Insbesondere bestehen in vielen entwickelten kapitalistischen Staaten nur<br />
ausnahmsweise starke revolutionäre Arbeiterparteien, die die Politik der Gewerkschaften<br />
in ihrem Wesen beeinflussen. Das führt dazu, dass Gewerkschaften sich<br />
in der Regel wesentlich auf das beschränken, was ihre Mitglieder unmittelbar<br />
eint, nämlich die Vertretung ihrer materiellen Interessen. Treffend drückte der<br />
russische Revolutionär Leo Trotzki diesen Umstand in den 30er Jahren des 20.<br />
Jahrhunderts so aus: »Die Gewerkschaften umfassen die breitesten Massen der<br />
Arbeiter mit den unterschiedlichsten Niveaus. Je breiter diese Massen sind, umso<br />
näher ist die Gewerkschaft an der Erfüllung ihrer Aufgabe. Aber was die Organisation<br />
in der Breite gewinnt, verliert sie unweigerlich an Tiefe. Opportunistische,<br />
nationalistische, religiöse Tendenzen in den Gewerkschaften und ihrer Führung<br />
drücken die Tatsache aus, dass die Gewerkschaften nicht nur die Vorhut, son-<br />
28<br />
Engels, »Die europäischen Arbeiter im Jahre 1877«, MEW, Bd. 19, S. 120.
Gewerkschaften bei Marx und Engels 115<br />
dern auch ihre schweren Reserven einschließen. Die schwache Seite der Gewerkschaften<br />
kommt also von ihrer starken Seite.« 29<br />
Damit verbunden ist ein weiteres Phänomen – ihre häufig sektionalistische<br />
Ausrichtung. Die englischen Sozialisten Tony Cliff und Donny Gluckstein fassen<br />
es so zusammen: »Da Arbeiter in verschiedenen Branchen unterschiedliche Löhne<br />
verdienen und unter verschiedenen Bedingungen arbeiten, vereinen die Gewerkschaften<br />
Arbeiter in bestimmten Gruppen. In der Folge agieren die Gruppen<br />
getrennt voneinander. Die Geografie des Gewerkschaftertums entspricht der<br />
Geografie des Kapitalismus.« 30<br />
Doch Gewerkschaften sind alles andere als starr. Sie verändern ihren Charakter<br />
je nach den Bedingungen, unter denen sie in operieren. Engels wurde am Ende<br />
seines Lebens in Großbritannien noch Zeuge einer solchen positiven Veränderung.<br />
In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts existierte dort ein ähnliches Parteiensystem<br />
wie in den heutigen USA, wo sich lediglich eine liberal-bürgerliche und<br />
eine konservativ-bürgerliche Partei gegenüberstanden. Engels erklärte Bebel in<br />
einem Brief die Folgen:<br />
Die Gewerkschaften haben den ihnen von Anfang anklebenden Zunftcharakter ruhig<br />
beibehalten und der wird täglich unerträglicher. Ihr glaubt wohl, bei den Mechanikern,<br />
Zimmerleuten, Maurern usw. könne jeder Arbeiter der Branche ohne weiteres<br />
eintreten? Davon ist keine Rede. Wer eintreten will, muss an einen der Gewerkschaft<br />
angehörigen Arbeiter eine Reihe von Jahren (meist 7) attachiert gewesen sein.<br />
Dies sollte die Zahl der Arbeiter beschränkt halten, war aber sonst ganz zwecklos,<br />
außer, dass es dem Lehrmeister Geld eintrug, wofür er tatsächlich nichts leistete […]<br />
[Die Gewerkschaften] kleben an ihrem traditionellen Aberglauben, der ihnen selbst<br />
nur schadet, statt dass sie den Kram abschaffen und dadurch ihre Zahl und ihre<br />
Macht verdoppeln […]« 31<br />
Den letztendlichen Grund für diese Entwicklung erblickt Engels in der weltbeherrschenden<br />
Stellung Englands: Eine »wirkliche allgemeine Arbeiterbewegung<br />
kommt hier – von Unerwartetem abgesehen – nur zustande, wenn den Arbeitern<br />
fühlbar wird, dass Englands Weltmonopol gebrochen. Die Teilnahme an der Beherrschung<br />
des Weltmarkts war und ist die ökonomische Grundlage der politischen<br />
Nullität der englischen Arbeiter. Schwanz der Bourgeois in der ökonomischen<br />
Ausbeutung dieses Monopols, aber immer doch an den Vorteilen derselben<br />
beteiligt, sind sie naturgemäß politisch Schwanz der »großen liberalen<br />
Partei«, die andererseits im kleinen hofiert, Trades Unions und Strikes als berech-<br />
29<br />
Leo Trotzki, Writings 1932/33, New York, 1976; zitiert in: Tony Cliff/Donny Gluckstein, Marxism<br />
and trade union struggle. The general strike of 1926, London 1986 (Bookmarks), S. 30.<br />
30<br />
Tony Cliff/Donny Gluckstein, The General Strike of 1926, S. 26.<br />
31<br />
Engels an August Bebel, 28. Oktober 1885, MEW, Bd. 36 S. 376 f.
116 Gewerkschaften bei Marx und Engels<br />
tigte Faktoren anerkannt, den Kampf um unbeschränkten Arbeitstag aufgegeben<br />
und der Masse der bessergestellten Arbeiter das Stimmrecht gegeben hat. 32<br />
Doch eine unerwartete Entwicklung trat in den Jahren von 1889 bis 1892 ein,<br />
als ganz neue, wesentlich dynamischere Gewerkschaften entstanden. Der »New<br />
Unionism«, in militanten Massenstreiks der Werftarbeiter an der Themse geboren,<br />
sprengte alte Verkrustungen und Vorurteile. Das Eingreifen von Sozialisten<br />
war dabei entscheidend. Das bekannteste Beispiel: Karl Marx’ Tochter Eleanor<br />
erreichte es 1889, in der neu gegründeten Gas Workers’ and General Labourers’<br />
Union eine erste Frauensektion zu gründen.<br />
Engels beschrieb so begeistert wie als junger Mann die Wirkung der neuen Bewegung:<br />
»Dass diese armen, hungernden, niedergebrochenen Geschöpfe, die<br />
sich jeden Morgen Schlachten liefern um den Vortritt zur Arbeit, sich zum Widerstand<br />
zusammentun, mit 40 – 50.000 Mann in den Ausstand treten, praktisch<br />
jeden Zweig im East End, der irgendwie mit der Schifffahrt verbunden ist, nach<br />
sich in den Streik ziehen, über eine Woche ausharren und den reichen und mächtigen<br />
Dockgesellschaften Angst einjagen würden – das ist ein Erwachen, das erlebt<br />
zu haben mir Freude macht.« 33<br />
Fazit<br />
Marx selbst hat seine Ansicht zu den Gewerkschaften am besten zusammengefasst,<br />
als er 1866 in einer Grundlagenschrift für die IAA schrieb:<br />
Das Kapital ist konzentrierte gesellschaftliche Macht, während der Arbeiter nur über<br />
seine Arbeitskraft verfügt. Der Kontrakt zwischen Kapital und Arbeit kann deshalb<br />
niemals auf gerechten Bedingungen beruhen, gerecht nicht einmal im Sinne einer<br />
Gesellschaft, die das Eigentum an den materiellen Mitteln des Lebens und der Arbeit<br />
der lebendigen Produktivkraft gegenüberstellt. Die einzige gesellschaftliche Macht<br />
der Arbeiter ist ihre Zahl. Die Macht der Zahl wird jedoch durch Uneinigkeit gebrochen.<br />
Die Uneinigkeit der Arbeiter wird erzeugt und erhalten durch ihre unvermeidliche<br />
Konkurrenz untereinander.<br />
Gewerksgenossenschaften [gemeint: Gewerkschaften] entstanden ursprünglich<br />
durch die spontanen Versuche der Arbeiter, diese Konkurrenz zu beseitigen oder wenigstens<br />
einzuschränken, um Kontraktbedingungen zu erzwingen, die sie wenigstens<br />
über die Stellung bloßer Sklaven erbeben würden. Das unmittelbare Ziel der Gewerksgenossenschaften<br />
beschränkte sich daher auf die Erfordernisse des Tages, auf<br />
Mittel zur Abwehr der ständigen Übergriffe des Kapitals, mit einem Wort, auf Fragen<br />
des Lohns und der Arbeitszeit. Diese Tätigkeit der Gewerksgenossenschaften ist<br />
nicht nur rechtmäßig, sie ist notwendig. […] [Sie sind,] ohne dass sie sich dessen bewusst<br />
wurden, zu Organisationszentren der Arbeiterklasse geworden […] Wenn die Ge-<br />
32<br />
Engels an August Bebel, 30. August 1883, MEW, Bd. 36 S. 58.<br />
33<br />
Engels, MEW, Bd. 37, S. 266.
Gewerkschaften bei Marx und Engels 117<br />
werksgenossenschaften notwendig sind für den Guerillakrieg zwischen Kapital und<br />
Arbeit, so sind sie noch weit wichtiger als organisierte Kraft zur Beseitigung des Systems der<br />
Lohnarbeit und Kapitalherrschaft selbst.« 34<br />
In der Formulierung, »ohne dass sie sich bewusst wurden«, ist eine doppelte Botschaft<br />
enthalten. Zum einen zeigt die Geschichte der Lohnkämpfe und Gewerkschaften,<br />
dass der Kapitalismus mit seinen Widersprüchen immer wieder spontanen<br />
Widerstand durch die Arbeiterklasse erzeugt, die das Potenzial hat, sich<br />
selbstständig zu befreien. Zum anderen ist in der Formulierung die Aufforderung<br />
zum bewussten Eingreifen implizit.<br />
Der amerikanische Sozialist Hal Draper bezeichnete das Verhältnis zu den Gewerkschaften<br />
treffend als »einen der verlässlichsten Lackmustests hinsichtlich des<br />
wahren Charakters einer gegebenen sozialistischen Strömung«. 35 Jene, die radikale<br />
Programme aufstellen, aber aus welchen Gründen auch immer die solidarische<br />
Interaktion mit den Gewerkschaften verweigern, sehen nur radikal aus. Sie versagen<br />
in der Praxis.<br />
Die Gewerkschaften sind in ihrer Entwicklung ein Kind des Kapitalismus. Ihre<br />
Gestalt hat sich mit ihm seit den Lebzeiten von Marx und Engels wesentlich gewandelt.<br />
Doch deren grundlegende Erkenntnisse behalten ihre Bedeutung für<br />
Linke heute. Die wichtigste Einsicht ist: Gewerkschaften sind mehr als nur einer<br />
von vielen Bündnispartnern. Ihnen kommt als Organisationen der Arbeiterklasse<br />
eine strategische Bedeutung zu. Gewerkschaftliche Kämpfe beginnen bei der<br />
Verteidigung unserer unmittelbaren materiellen Interessen. Sie stellen für viele<br />
Beschäftigte damit den ersten Schritt dar, der sie in eine organisierte Konfrontation<br />
gegen die kapitalistische Klasse bringt. Nur wenn Sozialisten Seite an Seite<br />
mit den Kollegen diesen Schritt gehen, können sie über den zweiten Schritt mit<br />
diskutieren. Erfolg linker Politik beginnt mit dem richtigen Selbstverständnis:<br />
Wir sind Gewerkschaft.<br />
Quellen<br />
Marx, Karl/Engels, Friedrich, Werke, Berlin: Dietz, 1987.<br />
Auerbach, Nelly, Marx und die Gewerkschaften, Berlin/Leipzig 1922 (Vereinigung<br />
internationaler Verlagsanstalten).<br />
Cliff, Tony/Gluckstein, Donny, Marxism and trade union struggle. The general strike of<br />
1926, London 1986 (Bookmarks).<br />
34<br />
Marx, »Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats zu den einzelnen Fragen«<br />
[1867], MEW, Bd. 16, S. 196 f.<br />
35<br />
Hal Draper, »Karl Marx’s Theory of Revolution«, [Volume 2:] »The Politics of Social Classes«,<br />
New York 1978 (Monthly Review Press), S. 83.
118 Gewerkschaften bei Marx und Engels<br />
Draper, Hal, Karl Marx’s Theory of Revolution, [Volume 2:] The Politics of Social<br />
Classes, New York 1978 (Monthly Review Press).<br />
Zoll, Rainer, Der Doppelcharakter der Gewerkschaften, Frankfurt 1976 (Suhrkamp).
Die Arbeiterklasse heute<br />
Nils Böhlke 1<br />
Im Zuge der Debatte um das Grundsatzprogramm der LINKEN gab es zahlreiche<br />
Wortbeiträge, die sich gegen den starken »Erwerbsarbeitszentrierung« richteten<br />
2 . Damit sollte einerseits in Frage gestellt werden, dass die Erwerbsarbeit<br />
maßgeblich für die Stellung ist, die eine große Mehrheit der Gesellschaft im Kapitalismus<br />
einnimmt. Es soll aber auch die Bedeutung der von Erwerbsarbeit<br />
abhängigen Klasse als gesellschaftliches Subjekt zur Veränderung und Überwindung<br />
des Kapitalismus geschmälert werden. Stattdessen setzt beispielsweise<br />
Katja Kipping auf eine Mosaik-Linke 3 oder auch eine Multitude 4 . Das klassische<br />
Proletariat spielt somit höchstens noch eine Neben- oder untergeordnete<br />
Rolle im Kampf für eine bessere Gesellschaft.<br />
Der Mythos vom Ende der Arbeitsgesellschaft<br />
Solche Debatten sind keinesfalls neu. Spätestens seit dem Ende des Zweiten<br />
Weltkriegs wird nicht nur in Deutschland davon gesprochen, dass es keine Klassen<br />
und somit auch keine Arbeiterklasse mehr gäbe oder diese keine so gewichtige<br />
Rolle mehr spielen würden. Stattdessen wird von Schichten, von »Mittel-<br />
1<br />
Der Artikel basiert zum Teil auf einem Aufsatz von Volkhard Mosler 1995: »Arbeiterklasse<br />
Ende oder Wandel?« in: SvU Nr.3.<br />
2<br />
Vgl. u.a.: Kipping, Katja 2010: Nicht auf der Höhe der Zeit (http://www.neues-deutschland.-<br />
de/artikel/173486.nicht-auf-der-hoehe-der-zeit.html); 13 Thesen des »forum demokratischer<br />
sozialismus« (fds) zum Entwurf des Programms der Partei DIE LINKE (http://www.forum-ds.de/article/1928.13_thesen_des_forum_demokratischer_sozialismus_fds_zum_entwurf_des_programms_der_partei_die_linke.html)<br />
3<br />
Der Begriff stammt ursprünglich aus einem Beitrag von Hans-Jürgen Urban aus dem geschäftsführenden<br />
Vorstand der IG Metall. Urban, Hans-Jürgen 2009: Die Mosaik-Linke, Blätter<br />
für deutsche und internationale Politik, 5/2009: S. 71-78 (http://www.blaetter.de/<br />
archiv/jahrgaenge/2009/mai/die-mosaik-linke)<br />
4<br />
Die Multitude ist ein Kunstbegriff der linken Soziologen Michael Hardt und Antonio Negri,<br />
mit dem eine Vielzahl sozialer Bewegungen gemeint ist, die gleichwertig und gleichberechtigt<br />
den Kapitalismus oder zumindest seine Auswirkungen bekämpfen. Vgl.: Hardt, Michael/Negri,<br />
Antonio 2002: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt am Main: Campus und Hardt, Michael/Negri,<br />
Antonio 2004: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. Frankfurt am Main:<br />
Campus
120 Die Arbeiterklasse heute<br />
standsgesellschaften« und ähnlichem gesprochen. In den 1950er Jahren verabschiedete<br />
sich die SPD mit dem »Godesberger Programm« von der Arbeiterklasse,<br />
um eine »moderne Volkspartei« statt eine »Klassenpartei alten Zuschnitts«<br />
sein. Eine Abkehr von der Arbeiterklasse oder auch die Theorie des Endes der<br />
Arbeiterklasse erfreuen sich seit Jahrzehnten anhaltender Popularität. Ob es Helmut<br />
Schelsky mit dem Begriff der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« in den<br />
1950er Jahren 5 oder der französische Sozialist André Gorz mit der Broschüre<br />
»Abschied vom Proletariat« zu Beginn der 1980er Jahre 6 war, immer wieder befand<br />
sich die Arbeiterklasse nach diesen Theorien in Auflösung oder war zu einer<br />
marginalen Größe zusammengeschrumpft. Diese Ideen setzten sich zunehmend<br />
auch in den traditionellen Organisationen der Arbeiterklasse selbst durch. So begannen<br />
die sogenannten »Modernisierer« in der SPD in den 1990er Jahren der<br />
Theorie von der »Zweidrittelgesellschaft« zu folgen, nach der es zwei Drittel der<br />
Bevölkerung relativ gut geht und ein Drittel abgehängt ist. Die Sozialdemokratie<br />
wollte sich vor allem auf das mittlere Drittel konzentrieren, das später zu Schröders<br />
»neuer Mitte« wurde. Von einer gemeinsamen Interessenslage des unteren<br />
Teils der Gesellschaft mit dem mittleren wurde nicht mehr ausgegangen.<br />
Auch in den Gewerkschaften begannen »Modernisierer« ihre Konzentration<br />
fast ausnahmslos auf die kleiner werdenden Stammbelegschaften in den großen<br />
Industriebetrieben zu richten 7 und ansonsten einen Gegensatz zwischen Industrieproletariat<br />
und Angestellten zu sehen. Wobei der Organisationsaufwand zunehmend<br />
auf letztere konzentriert werden sollte.<br />
Vielfach hängen diese Theorien und Einschätzungen damit zusammen, dass<br />
weniger die Rolle des Individuums im Produktionsprozess und die daraus resultierende<br />
Position gegenüber dem Klassenantagonisten im Mittelpunkt der Betrachtung<br />
stand, sondern vielmehr ein idealisiertes Bild des Arbeiters als männlichem<br />
Beschäftigten mit Blaumann und schweren Werkzeugen oder der Arbeiterin<br />
in der Textilfabrik. So wird vielfach in Anlehnung an Marx’ Definition von<br />
Lohnarbeit im Kapital 8 ein Arbeiter nur dann als solcher definiert, wenn er direkt<br />
für die Kapitalisten profitabel ist. Wer die Arbeiterklasse so definiert, wird insbesondere<br />
in den westlichen Industrieländern bei oberflächlicher Betrachtung einen<br />
Rückgang der Arbeiterklasse zu verzeichnen haben.<br />
Für Marx sind das Verhältnis der Menschen zu den Produktionsmitteln und die<br />
Rolle des einzelnen bei der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit entschei-<br />
5<br />
Vgl.: Schelsky, Helmut 1955: Wandelungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung<br />
und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, Stuttgart: Lucius & Lucius<br />
6<br />
Gorz, André 1980: Abschied vom Proletariat, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt<br />
7<br />
Dies hat sich in den letzten Jahren wieder ein wenig verbessert, da erkannt wurde, dass beispielsweise<br />
Leiharbeit einen erheblichen Angriff auf die Stammbelegschaften darstellen kann.<br />
8<br />
»Nur der Arbeiter ist produktiv, der Mehrwert für den Kapitalisten produziert oder zur Selbstverwertung<br />
des Kapitals dient.« K. Marx, Kapital I, MEW 23, 532.
Die Arbeiterklasse heute 121<br />
dend. Entscheidend ist, ob ein Mensch Produktionsmittel besitzt oder nicht, ob<br />
die Person gezwungen ist, ihre Arbeitskraft (an den Kapitalisten) zu verkaufen.<br />
Marx hat somit einen relationalen Klassenbegriff. Das Proletariat definiert sich<br />
bei ihm im (Lohnarbeits-)Verhältnis zum Kapital. Der Arbeiter ist also nicht unbedingt<br />
mit Blaumann und Helm gekleidet. Vielmehr ist jeder, der darauf angewiesen<br />
ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen, um sich und/oder seine Familie<br />
»durchzubringen«, ein Teil der Arbeiterklasse. In diesem Sinn sind auch Ingenieure,<br />
Beamte und andere Berufsgruppen, die sich selber eher als einen Teil des<br />
»Mittelstandes« begreifen, Teil der Arbeiterklasse.<br />
Allerdings darf daraus nicht geschlossen werden, dass automatisch jeder, der<br />
abhängig beschäftigt ist, Teil der Arbeiterklasse ist. Marx rechnet beispielsweise<br />
Juristen und höhere Regierungsbeamte 9 ebenso wie Chauffeure und Gärtner im<br />
Privathaushalt 10 aus der Arbeiterklasse heraus. Dagegen ein Lehrer, eine Pflegekraft<br />
im Krankenhaus und auch Erzieherinnen sind heute notwendiger Teil der<br />
Produktivkraftentwicklung. Staatlich bedienstete und auch höhere Angestellte<br />
können erst dann nicht mehr zur Arbeiterklasse gezählt werden, wenn sie bestimmte<br />
Voraussetzungen erfüllen, wie einen Lohn, der höher ist als der von ihnen<br />
persönlich geschaffene Mehrwert und sie bestimmte Hierachiestufen und<br />
Entscheidungsbefugnisse erreicht haben. Hierauf wird im letzten Abschnitt noch<br />
näher eingegangen.<br />
So definiert ist die Arbeiterklasse keineswegs ein kleiner werdendes Segment<br />
der Gesellschaft. Das Lohnarbeitsverhältnis ist vielmehr verbreiteter als jemals<br />
zuvor in der Geschichte Deutschlands (vgl.: Abb. 1). Gemessen an der Gesamtbevölkerung<br />
ist der Anteil der erwerbstätigen Arbeitnehmer, also der abhängig<br />
Beschäftigten ohne die Selbständigen, seit 1970 von 36,9 auf 45,2 Prozent gestiegen.<br />
Im Zeitraum 1991 bis 2012 hat auch die Zahl der erwerbstätigen Arbeitnehmer<br />
insgesamt zugenommen. 11<br />
9<br />
Vgl. Marx, Karl: Kapital I, MEW 23: 469.<br />
10<br />
Vgl.: Marx, Karl: Kapital II, MEW 24: 481<br />
11<br />
Vgl.: Statistisches Bundesamt <strong>2013</strong>, https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/<br />
LangeReihen/Arbeitsmarkt/lrerw011.html, 19.04.13
122 Die Arbeiterklasse heute<br />
Abb. 1: Erwerbstätige und Arbeitsvolumen in Deutschland 12<br />
Quelle: IAB, Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen<br />
Allerdings hat das Gesamtarbeitsvolumen im gleichen Zeitraum nicht zugenommen.<br />
Es gibt also eine Entkoppelung der Entwicklung der Erwerbstätigen<br />
und der gesamtgesellschaftlich geleisteten Arbeitsstunden. Der Rückgang ist allerdings<br />
bei weitem nicht so dramatisch, dass von einem »Ende der Arbeit« gesprochen<br />
werden könnte. Die Entkoppelung der Zahl der Erwerbstätigen von<br />
der Zahl der geleisteten Arbeitsstunden hängt vor allem damit zusammen, dass<br />
durch die sukzessive verringerten Lohneinkommen heute ein Alleinernährer (es<br />
waren und sind fast ausschließlich Männer) nicht mehr ausreicht, um den erreichten<br />
Lebensstandard zu halten. Vielfach arbeiten Frauen in Teilzeitjobs oder<br />
in »geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen«, um zum Familieneinkommen etwas<br />
beizusteuern. Insbesondere durch die Ausbreitung des sogenannten Niedriglohnsektors<br />
sind auch viele ehemalige Vollzeitstellen in mehrere geringer bezahlte<br />
Teilzeitstellen oder auch in »geringfügige Beschäftigungsverhältnisse« umgewandelt<br />
worden. So ist zwar die Zahl der Erwerbstätigen, nicht aber die Zahl der<br />
Arbeitsstunden gestiegen.<br />
12<br />
Ein Vergleich der Zahl der Arbeitnehmer und der geleisteten Arbeitsstunden vor und nach 1990<br />
ist aufgrund der starken Bevölkerungszunahme durch die Vereinigung nicht aussagekräftig.
Die Arbeiterklasse heute 123<br />
Nun gehört allerdings nicht nur ein beschäftigter Teil zur Arbeiterklasse, sondern<br />
auch ein »überflüssiger« oder arbeitsloser Teil oder, wie Marx es ausdrückt,<br />
die »Reserve. Deshalb werden auch Erwerbslose und Rentner, Studierende und<br />
Schüler dazu gezählt – soweit sie der Arbeiterklasse entstammen – weil sie ihren<br />
Lebensunterhalt auch aus dem Lohn der »aktiven« Arbeiter bestreiten. Insgesamt<br />
machen daher diejenigen, die lohnabhängig sind, eine größer werdende Mehrheit<br />
der Gesellschaft aus.<br />
Abb. 2: Entwicklung der Wirtschaftssektoren in Deutschland<br />
Quelle: Statistisches Bundesamt<br />
Was aber stattgefunden hat, ist eine strukturelle Veränderung. Die Arbeiterklasse<br />
hat nicht an Bedeutung für den Produktionsprozess verloren, aber ihre Zusammensetzung<br />
hat sich verändert. Während der sogenannte primäre Sektor,<br />
also Land- und Forstwirtschaft sowie Fischerei, in Deutschland erheblich an Bedeutung<br />
verloren hat und die Bedeutung des industriellen (sekundären) Sektors<br />
auch abgenommen hat, arbeiten mittlerweile fast 75 Prozent der Erwerbstätigen<br />
in Dienstleistungsberufen (vgl.: Abb. 2).<br />
Die wichtigste Veränderung ist der relative und absolute Rückgang der Zahl<br />
der Arbeiter im sogenannten produzierenden Gewerbe. Die Zahl aller im produzierenden<br />
Gewerbe Beschäftigten fiel allein von 1991 bis 2012 von 14 auf 10,2<br />
Millionen, also um fast 4 Millionen. Anteilmäßig ging ihre Zahl von 36,1 auf 24,7
124 Die Arbeiterklasse heute<br />
Prozent aller Erwerbstätigen zurück. Der Trend der relativen und absoluten Abnahme<br />
der Beschäftigten dieses Wirtschaftsbereichs (»sekundärer Sektor«) ist<br />
nicht neu. 1970 lag der Anteil der im produzierenden Gewerbe Beschäftigten in<br />
Westdeutschland noch bei 46,5 Prozent der Erwerbstätigen. In den Zahlen von<br />
2012 spiegelt sich zwar auch der Zusammenbruch der Industrie in Ostdeutschland<br />
wider, zum anderen aber auch die Massenentlassungen der vergangen Krisen.<br />
Die Unternehmer nutzten ihre Chance, die Ausbeutungsrate zu steigern,<br />
d. h. von weniger Beschäftigten wurden gleich viele oder sogar mehr Güter und<br />
Werte als vor der Rezession hergestellt.<br />
Aber der Beschäftigungsrückgang im produktiven Sektor erscheint weniger<br />
dramatisch, wenn man einen Langzeitvergleich anstellt und die absoluten Zahlen<br />
betrachtet. Noch 1950 lag die Zahl der Industriearbeiter bei gerade einmal 8,4<br />
Millionen. und auch 1960 lag die Zahl bei 12,5 Millionen. und damit auf dem<br />
gleichen Wert wie 1994. Hinzu kommt, dass selbst die heute etwa 10 Millionen<br />
Industriearbeiter aufgrund der Produktivitätsentwicklung ein Vielfaches der Gebrauchswerte<br />
schaffen, die ihre Kollegen in den 1960er Jahren produziert haben.<br />
Somit ist die Zahl der Arbeiter zwar gesunken, ihre »Produktionsmacht« aber gestiegen.<br />
Zudem ist die Zahl der Industriearbeiter nicht ganz in dem Ausmaß gesunken,<br />
wie die hier aufgeführten Zahlen suggerieren. Schließlich sind viele Tätigkeiten<br />
in den Fabriken, die früher von Beschäftigten erledigt wurden, die zu<br />
den Industriearbeitern zählten, heute outgesourct. Diese Tätigkeiten gelten nun<br />
als Dienstleistungen, obwohl sich der Charakter der Arbeit nicht geändert hat.<br />
Die Entwicklung der letzten 25 Jahre scheint daher auf den ersten Blick die<br />
weit verbreitete These zu bestätigten, dass die Industriearbeiterschaft bald nur<br />
noch eine Randgruppe sein wird und dass ein Prozess der Deindustrialisierung<br />
eingeleitet ist. Das ist aber bei genauerer Betrachtung falsch, denn eine Abnahme<br />
der Beschäftigtenzahl ist nicht gleichbedeutend mit einem Schrumpfen der industriellen<br />
Produktion. Entlassungen und Stilllegungen können durch dreierlei<br />
Faktoren bedingt sein: durch einen Rückgang der Produktion, durch Intensivierung<br />
der Arbeit bei stagnierender oder sogar langsam steigender Produktion,<br />
oder als Resultat von Investitionen, die die Arbeitsproduktivität rascher steigen<br />
lassen als die Produktionskapazitäten.<br />
Nur die erste Form berechtigt, von einer Deindustrialisierung zu sprechen. Die<br />
anderen beiden sind mit stagnierender oder sogar steigender Produktion verbunden.<br />
Weniger Menschen produzieren gleich viel oder sogar mehr Güter und Werte.<br />
Diese Unterscheidung ist wichtig. Denn im Fall der Deindustrialisierung verlieren<br />
Arbeiter Macht gegenüber ihren Kapitalisten, in den beiden anderen Fällen<br />
jedoch nicht. Eine kleinere Zahl von Arbeitern kann ebenso viel »Gegenmacht«<br />
ausüben wie eine größere, weil sie eine größere Masse an Gebrauchswerten her-
Die Arbeiterklasse heute 125<br />
stellt. So hat ein durchschnittlicher Beschäftigter im produzierenden Gewerbe<br />
seit 2005 ihr Produktionsergebnis um 13,5Prozent gesteigert. 13<br />
Aber selbst in Branchen mit stagnierender oder abnehmender Produktion<br />
wächst gegebenenfalls die Macht der noch verbliebenen Arbeiter. So schrumpfte<br />
zwar die Produktion im Schiffbau von 1970 bis 1991 um die Hälfte und die Zahl<br />
der dort Beschäftigten ging sogar um 60 Prozent zurück. Weil aber die restlichen<br />
40 Prozent auf noch weniger und größere Einheiten konzentriert wurden, wuchs<br />
zugleich die von ihnen hergestellte Masse an Gebrauchswerten. Die Zahl der Industriearbeiter<br />
hat zwar seit 1970 abgenommen, aber jeder einzelne Arbeiter ist<br />
dafür wichtiger geworden als vor zwanzig Jahren.<br />
Vom Ende des »Produktionsparadigmas« kann jedenfalls nicht die Rede sein.<br />
Gerade in den Krisenjahren haben deutsche Industriekonzerne sich auch innerhalb<br />
Europas durchsetzen können. So konnte hier im Gegensatz zu anderen<br />
Ländern der industrielle Anteil an der gesamten Wertschöpfung (Bruttoinlandsprodukt)<br />
bei etwa 22 Prozent gehalten werden 14 . Wenn seit 1950 (49,7Prozent)<br />
der Anteil dennoch zurückgegangen ist, dann nur deshalb, weil der Dienstleistungsbereich<br />
noch schneller gewachsen ist.<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die industrielle Produktion nach wie<br />
vor der Motor der entwickelten deutschen Industriegesellschaft ist.<br />
Nun ist seit einigen Jahren viel vom Ende des Fordismus die Rede, von einer<br />
Krise der industriellen Groß- und Massenproduktion. Ein Element dieser Krise<br />
sei der Rückgang des Großbetriebs und die Rückkehr der Klein- und Mittelbetriebe.<br />
Eine Folge dieser Entwicklung sei der Niedergang der an den Großbetrieb<br />
und die Großproduktion gebundenen Gewerkschaften.<br />
Tatsächlich ist von 1970 bis 1987 in Westdeutschland die Zahl der Unternehmen<br />
mit weniger als 50 Beschäftigten von 1,86 auf 2,06 Millionen. gestiegen und<br />
die Zahl der dort Arbeitenden von rund 8,1 auf 9,6 Millionen. Dagegen sank die<br />
Zahl der Unternehmen mit 50 und mehr Beschäftigten von 43.452 auf 21.021<br />
und der hier Arbeitenden von rund 13,2 auf 12,3 Millionen.<br />
Dieser Trend hat sich aber nach der Vereinigung nicht fortgesetzt. So ist trotz<br />
der höheren Gesamtzahl an Erwerbstätigen die Zahl der Beschäftigten in Unternehmen<br />
mit weniger als 50 Beschäftigten auf 1,95 Millionen gesunken und die<br />
Zahl der dort arbeitenden Menschen auf lediglich 9,9 Mio. gestiegen. Die Zahl<br />
der Unternehmen mit 50 und mehr Beschäftigten stieg dagegen auf 76.610 und<br />
13<br />
Statistisches Bundesamt <strong>2013</strong>: Produzierendes Gewerbe. Indizes der Produktion und der Arbeitsproduktivität<br />
im Produzierenden Gewerbe<br />
(https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/IndustrieVerarbeitendesGewerbe/Ko<br />
njunkturdaten/IndexProduktion2040210132024.pdf?__blob=publicationFile), 10.04.13<br />
14<br />
FAZ vom 22.10.2012, S. 11
126 Die Arbeiterklasse heute<br />
die Zahl der hier Beschäftigten auf 14,4 Millionen. 15 Daher wäre es verfehlt von<br />
einer allgemeinen Krise der industriellen Großproduktion auszugehen.<br />
Gerade im verarbeitenden Gewerbe haben 2009 55,9 Prozent der Beschäftigten<br />
in Unternehmen mit 250 Beschäftigten oder mehr gearbeitet. Das sind etwa<br />
3,7 Mio. Erwerbstätige. In diesen Unternehmen fand 67,6 Prozent der Wertschöpfung<br />
des gesamten Wirtschaftsbereiches statt.<br />
Das von Marx beobachtete Gesetz der Konzentration und Zentralisation wirkt<br />
fort und wird solange anhalten, wie es Konkurrenz zwischen unabhängigen Kapitalisten<br />
gibt, und dieser Zwang wird auch vor den neu entstandenen Dienstleistungszweigen<br />
nicht haltmachen, so wenig wie er vor der Landwirtschaft haltgemacht<br />
hat, die jahrzehntelang als Domäne des Kleinbetriebs galt.<br />
Oft wird der Arbeiter mit der Arbeiterschaft im produzierenden Gewerbe (sekundärer<br />
Sektor) und der Angestellte mit dem Dienstleistungssektor (tertiärer<br />
Sektor) gleichgesetzt. Daraus wird dann geschlossen, dass das Wachstum der<br />
Dienstleistungsbeschäftigung im Vergleich zu den Beschäftigten im industriellen<br />
Sektor einen Rückgang der Arbeiterklasse anzeige. Aber diese Gleichsetzung ist<br />
falsch.<br />
Einige der Dienstleistungsbranchen beschäftigen überwiegend Arbeiter. So<br />
z. B. die Müllabfuhr, Reinigungsdienste, Hafenbetriebe, Fuhrparks, Speditionen<br />
usw. Sie gehören alle zum »tertiären Sektor«, in dem 2012 30,7 Millionen. Erwerbstätige<br />
gezählt wurden. In allen diesen Bereichen besteht ein hoher Anteil<br />
der Beschäftigten aus »traditionellen« Arbeitern.<br />
Offizielle Statistiken weisen für 2010 etwa 8 Millionen Arbeiter in ganz<br />
Deutschland aus, das waren etwa ein Viertel aller Erwerbstätigen, einschließlich<br />
der Selbstständigen. Zwar ist ihre Zahl seit Mitte der 1970er Jahre zurückgegangen,<br />
und ihr relatives Gewicht hat schon seit Beginn der 1930er Jahre abgenommen.<br />
1925 waren 46 Prozent oder 14,7 Millionen aller Erwerbstätigen Arbeiter,<br />
1882 waren es sogar 57 Prozent (9,6 Millionen) gewesen.<br />
Der Rückzug der Arbeiter erscheint dennoch im Langzeitvergleich viel weniger<br />
spektakulär, als es viele Sozialwissenschaftler glauben machen wollen, die in Anschluss<br />
an Gorz vom Verschwinden der traditionellen Arbeiterklasse sprechen.<br />
Deshalb kann auch von einer »Auflösung« des traditionellen gewerkschaftlichen<br />
Arbeitermilieus keine Rede sein. Auch beim Wahlverhalten gibt es nach wie vor<br />
eine klare Tendenz des gewerkschaftlichen Facharbeitermilieus. So wählten bis<br />
2005 mehr als 50 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder die SPD. Deren Anteil<br />
ist zwar 2009 massiv eingebrochen, das lag aber nicht an dem Verschwinden die-<br />
15<br />
Statistisches Bundesamt 2011: Ausgewählte Ergebnisse für kleine und mittlere Unternehmen in<br />
Deutschland 2009 (https://www.destatis.de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/UnternehmenGewerbeanzeigen/KMUDeutschland2009122011.pdf?__blob=publicationFile)<br />
10.04.<strong>2013</strong>
Die Arbeiterklasse heute 127<br />
ser Wählergruppe, sondern daran, dass diese aufgrund der Agenda-Politik entweder<br />
zur LINKEN oder ins Nichtwählerlager überwechselten 16 .<br />
Wie steht es um die Arbeiterklasse heute? Die innere Struktur<br />
der Arbeiterklasse<br />
Auch wenn die Arbeiterklasse heute noch genauso existiert wie vor 50 oder 100<br />
Jahren, hat sich ihre innere Struktur massiv gewandelt. Zunächst hat die gesellschaftliche<br />
Bindekraft eines Berufes stark abgenommen. Während es vor 50 Jahren<br />
üblich war, dass ein junger Mensch mit 15 Jahren einen Beruf erlernte und<br />
diesen in Vollzeit und tariflich abgesichert bis zu seiner Rente ausübte, ist dies<br />
heute für viele eine ferne Utopie. Zwar beträgt heute ebenso wie vor zehn Jahren<br />
die durchschnittliche Beschäftigungsdauer etwa 10 Jahre. Bei den Jüngeren sieht<br />
die Situation etwas anders aus. Während früher die durchschnittliche Beschäftigungsdauer<br />
der Unter-30-Jährigen 800 Tage betrug, hat sich diese Zahl um etwa<br />
25 Prozent verringert. Ab dem Geburtenjahrgang 1977 liegt die durchschnittliche<br />
Beschäftingungsdauer der Unter-30-Jährigen nur noch bei 600 Tagen. 17<br />
Insgesamt ist die Erwerbsbiographie vieler Menschen immer stärker von einer<br />
sogenannten »Prekarisierung« geprägt. Nicht nur die langfristige Bindekraft der<br />
Berufe, sondern auch deren Qualität hat sich verändert. Insbesondere die Teilzeitbeschäftigung<br />
hat in den letzten Jahren massiv zugenommen. Darunter hat<br />
sich vor allem auch die Zahl der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse gesteigert.<br />
Darüber hinaus gibt es heute eine zunehmende Zahl der Beschäftigten, die<br />
nur noch über eine Leiharbeitsfirma eine Anstellung findet (Vgl. Abb. 3). Zuletzt<br />
nahmen zudem auch die Berichte über Werkverträge als neue Form der unsicheren<br />
Arbeit zu.<br />
16<br />
einblick 17/2009 (http://einblick.dgb.de/themen/++co++eff3361c-e21d-11e1-ac87-00188b4dc422),<br />
10.04.<strong>2013</strong><br />
17<br />
IAB 2011: Zahlen zum Thema »Auslaufmodell Normalarbeitsverhältnis?«, (http://www.iab.de/<br />
1406/view.aspx), 12.04.13
128 Die Arbeiterklasse heute<br />
Abb. 3: Die Normalarbeitsverhältnisse befinden sich auf dem Rückzug<br />
Quelle: Keller, Schulz, Seifert 2012, Hans-Böckler-Stiftung 2012<br />
All diese Beschäftigungsformen werden in der Regel als »prekäre Beschäftigungsformen«<br />
bezeichnet. Durch sie nimmt die Unsicherheit unter den betroffenen<br />
Beschäftigten selber, aber auch bei den sogenannten »Stammbelegschaften«<br />
zu, also den immer noch mehrheitlich vorhandenen Beschäftigten, die Vollzeit<br />
und unbefristet einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbsarbeit nachgehen.<br />
Letztere spüren direkt, dass sich ihre Position schwächt, wenn die Belegschaften<br />
aufgrund unterschiedlicher Ausgangssituationen nicht so leicht gemeinsam gegen<br />
Angriffe der Unternehmensleitungen in Stellung gebracht werden können. Gera-
Die Arbeiterklasse heute 129<br />
de auch deshalb hat sich die IG Metall mit einer millionenschweren Kampagne<br />
gegen Leiharbeit gewendet.<br />
Besonders betroffen von den »prekären Beschäftigungformen« sind Frauen.<br />
Während immer noch etwa zwei Drittel der männlichen Beschäftigten in einem<br />
»Normalarbeitsverhältnis« angestellt sind, sind es gerade einmal 50 Prozent der<br />
Frauen. Dies hängt einerseits mit der Qualität der Anstellungsverhältnisse zusammen,<br />
in denen vornehmlich Frauen beschäftigt sind, und andererseits aber auch<br />
damit, dass nach wie vor das Bild des männlichen »Familienernährers« die Gesellschaft<br />
prägt. Frauen wird nach wie vor eher die Rolle der zuverdienenden<br />
Hausfrau zugeschrieben. Frauen sind in erster Linie in zusätzlich entstandenen<br />
»prekären Beschäftigungsformen« beschäftigt. Diese machen etwa die Hälfte dieser<br />
Jobs aus. Die andere Hälfte hat sich aus einer Umwandlung von Normalarbeitsverhältnissen<br />
in »prekäre Beschäftigungsformen« generiert. Hier sind Migranten<br />
die Hauptbetroffenengruppe.<br />
Abb. 4: Anzahl der Unternehmen mit Firmen-Tarifverträgen<br />
Quelle: BMA-Tarifregister Stand: 31.12.2012<br />
Dennoch machen die Zahlen deutlich, dass immer noch eine deutliche Mehrheit<br />
der Arbeitsverhältnisse sogenannte Normalarbeitsverhältnisse sind und somit<br />
von deren »Ende« nicht die Rede sein kann. Die Tendenz ist jedoch klar. So
130 Die Arbeiterklasse heute<br />
hat sich der Anteil der Beschäftigten in einem Normalarbeitsverhältnis in den<br />
letzten 15 Jahren von knapp 70 auf etwa 60 Prozent reduziert. 18<br />
Mit dieser Entwicklung einher geht die Erosion sowohl der Flächentarifverträge<br />
als auch der grundsätzlichen Tarifbindung von Unternehmen. Während Unternehmen<br />
mit eigenen Firmentarifverträgen noch bis in die 1990er Jahre eher<br />
eine Ausnahme darstellten, hat sich dieses Bild komplett gewandelt (Vgl. Abb. 4).<br />
In vielen Bereichen, wie beispielsweise in der seit dem Ende der 1990er Jahre<br />
wachsenden Informations- und Kommunikationsbranche, fallen lediglich noch<br />
16 Prozent der Beschäftigten und 7 Prozent der Betriebe unter einen Branchentarifvertrag,<br />
während 77 Prozent der Beschäftigten und 92 Prozent der Betriebe<br />
überhaupt keinen Tarifvertrag mehr abgeschlossen haben. 19<br />
Abb. 5: Tarifbindung nach Beschäftigten 1998 – 2011 in Prozent<br />
Quelle: IAB-Betriebspanel<br />
18<br />
Ebd.<br />
19<br />
IAB-Betriebspanel 2011
Die Arbeiterklasse heute 131<br />
Somit nimmt nicht nur die Relevanz von Branchen- oder Flächentarifverträgen<br />
ab, sondern auch die generelle Tarifbindung. Zwar sind immer noch die Mehrheit<br />
der Beschäftigten durch einen Tarifvertrag abgesichert und noch mehr Löhne<br />
von Beschäftigten orientieren sich an Tarifverträgen, aber diese Bindung nimmt<br />
stark ab. So fielen noch 1998 76 Prozent der westdeutschen und 63 Prozent der<br />
ostdeutschen Beschäftigten unter den Geltungsbereich eines Tarifvertrages. In<br />
2011 waren es in Westdeutschland nur noch 61 Prozent und in Ostdeutschland<br />
sind nicht einmal mehr die Hälfte der Beschäftigten im Geltungsbereich eines<br />
Tarifvertrages angestellt (Vgl.: Abb. 5).<br />
Abb. 6: Reale Tariflohn- und Bruttolohnentwicklung<br />
Quelle: WSI-Tarifarchiv <strong>2013</strong>: Statistisches Taschenbuch Tarifpolitik <strong>2013</strong><br />
Diese Entwicklung bewirkt massiven Druck auf die Löhne. Wenn mehr als die<br />
Hälfte der Beschäftigten nicht mehr nach einem Tarifvertrag bezahlt werden, ist<br />
die orientierende Wirkung von Tarifverträgen in vielen Branchen gering. Darüber<br />
hinaus ist es in Krisenzeiten wesentlich einfacher, unternehmerische Verluste direkt<br />
auf die Beschäftigten abzuwälzen, wenn eine tarifliche Absicherung fehlt.<br />
Dadurch sind die Löhne der tariflich abgesicherten Beschäftigten in den letzten<br />
Jahren zwar in der Regel real – also nach Abzug der Inflation – immer noch gestiegen,<br />
da diese Absicherung aber für immer weniger Beschäftigte gilt, sind die
132 Die Arbeiterklasse heute<br />
Löhne aller Beschäftigten in den letzten Jahren fast immer gesunken. In den letzen<br />
13 Jahren gab es lediglich vier Jahre, in denen dies nicht der Fall war (Vgl.:<br />
Abb. 6). 20<br />
Ein weiterer wesentlicher Einflussfaktor auf die derzeitige Konstitution der<br />
Arbeiterklasse ist die in den letzten Jahrzehnten sich verstetigende Massenerwerbslosigkeit.<br />
Während noch bis zur ersten Ölkrise Anfang der 1970er Jahre<br />
Vollbeschäftigung in Deutschland existierte, hat sich dies durch die Krisen der<br />
vergangenen Jahrzehnte massiv gewandelt. Zwar konnte durch die Umwandlung<br />
von Normalarbeitsverhältnissen in mehrere prekäre Beschäftigungsverhältnisse<br />
die Zahl der Erwerbslosen in den letzten Jahren leicht gesenkt werden, aber da<br />
wie in Abb. 1 dargestellt die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden annähernd unverändert<br />
ist, kann dies nicht auf eine tatsächliche Zunahme von Beschäftigung<br />
zurückgeführt werden. Heute sind viele Erwerbsbiografien durch einen ständigen<br />
Wechsel zwischen Erwerbslosigkeit und verschiedenen Formen prekärer Beschäftigung<br />
geprägt. Aktuelle Zahlen belegen, dass lediglich 12,5 Prozent derjenigen,<br />
die irgendwann einmal Grundsicherung bezogen haben, danach mehr als<br />
zwei Jahre ohne Hartz IV auskamen 21 . Erwerbslosigkeit wird so zur Endlosschleife<br />
und für den Einzelnen steigt die Bereitschaft, auch schlechteste Löhne in<br />
Kauf zu nehmen, um nur aus der Situation zu entkommen.<br />
Massenerwerbslosigkeit setzt die Erwerbstätigen unter Druck, weil einerseits<br />
jeder einzelne ständig potenziell ersetzt werden könnte und andererseits viele bereit<br />
sind, schlechtere Löhne in Kauf zu nehmen, um nur nicht erwerbslos zu<br />
werden oder zu bleiben. Dies hemmt Widerstand gegen Angriffe der Unternehmer<br />
auf Arbeits- und Lohnstandards und fördert die Tendenz zur Selbstausbeutung<br />
22 . Dieser Druck verschwindet auch dann nicht, wenn ein sozialversicherungspflichtig<br />
Angestellter mit Vollzeitstelle anstatt durch einen Erwerbslosen<br />
durch einen prekär Beschäftigten ersetzt werden könnte. An der Drucksituation<br />
auf die Beschäftigten hat daher auch der Rückgang der offiziellen Arbeitslosenstatistiken<br />
nichts geändert.<br />
20<br />
Die positive Entwicklung in 2010 ist allerdings nicht auf eine generell bessere Lohnentwicklung<br />
zurückzuführen, sondern vor allem auf das Auslaufen der Kurzarbeit in vielen Betrieben. Dies<br />
hat dazu geführt, dass am Ende des Jahres die Bruttolöhne absolut zwar höher waren als im<br />
Vorjahr, pro Stunde gerechnet gingen die Löhne allerdings um 0,9 Prozent zurück (Vgl.: WSI-<br />
Tarifarchiv <strong>2013</strong>: Statistisches Taschenbuch Tarifpolitik <strong>2013</strong>).<br />
21<br />
Böckler-Impuls <strong>2013</strong>: Ständiger Kampf gegen den Abstieg, 1/<strong>2013</strong>: S. 7<br />
22<br />
Mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit hat die Zahl der stressbedingten psychischen Belastungskrankheiten<br />
zugenommen.
Die Arbeiterklasse heute 133<br />
Abb. 7: Erwerbslosigkeit in Deutschland<br />
Quelle: http://www.pub.arbeitsagentur.de/hst/services/statistik/000000/html/<br />
start/gif/b_alo_zr.shtml<br />
Die Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse, die Erosion der Tariflandschaft<br />
und die Verstetigung der Massenerwerbslosigkeit korrespondiert mit einer<br />
weiteren Entwicklung. Die Betriebslandschaft ist heute nicht mehr vom industriellen<br />
Großbetrieb, sondern von Dienstleistungsbetrieben (vgl. Abb. 2) geprägt.<br />
Auch dies ändert die Position der Arbeiterklasse – muss sie aber nicht zwangsläufig<br />
verschlechtern.<br />
Zunächst muss allerdings festgehalten werden, dass die Zusammensetzung der<br />
Gewerkschaftsmitgliedschaft heute nicht diese beschriebenen Veränderungen widerspiegelt.<br />
»Die Mitgliederstrukturen [entsprechen] längst nicht mehr den veränderten<br />
Produktions- bzw. Beschäftigtenstrukturen, die durch einen wachsenden Anteil
134 Die Arbeiterklasse heute<br />
von Arbeitnehmern in den privaten und öffentlichen Dienstleistungssektoren gekennzeichnet<br />
sind (Prozess der Tertiarisierung der Wirtschaft)« 23 .<br />
Gerade in den Bereichen der neuen Medien und auch in vielen mittlerweile<br />
outgesourcten Bereichen, die ehemals Teil des Öffentlichen Dienstes waren, gibt<br />
es so gut wie keine kollektive Interessenvertretung. Dies verstärkt das Interesse<br />
der einzelnen Unternehmen, tarifvertragliche Auseinandersetzungen auf die betriebliche<br />
Ebene zu holen. Hier stehen betriebliche Interessen im Mittelpunkt der<br />
Diskussion, und ein Lohnkostenwettbewerb zwischen den einzelnen Unternehmen<br />
kann leicht dazu führen, dass vor Ort tariflichen Verschlechterungen zugestimmt<br />
wird, um die Existenz des eigenen Unternehmens nicht zu gefährden.<br />
Und selbst innerhalb der Betriebe wird beispielsweise durch Werkverträge und<br />
Leiharbeit eine weitere Fragmentierung der Beschäftigten geschaffen. Dies kann<br />
dazu führen, dass der einzelne Beschäftigte verunsichert und vereinzelt einem<br />
verästelten Unternehmensgeflecht gegenüber steht. Umgekehrt schafft diese<br />
Entwicklung allerdings auch Möglichkeiten, die in den letzten Jahren immer stärker<br />
ausgenutzt werden. So ist die Produktion innerhalb dieser Unternehmensverflechtung<br />
minutiös aufeinander abgestimmt. Bereits kleine Störungen im Betriebsablauf<br />
können die gesamte Produktion behindern oder sogar lahmlegen.<br />
So reichte beim Streik der Opel-Arbeiter in Bochum eine Arbeitsniederlegung<br />
von wenigen Tagen, um die Produktion in ganz Europa zu gefährden. Einige<br />
Komponenten der Opel-Produktion wurden nur in Bochum hergestellt, und in<br />
keinem der anderen Werke gab es noch ein größeres Lager, da die Produktion<br />
überall auf »just-in-time« umgestellt war. Jedes Werk produziert also genau nach<br />
dem Bedarf und abgestimmt mit den zeitlichen Abläufen der anderen Werke.<br />
Auch im Dienstleistungssektor hat die Umstellung der Arbeitsabläufe neue<br />
Möglichkeiten des Streiks geschaffen. So können neuralgische Punkte in den Unternehmen<br />
dafür sorgen, dass es zu erheblichen finanziellen Auswirkungen kommen<br />
kann. Im Krankenhaussektor reicht beispielsweise ein Ausstand der Dokumentation<br />
oder der Pflegekräfte in den OPs, um die Einnahmen der Kliniken erheblich<br />
zu reduzieren. Im Öffentlichen Personennahverkehr erzielt ein Streik des<br />
Kontrollpersonals eine ähnliche Wirkung.<br />
Einige Berufsgruppen, wie die Ärzte, die Piloten oder auch die Lokführer haben<br />
in den letzten Jahren die erhebliche Verhandlungsmacht, die aus einer solchen<br />
Sonderstellung heraus entsteht, genutzt, um erfolgreiche Streikauseinandersetzungen<br />
zu führen. Dadurch sind auch sogenannte Spartengewerkschaften entstanden,<br />
die sich nur für die speziellen Interessen dieser Berufsgruppen einsetzen.<br />
23<br />
Keller, Berndt 2008: Einführung in die Arbeitspolitik. Arbeitsbeziehungen und Arbeitsmarkt in<br />
sozialwissenschaftlicher Perspektive, 7. völlig überarbeitete Auflage: 53
Die Arbeiterklasse heute 135<br />
Solche Fragmentierungen und Segmentierungen der Arbeiterklasse sind allerdings<br />
ebenfalls keine Neuheiten in der Geschichte des Kapitalismus. In der<br />
Frühphase des Kapitalismus gab es vielfach Frauen- und Kinderarbeit in den Betrieben<br />
mit innerbetrieblichen Lohnunterschieden zwischen 10 und 15 Prozent.<br />
Rund um den Ersten Weltkrieg war die Lohnspreizung zwischen Facharbeitern<br />
und ungelernten Kräften riesig und auch die regionalen Unterschiede waren größer<br />
als heute. Nichtsdestotrotz gibt es eine Segmentierung insbesondere im Bereich<br />
der Angestellten, die aus einer bestimmten Position im Produktionsprozess<br />
hergeleitet werden kann.<br />
Arbeiterklasse, Angestellte und neue<br />
Mittelklassen<br />
Die Zusammensetzung der Arbeiterklasse ist im ständigen Wandel, da die Entwicklung<br />
des Kapitalismus zum ständigen Auf- und Abstieg bestimmter Industrien<br />
führt. Diese ständige Dynamik führt dazu, dass nicht nur immer wieder auch<br />
die Existenz der Arbeiterklasse in Frage gestellt wird, sondern auch das Bewusstsein<br />
der Beschäftigten bisweilen weit hinter den realen Kräfteverhältnissen zurückfällt.<br />
Dies gilt natürlich insbesondere für die unteren Teile der Klasse.<br />
Klaus Dörre hat die Situation im unteren Bereich so beschrieben, dass er von<br />
einer primären und einer sekundären Ausbeutung spricht. 24 Durch Werkverträge<br />
und Leiharbeit wird ein rechtlicher Rahmen geschaffen, der neben der »primären<br />
Ausbeutung«, also der direkten Aneignung des Mehrwerts durch den Kapitalisten,<br />
auch einen »sekundäre Ausbeutung« ermöglicht. Mit »sekundärer Ausbeutung«<br />
ist gemeint, dass durch politisch vermittelten Zwang der Arbeitslohn unter<br />
einen bestimmten Wert gedrückt wird. Sie fühlen sich also nicht nur in einer besonders<br />
schwachen Position – sie sind es objektiv auch. Die schwache Organisation<br />
und die weitgehende Resignation in diesem Bereich verstärkt diese Position<br />
allerdings noch. Es gibt aber Beispiele, wie die streikenden Gebäudereinigerinnen<br />
in 2009 und aktuell der Streik im Wach- und Sicherheitsbereich an den Flughäfen,<br />
die dafür sprechen, dass auch die Situation der Beschäftigten in den untersten<br />
Lohngruppen und mit der geringsten gesellschaftlichen Anerkennung durch<br />
kollektive Aktionen schnell verbessert werden kann.<br />
Etwas anders sieht das bei denen aus, die zwar als »abhängig Beschäftigte« klassifiziert<br />
werden, die aber sowohl von ihrer Stellung in Produktion und Verwaltung<br />
wie auch von ihrem Einkommen nicht zur Arbeiterklasse gehören, sondern<br />
zu einer neuen Mittelklasse.<br />
24<br />
Dörre, Klaus 2010: Landnahme und soziale Klassen. Zur Relevanz sekundärer Ausbeutung, in:<br />
Thien, Hans-Günter (Hrsg.): Klassen im Postfordismus, S. 113-151.
136 Die Arbeiterklasse heute<br />
In den achtziger Jahren haben solche Theorien an Gewicht gewonnen, die in<br />
Anlehnung an den deutschen Soziologen Max Weber Klassenzugehörigkeit aus<br />
den durch Marktchancen vermittelten »Lebensstilen« ableiten, nicht aber aus der<br />
unterschiedlichen Stellung zu den Produktionsmitteln. 25 Diese Tendenz zum<br />
»Subjektivismus«, d. h. die Ausblendung objektiver ökonomischer Strukturen zugunsten<br />
ideologischer Momente der Selbsteinschätzung und der persönlichen<br />
Qualifikation lässt weder die Unterscheidung von einer Klasse »an sich« und »für<br />
sich« zu, wie sie bei Marx zu finden ist, 26 noch erlaubt sie, zwischen falschem und<br />
richtigem, d. h. der objektiven Lage angemessenem Bewusstsein zu unterscheiden.<br />
Nimmt man nicht die Stellung im Produktionsprozess als entscheidendes<br />
Kriterium, um die Stellung einer Berufsgruppe zu charakterisieren, dann kann es<br />
passieren, dass diejenigen Angestellten, die sich nur einbilden, »etwas Besseres zu<br />
sein«, es aber gar nicht sind, mit denen in einen Topfgeworfen werden, die gegenüber<br />
der Masse der Lohnarbeiter wirklich eine herausgehobene Stellung einnehmen.<br />
In den Debatten über die Angestelltenpolitik der Gewerkschaften führt<br />
diese Verwischung tatsächlicher Klassendifferenzen zu dem Versuch, standesbewussten<br />
höheren Angestellten Positionen in den Betriebsräten und in gewerkschaftlichen<br />
Strukturen auf einem silbernen Tablett anzubieten und die gewerkschaftliche<br />
Angestelltenpolitik an deren »individualistischen« Bedürfnissen auszurichten.<br />
Die neue Mittelklasse sind die Schichten höhergestellter und gut bezahlter abhängig<br />
Beschäftigter, die die mittleren Positionen der bürokratischen Strukturen<br />
besetzen, die für den reifen Kapitalismus typisch geworden sind. Sie unterscheiden<br />
sich von den Spitzenbürokraten, die diese Strukturen anführen.<br />
Geschäftsführer, Vorstandsmitglieder und Direktoren von Großkonzernen<br />
zählen nicht zur neuen Mittelklasse. Diese »Top-Manager« sind praktisch nicht<br />
unterscheidbar von den Kapitalisten selbst, sind ebenso wie diese fest auf die<br />
Ausbeutung der Arbeitskräfte orientiert und daher, wie Marx es ausdrückte, »personifiziertes<br />
Kapital«.<br />
Unterhalb der eigentlichen Führungsebene von Vorständen und Geschäftsführern<br />
beginnt die Ebene der neuen Mittelklasse , zu der die Masse der »leitenden<br />
Angestellten« und der AT-Angestellten (Außertariflich Eingestuften) zählen, darüber<br />
hinaus aber auch ein Teil der obersten Gehaltsgruppen der Angestelltentarife.<br />
Die neue Mittelklasse unterscheidet sich auch von der Klasse der Lohnarbeiter,<br />
seien es Angestellte oder Arbeiter. Lohnarbeiter erhalten nicht mehr als den Wert<br />
ihrer Arbeitskraft als Bezahlung, während die Mitglieder der neuen Mittelklasse<br />
25<br />
Vgl.: Weber, Max 2001: Wirtschaft und Gesellschaft – Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen<br />
Ordnungen und Mächte. Teilband 1: Gemeinschaften, MWG 1/22-1: 177ff.<br />
26<br />
Vgl.: Marx, Karl 1847: Das Elend der Philosophie, MEW 4: 180f.
Die Arbeiterklasse heute 137<br />
ein wesentlich höheres Einkommen erhalten, als es dem Wert ihrer Arbeitskraft<br />
entspräche oder sogar als den Wert, den ihre Arbeitskraft schaffen würde, wenn<br />
sie im produktiven Bereich der verarbeitenden Industrie eingesetzt würden. So<br />
können sie sogar an der Ausbeutung der Lohnarbeit teilhaben.<br />
Das bedeutet nicht, dass die neue Mittelklasse sich automatisch mit dem Kapital<br />
identifiziert. Wie das alte Kleinbürgertum von Kleinbesitzern und selbstständigen<br />
Professionen befindet sich die neue Mittelklasse in einer widersprüchlichen<br />
Lage. Sie nimmt eine untergeordnete, abhängige Stellung im System ein. Besonders<br />
in Krisenzeiten besteht für die Mitglieder der neue Mittelklasse das Risiko,<br />
vom Kapital ins soziale Nichts gestürzt zu werden. (Das alte, »besitzende« Kleinbürgertum<br />
riskierte den Bankrott, die neue Mittelklasse den Abstieg durch Verlust<br />
gesellschaftlicher Anerkennung und Privilegien.)<br />
Zugleich gewinnt sie beträchtliche Privilegien, indem sie der herrschenden<br />
Klasse beisteht, die Arbeiterklasse zu kontrollieren und auszubeuten. (Das Kleinbürgertum<br />
beutete teilweise seine eigenen Beschäftigten aus, die neue Mittelklasse,<br />
indem sie hohe Gehälter dadurch »verdient«, dass sie die Notwendigkeiten der<br />
Kapitalakkumulation gegenüber den Lohnarbeitern durchzusetzen hilft.)<br />
Die Grenzen der neuen Mittelklasse können weder nach oben noch nach unten<br />
scharf gezogen werden. Nach oben geht sie in die Klasse der Kapitalisten<br />
über, nach unten in die der Lohnarbeiter. Insofern ist sie wie das alte Kleinbürgertum<br />
keine unabhängige Klasse, sondern eine, die sich hin- und hergedrückt<br />
sieht, je nachdem, woher der Druck kommt.<br />
Trotzdem ist es wichtig, Grenzen zu ziehen. Es macht keinen Sinn, eine Krankenschwester<br />
mit einem Bruttomonatsgehalt von 2.374 Euro (nach sechs<br />
Jahren!) zur neuen Mittelklasse zu zählen, nur weil sie eine Berufsausbildung<br />
(»Profession«) besitzt und »Angestellte« ist. Das gleiche gilt für den Fachlehrer einer<br />
allgemeinbildenden Schule, der mit einem Monatsgehalt von 3.897 Euro (6.<br />
Dienstaltersstufe) im Jahr <strong>2013</strong> nur 1.350 Euro mehr als ein Industriemechaniker<br />
(2.547 Euro) verdient.<br />
Eine sinnvolle Unterscheidung unternimmt das Statistische Bundesamt, welches<br />
aus Analysezwecken fünf »Leistungsgruppen« gebildet hat, um »eine grobe<br />
Abstufung der Arbeitnehmertätigkeiten nach dem Qualifikationsprofil des Arbeitsplatzes«<br />
darstellen zu können. 27 In der Leistungsgruppe 1 finden sich »Arbeitnehmer<br />
in leitender Stellung«. Sie machen 10,5 Prozent der Arbeitnehmer aus<br />
und bekommen monatlich durchschnittlich ein Bruttoverdienst von 6.525 Euro.<br />
Diese wären nicht der neuen Mittelklasse zuzuordnen, sondern die Leistungsgruppe<br />
2, die als »Herausgehobene Fachkräfte« beschrieben wird und folgendermaßen<br />
definiert wird:<br />
27<br />
Statistisches Bundesamt <strong>2013</strong>: Verdienste und Arbeitskosten. Arbeitnehmerverdienste, Fachserie<br />
16. Reihe 2.3, Jahr 2012, Wiesbaden: 279
138 Die Arbeiterklasse heute<br />
Arbeitnehmer mit sehr schwierigen bis komplexen oder vielgestaltigen Tätigkeiten,<br />
für die i. d. R. nicht nur eine abgeschlossene Berufsausbildung, sondern darüber hinaus<br />
mehrjährige Berufserfahrung und spezielle Fachkenntnisse erforderlich sind. Die<br />
Tätigkeiten werden überwiegend selbstständig ausgeführt. Dazu gehören auch Arbeitnehmer,<br />
die in kleinen Verantwortungsbereichen gegenüber anderen<br />
Mitarbeiter(n) Dispositions- oder Führungsaufgaben wahrnehmen (z. B. Vorarbeiter,<br />
Meister). nur eine abgeschlossene Berufsausbildung, sondern darüber hinaus mehrjährige<br />
Berufserfahrung und spezielle Fachkenntnisse erforderlich sind. Die Tätigkeiten<br />
werden überwiegend selbstständig ausgeführt. Dazu gehören auch Arbeitnehmer,<br />
die in kleinen Verantwortungsbereichen gegenüber anderen Mitarbeiter(n) Dispositions-<br />
oder Führungsaufgaben wahrnehmen (z.B. Vorarbeiter, Meister). 28<br />
Zu dieser Leistungsgruppe werden 22,8 Prozent der Beschäftigten gezählt. Ihr<br />
durchschnittliches Bruttomonatsverdienst beträgt 4.116 Euro. Die unteren drei<br />
Leistungsgruppen, die insgesamt 77 Prozent der Arbeitnehmer ausmachen, wären<br />
somit Teil der Arbeiterklasse. Sie werden als »Fachkräfte«, »Angelernte Arbeitnehmer«<br />
und »Ungelernte Arbeitnehmer« überschrieben.<br />
Das bedeutet umgekehrt, dass die Arbeiterklasse sich zwar in den letzten zwanzig<br />
Jahren beträchtlich verändert hat, aber ihr Anteil an der gesamten Bevölkerung<br />
heute mit etwa drei Viertel aller Erwerbstätigen eher größer ist als damals.<br />
Insofern wäre es fahrlässig, wenn DIE LINKE die Arbeiterklasse abschreiben<br />
oder ihre Bedeutung geringschätzen würde. Vielmehr sollte sie ins Zentrum der<br />
strategischen Überlegungen der Partei gestellt werden. Das bedeutet nicht, dass<br />
die Partei ausschließlich ökonomische Themen behandeln sollte, in denen es beispielsweise<br />
um die Verteilung des erarbeiteten Reichtums geht. Es bringt auch<br />
nichts, Themen wie Rassismus, Frauenunterdrückung oder auch das Prekariat zu<br />
negieren oder zumindest als unwichtig abzutun. Diese Themen sollten aber keinesfalls<br />
als isolierte Probleme behandelt werden, die nichts miteinander zu tun<br />
haben. Stattdessen sollten gerade diese Fragen auch aus einer Klassenperspektive<br />
untersucht und auch bekämpft werden. Rassismus ist immer auch ein Ergebnis<br />
der versuchten Spaltung der Arbeiterklasse, um besser nach dem Prinzip »Teile<br />
und Herrsche« eigene wirtschaftliche Interessen durchsetzen zu können. Auch<br />
die Prekarisierung hat nicht nur eine ökonomische Auswirkung. Es ergeben sich<br />
auch demokratische und sozialgesellschaftliche Auswirkungen. Dagegen gemeinsam<br />
mit möglichst der gesamten Arbeiterklasse vorzugehen, sollte das entscheidende<br />
Ziel der LINKEN sein.<br />
28<br />
Ebd.
Globalisierungsmythen und<br />
die »New Economy«<br />
Bill Dunn *<br />
Sozialwissenschaftler und Journalisten werfen schon seit längerem gern mit Begriffen<br />
wie »Globalisierung« und »New Economy« um sich. Dahinter verbirgt<br />
sich oftmals das Argument, die Arbeiterklasse sei tot und damit die Hoffnung<br />
von Marxisten auf ihre Selbstbefreiung begraben. Es liegt nahe, solche Behauptungen<br />
nur als jüngsten Ausdruck antimarxistischer Ideologie abzutun. In der<br />
Tat hegten viele, die das Ende der Arbeiterklasse verkünden, von Anfang an<br />
nur wenig Sympathie für sie.<br />
Aber auch viele antikapitalistische Aktivisten vertreten einen ähnlichen Standpunkt<br />
und machen sich stark für neue Formen und Orte des Widerstands. Hier<br />
treten mancherorts anarchistische Traditionen zutage 1 , aber auch marxistische<br />
Autoren akzeptieren Elemente dieser Perspektive. David Harvey beispielsweise<br />
meint, frühere Formen linker Organisierung seien angesichts des wirtschaftlichen<br />
Wandels »unangemessen«. 2 Neben der Aufgabe, manche ziemlich plumpe<br />
prokapitalistische Propaganda als solche zu benennen, müssen wir die Frage eines<br />
Strukturwandels doch ernst nehmen. Wirtschaftsstrukturen bestimmen<br />
nicht unmittelbar unser Denken und Handeln, aber eine zentrale Annahme des<br />
Marxismus ist, dass der Kapitalismus eine kollektiv ausgebeutete Arbeiterklasse<br />
mit dem einzigartigen Potenzial schafft, sich selbst und die Welt umzugestalten.<br />
Eine grundlegende Umstrukturierung könnte die Handlungsgrundlage und die<br />
Aussicht auf eine solche kollektive Umgestaltung aushöhlen.<br />
Wir haben es mit zwei unterschiedlichen Behauptungen in Bezug auf kapitalistische<br />
Veränderung und die daraus resultierende Schwäche der Arbeiterklasse<br />
zu tun. Zum einen sollen geografische Verschiebungen lokale und nationale Widerstandsstrategien<br />
untergraben haben. Das wirke sich ganz unmittelbar aus,<br />
denn die Mobilität des Kapitals erlaube es ihm, immer billigere Arbeitskräfte zu<br />
*<br />
International Socialist Journal Nr. 121 Frühjahr 2009; ins Deutsche von David Paenson und David<br />
Meienreis.<br />
1<br />
Beispielsweise Hardt und Negri, 2000.<br />
2<br />
Harvey, 2003.
140 Globalisierungsmythen und die »New Economy«<br />
finden und Arbeiter an einem Ort gegen Arbeiter an anderen auszuspielen. Es<br />
wirke sich aber auch mittelbar aus, indem die Fähigkeit von Nationalstaaten, arbeitnehmerfreundliche<br />
und soziale Reformen zu gewähren, ebenfalls untergraben<br />
werde. 3 Vor allem Finanzdienstleistungen könnten einfach an Orte umziehen,<br />
an denen der Staat ihnen eine förderlichere Umgebung bietet. Durch seine<br />
Mobilität sei das Kapital in der Lage, mehr »Wohlfahrt für Unternehmen« herauszuholen,<br />
während die sich daraus ergebenden Lasten auf die ärmsten und am<br />
wenigsten mobilen Menschen, vor allem die Arbeiter, abgewälzt würden. 4 Die<br />
Globalisierung bringe somit Arbeiter an unterschiedlichen Orten in immer schärfere<br />
Konkurrenz zueinander.<br />
Zum anderen wird behauptet, dass der »desorganisierte Kapitalismus« die soziale<br />
Ausdifferenzierung immer mehr verstärke. 5 Neue Technologien, vor allem<br />
im Bereich der Information und Kommunikation, veränderten demnach Unternehmensstrukturen<br />
wie auch die Arbeit an sich. Die riesigen Fabriken des Industriekapitalismus<br />
wichen komplexen Netzwerken kleinerer Firmen, während Wissenstechniken<br />
und die »symbolische Manipulation« physische Arbeit zunehmend<br />
verdrängten. 6 In dieser »New Economy« gehe es manchen Facharbeitern gut,<br />
aber nur als Individuen, nicht als Kollektiv. Andere Arbeitsfelder verlören an<br />
Wert, und die Konkurrenz um immer weniger einfache Tätigkeiten bürde denen<br />
ganz unten immer mehr Leid auf. Auch nüchternere Beobachtungen bezeugen<br />
eine zunehmende Polarisierung innerhalb der Arbeiterklasse, wobei die beiden<br />
Extreme der Qualifikationsskala, die historisch am schwierigsten zu organisieren<br />
sind, sich auf Kosten der Mitte immer mehr ausdehnten. 7<br />
Viele Sozialwissenschaftler haben Karriere gemacht mit der Identifikation und<br />
Etikettierung dieser Veränderungen. Währenddessen vertritt eine Minderheit von<br />
Kritikern den Standpunkt, diese würden überbewertet. Dieses Bild von Veränderung<br />
hat auch seine eigene Geschichte von Kontinuität, historischen Präzedenzen<br />
und gegenwärtigen Vorbehalten. Es gibt keinen absoluten Maßstab, um Veränderung<br />
gegen Kontinuität abzuwiegen, so dass das akademische Karussell sich<br />
munter weiterdrehen darf. Für Marxisten ist die sozialistische Strategie die zentrale<br />
Frage. Wenn die Behauptungen über neue Trends der Globalisierung und<br />
die New Economy dazu beitragen, neue Kampffelder zu identifizieren und alte<br />
auszuschließen, dann sind es nützliche Konzepte. Für viele auf der Linken macht<br />
die Globalisierung den Internationalismus zu einer noch dringlicheren Aufgabe<br />
3<br />
Rowley und Benson, 2000.<br />
4<br />
Frieden, 1991; Strange, 1996.<br />
5<br />
Castells, 1996, 1997 und 2000; Lash und Urry, 1987 und 1994; Murray, 1988; Piore und Sabel,<br />
1984; Hyman, 1992; Reich, 1991.<br />
6<br />
Reich, 1991.<br />
7<br />
Hyman, 1999.
Globalisierungsmythen und die »New Economy« 141<br />
und eine »transnationale kollektive Antwort« zur einzig sinnvollen Option. 8 Derweil<br />
verlange der diffuser gewordene Kapitalismus nach »neuen strategischen<br />
Fantasien« 9 , die über den Arbeitsplatz hinausgreifen und sich Gemeinde- und<br />
Identitätspolitik öffnen oder mit letzteren zumindest Bündnisse schließen, um so<br />
eine soziale Bewegung oder über die Gewerkschaft hinausgreifende Solidarnetzwerke<br />
(»community unionism«) zu gründen. 10 Der vorliegende Aufsatz bestreitet<br />
die Notwendigkeit einer solchen radikalen Neuorientierung und beleuchtet dazu<br />
die Behauptung von Kapitalmobilität und Standortwechsel und deren Einfluss<br />
auf staatliche Handlungsspielräume, Unternehmensrestrukturierungen und Veränderungen<br />
der Arbeitsorganisation.<br />
Grenzen des Standortswechsels<br />
Für viele bedeutet Globalisierung die »manische Logik« eines »Wettrennens nach<br />
unten« von Firmen auf der Suche nach immer billigeren Arbeitskräften. 11 Firmen<br />
»hüpfen und springen« 12 dorthin, wo sie kostengünstigere Arbeitsmärkte finden,<br />
und vernichten reihenweise Jobs in den reichen Ländern. John Holloway drückte<br />
es in einem wichtigen Aufsatz 1995 mit den einprägsamen Worten aus: »Kapital<br />
bewegt sich«. 13 Es liege in seiner Natur, sich zu bewegen – innerhalb von Grenzen<br />
und über sie hinaus. Im Gegensatz zu früheren Gesellschaftssystemen wie<br />
dem Feudalismus sei wirtschaftliche Aktivität nicht mehr ortsgebunden. Dieser<br />
Umstand soll nun durch jüngste Veränderungen eine weitere Dimension erhalten<br />
haben, die die Arbeiterbewegung mit neuen Problemen konfrontiere. 14 Im Extremfall<br />
wird die Wirtschaft als vollkommen »schwerelos« erachtet. Physische<br />
Güter könnten dank der Einführung neuer Transportmittel leichter bewegt werden,<br />
überhaupt wird die Wirtschaft insgesamt weniger »physisch«, und immaterielle<br />
Güter, wozu vor allem Finanzen zählen, bewegten sich vollkommen mühelos<br />
über den Globus. Die Leichtigkeit, mit der materielle Güter bewegt werden, und<br />
der Rückgang der materiellen Wirtschaft werden hier allerdings grob überzeichnet.<br />
15 Wichtiger noch ist, dass der Kapitalismus eine soziale Beziehung ist, die<br />
sich nicht auf physische Dinge reduzieren lässt, so dass Veränderungen in seiner<br />
Mobilität sich nicht aus der physischen Gestalt von Waren herleiten lassen. 16 Da-<br />
8<br />
Tilly, 1995; Mazur, 2000; Radice, 1999.<br />
9<br />
Hyman, 1999.<br />
10<br />
Waterman, 1999; Wills, 2001; Wills und Simms, 2003.<br />
11<br />
Greider, 1997.<br />
12<br />
A Glassman, zitiert in Reich, 1991, S. 121.<br />
13<br />
Holloway, 1995.<br />
14<br />
Ross, 2000.<br />
15<br />
Huws, 1999.<br />
16<br />
Holloway, 1994 und 1995; Fine, 2004; Dunn, 2004.
142 Globalisierungsmythen und die »New Economy«<br />
mit sollen die behaupteten Veränderungen nicht einfach geleugnet werden, vielmehr<br />
geht es darum, sie sorgsam und kritisch abzuwägen.<br />
Die Ausmaße, in denen das Kapital seine Standorte gewechselt hat, haben historisch<br />
stark variiert. Es gab eine frühere Phase der Internationalisierung im 19.<br />
und frühen 20. Jahrhundert. Im Jahr 1914 summierten sich die direkten Auslandsinvestitionen<br />
(FDI – Foreign Direct Investment) Großbritanniens auf 53 Prozent<br />
des Bruttoinlandsproduktes – ein mit der heutigen Zeit vergleichbarer Anteil.<br />
17 Andere Industrieländer wiesen niedrigere Raten aus, aber auch diese wurden<br />
erst in den 1980er und 1990er Jahren übertroffen. Viele multinationale Konzerne,<br />
die für uns heute ein Begriff sind, waren damals schon gut im Rennen.<br />
Zwischen den Kriegen sank die Investitionstätigkeit im Ausland. Und während<br />
der langen Aufschwungphase nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierten sich<br />
die Investitionen lange Zeit auf die Inlandsmärkte der reichen Industrieländer.<br />
Jene FDI, die es gab, gingen vorrangig in andere reiche Länder. Während im Jahr<br />
1914 die Hälfte aller Auslandsinvestitionen in ärmere Länder ging und 1938 sogar<br />
zwei Drittel, waren es 1960 nur noch 20 Prozent. 18 Das Kapital ist in der Tat<br />
stets auf der Suche nach billigeren Arbeitskräften, es gibt aber eine Reihe politischer<br />
und wirtschaftlicher Gründe, warum eine Konzentration von Investitionen<br />
profitabel sein kann und ein Standortwechsel schwierig.<br />
Allein schon die Möglichkeit, den Standort zu wechseln, verleiht natürlich dem<br />
Kapital Macht. 19 Schon in den 1980er Jahren, bevor das Wort Globalisierung in<br />
aller Munde lag, gelang es Managern der US-Automobilindustrie, einen Unterbietungswettbewerb<br />
in Bezug auf Löhne und Arbeitsbedingungen zwischen den<br />
verschiedenen Niederlassungen anzustoßen. Allerdings stieg die Zahl der Beschäftigten<br />
in der Automobilindustrie in den reichen Ländern zwischen 1970 und<br />
2001. 20 Unternehmen malen mit Hilfe ihrer politischen Helfershelfer das Gespenst<br />
der Mobilität an die Wand, um die Arbeiter unter Druck zu setzen oder<br />
Regierungen zu Zugeständnissen zu drängen. Die UNO veröffentlichte 2005<br />
eine Umfrage, in der Unternehmen China als ihr bevorzugtes Ziel für zukünftige<br />
Investitionen nannten. Indien belegte den zweiten Platz und vier weitere arme<br />
Länder befanden sich unter den ersten zehn: Russland an vierter, Brasilien an<br />
fünfter, Mexiko an sechster und Thailand an neunter Stelle. 21 In Wirklichkeit<br />
flossen im darauffolgenden Jahr 66 Prozent aller Auslandsinvestitionen in gestandene<br />
reiche Länder, und lediglich China (an fünfter) und Hong Kong (an<br />
siebter Stelle) fanden sich unter den zehn bevorzugten Zielländern wieder. Russ-<br />
17<br />
Held, McGrew, Goldblatt und Perraton, 1999, S. 275.<br />
18<br />
Kenwood und Loughheed, 1992; Dunning, 1993.<br />
19<br />
Thomas, 1997.<br />
20<br />
Pilat, Cimper, Olsen und Webb, 2006.<br />
21<br />
UNCTAD prospects assessments 2005: www.unctad.org/fdiprospects
Globalisierungsmythen und die »New Economy« 143<br />
land stand erst an elfter, Mexiko an achtzehnter, Brasilien an neunzehnter, Indien<br />
an einundzwanzigster und Thailand an siebenundzwanzigster Stelle. 22 Ein genauer<br />
Blick auf die tatsächlichen Zahlen für Kapitalverlagerungen scheint ein nützlicher<br />
Ausgangspunkt in der Debatte über seine Mobilität zu sein.<br />
Strukturelle Veränderungen finden allerdings in der Tat statt und untermauern<br />
die Argumente zur Globalisierung. Der Welthandel ist zwischen 1973 und 2007<br />
von 519 Milliarden auf zwölf Billionen US-Dollar und der Anteil der so genannten<br />
Entwicklungsländer daran von 24 auf 39 Prozent gewachsen. 23 Die FDI<br />
wuchsen in der Zeit von 1980 bis 2006 von 560 Milliarden auf zwölf Billionen<br />
US-Dollar und ihr Anteil von 5,3 auf beinahe 25 Prozent am weltweiten Bruttoinlandsprodukt.<br />
Der Anteil der ärmeren Länder überstieg wieder die 30 Prozent.<br />
24 Damit einhergehend, aber nicht allein auf die Auslandsinvestitionen zurückzuführen,<br />
stieg der Industrieausstoß in Entwicklungsländern zwischen 1990<br />
und 2005 steil an, nämlich um 75 Prozent, von 19 Prozent auf 30 Prozent der<br />
weltweiten Gesamtproduktion. 25 Diese Übersicht muss allerdings sorgfältig interpretiert<br />
werden.<br />
Erstens entfielen im Jahr 2004 71 Prozent der weltweiten Industrieproduktion<br />
auf die 21 reichsten Länder der Welt, deren Prokopfeinkommen über 20.000 US-<br />
Dollar lag und die zusammengenommen nur 14 Prozent der Weltbevölkerung<br />
beheimaten. 26<br />
Zweitens fielen die sich verändernden Produktionsmuster extrem ungleichmäßig<br />
aus. Lediglich fünf Länder – China und die »asiatischen Tiger« – machten 62<br />
Prozent des Wachstums der ärmeren Länder zwischen 1980 und 2005 aus. 27 FDI<br />
wurden auch nur in einige wenige bevorzugte Gebiete geleitet, vor allem nach<br />
Asien, und es waren in der Regel nicht die mit den niedrigsten Löhnen. Im Jahr<br />
2006 entfiel auf nur fünf Länder – Hong Kong, China, Mexiko, Brasilien und<br />
Singapur – weit über die Hälfte aller FDI in Entwicklungsländer. Afrikas Anteil<br />
lag unter einem Prozent. 28 Ein »Wettrennen nach unten« fand einfach nicht statt.<br />
Der industrielle Aufstieg ärmerer Länder (und der relative Abstieg in vielen rei-<br />
22<br />
Zahlen auf Grundlage von UNCTAD World Investment Report 2007: www.unctad.org<br />
23<br />
WTO »International Trade Statistics« für 2007: www.wto.org. Ihre Definition von Entwicklungsländern<br />
ist eine statische, die mittlerweile ziemlich reiche Länder in Ostasien einschließt. Dafür<br />
hat sie den Vorteil, über längere Zeiträume Vergleiche zwischen gleichbleibenden Gruppen von<br />
Ländern zu ziehen.<br />
24<br />
UNCTAD, World Investment Report 2006: www.unctad.org<br />
25<br />
UNCTAD, Handbook of Statistics 2006–7.<br />
26<br />
Meine Berechnungen auf Grundlage von: United Nations Development Programme Human<br />
Development Report 2006; United Nations Commission on Trade und Development World Investment<br />
Report 2006; World Bank, World Development Report 2006: Equity und Development;<br />
Census, Statistical Abstract of the United States 2008: www.census.gov<br />
27<br />
World Bank, World Development Report 2006: Equity und Development.<br />
28<br />
UNCTAD, World Investment Report 2007.
144 Globalisierungsmythen und die »New Economy«<br />
chen Ländern) spiegelte auch oft Veränderungen innerhalb dieser Länder wider<br />
und nicht einfach eine Produktionsverlagerung von reichen Ländern in ärmere.<br />
Wenn die Produktivität in der verarbeitenden Industrie schneller steigt als im<br />
Dienstleistungssektor (was in der Regel der Fall ist), dann kann der Anteil ersterer<br />
an der Gesamtbeschäftigung sogar bei gleichbleibenden Verbrauchsmustern<br />
schrumpfen. Die Beschäftigtenzahlen in der chinesischen Industrie waren bereits<br />
vor Eintritt der Wirtschaftskrise von 2008 rückläufig. 29 Was die Investitionsquellen<br />
betrifft, dominierten Unternehmen einiger weniger reicher Länder. Das ist im<br />
Hinblick auf die Frage der Deindustrialisierung von Belang. Die Zahlen der<br />
UNO, auch wenn sie das Bild sicherlich überzeichnen, deuten in den 1990er Jahren<br />
auf einen signifikanten Nettokapitalabfluss von zwei Billionen US-Dollar<br />
weg von den reichsten Ländern, vor allem aus Großbritannien, Frankreich und<br />
Deutschland im Umfang von durchschnittlich 3,9, 2,4 und 1,6 Prozent ihrer jeweiligen<br />
Bruttoinlandsprodukte. Das sind beträchtliche Summen, die tatsächlich<br />
für langsames Wachstum und Deindustrialisierung mitverantwortlich sein könnten.<br />
In den USA allerdings, wo die Deindustrialisierung am deutlichsten zutage<br />
trat, beliefen sich die Nettoabflüsse während der 1990er Jahre auf jährlich lediglich<br />
0,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts<br />
kam es dann zu einer leicht rückläufigen Entwicklung mit Nettozuflüssen<br />
in die reichen Länder. 30<br />
Drittens flossen nur etwa 30 Prozent der FDI in die verarbeitende Industrie<br />
insgesamt und nur 8 Prozent in die verarbeitende Industrie ärmerer Länder. Davon<br />
bestand nur ein kleiner Anteil aus gänzlich neuen Investitionen. Im Jahr<br />
2006 gingen 67 Prozent aller FDI in den Aufkauf bestehender Anlagen, und 30<br />
Prozent waren Reinvestitionen von Einnahmen bereits arbeitender Niederlassungen<br />
im Ausland. Somit waren weniger als 3 Prozent wirkliche Neuinvestitionen<br />
»auf der grünen Wiese«. 31 Aber auch wenn man die extrem übertriebenen Gesamtzahlen<br />
heranzieht, bleibt zu vermerken, dass der größte Empfänger von<br />
Auslandsinvestitionen unter den armen Ländern, nämlich China, FDI-Zuflüsse<br />
erhielt, die lediglich 9,2 % der gesamten fixen Kapitalinvestitionen und 3,2 % des<br />
Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2006 ausmachten. 32<br />
Das unterstreicht den vierten Punkt, nämlich, dass das Wachstum ärmerer Länder<br />
nicht zwangsläufig von Investitionen aus den reichen Ländern abhängt. Multinationale<br />
Konzerne setzen oft Subunternehmen ein wie die berüchtigten Aus-<br />
29<br />
UNCTAD, Handbook of Statistics 2006-7; National Bureau of Statistics of China: www.stats.-<br />
gov.cn<br />
30<br />
UNCTAD, World Investment Report 2007. Wie überzeichnet wird an den Endsummen deutlich,<br />
die nahelegen, die Welt hätte in den 1990er Jahren einen Netto-Abfluss von über einer Billion<br />
US-Dollar erfahren. Weltweit sollten sich Nettoflüsse natürlich gegenseitig annullieren.<br />
31<br />
UNCTAD, World Investment Report 2007.<br />
32<br />
UNCTAD, FDI country profiles, 2007: www.unctad.org
Globalisierungsmythen und die »New Economy« 145<br />
beuterbetriebe der Textil- und Bekleidungsindustrie. Die Auswirkung auf reiche<br />
Länder könnte analog sein. Die USA und Großbritannien weisen beide hohe<br />
Handelsbilanzdefizite aus, was von manchen Beobachtern als Jobverlust gebucht<br />
wird. Die meisten Analysen deuten allerdings darauf hin, dass der Handel und<br />
etwaige Handelsbilanzdefizite nur in unerheblichem Maße für die Arbeitslosigkeit<br />
in reichen Ländern verantwortlich sind. 33 Die Arbeitslosenzahlen in den<br />
USA im Jahr 2006 lagen mit knapp über 7 Millionen sowohl relativ als auch absolut<br />
unter denen von 1980 oder 1990, als das Handelsbilanzdefizit im Verhältnis<br />
zum BIP viel niedriger war. 34 Anderswo, bezeichnenderweise in Deutschland und<br />
Japan mit ihren permanenten Handelsbilanzüberschüssen, waren Arbeiter mit<br />
ganz ähnlichen Problemen konfrontiert.<br />
Fünftens schließlich bestand ein enormes Ungleichgewicht zwischen verschiedenen<br />
Industriezweigen. In manchen Sektoren wie Textilien, Bekleidung, Schuhherstellung,<br />
Spielzeugindustrie und Unterhaltungs- und Haushaltselektronik fand<br />
in der Tat eine Abwanderung in ärmere Länder statt. Die Globalisierung kommt<br />
hier als eine Ursache für die Probleme der Arbeiter in reicheren Ländern in Betracht.<br />
Die Bekleidungsindustrie wird als klassisches Beispiel für eine neue internationale<br />
Arbeitsteilung herangezogen, 35 was durch Beispiele von Produktionsverlagerungen<br />
und Massenentlassungen in reichen Ländern in jüngster Vergangenheit<br />
bestätigt wird. Levi Strauss beispielsweise beschäftigte bis zu 28.000<br />
Menschen in den USA, ab 2003 besaß das Unternehmen dort gar keine Produktionsanlagen<br />
mehr. 36 Aber auch diese Entwicklung war alles andere als »global«,<br />
denn 45 Prozent aller Textilexporte wurden von lediglich sieben asiatischen Ländern<br />
bestritten. 37 Und sogar in der Bekleidungsindustrie gab es wichtige Ausnahmen.<br />
Manche Firmen, am bekanntesten das spanische Unternehmen Zara, behielten<br />
konzentrierte Produktionsanlagen innerhalb der eigenen Landesgrenzen.<br />
Italien und Deutschland, mit ihrer Konzentration auf das höhere Marktsegment,<br />
behielten ihren Rang als zweit- bzw. drittgrößter Exporteur von Textilien hinter<br />
China. 38 Eine ähnliche Logik scheint im Bereich der Konsumelektronik zu wirken.<br />
Im Jahr 2006 kamen Mexiko und China für 21 bzw. 17 Prozent aller Exporte<br />
von Fernsehgeräten auf und ließen solche Länder wie die Türkei, Japan, Polen<br />
und die Niederlande mit jeweils 4 Prozent weit hinter sich. 39 Aber auch hier fand<br />
nicht einfach ein Wettrennen nach unten statt. Es gab rationale Beweggründe für<br />
eine Neukonzentration der Produktion. Japanische Firmen, die in China inves-<br />
33<br />
Nayyar, 2007; Rowthorn und Ramaswamy, 1997; Navarro, 2000.<br />
34<br />
Census, Statistical Abstract of the United States 2008: www.census.gov<br />
35<br />
Fröbel, Heinrichs und Kreye, 1980.<br />
36<br />
Dicken, 2007.<br />
37<br />
Comtrade: http://comtrade.un.org<br />
38<br />
Comtrade.<br />
39<br />
Comtrade.
146 Globalisierungsmythen und die »New Economy«<br />
tierten, blieben dort trotz einsetzender Lohnsteigerungen. 40 Daher gibt es auch<br />
in diesen Sektoren Grund, genauer hinzusehen. Diese Sektoren sind wichtig und<br />
stehen im besonderen Maße im Blick der Öffentlichkeit, sie repräsentieren aber<br />
nicht unbedingt einen allgemeinen Trend. 41<br />
Andere Industrien wurden bei weitem nicht im gleichen Ausmaß ausgelagert.<br />
Zwei Drittel aller Autos weltweit werden in lediglich sieben Ländern hergestellt:<br />
Japan, Deutschland, Frankreich, den USA, Korea, Spanien und China. 42 Und<br />
noch während letztgenanntes zu einem Hauptproduzenten aufgestiegen ist,<br />
bleibt es zugleich in hohem Ausmaß Nettoimporteur. Es sind die reichen Länder,<br />
die die Exportmärkte beherrschen. 43 Die Automobilindustrie ist ein klassisches<br />
Beispiel dafür, wie das Kapital erfolgreich Regierungen, auch denen einzelner<br />
US-Bundesstaaten, Bestechungsgelder und enorme Subventionen abtrotzt, bevor<br />
es sich bequemt, innerhalb ihrer Grenzen zu investieren. 44 Wie auch immer, das<br />
Ergebnis ist, dass sogar einige der namhaftesten »globalen« Konzerne im Hinblick<br />
auf ihre Investitionen, ihre Verkaufszahlen und ihre Beschäftigten nach wie<br />
vor mehr national als global sind. General Motors hat zwei Drittel seiner Belegschaft<br />
und seiner Investitionen in den USA, Toyota zwei Drittel seiner Belegschaft<br />
und die Hälfte seiner Investitionen in Japan. 45 Die ausländischen Investitionen<br />
und Belegschaften vor allem US-amerikanischer und europäischer Konzerne<br />
liegen überwiegend in anderen reichen Ländern. Die japanische Automobilindustrie<br />
hingegen investierte weitaus mehr in armen Ländern – 49 ihrer Gesamtinvestitionen<br />
flossen in andere Regionen Asiens. 46 Aber auch Japan bleibt<br />
ein Nettoexporteur von Autos. Die meisten Unternehmen zielen mit ihren ausländischen<br />
Produktionsstätten auf lokale, manchmal auch regionale Märkte.<br />
Trotz verbesserter Transportmöglichkeiten kann es sich nämlich auszahlen, Autos<br />
in relativer Nähe zu den angepeilten Verkaufsmärkten zu produzieren. Autoteile<br />
können weiter entfernt im Rahmen ausgedehnter Netzwerke hergestellt werden,<br />
obwohl auch hier die Ausbreitung von »Just-in-time«-Produktionstechniken<br />
(JIT) gegen eine zu große Entfernung der Lieferanten spricht und die Produktion<br />
zumindest mancher Komponenten wieder am Ort der Endmontage konzentriert<br />
wird.<br />
Andere Waren wiederum besitzen im Verhältnis zu ihrem Wert sehr wenig Gewicht<br />
und können daher leicht transportiert werden. Halbleiterchips sind ein gutes<br />
Beispiel, und die Mikroelektronik wird daher als führende Industrie der Glo-<br />
40<br />
Thun, 2008.<br />
41<br />
Sutcliffe und Glyn, 1999.<br />
42<br />
Dicken, 2007.<br />
43<br />
Comtrade.<br />
44<br />
Dicken, 2007.<br />
45<br />
Dicken, 2007, S. 296.<br />
46<br />
UNCTAD, FDI country profiles, 2005, United States, Japan: www.unctad.org
Globalisierungsmythen und die »New Economy« 147<br />
balisierung angesehen. 47 Im Gegensatz zur Automobilindustrie hat sie kaum eine<br />
Geschichte gewerkschaftlicher Organisierung. Was ihre Industriestruktur angeht,<br />
weist sie allerdings sehr wohl Parallelen zu letzterer auf, und auch hier sind starke<br />
Agglomerationstendenzen zu beobachten. Trotz der Mobilität der einzelnen Produkte<br />
sind Standortwechsel auf nur wenige relativ reiche Länder begrenzt, wobei<br />
zu ihnen auch die vergleichsweise jüngeren Industrieländer Korea und Taiwan<br />
zählen. 48<br />
Bezeichnenderweise sind sogar die Belegschaften im Finanzsektor, dessen<br />
»Produkte« theoretisch grenzenlos mobil sind, nach wie vor sehr stark in reichen<br />
Ländern konzentriert. Das betrifft bei weitem nicht nur die Großstadtmenschen<br />
in New York und der City of London, sondern auch die Routinearbeiter in der<br />
»Produktion«. Die Steueroasen der Offshore-Finanzplätze haben mit der eigentlichen<br />
Arbeitsweise der Industrie nicht viel gemein. Die meisten liegen an Orten<br />
mit geringer Bevölkerung und bieten daher in Bezug auf Beschäftigung keine Alternative<br />
zu den reichen Ländern. Manche Firmen haben sehr öffentlichkeitswirksam<br />
einige Verarbeitungsschritte und Callcenter ins Ausland verlagert, beispielsweise<br />
nach Indien, dies betrifft aber nur einen Bruchteil der Beschäftigung<br />
in diesem Sektor.<br />
Viele andere Industrien sind von Natur aus immobil. Das gilt weitestgehend<br />
für personenbezogene Dienstleistungen – ein Haarschnitt lässt sich schlecht ins<br />
Ausland verlagern –, aber auch für einen Großteil der materiellen Produktion.<br />
Die Bauindustrie ist ein offensichtliches Beispiel. Wenn solche Arbeiter sich<br />
durch die Globalisierung nicht bedroht zu fühlen brauchen, könnten andere, beispielsweise<br />
im Transport- und Kommunikationssektor, sich geradezu besonders<br />
kampfstark fühlen. Selbst eine sehr bekannte Vertreterin einer radikalen Globalisierungssicht,<br />
Susan George, räumt Ausnahmen zum allgemeinen Bild der<br />
Schwäche auf Seiten der Arbeiter ein und zählt beispielsweise die LKW-Fahrer<br />
auf. 49 Sie bieten bedeutende Beispiele für Militanz, beispielsweise während des<br />
UPS-Streiks in den USA im Jahr 1997. Und in jüngster Vergangenheit haben wir<br />
die Arbeitskämpfe der Londoner U-Bahnbeschäftigten erlebt. Aber das Gesamtbild<br />
deutet nicht auf besondere Militanz unter Transportarbeitern oder darauf,<br />
dass sie besondere Vergünstigungen im Vergleich zu anderen Arbeitern genießen.<br />
50 Die Mobilität bzw. Immobilität des Kapitals scheint keinen sonderlichen<br />
Einfluss auf ihre Arbeitsbedingungen zu haben.<br />
47<br />
Henderson, 1989.<br />
48<br />
Dicken, 2007, S. 333.<br />
49<br />
Strange, 1996.<br />
50<br />
Meine Berechnungen auf Grundlage der ILO International Statistics Yearbooks für verschiedene<br />
Jahre, siehe Dunn, 2004.
148 Globalisierungsmythen und die »New Economy«<br />
Schließlich lohnt es sich festzuhalten, dass, obwohl die Argumente bezüglich<br />
des Standortswechsels von Kapital im allgemeinen für gültig erachtet werden, sie<br />
für die Schwächung der Arbeiterseite nur in den reichen Ländern herangezogen<br />
werden. Man sollte zumindest eine Parallelentwicklung in die andere Richtung erwarten,<br />
nämlich, dass eine mächtige Arbeiterklasse dort entstanden ist, wo es zuvor<br />
keine gab. Tatsächlich waren Kapitalinvestitionen in solchen Ländern wie<br />
Brasilien, Südkorea und Südafrika Anlass für eine sehr mächtige gewerkschaftliche<br />
Organisierung in diesen Ländern (mit all den damit zusammenhängenden<br />
Problemen), wo es vor nur wenigen Jahrzehnten noch keine Gewerkschaften<br />
gab. 51 Sie haben auch andernorts, besonders China, enormes Potenzial erreicht.<br />
Kurzum, das Bild einer allumfassenden kapitalistischen Globalisierung weist<br />
Lücken auf, und ein Zusammenhang mit den konkreten Erfahrungen der Arbeiter<br />
lässt sich kaum nachweisen. Das Kapital kann vor hohen Löhnen und Arbeitermilitanz<br />
die Flucht ergreifen – und hat dies in der Vergangenheit auch getan –,<br />
aber in weit geringerem Maß, als es die Vertreter solcher Theorien nahelegen.<br />
Die Schlussfolgerung ist, dass das Widerstandspotenzial »vor Ort« beträchtlich<br />
bleibt.<br />
Der Rückzug des Staats und das »Demokratiedefizit«<br />
Für viele Autoren ist der Abschwung der Arbeiterbewegung ein indirektes Ergebnis<br />
der schwindenden Macht des Staats. Reformen, die auf nationaler Ebene<br />
erkämpft wurden, werden durch die Erosion der Staatsmacht infolge der Kapitalmobilität<br />
wieder untergraben. Es entsteht ein »Demokratiedefizit« und eine<br />
»Aushöhlung« sozialer Absicherungen. 52 Die Schlussfolgerung lautet, dass die<br />
Arbeiterbewegung besser darauf verzichten sollte, in einer Arena um Macht zu<br />
kämpfen, aus der der Staat verschwunden ist, und sich stattdessen auf die globale<br />
Ebene konzentrieren sollte. Es gibt eine reformistische Variante dieser Argumentation,<br />
die solche globalen Institutionen wie die Internationale Arbeitsorganisation<br />
oder (noch eine Spur optimistischer) die Welthandelsorganisation oder aber<br />
die internationale Gewerkschaftsbürokratie als wahrscheinlichen Träger von Veränderung<br />
sieht. 53 Es gibt aber auch radikalere Interpretationen, die auf die Notwendigkeit<br />
verweisen, die Traditionen eines an der Basis verwurzelten Arbeiterinternationalismus<br />
wiederzuentdecken. 54<br />
Es ist wahrscheinlich nicht nötig, allzu lange bei dieser Perspektive zu verweilen.<br />
Die Ausführungen im vorangegangen Abschnitt haben sie zumindest implizit<br />
behandelt. Wenn das Kapital doch nicht so mobil ist wie so oft vorausgesetzt,<br />
51<br />
Moody, 1997.<br />
52<br />
Burnham, 1997. Burnham, sollte angemerkt werden, kritisiert diese Sichtweise.<br />
53<br />
Boswell und Stevis, 1997; Mazur, 2000; O’Brien, 2000; Hughes, 2002.<br />
54<br />
Waterman, 1999; Tilly, 1995; Radice, 1999.
Globalisierungsmythen und die »New Economy« 149<br />
dann gibt es Grund für die Annahme, dass Staaten Widerstand leisten können.<br />
Diese Annahme war oft Gegenstand grundlegender wissenschaftlicher Kontroversen,<br />
obwohl ihre Vertreter wichtige theoretische, historische und zeitgenössische<br />
empirische Argumente ins Feld führen konnten, die dafür sprechen, den<br />
vermeintlichen Rückzug des Staats in den Bereich der Mythologie zu verbannen.<br />
55 Diese »skeptischen« Gegenargumente haben zuweilen einen ärgerlichen<br />
nationalistischen Unterton, dennoch unterstreichen sie das Ausmaß des Interventionismus<br />
sogar seitens vorgeblich liberaler Staaten. 56 Der behauptete Rückzug<br />
des Staats basiert auf einem falschen Verständnis seines Wesens unter dem<br />
Kapitalismus – wie Leser dieses Journals unschwer erkennen werden. Zwischen<br />
Staat und Kapital kann es zu Spannungen kommen, dies bedeutet aber nicht,<br />
dass beide in einem grundsätzlichen Widerspruch zueinander stehen. Es ist eine<br />
reformistische Illusion zu glauben, Sozialisten könnten jemals den Staat erobern<br />
und ihn für ihre eigenen Ziele dienstbar machen, ohne den globalen Kapitalismus<br />
grundlegend herauszufordern. Die Staatsmacht ist jedoch nicht einfach auf<br />
Kapitalinteressen reduzierbar, und sogar eine nur begrenzte Autonomie ist nicht<br />
unwichtig, weil sich dadurch die Möglichkeit eröffnet, auf nationaler Ebene einige<br />
Reformen zu erkämpfen, wie fragil auch immer diese sein mögen. Die Grenzen<br />
des Reformismus zu identifizieren bedeutete noch nie, den Kampf um Reformen<br />
abzulehnen, obwohl es möglicherweise schwieriger geworden ist, sie<br />
durchzusetzen und auf Dauer zu verteidigen.<br />
In diesem Zusammenhang scheinen mir zwei einfache Feststellungen wichtig.<br />
Erstens gibt es wenig Anhaltspunkte für einen wirtschaftlichen Niedergang des<br />
Staats. Staatliche Ausgaben, darunter auch für Sozialleistungen, sind in den meisten<br />
reichen Ländern seit 1980 gestiegen. 57 Die Staatsquoten heben sich stark von<br />
denen vor dem Zweiten Weltkrieg und gar denen im 19. Jahrhundert ab. Und<br />
hohe Staatsausgaben gehen keineswegs mit wirtschaftlichem Desaster einher,<br />
was auf deren besondere Unhaltbarkeit hinweisen würde. 58 Zumindest in den<br />
größeren reichen Ländern haben die Staaten Zugang zu den gleichen Technologien,<br />
durch die sie angeblich ausgehöhlt werden, und die sie bei Bedarf auch problemlos<br />
einsetzen, beispielsweise um Geldüberweisungen nach Kuba oder auf<br />
die Konten vorgeblicher Terroristen zu überwachen. 59 Sogar relativ arme Länder<br />
wie Chile und Malaysia haben mit passablem Erfolg Kapitalkontrollen eingeführt.<br />
55<br />
Hirst und Thompson, 1999; Weiss, 1999.<br />
56<br />
Harman, 1996; MacLean, 2000.<br />
57<br />
Glyn, 2006.<br />
58<br />
Garrett, 2000.<br />
59<br />
Henwood, 1998; Gowan, 1999.
150 Globalisierungsmythen und die »New Economy«<br />
Zweitens ist die nationale Ebene nach wie vor eine hart umkämpfte Arena, die<br />
die Feinde der Arbeiterbewegung überhaupt nicht zu verlassen geneigt scheinen.<br />
Viele der Angriffe auf die Arbeiterschaft sind unmittelbarer Bestandteil staatlicher<br />
Politik, beispielsweise die Herabsetzung des Mindestlohns, etwa in den<br />
USA, oder die Verabschiedung gewerkschaftsfeindlicher Gesetze. Die »Geschäftswelt«<br />
ist nach wie vor hoch organisiert, und zwar in erster Linie, wenn<br />
nicht ausschließlich, auf nationaler Ebene, 60 und Staaten sind empfänglich für die<br />
arbeiterfeindliche Agenda der im Land beheimateten Kapitalien. Ihre Unterstützung<br />
für diese Unternehmen überwiegt in aller Regel ihren Wunsch, Auslandsinvestitionen<br />
anzuziehen oder zu behalten. 61 Hinzu kommt, dass sich Arbeiterbewegungen<br />
der jeweiligen Länder nach wie vor mehr oder minder erfolgreich gegen<br />
diese »Reformen« zur Wehr setzen. Der Widerstand gegen die gewerkschaftsfeindliche<br />
Gesetzgebung in Frankreich beispielsweise steht in deutlichem<br />
Kontrast zu der Situation in Großbritannien und anderswo.<br />
Die wiederholten Anläufe zu arbeiterfeindlicher Politik zeigen, dass Wirtschaftskräfte<br />
als Disziplinierungsmechanismus allein nicht ausreichen. Die nationale<br />
Ebene bleibt ein wichtiges Feld der Auseinandersetzung, das Unterstützer<br />
eines Arbeiterinternationalismus nicht aufgeben sollten. In der Praxis spielen nationale<br />
Arbeiterbewegungen weiterhin eine wichtige Rolle.<br />
Die Arbeiterbewegung und die New Economy<br />
Allseits wird eine neue Ära des desorganisierten, flexiblen, postfordistischen Kapitalismus<br />
verkündet. 62 Dieser soll der Wirtschaft neuen Schwung verliehen haben.<br />
Es gibt genügend Gründe, das zu bezweifeln, allerdings kann an dieser Stelle<br />
nicht im Detail auf sie eingegangen werden. Es genügt die Feststellung, dass<br />
die Produktivität in den USA seit Mitte der 1990er Jahre real gestiegen ist, die<br />
Steigerungsraten aber die der 1970er Jahre nicht erreicht haben, geschweige denn<br />
die des langen Nachkriegsaufschwungs. Anderswo, in Japan und Westeuropa,<br />
gingen ähnliche technologische Erneuerungen mit sinkenden Produktivitätszuwächsen<br />
und insgesamt einer lahmenden Wirtschaftsleistung einher. Der Rückzug<br />
der Arbeiterbewegung betraf jedoch die meisten reichen Länder. Wir wollen<br />
uns daher in erster Linie mit dem Argument auseinandersetzen, die New Economy<br />
habe die Aussichten für Arbeiterorganisation wesentlich verändert. In den<br />
beiden folgenden Abschnitten wird vor allem auf die Situation in den USA eingegangen,<br />
wo die Argumente für diese Transformation womöglich am vehementesten<br />
vertreten werden und der Rückgang der Industrieproduktion am dras-<br />
60<br />
Henwood, 2006.<br />
61<br />
Herod, 1991.<br />
62<br />
Siehe Hinweise in Fußnote 5.
Globalisierungsmythen und die »New Economy« 151<br />
tischsten ausgefallen ist. Aber auch andernorts sind ähnliche Phänomene zu beobachten,<br />
für die ähnliche Erklärungen geboten wurden. Zunächst gehe ich auf<br />
die Argumente kapitalistischer Reorganisation und Verkleinerung der Betriebsgröße<br />
ein. Im nächsten Abschnitt behandele ich dann die angebliche Verwandlung<br />
der Arbeiterschaft als Folge neuer Technologien, die eine ganz neue Bandbreite<br />
an Qualifikationen mit sich bringen sollen.<br />
Als erstes wird der New Economy zugeschrieben, die Struktur von Unternehmen<br />
und Arbeitsabläufen verändert zu haben. Riesige »fordistische« Betriebe<br />
würden durch komplexe Netzwerke von Subunternehmen ersetzt. Die Behauptung<br />
einer Neuentstehung von Heimarbeit 63 mag weit hergeholt erscheinen, aber<br />
kleinere Produktionseinheiten waren schon immer schwerer gewerkschaftlich zu<br />
organisieren. 64 Es wird auch behauptet, Arbeitshierarchien würden abgebaut.<br />
Kleinere Kapitalisten würden auch ausbeuten, seien aber selbst Opfer der<br />
großen, und die Macht würde durch die Netzwerke diffundieren und so Klassenantagonismen<br />
überdecken. 65<br />
Es besteht offensichtlich die Gefahr, das Verhältnis zwischen Industriestrukturen<br />
und gewerkschaftlicher Organisierung zu mechanistisch zu interpretieren. Es<br />
bedurfte 38 Jahre manchmal blutiger Kämpfe, um die Gewerkschaft bei Ford zu<br />
etablieren, während viele riesige Betriebe in China heute effektiv keine freien Gewerkschaften<br />
kennen. Und umgekehrt beheimaten relative kleine Betriebseinheiten<br />
zuweilen gut organisierte und militante Belegschaften. Die Belegschaften britischer<br />
Gruben zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren durchschnittlich 300 Mann<br />
groß und am Vorabend des großen Bergarbeiterstreiks von 1984 waren es 900. 66<br />
Die Art und Weise, wie die Konzentration und Zentralisation von Kapital immer<br />
mehr Arbeiter zusammenbringt, wurde aber schon immer als wichtiger Teil des<br />
Prozesses betrachtet, durch den der Kapitalismus seine eigenen Totengräber<br />
schafft. Und wenn sie nicht mehr stattfinden, müsste das ernsthafte Konsequenzen<br />
haben.<br />
Konzentration und Zentralisation im Kapitalismus waren jedoch immer nur<br />
Tendenzen. Marx schrieb dagegen auch:<br />
Ergreift der manufakturmäßige Betrieb ein Gewerb, das bisher als Haupt- oder Nebengewerb<br />
mit andren zusammenhing und von demselben Produzenten ausgeführt<br />
wurde, so findet sofort Scheidung und gegenseitige Verselbständigung statt. Ergreift<br />
63<br />
Sabel, 1984.<br />
64<br />
Ackers, Smith und Smith, 1996.<br />
65<br />
Lash und Urry, 1987.<br />
66<br />
Benson, 1980; Berechnungen auch auf Grundlage von Callinicos und Simons, 1985, die von<br />
184,000 Arbeitern in 198 Gruben sprechen.
152 Globalisierungsmythen und die »New Economy«<br />
er eine besondre Produktionsstufe einer Ware, so verwandeln sich ihre verschiednen<br />
Produktionsstufen in verschiedne unabhängige Gewerbe. 67<br />
Diese Aufteilung einst miteinander verbundener Prozesse spiegelt somit ein<br />
wachsendes Ausmaß der Produktion wider und kein abnehmendes. Halbleiterhersteller<br />
produzierten in der Anfangszeit eine ganze Palette verschiedener Mikrochips<br />
und beherbergten alle Produktionsstufen, angefangen mit dem Aufbauplan<br />
über die Herstellung und das Testen und oft bis hin zu deren Einbau in Fertigprodukte<br />
wie Computer. Durch die Spezialisierung auf die Herstellung von<br />
Mikroprozessoren oder Memorychips für spezielle Anwendungen wie Uhren<br />
konnten einige wenige Firmen ihre jeweiligen Märkte beherrschen. Das war im<br />
Fall der Intel-Prozessoren besonders offensichtlich. Und anstatt ihre eigenen<br />
Produktionsanlagen herzustellen, konnten die Chiphersteller diese von einer begrenzten<br />
Zahl spezialisierter Firmen wie Applied Materials, Nikon oder Canon<br />
erwerben und dadurch betriebsgrößenbezogene Kostenvorteile erzielen, die sich<br />
nicht eingestellt hätten, wenn jede Halbleiterfirma ihre eigenen Kapitalgüter herstellen<br />
müsste. 68<br />
Das gilt nicht nur für die Sektoren der New Economy. In der Automobilindustrie<br />
beispielsweise folgen westliche Firmen zunehmend dem Beispiel Japans und<br />
outsourcen einen wachsenden Anteil ihrer Teileproduktion an spezialisierte<br />
Komponentenbetriebe. Das bedeutet, dass die augenscheinliche Diffusion von<br />
Produktion in Wirklichkeit nur Ausdruck eines Wachstums über die einzelnen<br />
Produktionsstätten hinaus ist. 69 Das ist wichtig. Es bedeutet, dass die Arbeiter an<br />
den unterschiedlichen Orten dieses Netzwerks genau so eng miteinander verbunden<br />
sein können wie die innerhalb einer einzigen Fabrik. Ein Streik in einem kleinen<br />
Zulieferbetrieb kann das ganze System stören. Andrew Herods Beschreibung<br />
des Streiks in einem einzigen General Motors-Zulieferbetrieb in Michigan<br />
zeigt, wie schnell er die Produktion in ganz Nordamerika lahmlegen und Unternehmensverluste<br />
in Höhe von über zwei Milliarden Dollar verursachen konnte. 70<br />
Manchmal kann diese Ausdifferenzierung unterschiedlicher Arbeitsschritte und<br />
Produktionsstufen innerhalb einer einzigen Firma vonstatten gehen, aber auch<br />
dann können die einzelnen Betriebsteile zueinander in Konkurrenz gesetzt und<br />
schließlich als unabhängige Hersteller abgestoßen werden. Die Entwicklung solcher<br />
Netzwerke hat den Endproduzenten ermöglicht, ihre Verkaufszahlen in die<br />
Höhe zu treiben, ohne unbedingt mehr Menschen zu beschäftigen, wenn sie größere<br />
Teile ihrer Produktion an unabhängige Lieferanten ausgliedern. Das kann<br />
die Klassenbeziehungen verkomplizieren, wenn Haupt- und Subunternehmer<br />
67<br />
Marx, Kapital, Bd. 1, S. 374.<br />
68<br />
Chon, 1997<br />
69<br />
Moody, 1997.<br />
70<br />
Herod, 2000.
Globalisierungsmythen und die »New Economy« 153<br />
einander die Verantwortung für Kostensenkungen und Angriffe auf die Arbeiter<br />
zuschieben. Ihre Unabhängigkeit ist aber oft mehr formell als real. Im britischen<br />
Hoch- und Tiefbau beispielsweise bestehen viele nominell unabhängige Firmen<br />
aus jeweils einem einzigen Beschäftigten, um so Steuern zu hinterziehen. 71 Aber<br />
sogar zwischen real existierenden Firmen verdecken nominell freie Marktbeziehungen<br />
zugrundeliegende Machtbeziehungen zwischen den Produzenten auf<br />
den verschiedenen Produktionsstufen. 72 Wenn es mehr als nur einen Zulieferer<br />
für eine bestimmte Komponente gibt, kann es sich um eine Strategie handeln, rivalisierende<br />
Firmen und deren Belegschaften gegeneinander aufzubringen. Zugleich<br />
birgt diese Strategie das Risiko, dass das gesamte Netzwerk durch Aktionen<br />
an nur einer Stelle funktionsunfähig wird. Ein Merkmal solcher Netzwerke<br />
ist die zunehmend enge Taktung von Just-in-time-Produktionsabläufen, so dass<br />
entstehende Produktionsausfälle nicht einfach durch alternative Anbieter andernorts<br />
ausgeglichen werden können. Nur 230 Arbeiter eines unabhängigen Herstellers<br />
von Stoßstangen und Armaturenbrettern in Australien konnten im Jahr 2007<br />
anscheinend bereits nach 40 Minuten die Produktion bei Ford in Mitleidenschaft<br />
ziehen und Verluste in Höhe von einer Million Dollar pro Tag verursachen. 73<br />
Konkurrenzfirmen werden womöglich nach einer gewissen Zeit in die Bresche<br />
springen können, so dass Streikaktionen, die nur auf einen Zulieferer beschränkt<br />
bleiben und denen es nicht gelingt, die Solidarität in allen Zulieferbetrieben zu<br />
gewinnen, mittelfristig untergraben werden können. Das scheint aber kein qualitativ<br />
neues Problem zu sein.<br />
Diese Entwicklungen schaffen die Tendenz zur Konzentration und Zentralisation<br />
keineswegs ab. Um nochmals das Beispiel der nordamerikanischen Automobilindustrie<br />
aufzugreifen: Die Zahl der Zulieferer sank zwischen 1990 und 2000<br />
von über 30.000 auf weit unter 10.000 bei gleichzeitiger Steigerung der outgesourcten<br />
Produktion. 74 Mit anderen Worten, ihre durchschnittliche Größe nahm<br />
besonders schnell zu, wobei viele zu eigenständigen Industriegiganten heranwuchsen.<br />
Bezeichnenderweise hielt sich der gewerkschaftliche Organisationsgrad<br />
in den Stätten der Endfertigung trotz schrumpfender Betriebsgröße besser als in<br />
denen der Teileproduktion mit wachsender Betriebsgröße.<br />
Andere Sektoren bieten ein ähnliches Bild. Im Finanzsektor haben sich amerikanische<br />
Arbeiter seit der Hexenjagd gegen die Postarbeiter- und Dienstleistungsgewerkschaft<br />
United Post Office und Professional Workers of America im<br />
Jahr 1950 kaum wieder gewerkschaftlich organisiert. 75 In Großbritannien und<br />
71<br />
Harvey, 2001.<br />
72<br />
Gereffi, Humphrey und Sturgeon, 2005.<br />
73<br />
ABC News, Australia, 24 August 2007.<br />
74<br />
Dicken, 2007, S. 292.<br />
75<br />
Pollard, 2005.
154 Globalisierungsmythen und die »New Economy«<br />
vielen europäischen Ländern hingegen gelang es Bankangestellten trotz relativ<br />
kleiner Betriebsgrößen ziemlich starke Gewerkschaften zu gründen. Im Zuge<br />
von Umstrukturierungen hat das Filialgeschäft zugunsten einer stärkeren Konzentration<br />
auf zentrale Verarbeitungseinheiten und Callcenter abgenommen.<br />
Diese neuen größeren Einheiten waren zunächst nicht gewerkschaftlich organisiert.<br />
Erst im Laufe der Zeit, beispielsweise in britischen Banken, konnten signifikante<br />
Siege bei der gewerkschaftlichen Anerkennung und Mitgliedergewinnung<br />
errungen werden. 76<br />
Ganz grundsätzlich scheint das Bild einer Rückkehr zur Produktion in kleinen<br />
Betriebseinheiten bestenfalls überzogen. In den USA ist es einfach nicht der Fall,<br />
dass die Betriebsgrößen zurückgegangen wären, vielmehr ist die Zahl der Menschen,<br />
die in Betrieben mit 500 oder mehr Beschäftigten arbeiten, zwischen 1990<br />
und 2004 von 46 auf 49 Prozent gestiegen. 77 Es scheint wenig Grund zur Annahme<br />
zu geben, dass sich dieses Bild in anderen reichen Ländern radikal unterscheidet,<br />
und in vielen ärmeren Ländern wurden riesige Neukonzentrationen<br />
von Arbeitern erst geschaffen. Outsourcen wird oft im Zusammenhang gesehen<br />
mit Produktionsverlagerungen ins Ausland. Das ist allerdings keinesfalls überall<br />
so. Es gilt in der Tat für manche Sektoren mit dem klassischen Image der Schuhoder<br />
Kleidungsindustrie, die ihre Produktion in winzige Ausbeuterbetriebe in<br />
Ostasien verlagern und in denen die Arbeitsbedingungen wahrlich düster sind.<br />
Das ist aber nicht der kleinen Größe der Betriebe geschuldet. Um nur ein Beispiel<br />
zu nennen: In der für den Export arbeitenden kambodschanischen Textilindustrie<br />
hatten nur 28,6 Prozent der Betriebe weniger als 500 Beschäftigte und 7,3<br />
Prozent hatten über 5.000 Beschäftigte. Für die Mehrheit der in diesem Sektor<br />
arbeitenden 260.000 Beschäftigten war der Großbetrieb die Norm. 78<br />
Gleichbleibende oder gar zunehmende Betriebsgrößen können natürlich reale<br />
Veränderungen maskieren. Viele ehemals große Betriebe haben sich rückentwickelt,<br />
und dabei wurde hart erkämpfte Gewerkschaftsmacht untergraben. Derweil<br />
haben neue Arbeiterkonzentrationen sich nicht ohne Kampf organisieren<br />
können. Festzustellen bleibt, dass strukturelle Veränderungen Organisierung und<br />
die darum geführten Kämpfe nicht ausschließen.<br />
Die sich verändernde Arbeitswelt<br />
Der zweite Argumentationsstrang in Bezug auf das sinkende Potenzial der Arbeiterbewegung<br />
betrifft die Arbeitsorganisation. Neue Technologien sollen das<br />
Qualifikationsprofil radikal verändert und zu neuer Polarisierung geführt haben.<br />
76<br />
Bain und Taylor, 2002.<br />
77<br />
Census, Statistical Abstract of the United States: www.census.gov<br />
78<br />
ILO, 2005.
Globalisierungsmythen und die »New Economy« 155<br />
Manche Jobs erforderten höhere Qualifikationen. Das gelte für die »Symbolanalytiker«<br />
in Forschung und Entwicklung oder im Finanzwesen, auf die viele Beschreibungen<br />
der neuen wissensbasierten Wirtschaft so gern verweisen. 79 Auch<br />
die Einführung von Teamarbeit in der Produktion erfordere höhere Qualifikationen,<br />
und es entstehe hier einigen Autoren zufolge sogar ein »Neo-Handwerk«, 80<br />
das flexibler, weniger entfremdet und weniger zu kollektiven Kampfmaßnahmen<br />
geneigt sei. 81 Gleichzeitig führten die neuen Technologien zu einer Entqualifizierung<br />
in anderen Bereichen. Die komplexen Anforderungen an einen Kassierer in<br />
einer Bank oder einer Gaststätte könnten durch einfache Computer erledigt werden.<br />
Manche Arbeiten mit geringeren technischen Anforderungen wie in der Gebäudereinigung<br />
blieben davon relativ unberührt, aber wegen der zunehmenden<br />
Konkurrenz um solche Jobs würden die Löhne nach unten gedrückt. Diese Jobs<br />
böten oft keine festen Arbeitsverträge, oft seien es Teilzeitstellen mit einem hohen<br />
Maß an Flexibilisierung – einer Flexibilisierung ausschließlich im Sinne des<br />
Kapitals gegen die Arbeiter. 82 Das führe zu einem Abschmelzen der klassischen<br />
angelernten Schichten der Arbeiterklasse, die einst das Herz der Arbeiterorganisationen<br />
ausmachten. Nach dieser Darstellung ist es die Polarisierung auf der<br />
Qualifikationsskala, die der oftmals beobachteten Zunahme von Ungleichheit zugrundeliegt.<br />
Bereits bestehende Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt auf<br />
Grund von Geschlecht oder Herkunft würden dadurch noch verstärkt. 83<br />
Aber auch hier sprechen theoretische und empirische Gründe dafür, diese Argumentation<br />
zu hinterfragen. Lawrence Mishel und seine Kollegen meinen dazu:<br />
»[E]s stimmt im Allgemeinen, dass Investitionen und technologische Veränderung<br />
mit höheren Qualifikations- und Bildungsanforderungen einhergehen – das<br />
war aber schon während des gesamten 20. Jahrhunderts der Fall und kann daher<br />
die seit zwei Jahrzehnten zu beobachtende wachsende Lohnungleichheit nicht erklären.«<br />
84 Es ist auch nicht einsichtig, warum Angelernte sich leichter organisieren<br />
sollten. Historisch betrachtet haben sowohl hochqualifizierte (Lehrer beispielsweise)<br />
und wenig qualifizierte Arbeiter (Müllentsorger beispielsweise) starke,<br />
gar militante Organisationen aufgebaut.<br />
Die Auswirkung von technologischen Entwicklungen auf Qualifikationsniveau<br />
und -anforderungen ist oft schwer einzuschätzen. In manchen hoch technologisierten<br />
Industrien wie Mikroelektronik hat möglicherweise tatsächlich eine Polarisierung<br />
zwischen hochgebildeten Technikern und Produktionsarbeitern stattge-<br />
79<br />
Reich, 1991.<br />
80<br />
Piore und Sabel, 1984.<br />
81<br />
Womack, Jones und Roos, 1990.<br />
82<br />
Pollert, 1988.<br />
83<br />
MacEwan und Tabb, 1989; Cox, 1996.<br />
84<br />
Mishel, Bernstein und Allegretto, 2007, S. 199.
156 Globalisierungsmythen und die »New Economy«<br />
funden. 85 Andernorts hat das Gegenteil stattgefunden. Der Hoch- und Tiefbau<br />
ist ein ziemlich eindeutiges Beispiel. Hier haben neue Technologien das Anforderungsniveau<br />
auf die Mitte gedrängt. Die relative Bedeutung von hochqualifizierten<br />
handwerklichen Tätigkeiten auf dem Bau hat abgenommen, aber zugleich<br />
auch die schwere körperliche Arbeit des Hebens und Tragens. 86 Es gibt wenig<br />
Beweise, dass dies einer Organisierung zuträglich gewesen wäre, wo doch der<br />
Bausektor in den meisten Ländern nicht mehr Erfolge als andere Sektoren vorzuweisen<br />
hat und in den USA sogar besonders schlecht dasteht.<br />
Es besteht eine reale Gefahr eines konservativen Zirkelschlusses in den Argumenten<br />
über Qualifikation, Löhne und Organisationsgrad. Wirtschaftswissenschaftler<br />
des Mainstreams behaupten schlicht und einfach, Arbeiter würden für<br />
ihr »Humankapital« entlohnt, für ihre Fertigkeiten. (Da ihre Löhne niedriger sind,<br />
sollten wir wohl annehmen, Frauen und ethnische Minderheiten müssten allesamt<br />
weniger qualifiziert sein als weiße Männer.) Wenn wir uns die Einkommensverteilung<br />
beispielsweise in den USA anschauen, stimmt es, dass das obere und<br />
das untere Fünftel weniger organisiert sind als die drei mittleren Fünftel. 87 Aus<br />
marxistischer Sicht könnte die Erklärungskette aber genau umgekehrt verlaufen<br />
(zumindest was das untere Fünftel betrifft). Die Menschen werden schlecht bezahlt,<br />
weil sie schlecht organisiert sind, und nicht andersherum. Wir wissen, dass<br />
Gewerkschaften Lohnerhöhungen durchsetzen, es überrascht daher nicht, wenn<br />
Niedriglöhner weniger gut organisiert sind als die mittleren Einkommensgruppen.<br />
88 Und es ist tatsächlich so, dass in den USA die gruppeninterne Ungleichheit,<br />
also zwischen Menschen mit ähnlichen Qualifikationen, für 60 Prozent der<br />
Gesamtzunahme an Lohnungleichheit zwischen 1973 bis 2005 verantwortlich<br />
ist. 89<br />
Viele einstmals unqualifizierte, traditionell von Männern verrichtete Tätigkeiten<br />
waren ungesichert und schlecht bezahlt, bis sie stark organisiert wurden. Das gilt<br />
auch für die heutige Zeit, wo Frauen und nichtweiße Arbeiter überproportional<br />
im Niedriglohnsektor beschäftigt sind. Aber die Vorteile der gewerkschaftlichen<br />
Organisierung wiegen für sie umso mehr. In den USA verdienen gewerkschaftlich<br />
organisierte Männer 24 Prozent mehr als nicht organisierte, bei Frauen beträgt<br />
der Abstand 31 Prozent. Für weiße Arbeiter sind es 20 Prozent, für schwarze<br />
32 Prozent und ganze 46 Prozent für Latinos und hispanische Arbeiter. 90 Es<br />
ist daher wenig überraschend, wenn Studien von einer weitaus positiveren Hal-<br />
85<br />
Dicken, 2007.<br />
86<br />
Thieblot, 2002.<br />
87<br />
Mishel, Bernstein und Allegretto, 2007.<br />
88<br />
Mishel, Bernstein und Allegretto, 2007, p188.<br />
89<br />
Mishel, Bernstein und Allegretto, 2007, p200.<br />
90<br />
Berechnet auf Grundlage von Census, Statistical Abstract of the United States: www.census.gov
Globalisierungsmythen und die »New Economy« 157<br />
tung den Gewerkschaften gegenüber unter weiblichen Arbeitern und Arbeitern<br />
aus ethnischen Minderheiten verglichen mit weißen Arbeitern berichten. 91 Es bestehen<br />
nach wie vor große Differenzen in Bezug auf Gender- und ethnische Differenzen,<br />
und allerlei praktische und organisatorische Hürden behindern eine gewerkschaftliche<br />
Organisierung und die Durchsetzung gleicher Löhne. Aber die<br />
Vorstellung, dass ihr unterschiedliches Arbeits- oder Humankapital eine Organisierung<br />
hinfällig mache, ist Unsinn. Es ist die Schwächung der Gewerkschaftsorganisation,<br />
die für einen Großteil der zunehmenden Lohnpolarisierung verantwortlich<br />
ist. 92<br />
Viele Produktionsprozesse haben sich erheblich gewandelt, aber man sollte<br />
vorsichtig sein, hier einen Zusammenhang mit der Desorganisation auf Seiten<br />
der Arbeiterbewegung zu sehen. Beim Abkupfern der in Japan, in erster Linie bei<br />
Toyota (nach schweren gewerkschaftlichen Niederlagen in den späten 1940er<br />
und frühen 1950er Jahren) eingeführten arbeitsorganisatorischen Maßnahmen,<br />
fand der Gedanke des Teamworkings Einzug in viele westliche Industriezweigen.<br />
Anstelle einer rigiden Trennung von Arbeitsabläufen, die für fordistische Fließbänder<br />
typisch ist, übernahmen Arbeitsgruppen die Verantwortung für eine größere<br />
Anzahl von Arbeitsschritten. In Japan ging dies auch einher mit »lebenslanger«<br />
Anstellung und relativ sicheren Arbeitsplätzen zumindest für die Kernbelegschaft<br />
vorwiegend männlicher Arbeiter etwa bis zu ihrem 50. Lebensjahr. Unternehmen<br />
investierten angeblich mehr in die Qualifizierung ihrer Arbeiter, und die<br />
fanden größere Befriedigung in ihrer Arbeit. Systeme »fortwährender Verbesserung«<br />
evaluierten den Input von Arbeitern im Produktionsprozess, der selbst auf<br />
eine tatsächlich vorhandene Nachfrage ausgerichtet war, anstatt Waren unbesehen<br />
über das Fließband zu jagen. 93<br />
Dort, wo solche Systeme eingeführt wurden, mag es ein gewisses Maß an Requalifizierung<br />
gegeben haben. Es gibt aber nur wenig Anzeichen dafür, dass dies<br />
zu einer systematisch weniger entfremdeten Arbeitsumgebung beigetragen hätte.<br />
Es war nur ein Mittel unter vielen, die Menschen noch härter arbeiten zu lassen.<br />
Während gerade die Starrheit des Fließbands Momente der Untätigkeit zuließ, da<br />
sich nicht alle Arbeitsschritte zeitlich genau auf die übrigen anpassen lassen, bedeutete<br />
die gewonnene Flexibilität der Gruppenarbeit, solche Lücken füllen zu<br />
müssen. Es gab immer etwas zu tun. 94 Teamwork bringt es auch mit sich, dass es<br />
immer jemanden gibt, der einspringen konnte, wenn jemand krank war oder Pause<br />
machte. Das Ergebnis war das bekannte »Management durch Stress«. 95<br />
91<br />
Bronfenbrenner, 2003.<br />
92<br />
Mishel, Bernstein und Allegretto, 2007, S. 7.<br />
93<br />
Womack, Jones und Roos, 1990.<br />
94<br />
Smith, 2000.<br />
95<br />
Parker und Slaughter, 1988.
158 Globalisierungsmythen und die »New Economy«<br />
Die Zunahme von Jobs im Dienstleistungssektor hat das Bild nicht grundsätzlich<br />
verändert. Dienstleistungen können nach ähnlichem Muster strukturiert werden<br />
wie der Produktionssektor und sind ähnlich organisierbar. Die Herabstufung<br />
von Bürotätigkeiten, die Harry Braverman in seiner klassischen Studie 96 beschreibt,<br />
ist seitdem noch weiter fortgeschritten. Auch bei den sehr hochqualifizierten<br />
»Symbolanalytikern« wie Computerprogrammierern führt allein schon die<br />
Größe und die Komplexität vieler Prozesse dazu, dass Programmierer nur einen<br />
winzigen Teil eines ganzen Programms schreiben können und dies manchmal in<br />
riesigen, fabrikähnlichen Konzentrationen tun. Gerade im Dienstleistungssektor<br />
ist das »Management durch Stress« vielleicht am augenscheinlichsten. Von Mitarbeitern<br />
in Callcentern wird verlangt, allerlei Nachfragen wie rudimentär auch immer<br />
beantworten zu können, was dafür sorgt, dass auf einen ganzen Pool von<br />
Arbeitern stets der nächste Anruf wartet. Am Flughafen von Heathrow sorgt die<br />
Zusammenlegung von Checkin-Schlangen zu erheblichen Wartezeiten für die<br />
Passagiere, aber auch dafür, dass die Mitarbeiter keine freie Minute mehr haben,<br />
in der sie nicht einen wütenden Kunden so schnell wie nur möglich bedienen<br />
müssen. Das alles erhöht die Mühsal der Arbeit und bedeutet, dass noch mehr<br />
Wert aus den Arbeitskräften herausgepresst wird. Es schließt aber Widerstand<br />
nicht aus.<br />
Bravermans Buch wurde eine zu deterministische Interpretation der Art und<br />
Weise, wie der Arbeiterschaft Veränderungen aufgezwungen werden, vorgeworfen.<br />
Arbeiter wie Angestellte können sich mehr oder weniger effektiv zur Wehr<br />
setzen und ihr Arbeitsumfeld prägen. Und solche Dinge wie die »japanischen«<br />
Arbeitspraktiken könnten sich in einem westlichen Umfeld mit seinen unterschiedlichen<br />
Arbeitertraditionen als etwas ganz anderes entpuppen. Teambesprechungen<br />
könnten sich schnell in Foren für das Einbringen von Beschwerden<br />
statt für eine Diskussion über Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung verwandeln<br />
– und vielerorts hat man daher in der Tat ganz schnell auf sie verzichtet.<br />
Der Wettbewerb zwischen verschiedenen Teams kann in gegenseitiger Sabotage<br />
enden statt in Steigerung der Arbeitsanstrengungen. 97 Solche Systeme können<br />
sich überhaupt als störanfälliger erweisen, und sie bedürfen in der Regel eines<br />
höheren Maßes an Supervision, um einen reibungslosen Verlauf zu gewährleisten.<br />
98 Arbeitgeber haben oftmals die Notwendigkeit von Verhandlungen mit der<br />
Gewerkschaft einsehen müssen, um das zu erreichen, und Gewerkschaften haben<br />
die Gelegenheit ergriffen, Abkommen abzuschließen, die das Ausmaß der<br />
Ausbeutung einschränken. 99<br />
96<br />
Braverman, 1974.<br />
97<br />
Clarke, 1997; Rinehart, Huxley und Robertson, 1997; Walton, 1997.<br />
98<br />
Delbridge und Lowe, 1997; Lewchuk und Robertson, 1997; Murakami, 1997; Rinehart, 1999.<br />
99<br />
Thelen und Kume, 1999.
Globalisierungsmythen und die »New Economy« 159<br />
Bei der Flexibilisierung handelte es sich daher mehr um eine Strategie gegen<br />
die Arbeiterklasse und weniger um das Ergebnis einer fundamental neuen Wirtschaftslogik.<br />
Sie kann genauso eine neue Jobbeschreibung oder das Verletzen<br />
von Arbeitsverträgen beinhalten wie eine reale Veränderung von Arbeitsanforderungen.<br />
Aber sogar dieses bescheidene Ziel war aus Sicht des Kapitals oft mehr<br />
Wunschdenken als Realität. Zwischen 1995 und 2005 sank der Anteil der US-amerikanischen<br />
Arbeiterschaft, der einer »atypischen« Beschäftigung nachging,<br />
und innerhalb dieser Gruppe stieg der Anteil der »Permatemps«, jener mit ungesicherten<br />
Arbeitsverträgen, die aber länger als ein Jahr lang im gleichen Job blieben,<br />
von 62 auf 65 Prozent. 100<br />
Schließlich, und das ist noch wichtiger, hat eine Klassenpolarisierung unter Arbeitern<br />
nicht stattgefunden. Lawrence Mishel und seine Mitautoren argumentieren,<br />
dass die größte Kluft sich zwischen den oberen 10 Prozent und allen anderen<br />
auftut, 101 und die behauptete Polarisierung basiert meistens auf diesem Vergleich.<br />
Eine solche Gegenüberstellung ist allerdings ein höchst irreführender<br />
Maßstab für die Lohnspreizung innerhalb der Arbeiterklasse. Es stimmt natürlich,<br />
dass die Bezahlung von Führungskräften kometenhaft gestiegen und manche<br />
leitende Angestellte auch ganz gut fahren. Aber wenn man stattdessen die<br />
niedrigsten Einkommen mit dem Median, also mit denen im mittleren Einkommensbereich,<br />
vergleicht, ist das Bild viel weniger eindeutig. Hier hat sich die<br />
Kluft »in den 1980er Jahren ausgeweitet, ist aber seitdem gleich geblieben oder<br />
kleiner geworden«. 102 Besonders seit 1987 (gerade als die New Economy ihre Erfolgsstory<br />
antrat) ist der Unterschied bei Männern kleiner geworden und bei<br />
Frauen gleich geblieben. 103 Für Frauen in den USA war die Polarisierung insgesamt<br />
größer als für Männer, wobei die oberen 80 Prozent erhebliche Lohnsteigerungen<br />
erzielten. Dahinter verbirgt sich allerdings keine Vertiefung der Ungleichheit<br />
zwischen Männern und Frauen, sondern vielmehr ihre Abnahme. Noch im<br />
Jahr 2005 bezogen 29,4 Prozent der Frauen, aber nur 19,9 Prozent der Männer<br />
Löhne, die offiziell als Armutslöhne galten, aber das war für die Männer eine<br />
Verschlechterung von den 15,7 Prozent noch im Jahr 1979 und für die Frauen<br />
eine Verbesserung von den damaligen 42,1 Prozent. Der Anteil der Armutslöhne<br />
unter schwarzen Frauen und Männern und unter hispanischen Frauen, aber nicht<br />
den Männern, sank ebenfalls. 104 Auch in Westeuropa verkleinert sich tendenziell<br />
100<br />
Mishel, Bernstein und Allegretto, 2007, S. 238, 241.<br />
101<br />
Mishel, Bernstein und Allegretto, 2007, S. 210.<br />
102<br />
Mishel, Bernstein und Allegretto, 2007, S. 5.<br />
103<br />
Mishel, Bernstein und Allegretto, 2007, S. 142, 201.<br />
104<br />
Mishel, Bernstein und Allegretto, 2007, S. 124–127.
160 Globalisierungsmythen und die »New Economy«<br />
die Lohnkluft zwischen den niedrigsten 10 Prozent und den mittleren Einkommen.<br />
105<br />
Die Polarisierung innerhalb der Arbeiterklasse war somit zumindest wesentlich<br />
weniger ausgeprägt als meistens behauptet. Sie fand auch zwischen Arbeitergruppen<br />
mit ähnlichen Qualifikationen statt und hatte nur wenig mit bestimmten<br />
technologischen Erneuerungen zu tun. Der Abschwung der Gewerkschaftsbewegung<br />
sollte besser als die Ursache für steigende Ungleichheit und für niedrige<br />
Löhne verstanden werden, und nicht als deren Folge.<br />
Die Grenzen des Organizings<br />
Der Kapitalismus führt Arbeiter ständig zusammen und treibt sie wieder auseinander.<br />
Das macht er ganz buchstäblich, durch neue Arbeiterkonzentrationen an<br />
bestimmten Orten und die Entfachung von Konkurrenz zwischen Arbeitern an<br />
unterschiedlichen Orten. Das macht er aber auch im übertragenen Sinn, indem<br />
er gemeinsame Klasseninteressen und -identitäten schafft, zugleich aber tausend<br />
Strategien erfindet, um zu teilen und zu herrschen. Sozialistische Politik hat sich<br />
schon immer zum Ziel gesetzt, reale und empfundene Differenzen zu überwinden,<br />
um Solidarität herzustellen. 106 Misserfolge in jüngster Vergangenheit könnten<br />
zumindest genauso gut dem Versagen linker Politik wie irgendeiner objektiven<br />
Zunahme örtlicher oder ökonomischer Heterogenität zugeschrieben werden.<br />
Richard Walker hat gute Gründe angeführt, warum wir die gegenwärtige Periode<br />
eher als Ergebnis der politischen Niederlagen der Arbeiterbewegung verstehen<br />
sollten denn als Ergebnis der wirtschaftlichen Erfolge des Kapitalismus. 107<br />
Manche gegenwärtige Literatur, die beispielsweise für eine soziale Bewegung<br />
oder für »community unionism« eintritt, könnte als Versuch zur Wiederbelebung<br />
verlorener Traditionen der Solidarität verstanden werden. In solchen Strategien<br />
eine Alternative zur Organisierung am Arbeitsplatz zu sehen und die Sichtweise<br />
mehr oder minder explizit gutzuheißen, dass die kollektive Ausbeutung von Arbeitern<br />
am Arbeitsplatz keinen besonderen Beitrag zur Aufhebung ihrer Fragmentierung<br />
leiste, birgt allerdings eine große Gefahr. Der Sozialismus ist dann<br />
nur noch eine Frage des Willens. Die wirkliche marxistische Tradition war schon<br />
immer internationalistisch und hat stets versucht, über den Arbeitsplatz hinaus<br />
zu organisieren – in Lenins Worten »nicht der Sekretär einer Trade-Union, sondern<br />
der Volkstribun« zu sein. 108 Er hat aber zugleich immer argumentiert, dass<br />
Ausbeutung und Widerstand am Arbeitsplatz etwas Besonderes sind und das einzigartige<br />
Potenzial der Arbeiterklasse schaffen, die Welt zu verändern.<br />
105<br />
Glyn, 2006.<br />
106<br />
Panitch, 2001.<br />
107<br />
Walker, 1999.<br />
108<br />
Lenin, Was tun?, GW Bd. 4, S. 437.
Globalisierungsmythen und die »New Economy« 161<br />
Der Kapitalismus, wie Marx und Engels schon vor langer Zeit hervorhoben,<br />
befindet sich in einem steten Wandel. Wir haben jedoch wenig Grund zu der Annahme,<br />
dass die jüngeren Verschiebungen den altbekannten Problemen der gewerkschaftlichen<br />
und sozialistischen Organisierung eine grundlegend neue Dimension<br />
hinzugefügt haben. Sogar in der Produktion bleibt Kapitalflucht die<br />
Ausnahme. Das Kapital pflegt die Vorstellung, es könnte mühelos der Militanz<br />
und hohen Löhnen entkommen, aber nur selten gelingt ihm eine so reibungslose<br />
Verlagerung, wie es sie propagiert. Das riesige Lohngefälle hat keinen Investitionsansturm<br />
von reichen in die armen Länder provoziert. Es hat bedeutende Bewegungen<br />
gegeben, aber in spezifischen Sektoren und oft auf höchst ungleichmäßige<br />
Weise. In vielen Sektoren des Kapitals, in den untergehenden Industrien<br />
des Primärsektors, aber ebenso in vielen expandierenden Dienstleistungsindustrien,<br />
besteht noch weniger Aussicht auf Kapitalverlagerung. Die Probleme der<br />
Gewerkschaftsbewegung hängen bestenfalls entfernt mit der Kapitalmobilität zusammen.<br />
Und obwohl die Restrukturierung von Konzernen viele etablierte Bastionen<br />
der Gewerkschaften in Mitleidenschaft gezogen hat, hat sie weder eine<br />
Rückkehr zur kleinteiligen Heimindustrie noch ein Ende der Entfremdung am<br />
Arbeitsplatz bewirkt. Sie hat effektive Strategien für die Organisierung am Arbeitsplatz<br />
nicht ad acta gelegt. Damit soll keineswegs die Bedeutung der Betriebsgröße<br />
und eines taktischen Denkens, wie Arbeitskämpfe am besten verbreitet<br />
und gestärkt werden können, heruntergespielt werden. Die Umstände variieren.<br />
Wenn eine europäische Schuhfabrik geschlossen und die Produktion ins Ausland<br />
verlagert wird, wird ihr Fortbestand möglicherweise in der Tat davon abhängen,<br />
ob es gelingt, externe Verbündete zu finden. Es wäre eine politische Dummheit,<br />
Zahlen auszugraben, die beweisen, dass eine solche Erfahrung atypisch ist. Es<br />
wäre aber ebenso ein Fehler zu argumentieren, dass alle Arbeiter mit den gleichen<br />
Problemen konfrontiert seien. Eisenbahner, Bauarbeiter, Krankenhausbeschäftigte<br />
und Menschen in vielen anderen Berufen, auch in der verarbeitenden<br />
Industrie, besitzen sehr wohl reale Macht am Arbeitsplatz – obwohl auch sie gut<br />
beraten sind, ihre sektionalen Kämpfe auf eine breitere Grundlage zu stellen.<br />
Die Möglichkeit, die unmittelbare Ausbeutung am Arbeitsplatz zu bekämpfen,<br />
bietet einen unverzichtbaren und bleibenden Ausgangspunkt für den internationalen<br />
Sozialismus.<br />
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Streiks in Deutschland – ein<br />
neuer Aufschwung?<br />
Interview mit Dr. Heiner Dribbusch, Sozialwissenschaftler und<br />
Streikexperte am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen<br />
Institut der Hans-Böckler-Stiftung<br />
Kollege Dribbusch, Du bist einer der Wenigen, die in Deutschland Daten<br />
zum Arbeitskampfgeschehen überprüfen und sich anschauen, wie sich die<br />
Konfliktlage in Deutschland tatsächlich entwickelt. Täuschen wir uns oder<br />
wird wieder mehr gestreikt?<br />
Ihr täuscht Euch nicht, wenn die Konflikthäufigkeit betrachtet wird. Seit Mitte<br />
der 2000er Jahre hat vor allem die Zahl der Arbeitskämpfe deutlich zugenommen.<br />
Das Arbeitskampfvolumen, gemessen in Streiktagen, und die Zahl<br />
der Streikenden schwanken allerdings von Jahr zu Jahr erheblich. Insbesondere<br />
die Gesamtzahl der Streikenden hängt stark davon ab, ob es im Öffentlichen<br />
Dienst oder in der Metallindustrie zu großen Warnstreikwellen kommt, oder<br />
nicht. Die größten Spitzen haben wir hier in den Jahren in denen es in beiden<br />
Tarifbereichen zu entsprechenden Arbeitsniederlegungen kommt. An der Entwicklung<br />
der Streiktage und der Gesamtzahl der Streikenden lässt sich also<br />
nicht unbedingt die Zunahme von Arbeitskämpfen ablesen. Viele Arbeitskämpfe<br />
beziehen relativ wenige Beschäftigte ein und dauern auch nur recht kurz.<br />
Die tatsächliche Gesamtzahl der Arbeitsniederlegungen zu erfassen, ist kaum<br />
möglich. Eine offizielle Statistik und Registrierung gibt es nicht. Die Mehrzahl<br />
kleinerer Arbeitsniederlegungen im Rahmen betrieblicher Konflikte erreicht selten<br />
die Öffentlichkeit und wird, wenn überhaupt, lediglich von den örtlichen<br />
Gewerkschaftsstrukturen registriert. Als Indikator für die Entwicklung der Zahl<br />
der Arbeitskämpfe greift das WSI deshalb auf die Angaben der Einzelgewerkschaften<br />
zur Entwicklung der tariflichen Streiks zurück. Anhand dieser Zahlen<br />
lässt sich die Zunahme der Konflikthäufigkeit im Dienstleistungsbereich nachzeichnen.<br />
Im Bereich von ver.di hat sich die Zahl der Arbeitskämpfe zwischen<br />
2004 und 2009 vervierfacht. Allein 2012 wurden 188 neue Arbeitskampfmaßnahmen<br />
beim Bundesvorstand beantragt. Insgesamt gab es zwischen 2004 und<br />
2012 im Organisationsbereich von ver.di ca. 1.000 größere und kleinere Tarifkonflikte,<br />
in denen es zu Arbeitsniederlegungen kam. Im gleichen Zeitraum ver-
166 Streiks in Deutschland – ein neuer Aufschwung?<br />
zeichnete die, im Vergleich zu ver.di wesentlich kleinere NGG, über 200 Streiks<br />
und Warnstreiks, die zum Teil mehrere Betriebe umfassten. Demgegenüber wird<br />
im Bereich der IG Metall relativ selten gestreikt. Zwischen 2004 und 2012 gab es<br />
hier lediglich 22 betriebliche Konflikte, in denen es nach Urabstimmung auch<br />
zum Streik kam. Dazu kommen allerdings mehrere zum Teil sehr umfangreiche<br />
Warnstreikwellen und eine unbekannte Anzahl kleinerer regionaler Warnstreiks.<br />
Warum hat die Zahl der Arbeitskämpfe zugenommen und weshalb wird bei<br />
ver.di soviel häufiger gestreikt als bei der IG Metall?<br />
Die Zunahme der Arbeitskämpfe hat meines Erachtens drei Ursachen. Erstens<br />
wurde die Tariflandschaft in den letzten Jahren stark fragmentiert. Dazu haben<br />
ganz wesentlich die Privatisierungen im öffentlichen Dienst bei Bahn, Post, Versorgung,<br />
Nahverkehr und jüngst im Gesundheitswesen beigetragen.<br />
Zweitens erodieren die Arbeitgeberverbände, und die Bereitschaft, überhaupt<br />
Tarifverträge abzuschließen ist bei Unternehmen und öffentlichen Arbeitgebern<br />
gesunken. Beim Aufbrechen der gemeinsamen Tarifverhandlungen im öffentlichen<br />
Dienst spielten im Übrigen nicht nur konservative Landesregierungen eine<br />
Rolle, sondern hier war interessanterweise auch das rot-rote Berlin mit vorne dabei.<br />
Im Ergebnis muss heute viel häufiger als früher gegen Tarifflucht gekämpft<br />
werden, oder es müssen mühsam Anschlusstarifverträge verhandelt werden. All<br />
dies erhöht die Zahl potenzieller Konflikte.<br />
Drittens ist aber auch die Konfliktbereitschaft unter den Gewerkschaften gestiegen.<br />
Die traditionelle Zurückhaltung bezüglich des Streiks gerät bei den Gewerkschaften<br />
in dem Maße unter Druck, in dem die Spielräume für reine Verhandlungslösungen<br />
enger werden und Unternehmen etablierte Standards in Frage<br />
stellen. Spätestens dann erwarten auch viele Mitglieder, dass nicht alles kampflos<br />
hingenommen wird. Schließlich können erfolgreiche Mobilisierungen auch<br />
helfen, betriebliche Stärke auf- und auszubauen.<br />
Dass bei ver.di wesentlich mehr als im Organisationsbereich der IG Metall gestreikt<br />
wird, hat zum einen schlicht damit zu tun, dass der Organisationsbereich<br />
von ver.di sehr viel mehr Branchen und damit auch Tarifgebiete umfasst als dies<br />
bei der IG Metall der Fall ist. Hinzukommt aber auch ein anderer Aspekt: Viel zu<br />
streiken, ist ja nicht notwendig ein Zeichen von Stärke. In der großen Zahl der<br />
Streiks im Dienstleistungsbereich drückt sich in gewisser Weise auch aus, dass es<br />
hier den Gewerkschaften bisher schwer fiel, kollektive Stärke aufzubauen. Wo es<br />
aber an Durchsetzungsfähigkeit mangelt, ist auch die Versuchung für Unternehmen<br />
größer, es auf einen Arbeitskampf ankommen zu lassen.<br />
Lass uns doch noch mal über die gestiegene gewerkschaftliche Konfliktbereitschaft<br />
reden.
Streiks in Deutschland – ein neuer Aufschwung? 167<br />
Bei vielen Gewerkschaftsaktiven aber auch bei einfachen Mitgliedern und Beschäftigten<br />
entstand in den letzten Jahre häufig das Gefühl: »So jetzt reicht’s<br />
aber! Jetzt muss die Gewerkschaft was machen.« Allerdings ist die Einstellung<br />
vieler Beschäftigter zum Streik durchaus ambivalent: Eine repräsentative Umfrage<br />
des DGB aus dem Jahr 2007 erbrachte zum einen eine hohe Legitimität des<br />
Streiks. 59% der Nicht-Mitglieder und 81% der Mitglieder wollen, dass die Gewerkschaft<br />
wenn nötig Streiks als Druckmittel einsetzt. Zugleich erwarten aber<br />
fast 90% der Mitglieder wie der Nichtmitglieder von den Gewerkschaften eine<br />
Einigung ohne Streik.<br />
Also wenn es sich zuspitzt, soll die Gewerkschaft die Keule auch mal auspacken.<br />
Die allermeisten finden aber einen Abschluss ohne Streik am besten.<br />
Kommt es allerdings zur Zuspitzung gibt es durchaus hohe Streikbereitschaften,<br />
wie immer wieder Urabstimmungen zeigen. Jedoch bleibt der Streik eine Ausnahmesituation.<br />
Lediglich 20% der Beschäftigten so eine repräsentative Umfrage<br />
der Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2008 haben überhaupt jemals in ihrem Berufsleben<br />
gestreikt. Auch unter den Gewerkschaftsmitgliedern ist es mit 44% lediglich<br />
eine Minderheit, wenn auch eine beachtliche.
168 Streiks in Deutschland – ein neuer Aufschwung?<br />
Die IG Metall hat angekündigt, dass sie konfliktorientierter sein will. Spiegelt<br />
sich das im Streikgeschehen wider?<br />
Nicht unbedingt, denn Konfliktorientierung heißt ja nicht alleine, Arbeitskämpfe<br />
zu führen. Darunter wird auch verstanden, betriebliche Auseinandersetzungen<br />
z. B. über Abweichungen von Tarifverträgen aktiver zu führen. Das will<br />
die IG Metall jetzt nicht mehr ohne Diskussion akzeptieren, sondern hier sollen<br />
die Mitglieder einbezogen werden und die Abweichung soll als Konflikt thematisiert<br />
werden. Kommt es hierbei im Übrigen zu kürzeren Arbeitsniederlegungen,<br />
Protestversammlungen etc., sei es in Form von kollektiven Besuchen beim Betriebsrat<br />
oder den klassischen Versammlungen auf dem Hof, wird dies aber in aller<br />
Regel in keiner Konfliktstatistik auftauchen.<br />
Der klassische Konflikt, bei dem sich für die IG Metall, wie für andere Gewerkschaften<br />
auch, die Streikfrage ganz massiv stellt, ist die offene Tarifflucht<br />
oder die Ankündigung von Massenentlassungen. Allerdings wird auch hier versucht,<br />
den Streik möglichst erst am Ende einzusetzen. Bei Schließungsdrohungen<br />
muss zudem abgewogen werden, wie die Gegenseite am stärksten getroffen werden<br />
kann. Dass muss nicht unbedingt der Streik sein.<br />
Kann man denn sagen, dass sich die neuen Streiks qualitativ verändern?<br />
Auf jeden Fall haben sich die Beschäftigtengruppen verändert, die im Streik<br />
stehen. Die Verlagerung des Streikgeschehens in den Dienstleistungsbereich geht<br />
damit einher, dass zum einen Berufsgruppen, die in der Vergangenheit eher streikabstinent<br />
waren, nun aktiv geworden sind. Dies gilt ganz klassisch für PilotIn-
Streiks in Deutschland – ein neuer Aufschwung? 169<br />
nen, LokführerInnen und insbesondere auch für ÄrztInnen. Hier haben sich<br />
zum Teil klassische Berufsverbände in gewisser Weise »vergewerkschaftlicht«.<br />
Bei den Ärzten ging es 2005 mit einem neuen Tarifvertrag los, der die Einkommensperspektive<br />
junger Ärztinnen und Ärzte sehr verschlechterte im Verhältnis<br />
zur vorherigen Generation. Ihren Unmut griff der Marburger Bund auf. Einige<br />
kritisieren, dass die Ärzte nicht mehr mit den anderen Krankenhausbeschäftigten<br />
zusammen kämpfen und ihre Sonderstellung ausnutzen. Meine These ist hingegen,<br />
dass ihre kämpferische Ausrichtung insgesamt die Auseinandersetzungen im<br />
Krankenhausbereich vorantrieb. Vorher hat man höchstens den technischen Bereich<br />
mobilisiert. Sonst waren Streiks dort verpönt mit der Begründung, das ginge<br />
doch gar nicht. Die Ärzte haben unter Beweis gestellt: Das geht eben doch!<br />
Ohne dass die Patienten Schaden nehmen. Nun nehmen auch von den anderen<br />
Angestellten im Krankenhaus neue Gruppen bei Streiks teil.<br />
Im Kita-Bereich wurde aus einer ähnlichen Rücksicht auf anvertraute Personen,<br />
die Kinder, sehr wenig gestreikt. 2009 hat sich das geändert. Der Spagat bei<br />
diesem Streik lag darin, dass der wirtschaftliche Druck auf die Kommunen gering<br />
war und es darauf ankam, insbesondere die Eltern für eine Verbesserung<br />
der Situation in den Kitas zu gewinnen und so politischen Druck aufzubauen.<br />
Den Beschäftigten half dabei natürlich auch, dass der Beruf der ErzieherIn zurzeit<br />
ein Mangelberuf ist, vor Kündigungen muss derzeit niemand Angst haben.<br />
Öffentlicher Druck ist ja auch für prekäre Beschäftigte sehr wichtig...<br />
Richtig. Exemplarisch hierfür steht der Streik des Reinigungspersonals für den<br />
Erhalt des tariflichen Mindestlohns im Jahr 2009. Dieser wurde zum einen durch<br />
sehr gezielte und auch wirksame Streikaktionen aber vor allem auch über eine<br />
wirksame öffentliche Mobilisierung gegen die Niedriglohnpolitik der Reinigungsfirmen<br />
gewonnen. Die »Verdiscounterung« des Arbeitsmarktes ist unpopulär in<br />
Deutschland, und auch nicht betroffene Beschäftigte finden es einen Skandal,<br />
wenn Reinigungskräfte, KurierfahrerInnen oder BriefzustellerInnen quasi zum<br />
Nulltarif beschäftigt werden sollen. Hinzukommt, meinem Eindruck nach, bei<br />
vielen Menschen das ungute Gefühl auf, dies könne einen auch selbst einmal<br />
treffen.<br />
Deshalb wurde der Streik der Reinigungskräfte auch gewonnen, obwohl nur<br />
eine kleine Minderheit der vielen hunderttausend Beschäftigten überhaupt gestreikt<br />
hat. Der Streik war spektakulär, weil es etwas Neues war, die IG BAU eine<br />
intelligente Strategie hatte und weil sie den Streik über die Öffentlichkeit und den<br />
dort entstandenen Druck führte. Die Ankündigung einiger Firmen, dass sie direkt<br />
nach dem Auslaufen des tariflichen Mindestlohns unmittelbar die Löhne<br />
senken würden, hat die öffentliche Stimmung zu Gunsten der Beschäftigten gekippt,<br />
und auch unter den Beschäftigten selbst die Mobilisierung beflügelt.
170 Streiks in Deutschland – ein neuer Aufschwung?<br />
Ein anderes Beispiel ist Amazon. Da gab es schon vorher einen Konflikt wegen<br />
der Betriebsratsbildung, in dem das Unternehmen recht schnell nachgegeben<br />
hat, weil es um seinen Ruf besorgt war. Amazon betreibt ein sensibles Geschäft.<br />
Es fürchtet, dass die Kunden nicht bei einem »Schmuddelunternehmen« kaufen<br />
wollen. Amazon ist druckempfindlich gerade weil es so populär ist. JournalistInnen<br />
nehmen es mehr wahr. Die Neuigkeiten verbreiten sich sehr schnell bei den<br />
netzaffinen Kunden usw. Die Frage ist jetzt, ob ver.di bei Amazon wirklich auch<br />
befristete Kräfte und Mini-JobberInnen in einen Arbeitskampf einbinden kann.<br />
Bei den Reinigungskräften ist das zwar gelungen, aber es ist nicht einfach. Ich<br />
vermute mal, dass auch hier die Mobilisierung der Öffentlichkeit ein wichtiger<br />
Punkt für Wirksamkeit des Arbeitskampfes sein wird.<br />
Es gibt aber auch prekär Beschäftigte in wichtigen Aufgabenbereichen, die<br />
daher auch eine gewisse »Produktionsmacht« besitzen, z. B. die Flughafenbeschäftigten.<br />
Wie schätzt Du das ein?<br />
Ich wäre mit dem Begriff »prekär« Beschäftigte etwas zurückhaltend. Im<br />
Wach- und Sicherheitsgewerbe werden die Beschäftigten zwar sehr niedrig bezahlt,<br />
es sind aber nicht alle prekär im Sinne von Befristung oder geringfügiger<br />
Beschäftigung. Viele haben erstmal formal ein normales Vollzeitarbeitsverhältnis.<br />
Manche wiederum – und dies war nebenbei auch ein Konfliktpunkt bei den Sicherheitsleuten<br />
an den nordrhein-westfälischen Flughäfen – haben so genannte<br />
Teilzeitarbeitsverträge, die allein dazu dienen, die von den Firmen jedenfalls zu<br />
bezahlende Arbeitszeit zu minimieren. Also: es stehen 120 Stunden im Arbeitsvertrag,<br />
in Spitzenzeiten in der Urlaubssaison wird aber wesentlich länger gearbeitet;<br />
ist aber wenig los, muss die Firma nur für 120 Stunden garantieren, obwohl<br />
übers Jahr gesehen von Teilzeit keine Rede sein kann und auch keine Zeit<br />
für einen Zweitjob bleibt.<br />
Die hohe Durchsetzungsfähigkeit der Sicherheitsleute an den Flughäfen basiert<br />
zum einen auf ihrer Stellung im Abfertigungsprozess, zum anderen aber auch<br />
darauf, dass für diese Tätigkeit gewisse Prüfungen und Sicherheitsüberprüfungen<br />
notwendig sind, so dass sie nicht einfach mal eben so durch LeiharbeiterInnen<br />
ersetzt werden konnten. Allerdings ist auch hier der Arbeitskampf stets ein Spagat.<br />
Der Druck lastet ja nicht direkt auf der Wachfirma, sondern getroffen werden<br />
vor allem die Flughafenbetreiber. Das Ziel ist, dass diese die Wachfirmen,<br />
die auf die Aufträge angewiesen sind, dann zum Einlenken bewegen.<br />
Selbst Beschäftigte, die scheinbar leicht zu ersetzen sind, können so, wenn sie<br />
in Schlüsselbereichen arbeiten, Stärke entfalten, wie das 2006 die GepäckabfertigerInnen<br />
am Flughafen Heathrow demonstriert haben.<br />
Es mehren sich allerdings die Anzeichen, dass es auf diesem Feld in nächster<br />
Zeit vermehrt Versuche geben wird, dass Streikrecht einzuschränken, indem An-
Streiks in Deutschland – ein neuer Aufschwung? 171<br />
kündigungsfristen oder Zwangsschlichtungen eingeführt werden. Das Stichwort<br />
lautet: »Begrenzung der Streiks in der Daseinsvorsorge«, also bei Flughäfen, aber<br />
auch Krankenhäusern, im Nahverkehr etc. Dies ist der Arbeitgeberseite ein wichtiges<br />
Anliegen. Möglicherweise wird sie dies über das Stichwort »Tarifeinheit« mit<br />
einer Begrenzung des Streikrechts von Berufsgewerkschaften verbinden. Die<br />
DGB-Gewerkschaften werden hier sehr aufmerksam sein müssen.<br />
Der Streik der Sicherheitsleute an den Flughäfen, aber auch die Streiks im Gesundheitswesen<br />
und bei den Kitas zeigen, dass es nicht allein mehr um Cockpit<br />
oder die GDL geht, die beide im Übrigen nicht zu den »Streikgewerkschaften«<br />
geworden sind, zu denen sie teilweise stilisiert wurden. Es geht um die Einschränkung<br />
des Streikrechts für alle.<br />
Wird der Streik weiblicher?<br />
Der Kita-Streik und der Streik in der Gebäudereinigung 2009, aber auch die<br />
vielen Auseinandersetzungen in den Krankenhäusern und im Einzelhandel legen<br />
dies nahe. Auch die Mehrheit der angestellten LehrerInnen, die in den letzten<br />
Jahren häufiger streiken, sind Frauen. Allerdings muss trotzdem davon ausgegangen<br />
werden, dass, wenn auch die Warnstreikenden mit einbezogen werden, die<br />
Mehrheit der Streikenden nach wie vor Männer sind. Dies gilt auch in den meisten<br />
Jahren für die Streikenden bei ver.di, weil eben auch im Bereich Ver- und<br />
Entsorgung oder bei der Telekommunikation, beides Branchen mit vielen männlichen<br />
Beschäftigten, häufig gestreikt wird. Es sind also mehr Frauen, die streiken<br />
als früher, nicht weil Frauen früher generell weniger streikbereit als Männer wären,<br />
sondern weil sich die Konflikte eben mehr in Branchen mit vielen Frauen<br />
verlagern. Inwieweit sich dies auch auf die Form des Streikens auswirkt, bliebe<br />
noch eine spannende Frage.<br />
Etwas präziser müsste man übrigens sagen, der Anteil streikender Frauen<br />
nimmt wieder zu. Früher gab es auch schon Phasen, in denen viele Frauen streikten<br />
z. B. in der Textil- und Bekleidungsindustrie in den 1950er und frühen<br />
1960er Jahren.<br />
Verändert sich die Streikkultur und werden die Streiks kämpferischer? Wie erfolgreich<br />
sind sie? Verändern sich die Menschen und verändert sich die Gewerkschaft?<br />
Zur Frage, werden die Streiks kämpferischer: Das hat immer etwas damit zu<br />
tun, wie sich die Gegenseite verhält. Da sich viele Unternehmen weniger kompromissbereit<br />
zeigen, kommt es als Reaktion zu einer größeren Entschlossenheit<br />
der Beschäftigten. Die Form, in der sich Entschlossenheit ausdrückt, ist hierzulande<br />
auch anders. Bengalos oder Feuerwerkskörper, die in Belgien oder Frankreich<br />
zum Bild gerade auch von männlich geprägten Streikdemonstrationen gehören,<br />
sind hierzulande eher selten. Zu offener Gewalt kommt es in Deutschland
172 Streiks in Deutschland – ein neuer Aufschwung?<br />
fast nie, auch Übergriffe der Polizei sind hierzulande deutlich seltener als in anderen<br />
Ländern.<br />
Zu beobachten ist: Streiks werden dann von den Beschäftigten am intensivsten<br />
geführt und erlebt, wenn sie nicht als Teil einer Verhandlungsroutine wahrgenommen<br />
werden, wo ein Warnstreik unter dem Motto »Alle Jahre wieder« begangen<br />
wird. Ein Erzwingungsstreik ist für viele Beschäftigten häufig der erste in ihrem<br />
Berufsleben. Die Erfahrung, den entscheidenden Schritt getan zu haben, das<br />
Direktionsrecht zu durchbrechen und einfach aufzuhören zu arbeiten – das ist<br />
das subversive Moment des Streiks. Viele Streikende haben oft noch ihre private<br />
Agenda, es geht dann beispielsweise auch darum, dem Chef oder der Chefin zu<br />
zeigen, »wir können auch anders«. Das verliert sich, wenn die Arbeitsniederlegung<br />
zu einem eher symbolischen Ritual wird. Dann schleift sich der Streik ab.<br />
Wie der Arbeitskampf läuft, hängt aber auch vom Management ab. Wer sich<br />
aktuell den Streik bei Neupack ansieht, merkt sofort, dass es auch Unternehmen<br />
gibt, die alle Register ziehen und im Übrigen keineswegs nur ökonomisch rational,<br />
sondern auch ideologisch prinzipiell auf Streiks reagieren. Da wird der Streik<br />
zum Kampf darum stilisiert, wer im Betrieb das alleinige Sagen hat.<br />
Ein erfolgreicher Streik hat idealtypisch drei Voraussetzungen. Erstens Mächtigkeit:<br />
Die kann man daran festmachen, wie viele Leute organisiert sind. Wobei<br />
die Mächtigkeit nicht nur Voraussetzung, sondern auch Ergebnis eines Arbeitskampfes<br />
sein kann.<br />
Zweitens Mobilisierungsfähigkeit: Sind die Beschäftigten bereit zu streiken?<br />
Sowohl die Mitglieder als auch die anderen Beschäftigten?<br />
Drittens Arbeitskampfwirksamkeit: übt der Streik den wirtschaftlichen und<br />
oder politischen Druck aus, der mit ihm beabsichtigt ist? Viel hilft hier nicht immer<br />
viel. Gerade längere Streiks sind oft ein Zeichen dafür, dass sich auch das<br />
Unternehmen auf den Streik eingestellt hat.<br />
Die wirksamsten Streiks sind also die, welche die Gegenseite wirklich ökonomisch<br />
treffen, so dass diese sich gezwungen sieht, schnell ein Verhandlungsangebot<br />
zu machen. Am wirkungslosesten sind Streiks, bei denen die Beschäftigten<br />
an einem toten Punkt sind, sie nichts mehr nachlegen können, und die Gegenseite<br />
kann es irgendwie gerade noch aushalten. Dann zieht es sich hin und es muss<br />
kein gutes Ergebnis für die Belegschaft rauskommen.<br />
Viele Streiks sind irgendwo dazwischen. Und da gibt es nicht nur die eine passende<br />
Strategie. So eine Suchbewegung gab es zum Beispiel im bundesweiten<br />
Streik des Einzelhandels 2007/8. Der ging über ein Jahr lang. Es gab viel verstreute<br />
einzelne Aktionen, die die Arbeitgeber und auch die Öffentlichkeit nur<br />
am Rande wahrnahmen. Zum Abschluss eines neuen Tarifvertrags kam es erst,<br />
als in Baden-Württemberg in einigen ausgewählten Einzelhandelsbetrieben zum<br />
Dauerstreik übergegangen wurde. Dabei wurde teilweise die schwierige Situation
Streiks in Deutschland – ein neuer Aufschwung? 173<br />
in Kauf genommen, dass sich die Belegschaften spalteten und der Arbeitskampf<br />
sich nur auf eine qualifizierte Minderheit stützte. Ziel war es, den Ablauf auf<br />
Dauer so durcheinander zu bringen, dass das Management merkt, dass man mit<br />
Streikbrechereinsätzen zwar einen Tag geregelt bekommt, aber nicht drei Wochen.<br />
Inzwischen gibt es bei ver.di und der IG Metall sehr unterschiedliche Erfahrungen<br />
und Ansätze, in welchen Situationen man überhaupt streiken soll. Bei der<br />
IG Metall wird in der Regel nicht aus einer Minderheitenposition heraus gestreikt.<br />
Erst wenn eine deutliche Mehrheit der Beschäftigten organisiert ist, wird<br />
in der Regel überhaupt über eine Urabstimmung diskutiert. Es geht darum, zunächst<br />
Mächtigkeit zu schaffen und alles weitere darauf aufzubauen.<br />
Dies ist für viele ver.di-Bereiche eine zu große Hürde. Stattdessen wird bei<br />
ver.di versucht, auch aus Minderheitenpositionen heraus handlungsfähig zu werden<br />
und darüber die Organisation im Betrieb überhaupt erst aufzubauen. Ein<br />
Konzept, dass als Organisieren am Konflikt bezeichnet werden kann. Die jüngsten<br />
Streiks der Sicherheitsleute an den Flughäfen sind hierfür ein Beispiel.<br />
Diese Form der Organisierung scheint im Übrigen besonders nachhaltig zu<br />
sein. Es gibt Anzeichen, dass Beschäftigte, die im Streik eintreten, länger in der<br />
Gewerkschaft bleiben, als andere. Sie haben eine größere emotionale Bindung zu<br />
»ihrer« Gewerkschaft. Das alles heißt natürlich nicht, dass man sich automatisch<br />
aus der Mitgliederkrise streiken kann. Streiks sind sehr voraussetzungsvoll, sie<br />
müssen erfolgreich sein, sonst können sie auch sehr negative Auswirkungen haben,<br />
und sie sind ein zwar sehr wichtiges aber auch nicht das einzige Mittel, Interessen<br />
durchzusetzen.
Demokratisierung von<br />
Streiks – Revitalisierung der<br />
Gewerkschaftsarbeit<br />
Rede von Bernd Riexinger * auf der Streikkonferenz, 1.–3. März<br />
<strong>2013</strong> in Stuttgart<br />
Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />
die von der Hans-Böckler-Stiftung ermittelten Zahlen zur Streikfreudigkeit der<br />
Gewerkschaftsmitglieder in Deutschland sind durchaus ermutigend. Die Zahl<br />
der an Warnstreiks und Streiks beteiligten Beschäftigten hat sich 2012 gegenüber<br />
dem Vorjahr mehr als versechsfacht. Steigerungen habe es auch bei der<br />
Konflikthäufigkeit gegeben. Insgesamt verzeichnen wir für 2012 mehr als 250<br />
Streiks und Warnstreiks, wobei der Dienstleistungsbereich diesbezüglich einen<br />
neuen Rekord erzielte.<br />
All das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Deutschland nach<br />
wie vor relativ wenig gestreikt wird. Ein internationaler Vergleich zeigt, dass unter<br />
den Industrieländern nur noch die Schweiz weniger Ausfalltage durch<br />
Streiks aufzuweisen hat als Deutschland. Da besteht also durchaus noch Luft<br />
nach oben. Vielleicht ist das ein Grund, warum in den letzten Jahren viel über<br />
durchaus wichtige Themen wie organizing oder campaigning geschrieben und geforscht<br />
wurde, aber wenig über das wichtigste Mittel der Gewerkschaften, ihre<br />
Forderungen durchzusetzen: den Streik. Vielleicht hängt es auch damit zusammen,<br />
dass wir in den letzten 20 Jahren kaum größere und längere Flächenstreiks<br />
im industriellen Sektor erlebt haben und viele bei heroischen Kämpfen der Arbeiterklasse<br />
weiterhin zuerst an die Streiks der Drucker und Metaller denken<br />
und nicht so sehr an Verkäuferinnen, Erzieherinnen oder Reinigungskräfte.<br />
*<br />
Bernd Riexiniger war von 2001 bis zu seiner Wahl zum Bundesvorsitzenden der Partei DIE<br />
LINKE im Juni 2012 Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung<br />
hat die Rede als Broschüre unter dem Titel »Demokratisierung von Streiks. Revitalisierung<br />
der Gewerkschaftsarbeit« aufgelegt. Sie kann kostenlos bezogen werden. Bestellungen an Karin<br />
Malingriaux, malingriaux@rosalux.de.
176 Demokratisierung von Streiks – Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit<br />
Dabei hat sich gerade in diesen und anderen Bereichen in den letzten zehn Jahren<br />
viel getan. Fanden größere Streiks im öffentlichen Dienst bis zur Jahrtausendwende<br />
eher in einem 15-Jahre-Rythmus statt, so kam es seit 2005 zu zahlreichen<br />
bundesweiten und regionalen Arbeitskämpfen, bei denen zum Teil wochenlang<br />
gestreikt wurde. Ich erinnere nur an den neunwöchigen Streik in Baden-Württemberg<br />
(2005/2006) gegen die Verlängerung der Arbeitszeit oder an<br />
den sechswöchigen bundesweiten Streik der Erzieherinnen und Erzieher 2009<br />
für eine bessere Eingruppierung und einen besseren Gesundheitsschutz. Erstmals<br />
in der Nachkriegszeit streikten 2009 auch Reinigungskräfte, aufgerufen von<br />
der IG BAU. Über ein Jahr (2008/2009) dauerte der bisher längste und härteste<br />
Tarifkonflikt im Einzelhandel um den Erhalt des Flächentarifvertrages, in dem<br />
erstmals Verkäuferinnen und Verkäufer in verschiedenen Betrieben wochenlang<br />
streikten – bis dato eher unvorstellbar. Ich erinnere darüber hinaus an die wochenlangen<br />
Streiks beim Catering-Unternehmen Gate Gourmet (2005/2006) in<br />
Düsseldorf und am Berliner Universitätskrankenhaus Charité (2011) oder aktuell<br />
an den Streik bei Neupack in Hamburg.<br />
Einer der ersten bedeutsamen Streiks der IG BCE findet also nicht bei einem<br />
der großen Chemiekonzerne statt, sondern in einer nicht tarifgebundenen Verpackungsfirma.<br />
Streikte die ruhmreiche IG Druck und Papier 1976 noch für Besetzungsregelungen<br />
an den Maschinen, so werden die in ver.di organisierten Kolleginnen<br />
und Kollegen von der Charité voraussichtlich mit der Forderung nach einer<br />
personellen Mindestbesetzung in einen neuen Arbeitskampf gehen. Auch in<br />
der Nahrungsmittelindustrie kommt es regelmäßig zu größeren Streiks, die von<br />
der Öffentlichkeit jedoch meist übersehen werden. Nicht vergessen werden sollte<br />
auch der wochenlange Streik von Journalistinnen und Journalisten, die im Frühjahr<br />
und Sommer 2011 überall im Land auf die Straße gegangen sind, weil ihren<br />
neu eingestellten jüngeren Kolleginnen und Kollegen deutlich weniger bezahlt<br />
werden sollte, oder der erfolgreiche Streik der Beschäftigten im Sparkassen-Callcenter<br />
S-Direkt in Halle, der 126 Tage dauerte. Derzeit fallen auf verschiedenen<br />
Flughäfen immer wieder Flüge aus, weil das Sicherheitspersonal streikt und mit<br />
der Forderung nach einer 30-prozentiger Lohnerhöhung auf sich aufmerksam<br />
macht.<br />
Hinter diesen Verschiebungen an der Streikfront stehen massive Veränderungen<br />
in der Zusammensetzung der »Arbeiterklasse« und massive Umstrukturierungen<br />
in Produktion und Verteilung. Betrachten wir allein die Beschäftigungsentwicklung,<br />
so hat die Bedeutung der klassischen Industriesektoren zweifellos<br />
ab- und die des Dienstleistungsgewerbes zweifellos zugenommen. So arbeiten in<br />
der Automobilindustrie 747.000 Menschen und bei den Zulieferern eine Million,<br />
im Gesundheitswesen unterdessen jedoch sechs Millionen Menschen. Diese Verschiebung<br />
ist jedoch nicht nur quantitativer Natur. Auch tarifpolitisch gab es dra-
Demokratisierung von Streiks – Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit 177<br />
matische Veränderungen vor dem Hintergrund einer nunmehr fast 30 Jahre anhaltenden<br />
neoliberalen Politik. War es bis Mitte der 1980er Jahre relativ üblich,<br />
dass die großen und kampfstarken Branchen der Metallindustrie oder in eingeschränktem<br />
Maße des öffentlichen Dienstes die tarifliche Leitwährung bestimmten<br />
und deren Tarifabschlüsse in vielen anderen Branchen, gerade des Dienstleistungsbereiches,<br />
mehr oder weniger vollständig übernommen wurden, hat sich<br />
dies gravierend verändert. Gelang es im industriellen Sektor der IG Metall oder<br />
auch in der Chemieindustrie, das Bezahlungsniveau – zumindest für die Beschäftigten,<br />
die unter die Tarifverträge fallen – zu halten und die übrigen Bedingungen<br />
noch zu regulieren, kann davon im Dienstleistungssektor keine Rede sein. Gerade<br />
dort sind die Angriffe auf die Löhne und Arbeitsbedingungen besonders<br />
scharf und besonders erfolgreich, vor allem in den neuen Branchen, die häufig<br />
weder Betriebsräte noch gewerkschaftliche Organisierung kennen, wie der Bereich<br />
der Leiharbeit, die Callcenter, der private Gesundheitssektor, die Werbebranche<br />
oder die neuen Medien. Hier müssen häufig auch Akademikerinnen und<br />
Akademiker die Erfahrung machen, dass sie nach ihrem Studium zunächst im<br />
Niedriglohnbereich unter extrem prekären Bedingungen arbeiten müssen. Die<br />
Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse und niedrige Löhne kennzeichnen<br />
heute viele Sektoren des Dienstleistungsgewerbes, ohne dass bisher eine klare<br />
Gegenstrategie der Gewerkschaften erkennbar wäre. Zudem scheiterten viele der<br />
bislang erprobten Ansätze an einem latenten Ressourcenmangel.<br />
Die Deregulierung hat, was leicht empirisch nachweisbar ist, durch die Agenda-2010-Politik<br />
der Schröder-Fischer-Regierung einen gewaltigen Schub bekommen.<br />
Gerhard Schröder ist heute noch stolz darauf, »dass wir inzwischen den<br />
besten Niedriglohnsektor in Europa haben«. 1 Dazu kommt noch die abnehmende<br />
Tarifbindung. Im Osten fallen deutlich unter 40 Prozent der Beschäftigten<br />
überhaupt noch unter Tarifverträge, im Westen sind es auch nur noch etwa 60<br />
Prozent. Ausgliederungen, Werkverträge, Austritte aus den Arbeitgeberverbänden<br />
oder Mitgliedschaften in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung sorgen<br />
dafür, dass von den erkämpften oder ausgehandelten Tarifergebnissen immer<br />
weniger Beschäftigte tatsächlich profitieren können. Vor kurzem stellte das Wirtschafts-<br />
und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung<br />
fest, dass die Reallöhne unter das Niveau von 2000 gesunken sind. Das ist zu einem<br />
nicht unerheblichen Teil der sinkenden Tarifbindung geschuldet, weil in den<br />
nicht tarifgebundenen Bereichen der Reallohnverlust überdurchschnittlich hoch<br />
ausfällt.<br />
Mir geht es nicht darum, mit meinem Beitrag eine depressive Stimmung zu<br />
verbreiten, ganz im Gegenteil. Ich will deutlich machen, wie wichtig es für die<br />
1<br />
Vgl. http://www.gewerkschaft-von-unten.de/Rede_Davos.pdf.
178 Demokratisierung von Streiks – Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit<br />
Gewerkschaftsbewegung ist, die Organisierungsanstrengungen in den beschriebenen<br />
Bereichen zu erhöhen. Gerade die Erfahrungen mit Streiks zeigen, dass<br />
dies möglich und es nicht so schwierig ist, kämpferische Belegschaften in den Betrieben<br />
aufzubauen und zu unterstützen, hat man dort erst einmal Fuß gefasst<br />
und setzt auf die richtigen Methoden. Wir haben diese Konferenz organisiert,<br />
weil wir der Überzeugung sind, dass sich Erfahrungen aus erfolgreichen Streiks<br />
in der Vergangenheit bis zu einem gewissen Maße übertragen lassen. Natürlich<br />
gibt es Besonderheiten bei den Betrieben und Branchen, bei den regionalen, personellen<br />
und anderen Strukturen zu berücksichtigen. Trotzdem behaupte ich,<br />
dass sich bestimmte Methoden und Erfahrungen verallgemeinern lassen. Es wäre<br />
eine dringliche Aufgabe für die Gewerkschaften, die vielfältigen Streikerfahrungen<br />
auszuwerten, zu bündeln und zu verbreitern sowie haupt- und ehrenamtliche<br />
Funktionäre so zu schulen und zu qualifizieren, dass die Streikfähigkeit in vielen<br />
Bereichen hergestellt und in anderen erheblich verbessert werden kann. Die Gewerkschaften<br />
würden dadurch gerade in Bereichen an Mächtigkeit gewinnen, in<br />
denen sie noch immer nicht hinlänglich in der Lage sind, gute Tarifergebnisse zu<br />
erzielen oder überhaupt Arbeitskämpfe zu führen.<br />
Ich will den Versuch machen, aus den vielfältigen Erfahrungen, insbesondere<br />
im Stuttgarter ver.di-Bezirk, aber auch aus Beobachtungen in anderen Bezirken<br />
und Branchen heraus einige Grundsätze für Streiks und Streikbewegungen zu<br />
benennen.<br />
1 Organisierung durch Streiks<br />
Galt früher meistens der Grundsatz, dass Streiks erst möglich sind, wenn Belegschaften<br />
über einen guten Organisationsgrad und über gewerkschaftliche Vertrauensleutestrukturen<br />
verfügen, gilt das für viele Streiks der letzten Jahre nur<br />
noch eingeschränkt oder gar nicht. Gerade im Handel, aber auch in Teilen des<br />
öffentlichen Dienstes sowie in Banken und Versicherungen gab es in den letzten<br />
Jahren – trotz eines unterdurchschnittlichen gewerkschaftlichen Organisationsgrades<br />
– eine Reihe recht erfolgreicher Arbeitskämpfe. Voraussetzung waren in<br />
aller Regel eine ausreichende Zahl an betrieblichen Ansprechpartnern und ein<br />
mobilisierungsfähiger Gewerkschaftsapparat. Immer noch bilden in den meisten<br />
Betrieben die Gewerkschaftsmitglieder das Rückgrat von Streiks, jedoch zeigt<br />
sich häufig, dass viele Unorganisierte bereit sind mitzumachen. Zahlt die Gewerkschaft<br />
bereits ab dem ersten Streiktag Streikgeld und gehen diese Warnstreiks<br />
mindestens einen vollen Tag, organisieren sich zum Teil ganze Betriebe<br />
über solche Streiks. Gerade für Branchen mit vielen Klein- und Mittelbetrieben<br />
oder Betriebsstätten mit wenigen Beschäftigten wie den Einzelhandel, das Bewachungs-<br />
oder das Druckereigewerbe, aber auch den öffentlichen Dienst kann es
Demokratisierung von Streiks – Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit 179<br />
wichtig sein, dass möglichst viele Betriebe und Beschäftigte gleichzeitig zum<br />
Streik aufgerufen werden und sich die Beteiligten auf zentralen Streikversammlungen<br />
treffen. Damit können selbst Beschäftigte an Standorten mit geringerer<br />
Streikbeteiligung positive Erfahrungen der kollektiven Stärke und Kampfbereitschaft<br />
sammeln. Mit diesem Vorgehen konnte nicht nur in Stuttgart im Bereich<br />
Handel die Zahl der Streikbetriebe deutlich, von zehn auf 40, erhöht werden.<br />
Auch in fast allen anderen Branchen, in denen ver.di aktiv ist, kam es zu einer<br />
Vervielfachung von Streiks und zu einer merklichen Steigerung des gewerkschaftlichen<br />
Organisationsgrades, da die Streikerfahrungen in die Betriebe und<br />
Institutionen zurückwirken und dort die Beschäftigten stärken. Das gilt für Verkäuferinnen<br />
und Verkäufer genauso wie für Erzieherinnen und Erzieher, Pflegekräfte<br />
im Krankenhaus oder Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter bei der<br />
Postbank.<br />
2 Vorbereitung von Streiks durch Organisierungskampagnen<br />
Organisierungs- und Mobilisierungskampagnen werden im Allgemeinen<br />
als zusätzliche Aktionsform der Gewerkschaften betrachtet. Sie stellen<br />
Aktionsfähigkeit her, wo noch keine Streikfähigkeit vorherrscht, oder ergänzen<br />
Streiks, indem sie insbesondere in den öffentlichen Raum hineinwirken.<br />
Sie können jedoch auch eingesetzt werden, um Streiks vorzubereiten<br />
und um deren Basis zu vergrößern. So hat der ver.di-Bezirk Stuttgart<br />
mehrere große Streiks mit den Methoden des campaigning und organizing<br />
vorbereitet, darunter den langen Streik im Einzelhandel um den Erhalt<br />
des Manteltarifvertrages, den neunwöchigen Streik um die Arbeitszeit, unter<br />
dem Motto »38,5 bleibt, sonst streikt's«, den sechswöchigen Streik der<br />
Erzieherinnen und Erzieher um eine bessere Eingruppierung und die<br />
Lohn- und Gehaltstarifrunden unter dem Motto »Die nächsten Milliarden<br />
für uns«. Die in den Kampagnen angewandten Methoden und Vorgehensweisen<br />
sind meistens ähnlich. Ein Kreis von ehren- und hauptamtlichen<br />
Kolleginnen und Kollegen erarbeitet frühzeitig einen Kampagnenplan<br />
und entwickelt ein Motto sowie einen Aktionsplan. In der Regel werden<br />
drei Phasen geplant: erstens die Aufklärungsphase, zweitens die Phase von<br />
Aktionen unterhalb von Warnstreiks und Streiks und drittens die Phase<br />
der konkreten Mobilisierung für Warnstreiks und Streiks. Der Diskussionsprozess<br />
in den Betrieben und im Bezirk über die Streikforderungen ist<br />
Bestandteil der Kampagnen. Ziel ist immer, die Beschäftigten aufzuklären,<br />
sie frühzeitig auf die Notwendigkeit von Warnstreiks und Streiks einzu-
180 Demokratisierung von Streiks – Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit<br />
stimmen und mit konkreten Aktionen den Boden dafür zu bereiten sowie<br />
im Vorbereitungsprozess von Tarifrunden neue Mitglieder zu gewinnen.<br />
Das setzt natürlich voraus, dass es einen bewussten und entschlossenen<br />
Kreis von ehren- und hauptamtlichen Funktionären gibt, die auch in ihren<br />
Betrieben verankert sind.<br />
3 Entschlossenheit und Stärke zeigen<br />
Natürlich haben wir sehr unterschiedliche Bedingungen für die Organisierung<br />
von Arbeitsniederlegungen. Es ist bislang nicht die Regel, dass gut organisierte<br />
und kampfbereite Belegschaften mit einem ausgeklügelten Plan in den Streik geführt<br />
werden. Bestenfalls wechseln sich, wie zum Beispiel in den kommunalen<br />
Betrieben und Verwaltungen, gut organisierte Arbeitskämpfe mit sehr schlecht<br />
organisierten ab. In vielen Bereichen entsteht erst während der Tarifauseinandersetzungen<br />
so etwas wie eine größere Kampfkraft und -bereitschaft wie beispielsweise<br />
im Einzelhandel, im Bewachungsgewerbe, in der Logistik oder auch im Finanzdienstleistungsbereich.<br />
In vielen Branchen haben wir daher die Strategie entwickelt,<br />
am Anfang der Streikphase Stärke zu zeigen, indem wir weitgehend alle<br />
Beschäftigten zu einem ganztägigen Streik aufrufen, zu einer zentralen Streikversammlung<br />
mobilisieren und in aller Regel eine gemeinsame Demonstration<br />
durch die Innenstadt organisieren, die mit einer öffentlichen Kundgebung endet.<br />
Danach können sich die Streiks, je nach Taktik und Möglichkeiten, auch wieder<br />
etwas diversifizieren. In aller Regel werden jedoch bei längeren Streiks alle Beteiligten<br />
wenigstens einmal in der Woche zu einem gemeinsamen Streiktag mit öffentlicher<br />
Demonstration und Kundgebung aufgerufen. So wird allen Streikteilnehmerinnen<br />
und -teilnehmern vor Augen geführt, auch denen in den kleineren<br />
und schwach organisierten Betrieben, dass wir als Gewerkschaften über Stärke<br />
und Macht verfügen.<br />
4 Umfassend besetzte Streikleitungen verbessern die Mobilisierung<br />
In der Regel gab es in Stuttgart immer relativ umfassend besetzte Streikleitungen.<br />
Von allen Streikbetrieben und denen, die wir zu solchen machen wollten, wurde<br />
mindestens eine Vertreterin oder ein Vertreter in die bezirkliche Streikleitung gewählt.<br />
Von vorneherein haben die Ehrenamtlichen also ein hohes Gewicht bei<br />
der Vorbereitung und Durchführung der Streiks. Sie verschaffen sich den Überblick<br />
über die Kampffähigkeit der Beschäftigten, diskutieren, was noch getan<br />
werden muss, um diese herzustellen, bestimmen weitere Schritte und fällen wichtige<br />
Entscheidungen. Dieses Vorgehen schafft ein hohes Verantwortungsbe-
Demokratisierung von Streiks – Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit 181<br />
wusstsein der Beteiligten in Bezug auf das Gelingen der Streikbewegung und ermöglicht<br />
gleichzeitig allen eine realistische Einschätzung der Kampfkraft.<br />
5 Demokratisierung der Streiks und die Bedeutung von<br />
Streikversammlungen<br />
Nach meinem Verständnis können Streiks Emanzipationsbewegungen sein,<br />
wenn die Streikenden tatsächlich zu Akteuren der Auseinandersetzung werden<br />
und nicht nur Objekte bleiben. Der so ziemlich blödeste Spruch in Tarifauseinandersetzungen<br />
ist: »Denk’ daran, wenn du die Leute auf die Bäume treibst,<br />
musst du sie auch wieder herunterholen.« Unser Verständnis von den Beschäftigten<br />
ist nicht das von einer Menschenhorde, die man in irgendetwas hineintreibt<br />
und der man nachher ein Ergebnis vermitteln muss, für das die Beschäftigten tatsächlich<br />
»nicht auf die Bäume geklettert sind«. Schlimmer noch ist, gleich auf<br />
eine umfassende Mobilisierung zu verzichten, damit solche Probleme erst gar<br />
nicht aufkommen.<br />
Die Kolleginnen und Kollegen sind für uns also die zentralen Streikakteure<br />
und sollten zusammen mit den Hauptamtlichen die Ziele, die Strategie und die<br />
Intensität des Arbeitskampfes sowie seine verschiedenen Aktionsformen bestimmen.<br />
Das setzt voraus, dass wir aktive Streiks und keine Wohnzimmer- oder Tapezierstreiks<br />
organisieren. Im Kern bedeutet das, jeden Tag Streikversammlung,<br />
mal kürzer, mal länger (Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel). Manchmal<br />
brauchen wir wie auch die Kolleginnen und Kollegen bei längeren Arbeitsauseinandersetzungen<br />
zwischendrin eine Pause, in der wir uns ausruhen und Kraft<br />
schöpfen können. Streiken ist nämlich anstrengend.<br />
Auf den Streikversammlungen berichten die Vertreterinnen und Vertreter der<br />
beteiligten Betriebe, mit wie vielen Streikenden sie vertreten sind, wie die Stimmung<br />
im Betrieb ist, wie sich die Geschäftsleitung verhält und welche Probleme<br />
aufgetreten sind. Gemeinsam wird diskutiert, wie der aktuelle Verhandlungsstand<br />
und das Vorgehen der Gegenseite zu bewerten sind, wie es weitergehen soll, welche<br />
Strategien, Aktionen und Initiativen sinnvoll sind. Die Hauptamtlichen sind<br />
selbst Akteure des Streiks und nicht auf eine Moderatorenrolle beschränkt. Sie<br />
motivieren, machen Stimmung, nehmen Stellung, leiten jedoch auch die Streikversammlung.<br />
Hier wird auch über wichtige Entscheidungen abgestimmt. Unter<br />
anderem geht es um Fragen wie: Wie viele Tage soll gestreikt werden? In welchem<br />
Betrieb beginnt man den Streik? Welche Betriebe sollen später dazukommen?<br />
Wie gehen wir mit Streikbrecherinnen und Streikbrechern um, wie mit der<br />
Polizei? So wurde die wichtige Entscheidung im Streik der Müllwerker 2006 in<br />
Stuttgart, auf den Einsatz privater Unternehmen mit der Blockade der kommunalen<br />
Müllverbrennungsanlage zu reagieren, ebenso auf einer Streikversammlung
182 Demokratisierung von Streiks – Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit<br />
getroffen wie die, eine flexible Streikstrategie anzuwenden. Dem war eine einwöchige<br />
Diskussion auf den Streikversammlungen vorausgegangen. Ergebnis war,<br />
dass mit hoher Disziplin so gestreikt wurde, dass die Geschäftsführung der Stuttgarter<br />
Müllabfuhr nie wusste, wann die Kollegen streikten oder arbeiteten. Damit<br />
fiel es ihr auch schwerer, private Firmen als Streikbrecher einzusetzen. Ähnlich<br />
lief der Prozess der Herausbildung und Umsetzung einer flexiblen Streikstrategie<br />
bei den Erzieherinnen und Erziehern oder im Einzelhandel.<br />
Die Demokratisierung der Streiks, deren wichtigstes Forum die Streikversammlungen<br />
sind, macht die Kolleginnen und Kollegen also zu den entscheidenden<br />
Akteuren, die zusammen mit uns, den Hauptamtlichen, für den Verlauf von<br />
Arbeitskämpfen und deren Ergebnis verantwortlich sind. Das setzt nicht nur<br />
Fantasie frei, sondern gibt den Streiks auch eine ungeheure Stärke, die kaum gebrochen<br />
werden kann. Sie verlangt von den Streikleitungen in den Betrieben allerdings<br />
auch die Entwicklung einer offenen Diskussionskultur und die Bereitschaft,<br />
Konflikte mit allen Streikbeteiligten auszuhalten und auszutragen.<br />
6 Neue Streikformen und Herausbildung einer eigenen<br />
Streikkultur<br />
Im Dienstleistungsbereich können Streiks und Arbeitsniederlegungen selten<br />
einen vergleichbaren ökonomischen Druck wie in der kapitalintensiven Industrie<br />
entfalten. So gibt es im öffentlichen Dienst wenig Bereiche, in denen von Gewerkschaftsseite<br />
der Gegenseite ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden zugefügt<br />
werden kann. Deshalb sind Arbeitskämpfe im öffentlichen Dienst mehr<br />
oder weniger immer auch politische Auseinandersetzungen, bei denen entscheidend<br />
ist, ob es gelingt, die öffentliche Meinung und Bevölkerung auf die eigene<br />
Seite zu ziehen oder sie zumindest nicht an die Seite des Gegners zu treiben.<br />
Auch in Kaufhäusern und anderen Einzelhandelsbetrieben sind Streiks nicht gerade<br />
eine einfache Angelegenheit. Sehr heterogene Belegschaftsstrukturen, eine<br />
Menge Minijobs und Aushilfen, viele befristete Arbeitsverträge, eine große Abhängigkeit<br />
der Führungskräfte von der Geschäftsleitung sowie dezentrale Firmenstrukturen<br />
machen es nicht gerade leicht, ökonomischen Druck auszuüben.<br />
Ähnlich ist es im Bewachungsgewerbe, bei Banken und Versicherungen, und<br />
selbst bei der Telekom musste sehr lange gestreikt werden, um die Forderungen<br />
der Beschäftigten durchzusetzen. All das führt dazu, dass Tarifauseinandersetzungen<br />
im Dienstleistungsgewerbe häufig sehr lange dauern, viele verschiedene<br />
Phasen durchlaufen und an Haupt- wie Ehrenamtliche hohe Anforderungen stellen.<br />
Im Unterschied zu industriellen Streiks finden sie jedoch auch in hohem Maße<br />
im öffentlichen Raum statt, sind doch Patientinnen und Patienten, Eltern und
Demokratisierung von Streiks – Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit 183<br />
viele Menschen in ihrer Eigenschaft als Kundinnen und Kunden direkt von ihnen<br />
betroffen. Daraus kann auch eine Stärke werden, wenn wir es schaffen, neue<br />
Streikformen zu entwickeln und ein breites Umfeld mit einzubeziehen. So ist es<br />
zum Beispiel beim Einzelhandelsstreik 2006/2007 nicht nur gelungen, die Streikintensität<br />
zu erhöhen, sondern auch eine neue Streikkultur herauszubilden. Bis<br />
dato war es im Einzelhandel, von rühmlichen Ausnahmen einmal abgesehen, üblich,<br />
ein oder zwei Tage zu streiken und dies im Laufe einer Tarifrunde vielleicht<br />
einmal zu wiederholen. In der Tarifrunde von 2006/2007 gab es Betriebe, die innerhalb<br />
eines Zeitrahmens von 15 Monaten 20 Wochen und mehr streikten. Besonders<br />
hervorgetan haben sich dabei junge Beschäftigte von H & M und Zara,<br />
darunter sehr viele Migrantinnen und Migranten, die zum entscheidenden Motor<br />
der damaligen Streikbewegung wurden. Aber auch andere Beschäftigte, die bei<br />
Schlecker, Kaufhof, Karstadt, Kaufland oder in Filialbetrieben arbeiten, streikten<br />
in bis dahin unbekanntem Ausmaße. Es ging auch um viel: Schließlich stand der<br />
gesamte Flächentarifvertrag auf dem Spiel. War es bis dato üblich, nach dem<br />
Streikbeginn schnell ins Gewerkschaftshaus zu verschwinden, um dem Gezerre<br />
der Führungskräfte zu entgehen, beschlossen die Beschäftigten diesmal, die Bevölkerung<br />
direkt mit ihrem Streik zu konfrontieren. Lautstark zogen sie von<br />
Kundeneingang zu Kundeneingang ihrer Arbeitsstätten, sangen Streiklieder, die<br />
wie aus dem Nichts entstanden, bildeten Ketten, verteilten Informationsmaterial<br />
und hielten Reden, meistens das Megafon in den Verkaufsraum gerichtet. Trotz<br />
eines generellen Demonstrationsverbots auf der Haupteinkaufsstraße gehörte<br />
die Stuttgarter Königsstraße monatelang den Streikenden. Menschenketten, Performances<br />
und viele andere Aktivitäten sorgten dafür, dass die Gegenseite nie<br />
zur Ruhe kam. In manchen Betrieben konnten neue Streikformen ausprobiert<br />
werden. So erschienen in einigen Läden und Kaufhäusern die Kolleginnen und<br />
Kollegen zunächst zur Arbeit, sodass die Geschäftsführung von einem streikfreien<br />
Tag ausging. Die Streikbrecherinnen und Streikbrecher wurden daraufhin<br />
heimgeschickt. Dann tauchte eine Vertreterin oder ein Vertreter der Gewerkschaft<br />
mit einem Megafon auf, rief zum Streik auf, woraufhin die Beschäftigten<br />
die Kassen und Verkaufsräume verließen und sich auf der Straße versammelten.<br />
Es gehört viel Mut dazu, bei einer langen Schlange vor der Kasse diese einfach<br />
abzuschließen und den verdutzten Kundinnen und Kunden zu sagen: »Tut mir<br />
leid, ich kann jetzt nicht abkassieren. Meine Gewerkschaft hat mich gerade zum<br />
Streik aufgerufen.« Aber es klappte. Auch Flashmobs gehörten zu den neuen Aktionsformen.<br />
So hat es einigen Vertrauensleuten vom Daimler riesigen Spaß bereitet,<br />
ihre anarchistischen Triebe in der Schuhabteilung des Stuttgarter Kaufhofes<br />
auszuleben.<br />
Ich will hier nicht mit all zu vielen praktischen Erfahrungen langweilen, aber<br />
ein wirklich gutes Beispiel für neue Streikformen ist der Arbeitskampf der Be-
184 Demokratisierung von Streiks – Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit<br />
schäftigten der Stuttgarter Straßenbahnen (SBB) 2011. Die Kolleginnen und Kollegen<br />
hatten auch aufgrund der Unzufriedenheit mit den Tarifabschlüssen in der<br />
Fläche entschieden, eine Sondertarifrunde zu starten, um höhere Sonderzahlungen<br />
und Zuschläge sowie mehr freie Tage durchzusetzen. Schnell war klar, dass<br />
es zum Streik kommen würde. Nun sind Streiks bei öffentlichen Verkehrsbetrieben<br />
einerseits sehr wirkungsvoll, weil man sicherstellen kann, dass kein Bus und<br />
keine Bahn den Betriebshof verlassen. Andererseits üben sie keinen ökonomischen<br />
Druck auf den Eigentümer aus. Öffentliche Verkehrsbetriebe sind in der<br />
Regel Zuschussbetriebe, und bei einem Streik freut sich der kaufmännische Direktor<br />
in der Regel, dass ihm die Gewerkschaft die Gehälter bezahlt. Dauert der<br />
Konflikt allerdings länger, gibt es größeren Ärger mit den Fahrgästen, die nicht<br />
pünktlich zur Arbeit oder zur Schule kommen. Deshalb entwickelten die Kolleginnen<br />
und Kollegen in Stuttgart eine etwas andere Strategie. Von den etwa 15<br />
Streiktagen entfielen nur 4,5 auf die Fahrerinnen und Fahrer der Busse und Bahnen.<br />
Dafür streikten die meist weiblichen Beschäftigten in den Servicebüros sowie<br />
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Werkstätten umso länger. Dadurch<br />
dass kaum mehr Fahrkarten verkauft wurden, gingen die Einnahmen um<br />
einen sechs- bis siebenstelligen Betrag zurück. Zugleich wurden die Fahrkartenkontrolleure<br />
in den Streik einbezogen, sodass die Menschen ungestraft die Busse<br />
und Bahnen nutzen konnten, ohne zu zahlen. Streiken bei Verkehrsbetrieben die<br />
Beschäftigten der Werkstätten längere Zeit, so können aus technischen Gründen<br />
immer weniger Busse und Bahnen die Depots verlassen. Mit einer relativ kleinen<br />
Zahl von Streikenden wird so ein verhältnismäßig großer Druck erzeugt und<br />
gleichzeitig die Bevölkerung geschont. Die Geschäftsleitung der SBB wurde ob<br />
dieser Taktik so nervös, dass erstmals in der Geschichte des öffentlichen Dienstes<br />
in Stuttgart die Belegschaft für einen Tag ausgesperrt wurde. Diese Aussperrung<br />
musste jedoch nach heftigen Protesten schnell wieder beendet werden und<br />
trug eher zum Erfolg des Arbeitskampfes bei. Auch die Beschäftigten der Stuttgarter<br />
Straßenbahnen entdeckten in ihren Auseinandersetzungen den großen<br />
Nutzen von Streikversammlungen, etwas, das sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht<br />
kannten.<br />
Sollen alternative Streikformen zur Anwendung kommen, bedarf es im übertragenen<br />
Sinne neuer Räume, in denen neue Ideen entstehen können, wo die Bereitschaft<br />
wächst, Grenzen zu verschieben, der Mut, etwas Neues auszuprobieren,<br />
wo Vertrauen in die Fantasie der Streikenden gestärkt wird sowie der Willen<br />
und die analytische Kraft, den Gegner dort zu treffen, wo er am meisten verwundbar<br />
ist.
Demokratisierung von Streiks – Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit 185<br />
7 Öffentlichkeit herstellen und öffentliche Räume besetzen<br />
Wie schon erwähnt, sind Streiks im öffentlichen Dienst immer auch politische<br />
Auseinandersetzungen. Es geht um die Verwendung von Steuergeldern, den Stellenwert<br />
der öffentlichen Daseinsvorsorge und öffentlicher Dienstleistungen sowie<br />
um die Zukunft der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Deshalb müssen<br />
diese Arbeitskämpfe, sollen sie erfolgreich sein, immer im öffentlichen Raum geführt<br />
werden. Man muss der Bevölkerung die Streikziele und die Notwendigkeit<br />
eines Streiks verständlich machen. Es schwächt einen Arbeitskampf, wenn etwa<br />
Eltern über Gebühr die streikenden Erzieherinnen unter Druck setzen, sich Bürgerinnen<br />
und Bürger massenhaft über wachsende Müllberge beschweren oder<br />
Pflegekräfte im Krankenhaus beschuldigt werden, Leib und Leben von Patientinnen<br />
und Patienten aufs Spiel zu setzen. Die Information der Bevölkerung durch<br />
Flugblätter oder Veranstaltungen wie Eltern- und Diskussionsabende und andere<br />
Aktivitäten ist unerlässlich. Bei einem aktiven Streik sind die Streikenden meist<br />
gerne bereit, diesen Aufgaben nachzukommen und ihre Forderungen und Standpunkte<br />
offensiv in der Öffentlichkeit zu vertreten. Notwendig für einen erfolgreichen<br />
Streik ist auch die Bereitschaft einer ausreichenden Zahl von Beteiligten,<br />
mit Journalistinnen und Journalisten zu sprechen, sich in den Medien abbilden zu<br />
lassen und dort brauchbare Statements abzugeben. In anderen Bereichen kann es<br />
sogar zu einem zusätzlichen Druckmittel werden, wenn sich Kundinnen und<br />
Kunden, Zeitungsleserinnen und -leser oder andere Bevölkerungsgruppen mit<br />
den Streikenden solidarisieren. Die öffentliche Skandalisierung von Arbeitsbedingungen<br />
und Bezahlung kann hierbei sehr hilfreich sein. Postkarten an die Geschäftsleitungen,<br />
die von Interessierten unterschrieben werden können, ebenfalls.<br />
Genauso wichtig ist aber, dass der Streik offensiv und selbstbewusst in den öffentlichen<br />
Raum getragen wird und öffentliche Plätze und Straßen »erobert« werden.<br />
Dazu gehören regelmäßige Demonstrationen, Kundgebungen, Aktionen<br />
vor den Betrieben, Kundgebungen vor den Verhandlungslokalen oder Besuche<br />
bei den Arbeitgeberverbänden. Beim Streik der Erzieherinnen 2009 war es<br />
enorm wichtig, dass nicht nur in Stuttgart Demonstrationen und Kundgebungen<br />
stattfanden, sondern auch in den umliegenden Kreisstädten. Manche zählten aufgrund<br />
der hohen Teilnehmerzahl zu den größten öffentlichen Aktionen in der<br />
Region seit Jahrzehnten. Ein anderes positives Beispiel ist der lautstarke Streik<br />
von Sicherheitskräften in den Hallen der Flughafengebäude. Dabei entstehen<br />
nicht nur aussagekräftige und für die Medien interessante Bilder, sondern diese<br />
Art von Aktion stärkt auch das Selbstbewusstsein der Beteiligten und schafft die<br />
Möglichkeit für andere Personen und Gruppen, sich mit den Streikenden zu solidarisieren.<br />
Eine wohl prägende Erfahrung für uns alle war die gemeinsame Demonstration<br />
von 2000 streikenden Erzieherinnen und Erziehern sowie etwa
186 Demokratisierung von Streiks – Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit<br />
Zehntausend streikenden Schülerinnen und Schülern durch die Stuttgarter Innenstadt.<br />
Nicht wenige Mütter gingen erstmals zusammen mit ihren Kindern auf<br />
der Straße, nicht zum Einkaufen, sondern zum Streiken und Demonstrieren.<br />
8 Das Ergebnis muss den Streikenden schmecken, nicht der<br />
Verhandlungsführung<br />
Es ist eine leidige und sich ständig wiederholende Erfahrung, dass Arbeitskämpfe<br />
selten zu Schultersiegen führen und alle Streikenden mit ihren Ergebnissen zufrieden<br />
sind. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Zum einen kann es sein,<br />
dass die Gewerkschaft tatsächlich ihre Kampfkraft nicht ausgeschöpft hat und<br />
ein Ergebnis unter den tatsächlichen Möglichkeiten erzielt hat. Dann ist Kritik<br />
völlig berechtigt. Zum einem kommt es häufig vor, dass bei Flächentarifauseinandersetzungen<br />
die Kampfkraft regional sehr unterschiedlich entwickelt ist. Die<br />
einen würden lieber weiterstreiken, während den anderen bereits die Luft ausgeht<br />
oder andere sich noch gar nicht richtig am Streik beteiligt haben. Besonders ärgerlich<br />
ist es, wenn diese Zusammenhänge nicht transparent sind, sich die verschiedenen<br />
Beteiligten kein wirkliches Bild machen können und völlig von der<br />
Einschätzung der Gewerkschaftsführungen abhängig sind. Gerade bei ver.di ist<br />
es ein großes Problem, dass die Fähigkeit zum Streiken regional sehr unterschiedlich<br />
ausgeprägt ist. Das führt häufig zu Frust in den Streikhochburgen, wo<br />
die Beschäftigten durchaus bereit wären, für ein besseres Ergebnis weiterzustreiken,<br />
während andere froh sind, dass der Arbeitskampf endlich vorbei ist. Wir haben<br />
daraus folgende Schlussfolgerungen gezogen:<br />
• Wir lassen unsere Streikbereitschaft davon nicht beeinflussen. Unsere Botschaft<br />
ist immer: Wer besser streiken kann, muss vorangehen und ein positives<br />
Beispiel setzen.<br />
• Über die Verhandlungsstände und Tarifergebnisse wird offen auf den Streikversammlungen<br />
diskutiert. Hier wird ein Meinungsbild erstellt. Gibt es Kritik,<br />
wird diese formuliert und in die innergewerkschaftliche Diskussion eingebracht.<br />
Die Kolleginnen und Kollegen sollen sich ihre Gewerkschaft aneignen<br />
und kein Dienstleistungsverhältnis zu ihrer Organisation entwickeln.<br />
Teilweise konnten wir sogar durchsetzen, dass nach dem Verhandlungsergebnis<br />
noch einen Tag länger gestreikt wurde, um auf der Streikversammlung<br />
über das Ergebnis zu diskutieren.<br />
• Der Entscheidungsprozess über das Tarifergebnis muss ebenfalls demokratisiert<br />
werden. Hier hat ver.di im öffentlichen Dienst ganz gute Ansätze entwickelt.<br />
So wurden bei verschiedenen Streiks, insbesondere beim Arbeitskampf<br />
der Erzieherinnen, bundesweite Streikdelegiertentreffen organisiert. Delegierte<br />
aus den Betrieben diskutierten gemeinsam über den Verhandlungs-
Demokratisierung von Streiks – Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit 187<br />
stand und über die weitere Vorgehensweise. Es wurde vereinbart, dass die<br />
große Tarifkommission nur dann einem Verhandlungsergebnis zustimmt,<br />
wenn es vorher dafür eine Mehrheit auf der Streikdelegiertenversammlung<br />
gegeben hat.<br />
Dieser Weg ist vielversprechend und muss weiter verfolgt werden. Eine Arbeitsteilung,<br />
die so aussieht, dass die einen streiken und die anderen über das Streikergebnis<br />
entscheiden, ist auf die Dauer wenig erfolgversprechend. Diejenigen, die<br />
streiken, sollen auch über das Ergebnis entscheiden dürfen. Widersprüche und<br />
unterschiedliche Sichtweisen müssen offen benannt werden, Konflikte müssen<br />
ausgetragen und über Strategien und Ziele muss demokratisch entschieden werden.<br />
So entstehen lebendige Gewerkschaften, die den Mitgliedern nicht fremd<br />
sind.<br />
Liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Gewerkschaftsbewegung hierzulande befindet<br />
sich immer noch in der Defensive. Die Umverteilung der letzten Jahre von<br />
den Löhnen hin zu den Gewinnen ist einzigartig in der Nachkriegsgeschichte des<br />
Landes. Dass, wie bereits erwähnt, die Reallöhne unter das Niveau des Jahres<br />
2000 gesunken sind, heißt, dass sich in der Summe das Kapital den gesamten Zuwachs<br />
des gesellschaftlichen Reichtums der letzten 13 Jahre aneignen konnte.<br />
Deshalb müssen die Gewerkschaften die Verteilungsfrage offensiv angehen und<br />
dürfen sich nicht damit abfinden, dass diese Entwicklung zu Lasten der Beschäftigten<br />
so weitergeht. Dazu gehört, dass in den Hochburgen der Gewerkschaften,<br />
in den industriellen Bereichen, im öffentlichen Dienst und anderswo, die vorhandene<br />
Kampfkraft eingesetzt wird, um höhere Löhne durchzusetzen. Dies ist eine<br />
wesentliche Voraussetzung für die erneute Umverteilung des gesellschaftlichen<br />
Reichtums in Richtung der Arbeitenden. Damit würden wir im Übrigen auch unseren<br />
mit dem Rücken an der Wand stehenden, aber weiterhin kämpfenden Kolleginnen<br />
und Kollegen in Griechenland, Spanien, Portugal, Frankreich, Italien<br />
und anderswo einen großen Gefallen tun.<br />
Gleichzeitig wissen wir, dass in fast keinem Industrieland die Deregulierung<br />
auf dem Arbeitsmarkt und die Spaltung zwischen Niedriglöhnen und höheren<br />
Einkommen sowie zwischen Leiharbeiterinnen und -arbeitern, Menschen mit<br />
Werkverträgen und Tarifbeschäftigten, deren Löhne und Arbeitsbedingungen<br />
noch halbwegs geschützt sind, so groß ist wie in Deutschland. Kaum irgendwo<br />
gibt es eine so extreme Kluft zwischen der Bezahlung von industrieller Arbeit<br />
und der Entlohnung von personennahen Dienstleistungen wie hier. Die große<br />
Aufgabe der Gewerkschaftsbewegung wird es deswegen sein, die Menschen in<br />
den deregulierten Berufszweigen und Branchen zu organisieren und mit ihnen<br />
für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne zu kämpfen. Dazu gehört es,<br />
Ressourcen zu mobilisieren, aber auch Erfahrungen zu sammeln, auszuwerten<br />
und diese zu verallgemeinern. Diese Konferenz und hoffentlich auch die von mir
188 Demokratisierung von Streiks – Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit<br />
zusammengefassten Prinzipien bieten eine Fülle von Beispielen, die zeigen, dass<br />
es möglich ist, Streiks auch in bisher eher wenig organisierten Bereichen erfolgreich<br />
zu führen und dabei eine Vielzahl neuer Methoden und Formen des Arbeitskampfes<br />
zu entwickeln, mit denen die Kräfteverhältnisse zu unseren Gunsten<br />
verschoben werden können. Wir sollten von unseren Gewerkschaften verlangen,<br />
dass Ehren- und Hauptamtliche speziell für diesen Zweck ausgebildet werden,<br />
dass sie die hier aufgeführten Methoden erlernen und sich aneignen, um<br />
den Mitgliedern und Beschäftigten eine Art großen Werkzeugkasten für die Führung<br />
von Streiks und Tarifauseinandersetzungen an die Hand zu geben. Diese<br />
Konferenz kann einen Beitrag leisten, zumindest den Grund dieses Werkzeugkastens<br />
schon einmal zu füllen.<br />
In diesem Jahr stehen in Deutschland Tarifverhandlungen für etwa 12,5 Millionen<br />
Beschäftigte an. 2 Einige dieser Auseinandersetzungen werden kaum ohne<br />
Arbeitskämpfe über die Bühne gehen, wollen wir unsere Forderungen durchsetzen.<br />
Den größten Angriff müssen die 2,5 Millionen Beschäftigten im Einzelhandel<br />
abwehren, denen von den Arbeitgeberverbänden alle Tarifverträge gekündigt<br />
wurden. Deren eindeutiges Ziel ist es, das Eingruppierungsniveau drastisch zu<br />
senken und nach unten aufzufächern, und das in einer Branche, in der ohnehin<br />
nicht üppig bezahlt wird. Dies ist ein Konflikt, dem wir besondere Aufmerksamkeit<br />
widmen sollten. Die Kolleginnen und Kollegen dort brauchen dringend unsere<br />
Solidarität in einem Kampf, in dem es wieder einmal um Alles geht. Einige<br />
der hier dargestellten Streikerfahrungen können dabei sicherlich hilfreich und<br />
nützlich sein.<br />
Gleichzeitig muss uns allen klar sein, dass wir eine bessere Regulierung der Arbeitsverhältnisse<br />
nicht allein mit tariflichen Mitteln durchsetzen werden. Ohne<br />
Zweifel war die Herausbildung eines großen Niedriglohnsektors politisch gewollt,<br />
wie auch die Deregulierung der Arbeitsbeziehungen und die nachhaltige<br />
Schwächung der Gewerkschaften, die damit verbunden ist. Auch die strukturelle<br />
Unterfinanzierung des öffentlichen Sektors war und ist politisch gewollt. Der finanzgetriebene<br />
Kapitalismus funktioniert nach dem Motto Anhäufung privaten<br />
Reichtums in wenigen Händen bei gleichzeitiger Ausbreitung öffentlicher Armut.<br />
Die 900.000 Beschäftigten der Länder spüren das gerade besonders. Mit dem<br />
Hinweis auf klamme Kassen und die Schuldenbremse verweigert man ihnen in<br />
der aktuellen Tarifrunde bisher jegliches Angebot.<br />
Wir brauchen ohne Zweifel andere politische Rahmenbedingungen und letztlich<br />
auch mehr politische Kämpfe, um unsere Ziele wie einen im Interesse der<br />
Beschäftigten fungierenden Arbeitsmarkt sowie eine ordentliche Finanzierung<br />
des öffentlichen Sektors zu erreichen. Dazu müssen die Gewerkschaften ihr poli-<br />
2<br />
Zum Zeitpunkt des Vortrages waren diese Verhandlungen noch nicht abgeschlossen.
Demokratisierung von Streiks – Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit 189<br />
tisches Mandat wahrnehmen, das heißt, betriebliche und tarifliche Auseinandersetzungen<br />
mit politischen Forderungen verbinden. Wir brauchen zum Beispiel<br />
dringend den Abbau der Hürden für die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen,<br />
damit es wieder normal wird, dass Beschäftigte unter Tarifverträge fallen.<br />
Wir müssen außerdem für ein Ende der Lohnbremsen kämpfen. Hierzu zählen<br />
die Disziplinierungspeitsche Hartz IV, die krebsartige Ausdehnung von Befristungen,<br />
Leiharbeit, Werkverträgen sowie Mini- und Midijobs, das Fehlen eines<br />
gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohns sowie die strukturelle Unterfinanzierung<br />
des öffentlichen Dienstes. Wenn wir daran nichts ändern, gleichen<br />
die betrieblichen und tariflichen Auseinandersetzungen der bekannten Sisyphusarbeit,<br />
die darin besteht, den Stein immer wieder aufs Neue auf den Berg hinaufzurollen.<br />
Die tariflichen und politischen Kämpfe gehören zusammen, auch wenn<br />
dieses Thema nicht der Hauptgegenstand dieser Konferenz ist. Und gestattet mir<br />
dazu noch einen einzigen parteipolitischen Satz zum Schluss. Die Existenz einer<br />
starken und handlungsfähigen LINKEN in den Parlamenten kann bei der<br />
Durchsetzung von politischen Forderungen durchaus hilfreich und nützlich sein.<br />
Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.
Das Potenzial der<br />
weiblichen Arbeiterklasse<br />
Erfahrungen, Probleme und Chancen der gewerkschaftlichen<br />
Organisierung von Frauen<br />
Carolin Hasenpusch und Olaf Klenke<br />
Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte hat sich die Erwerbssituation von Frauen<br />
deutlich verändert. Heute sind so viele Frauen in Lohnarbeit wie noch nie.<br />
Mit der steigenden Erwerbstätigkeit sind für die Frauen viele Fortschritte verbunden.<br />
Dennoch werden sie weiterhin auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt. Es<br />
bleibt also eine wichtige politische Aufgabe, für die Gleichstellung in allen Lebensbereichen<br />
zu kämpfen.<br />
Mit dem Vormarsch der Frauen in die Arbeitswelt sind auch die Gewerkschaften<br />
weiblicher geworden. Der weibliche Teil der Arbeiterklasse spielte in<br />
den Auseinandersetzungen der zurückliegenden Jahrzehnte eine immer wichtigere<br />
Rolle. Vor vier Jahren streikten in zahlreichen Bundesländern Erzieherinnen<br />
der kommunalen Kindertagesstätten über Monate für eine Lohnerhöhung.<br />
Ähnliches passierte im Einzelhandel, wo in den letzten Jahren bundesweit zehntausende<br />
Verkäuferinnen Streikerfahrungen sammelten.<br />
Aber nicht nur in stark weiblich geprägten Branchen standen Frauen an der<br />
Spitze von Arbeitskämpfen sondern oft auch in geschlechtlich stärker gemischten<br />
Branchen wie dem öffentlichen Dienst oder dem Reinigungsgewerbe. Im<br />
Streik der Gebäudereiniger 2009 spielten Frauen, oft mit Migrationshintergrund,<br />
eine ganz entscheidende Rolle. Ähnliches gilt für den erfolgreichen 117-<br />
tägigen Streik der Beschäftigten des Sparkassen-Callcenters in Halle für einen<br />
Tarifvertrag im vergangen Jahr.<br />
Ein Gradmesser für die wichtigere Rolle, die Frauen in den Gewerkschaften<br />
spielen, ist ihr steigender Anteil unter den Mitgliedern. Heute sind ein Drittel<br />
aller DGB-Mitglieder weiblich. Im Jahr 1970 lag der Frauenanteil noch bei 15<br />
Prozent. Er stieg bereits bis zum Ende der 1980er Jahre auf 24 Prozent und<br />
liegt seit dem Beitritt der neuen Bundesländer zur Bundesrepublik über 30 Prozent.
192 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
Aber diese relativen Zahlen vermitteln einen ungenügenden Eindruck. Denn<br />
seit den frühen 1990er Jahren ist bei der absoluten Zahl von weiblichen Gewerkschaftsmitgliedern<br />
(wie bei den Männern) ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen.<br />
Im Jahr 2012 waren etwa 2 Millionen Frauen Mitglied einer DGB-Gewerkschaft.<br />
2002 waren es noch 2,5 Millionen, 1992 sogar noch deutlich mehr als 3<br />
Millionen. Außerdem sind Frauen nach wie vor gewerkschaftlich schlechter organisiert.<br />
Nur 14,2 Prozent aller weiblich abhängig Beschäftigten sind Mitglied einer<br />
Gewerkschaft, aber 20,1 Prozent aller Männer.<br />
Warum ist das so? Warum ist es den Gewerkschaften bisher nicht gelungen,<br />
Frauen entsprechend ihrem Vordringen auf dem Arbeitsmarkt anzusprechen<br />
und als Mitglieder zu gewinnen? Und wie kann das geändert werden?<br />
Diesen Fragen wollen wir im Folgenden nachgehen. Dafür liefern wir zunächst<br />
eine Bestandsaufnahme der weiblichen Erwerbstätigkeit und der besonderen Situation<br />
der Frauen auf dem Arbeitsmarkt und in der Familie. Im zweiten Teil geben<br />
wir einen historischen Abriss über die weitgehend unbekannten Erfahrungen<br />
der Kämpfe des weiblichen Teils der Arbeiterklasse. Im dritten und letzten<br />
Teil versuchen wir die Fragen zu beantworten, woran es liegt, dass Frauen bisher<br />
in den Gewerkschaften unterrepräsentiert sind, wie sich die gewerkschaftliche<br />
Arbeit ändern müsste, um das zu ändern, und auf welche positiven Erfahrungen<br />
wir zurückgreifen können.<br />
Unsere Leitthese ist dabei: Der Kampf gegen die Benachteiligung des weiblichen<br />
Teils der Arbeiterklasse und für ihre stärkere Einbeziehung in die Gewerkschaftsbewegung<br />
ist so alt die Arbeiterbewegung selbst. Sie war und ist unabdingbar<br />
verknüpft mit dem Kampf für eine kämpferische und lebendige Gewerkschaftspolitik,<br />
die mit dem Ziel verbunden ist, das Interesse der gesamten<br />
Klasse zu vertreten und all ihre Teile gemeinsam zu organisieren.<br />
Aus marxistischer Perspektive gehen wir in diesem Artikel von zwei Annahmen<br />
aus:<br />
1. Die Unterdrückung der Frau in der kapitalistischen Gesellschaft und ihre<br />
daraus folgende systematische Benachteiligung in der Arbeitswelt ist ein Hemmnis<br />
für ihre Emanzipation und erfordert besondere Anstrengungen zur Besserung<br />
ihrer Lage seitens der Arbeiterbewegung.<br />
2. Der weibliche und männliche Teil der Arbeiterklasse haben keine grundlegend<br />
verschiedenen Interessen. Im Gegenteil: So wie der weibliche Teil nicht für<br />
sich alleine kämpfen und gewinnen kann, muss auch der männliche Teil die besondere<br />
Situation der arbeitenden Frauen zu seinem eigenen Anliegen machen.<br />
Nur so ist es möglich, einen wirkungsvollen Kampf gegen die Kapitalseite zu<br />
führen. Dabei ist es auch gleichgültig, ob die Bosse männlich oder weiblich sind.<br />
Der gemeinsame Kampf öffnet zugleich die Tür, bestehende Vorurteile oder<br />
rückwärtsgewandte Ideen zu überwinden.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 193<br />
1. Weibliche Erwerbstätigkeit: eine Bestandsaufnahme<br />
Der Anstieg der weiblichen Erwerbstätigkeit<br />
Die Zahl erwerbstätiger Personen in Deutschland ist in den letzten Jahren stetig<br />
angestiegen. Lohnarbeiteten im Jahr 2001 34,8 Millionen Menschen zwischen 20<br />
und 64 Jahren, waren es im Jahr 2011 bereits 37,9 Millionen.<br />
An dem Anstieg der Erwerbstätigen konnte bisher auch die internationale Finanz-<br />
und Wirtschaftskrise wenig ändern. Es muss jedoch berücksichtigt werden,<br />
dass dies nicht mit einem Anstieg des Arbeitsvolumens (d. h. die Gesamtsumme<br />
der Arbeitszeit aller Beschäftigten) einhergegangen ist. Vor allem Frauen werden<br />
heute mehr und mehr in den Arbeitsmarkt eingebunden, wodurch sie einen<br />
wichtigen und großen Teil der Arbeiterklasse bilden. Laut statistischem Bundesamt<br />
sind momentan 45 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland weiblichen<br />
Geschlechts. Das bedeutet in absoluten Zahlen, dass 17 Millionen Frauen lohnabhängig<br />
beschäftigt sind. Arbeiteten 1970 laut Bundeszentrale für politische Bildung<br />
lediglich 46 Prozent der weiblichen 15 bis 65-jährigen im Gebiet der Bundesrepublik,<br />
so waren es im Jahr 2000 58 Prozent und im Jahr 2011 bereits 69<br />
Prozent.<br />
Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens gehen von der Annahme<br />
aus, es gebe heute weniger Arbeit als noch vor einigen Jahrzehnten. Doch das<br />
Gegenteil ist der Fall: Die Arbeiterklasse ist durch die Zunahme an weiblichen<br />
Erwerbstätigen so groß wie noch nie und die Nachfrage nach neuen Arbeitskräften<br />
ist in Deutschland ungebrochen vorhanden.<br />
Das sind zunächst einmal positive Entwicklungen. Veränderungen in der Beschäftigtenstruktur<br />
hatten und haben immer Auswirkungen auf die Lebensführung<br />
der Betroffenen. Lohnarbeitende Frauen stellen klassische Rollenmuster<br />
und Geschlechterbilder in Frage. Veränderte Familienformen setzen sich durch,<br />
was beispielsweise durch den Rückgang an Eheschließungen und einem Anstieg<br />
von Scheidungen beobachtet werden kann. Wurden im Jahr 1960 laut Statistischem<br />
Bundesamt 48.873 Ehen geschieden, waren es im Jahr 2011 187.640. Laut<br />
einer Statistik des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend<br />
stellen in 57Prozent der Fälle Frauen den Antrag auf Scheidung. Finanzielle Unabhängigkeit<br />
vom Mann und die Abschaffung des Verschuldensprinzips 1976 1<br />
1<br />
Am 14. Juli 1976 wurde das erste Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts (1. EheRG)<br />
verabschiedet, das eine grundlegende Neuregelung des Eherechts, des Scheidungsrechts und des<br />
Scheidungsverfahrensrechts in der BRD bedeutete. Unter anderem wurde das so genannte »Verschuldensprinzip«<br />
verworfen und das »Zerrüttungsprinzip« eingeführt. War beim »Verschuldungsprinzip«<br />
der Ehepartner bzw. die Ehepartnerin im Falle einer Scheidung unterhaltspflichtig<br />
– der oder die, die Scheidung maßgeblich »verschuldet« hatte – sah das »Zerrüttungsprinzip« ungeachtet<br />
des Verschuldens der Scheidung vor, dass stets der wirtschaftlich stärkere Partner bzw.<br />
die Partnerin dem wirtschaftlich Schwächeren bzw. der Schwächeren Unterhalt zahlen muss.
194 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
erleichterten Frauen eine Scheidung. Auch bezüglich Kinderbetreuung hat sich<br />
etwas getan, so wurden im Jahr 2011 27 Prozent aller Kinder unter drei Jahren<br />
betreut, für das Alter 3 bis 4 Jahre waren es 80 Prozent – so viele wie noch nie in<br />
(West-)Deutschland.<br />
Gesetzliche Änderungen reflektieren den Wandel und verstärken ihn. So wurde<br />
beispielsweise am 18. August 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verabschiedet,<br />
dessen Ziel es ist, »Benachteiligungen aus Gründen ethnischer Herkunft,<br />
des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung,<br />
des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.« 2<br />
Vieles, was vor ein oder zwei Generationen noch undenkbar war, ist heute<br />
selbstverständlich. So hat die aktive Einbindung von Frauen in Produktionsverhältnisse<br />
unser Verständnis von »Gleichberechtigung« auf vielfältige Weise beeinflusst.<br />
Clara Zetkin formulierte in diesem Sinne bereits 1889 in ihrer Rede »Für<br />
die Befreiung der Frau« auf dem Internationalen Arbeiterkongress in Paris: »Die<br />
Frage der Frauenemanzipation, das heißt in letzter Frage der Frauenarbeit, ist<br />
eine wirtschaftliche.« 3<br />
Doch ein Ende der Frauenunterdrückung ist nicht sichtbar. Zwar ist viel in den<br />
letzten Jahrzehnten passiert, doch die bloße Tatsache, dass nun mehr Frauen als<br />
früher über ein eigenes Arbeitseinkommen verfügen, heißt noch nicht, dass sie<br />
vollständig gleichberechtigt wären. Frauenunterdrückung ist immer noch alltäglich,<br />
wie vor allem die neu entstandenen sozialen Bewegungen aufzeigen, wenn<br />
sie weltweit gegen sexualisierte Gewalt und Sexismus auf die Straße gehen. Allein<br />
in Deutschland berichteten seit Rainer Brüderles Entgleisungen 4 Zehntausende<br />
Frauen auf twitter unter dem Hashtag #aufschrei über die alltäglichen<br />
Formen von Sexismus, denen sie immer wieder begegnen. Die Bandbreite der<br />
dort geschilderten Erfahrungen ist groß. Doch demonstrieren sie alle eine Tatsache:<br />
das Herabsetzen des weiblichen Geschlechts, sei es durch direkte Gewaltanwendung<br />
oder durch sexistische Sprüche, ist immer noch Teil der Lebenswelt<br />
vieler Frauen. Sexismus kann in diesem Kontext jedoch nicht losgelöst von der<br />
Tatsache gesehen werden, dass Frauen eine untergeordnete Position in Klassengesellschaften<br />
einnehmen. Ideologien, welcher Art auch immer, bauen immer<br />
auf materiellen Bedingungen auf. Karl Marx analysiert dies in seiner Theorie des<br />
2<br />
Webseite des Bundesministeriums der Justiz unter:<br />
http://www.gesetze-im-internet.de/agg/index.html; aufgerufen am 22.02.<strong>2013</strong><br />
3<br />
Zetkin, Clara: Für die Befreiung der Frau, in: Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. I, Berlin<br />
1957, S. 3–11.<br />
4<br />
Ende Januar <strong>2013</strong> löste der im Stern erschienene Artikel »Der Herrenwitz« der Journalistin Laura<br />
Himmelreich eine breite, über das dem Artikel zugrundeliegende Ereignis hinausgehende Sexismus-Debatte<br />
in der deutschen Öffentlichkeit aus. Die Journalistin warf darin Brüderle vor, ihr<br />
ein Jahr zuvor verbal zu nahe getreten zu sein. Nachlesbar unter: Laura Himmelreich: Der Her -<br />
renwitz. stern.de, 1. Februar <strong>2013</strong>, abgerufen am 15. Februar <strong>2013</strong>.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 195<br />
dialektischen Materialismus, in der er davon ausgeht, dass es »nicht das Bewusstsein<br />
der Menschen« sei, das ihr Sein bestimmt, »sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches<br />
Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.« 5 Sexismus kann demnach in<br />
Klassengesellschaften aufkommen, in denen Frauen strukturell unterdrückt werden.<br />
Gleichzeitig dient die Ideologie, dass das weibliche Geschlecht dem männlichen<br />
unterlegen sei, zur Aufrechterhaltung dieser Strukturen. Frauenunterdrückung<br />
ist also nicht nur auf einer Bewusstseinsebene verankert, sondern ein<br />
struktureller Teil von Klassengesellschaften.<br />
Formale – das heißt: politische und rechtliche – Gleichheit bedeutet demnach<br />
nicht auch schon soziale Gleichheit und Aufhebung von Formen sexistischer<br />
Unterdrückung. Und Einbindung in die gesellschaftliche Produktion bedeutet<br />
nicht Gleichstellung in der Produktionssphäre.<br />
Ein genauerer Blick auf die Zahlen weiblicher Erwerbstätigkeit macht dies<br />
deutlich.<br />
Die andauernde Frauenunterdrückung<br />
Noch immer liegt der durchschnittliche Bruttostundenverdienst von weiblichen<br />
Arbeitnehmerinnen deutlich unter dem von Männern. Laut Statistischem Bundesamt<br />
erzielten Frauen im Jahr 2012 mit 15,21 Euro einen durchschnittlichen<br />
Bruttostundenverdienst, der um 22 Prozent unter dem der Männer lag, die<br />
durchschnittlich 19,60 Euro verdienen. Damit ist der Gender Pay Gap (zu<br />
Deutsch etwa: Geschlechtereinkommenslücke) in Deutschland im europäischen<br />
Vergleich mit am größten. Nur noch Estland (28 Prozent), Tschechien und Österreich<br />
(je 26 Prozent) liegen dahinter.<br />
Schaut man sich die Zahlen im Detail an, so muss diesbezüglich zwischen einem<br />
»bereinigten« und einem »unbereinigten« Gender Pay Gap ausgegangen<br />
werden.<br />
Der »bereinigte« Gender Pay Gap liefert Aussagen über die Höhe des Verdienstunterschiedes<br />
zwischen weiblichen und männlichen Arbeitnehmern mit vergleichbaren<br />
Qualifikationen. 6 In Zahlen bedeutete dies für das Jahr 2012, dass<br />
Arbeitnehmerinnen, auch mit gleicher Qualifikation bei Ausübung der gleichen<br />
Tätigkeit pro Stunde 7 Prozent weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen. 7<br />
Der »unbereinigte« Gender Pay Gap betrachtet hingegen den geschlechtsspezifischen<br />
Verdienstunterschied in allgemeiner, struktureller Form. Durch ihn lassen<br />
sich zwei Drittel des Verdienstabstandes zwischen Männern und Frauen erklären.<br />
Hier wird beispielsweise jener Teil des Verdienstunterschiedes erfasst, der auf<br />
5<br />
Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke. Band 13, 7. Auflage Berlin (Ost) 1971, S. 7.<br />
6<br />
Statistisches Bundesamt: Verdienstunterschiede zwischen Männern und Frauen 2006, Wiesbaden<br />
2010, S. 49ff.<br />
7<br />
Vgl. ebd.
196 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
unterschiedliche Zugangschancen beider Geschlechtergruppen auf Berufsfelder<br />
oder Positionen zurückzuführen ist. Die Mehrheit weiblicher Erwerbstätige besetzt<br />
nämlich Stellen mit einem geringen Anforderungsniveau, führen eher niedrig<br />
bezahlte Tätigkeiten aus und sind häufiger geringfügiger beschäftigt als Männer.<br />
Die Gründe variieren, liegen aber unter anderem an einem Wandel von<br />
Lohnarbeit selbst. 8 In den letzten Jahrzehnten fanden doch drastische Transformationen<br />
bezüglich Anforderungen und Inhalten von Erwerbstätigkeit sowie<br />
den Arten von Beschäftigung statt. Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer<br />
hieß und heißt das immer noch, mit instabilen Beschäftigungsformen und dem<br />
damit verbundenen Risiko konfrontiert zu sein, in die Arbeitslosigkeit abzurutschen.<br />
Wachsende Beschäftigungsunsicherheit und Flexibilisierung prägen heute<br />
maßgeblich den Charakter von Lohnarbeit. Den offensichtlichsten Ausdruck findet<br />
dies in dem drastischen Zuwachs an befristeten Arbeitsverhältnissen, einem<br />
Anstieg an Teilzeit- und Leiharbeit sowie von freiberuflichen Beschäftigungsformen.<br />
Bei jenen befristeten bzw. zeitlich begrenzten Beschäftigungsformen existieren<br />
arbeitsrechtliche Standards nur eingeschränkt, die soziale Absicherung<br />
kommt nur in unzureichender Form vor und der Anspruch auf Mutterschutz sowie<br />
Elternzeit wird ausgehebelt. 9<br />
Frauen als Jobgewinnerinnen jener umstrukturierten Arbeitsverhältnisse waren<br />
und sind immer noch besonders von jener »flexibilisierten« Arbeit betroffen. Unter<br />
den ausschließlich geringfügig entlohnten Beschäftigten (so genannte »Mini-<br />
Jobber«) liegt der Frauenanteil bei 66 Prozent. Laut ver.di entspricht dies etwa einer<br />
Million weiblicher Erwerbstätige. Diese Form der Arbeit ist für Unternehmen<br />
mehr als profitabel, ist jene auf 400 Euro festgelegte Obergrenze eines Monatslohn<br />
doch an bestimmte Konditionen wie »keinen Tarif- und Mindestlohn<br />
inne haben« und »keine Stunden-Obergrenze besitzen« 10 gekoppelt. Zusätzlich zu<br />
den ausschließlich geringfügig Entlohnten, sind weitere 57 Prozent der im Nebenjob<br />
geringfügig entlohnten Beschäftigten weiblich. Tendenz steigend.<br />
Besonders prägnant ist ferner, dass Frauen zwar heute besser in den Arbeitsmarkt<br />
integriert sind, die Bereiche, in denen sie dominieren, aber vor allem die<br />
niedrig entlohnten sind.<br />
Es gibt immer noch eine klare geschlechtsspezifische Verteilung der Arbeit<br />
nach Branchen. So sind weibliche Erwerbstätige in Deutschland vor allem in den<br />
Dienstleistungsbranchen tätig, im Medien- und Kultursektor, im Gesundheits-<br />
8<br />
Butterwegge, Christoph/Hentges, Gudrun (Hrsg.): Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung.<br />
Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik, 4. Auflage, Wiesbaden 2009.<br />
9<br />
Ebd.<br />
10<br />
Buls, Hannelore (ver.di Frauen-und Gleichstellungspolitik) : Geringfügig entlohnte Beschäftigung,<br />
Berlin 2011.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 197<br />
und Sozialwesen sowie in Erziehung, Pflege und Bildung. 11 Vor allem in letzteren<br />
stellen Frauen mehr als zwei Drittel der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten.<br />
Auch in Tourismus, Reinigung und Prostitution sowie dem »Sexgewerbe«<br />
allgemein sind überwiegend Frauen beschäftigt. Traditionelle Rollenmuster, welche<br />
die Frau der Reproduktionssphäre zuordnen oder sie in die Rolle der Mutter<br />
drängen, spiegeln sich demnach offenkundig auf dem Arbeitsmarkt wieder. Erziehung<br />
und Pflege, alles Bereiche, die der Reproduktion zugeordnet werden,<br />
sind immer noch fast ausschließlich in weiblichen Händen. Auch in Bereichen, in<br />
denen weiblich konnotierte »soft skills« gefragt sind, wie dem Dienstleistungssektor<br />
arbeiten immer mehr Frauen. Zu jenen »soft skills« gehören vor allem Kommunikationsfähigkeit,<br />
Empathie und Kollegialität. 12<br />
Der zentralste Faktor des unbereinigten Gender Pay Gaps ist und bleibt jedoch<br />
der Faktor der Familie und der Hausarbeit. Beide Bereiche werden größtenteils<br />
immer noch von Frauen übernommen. Bedingt und (negativ) gefördert wird dies<br />
auf struktureller Ebene. Steht doch die Zunahme weiblicher Erwerbstätigkeit<br />
bisher in überhaupt keinem Gleichgewicht zu einem Ausbau von öffentlichen<br />
Kita- und Pflegeplätzen. Eher das Gegenteil ist der Fall: Einerseits wurden Frauen<br />
zunehmend in den Arbeitsmarkt integriert, gleichzeitig wurde die gestiegene<br />
Nachfrage nach staatlichen Einrichtungen für Fremdbetreuung nicht ausreichend<br />
befriedigt. Sorge- und Pflegearbeit bleiben größtenteils »Privatsache«.<br />
Der Vorschlag der CDU, ein Betreuungsgeld einzuführen, muss in genau diesem<br />
Kontext gesehen werden. Obgleich es ab August <strong>2013</strong> einen Rechtsanspruch<br />
auf Kitaplätze geben soll, fehlten im November 2012 laut Statistischem<br />
Bundesamt bundesweit immer noch 220.000 Plätze für Kleinkinder. Das Ziel eines<br />
ausreichenden Betreuungsangebotes für insgesamt 780.000 Kinder unter drei<br />
Jahren scheint noch in weiter Ferne – auch bedingt durch zu wenig und/oder<br />
schlecht bezahltem Personal. Das geht vor allem zu Lasten der weiblichen Arbeiterklasse,<br />
die letztlich diese Lücke »im Privaten« füllt.<br />
Das zeigen die Zahlen zur Teilzeitarbeit in Deutschland. Arbeiteten 1999 ›nur‹<br />
37 Prozent der berufstätigen Frauen in Teilzeit, so waren es 2009 bereits 45 Prozent.<br />
Als Gründe hierfür werden in 55 Prozent der Fälle 13 die Betreuung von<br />
Kindern bzw. Pflegebedürftigen genannt bzw. andere familiäre oder persönliche<br />
Aufgaben. Zum Vergleich: Nur 9 Prozent der erwerbstätigen Männer arbeiteten<br />
2011 in Teilzeit und nur jeder elfte aus familiären Gründen. 2012 wurden<br />
11<br />
Bundesagentur für Arbeit: Der Arbeitsmarkt in Deutschland. Arbeitsmarktberichterstattung,<br />
Berlin <strong>2013</strong>.<br />
12<br />
Wichterich, Christa: Gleich. Gleicher. Ungleich. Paradoxien und Perspektiven von Frauenrechten<br />
in der Globalisierung, Sulzbach/Taunus 2009.<br />
13<br />
Webseite des Bundesamt für Statistik, unter: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Arbeitsmarkt/Aktuell.html;<br />
aufgerufen am 05.03.<strong>2013</strong>.
198 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
1.620.761 der insgesamt 2.338.254 Pflegebedürftigen in privaten Haushalten 14<br />
versorgt und betreut. Ähnliche Zahlen lassen sich bezüglich der Kinderbetreuung<br />
nennen. Nimmt der überwiegende Teil der Väter, nämlich 77 Prozent, lediglich<br />
die Mindestdauer von ein bis zwei Monaten der Elternzeit in Anspruch und liegt<br />
die durchschnittliche Dauer der männlichen Elternzeit bei 3,3 Monaten, so sind<br />
es bei Frauen 11,6 Monate. 15 Mütter nehmen also eine deutlich längere Pause<br />
nach der Geburt eines Kindes als Väter.<br />
Das 2007 eingeführte Elterngeld präsentiert hier auch keine Lösung, werden<br />
doch ärmere bzw. arme Familien und/oder Frauen dadurch massiv benachteiligt.<br />
Denn das Elterngeld richtet sich nach dem Nettoeinkommen jenes Elternteils,<br />
der den Antrag gestellt hat. 16 So hat sich zwar mit Einführung des Elterngeldes<br />
der Anteil der Väter erhöht, die Elternzeit in Anspruch nehmen. Doch liegt der<br />
Prozentsatz nicht nur weit unter dem der Mütter, sondern auch die Anzahl der<br />
genommenen Monate variiert drastisch. Die letzte Studie hierzu hat das Statistische<br />
Bundesamt im Jahr 2011 veröffentlicht. Demnach nahmen in den ersten<br />
Quartalen 2010 insgesamt 216.913 Eltern das Elterngeld in Anspruch. Der Anteil<br />
der Väter lag hier bei nur 22 Prozent. 17<br />
Das hat drastische Auswirkungen für weibliche Erwerbstätige und ihre berufliche<br />
Laufbahn, vor allem was die Möglichkeit des Aufstieges angeht. Hiermit ist<br />
nicht nur der klassische Karriereaufstieg gemeint, im Sinne eine andere Klassenposition<br />
zu bekommen, sondern es geht vor allem um die verwehrte Möglichkeit,<br />
eine Gehaltsstufe nach oben zu erklimmen, da während der Elternzeit nicht gearbeitet<br />
werden konnte. Zusätzlich verläuft ein Wiedereinstieg nach längerer Elternzeit<br />
laut Bundesagentur für Arbeit für 80 Prozent aller Mütter durch die<br />
Übernahme eines Teilzeitjobs mit geringerem Verantwortungsbereich 18 , sprich:<br />
mit weniger Einkommen, weniger sozialer Absicherung und einer erhöhten<br />
Wahrscheinlichkeit, später in Altersarmut zu leben. Zum anderen spielen hier<br />
wieder die bereits erwähnte 1996 eingeführte Befristung von Arbeitsverträgen<br />
eine Rolle: Für viele werdende Mütter bedeuten sie doch häufig den Verlust des<br />
14<br />
Vgl. ebd.<br />
15<br />
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Vaterschaft und Elternzeit. Eine<br />
interdisziplinäre Literaturstudie zur Frage der Bedeutung der Vater-Kind-Beziehung für eine gedeihliche<br />
Entwicklung der Kinder sowie den Zusammenhalt in der Familie, Expertise im Auftrag<br />
der Geschäftsstelle des Zukunftrats Familie bei der Prognos AG, Ulm 2011, S. 4ff.<br />
16<br />
Webseite des BMFSFJ, unter:<br />
http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/rechner,did=76746.html; aufgerufen am 26.02.<strong>2013</strong>.<br />
17<br />
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Vaterschaft und Elternzeit.op.cit.,<br />
S. 4ff.<br />
18<br />
Bundesagentur für Arbeit: Frauen und Beruf. Fragen, Antworten, Tipps. Merkblatt Nr. 18, April<br />
2012.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 199<br />
Arbeitsplatzes, da ausgelaufene Verträge nach der Schwangerschaft nicht verlängert<br />
werden.<br />
Kaum verwunderlich, dass laut einer Forsa-Umfrage 38 Prozent aller Frauen es<br />
bereut haben, Elternzeit zu nehmen, da dies mit einem Karriereknick für sie verbunden<br />
war. 19<br />
Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge sind mit Blick auf weibliche Erwerbstätigkeit<br />
zentrale Größen in Deutschland und stellen die Hauptformen dar,<br />
Arbeiterinnen in den Markt zu integrieren. Der besonders hohe Einkommensunterschied<br />
zwischen Männern und Frauen in Deutschland ist vorrangig auf diesen<br />
hohen Unterschied hinsichtlich der Arbeit in Voll- und Teilzeitmodellen zurückzuführen.<br />
Frauen sind zwar mehr denn je in den Arbeitsmarkt integriert, aber »Reproduktionsarbeit«<br />
ist weiterhin vornehmlich ihre Domäne geblieben. Zwar bleiben<br />
weniger aus familiären Gründen komplett zuhause, aber dafür sind immer mehr<br />
weibliche Erwerbstätige dem besonderen Druck einer Doppelbelastung von Beruf<br />
und Familie ausgesetzt.<br />
Kapitalismus festigt Frauenunterdrückung über Rolle in der Reproduktion<br />
Doch es sind nicht die Männer, die von dieser Doppelbelastung profitieren, sondern<br />
letztlich nur das kapitalistische System. Denn sie und das damit zusammenhängende<br />
Fortbestehen der Frauenunterdrückung stabilisiert das System der<br />
Ausbeutung und Unterdrückung, unter dem alle Arbeitnehmer leiden. Das Festhalten<br />
an alten Geschlechterrollen und der damit verbundenen Frauenunterdrückung<br />
hilft die Profite einiger wenigen Herrschenden (Männer und Frauen)<br />
zu steigern, in dem der Niedriglohnsektor kontinuierlich ausgebaut wird, Kürzungen<br />
im Sozialsystem erhöht werden und Löhne kontinuierlich sinken. Hiervon<br />
sind Arbeiter und Arbeiterinnen betroffen. Darüber hinaus bedeutet ein<br />
niedriger Lohn weiblicher Erwerbstätigen auch immer ein niedrigeres Familieneinkommen,<br />
selbst wenn in einer heterosexuellen Partnerschaft der Mann<br />
nicht von einem niedrigen Einkommen betroffen ist.<br />
Der Markt wertet Frauenarbeit de facto ab und nutzt sozial institutionalisierte<br />
und reproduzierte Ungleichheiten und Vorurteile zur Differenzierung von Arbeit<br />
und zur Lohndiskriminierung. Ähnliches geschieht mit den sozialen Kategorien<br />
des Alters und der ethnischen Herkunft. Die zentrale Rolle der Frau in der Reproduktion,<br />
in dem Sinne: sie bringt ja schließlich die Kinder zur Welt, dient als<br />
Rechtfertigung dafür, Frauen in prekäre Arbeitsverhältnisse zu drängen. Die Unterordnung<br />
von Frauen aufgrund ihrer Sonderrolle in der menschlichen Repro-<br />
19<br />
Gesichtet unter: http://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article114297306/Vier-von-zehn-Frauen-bereuen-ihre-Elternzeit.html;<br />
Welt am Sonntag am<br />
10.03.13.
200 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
duktion wird wiederum durch die sexistische Ideologie gerechtfertigt. Mit dieser<br />
Reziprozität im Hinterkopf scheint es auch nicht verwunderlich, dass sexuelle<br />
Belästigungen am Arbeitsplatz in Zeiten von ökonomischen Krisen zunehmen,<br />
wie die Internationale Arbeitsorganisation ILO darlegte. 20 Bereits existierende sexistische<br />
Vorstellungen breiten sich demnach weiter aus, wenn der ökonomische<br />
Druck steigt.<br />
Eben jene Diskriminierung von weiblicher Erwerbstätigkeit und die damit häufig<br />
verbundenen prekären Beschäftigungsformen stellen eine Basis des wirtschaftlichen<br />
Wachstums kapitalistischer Gesellschaften dar. Die existierenden<br />
Mechanismen müssen als Kalkül angesehen werden, erfüllen dadurch weibliche<br />
Erwerbstätige doch eine bedeutsame Funktion bezüglich Standortpolitik und im<br />
Unterbietungswettbewerb. Die Einbindung von Arbeiterinnen in den Markt<br />
macht Kostensenkungen bei gleichzeitigem Anstieg der Produktivität erst wirklich<br />
umsetzbar und möglich. Gleichzeitig wird damit verbunden die Konkurrenz<br />
gefördert und Solidarisierung zwischen Arbeitern und Arbeiterinnen verhindert.<br />
Während sich die Lebens- und Arbeitsstile in den professionalisierten Mittelschichten,<br />
trotz des Lohngefälles, in den letzten 50 Jahren angeglichen haben,<br />
sind die Ungleichheiten zwischen Frauen stetig gewachsen. Diese Erkenntnis<br />
griff auch die Zeitung The Guardian am 31.03.13 auf, als sie berichtete: »Laut Institute<br />
for Public Policy Research (IPPR) hat sich die durchschnittliche Einkommenslücke<br />
zwischen Männern und Frauen in den letzten 50 Jahren zwar verringert,<br />
die Lücke zwischen gut ausgebildeten und ungelernten Frauen ist dafür aber<br />
signifikant größer, als zwischen Männern beider Gruppen. 21<br />
Besonders deutlich wird dies eben im Bereich der Sorge- und Hausarbeit. Da<br />
diese immer noch vornehmlich »private« Angelegenheiten bleiben, ist vor allem<br />
die weibliche Arbeiterklasse einer Doppelbelastung von produktiver und reproduktiver<br />
Arbeit ausgesetzt. Frauen mit mittlerem und hohem Einkommen, die<br />
mit den gleichen strukturellen Gegebenheiten konfrontiert werden, greifen stattdessen<br />
auf das Mittel der Neuverteilung von Sorgearbeit zurück. Dies geschieht<br />
nun aber nicht, wie man annehmen könnte, zwischen den Geschlechtern, sondern<br />
passiert durch eine globale Versorgungskette zwischen Frauen verschiedener<br />
Klassen, Ethnien und Ländern.<br />
20<br />
Bericht des Generaldirektors der ILO: Gleichheit bei der Arbeit: Die andauernde Herausforderung.Gesamtbericht<br />
im Rahmen der Folgemaßnahmen zur Erklärung der IAO über grundlegende<br />
Prinzipien und Rechte bei der Arbeit, erstmals vorgelegt bei der Internationalen Arbeitskonferenz,<br />
Genf 2011.<br />
21<br />
Orginalzitat: »While the average gap between the earnings of men and women has narrowed in<br />
the last 50 years, differences between professional and unskilled women are significantly higher<br />
than those between the same groups of men, a report by the Institute for Public Policy Research<br />
(IPPR) has found«, erschienen in The Guardian vom 31.03.13, unter: http://m.guardian.co.uk/society/<strong>2013</strong>/mar/31/gender-pay-feminism-working-class,<br />
gesichtet am 01.04.13.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 201<br />
Die Frauenfrage ist somit letztlich im Kern auch eine Klassenfrage. Strategien,<br />
die allein auf die formale Gleichstellung oder eine Veränderung des Bewusstseins<br />
abzielen, bleiben zahnlos.<br />
Es ist unmöglich, Frauenunterdrückung zu beseitigen, solange die wirtschaftlichen<br />
Grundlagen fortbestehen, auf der sie beruht. Das Ziel kann nur durch eine<br />
Veränderung der Produktionsverhältnisse und eine völlige Gleichstellung von<br />
weiblichen Erwerbstätigen in der Produktionssphäre sein. Wirkliche Veränderungen<br />
wurden in der Vergangenheit demnach auch nur erzielt, wenn Fortschritte in<br />
der Gleichstellung mit Organisierung und Kämpfen der Arbeiterklasse einhergingen.<br />
22 Die Einbindung von Frauen in gewerkschaftliche Organisationen und<br />
der gemeinsame Kampf der Arbeiterklasse stellten daher auch von Anfang an<br />
ein Hauptanliegen der proletarischen Frauenbewegung dar. Ihre historische Entwicklung,<br />
ihre Inhalte sowie verschiedene weibliche Arbeiterinnenkämpfe, werden<br />
nun im Folgenden detailliert dargestellt.<br />
2. Gewerkschaften und Frauen – von den Anfängen bis zur<br />
Gegenwart<br />
Die junge Arbeiterbewegung und die Erste Internationale<br />
Mitte des 19. Jahrhunderts gründeten sich die ersten Gewerkschaften in<br />
Deutschland zunächst aus Berufsverbänden. Fast ausschließlich männliche<br />
Handwerker aus alten Zünften schlossen sich zusammen, um einer Entwertung<br />
ihrer häufig noch handwerklichen Facharbeit durch die aufkommende Großindustrie<br />
etwas entgegenzusetzen. Diese ersten gewerkschaftlichen Zusammenschlüsse<br />
etwa der Zigarrenarbeiter oder Buchbinder lehnten eine Teilnahme<br />
von Frauen an ihrer Organisation ab. Frauenarbeit mit ihren niedrigeren Löhnen<br />
wurde oft als »Schmutzkonkurrenz« empfunden, die es zu unterbinden galt. 23<br />
Eine wichtige Rolle spielte dabei der Konflikt in der Arbeiterschaft zwischen<br />
Gelernten und Ungelernten, wobei die Frauen fast ausschließlich in letzterer<br />
Gruppe zu finden waren. Nicht wenige der Berufsverbände lehnten eine Aufnahme<br />
ungelernter Arbeitskräfte ab, empfanden diese als minderwertige, billige<br />
Hilfskräfte, welche die qualifizierten Arbeiter verdrängten. 24 Die ablehnende Hal-<br />
22<br />
Cliff, Tony: Class struggle & Women’s liberation. 1640 to the present day, London 1984, S. 224ff.<br />
23<br />
Marx und Engels beschrieben diese Entwicklung bereits im Kommunistischen Manifest: »Die<br />
moderne Industrie hat die kleine Werkstube des patriarchalischen Meisters in die große Fabrik<br />
des industriellen Kapitalisten verwandelt. […] Je weniger die Handarbeit Geschicklichkeit und<br />
Kraftäußerung erheischt, d. h., je mehr die moderne Industrie sich entwickelt, desto mehr wird<br />
die Arbeit der Männer durch die der Weiber und Kinder verdrängt. Geschlechts- und Altersunterschiede<br />
haben keine gesellschaftliche Geltung mehr für die Arbeiterklasse. Es gibt nur noch<br />
Arbeitsinstrumente, die je nach Alter und Geschlecht verschiedene Kosten machen.«<br />
24<br />
Losseff-Tillmanns, Gisela: Frauenemanzipation und Gewerkschaften, Wuppertal 1978, S. 31f
202 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
tung innerhalb der männlichen Arbeiterschaft gegenüber der Frauenarbeit 25 war<br />
auch eine Reaktion auf die Auflösungstendenzen der Kleinfamilie. Die Industrialisierung<br />
mit der Auflösung der alten Handwerks- und Familienstrukturen und<br />
einem großen Druck aus sozialer Not zur Kinder- und Frauenarbeit zerstörte<br />
diese scheinbar heile Welt.<br />
Ein Gegengewicht zu dieser rückwärtsgewandten Richtung bildete ein Teil der<br />
Arbeiterbildungsvereine, aus denen später die Sozialdemokratische Partei (SPD)<br />
hervorgehen sollte und an deren Spitze August Bebel stand. Bebel gehörte anfangs<br />
der liberalen Partei an, entwickelte sich dann aber zum Sozialisten und verfasste<br />
1879 das damals bahnbrechende Buch »Die Frau und der Sozialismus«. 26<br />
Der zunächst lose Zusammenschluss der Arbeiterbildungsvereine unterstütze die<br />
wenigen Vereinigungen von Arbeiterinnen wie etwa der Näherinnen oder<br />
Dienstboten und verlangte auf seinem ersten Vereinstag 1865, Arbeiterinnen in<br />
die gemeinsame Organisation der Arbeiter einzubeziehen. 27 Sie stellten sich damit<br />
in die Tradition der »Arbeiterverbrüderung« der deutschen Revolution<br />
1848/49 – einem Zusammenschluss verschiedener Arbeitervereine, der erstmals<br />
ein übergreifendes Interesse von Meister und Gesellen und von arbeitenden<br />
Frauen und Männern gegenüber dem Kapital betonte. 28<br />
1869 gründete sich im sächsischen Crimmitschau die erste gemeinsame Organisation<br />
von Arbeiterinnen und Arbeitern: die »Internationale Manufaktur-Fabrik<br />
und Handarbeiter-Gewerksgenossenschaft«. Ein Sechstel der 6.000 bis 7.000<br />
Mitglieder waren Frauen, denen in der Gewerksgenossenschaft die gleichen<br />
25<br />
Vgl. Dazu auch Hoffrogge, Ralf: Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland – von den<br />
Anfängen bis 1914, Stuttgart 2011, vor allem das Kapitel »Die Frau und der Sozialismus: Gendertrouble<br />
in der Arbeiterbewegung« (S. 90–97).<br />
26<br />
In diesem Buch, das dutzende Auflagen erlebte, verband Bebel die Frauenbefreiung mit der<br />
Klassenfrage. Er begründete, warum der Kampf um die Befreiung der Frau und der Kampf um<br />
den Sozialismus zusammen gehören. In der Einleitung schrieb er:<br />
»Es handelt sich also nicht nur darum, die Gleichberechtigung der Frau mit dem Manne auf dem<br />
Boden der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung zu verwirklichen, was das Ziel der<br />
bürgerlichen Frauenbewegung ist, sondern darüber hinaus alle Schranken zu beseitigen, die den<br />
Menschen vom Menschen, also auch das eine Geschlecht von dem anderen, abhängig machen.<br />
Diese Lösung der Frauenfrage fällt mit der Lösung der sozialen Frage zusammen. Es muß daher,<br />
wer die Lösung der Frauenfrage in vollem Umfange erstrebt, mit jenen Hand in Hand gehen,<br />
welche die Lösung der sozialen Frage als Kulturfrage für die gesamte Menschheit auf ihre Fahne<br />
geschrieben haben, das sind die Sozialisten.<br />
Von allen Parteien ist die sozialdemokratische Partei die einzige, welche die volle Gleichberechtigung<br />
der Frau, ihre Befreiung von jeder Abhängigkeit und Unterdrückung in ihr Programm aufgenommen<br />
hat, nicht aus agitatorischen Gründen, sondern aus Notwendigkeit. Es gibt keine Befreiung<br />
der Menschheit ohne die soziale Unabhängigkeit und Gleichheit der Geschlechter.«<br />
27<br />
Losseff-Tillmanns, Gisela (Hrsg.): Frau und Gewerkschaft – Dokumentensammlung, Frankfurt<br />
am Main 1982, S. 22f.<br />
28<br />
Losseff-Tillmanns, Frauenemanzipation und Gewerkschaften, S. 26-29.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 203<br />
Rechte und Unterstützungsleistungen wie den Männern zugestanden wurden –<br />
eine für die damalige Zeit ungeheuer fortschrittliche Auffassung. Hinzukam die<br />
Einrichtung einer Krankenkasse, die Unterstützungsgelder für Schwangere und<br />
stillende Mütter zahlte. 29 Das war ein enormer Schritt vorwärts und keineswegs<br />
selbstverständlich. Drei Jahre später beschloss ein neugegründeter Zusammenschluss<br />
verschiedener Gewerkschaften (die »Union«) gegen »alle Frauenarbeit<br />
in den Fabriken und Werkstätten zu wirken und dieselbe abzuschaffen.« 30<br />
Die Gründung der ersten gemeinsamen Organisation in Sachsen stand für<br />
einen gemeinsamen Kampf von arbeitenden Frauen und Männern. Diese Entwicklung<br />
hatte im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen wurde sie aus der Praxis<br />
geboren: Viele Frauen der Arbeiterklasse waren gezwungen zu arbeiten,<br />
strömten in die Fabriken, weil der Lohn des Mannes für die Familie nicht ausreichte<br />
oder sie selbst als junge Frauen für ihr Einkommen zu sorgen hatten. So<br />
führten sie auch Auseinandersetzungen um Lohn und Arbeitsbedingungen. Zum<br />
anderen zeigte sich der Einfluss der Ersten Internationale, einem 1864 gegründeten<br />
Zusammenschluss verschiedener Arbeiterparteien und -vereinigungen, die<br />
maßgeblich von den Ideen von Karl Marx geprägt war. Ein Jahr nach ihrer<br />
Gründung befasste sich die Erste Internationale bei einer Tagung in London mit<br />
der Frage der Frauenarbeit. Die war durch Ausbeutung, Nachtarbeit und Niedriglöhne<br />
geprägt. Stimmen, die der Frau ihren Platz in der Familie und dem<br />
Haushalt zuweisen wollten, blieben in der Minderheit. Stattdessen nahm der<br />
Kongress eine von Marx ausgearbeitet Denkschrift an, deren grundlegende Botschaft<br />
lautete: »nicht Verbot der industriellen Frauenarbeit, sondern Schutz der<br />
Arbeiterinnen«. 31<br />
Der Einfluss der Ersten Internationalen sei »entscheidend dafür gewesen, dass<br />
die sich sammelnde Vorhut des deutschen Proletariats in Bezug auf die industrielle<br />
Frauenarbeit die Lehren der Klassenlage verstehen lernte«, schrieb Clara Zetkin<br />
in ihrer »Geschichte der proletarischen Frauenbewegung Deutschlands«. 32<br />
Auch international blieb die politische Überzeugungsarbeit der Ersten Internationale<br />
nicht ohne Wirkung. 1867 traten ihr die Frauen des Schuhmacherverbandes<br />
aus England bei, 1869 die Seidenzwirnerinnen von Lyon in Frankreich. Dem<br />
vorausgegangen war eine breite Solidaritätsarbeit der Internationale für einen<br />
Streik dieser Seidenzwirnerinnen.<br />
In Deutschland kam es zu Beginn der 1870er Jahre zu einem deutlichen Anstieg<br />
von Arbeitskämpfen. Die noch junge Arbeiterbewegung zählte allein im<br />
29<br />
Zetkin, Clara: Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung Deutschlands (1928), Frankfurt<br />
am Main 1971, S. 129ff.<br />
30<br />
Losseff-Tillmanns, Frau und Gewerkschaft, S. 24.<br />
31<br />
Zetkin, Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung Deutschlands, S. 105.<br />
32<br />
Ebd., S. 90.
204 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
Jahr 1872 352 Streiks und Aussperrungen mit 109.000 Beteiligten. Und nach der<br />
Bauwirtschaft war die stark weiblich geprägte Textilindustrie in der ersten Hälfte<br />
des Jahrzehnts die Branche mit den zweitmeisten Ausständen – trotz ihrer<br />
schwachen gewerkschaftlichen Organisierung. 33<br />
Der gewerkschaftliche Kampf, und erst recht die Organisierung des weiblichen<br />
Teils der Arbeiterklasse, wurde abrupt gestoppt und zurückgeworfen durch die<br />
»Sozialistengesetze«, die im deutschen Kaiserreich von 1878 bis 1890 galten und<br />
dazu dienten, die 1875 gegründete Sozialdemokratie und die mit ihr verbundenen<br />
jungen Gewerkschaften zu unterdrücken. Im Jahr 1879 zählte man deutschlandweit<br />
nur noch 15 Streiks und Aussperrungen.<br />
1890–1914: Etablierung der Gewerkschaften und die »Frauendebatte«<br />
So schmerzlich die »Sozialistengesetze« für die junge Gewerkschaftsbewegung<br />
und die Sozialdemokratische Partei waren, so wenig verhinderten sie deren Aufstieg.<br />
Die ungelöste soziale Frage ließ den Stimmenanteil der SPD, die nur noch<br />
parlamentarisch tätig sein durfte, steigen. Zugleich nahmen seit Mitte der 1880er<br />
Jahre auch die Zahl der Streiks wieder zu. 1889 kam es zu großen Streikwellen,<br />
565 Streiks und Aussperrungen zählte man in diesem Jahr. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder<br />
wuchs bis zum Jahr 1890 auf über 350.000, doppelt so viel wie<br />
zwei Jahre zuvor. 34 Im selben Jahr wurden die Sozialistengesetze aufgehoben.<br />
Nach einer kurzen Durststrecke entwickelten sich in den darauffolgenden Jahren<br />
die Gewerkschaften weiter stürmisch. 1900 gab es bereits 680.000 Gewerkschaftsmitglieder,<br />
zehn Jahre später zwei Millionen (Tabelle 1). Die Zahl der geführten<br />
Streiks und Aussperrungen lag jährlich immer im vierstelligen Bereich. 35<br />
Darunter waren auch Streiks, an deren Spitze Frauen standen wie etwa der Berliner<br />
Konfektionsarbeiterinnenstreik 1895, der die gewerkschaftliche Organisierung<br />
der Frauen ein großes Stück voranbrachte. 1897 streikten Isenburger Wäscherinnen<br />
(im heutigen Rheinland-Pfalz) erfolgreich über sieben Wochen lang,<br />
1899 in Nürnberg Arbeiterinnen des Feingoldgewerbes und der Pinselindustrie –<br />
um nur einige Beispiele zu nennen. 36<br />
Enger Bündnispartner in dieser Entwicklung war die junge SPD, in der es damals<br />
einen starken revolutionären Flügel gab. Auf ihrem Erfurter Parteitag 1891<br />
verankerte sie in ihrem Programm als erste politische Kraft in Deutschland die<br />
Forderung nach einem allgemeinen Wahlrecht »ohne Unterschied des Geschlechts«.<br />
Um die Frauenagitation zu verstärken, rief sie zugleich unter der Lei-<br />
33<br />
Boll, Friedhelm: Arbeitskämpfe und Gewerkschaften in Deutschland, England und Frankreich,<br />
Kassel 1992, S. 403, 635.<br />
34<br />
Ebd., S. 635.<br />
35<br />
Ebd.<br />
36<br />
Bauer, Karin: Clara Zetkin und die proletarische Frauenbewegung, Berlin 1978, S. 121f. und<br />
Losseff-Tillmanns, Frauenemanzipation und Gewerkschaften, S. 96.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 205<br />
tung von Clara Zetkin die Zeitschrift Die Gleichheit ins Leben, die auf ihrem Höhepunkt<br />
1914 kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges eine Auflage von 124.000<br />
Stück erreichte und eine eigene gewerkschaftliche Rundschau enthielt sowie viele<br />
Berichte über die Situation der Arbeiterinnen. 37<br />
Insgesamt gestaltete sich jedoch die gewerkschaftliche Organisierung von<br />
Frauen schwierig. Ihre Zahl überstieg erst 1906 die Marke von 100.000 und lag<br />
kurz vor dem Ausbruch des Krieges 1913 bei 223.000. Das entsprach einem Anteil<br />
von 8,8 Prozent aller Gewerkschaftsmitglieder (Tabelle 1). Zudem zeigte sich,<br />
dass die weiblich geprägte Textilindustrie im Streikgeschehen an Gewicht verlor.<br />
Der Bereich war wesentlich schlechter organisiert, die Streikbewegungen spontaner<br />
und sie scheiterten häufiger wegen der mangelnden Vorbereitung. 38<br />
Tabelle 1: Mitgliederentwicklung der freien Gewerkschaften 1891-1914<br />
Jahr<br />
Mitglieder<br />
Weibliche<br />
Mitglieder<br />
Weiblicher<br />
Anteil in %<br />
Veränderung<br />
weibl. Anteil<br />
zum Vorjahr<br />
1891 277.659 0 – –<br />
1892 237.094 4.355 1,84 –<br />
1893 223.530 5.384 2,40 23,63%<br />
1894 246.494 5.251 2,13 -2,47%<br />
1895 259.175 6.697 2,58 27,54%<br />
1896 329.230 15.265 4,64 127,94%<br />
1897 412.359 14.644 3,55 -4,07%<br />
1898 493.742 13.481 2,73 -7,94%<br />
1899 580.473 19.280 3,32 43,02%<br />
1900 680.427 22.844 3,36 18,49%<br />
1901 677.510 23.699 3,50 3,74%<br />
1902 733.206 28.218 3,85 19,07%<br />
1903 887.698 40.666 4,58 44,11%<br />
1904 1.052.108 48.604 4,62 19,52%<br />
1905 1.344.803 74.411 5,53 53,10%<br />
1906 1.689.709 118.908 7,04 59,80%<br />
1907 1.865.506 136.929 7,34 15,16%<br />
1908 1.831.731 138.443 7,56 1,11%<br />
1909 1.832.667 133.888 7,31 -3,29%<br />
1910 2.017.298 161.512 8,01 20,63%<br />
37<br />
Bauer, Clara Zetkin, S.10f und Bölke, Gundula: Die Wandlung der Frauenemanzipationsbewegung<br />
von Marx bis zur Rätebewegung, Hamburg 1975, S.23.<br />
38<br />
Boll, Arbeitskämpfe, S. 360ff.
206 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
Jahr<br />
Mitglieder<br />
Weibliche<br />
Mitglieder<br />
Weiblicher<br />
Anteil in %<br />
Veränderung<br />
weibl. Anteil<br />
zum Vorjahr<br />
1911 2.320.986 191.332 8,24 18,46%<br />
1912 2.530.390 216.462 8,55 13,13%<br />
1913 2.548.763 223.676 8,78 3,33%<br />
1914 2.052.377 203.648 9,92 -8,95%<br />
Quelle: Gisela Losseff-Tillmanns (Hrsg): Frau und Gewerkschaft, Frankfurt am Main 1982, S. 277<br />
Die anhaltende Unzulänglichkeit der Gewerkschaften, Frauen zu organisieren,<br />
warf grundlegende Fragen auf. Zum einen gab es Probleme bei der gewerkschaftlichen<br />
Organisierung von Frauen, die mit ihrer Unterdrückung, ihrer Mehrfachbelastung<br />
durch die Familie und ihrer besonderen Lage auf dem Arbeitsmarkt<br />
zu tun hatten. 1907 arbeiteten 48 Prozent der erwerbstätigen Frauen noch<br />
in der Landwirtschaft, nur 22 Prozent in der Industrie und hier nicht selten noch<br />
in Heimarbeit. 9 Prozent waren in Handel und Verkehr tätig, 15 Prozent als<br />
Dienstmädchen in privaten Haushalten. 39 Frauen arbeiteten meist nur vorübergehend<br />
bis zur Schließung der Ehe. Hinzukam, dass es Frauen bis 1908 verboten<br />
war, sich politisch zu betätigen – dies wirkte auch in die Gewerkschaftsarbeit hinein.<br />
Zum anderen war weiterhin innerhalb der Gewerkschaften strittig, wie man<br />
sich zur Erwerbsarbeit der Frauen und ihrer gewerkschaftlichen Organisierung<br />
stellte. 1900 gab es noch drei Gewerkschaften, die per Statut die Mitgliedschaft<br />
von Frauen ausschlossen. Vor allem aber existierte eine Kluft zwischen dem Bekenntnis,<br />
Frauen zu organisieren, und der tatsächlichen gewerkschaftlichen Praxis.<br />
Clara Zetkin und andere kämpften für Frauenkommissionen, die die Frauen<br />
nicht separat organisieren, sie aber gezielt ansprechen sollten. Ein Antrag auf<br />
dem Gewerkschaftskongress 1905, die »Agitation unter den Arbeiterinnen mit<br />
mehr Energie und Ausdauer zu betreiben« und dafür gewerkschaftliche »Vertrauenspersonen«<br />
zu wählen, erhielt jedoch keine Mehrheit. 40 Hinter der ablehnenden<br />
oder zurückhaltenden Haltung verbarg sich eine starke defensive Strömung innerhalb<br />
der Arbeiterbewegung, die die Frage der arbeitenden Frau stets nur unter<br />
dem Gesichtspunkt des Konkurrenzdrucks sah. Anders die proletarische Frauenbewegung<br />
unter Clara Zetkin, die einen Emanzipationsgedanken trug und in der<br />
Erwerbstätigkeit der Frau eine Grundbedingung für ihre Eigenständigkeit und in<br />
der gemeinsamen Organisierung eine Voraussetzung für die gemeinsame Überwindung<br />
der Klassengesellschaft sah.<br />
39<br />
Losseff-Tillmanns, Frauenemanzipation und Gewerkschaften, S.56.<br />
40<br />
Losseff-Tillmanns, Frau und Gewerkschaft, S. 34. Dort der Antrag im Original S. 74ff.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 207<br />
Ideologisch wurde die zurückhaltende Praxis in den Gewerkschaften gestützt<br />
durch die neue Strömung des Revisionismus. Diese politische Strömung, die in<br />
der mit den Gewerkschaften eng verbundenen SPD zunehmend an Einfluss gewann,<br />
behauptete, die Widersprüche im Kapitalismus würden abnehmen, eine<br />
neue sozialistische Gesellschaft könne mittels parlamentarischer Mittel Schritt für<br />
Schritt eingeführt werden – die Perspektive eines revolutionären Umsturzes des<br />
Systems sei überholt.<br />
Dieselben Vertreter wiesen den Frauen die häusliche Sphäre zu. Edmund Fischer,<br />
ein Wortführer der Revisionisten, stellte 1905 in dem Artikel »Die Frauenfrage«<br />
die Notwendigkeit der eigenen Erwerbsarbeit der Frau für ihre Unabhängigkeit<br />
in Frage. Er schrieb, diese »sogenannte Frauenemanzipation widerstrebt<br />
der weiblichen Natur«, die Arbeiterbewegung müsse zur Kenntnis nehmen, dass<br />
die »Frauen […] geistig gegenüber den Männern im allgemeinen zurückstehen« 41 .<br />
Statt konservativen Ideen in der Arbeitsklasse entgegen zu wirken, knüpften die<br />
Revisionisten an diese an. Dies fügte sich in ihre »realpolitische« Gesamtstrategie<br />
ein, die der Selbstaktivität der Arbeiterklasse entgegengesetzt war und auf den<br />
Parlamentarismus orientierte.<br />
So war es kein Zufall, dass die führenden Vertreter der proletarischen Frauenbewegung<br />
zugleich die stärksten Widersacherinnen der neuen Revisionismus-Strömung<br />
waren. Ideologisch ging der Revisionismus mit einer Praxis der<br />
Gewerkschaftsarbeit Hand in Hand, bei der es dem entstandenen Gewerkschaftsapparat<br />
darum ging, größere Kämpfe zu vermeiden und über Verhandlungen<br />
mit der Kapitalseite die eigene Position auszubauen. Das wiederum hatte unmittelbare<br />
Auswirkungen auf die Organisierung von Frauen, die als bisher wenig<br />
organisierter Bereich nur durch aktive Auseinandersetzungen gewonnen werden<br />
konnten.<br />
Der seit Mitte der 1890er Jahre anhaltende wirtschaftliche Aufschwung schien<br />
die Argumente der revisionistischen Strömung, der Kapitalismus lasse sich Stück<br />
für Stück verändern, zu bestätigen und stützte die zurückhaltende Gewerkschaftspolitik.<br />
Die Vertreter einer kämpferischen Gewerkschaftsströmung, die<br />
für eine aktive Aufklärung und Einbeziehung der Frauen kämpften, blieben in<br />
der Minderheit. Der 1914 ausbrechende Krieg stellte allerdings alle etablierten<br />
Annahmen in Frage.<br />
1914-1933: Erster Weltkrieg, Revolution und Rollback<br />
Der Erste Weltkrieg veränderte die Arbeitswelt tiefgreifend. Die Zahl der erwerbstätigen<br />
Frauen nahm zu. Sie besetzten die Arbeitsplätze der in den Krieg<br />
eingezogenen Männer. Während der Krieg so auf barbarische Weise unter Beweis<br />
stellte, dass Frauen in vielen Bereichen der Wirtschaft ebenso wie Männer<br />
41<br />
Fischer, Edmund: Die Fragenfrage; in: Sozialistische Monatshefte 11 (1905).
208 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
arbeiten können, zeigte sich andererseits, wie wenig es automatisch zu einer<br />
Gleichberechtigung der Frauen kam. Sie erledigten dieselbe Arbeit zu einem geringeren<br />
Lohn. Allein in den Rüstungsbetrieben arbeiteten 800.000 Frauen, gezahlt<br />
wurde aber nur der halbe Männerlohn, während die Arbeitsschutzbestimmungen<br />
für Frauen aufgehoben wurden. 42<br />
Die Vorstände von SPD und Gewerkschaften unterstützen die Kriegspolitik<br />
der kaiserlichen Regierung. Einen Tag nach der deutschen Kriegserklärung erklärten<br />
die Gewerkschaften ihre sogenannte Burgfriedenspolitik. Die beinhaltete<br />
den Verzicht auf Lohnforderungen und Streiks. Sie ließen sich im »Kriegsausschuss«<br />
in die staatliche Arbeitskräftemobilisierung und -lenkung der Kriegswirtschaft<br />
einspannen und feierten dies als Anerkennung durch den Staat. 43 Die<br />
innergewerkschaftliche Opposition wurde bekämpft. 1915 wurde die »gewerkschaftliche<br />
Frauenzeitung« gegründet - als explizites Gegengewicht zur oppositionell-sozialdemokratischen<br />
»Gleichheit«, die klar Position gegen den Krieg bezog.<br />
44<br />
In der im Laufe des Krieges wachsenden Protestbewegung spielten die Frauen<br />
innerhalb und außerhalb der Betriebe eine zentrale Rolle. Sie gingen mit »Butterprotesten«<br />
gegen die schlechte Nahrungsmittelversorgung auf die Straße. Und<br />
sie waren es, die die Streiks gegen die Kriegspolitik 1915–1917 prägten. 45 Der<br />
weibliche Teil der Arbeiterklasse war so wesentlicher Wegbereiter der Revolution<br />
1918/19.<br />
Mit den Revolutionsjahren war eine starke Bewegung in den Betrieben verbunden,<br />
es kam zu mehreren Streikwellen. Obwohl diese in der Regel an den offiziellen<br />
Gewerkschaftsstrukturen vorbei geführt wurden, kam es zu einem enormen<br />
Zustrom bisher Unorganisierter in die Gewerkschaften, der auch die lohnabhängigen<br />
Frauen betraf. Von 1918 bis 1920 vervierfachte sich die Zahl der weiblichen<br />
Gewerkschaftsmitglieder – von 418.000 auf 1,7 Millionen. Ihr Anteil an allen<br />
Gewerkschaftsmitgliedern war schon über die Zeit des Krieges gewachsen<br />
und lag nun bei 22 Prozent (Tabelle 2). Das war mehr als doppelt so viele wie<br />
vor dem Krieg und ein Niveau, dass die deutsche Gewerkschaftsbewegung erst<br />
sechzig Jahre später wieder erreichen sollte.<br />
42<br />
IG Metall Neunkirchen: Die Situation der erwerbstätigen Frauen gestern und heute, 2011, S. 2.<br />
43<br />
Klönne, Arno: Die deutsche Arbeiterbewegung, Düsseldorf/Köln 1980, S. 127-134.<br />
44<br />
Losseff-Tillmanns, Frau und Gewerkschaft, S. 35.<br />
45<br />
Bauer, Clara Zetkin, S. 147f.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 209<br />
Tabelle 2: Mitgliederentwicklung der freien Gewerkschaften 1914-1930<br />
Jahr<br />
Mitglieder<br />
Weibliche<br />
Mitglieder<br />
Weiblicher<br />
Anteil in %<br />
Veränderung<br />
weibl. Anteil<br />
zum Vorjahr<br />
1914 2.052.377 203.648 9,92 -8,95%<br />
1915 1.159.497 172.201 14,85 -15,44%<br />
1916 966.705 180.895 18,71 5,05%<br />
1917 1.106.657 262.787 23,75 45,27%<br />
1918 1.664.991 418.125 25,11 59,11%<br />
1919 5.479.073 1.192.767 21,77 185,27%<br />
1920 7.890.102 1.710.761 21,68 43,43%<br />
1921 7.567.978 1.518.341 20,06 -11,25%<br />
1922<br />
1923 5.749.763 1.201.390 20,89 -20,87%<br />
1924 3.975.002 763.405 19,21 -36,46%<br />
1925 4.182.511 720.825 17,23 -5,58%<br />
1926<br />
1927 4.416.000 680.500 15,41 -5,59%<br />
1928<br />
1929<br />
1930 4.821.832 684.978 14,21 0,66%<br />
Quelle: Gisela Losseff-Tillmanns (Hrsg): Frau und Gewerkschaft, Frankfurt am Main 1982, S.277<br />
Die Revolution brachte den Frauen das allgemeine Wahlrecht und soziale Fortschritte<br />
wie Mindestlöhne für Heimarbeiterinnen oder die Zulassung zu einigen<br />
bisher verbotenen Berufen. Aber zentrale Forderungen der proletarischen Frauenbewegung<br />
nach ihrer Gleichberechtigung in der Arbeitswelt, der Vergesellschaftung<br />
der Reproduktionsarbeit und einer Entlastung von der Hausarbeit blieben<br />
unerfüllt. Die Revolution wurde auf halbem Wege gestoppt und von der<br />
SPD und Gewerkschaftsführern in parlamentarische Bahnen umgelenkt. 46 In der<br />
kurzen Zeit der Rätebewegung wirkten die alten Traditionen noch stark nach und<br />
Frauen waren als Delegierte nur schwach vertreten. Als der erste Reichskongress<br />
der Arbeiter- und Soldatenräte im Dezember 1918 über seine faktische Selbstauflösung<br />
abstimmte, befanden sich unter den 489 Delegierten nur zwei Frauen. 47<br />
Mit der abgewürgten Revolution wurden auch die positiven Ansätze der gewerkschaftlichen<br />
Organisierung von Frauen gestoppt. Eine Schlüsselrolle spielte<br />
46<br />
Harman, Chris: Die verlorene Revolution. Deutschland 1918-1923, Frankfurt am Main 1998.<br />
47<br />
Bauer, Clara Zetkin, S. 161.
210 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
dabei die von der neuen sozialdemokratisch geführten Regierung verfügten Demobilisierungsmaßnahmen.<br />
Damit wurden gezielt Frauen (insbesondere verheiratete)<br />
aus den Betrieben verdrängt, um den zurückkehrenden Soldaten einen Arbeitsplatz<br />
zu geben und damit Ruhe zu schaffen. 48 Der Beschäftigungsanteil der<br />
Frauen, der in Kriegszeiten bei 50 Prozent lag, sank nach Kriegsende auf 20 Prozent.<br />
49 So ging die Niederlage der Revolution Hand in Hand mit der Zurückweisung<br />
der Emanzipationsbestrebungen des weiblichen Teils der Arbeiterklasse.<br />
Oft wurden Frauen mit stillschweigender Billigung oder gar Unterstützung der<br />
Gewerkschaftsführungen und Betriebsräte aus den Arbeitsplätzen entfernt.<br />
1922 kritisierte ein Antrag linker Gewerkschafterinnen zur Frauenfrage auf<br />
dem Gewerkschaftstag diese Politik. Die Verfasser beklagten, in den letzten Jahren<br />
sei »für die Frauen absolut nichts getan worden«. Der Inhalt der gewerkschaftlichen<br />
Frauenzeitung habe nicht dazu beigetragen, dies zu ändern, denn<br />
hier seien seichte Artikel und Romane zu finden – oder Tipps zur Beseitigung<br />
von Hühneraugen. Der Antrag, der zugleich zahlreiche Maßnahmen zur Gewinnung<br />
von Frauen vorschlug, wurde von dem Vorsitzenden des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes<br />
Theodor Leipert abgekanzelt. Der Kongress solle »in Zukunft<br />
solche Entschließungen gar nicht zulassen« und es sei »bedauerlich«, dass<br />
»sich 50 Delegierte finden, die eine solche Sache unterstützen«. 50<br />
Die oppositionellen Strömungen innerhalb der Gewerkschaften, die sich stark<br />
im Metallarbeiterverband und der Textilarbeitergewerkschaft wiederfanden, waren<br />
eng verbunden mit der neu gegründeten Kommunistischen Partei. Die KPD<br />
hatte gegen den Verdrängung der Frauen aus den Betrieben mobil gemacht. Clara<br />
Zetkin geißelte auf dem Vereinigungsparteitag des linken Flügels der USPD<br />
mit der KPD im Dezember 1920 die Rolle der Frauen als industrielle Reservear-<br />
48<br />
Thönnessen, Werner: Frauenemanzipation – Politik und Literatur der Deutschen Sozialdemokratie<br />
zur Frauenbewegung 1863-1933, Frankfurt am Main 1969, S. 100f.<br />
Wie es in dem Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften hieß, sollte als<br />
oberster Grundsatz der Demobilmachung gelten, »daß den männlichen Arbeitskräften, vor allem<br />
den Kriegsteilnehmern eine ausreichende Zahl auskömmlicher Arbeitsplätze gesichert sein muß.<br />
Soweit es sich mit diesem Grundsatz verträgt, liegt eine Weiterverwertung der Arbeitskräfte der<br />
Frauen für Arbeiten, die ihrer Eigenart entsprechen und sie gesundheitlich nicht schädigen, im<br />
wirtschaftlichen Interesse«. Entlassungen sollten in folgender Reihe erfolgen; »a) nicht auf Erwerb<br />
angewiesene Frauen (z.B. solche, deren Ernährer wieder ausreichend verdient); b) Frauen,<br />
die in anderen Berufen (z.B. Landwirtschaft, häuslichen Berufen) sofort Arbeit finden können<br />
bzw. früher in ihnen tätig waren; c) ortsfremde ledige Frauen, sofern für Unterkunft auch nach<br />
der Entlassung, Rückführung in die Heimat und Versorgung dort gesorgt ist; d) Jugendliche […]<br />
Bei etwaiger Neueinstellung von Frauen, soweit sie nicht durch Arbeitsnachweise erfolgt, müssen<br />
im Interesse des Arbeitsmarktes die oben genannten Kategorien in letzter Linie berücksichtigt<br />
werden.« (Losseff-Tillmanns, Frauenemanzipation, S. 216).<br />
49<br />
Losseff-Tillmanns, Frauenemanzipation und Gewerkschaften, S. 182.<br />
50<br />
Losseff-Tillmanns, Frau und Gewerkschaft, S. 97–99.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 211<br />
mee: »Früher, in der Zeit seiner Jugend- und Mannesjahre, riß der Kapitalismus<br />
die Frau von Haus und Herd und peitschte sie bei Strafe des Hungers in den Betrieb,<br />
zur Berufsarbeit. Jetzt reißt er sie aus Wirtschaft und Verwaltung und verweist<br />
sie wieder auf das Heim, dessen Mauern er selbst zertrümmert, dessen<br />
Herd er gelöscht hat.« 51 Sie forderte, Kommunisten sollten »kluge Sachverwalter<br />
der Frauen für ihr Recht auf Arbeit in der Gesellschaft sein.« 52 Anders die Sozialdemokratie:<br />
Die wies den Frauen als Ersatz für ihr gewerkschaftliches und politisches<br />
Engagement die soziale Arbeit und Wohlfahrtspflege zu 53 und legte so<br />
einen der Grundsteine für die bis heute andauernde geschlechtsspezifische Arbeitsteilung.<br />
Unbesehen davon gab es infolge der Revolution in den 1920er Jahren zunächst<br />
eine gesellschaftliche Öffnung und mehr Freiheiten für Frauen (etwa in Hinsicht<br />
der Sexualität oder bestimmter Rollenbilder). Es gab Kampagnen gegen den Abtreibungsparagraphen<br />
218. 54 Mit dem Ende der kurzen Goldenen Zwanziger<br />
nahm der Druck wieder zu. Als in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre die Arbeitslosigkeit<br />
wieder stieg, wurde eine Kampagne gegen Frauenarbeit in Gang<br />
gesetzt, die vor allem verheiratete Frauen betraf. Einzelne Gewerkschaften forderten<br />
mit Teilen der SPD das gesetzliche Verbot der Arbeit von Frauen in den<br />
Betrieben. Gewerkschaften mit einem starken linken Flügel wie der Textilarbeiterverband<br />
veranstalteten dagegen Kongresse und führten Kundgebungen für<br />
den Schwangerenschutz durch. 55 Sie bestimmten jedoch nicht das Bild in den<br />
Gewerkschaften insgesamt. 56 Oft stimmten Betriebsräte der Entlassung schwangerer<br />
Frauen zu, um die Betriebskrankenkassen zu entlasten. 57<br />
Es ist wenig verwunderlich, dass unter diesen Bedingungen die Zahl der weiblichen<br />
Gewerkschaftsmitglieder zurückging und bereits 1927 nur noch 680.000 be-<br />
51<br />
Bauer, Clara Zetkin, S. 169.<br />
52<br />
Losseff-Tillmanns, Frauenemanzipation und Gewerkschaften, S. 225.<br />
53<br />
Thönnessen, Frauenemanzipation, S. 150f.<br />
54<br />
Siehe hierzu u.a. Kaba, Katja, Renken, Rita und Schierbach, Katrin: Eine reiche Tradition, in:<br />
marx21, Nr. 14, Februar/März 2010, S. 20–23.<br />
55<br />
Losseff-Tillmanns, Frauenemanzipation und Gewerkschaften, S. 277.<br />
56<br />
Warum der KPD in den folgenden Jahren trotz aller Bemühungen innerhalb der Gewerkschaften<br />
in der Frauenfrage nur wenige Erfolge gelangen, müsste gesondert betrachtet werden. Es<br />
gibt mit Sicherheit einen engen Zusammenhang zur abgeebbten revolutionären Welle. Fakt ist,<br />
dass die Partei 1925 selbstkritisch feststellte, dass es nicht gelungen war, genügend Frauen zu gewinnen,<br />
und es künftig Aufgabe der gesamten Partei sei, energischer zu arbeiten. Die KPD organisierte<br />
große Demonstrationen gegen den Paragraphen 218 und Zehntausende in dem Roten<br />
Frauen- und Mädchenbund. 1931 brachte sie in den Reichstag ein 10-Punkte-Programm zur<br />
Gleichberechtigung der Frau ein, deren zentrale Forderungen die Arbeitswelt betraf. Dazu<br />
Brandt, Gisela/Kootz, Johanna/Steppke, Gisela: Zur Frauenfrage im Kapitalismus, Frankfurt<br />
am Main 1973, 33f.<br />
57<br />
Losseff-Tillmanns, Frau und Gewerkschaft, S. 40f.
212 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
trug (1920 noch 1,7 Millionen). Ihr Anteil an allen Gewerkschaftsmitgliedern fiel<br />
auf 15 Prozent (1920 noch 22 Prozent) (Tabelle 2). So schwach sich die Gewerkschaftsführungen<br />
bei der Organisierung der Frauen erwiesen, so schwach waren<br />
sie bei der Bekämpfung der Wirtschaftskrise 1928–1933 und des deutschen Faschismus.<br />
Derselbe Gewerkschaftsführer Leipert, der die berechtigten Anliegen<br />
der Frauen bekämpfte, versuchte noch bei der Hitler-Regierung mit nationalistischen<br />
Tönen eine Anerkennung der Gewerkschaften zu erreichen. 58 Doch alles<br />
half nichts. Die Gewerkschaften wurden zerschlagen, tausende Mitglieder ermordet.<br />
Den arbeitenden Frauen war damit auf absehbare Zeit jegliche Möglichkeit<br />
genommen, sich frei zu organisieren und für ihre Emanzipation zu kämpfen.<br />
Vor dem Hintergrund des Aufschwungs der Rüstungswirtschaft nahm über die<br />
Mitte der 1930er Jahre in Nazideutschland die Frauenbeschäftigung – trotz reaktionärer<br />
Ideologie, der Ort der Frau seien Heim und Herd – zunächst weiter zu.<br />
Aber anders als im Ersten Weltkrieg stoppte dieser Prozess in der Kriegszeit.<br />
Trotz Arbeitskräftemangel und Forderungen aus dem Wirtschafts- und Staatsapparat<br />
stellte sich die Spitze der Nazis mit verschiedenen Maßnahmen gegen einen<br />
weitreichenden Einsatz von Frauen in der Kriegswirtschaft. Die Arbeitskräftelücke<br />
wurde durch den Einsatz von Kriegsgefangenen und Fremdarbeitern (oftmals<br />
weiblich) geschlossen, deren Zahl sich 1944 auf über sieben Millionen belief.<br />
59<br />
Aufstand der Angelernten: Gewerkschaftliche Frauenpolitik im<br />
Nachkriegsdeutschland<br />
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte die Gewerkschaftspolitik bald<br />
auf alte Pfade zurück. Nicht wenige der Frauen, die infolge des Krieges mit dem<br />
Tod oder der Verletzung vieler Männer Ende der 1940er Jahre die Mehrheit aller<br />
Berufstätigen stellten, wurden aus der Arbeit gedrängt. Und auch innerhalb der<br />
Gewerkschaften fanden sie sich schnell am Rand wieder, obwohl sich viele von<br />
ihnen zentral am Neuaufbau der Gewerkschaften beteiligten. 1946 hatte die Gewerkschaftskonferenz<br />
in der britischen Besatzungszone noch gefordert, für Frauen<br />
das Recht zur Ausbildung zur Facharbeiterin festzuschreiben als Voraussetzung<br />
für die angestrebte Gleichberechtigung. Dieses Recht der Frau auf Erwerbsarbeit<br />
suchte man 1949 in den Leitsätzen des DGB-Gründungskongresses<br />
ebenso vergebens wie in seinen 1951 verabschiedeten Richtlinien. 60<br />
58<br />
Klönne, Die deutsche Arbeiterbewegung, S. 250.<br />
59<br />
Die Frauen-Beschäftigung stieg zwischen Mai 1939 und September 1944 insgesamt nur von 14,6<br />
Millionen auf 14,9 Millionen, vgl. Winkler, Dörte: Frauenarbeit im Dritten Reich, Hamburg<br />
1977, S. 201.<br />
60<br />
Schambach-Hardtke, Lydia: Gender und Gewerkschaften, Opladen 2005, S. 52f.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 213<br />
Zwar wurde 1949 beim DGB eine Abteilung Frauen und auf allen Ebenen<br />
Frauenausschüsse eingerichtet. Aber in der Praxis spielten die besondere Situation<br />
von lohnabhängigen Frauen, ihre Interessen und Anliegen lange Zeit eine untergeordnete<br />
Rolle. 61 Weitgehend unbeachtet blieben die Streiks hunderter Frauen<br />
in mittleren Textilbetrieben in den frühen 1950er und 1960er Jahren gegen<br />
Niedriglöhne und für betriebliche Rechte. 62<br />
Diese Praxis stand im völligen Widerspruch zur realen Entwicklung. Denn der<br />
anhaltende Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit brachte einen steigenden<br />
Bedarf an Arbeitskräften mit sich, der vor allem aus Frauen (und Migranten und<br />
Migrantinnen) gedeckt wurde. 63 Zwischen 1950 und 1970 nahm die Zahl der abhängig<br />
beschäftigten Frauen um 63 Prozent zu (Männer: 36 %). 1970 waren von<br />
den 26,8 Millionen Erwerbstätigen 9,6 Millionen Frauen. 64 Hinzukamen 440.000<br />
sogenannte Gastarbeiterinnen. In der metallerzeugenden und verarbeitenden Industrie<br />
wuchs zwischen 1950 und 1968 die Zahl der beschäftigten Frauen von<br />
97.000 auf 866.000. Beide Gruppen der Frauen und Migranten, die oft in eins<br />
fielen, wurden in den Betrieben für angelernte Tätigkeiten in »Leichtlohngruppen«<br />
eingesetzt. Das heißt, sie bekamen für die gleiche Arbeit weniger Geld. 70<br />
Prozent aller Produktionsarbeiterinnen arbeiteten Ende der 1960er Jahre am<br />
Fließband, oft unter enormem Arbeitsdruck. 65<br />
Die Gewerkschaften kümmerten sich kaum um diese neuen Gruppen der Beschäftigten<br />
und ihre Probleme. Zwischen 1965 und 1968 ging sogar die Anzahl<br />
der weiblichen Betriebsratsmitglieder von 4221 auf 3918 zurück. 66 So zurückhaltend<br />
die gewerkschaftliche Frauenpolitik war, so traf dies auch auf die allgemeine<br />
Gewerkschaftspolitik zu. Über die sogenannte »konzertierte Aktion« ließen<br />
sich die Gewerkschaften in eine zurückhaltende staatliche Lohnpolitik einbinden.<br />
Der Unmut darüber brach sich dann Ende der 1960er/ Anfang der 1970er Jahre<br />
in zahlreichen spontanen Streiks Bahn. Diese Streiks waren meist Lohnstreiks<br />
61<br />
Losseff-Tillmanns, Frau und Gewerkschaft, S. 15.<br />
62<br />
Birke, Peter: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale<br />
Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt am Main 2007, S. 54, 122.<br />
63<br />
Zugleich hat erst der technische Fortschritt mit der Verfügbarkeit von Haushaltsgeräten wie<br />
Waschmaschine, Staubsauger, Kühlschrank für die breite Masse in allen Industriestaaten die notwendige<br />
Zeit für die Hausarbeit deutlich verringert und so weibliches Arbeitspotenial freigestellt<br />
(Harman, Chris: Frauenunterdrückung und Frauenbefreiung, Sozialistische Arbeitergruppe,<br />
Frankfurt am Main1993).<br />
64<br />
Neu war vor allem, dass die deutliche Mehrheit der arbeitenden deutschen Frauen verheiratet<br />
waren. 1907 traf dies nur auf 26% aller erwerbstätigen Frauen zu, 1970 auf 56%<br />
(Brandt/Kootz/Steppke, Zur Frauenfrage, S. 60f).<br />
65<br />
Cieslak, Werner/Konze, Marianne: Gewerkschaften im Kampf um die Rechte der berufstätigen<br />
Frau, in: Marxistische Blätter 10/1972, S. 63.<br />
66<br />
Brandt, Gisela/Kootz, Johanna/Steppke, Gisela: Zur Frauenfrage, S. 66.
214 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
und wurden oft als »wilde Streiks« an den gewerkschaftlichen Führungen vorbei<br />
organisiert. Nicht selten standen Migranten und Frauen an der Spitze.<br />
Die sogenannten »Septemberstreiks« 1969 waren noch stark von deutschen<br />
Facharbeitern in den klassischen Industrien wie Stahl- und Bergbau getragen, obwohl<br />
auch schon damals Frauen als Migrantinnen in einzelnen bestreikten Betrieben<br />
eine wichtige Rolle spielten. 67 Bei den Streiks 1973, die auch als »Aufstand<br />
der Angelernten« in die Geschichte eingingen, standen die Migranten und Frauen<br />
stärker im Vordergrund. Industriearbeiterinnen bei AEG in Nürnberg, in den<br />
Deutschen Telefunken-Werken in Rendsburg und anderswo streikten für »Gleichen<br />
Lohn für gleiche Arbeit.« 68 Größere Bekanntheit erlangte ein Streik bei der<br />
Firma Pierburg, einem Autogerätebauer in Neuss (NRW). Über diesen berichtete<br />
eine sozialistische Broschüre:<br />
Während früher bei Pierburg Männer am Fließband standen, wurden bald Frauen<br />
für die gleiche Arbeit eingestellt, für zwei Drittel der Männer-Löhne. Da die Profite<br />
nicht groß genug sein konnten, wurden später vor allem ausländische Arbeiterinnen<br />
eingesetzt. Vierhundert Jugoslawinnen wurden direkt aus ihrem Heimatland herangeschafft.<br />
Sie wurden nach der niedrigsten Lohngruppe bezahlt. Sie waren in Baracken<br />
untergebracht und durften keinen Männerbesuch empfangen.<br />
Fünf Tage im August 73 streikten die Arbeiterinnen von Pierburg für eine Erhöhung<br />
der Stundenlöhne und die Abschaffung der Leichtlohngruppe 2. Die Arbeiter<br />
von Pierburg unterstützen sie, nachdem sie erkannt hatten, dass auch die Durchsetzung<br />
ihrer eigenen Forderungen voll und ganz von der Solidarität der Frauen abhängt.<br />
Der Streik erkämpfte den Wegfall der Lohngruppe 2 und eine Erhöhung von<br />
55 Pfennig für alle.<br />
Die Pierburg-Frauen sind eine wichtige Anregung für die Frauen überall. Ihr Streik<br />
erzeugte eine Welle von Sympathien. Der Pierburg-Boss musste auf ihre Interessen<br />
eingehen, weil sie einig und mutig für ihre Interessen eintraten. 69<br />
Der Aufstand der Angelernten und die spontanen Streiks jagten den Gewerkschaftsspitzen<br />
gehörig Angst ein und führten den gewerkschaftlichen Basisaktivisten<br />
neue Kräfte zu. Der DGB erklärte das Jahr 1972 zum »Jahr der weiblichen<br />
Arbeitnehmer« und legte ein Programm von 57 Forderungen für Arbeitnehmerinnen<br />
vor. 1975 kam es auf dem DGB-Bundeskongress zu einer Demonstration<br />
67<br />
Im westfälischen Lippstadt legten etwa Migrantinnen, die noch nach den Leichtlohngruppen der<br />
Metallindustrie bezahlt wurden, die Arbeit nieder und forderten »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«.<br />
Weitgehend unbekannt ist es, dass es auch in Teilen des öffentlichen Dienstes wilde Streiks<br />
gab. So streikten zum Beispiel in Westberlin 19 Kindertagesstätten für kurze Zeit, um gegen die<br />
Überbelegung und niedrigen Löhne zu protestieren. Vgl. Birke, Wilde Streiks, S. 236f.<br />
68<br />
Ders. S. 297.<br />
69<br />
SAG-Frauenausschuss: Frauen wehren sich, Hannover/Frankfurt am Main 1976, S. 10.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 215<br />
von Gewerkschafterinnen gegen die unzureichende Vertretung – nur 34 der 478<br />
Delegierten waren Frauen! 70<br />
Der Aufschwung der Klassenkämpfe in dieser Zeit erreichte viele bisher unorganisierte<br />
Beschäftigte und führte zu einem überdurchschnittlichen Anstieg der<br />
weiblichen Gewerkschaftsmitglieder. War ihre Zahl bis 1968 noch unter eine Millionen<br />
gefallen, lag sie zehn Jahre später bereits bei 1,5 Millionen. Ihr Anteil an<br />
allen Gewerkschaftsmitgliedern stieg in diesem Zeitraum von 15 Prozent auf fast<br />
20 Prozent (Tabelle 4).<br />
Tabelle 3: Entwicklung der DGB-Mitgliederzahlen 1950–1968<br />
Jahr männlich weiblich Insgesamt weiblich %<br />
1950<br />
4.557.951 892.039 5.449.990<br />
16,4<br />
1951<br />
4.953.163 1.027.135 5.980.298<br />
17,2<br />
1952<br />
5.008.232 1.039.155 6.047.387<br />
17,2<br />
1953<br />
5.005.073 1.046.148 6.051.221<br />
17,3<br />
1954<br />
5.048.130 1.055.213 6.103.343<br />
17,3<br />
1955<br />
5.057.067 1.047.805 6.104.872<br />
17,2<br />
1956<br />
5.081.306 1.043.241 6.124.547<br />
17,0<br />
1957<br />
5.166.734 1.077.652 6.244.386<br />
17,3<br />
1958<br />
5.242.208 1.089.527 6.331.735<br />
17,2<br />
1959<br />
5.202.979 1.070.762 6.273.741<br />
17,1<br />
1960<br />
5.285.213 1.093.607 6.378.820<br />
17,1<br />
1961<br />
5.303.779 1.078.257 6.382.036<br />
16,9<br />
1962<br />
5.371.975 1.058.453 6.430.428<br />
16,5<br />
1963<br />
5.397.136 1.033.842 6.430.978<br />
16,1<br />
1964<br />
5.463.419 1.022.052 6.485.471<br />
15,8<br />
1965<br />
5.544.306 1.030.185 6.574.491<br />
15,7<br />
1966<br />
5.522.327 1.014.833 6.537.160<br />
15,5<br />
1967<br />
5.430.940 976.793 6.407.733<br />
15,2<br />
1968<br />
5.404.382 971.590 6.375.972<br />
15,2<br />
Quelle: DGB-Bundesvorstand<br />
Ab den 1970er Jahren fand in den Gewerkschaften ein merkbares Umdenken<br />
in Bezug auf die Frauen statt. Das lag nicht allein an ihrer steigenden Erwerbstätigkeit<br />
und ihrer Beteiligung an den wilden Streiks der späten 1960er und frühen<br />
1970er Jahre. Bedeutsamen Einfluss übte auch die nach 1968 neu entstehende<br />
Frauenbewegung und die im Aufschwung befindliche radikale Linke aus.<br />
70<br />
Losseff-Tillmanns, Frau und Gewerkschaft, S.15 und Cieslak/Konze, Gewerkschaften, S. 60, 67.
216 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
Es ist heute weitgehend unbekannt, dass die neue radikale Linke zentraler Akteur<br />
der neu entstandenen Frauenbewegung war und an vorderster Front der Bewegung<br />
gegen den Abtreibungsparagraphen 218 stand. Aber anders als die bürgerlichen<br />
Vertreter der Frauenbewegung wie Alice Schwarzer stellten die neu entstanden<br />
sozialistischen Gruppen nicht eine Trennung von Frauen und Männern,<br />
sondern das Klasseninteresse der arbeitenden Frauen und den gemeinsamen<br />
Kampf der gesamten Arbeiterklasse gegen ihre Benachteiligung ins Zentrum ihrer<br />
Aktivitäten. 71 Bekanntes Beispiel ist vielleicht der sozialistische Frauenbund<br />
Westberlins. Nach seinem Aufruf zum 8. März 1971 demonstrierten in Westberlin<br />
knapp 1000 Menschen unter Parolen wie »Frauen, doppelt ausgebeutet, zeigt,<br />
was eure Macht ist«, »Im Büro und auf dem Bau, gleichen Lohn für Mann und<br />
Frau« und »Kinderzimmer, Heim und Herd, sind nicht ein ganzes Leben wert«. 72<br />
Tabelle 4: Entwicklung der DGB-Mitgliederzahlen 1968–1990<br />
Jahr männlich weiblich Insgesamt weiblich %<br />
1968<br />
5.404.382 971.590 6.375.972<br />
15,2<br />
1969<br />
5.498.316 984.074 6.482.390<br />
15,2<br />
1970<br />
5.685.397 1.027.150 6.712.547<br />
15,3<br />
1971<br />
5.818.174 1.050.488 6.868.662<br />
15,3<br />
1972<br />
5.870.282 1.115.266 6.985.548<br />
16,0<br />
1973<br />
5.987.761 1.179.762 7.167.523<br />
16,5<br />
1974<br />
6.121.260 1.284.500 7.405.760<br />
17,3<br />
1975<br />
6.051.891 1.313.021 7.364.912<br />
17,8<br />
1976<br />
6.046.063 1.353.958 7.400.021<br />
18,3<br />
1977<br />
6.068.324 1.402.643 7.470.967<br />
18,8<br />
1978<br />
6.269.174 1.482.349 7.751.523<br />
19,1<br />
1979<br />
6.302.733 1.540.832 7.843.565<br />
19,6<br />
1980<br />
6.286.253 1.596.274 7.882.527<br />
20,3<br />
1981<br />
6.306.739 1.650.773 7.957.512<br />
20,7<br />
1982<br />
6.199.604 1.649.399 7.849.003<br />
21,0<br />
1983<br />
6.101.143 1.644.770 7.745.913<br />
21,2<br />
1984<br />
6.005.838 1.654.508 7.660.346<br />
21,6<br />
1985<br />
6.014.337 1.705.131 7.719.468<br />
22,1<br />
71<br />
Behrens, Christine, Ferschke, Michael, Schierbach, Katrin: Marxismus und Frauenbefreiung,<br />
Frankfurt 1999, S. 68ff.<br />
72<br />
Sozialistischer Frauenbund – Westberlin: PELAGEA 2. Berliner Materialien zur Frauenemanzipation<br />
1971. Aufbau und Entwicklung einer Frauenorganisation, Berlin 1971, S. 9.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 217<br />
Jahr männlich weiblich Insgesamt weiblich %<br />
1986<br />
6.008.734 1.755.963 7.764.697<br />
22,6<br />
1987<br />
5.968.678 1.788.361 7.757.039<br />
23,1<br />
1988<br />
5.970.428 1.826.649 7.797.077<br />
23,4<br />
1989<br />
5.978.564 1.876.556 7.855.120<br />
23,9<br />
1990<br />
5.998.323 1.939.600 7.937.923<br />
24,4<br />
Quelle: DGB-Bundesvorstand<br />
Mit ihrer Orientierung auf die Arbeiterklasse griff die sozialistische Linke in<br />
den Betrieben und Gewerkschaften die Frauenfrage auf. Ob in der Unterstützung<br />
von Streiks, in der Solidaritätsarbeit für die Abschaffung der Leichtlohngruppen<br />
oder bei Aktionen gegen eine frauenfeindliche Betriebsratspolitik –<br />
bundesweit kämpften Tausende in vielen kleinen und großen Auseinandersetzungen<br />
gegen die Diskriminierung der Frauen in den Betrieben als auch gegen eine<br />
Gewerkschafts- und Betriebsratspolitik, die ihre Interessen außen vorließ. 73 Ohne<br />
dieses bewusste Eingreifen ist die Veränderung der gewerkschaftlichen Politik<br />
dieser Zeit nicht zu erklären. Dass dies bitter nötig war, zeigte 1978 das DGB-<br />
Gewerkschaftsbarometer. Dass Gewerkschaften nicht genug für die Frauen tun<br />
würden, sagten 66 Prozent der weiblichen und 55 Prozent der männlichen Mitglieder.<br />
74<br />
Die Wiederkehr der Krise Mitte des Jahrzehnts änderte grundlegend die Rahmenbedingungen<br />
für die Gewerkschaften. Nach zwei Jahrzehnten unterbrochenen<br />
Wirtschaftswachstums gab es erstmals wieder anhaltende Massenarbeitslosigkeit.<br />
Die Arbeitslosenquote der Frauen stieg von 1975–1984 von 4,7 % auf<br />
9,6 %, die der Männer von 3,4 % auf 7,0 %. 75<br />
Anders als viele Linke es erhofft und erwartet hatten, nahmen infolge der Krise<br />
die Arbeitskämpfe nicht zu. Sie gingen vielmehr zurück und wurden deutlich<br />
defensiver. 76 Vor diesem Hintergrund kamen in der Frauenbewegung zunehmend<br />
die Vertreterinnen der Mittelschichten mit ihren Interessen zur Geltung, die soziale<br />
Frage und Belange der breiten Massen der arbeitenden Frauen wurden an<br />
den Rand gedrängt. Auch in den Gewerkschaften machte sich der Einfluss dieser<br />
73<br />
Unter dem Online-Dokumentationsdienst http://www.mao-projekt.de/ finden sich dafür dutzende<br />
Belege. So unverständlich die politische Orientierung vieler dieser Gruppen auf den angeblichen<br />
chinesischen Sozialismus im Nachhinein ist (deren Ernüchterung zu ihrem schnellen<br />
Verfall mit beitrug), ihre konkrete betrieblichen Arbeit ist nicht zu gering einzuschätzen.<br />
74<br />
Jochimsen, Luc: Sozialismus als Männersache oder Kennen Sie »Bebels Frau«? Seit 100 Jahren<br />
ohne Konsequenz, Hamburg 1978, S. 37.<br />
75<br />
IAB: Handbuch Arbeitsmarkt <strong>2013</strong> – Analysen, Daten, Fakten, Herbert Brücker, Sabine Klinger,<br />
Joachim Möller, Ulrich Walwei (Hg.), W. Bertelsmann Verlag, GmbH & Co. KG, 1. Aufl. 2012.<br />
76<br />
Dribbusch, Heiner: 60 Jahre Arbeitskampf in der Bundesrepublik – ein Überblick, in: Bispinck,<br />
R. / Schulten, Th. (Hrsg.): Zukunft der Tarifautonomie, Hamburg 2010.
218 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
Ideen bemerkbar. Oft hatten sich Frauengruppen neu gegründet. Durch Quotenregelungen<br />
begannen Frauen seit den 1980er Jahren in gewerkschaftlichen<br />
Gremien eine stärkere Repräsentanz zu erhalten. Doch in den gewerkschaftlichen<br />
Auseinandersetzungen, die meist Abwehrkämpfe in männlich dominierten<br />
Branchen waren, spielten sie weiter oft nur eine geringe Rolle. Eine bedeutsame<br />
Ausnahme bildete der zehnwöchige Streik der Westberliner Erzieherinnen<br />
1989/90 für einen Mindestpersonalschlüssel und eine Aufwertung des Erzieherberufes.<br />
Es war einer der längsten Arbeitskämpfe in der Nachkriegsgeschichte. 77<br />
Die Grenzen der weiblichen Erwerbstätigkeit in der DDR<br />
Die Frauenerwerbstätigkeit im östlichen Teil Deutschlands, der Deutschen Demokratischen<br />
Republik (DDR), griff deutlich weiter aus als in Westdeutschland,<br />
war aber dennoch von einer Gleichstellung weit entfernt. Am deutlichsten wurde<br />
dies mit Blick auf die führende Riege der herrschenden Partei, die vierzig Jahre<br />
lang fast ausschließlich aus Männern bestand. Aber auch die großen Industriekomplexe,<br />
die sogenannten Kombinate, wurden in aller Regel von Männern geführt.<br />
Die Machthaber der Staatspartei SED gaben vor, im Namen der Arbeiterklasse<br />
zu regieren. Tatsächlich benutzten sie jedoch nur sozialistische Floskeln, um ihre<br />
Herrschaft ideologisch zu rechtfertigen. In der DDR gab es weder freie Gewerkschaften<br />
noch ein Streikrecht, geschweige denn Arbeitermacht. 78<br />
Die weibliche Erwerbstätigkeit entwickelte sich in der DDR rasant. In den späten<br />
1970er Jahren überstieg die Erwerbsquote der Frauen mit 78,0 % erstmals<br />
die der Männer mit 77,7 % und verblieb seitdem auf einem deutlich höheren Niveau.<br />
1950 hatte die weibliche Erwerbsquote noch bei 44,1 % gelegen, 1960 bei<br />
61,9 %. 79 Der Hintergrund war ein Arbeitskräftemangel, denn bis zum Mauerbau<br />
1961 verließen über zwei Millionen Menschen die DDR. So war das System gezwungen,<br />
die Frauen fast vollständig in den Arbeitsprozess einzubeziehen. Um<br />
77<br />
Der Streik stand in Konfrontation zum damaligen rot-grünen Senat in Berlin und verhärtete sich<br />
zunehmend. Er endete in einer Niederlage. Die Gewerkschaftsführungen von ÖTV und GEW<br />
setzten den Streik nach zehn Wochen aus, obwohl die Stimmung für eine Fortsetzung stand. In<br />
der neunten Woche hatten in einer geheimen Abstimmung in Neukölln von 500 Erzieherinnen<br />
nur 15 für einen Abbruch des Streiks gestimmt. (Tagesspiegel 15.04.2002 »Am meisten litten die<br />
Eltern«). Dennoch war der Streik ein Achtungszeichen.<br />
78<br />
Die DDR als auch die anderen Ostblockstaaten lassen sich als staatskapitalistisch bezeichnen.<br />
Die kleine Führungsgruppe einer Staatspartei kontrollierte die nationale Wirtschaft, die im Weltkapitalismus<br />
in Konkurrenz zur den westlichen Ländern stand. Der Staatskapitalismus war eine<br />
historisch besondere Erscheinung, der in späten 1920er/frühen 1930er Jahren aus dem Scheitern<br />
der vormals erfolgreichen russischen Revolution 1917 entstand, vgl. Tony Cliff – Staatskapitalismus<br />
in Rußland, Sozialistische Arbeitergruppe Frankfurt 1975.<br />
79<br />
Klenke, Olaf: Kampfauftrag Mikrochip: Rationalisierung und sozialer Konflikt im »Staatssozialismus«<br />
der DDR, Hamburg 2008, S. 106.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 219<br />
dies zu ermöglichen, wurde ein flächendeckendes Kinderbetreuungsnetz aufgebaut.<br />
Die Ergebnisse dieser Entwicklung waren widersprüchlich. Die Erwerbstätigkeit<br />
brachte den Frauen eine deutliche größere Unabhängigkeit und Eigenständigkeit.<br />
Frauen drangen in einigen Bereichen in klassische Männerberufe vor, in<br />
den 1950/60er Jahren gab es einen enormen Qualifizierungsschub. Trotz dieser<br />
Fortschritte waren der »Gleichberechtigung« in der DDR aber deutliche Grenzen<br />
gesetzt.<br />
Denn Frauen arbeiteten meist in schlechter bezahlten Bereichen und bekamen<br />
in der Industrie oft die minderwertigen Tätigkeiten zugewiesen. Und ähnlich wie<br />
im westlichen Kapitalismus pflegte man ideologisch weiterhin das Bild der<br />
»Kleinfamilie«. Ein Großteil der Reproduktionsarbeit verblieb auf den Schultern<br />
der Frau. Von den wöchentlich 38 Stunden Hausarbeit, die die Familienmitglieder<br />
für den Haushalt aufbrachten, entfielen Mitte der 1980er Jahre auf die Frau<br />
fast 27 Stunden und damit 70 %. Der Historiker Stefan Wolle beschrieb den typischen<br />
Arbeitstag einer berufstätigen Mutter so:<br />
[U]m fünf Uhr morgens weckte sie die Kinder, machte sie für den Kindergarten<br />
oder die Schule fertig und brachte sie dorthin. Die Einrichtungen der Volksbildung<br />
hatten dafür einen speziellen Frühhort eingerichtet, wo man die Kinder schon ab<br />
sechs abgeben konnte. Dann ging es mit einer ungeheizten und überfüllten Straßenoder<br />
S-Bahn zur Arbeit. Nach Feierabend, also gegen 17 Uhr, holten die Mütter die<br />
übermüdeten und nervösen Kinder aus den »Einrichtungen« ab, erledigten auf dem<br />
Nachhauseweg die oft mit »Rennereien« und langem Anstehen verbundenen Einkäufe<br />
und hatten dann gerade noch Zeit für das Abendbrot. Nach dem »Sandmännchen«<br />
steckten sie die Kinder ins Bett und erledigten die wichtigsten Arbeiten im<br />
Haushalt. 80<br />
Die geschlechterspezifische Arbeitsteilung in der DDR führte zu ungleichen<br />
Löhnen. Nach der letzten Lohndatenerfassung der DDR aus dem Jahr 1988 bekamen<br />
Frauen insgesamt 16 % weniger Lohn als Männer. Trotz vergleichbarer<br />
Qualifikation arbeitete am Ende der DDR 57 % der Frauen in den unteren<br />
Lohngruppen 4 und 5, aber nur 22 % der Männer. In den Hochlohngruppen 7<br />
und 8 waren nur 14 % Frauen aber 43 % der Männer zu finden (Klenke 2008 :<br />
110). 81<br />
Die höhere Erwerbstätigkeit der Frau in der DDR besaß so einen zwiespältigen<br />
Charakter. Einerseits zog sie eine größere finanzielle Eigenständigkeit und<br />
Unabhängigkeit der Frau nach sich. Anderseits blieb ihnen durch die Doppelbelastung<br />
mit der Familie und eine rein aus ökonomischen Gesichtspunkten erfolgte<br />
Einbeziehung in die Erwerbstätigkeit eine wirkliche Gleichberechtigung ver-<br />
80<br />
Zitiert aus Klenke, Kampfauftrag, S. 109.<br />
81<br />
Klenke, Kampfauftrag, S. 110.
220 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
wehrt. Dafür hätte es einer gesellschaftlichen Umwälzung mit anderen gesellschaftlichen<br />
Zielen bedurft.<br />
Aber auch in der DDR traten die arbeitenden Frauen als handelndes Subjekt in<br />
Erscheinung. Zwar versuchte die herrschende Partei, jegliche eigenständigen, kollektiven<br />
Aktionen aus der Arbeiterklasse zu unterbinden. Und an den Streiks, die<br />
es noch in den 1950er und frühen 1960er Jahren gab und die meist in männlich<br />
dominierten Arbeitszweigen stattfanden, waren nur wenige Frauen beteiligt.<br />
Frauen erlangten jedoch in den 1970er und 1980er Jahren auf der unteren Ebene<br />
der Staatsgewerkschaft FDGB eine gewisse Bedeutung. Sie stellten die Mehrheit<br />
der Vertrauensleute. Diese hatten in den grundlegenden Dingen nichts zu sagen<br />
und sollten Ausgleich organisieren, besaßen aber oft das Vertrauen des Arbeitskollektivs<br />
und kümmerten sich um kleinere soziale und kulturelle Dinge. In der<br />
ostdeutschen Revolution von 1989/90 spielten dann nicht wenige dieser Vertrauensfrauen<br />
beim betrieblichen Aufbruch eine wichtige Rolle, verteilten Zettel, riefen<br />
zu Betriebsversammlungen auf 82 und trugen so einen entscheidenden Teil<br />
dazu bei, dass die Macht der Staatspartei SED in den Betrieben ins Wanken und<br />
schließlich zum Einsturz kam. Waren bei der Gründung der ersten freien betrieblichen<br />
Interessenvertretungen noch vergleichsweise viele Frauen aktiv, schieden<br />
viele bei den Betriebsratswahlen 1992/93 – und damit dem Abschluss der Massenentlassungen<br />
– aus. 83<br />
Im wiedervereinigten Deutschland: die Arbeitskämpfe werden weiblicher<br />
Im ersten Jahrzehnt des wiedervereinigten Deutschlands hat sich, was die Erwerbsbeteiligung<br />
der Frauen betrifft, in den neuen und alten Bundesländern zunächst<br />
eine gegenläufige Entwicklung vollzogen. In den neuen Bundesländern<br />
sank die Zahl der erwerbstätigen Frauen zunächst von ursprünglich 4 Millionen<br />
im Jahr 1991 bis 2004 auf den Tiefpunkt von 3,3 Millionen und lag 2011 bei<br />
nunmehr wieder 3,6 Millionen. In den alten Bundesländern stieg jedoch die Erwerbstätigkeit<br />
der Frauen kontinuierlich an von 11,4 Millionen 1991 auf 14,5<br />
Millionen 2011. Im Jahr 2011 lag die weibliche Erwerbsquote im früheren Bundesgebiet<br />
bei 70,5% (Männer 82,1%), in den neuen Bundesländern bei 76,4%<br />
(Männer 82,7%). 84<br />
Insgesamt ist diese Zeit von einem starkem Rückzug und einer Schwächung<br />
der Gewerkschaften geprägt, die viel an Mitgliedern und Gestaltungskraft verloren<br />
haben. Der drastische Anstieg der Arbeitslosigkeit und die Ernüchterung vie-<br />
82<br />
Hürtgen, Renate: Zwischen Disziplinierung und Partizipation: Vertrauensleute des FDGB im<br />
DDR-Betrieb, Köln/Weimar 2005, S. 176f, 314.<br />
83<br />
Dies. S. 320.<br />
84<br />
Bundesregierung: Antwort auf die Anfrage der Fraktion DIE LINKE »Steigende Erwerbstätigkeit<br />
von Frauen und ihre Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt« (Bundestagsdrucksache<br />
17/12610), Berlin <strong>2013</strong>.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 221<br />
ler Linker in den Gewerkschaften über das Ende der DDR, haben den kämpferischen<br />
Flügel geschwächt. Mit dem Beitritt der DDR zur BRD stieg ihre Zahl<br />
zwischenzeitlich auf 3,9 Millionen. Doch infolge ostdeutscher Deindustrialisierung<br />
und Niederlagen in Abwehrkämpfen fiel die Zahl der weiblichen wie der<br />
männlichen Gewerkschaftsmitglieder. Zwischen 1991 und 2000 verloren die<br />
DGB-Gewerkschaften 4 Millionen Mitglieder, davon 1,5 Millionen Frauen. Heute<br />
sind noch etwa 2 Millionen Frauen Mitglied einer DGB-Gewerkschaft (Tabelle<br />
4). In den vergangenen Jahren hat sich allerdings der Rückgang der Mitgliederzahlen<br />
abgeschwächt. Im Jahr 2012 wurden bei den weiblichen Mitgliedern gegenüber<br />
dem Vorjahr erstmals ein leichtes Plus verzeichnet (+8.000)! Bei den<br />
männlichen Mitgliedern gab es noch einen leichten Rückgang (-12.000).<br />
Tabelle 5: Entwicklung der DGB-Mitgliederzahlen 1991–2012<br />
Jahr männlich weiblich Insgesamt weiblich %<br />
1991<br />
7.910.261 3.890.151 11.800.412<br />
33,0<br />
1992<br />
7.479.986 3.535.626 11.015.612<br />
32,1<br />
1993<br />
7.054.556 3.235.596 10.290.152<br />
31,4<br />
1994<br />
6.749.325 3.019.048 9.768.373<br />
30,9<br />
1995<br />
6.493.216 2.861.454 9.354.670<br />
30,6<br />
1996<br />
6.227.686 2.744.986 8.972.672<br />
30,6<br />
1997<br />
5.999.809 2.623.662 8.623.471<br />
30,4<br />
1998<br />
5.776.720 2.534.063 8.310.783<br />
30,5<br />
1999<br />
5.592.081 2.444.606 8.036.687<br />
30,4<br />
2000<br />
5.403.235 2.369.560 7.772.795<br />
30,5<br />
2001<br />
5.395.899 2.503.110 7.899.009<br />
31,7<br />
2002<br />
5.252.617 2.447.286 7.699.903<br />
31,8<br />
2003<br />
5.016.978 2.346.169 7.363.147<br />
31,9<br />
2004<br />
4.775.371 2.237.666 7.013.037<br />
31,9<br />
2005<br />
4.620.365 2.158.064 6.778.429<br />
31,8<br />
2006<br />
4.486.131 2.099.643 6.585.774<br />
31,9<br />
2007<br />
4.387.673 2.053.372 6.441.045<br />
31,9<br />
2008<br />
4.332.653 2.038.822 6.371.475<br />
32,0<br />
2009<br />
4.237.921 2.027.002 6.264.923<br />
32,4<br />
2010<br />
4.185.203 2.008.049 6.193.252<br />
32,4<br />
2011<br />
4.154.524 2.001.375 6.155.899<br />
32,5<br />
2012<br />
4.142.145 2.009.039 6.151.184<br />
32,7<br />
Quelle: DGB-Bundesvorstand
222 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
Spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends ist eine neue Entwicklung zu<br />
beobachten, die bisher noch auf einem vergleichsweise geringen Niveau stattfindet<br />
und deshalb oft wenig wahrgenommen wird. Die bisher tonangebenden Industriegewerkschaften<br />
prägen nicht mehr so deutlich das Konfliktgeschehen.<br />
Der Arbeitskampfforscher Heiner Dribbusch weist darauf hin, dass allein zwischen<br />
den Jahren 2006 und 2008 das Arbeitskampfvolumen im Dienstleistungssektor<br />
unübersehbar zugenommen hat und neun Zehntel aller Streiktage auf den<br />
Dienstleistungssektor entfallen. 85 Im Jahr 2009 beteiligten sich nach gewerkschaftlichen<br />
Angaben bundesweit fast 150.000 Beschäftigte des Sozial- und Erziehungsdienstes<br />
in einer mehrwöchigen Tarifauseinandersetzung um die Aufwertung<br />
der Erziehungsberufe an Streikaktivitäten. Im Oktober 2009 kam es<br />
zum ersten bundesweitem Streik der Gebäudereinigerinnen und -reiniger.<br />
Infolge dieser Entwicklung haben sich die Streikenden verändert:<br />
Frauen wurden in der Bundesrepublik als Streikende lange Zeit kaum wahrgenommen.<br />
Die in den 50er Jahren streikenden Textilarbeiterinnen oder die Migrantinnen<br />
von Pierburg-Neuss sind heute fast vergessen. Als Archetyp des Streikenden galt bis<br />
in die 90er Jahre der männliche Arbeiter aus der Druck- und Metallindustrie. Sein<br />
Pendant im öffentlichen Dienst war der Müllwerker und der kommunale Busfahrer.<br />
Dieses Bild ist in jüngster Zeit in mehrfacher Hinsicht in Bewegung geraten. Im Einzelhandel,<br />
im Pflegebereich oder bei den angestellten LehrerInnen bilden Frauen<br />
den größten Teil und harten Kern der Streikenden. 86<br />
Hier tut sich etwas, das Grund zum Optimismus gibt und geradezu herausfordert,<br />
die positiven Ansätze stärker zu betrachten und nach Möglichkeiten zur<br />
Verallgemeinerung zu suchen, um einen Kurswechsel in der Gewerkschaftspolitik<br />
einzuläuten. Und das ist dringend notwendig. Denn die Tendenz fallender<br />
Mitgliederzahlen gepaart mit der steigenden Erwerbstätigkeit der Frauen hat insgesamt<br />
zu einem drastischen Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades<br />
geführt. 1992 waren in Westdeutschland noch 18,5 Prozent der lohnabhängig<br />
beschäftigten Frauen gewerkschaftlich organisiert, 2010 nur noch 13,1 Prozent.<br />
85<br />
Dribbusch, Heiner: Streik-Bewegungen, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 2009/Vol.<br />
22, H. 4, S. 59.<br />
Diese Entwicklung ist nicht ohne die ökonomischen Veränderungen der vergangen Jahrzehnte<br />
zu verstehen. Mit der Expansion des Dienstleistungssektors haben sich viele Berufe gerade im<br />
Sozial- und Pflegebereich professionalisiert, werden nicht mehr ehrenamtlich oder karitativ ausgeübt.<br />
Hinzukommen Konzentrationstendenzen, die die Beschäftigungsstruktur beeinflussen. So<br />
sind im Handel seit den 1970er Jahren große Ketten mit tausenden oder zehntausenden Beschäftigten<br />
entstanden. Viele Angestelltenberufe verlieren seit langer Zeit ihren vor noch hundert Jahren<br />
gegenüber den Arbeitern privilegierten Status und nähern sich diesen bei den Arbeitsbedingungen<br />
an. Diese Rahmenbedingungen, die Werdung von bestimmten Berufsgruppen, haben<br />
den Nährboden für eine gewerkschaftliche Organisierung gelegt.<br />
86<br />
Ebenda.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 223<br />
In Ostdeutschland ist der Rückgang noch dramatischer, von 43,5 Prozent auf<br />
16,8 Prozent. Auch bei den Männern ist der Organisationsgrad gefallen, wenngleich<br />
nicht ganz so drastisch (West: 36,0% auf 20,7%, Ost: 35,8% auf 18,6%).<br />
(Abbildung 1) 87<br />
Diese Entwicklung ist für die Gewerkschaften besorgniserregend. Denn sie<br />
werden keine Zukunft haben, wenn sie nicht den wachsenden weiblichen Teil der<br />
Arbeiterklasse erreichen und dieses Potential nutzen. Im Folgenden wird auf die<br />
aktuellen Erfahrungen eingegangen.<br />
3. Sind Frauen gewerkschaftlich schwerer zu organisieren?<br />
Wie gezeigt, ist die Debatte um die Probleme bei der gewerkschaftlichen Organisierung<br />
der Frauen so alt wie die Gewerkschaftsbewegung selbst. Dass Frauen<br />
nicht per se gewerkschaftsfern sind, ist heute unbestritten. Warum es dennoch weniger<br />
gelingt sie zu organisieren, dazu gibt es verschiedene Erklärungen. In einem<br />
sehr lesenswerten von der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung vor<br />
zehn Jahren veröffentlichten Arbeitspapier »Zukunft der Gewerkschaften« heißt<br />
es, frühere Vermutungen einer »im Geschlecht begründete[n] unterschiedliche[n]<br />
Organisationsbereitschaft« seien widerlegt.<br />
Vielmehr lassen sich die Differenzen durch die spezifische Ausprägung der Frauenerwerbstätigkeit<br />
erklären: Es sind vielmehr Teilzeitarbeit, Beschäftigtenstatus, Betriebsgröße,<br />
Verdienst, Bildung, in diesem Fall auch die Nationalität und vor allem<br />
die Branchen- bzw. Sektorzugehörigkeit, also vor allem Arbeitsplatzfaktoren, die den<br />
unterschiedlichen Organisationsgrad der Geschlechter erklären. 88<br />
In der Tat arbeiten Frauen überdurchschnittlich oft Teilzeit, in kleineren und<br />
mittleren Betrieben und unsicheren Jobs. Das erklärt einen Teil der Unterschiede.<br />
Nimmt man allein den Faktor der Arbeitszeit sind nach aktuellsten Erhebungen<br />
(2010) 19,1 Prozent der Vollzeitbeschäftigten, aber nur 10,4 Prozent der Teilzeitbeschäftigten<br />
gewerkschaftlich organisiert. Etwa die Hälfte aller Frauen arbeitet<br />
Teilzeit, bei den Männern ist es nur jeder Elfte. Gleiches gilt für die Unterscheidung<br />
von Arbeitern und Angestellten, in denen Frauen unter- bzw. überrepräsen-<br />
87<br />
Zahlen zusammengestellt aus Schnabel 2010 und dem IdW-Gewerkschaftsspiegel 3/2011. Der<br />
übermäßig starke Rückgang im Osten erklärt sich zum Teil aus dem besonderen Umstand, dass<br />
einige DGB-Gewerkschaften nach der Wende in den neuen Bundesländern die Mitgliederbestände<br />
der alten Staatsgewerkschaft FDGB übernahmen und hier in den Folgejahren ein deutlicher<br />
Aderlass stattfand.<br />
88<br />
Hans-Böckler-Stiftung: Zukunft der Gewerkschaften – Zwei Literaturstudien (Autoren: Frerichs,<br />
Petra/Pohl, Wolfgang/Fichter, Michael/Gerster, Jochen/Zeuner, Bodo) 2., unveränderte Auflage.<br />
Reihe: Arbeitspapier, Nr. 44. Düsseldorf 2004, S.11.
224 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
tiert sind und deren Organisationsgrade bei 19,3 und 13,7 Prozent liegen. 89 Auch<br />
für die Betriebsgrößen lassen sich sicherlich ähnliche Zahlen finden.<br />
Dennoch ist diese Erklärung aus verschiedenen Gründen für sich allein unbefriedigend.<br />
Zum einen ist auf absehbare Sicht aufgrund der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung<br />
keine Änderung der besonderen Beschäftigungsmerkmale der Frauen<br />
zu erwarten. Die Gewerkschaften müssen die Herausforderung annehmen,<br />
zumal die Verbreitung von Teilzeitjobs vor allem im Dienstleistungssektor eine<br />
allgemeine Entwicklung ist, von der auch Männer betroffen sind. Die Arbeiterklasse<br />
befindet sich in einem ständigen Wandel und sie wird künftig noch weiblicher,<br />
angestellter und vorerst auch teilzeitbeschäftigter sein.<br />
Abbildung 1: Gewerkschaftlicher Organisationsgrad in Ost und West 1992 und<br />
2010<br />
Daten aus Allbus, der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften, nach: Claus<br />
Schnabel (2010): Organisationsgrade der Tarifparteien und Tarifbindung in Deutschland und im<br />
internationalen Vergleich, Vortrag beim Werkstattgespräch des SOFI zur Sozioökonomischen<br />
Berichterstattung in Göttingen am 25. März 2010 und IdW-Gewerkschaftsspiegel 3/2011<br />
Zum anderen gibt es überzeugende Gegenbeispiele, dass es unter solchen<br />
»widrigen« Umständen auch möglich ist, gewerkschaftlich erfolgreich zu arbeiten.<br />
So hat es in den 1990er Jahren die Gewerkschaft HBV (eine der Vorläufergewerkschaften<br />
von ver.di) durch eine gezielte Aktion geschafft, beim Einzelhandelskonzern<br />
Schlecker einen Tarifvertrag abzuschließen und in den Folgejahren<br />
89<br />
Institut der deutschen Wirtschaft (IdW): Gewerkschaftsspiegel 3/2011 und Böckler-Impuls 3/<strong>2013</strong>.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 225<br />
bedeutende Teile der Beschäftigten zu organisieren und fast flächendeckend Betriebsräte<br />
zu gründen – und das, obwohl bei Schlecker mehrheitlich Frauen arbeiten,<br />
viele in Teilzeit und auf kleine Filialen verteilt. Anscheinend war hier die<br />
gewerkschaftliche Praxis ausschlaggebender als die »spezifischen« Beschäftigungsfaktoren.<br />
Die besondere Lage der Frauen<br />
Es wäre also falsch, die bisher unzureichende Organisierung von Frauen allein<br />
aus diesen »objektiven« besonderen Beschäftigungsfaktoren zu erklären. Denn<br />
wie das HBS-Arbeitspapier selbst feststellt, bleibt – wenn man bestimmte Faktoren<br />
wie Teilzeitarbeit, Beschäftigtengruppe, Betriebsgröße, Branche, Verdienst,<br />
Bildung oder Nationalität heraus rechnet – eine »geschlechtsspezifische Organisationslücke«<br />
von 5 Prozent. 90 Es gibt eine besondere Situation der arbeitenden<br />
Frauen. Durch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und das Fortbestehen<br />
der Kleinfamilie trägt die Frau den überwiegenden Teil der Reproduktionsarbeit.<br />
Es gibt zwar nicht »die« erwerbstätige Frau. Unter den weiblichen Beschäftigten<br />
finden sich vollzeitbeschäftigte alleinstehende Frauen ebenso wie die minijobbende<br />
Mütter. Allgemein sind jedoch Frauen aus den oben genannten Gründen<br />
übermäßig stark zur Teilzeitarbeit, beruflichen Unterbrechungen und Auszeiten<br />
gezwungen und in einem besonderem Maße belastet.<br />
Das erschwert es vielen arbeitenden Frauen, sich zu organisieren, und bindet<br />
ihre Energie und Aufmerksamkeit an Familie. Diese besondere Problematik war<br />
schon den Vorkämpfern der proletarischen Frauenbewegung bewusst. Clara Zetkin<br />
wies bereits Ende des 19. Jahrhunderts darauf hin:<br />
Die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiterinnen ist äußert erschwert. […] dadurch,<br />
daß viele Frauen in der Hausindustrie tätig und deshalb schwer heran zu ziehen.<br />
Dann haben wir noch mit dem Problem zu kämpfen, daß die industrielle Tätigkeit<br />
für sie vorübergehend ist und mit der Ehe aufhört. Vielen Frauen erwächst die<br />
doppelte Pflicht, sie müssen in der Fabrik und in der Familie tätig sein. 91<br />
Im Vergleich zu vor hundert Jahren hat sich eine Menge verändert: Frauen arbeiten<br />
kaum noch gewerblich zu Hause, aber dafür viel Teilzeit. Die Mehrheit der<br />
Frauen arbeitet inzwischen, auch wenn sie Kinder haben und in Partnerschaft leben,<br />
und auch die Arbeitsverteilung in der Familie ist nicht mehr ganz so ungleich.<br />
Dennoch bleibt die Grunddiagnose aktuell: Die einseitige Belastung der<br />
Frau mit der Familien- und Kinderarbeit, die oft mit einer eingeschränkten und<br />
unterbrochenen Berufstätigkeit verbunden ist, bindet nicht nur ihre Ressourcen<br />
sondern prägt auch Bewusstsein. Engagieren sich Frauen ehrenamtlich, ist dies<br />
90<br />
Hans-Böckler-Stiftung, Zukunft der Gewerkschaften, S. 90.<br />
91<br />
Rede Clara Zetkins auf dem Parteitag der SPD 1896, abgedruckt in: Bauer, Clara Zetkin, S. 213f.
226 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
eher im sozialen, familiären Bereich der Fall, Männer tun dies eher im gesellschaftlichen<br />
und beruflichen Teil. 92<br />
Gewerkschaftliche Herausforderungen<br />
Wie ist mit diesem Problem umzugehen? In die Reihen der Gewerkschaften gibt<br />
es zum Teil immer noch die Auffassung, dass Frauen aus all diesen Gründen<br />
zwangsläufig politisch weniger bewusst und gewerkschaftlich ansprechbar sind.<br />
Die gleiche Argumentation ließe sich aber ebenso gegenüber anderen Gruppen<br />
der Arbeiterklasse anwenden, die aus verschiedensten Gründen eine schwächere<br />
gewerkschaftliche Tradition aufweisen wie etwa die Angestellten, Ungelernten,<br />
Migranten und jungen Menschen. Würde sich eine solche Sichtweise auf Dauer<br />
durchsetzten, bliebe, überspitzt gesagt, nur noch der ältere männliche, weiße<br />
Facharbeiter zu organisieren – ohne Zweifel ein wichtiger Teil der heutigen modernen<br />
Arbeiterklasse, aber eben nicht die gesamte Arbeiterklasse.<br />
Gegen eine solche rückwärtsgewandte Ansicht, wandte sich schon Clara Zetkin.<br />
Um eine stärkere gewerkschaftliche Tradition unter Frauen aufzubauen, forderte<br />
sie besondere Anstrengungen und eine »Frauenagitation« ein. Bereits damals<br />
gaben ihr einzelne Erfolge Recht. Und auch heutige Erfahrungen zeigen<br />
potenzielle Möglichkeiten und zugleich Defizite gewerkschaftlicher Praxis. So<br />
stellt das HBS-Arbeitspapier fest:<br />
Eine Untersuchung unter »einfachen« weiblichen Gewerkschaftsmitgliedern fördert<br />
zutage, dass diese Frauen aus dem gewerblichen wie dem Angestelltenbereich zum<br />
Teil mit »großer Selbstverständlichkeit« Gewerkschaftsmitglied sind. Sie sehen in den<br />
Gewerkschaften eine notwendige Einrichtung der Interessenvertretung der Beschäftigten,<br />
zu der sie sich loyal verhalten. Zwar existieren unter den Befragten kaum<br />
Kenntnisse über die gewerkschaftliche Organisationsstruktur und erst recht nicht<br />
über die sogenannte Beschlusslage, gleichwohl aber werden bei aller Loyalität auch<br />
kritische Beurteilungen vorgenommen, insbesondere bei Interessenthemen, die ihre<br />
eigenen Erfahrungen und Interessen berühren. So wird »heftig kritisiert«, dass die<br />
Kinderbetreuung »kein Thema« für Gewerkschaften ist, wie auch insgesamt die<br />
Ignorierung von »Fraueninteressen« rund um die Vereinbarkeitsproblematik von Beruf<br />
und Familie moniert wird. 93<br />
Für die Gewerkschaften muss dies bedeuten, sich stärker auf die Bedürfnisse<br />
und besonderen Probleme der arbeitenden Frauen auszurichten.<br />
Zunächst inhaltlich: Es ist wohl bezeichnend, dass die Gewerkschaften in den<br />
vergangen Jahren Kampagnen gegen die prekäre Beschäftigung der Leiharbeit<br />
führen, von der mehrheitlich Männer betroffen sind, aber gegen die viel zahlreicheren<br />
Minijobs, von denen mehrheitlich Frauen betroffen sind, ähnliches aus-<br />
92<br />
Hans-Böckler-Stiftung, Zukunft der Gewerkschaften, S. 91.<br />
93<br />
Hans-Böckler-Stiftung, Zukunft der Gewerkschaften, S. 67.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 227<br />
bleibt. Gleiches gilt für den Abschluss von Tarifverträgen, bei denen die besonderen<br />
Belange der Frauen oft hinten runter fallen. Und: In nur 12 Prozent aller<br />
Betriebe ab 20 Beschäftigten mit Betriebsrat gab es nach der WSI-Betriebsrätebefragung<br />
2008 eine betriebliche Vereinbarung zur Gleichstellung der Geschlechter.<br />
94<br />
Dieses »inhaltliche« Defizit ist eng mit der Arbeitsweise der Gewerkschaften<br />
verbunden. Es ist ein größeres Problem, dass Frauen in den aktiven gewerkschaftlichen<br />
Gremien oft unterrepräsentiert sind. Eine Befragung unter Ehrenamtlichen<br />
ergab: »Das geringe Interesse der Frauen liegt vor allem an der zeitlichen<br />
Zusatzbelastung, die die Tätigkeit als Betriebsrätin bzw. Gewerkschaftsfunktionärin<br />
erfordert und die mit Familienpflichten schwer vereinbar ist. Einige<br />
Expertinnen berichten, dass es deshalb bei in der Gewerkschaft aktiven Frauen<br />
eine Alterslücke während der Familienphase gibt.« 95 Ähnliches dokumentiert eine<br />
unveröffentlichte Untersuchung zur Vereinbarkeit von Privat- und Arbeitsleben<br />
in der Gewerkschaftsarbeit bei ver.di und der Gewerkschaft der Polizei. Danach<br />
sagen ehrenamtlich tätige Gewerkschafterinnen, »dass sie in ihrem Engagement<br />
nicht gehindert werden, – allerdings auch keine ›besondere‹ Unterstützung bekommen.<br />
Sie müssten ›selber gucken, wie ich alles auf die Reihe kriege.‹ Mehrere<br />
Interviewpartnerinnen gaben an, dass sie keine Kinder hätten, ›mit Kindern ginge<br />
das bei mir gar nicht‹.« 96<br />
Positive Erfahrung: Schlüsselfrage Selbstaktivität<br />
Wenn es den Gewerkschaften nicht gelingt, in ihrer ganz konkreten gewerkschaftlichen<br />
Praxis die spezifischen Problemlagen der arbeitenden Frauen aufnehmen,<br />
wird es schwer, Frauen zu erreichen und ihr Potential zu nutzen. Das<br />
dies aber möglich ist, zeigen internationale Erfahrungen. Beispielsweise haben<br />
sich in den 1990er Jahren die britischen Gewerkschaften »für die Einbeziehung<br />
von Fraueninteressen strategisch« geöffnet, wobei sie aber keine engere Frauenpolitik<br />
verfolgten, sondern den Schwerpunkt auf die prekäre und atypische Beschäftigung<br />
legten. 97 2002/2003 lag der Organisationsgrad der Frauen mit 26<br />
Prozent über dem der Männer mit 24 Prozent. 98 Es ging hier weniger um geson-<br />
94<br />
Maschke, Manuela: Instrumente und Akteure betrieblicher Gleichstellungsförderung, in: Hans-<br />
Böckler-Stiftung: Geschlechterungleichheiten im Betrieb. Arbeit, Entlohnung und Gleichstellung<br />
in der Privatwirtschaft, Berlin 2010, S. 500.<br />
95<br />
Blaschke, Sabine: Frauen in Gewerkschaften, München 2008, S. 248.<br />
96<br />
Müller, Margaretha: Forschungsprojekt für eine verbesserte Work-Life-Balance von ehrenamtlich<br />
Aktiven für die ver.di/GdP , Berlin 2010.<br />
97<br />
Hans-Böckler-Stiftung, Zukunft der Gewerkschaften, S. 146f.<br />
98<br />
Ebbinghaus, Bernhard/Göbel, Claudia/Koos, Sebastian: Mitgliedschaft in Gewerkschaften Inklusions-<br />
und Exklusionstendenzen in der Organisation von Arbeitnehmerinteressen in Europa,<br />
Mannheim 2008, S. 16.
228 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
derte »Fraueninteressen« als um allgemeine Probleme eines größeren Teils der<br />
abhängig Beschäftigten, von denen insbesondere Frauen betroffen sind.<br />
Ein Vorreiterbeispiel für eine erfolgreiche Organisierung von Frauen unter<br />
schwierigen Bedingungen bleibt die Schlecker-Kampagne. Es war die bewusste<br />
strategische Entscheidung der Gewerkschaft HBV (die später mit in ver.di aufging)<br />
in den 1990er Jahren gezielt Initiativen aus der Schlecker-Belegschaft, Betriebsräte<br />
zu gründen, über einen längeren Zeitraum intensiv zu unterstützen.<br />
Mit den ersten erfolgreichen Betriebsratsgründungen wurde in diesem Unternehmen<br />
mit vielen Kleinstfilialen und vorrangig weiblichen Teilzeitkräften die Gewerkschaft<br />
aufgebaut. Gesammelte Erfahrungen wurden verallgemeinert, die neu<br />
gebildeten Betriebsräte besuchten regelmäßig Verkäuferinnen in Filialen ohne<br />
Betriebsrat, bauten ein Vertrauensverhältnis auf und ermutigten sie, eigene Betriebsräte<br />
zu gründen. Über einen Prozess von mehreren(!) Jahren, wurden so in<br />
vielen Bundesländern gegen den massiven Widerstand des Managements flächendeckend<br />
Betriebsräte und zusammen damit die Gewerkschaft aufgebaut, mit<br />
einem für den Einzelhandel ungewöhnlich hohen Organisationsgrad. 99 Auch<br />
wenn es das Unternehmen nicht mehr gibt: Die gewerkschaftlichen Erfahrungen,<br />
die tausende Verkäuferinnen hier sammelten, werden weiterleben.<br />
Schlüsselwörter für die gewerkschaftliche Zukunft sollten »moderne Solidarität«<br />
und »Partizipation« lauten. Gemeint ist damit anzuerkennen, dass bei grundlegend<br />
gleichen Interessen bei verschiedenen Beschäftigtengruppe die Probleme<br />
sich konkret unterschiedlich ausdrücken. Dies muss von den Gewerkschaften aktiv<br />
aufgenommen werden, was nur mit einer stärkeren Partizipation der Mitglieder<br />
gelingen kann. 100<br />
Wie das gehen kann, zeigt der Erzieherinnen-Streik von 2009 in Baden-Württemberg.<br />
Die große Stärke bzw. der Fortschritt war die aktive Einbeziehung der<br />
mehrheitlich weiblichen Beschäftigten in Streikvorbereitung, -planung und<br />
-durchführung. Ein zentrales Moment waren hier die Streikversammlungen. Auf<br />
diesen wurde nicht nur Kollektivität hergestellt. Damit verbunden war der Austausch<br />
über Erfolge und Probleme im Arbeitskampf. Erst das ermöglichte es,<br />
auf die besondere Situation einzelner Berufsgruppen einzugehen. In den Sozialberufen,<br />
in denen mehrheitlich Frauen arbeiten, gibt es durch die Arbeit mit<br />
Menschen eine Hürde bzw. ein besonderes Problem im Arbeitskampf. Die<br />
Streikversammlungen ermöglichten es der Gruppe der Erzieher, einen Weg zu<br />
finden, »den Stress für die Kolleginnen und Kollegen zu mindern, die, je länger<br />
der Streik dauerte, mit dem zunehmenden Unmut der Eltern konfrontiert<br />
99<br />
Vgl. Bormann; Sarah: Unternehmenshandeln gegen Betriebsratsgründungen – Der Fall Schlecker,<br />
in: WSI-Mitteilungen 1/2008.<br />
100<br />
Hans-Böckler-Stiftung, Zukunft der Gewerkschaften, S. 148f.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 229<br />
waren«. 101 Aus diesen Treffen und durch bewusste Initiativen von ver.di entwickelte<br />
man eine flexible Streikstrategie und schaffte es, eine überwältigende Solidarität<br />
der Eltern herzustellen. 102<br />
Im Kampf der Erzieherinnen spielt auch die Anerkennung und Aufwertung<br />
ihrer Arbeit eine wichtige Rolle. So war auf einem Transparent zu lesen: »Kinder<br />
sind uns viel wert! Wie viel sind wir euch wert?« 103 Dieses Element, die starke<br />
Identifikation mit der Arbeit, ist für viele Sozial- und Dienstleistungsberufe prägend.<br />
Die derzeitige ideelle und materielle Geringschätzung aufzugreifen, ist für<br />
die Gewerkschaften zentral, will sie die Interessen der dort mehrheitlich weiblich<br />
Beschäftigten tatsächlich artikulieren und sie für die gemeinsame Arbeit gewinnen.<br />
Die alte gewerkschaftliche Erkenntnis, bewusst kollektive Erfahrungen zu organisieren,<br />
erhält vor dem Hintergrund einer oftmals kleinbetrieblichen oder filialisierten<br />
Arbeitsstätte von Frauen eine besondere Bedeutung. So wurde im<br />
Einzelhandelsstreik 2008/09 in Baden-Württemberg »häufig die verblüffende Erfahrung<br />
gemacht, dass die Entwicklung solcher Aktionsformen unterhalb der<br />
Streikschwelle und ihr gezielter Einsatz in der Tarifauseinandersetzung insgesamt<br />
schwieriger und mühsamer erscheint, als die Mobilisierung für den entschlossenen<br />
Streik.« Belegschaften, die entschlossen mehrere Wochen lang streikten, hielten<br />
zuvor eine landesweit verabredete Button-Aktion gegen den Druck von Führungskräften<br />
und Geschäftsführern nur wenige Tage lang durch. Es wird festgestellt:<br />
»Offenkundig fallen den Einzelhandelsbeschäftigten Aktionsformen, die<br />
ein individuelles Bekennen oder gar Handeln erfordern, schwerer als die Beteiligung<br />
an kollektiven Aktionen, bei denen sie der persönlichen Beeinflussung<br />
durch Vorgesetzte entzogen sind.« 104<br />
Nicht selten ist die Entscheidung von Frauen, sich zu organisieren, intensiver<br />
und mit mehr Hürden verbunden, dafür aber umso bewusster. So zeigte etwa der<br />
Erzieherinnen-Streik, dass es bei der Gruppe der Alleinerziehenden ganz besondere<br />
konkrete Probleme gibt, etwa mögliche Finanzierungslücken zwischen dem<br />
Entgeltausfall durch die Arbeitsniederlegung und der Zahlung des Streikgeldes.<br />
Aber das ist eine dialektische Beziehung. Denn wird mit den Frauen diskutiert,<br />
ernsthaft auf die von ihnen geschilderten Hürden eingegangen und sie infolge<br />
101<br />
Schmalstieg, Catharina: Partizipative Arbeitskämpfe, neue Streikformen, höhere Streikfähigkeit?<br />
Eine Untersuchung der Gewerkschaftsarbeit des ver.di-Bezirks Stuttgart am Beispiel von Arbeitskämpfen<br />
im öffentlichen Dienst, Berlin <strong>2013</strong>, S. 23.<br />
102<br />
Kutlu, Yalcin: Partizipative Streikführung: Der ErzieherInnenstreik, in: Stefan Schmidt, Klaus<br />
Dörre (Hg.): Comeback der Gewerkschaften? Machtressourcen, innovative Praktiken, internationale<br />
Perspektiven, Frankfurt/M. <strong>2013</strong>.<br />
103<br />
ver.di Stuttgart: Streik im Sozial- und Erziehungsdienst 2009 (Präsentation).<br />
104<br />
ver.di Baden-Württemberg: Neue Streikbewegung im Handel – Dokumentation zur Tarifrunde<br />
2007/2008, Stuttgart 2009, S. 28.
230 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
dessen für den Kampf gewonnen, führt dieser Bewusstseinsprozess oft zu einem<br />
viel überzeugenderem Einsatz. 105<br />
Es gibt also nicht »den« Generalschlüssel, »das« Thema für die Organisierung<br />
von Frauen. Wenn, dann besteht die Aufgabe darin, ihre besondere Situation anzuerkennen<br />
und besonders intensiv auf ihre konkreten Fragen, Bedürfnisse und<br />
Interessen einzugehen. Bestimmen Frauen das Geschehen, können sie am besten<br />
artikulieren, was für sie wichtig ist und ihre eigenen Fähigkeiten entwickeln. Auch<br />
das ist eine Erkenntnis der alten Arbeiterbewegung. Paule Thiede, Buchdruckerin,<br />
Vorkämpferin der Gewerkschaftsbewegung und Namensträgerin der Straße,<br />
in der sich die ver.di-Bundeszentrale in Berlin befindet, wies darauf schon Beginn<br />
20. Jahrhundert hin:<br />
… in den Werkstattversammlungen, wo wir Gelegenheit haben, enger miteinander in<br />
Verbindung zu treten, da legen auch die Arbeiterinnen jede Scheu ab, da wissen sie<br />
genau die Mängel anzuführen, unter denen sie leiden, und Abhülfevorschläge zu machen;<br />
da haben wir manche gefunden, die jeden Vergleich mit jetzt vorhandenen Gewerkschaftsbeamten<br />
aushält und deren Pflichten ohne weiteres übernehmen könnte.<br />
106<br />
Bestimmen Frauen das Geschehen, können sie am besten selbst artikulieren, was<br />
für sie wichtig ist. So ist es kein Zufall, dass bei dem erstreiktem Tarifvertrag des<br />
Sparkassen-Callcenter in Halle (neben den Entgelten) die Einrichtung einer Mutti-<br />
bzw. Elternschicht außerhalb der abendlichen Arbeitszeiten eine wichtige Rolle<br />
spielte. Unter den Beschäftigten gibt es viele Frauen, die bei der Streikauseinandersetzung<br />
mit an vorderster Front standen.<br />
Fazit<br />
Entscheidend für gewerkschaftlichen Fortschritt bleibt der Kampf und die gemeinsame<br />
Aktivität. Jede Möglichkeit, gemeinsam aktiv zu werden, kollektive Erfahrung<br />
zu sammeln, muss genutzt werden. Die gemeinsame Aktivität ist nicht<br />
nur notwendig, um die soziale Lage zu ändern, sondern sie ist auch der Schlüssel,<br />
Vorurteile und rückwärtsgewandte Ideen – bei Frauen und Männern – in Frage<br />
zu stellen und zu überwinden.<br />
Auch hier können wir aus der Geschichte lernen. Beispielhaft dafür ist die<br />
Massenstreikdebatte in SPD und Gewerkschaften zu Beginn des 20. Jahrhundert.<br />
Die selben Gewerkschaftsführer, die wenig Möglichkeiten sahen, Frauen zu organisieren,<br />
warnten vor der Propagierung des Massenstreiks, unter anderem weil sie<br />
– wie Clara Zetkin 1905 beklagte – »das Einströmen großer zum Teil noch rück-<br />
105<br />
Gespräch mit einer Vertrauensfrau der Stuttgarter Erzieherinnen auf dem Kongress »Erneuerung<br />
durch Streik« in Stuttgart Anfang März <strong>2013</strong>.<br />
106<br />
Losseff-Tillmanns, Frauenemanzipation und Gewerkschaften, S. 323.
Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse 231<br />
ständiger Massen in die Gewerkschaft« befürchteten. 107 Clara Zetkin und Rosa<br />
Luxemburg sahen darin genau das Gegenteil, nämlich die Chance, dass damit<br />
bisher unorganisierte Teile der Arbeiterklasse aktiv werden, Erfahrungen im<br />
Klassenkampf sammeln und politische Debatte und Aufklärung befördert werden.<br />
Die beste Gewähr für eine stärkere Organisierung der Frauen ist eine kämpferische<br />
und aktivistische Gewerkschaftspolitik!<br />
Abschließend lässt sich die Haltung von Sozialisten zur Frage der Frauen und<br />
Gewerkschaften vielleicht am besten mit den Worten von Clara Zetkin auf den<br />
Punkt bringen. Sie schrieb zur Gründung der ersten gemeinsamen Gewerkschaft<br />
von Frauen und Männern im Jahr 1869:<br />
Aus der Erkenntnis, daß die Proletarierin der kapitalistischen Ordnung schutzbedürftig<br />
und kampffähig zugleich gegenübersteht, wurde das Streben geboren, die Frauen<br />
als gleichberechtigte und gleichverpflichtete Mitglieder der Internationalen Gewerksgenossenschaft<br />
für ganz Deutschland einzugliedern. 108<br />
»Schutzbedürftig«, weil die Unterdrückung und besondere Lage der Frau in der<br />
Arbeitswelt besondere Maßnahmen und Anstrengungen erfordern. »Kampffähig«,<br />
weil der weibliche Teil ebenso für seine Interessen kämpfen kann und sein<br />
Potenzial für den erfolgreichen Kampf der gesamten Klasse nötig ist.<br />
Diese Perspektive erfordert Geduld und Beharrlichkeit, gibt aber zugleich Zuversicht:<br />
Die Frauenagitation ist schwer, ist mühsam, erfordert große Hingabe und große Opfer,<br />
aber diese Opfer werden belohnt werden und müssen gebracht werden. Denn<br />
wie das Proletariat seien Befreiung nur erlangen kann, wenn es zusammen kämpft<br />
ohne Unterschied der Nationalität, ohne Unterschied des Berufs, so kann es seine<br />
Befreiung auch nur erlangen, wenn es zusammensteht ohne Unterschied des Geschlechts.<br />
109<br />
Diese Worte stammen aus einer Rede von Clara Zetkin auf dem Parteitag der<br />
Sozialdemokratischen Partei 1896 in Gotha. Der Parteitag beschloss damals, ihre<br />
Rede als Broschüre zu drucken. Heute für die SPD undenkbar, für uns aber ein<br />
aufzubewahrendes Erbe, das es aktiv zu nutzen gilt!<br />
Die Streiks der Erzieherinnen, Verkäuferinnen, Reinigungsfrauen und Krankenschwestern<br />
heute sind ermutigende Beispiele. Sie zeigen ein enormes Potenzial<br />
auf sowohl der Selbstbefähigung als auch möglichen Veränderung und Bereicherung<br />
der Arbeiterbewegung. Es deutet einiges daraufhin, dass in vielen<br />
Dienstleistungsberufen mit meist mehrheitlich weiblich Beschäftigten sich derzeit<br />
historisch ein Fenster öffnet für ein neues Selbst- und Klassenbewusstsein.<br />
107<br />
Vgl. Bauer, Clara Zetkin, S. 71.<br />
108<br />
Zetkin, Zur Geschichte der proletarischen Frauenbewegung, S. 128.<br />
109<br />
Bauer, Clara Zetkin, S. 218.
232 Das Potenzial der weiblichen Arbeiterklasse<br />
Aber es gibt hier keinen Automatismus. Der Blick in die Geschichte zeigt, es<br />
war immer entscheidend, wie stark die radikale Linke sich in diesen Prozess einbrachte.<br />
Die Stärke des revolutionären Flügels in der frühen Arbeiterbewegung<br />
war entscheidend dafür, die Trennung von Männern und Frauen im gewerkschaftlichen<br />
Kampf zu überwinden. Das Scheitern der revolutionären Linken<br />
1918 war entscheidend dafür, die Frauen wieder aus dem Erwerbsleben zurückzudrängen<br />
und große Schritte zur Gleichberechtigung zu unterlassen. Die Neuformierung<br />
der radikalen Linken nach 1968 stellte innerhalb der Gewerkschaften<br />
die »Frauenfrage« nachhaltig auf die Tagesordnung, ihr späterer Niedergang begünstigte<br />
eine Stagnation in diesem Bereich.<br />
Der Linken allgemein wie auch der Partei DIE LINKE kommt hier eine besondere<br />
Verantwortung zu. Letztere muss dafür ihre starke, rein parlamentarische<br />
Orientierung überdenken und die soziale Lage der breiten Masse der arbeitenden<br />
Frauen ins Zentrum ihrer praktischen Tätigkeit stellen. Erstere müssen einen<br />
stärkeren Schritt in das gewerkschaftliche Spektrum wagen. Jede Möglichkeit, jeder<br />
noch so klein erscheinende Kampf kann dafür genutzt werden.<br />
Es ist kein Zufall, dass heute die erfolgreichen Streiks mehrheitlich weiblicher<br />
Beschäftigter tendenziell einen Bruch mit dem sozialpartnerschaftlichen Kurs der<br />
Gewerkschaften bedeuteten, der in vielen Fällen von den Unternehmen schon<br />
einseitig aufgekündigt wurde. Ob dies stärker verallgemeinert und nachhaltig<br />
wird, hängt entscheidend davon ab, wie stark die neue Linke sich hier einbringt<br />
und es gelingt, innerhalb der Gewerkschaften die besonderen Belange und Bedürfnisse<br />
der Frauen mit einer neuen partizipativen Politik zu verbinden.<br />
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Behrens, Christine, Ferschke, Michael, Schierbach, Katrin: Marxismus und Frauenbefreiung,<br />
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Bölke, Gundula: Die Wandlung der Frauenemanzipationsbewegung von Marx bis<br />
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Bundesagentur für Arbeit: Frauen und Beruf. Fragen, Antworten, Tipps, Merkblatt<br />
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(05.03.13)<br />
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(01.04.13)
Der Kampf gegen<br />
Arbeitslosigkeit<br />
Jürgen Ehlers<br />
Die Arbeitslosigkeit hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten wie ein Krebsgeschwür<br />
immer tiefer in die Gesellschaft gefressen. Sie schwächt die Gewerkschaftsbewegung,<br />
weil Verhandlungspositionen ausgehöhlt werden und weil<br />
viele abhängig Beschäftigte sich nicht mehr trauen, ihre Rechte wahrzunehmen,<br />
da sie ständig um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen.<br />
Viele Mitglieder haben sich in den letzten Jahren enttäuscht von ihrer Gewerkschaft<br />
abgewendet und damit deren Position noch weiter geschwächt. Einige<br />
Gewerkschaften versuchen darauf mit einer die Mitglieder einbeziehenden,<br />
kampagnenorientierten, offensiveren Tarifpolitik zu reagieren. Eine durchaus<br />
erfolgreiche Strategie, die aber ihre Grenzen dort hat, wo die Angst um den<br />
Verlust des Arbeitsplatzes für den Einzelnen alles andere zu überschatten droht.<br />
Was es gegenwärtig nicht gibt, ist eine gemeinsam diskutierte, mehrheitsfähige<br />
Kampfperspektive, die einen Ausweg aus dieser Falle weist.<br />
Die Forderung nach einer Umverteilung des nachgefragten Arbeitszeitvolumens<br />
auf mehr Menschen durch eine Arbeitszeitverkürzung für alle, ist so eine<br />
Perspektive gewesen, die Ende der 1970er und Mitte der 1980er Jahre unter der<br />
Losung »35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich« sehr viel Kraft freigesetzt<br />
hat. Aber die Bilanz der Kämpfe um die 35-Stunden-Woche war ernüchternd.<br />
Deswegen ist es wichtig, diese Kämpfe nachzuzeichnen und einen Beitrag zu<br />
ihrer Auswertung zu liefern, um Schlussfolgerungen für heute ziehen zu können.<br />
Es wird dringender denn je eine Perspektive benötigt, die über den betrieblichen<br />
Alltagskampf hinausweist und die sektionalen Interessen der Einzelgewerkschaften<br />
überwindet, um gemeinsam die Kraft zu entfalten, die notwendig<br />
ist, um Lösungsansätze durchzusetzen, die helfen können, die Folgen der<br />
Arbeitslosigkeit zu lindern.
238 Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit<br />
Im Dezember haben Heinz-J. Bontrup und Mohssen Massarrat 1 das »Manifest<br />
zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit« herausgegeben, in dem die Forderung<br />
nach Arbeitszeitverkürzung eine zentrale Rolle spielt. Vor fast 40 Jahren haben<br />
Gewerkschaftsmitglieder an der Basis so eine Forderung zum ersten Mal erhoben.<br />
Heute sind es Wissenschaftler, die für diese Idee werben.<br />
So gut das gemeint ist, es reicht nicht aus, gemeinsame Forderungen aufzustellen,<br />
wie es beispielsweise auch bei den Protesten der Gewerkschaften gegen die<br />
Einführung der Rente mit 67 geschehen ist. Was unbedingt mitdiskutiert werden<br />
muss, sind Wege und Mittel, mit denen diese Ziele erreicht werden können. Damit<br />
ist nicht die Diskussion um die Forderung nach einem politischen Streikrecht<br />
gemeint. Denn das ist zunächst auch nur eine Forderung von vielen.<br />
Damit ist vielmehr die Frage gemeint, woher die Kraft kommen kann, um diese<br />
Forderungen durchzusetzen. Der Kampf der Stahlarbeiter 1978/79 und der<br />
IG Metall 1984 um die 35-Stunden-Woche, sowie der bisher größte Arbeitskampf<br />
um den Erhalt von Arbeitsplätzen gegen den Krupp-Konzern in Rheinhausen<br />
1987, können dabei helfen, heute wichtige Hinweise für eine Beantwortung<br />
dieser Frage zu finden.<br />
Ausgangssituation<br />
Während des ersten kurzen Konjunktureinbruchs in Westdeutschland nach Ende<br />
des Zweiten Weltkriegs 1966/67 schnellte die Arbeitslosigkeit kurzfristig auf 2,1<br />
Prozent hoch, nachdem sie zuvor ständig gesunken war und für ein Jahrzehnt sogar<br />
Vollbeschäftigung herrschte. Doch schien mit den, vom damaligen Wirtschaftsminister<br />
der Großen Koalition, Karl Schiller (SPD), initiierten Gesprächen<br />
zwischen Gewerkschaften, Wirtschaftsvertretern und Bundesregierung –<br />
der so genannten konzertierten Aktion – eine Lösung für das schnelle Überwinden<br />
von Krisen im Kapitalismus gefunden zu sein. Diese Gespräche dienten vor<br />
allem dazu, die Gewerkschaften zur Lohnzurückhaltung zu bewegen. Parallel<br />
dazu wurden staatliche Investitionsprogramme aufgelegt. Diese Kombination aus<br />
Lohnkostensenkung und Erhöhung der Nachfrage durch den Staat schien erfolgreich<br />
zu sein, denn bereits 1968 legte das Wirtschaftswachstum wieder um 6,9<br />
Prozent zu.<br />
Die Hoffnungen, damit den Kapitalismus gezähmt zu haben, schwanden mit<br />
der ersten schweren weltweiten Wirtschaftskrise nach Ende des Zweiten Weltkriegs<br />
1974/75. Die Arbeitslosenzahl schwoll 1975 auf über eine Million an. In<br />
den Folgejahren sank sie trotz eines durchschnittlichen Wachstums der Wirtschaft<br />
von 3,4 Prozent nur knapp unter die Millionengrenze, um infolge der<br />
1<br />
Heinz-J. Bontrup, Mohssen Massarrat (Hrsg.), »Arbeitszeitverkürzung jetzt! 30-Stunden-Woche<br />
fordern!«, Bergkamen <strong>2013</strong>.
Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit 239<br />
zweiten schweren Krise 1981/82 auf über 2 Millionen hochzuschnellen und auf<br />
diesem Niveau während der 1980er Jahre zu verharren, obwohl das Wirtschaftswachstum<br />
in diesem Zeitraum bei durchschnittlich knapp 3 Prozent lag.<br />
Über 20 Jahre nach der Wiedervereinigung liegt die Arbeitslosigkeit im Januar<br />
<strong>2013</strong>, nach den Angaben der Bundesanstalt für Arbeit, in ganz Deutschland bei<br />
7,4 Prozent. Laut diesen offiziellen Zahlen 2 waren 3.138.229 Menschen als arbeitssuchend<br />
registriert. Die Kriterien zur Ermittlung der Arbeitslosenzahlen<br />
sind immer wieder verändert worden, um deren Höhe nach unten zu korrigieren.<br />
Zählt man die 773.950 Menschen 3 hinzu, die nicht erfasst werden, weil sie in einer<br />
von der Arbeitsagentur verordneten Maßnahme untergebracht sind oder weil<br />
sie aus Altersgründen nicht mehr in der Statistik geführt werden, dann sind in<br />
Deutschland fast 4 Millionen Menschen arbeitslos. Das entspricht einer Arbeitslosenquote<br />
von gut 9 Prozent. Dabei sind noch nicht die vielen Teilzeitkräfte<br />
mitgezählt, die auf der Suche nach einer Vollzeitarbeit sind, aber nicht als arbeitsuchend<br />
geführt werden.<br />
Mit den Arbeitsmarktreformen der so genannten Agenda 2010 hat die rot-grüne<br />
Bundesregierung die Arbeitslosen massiv unter Druck gesetzt. Diese Politik,<br />
die Arbeitslosen zu zwingen, um jeden Preis ihre Arbeitskraft zu verkaufen und<br />
so den Leiharbeitsfirmen zur Verfügung zu stehen oder sich mit Teilzeit-, mit<br />
Minijobs und als Scheinselbstständige auf dem Arbeitsmarkt anzubieten, gab<br />
den Arbeitgebern die Möglichkeit, Tariflöhne zu unterlaufen und den Einsatz<br />
von Arbeitskräften optimal der schwankenden Nachfrage anzupassen. Dieses<br />
Ziel wurde erreicht.<br />
Von 1991 bis 2010 hat das in Deutschland von allen abhängig Beschäftigten<br />
geleistete Arbeitsvolumen von 51.907 auf 48.326 Millionen Stunden abgenommen.<br />
Das entspricht einer Reduzierung von 6,9 Prozent. Im gleichen Zeitraum<br />
hat sich aber die Zahl der Beschäftigten von 35,1 auf 36 Millionen um 2,8 Prozent<br />
erhöht. Die durchschnittliche Jahresarbeitszeit eines Beschäftigten ist dadurch<br />
in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten um 9,4 Prozent gesunken. 4 Diese<br />
Zahlen spiegeln eine Entwicklung wider, mit der sich der Anteil der atypisch Beschäftigten<br />
in dieser Zeit von unter 20 auf 37,6 Prozent erhöht hat. Vor allem die<br />
Zahl der Teilzeitarbeitenden hat sich von 1991 bis 2010 von 4,7 auf 9,2 Millionen<br />
fast verdoppelt. 5<br />
2<br />
Bundesanstalt für Arbeit, »Der Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Deutschland«, Nürnberg, Januar<br />
<strong>2013</strong>.<br />
3<br />
http://www.die-linke.de/politik/themen/arbeitsmarktundmindestlohn/tatsaechlichearbeitslosigkeit/<br />
4<br />
Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, Kurzbericht 9/2011.<br />
5<br />
B. Keller, S. Schulz, H. Seifert (Hrsg.), »Entwicklung und Strukturmerkmale der atypisch Beschäftigten<br />
in Deutschland bis 2010«, WSI-Diskussionspapier Nr. 182, Oktober 2012.
240 Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit<br />
Mit den vielen neuen, befristeten und unsicheren Arbeitsverhältnissen ist die<br />
ursprüngliche Idee, der Arbeitslosigkeit durch eine Verkürzung der Arbeitszeit<br />
bei vollem Lohnausgleich zu begegnen, um so das tendenziell sinkende Arbeitszeitvolumen<br />
auf mehr Beschäftigte aufzuteilen, völlig auf den Kopf gestellt worden.<br />
Denn was alle diese Beschäftigungsverhältnisse neben dem fast immer niedrigen<br />
Stundenlohn gemeinsam auszeichnet, ist eine Wochen- oder Jahresarbeitszeit,<br />
die deutlich unter der einer Normalarbeitszeit liegt, nach der sich Arbeitslosigkeit<br />
eigentlich bemessen sollte. An die Stelle der Arbeitszeitverkürzung mit<br />
vollem Lohnausgleich ist eine Arbeitszeitverkürzung zu niedrigeren Stundenlöhnen<br />
getreten. Das heißt, die Löhne sinken überproportional im Verhältnis zur<br />
verkürzten Arbeitszeit.<br />
Erklärungsversuche<br />
Vollbeschäftigung ist immer die Ausnahme und nicht die Regel im Kapitalismus<br />
gewesen, weil der ständige Konkurrenzkampf um Marktanteile die Unternehmen<br />
zu einer immer weiteren Steigerung der Produktivität und damit einer Verdichtung<br />
der Arbeitsleistungen treibt und weil Krisen im Kapitalismus unvermeidlich<br />
sind.<br />
Beides führt auf der einen Seite zu Entlassungen, wenn der Absatz nicht oder<br />
nur wenig steigt, während es für die verbleibenden Arbeitskräfte gleichzeitig<br />
einen erhöhten Leistungsdruck bedeutet. Gleichzeitig geht von der steigenden<br />
Zahl der Arbeitslosen, die Karl Marx als industrielle Reservearmee bezeichnet<br />
hat, eine disziplinierende Wirkung aus, ein schon vor 140 Jahren von ihm beschriebenes<br />
Phänomen:<br />
Die Überarbeit des beschäftigten Teils der Arbeiterklasse schwellt die Reihen ihrer<br />
Reserve, während umgekehrt der vermehrte Druck, den die letztere durch ihre Konkurrenz<br />
auf die erste ausübt, diese zur Überarbeit und Unterwerfung unter die Diktate<br />
des Kapitals zwingt. 6<br />
Die Senkung der Lohnkosten durch Entlassungen in Verbindung mit Entlohnung<br />
unter Tarif und Verdichtung des Arbeitsprozesses sind die entscheidenden<br />
Instrumente im Konkurrenzkampf. Angebot und Nachfrage sind im Kapitalismus<br />
nicht synchronisiert, auch wenn immer wieder behauptet wird, dass der<br />
Markt das beste Steuerungsinstrument sei. Dort wird nur der Kampf der Unternehmen<br />
um Marktanteile ausgetragen, der bei geringen Zuwachsraten und steigender<br />
Produktivität zur Verdrängung der schwächeren Konkurrenz führt. In<br />
Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs sinkt die Konkurrenz, und auch Betrie-<br />
6<br />
Karl Marx, »Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie«, Erster Band, Hamburg 1867, Ausgabe:<br />
MEW Bd. 23, Berlin 1962, S. 665.
Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit 241<br />
be mit unterdurchschnittlicher Produktivität können überleben. Die Krisen wiederum<br />
sind die eigentlichen Auslöser eines Verdrängungswettbewerbs.<br />
Die Konkurrenz zwingt jeden einzelnen Kapitalisten tendenziell, den Anteil<br />
der lebendigen Arbeit (bei Marx das »variable« Kapital) zu senken und durch Maschinen<br />
und Anlagen (bei Marx »fixes« Kapital) zu ersetzen. Da aber der Profit<br />
aus der Ausbeutung der Lohnarbeit resultiert, sinkt mit deren Anteil an den Gesamtkosten<br />
tendenziell auch die Profitrate.<br />
Die Ursachen der sinkenden Profitrate können hier nur angedeutet werden.<br />
Marx hat mit seinem »Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitraten« 7 eine Erklärung<br />
für dieses Phänomen geliefert: Da nur die lebendige Arbeit Quelle von<br />
Wert ist, Maschinen und Anlagen im Laufe ihrer Lebenszeit ihren Wert nur auf<br />
die Produkte übertragen (»Abschreibung«) und weil der technische Fortschritt<br />
tendenziell mit einer Verdrängung der lebendigen durch »tote« Arbeit (Maschinen)<br />
einhergeht, wächst die »organische Zusammensetzung« des Kapitals, das<br />
heißt das Wertverhältnis von konstantem zu variablem Kapital (oder: »fixe Kosten«<br />
zu Arbeitskosten).<br />
Dass die Profitraten seit Mitte der 1980er Jahre wieder angestiegen sind, ist die<br />
Folge der erhöhten Ausbeutungsrate durch Lohnabbau, Arbeitszeitverlängerung<br />
und Deregulierungsmaßnahmen der Unternehmer in der Zeit des so genannten<br />
Neoliberalismus. Die relative Erholung der Profitraten in den 1980er und 90er<br />
Jahren nahmen eine Reihe kritischer Ökonomen zum Anlass, zu argumentieren,<br />
dass es gerade »zu hohe« Gewinne im Vergleich zu Löhnen und Massenkonsum<br />
seien, die zur Krise geführt hätten, die so genannte Unterkonsumtionstheorie.<br />
Der von Marx entdeckte tendenzielle Fall der Profitrate, der den Kapitalismus<br />
charakterisiert, ist von großer Bedeutung für die Beurteilung der vorgeschlagenen<br />
Lösungsansätze im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Konjunkturprogramme<br />
können einen kurzfristig wirksamen Beitrag liefern, die Nachfrage zu erhöhen<br />
und dadurch Arbeitsplätze zu sichern oder sogar neue entstehen lassen. Das<br />
jüngste Beispiel dafür war die so genannte Abwrackprämie.<br />
Konjunkturprogramme haben aber keine langfristige Wirkung. Sie können unter<br />
bestimmten Voraussetzungen den Ausbruch von Krisen verzögern oder kurzfristig<br />
lindern, aber nicht stoppen oder umkehren. Die einzige Ausnahme ist der<br />
Zweite Weltkrieg und der anschließende Kalte Krieg, als Umfang und Dauer die<br />
Rüstungsausgaben alle anderen staatlichen Konjunkturprogramme weit übertrafen.<br />
8 Aber auch diese Kriege und Rüstungsprogramme haben den erneuten Ausbruch<br />
von Krisen nicht verhindert sondern nur verzögert.<br />
7<br />
Karl Marx, »Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie«, Dritter Band, Hamburg 1894,<br />
Ausgabe: MEW Bd. 25, Berlin 1979, S. 221 ff.<br />
8<br />
Siehe hierzu auch: John Kenneth Galbraith, »Die moderne Industriegesellschaft«, München<br />
1968.
242 Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit<br />
In Deutschland hat die SPD zwischen 1969 und 1981 mit abnehmendem Erfolg<br />
immer wieder versucht, durch Forderungen nach Lohnzurückhaltung in<br />
Verbindung mit Konjunkturprogrammen Wirtschaftskrisen zu verhindern. Endgültig<br />
scheiterte diese keynesianistische Politik mit der Krise 1981/82, der mit<br />
dem Zunkunftsinvestitionsprogramm (ZIP) ein letzter großer Versuch vorausging,<br />
das Wirtschaftswachstum zu beleben. Dieses Scheitern ist der Grund für<br />
den Sieg der neoliberalen Wirtschaftsideologen, die als Alternative zu staatlichen<br />
Konjunkturprogrammen den Marktradikalimus propagieren.<br />
Gerade deswegen ist es trotzdem richtig, ein Konjunkturprogramm oder die<br />
steuerliche Entlastung der unteren und mittleren Einkommen zu fordern, um die<br />
Nachfrage zu erhöhen, solange damit nicht Aufrüstung und Kriege sondern gesellschaftlich<br />
nützliche Investition, zum Beispiel die staatliche Infrastruktur finanziert<br />
werden. Aber man muss sich der begrenzten Wirkung dieser keynesianistischen<br />
Wirtschaftspolitik bewusst sein.<br />
In der Diskussion um die Ursachen der Arbeitslosigkeit werden in der Regel<br />
aber völlig andere Gründe angeführt. Linke Kritiker sehen im Zurückbleiben der<br />
Löhne hinter den Profiten in den letzten beiden Jahrzehnten den Grund für eine<br />
Unterkonsumtionskrise. Theoretiker der Neoklassiker argumentieren genau umgekehrt:<br />
Ein zu hohes Lohnniveau führt aus ihrer Sicht zu einer Unterakkumulationskrise.<br />
Die Marxsche Krisentheorie geht im Gegensatz zu den beiden genannte<br />
Schulen davon aus, dass nicht die Lohnkosten die Ursachen von Krisen<br />
sind, sondern der relative Anstieg der fixen Kapitalkosten. 9<br />
Die Position der Unternehmer zur Krisenbewältigung ist einfach. Sie beklagen<br />
vor allem die aus ihrer Sicht zu hohen Lohn- und Lohnnebenkosten in Deutschland<br />
und predigen den Verzicht, um das Investitionsklima zu verbessern, damit<br />
in der Folge neue Arbeitsplätze entstehen können. Diese schlichte Argumentation<br />
aus dem Arbeitgeberlager entspricht ihrer Interessenslage, die sich ausschließlich<br />
aus der Sorge um möglichst hohe Profitaussichten speist. Für sie stellt die<br />
Arbeitslosigkeit kein Problem dar, sondern ist im Gegenteil von großem Vorteil,<br />
9<br />
Marx führt das im Zweiten Band des Kapitals so aus: »Dass Waren unverkäuflich sind, heißt<br />
nichts, als dass sich keine zahlungsfähigen Käufer für sie fanden, also Konsumenten […] Will<br />
man aber dieser Tautologie einen Schein tiefrer Begründung dadurch geben, dass man sagt, die<br />
Arbeiterklasse erhalte einen zu geringen Teil ihres eigenen Produkts, und dem Übelstand werde<br />
mithin abgeholfen, sobald sie größern Anteil davon empfängt, ihr Arbeitslohn folglich wächst,<br />
so ist nur zu bemerken, dass die Krisen jedesmal gerade vorbereitet werden durch eine Periode,<br />
worin der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiterklasse realiter größern Anteil an dem für<br />
Konsumtion bestimmten Teil des jährlichen Produkts erhält. Jene Periode müsste – von dem<br />
Gesichtspunkt dieser Ritter vom gesunden und ›einfachen‹ (!) Menschenverstand – umgekehrt<br />
die Krise entfernen.« »Das Kapital - Kritik der politischen Ökonomie«, Zweiter Band, Hamburg<br />
1893. Ausgabe: MEW Bd. 24, Berlin 1963, S. 409.
Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit 243<br />
weil von ihr eine disziplinierende Wirkung auf die Gewerkschaftsbewegung ausgehen<br />
kann.<br />
Der in den letzten Jahrzehnten betriebene Krisenkorporatismus der Gewerkschaften<br />
folgte im Grundsatz der Argumentation des Arbeitgeberlagers. Die<br />
niedrigen Lohnabschlüsse der vergangenen Jahre, Zugeständnisse bei der Flexibilisierung<br />
von Arbeitszeiten, vor allem in Verbindung mit der Anwendung von<br />
Tariföffnungsklauseln, haben dazu beigetragen, der deutschen Exportindustrie<br />
erhebliche Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Der Preis ist hoch, denn gerade<br />
die schwindende Bindung der Entlohnung durch Flächentarifverträge, schwächt<br />
die Gewerkschaften und drückt die Löhne noch weiter.<br />
Die Hoffnung, damit der nächsten Krise zu entkommen und so einen drohenden<br />
Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern, ist nicht zuletzt 2009 auf eine<br />
harte Probe gestellt worden. Diesen Stresstest hat der Krisenkorporatismus<br />
scheinbar mit Bravour bestanden. Vor allem die großzügige Kurzarbeitergeldregelung<br />
und die Abwrackprämie haben 1,4 Millionen Beschäftigte vor der Arbeitslosigkeit<br />
bewahrt. 10 Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut des<br />
DGB kommt in einer Pressemitteilung 11 im Herbst 2010 sogar auf 3,1 Millionen<br />
Arbeitsplätze, die auf diesem Weg gerettet wurden. Das entsprach damals 7,7<br />
Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse.<br />
Dass die Kurzarbeitergeldregelung so schnell an die harten Krisenbedingungen<br />
angepasst werden konnte, ohne den Protest der Arbeitgeber zu provozieren, hat<br />
zwei Gründe. Zum einen gab es die Hoffnung, die sich erfüllt hat, dass die Krise<br />
mit Hilfe der Abwrackprämie und der Exportstärke der Industrie schnell überwunden<br />
werden kann. Zum anderen sind die Lohnstückkosten der deutschen Industrie<br />
zu diesem Zeitpunkt so niedrig gewesen, dass die mit der Kurzarbeitergeldregelung<br />
verbundenen Zusatzkosten für die Unternehmen, angesichts der<br />
Vorteile, damit die eingearbeiteten und bewehrten Stammbelegschaften halten zu<br />
können, in Kauf genommen worden sind. Die Schröderschen Arbeitsmarktreformen<br />
haben erst die Voraussetzungen geschaffen, die großzügige Kurzarbeitergeldregelung<br />
durchzusetzen, weil sie den Unternehmen den Weg geebnet haben,<br />
die Lohnkosten zu senken und damit erhebliche Wettbewerbsvorteile zu erlangen.<br />
Die Argumentation der Gewerkschaften angesichts der Massenarbeitslosigkeit ist<br />
ständig von starken Widersprüchen bestimmt. Otto Jacobi und Walther Müller-Jentsch,<br />
die jahrzehntelang die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland als Sozi-<br />
10<br />
Neben der Kurzarbeitergeldregelung spielte das Abschmelzen von Arbeitszeitkonten (8,9 Stunden/Arbeitnehmer)<br />
und der Rückgang von geleisteten Überstunden (10 Stunden/Arbeitnehmer)<br />
eine Rolle: Rainer Trinczek, »Gewerkschaftspolitik in Zeiten der Wirtschaftskrise«, Vortrag auf<br />
der WSI-Tagung 05./06.05.2010.<br />
11<br />
WSI-Pressemitteilung, 02.11.2010.
244 Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit<br />
alwissenschaftler kritisch begleitet haben, kamen bereits 1977 in einem Rückblick auf<br />
den Nachkriegsboom und dessen Ende, kurz vor dem Kampf um Rationalisierungsschutzabkommen<br />
in der Druckindustrie 1978 und dem ersten Kampf um Arbeitszeitzeitverkürzung<br />
in der Stahlindustrie 1978/79, zu folgendem Resümee:<br />
Während sie vor dem Abschluss einer Tarifrunde mit dem Hinweis auf das Massenkaufkraftargument<br />
ihre Forderungen verteidigen, rechtfertigen sie nachher die<br />
mäßigen Lohnabschlüsse mit der von ihnen erwarteten gesamtwirtschaftlichen Verantwortung.<br />
Dieser Widerspruch zwischen Rechtfertigungsargument für die hohen<br />
Forderungen und dem Rechtfertigungsargument für die vereinbarten niedrigen<br />
Lohnerhöhungen verdeutlicht das Ausmaß der gewerkschaftlichen Immobilität in<br />
der Krise und ihre Alternativlosigkeit gegenüber den Sachzwängen einer kapitalistischen<br />
Wirtschaft. 12<br />
Nicht nur, aber auch wegen dieser widersprüchlichen Haltung ihrer Führung hat<br />
sich bis heute in den Reihen der Gewerkschaftsmitglieder mehrheitlich die Vorstellung<br />
gehalten, dass die Arbeitslosigkeit kein Wesensmerkmal des Kapitalismus<br />
ist, sondern auf Fehler des Managements, persönliche Raffgier von Aktionären<br />
und Bankmanagern, eine falschen Wirtschaftspolitik der jeweiligen Bundesregierung,<br />
die demografische Entwicklung oder zu viele Arbeitsimmigranten zurückzuführen<br />
ist. Meistens gibt es in der Diskussion an der Basis einen Mix aus diesen<br />
verschiedenen Erklärungsansätzen. Aber fast immer müssen die Arbeitsimmigranten<br />
als Sündenbock herhalten, weil diese Erklärung auch von Medien und<br />
bürgerlichen Politikern öffentlich vertreten wird.<br />
Die Krise von 1974/75 ist eine Zäsur gewesen, sie beendete den Nachkriegsboom<br />
und mit ihr kam die Massenarbeitslosigkeit zurück, die als Begleiterscheinung<br />
des Kapitalismus überwunden schien. Der Rückgang des Bruttosozialprodukts<br />
war 1975 mit 2,5 Prozent sehr stark. Dazu kam, dass im Jahr zuvor das<br />
Wachstum mit nur 0,4 Prozent praktisch stagniert hatte. Nach dieser Krise lag<br />
das durchschnittliche Wirtschaftswachstum von 1976 bis 1980 bei 3,4 Prozent.<br />
In den 1960er Jahren hatte das Wachstum noch bei durchschnittlich 5,3 Prozent<br />
gelegen.<br />
Dem Kapitalismus wurde von seinen Ärzten eine so genannte Strukturkrise attestiert.<br />
Diese sollte erklären, warum, nachdem der tiefe Einbruch 1974/75 überwunden<br />
war, trotz steigender Gewinne der Unternehmen die Arbeitslosigkeit<br />
nicht wieder zurückging.<br />
Die SPD hatte aus der so genannten Strukturkrise des Kapitalismus Mitte der<br />
1970er Jahre den Schluss gezogen, dass es wichtig sei, eine vorausschauende und<br />
aktive Strukturpolitik zu betreiben. Dieser Ansatz ging von der Überlegung aus,<br />
dass Massenentlassungen in bestimmten Branchen unvermeidbar seien und es<br />
12<br />
Otto Jacobi und Walther Müller Jentsch in: Rainer Duhm und Ulrich Mückenberger (Hrsg.) »Arbeitskampf<br />
im Krisenalltag«, Berlin 1977, S. 44.
Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit 245<br />
deswegen wichtig sei, dass mit staatlicher Unterstützung rechtzeitig neue Produktionszweige<br />
entwickelt werden und so neue Beschäftigungsmöglichkeiten entstehen.<br />
Hans Matthöfer, 1975 Bundesminister für Forschung und Technologie und<br />
ab 1978 Finanzminister im Kabinett von Helmut Schmidt, war einer der Vordenker<br />
dieser Politik:<br />
Wer unser Land vor Krisen bewahren will, muss dafür sorgen, dass rechtzeitig Instrumente<br />
entwickelt werden, die verhindern helfen, dass der technische Fortschritt<br />
sich mangels kompensatorischer Beschäftigungsstrategien in letzter Konsequenz gegen<br />
die Interessen der arbeitenden Bevölkerung richtet. […] Die deutschen Gewerkschaften<br />
haben nie versucht, den technischen Fortschritt künstlich aufzuhalten. Die<br />
entgegengesetzte Strategie der britischen Gewerkschaften hat mit dazu beigetragen,<br />
dass die Arbeitsproduktivität in Großbritannien langsamer stieg als in vergleichbaren<br />
Ländern. Die deutsche Arbeiterbewegung hat immer eine Politik betrieben, die die<br />
Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft nicht gefährden, Arbeitslosigkeit und soziale<br />
Härten aber von den Arbeitnehmern abwenden sollte. 13<br />
Ihr erklärtes Ziel, damit einen wirksamen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit<br />
zu leisten, hat diese Strukturpolitik nie erreicht. Sie kam immer zu spät,<br />
beschränkte sich auf Subventionen, um neue Betriebe anzusiedeln oder die öffentliche<br />
Infrastruktur auszubauen, ohne damit eine wirksame Entwicklung zu<br />
initiieren, die ausreichend Ersatzarbeitsplätze geschaffen hätte. Die ständig steigende<br />
Zahl der Berufspendler, die zudem immer weitere Wege auf sich nehmen<br />
müssen, zeigt das. Am deutlichsten wird das Scheitern der Strukturpolitik in den<br />
ostdeutschen Bundesländern. Ganze Landstriche sind deindustrialisiert worden<br />
und nur an sehr wenigen Standorten ist etwas Neues entstanden.<br />
Auch das Ruhrgebiet ist nach dem Schrumpfen der Montanindustrie, trotz der<br />
Gründung von Universitäten und der Ansiedlung neuer Betriebe, heute immer<br />
noch eine strukturschwache Region mit einer überdurchschnittlich hohen Arbeitslosigkeit.<br />
Die Finanzlage vieler Kommunen dort ist desaströs. Oberhausen<br />
ist die am höchsten verschuldete Stadt in Deutschland.<br />
Strukturpolitik im Kapitalismus ist der Versuch, mit staatlichen Subventionen<br />
und steuerlichen Abschreibungsmodellen Investitionsanreize zu schaffen. Die so<br />
geweckten Begehrlichkeiten führen nicht selten zu Mitnahmeeffekten, wie bei<br />
Nokia in Bochum. Dort schloss der Konzern 2008 ein profitables Werk, das zuvor<br />
mit 80 Millionen Euro öffentlicher Zuschüsse subventioniert worden war.<br />
4.000 Menschen verloren damals ihre Arbeit, wenn man die Zulieferindustrie<br />
mitrechnet.<br />
Eine Strukturpolitik, die auf die Investitionsentscheidungen von Unternehmen<br />
Einfluss nehmen kann, wäre dagegen sinnvoll. Dadurch könnte gewährleistet<br />
13<br />
Hans Matthöfer, »Humanisierung der Arbeit und Produktivität in der Industriegesellschaft«,<br />
Köln 1977, S. 48f.
246 Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit<br />
werden, dass die Interessen der Beschäftigten im Vordergrund stehen und nicht<br />
die der Unternehmen.<br />
Von Regierungen und Arbeitgebern ist das Versprechen von Ersatzarbeitsplätzen<br />
im Zusammenhang mit einer geplanten Strukturpolitik vor allem immer wieder<br />
dazu benutzt worden, die Gewerkschaften bei Entlassungen und Betriebsschließungen<br />
zum Stillhalten zu bewegen und aufkeimenden Protest der Belegschaften<br />
nicht zu ermutigen, sondern unter dem Hinweis auf vage Zusagen auszubremsen.<br />
Ob das gelingt, hängt von den Erfahrungen und dem Selbstbewusstsein<br />
der Kollegen ab.<br />
Wenn es gelingt, aus vagen Zusagen verbindliche zu machen, weil der Druck<br />
von unten groß genug ist, kann das ermutigend wirken. Aber dabei kann es nie<br />
um eine, wenn überhaupt nur langfristig wirksame, Strukturpolitik mit ungewissen<br />
Folgen gehen, sondern nur um die kurzfristige Schaffung von unbefristeten<br />
Ersatzarbeitsplätzen.<br />
Diskussionen um Handlungsperspektiven<br />
Die tiefe Krise 1974/75 erhöhte den Druck auf die Gewerkschaften, sich mit<br />
der steigenden Arbeitslosigkeit auseinanderzusetzen, um eine glaubhafte Handlungsperspektive<br />
zu entwickeln. Die Idee, das sinkende Arbeitszeitvolumen bei<br />
vollem Lohnausgleich auf mehr Arbeitskräfte zu verteilen, um damit die Arbeitslosigkeit<br />
zu bekämpfen, bot die Chance, zu einer gemeinsamen Perspektive für<br />
die ganze Arbeiterklasse im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zu werden. Doch<br />
so bestechend einfach die Idee auch war, so umstritten sind die Vorstellungen zu<br />
ihrer konkreten Umsetzung in der IG Metall gewesen, die als erste Einzelgewerkschaft<br />
diese Forderung erhoben hatte.<br />
An erster Stelle stand dabei die Kontroverse, ob die Arbeitszeitverkürzung mit<br />
oder ohne vollen Lohnausgleich gefordert werden sollte. An zweiter Stelle stand<br />
die Diskussion nach ihrem Stellenwert in der Tarifpolitik und an dritter die Frage,<br />
ob sie in kleinen oder großen Schritten erfolgen sollte. Ein Mitarbeiter des<br />
gewerkschaftseigenen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts hat<br />
1975 in einem Beitrag für die Gewerkschaftlichen Monatshefte, dem damals<br />
wichtigsten Theorieorgan des DGB, den Diskussionsstand in den Gewerkschaftsführungen<br />
wiedergegeben:<br />
Eine mögliche Alternative zur Lösung des Phänomens strukturell bedingter Arbeitslosigkeit<br />
liegt in der flexiblen Aufteilung des vorhandenen Beschäftigtenpotentials<br />
auf das angebotene Arbeitsvolumen. Als Durchsetzungsinstrumente können dabei<br />
eine Reihe von kombinierbaren Einzelschritten in die Diskussion geführt werden:<br />
– Reduzierung der Ausländerbeschäftigung;<br />
– Senkung der Zahl der Erwerbspersonen durch Verlängerung der Ausbildungsdauer
Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit 247<br />
und/oder frühzeitige Beendigung der Erwerbstätigkeit;<br />
– Verminderung der individuellen Jahresarbeitszeit.« 14<br />
An erster Stelle stand hier beschämender Weise die Forderung nach einer Verringerung<br />
der Zahl der Arbeitsimmigranten, gefolgt von Vorschlägen zur Arbeitszeitreduzierung,<br />
die mit Lohnverzicht verbunden waren. Dieser Mix aus verschiedenen<br />
Forderungen und die Diskussion darum waren eher dazu geeignet,<br />
die Gewerkschaftsbewegung zu spalten und zu schwächen, als eine überzeugende<br />
Perspektive im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zu bieten.<br />
Es gab zu diesem Zeitpunkt in der Debatte um die Perspektiven der Gewerkschaftsbewegung<br />
im Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit aber auch eine<br />
starke Strömung, die ihre Wurzeln in den Streikbewegungen 1969 bis 1973 hatte.<br />
Vor allem 1973 war es zu einer deutlichen Entfremdung zwischen der Führung<br />
und Teilen der Basis gekommen, die ihre Interessenvertretung in die eigene<br />
Hand nahm, weil die Führung Lohnabschlüsse vereinbart hatte, die weit hinter<br />
der Gewinnentwicklung zurückblieben. Die Arbeitslosigkeit spielte zu diesem<br />
Zeitpunkt keine Rolle und fiel damit als Disziplinierungsmittel aus.<br />
Die Streikbewegung 1973 begann in der nordrhein-westfälischen Stahlindustrie.<br />
In mehreren Wellen über fast ein Jahr verteilt beteiligten sich damals rund<br />
275.000 Arbeiter aus mindestens 335 Betrieben an den Streiks. 15 Nur zwei Jahre<br />
später hatten sich die ökonomischen Rahmenbedingungen mit der tiefen Krise<br />
1974/75 dramatisch verschlechtert. Die einfachen Mitglieder in den Betrieben<br />
fürchteten entweder um ihren Arbeitsplatz oder sahen sich damit konfrontiert,<br />
dass die Arbeitgeber die Situation ausnutzten, um die Löhne zu drücken. Die<br />
Folge war zunächst eine Verunsicherung an der Basis in den Betrieben, weil es<br />
zunächst keine überzeugende Antwort durch die Gewerkschaften auf die steigende<br />
Arbeitslosigkeit gab.<br />
Der Leidensdruck infolge der Arbeitslosigkeit ist in der Stahlindustrie besonders<br />
groß gewesen, weil es hier früher als in anderen Branchen bereits Anfang<br />
der 1970er Jahre Massenentlassungen gab. 16 Die Vertrauensleute, Betriebsräte<br />
und Gewerkschaftssekretäre waren hier besonders hart mit der Frage konfrontiert,<br />
wie sich die Gewerkschaftsbewegung eine Antwort auf die steigende Arbeitslosigkeit<br />
vorstellt.<br />
14<br />
H. Seifert, Referent beim Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) des DGB,<br />
»Arbeitslosigkeit und Arbeitsmarkt 1975«, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 1/76, S. 8.<br />
15<br />
Redaktionskollektiv express, »Spontane Streiks 1973 – Krise der Gewerkschaftspolitik«, Offenbach<br />
1974, S. 22ff.<br />
16<br />
Ähnlich prekär war die Lage in der Druckindustrie, weil Rationalisierungen, forciert durch technische<br />
Entwicklungen, die Stellung vieler Facharbeiter entwertete. Die Drucker haben deswegen<br />
1976 und 1978 zunächst versucht, Rationalisierungsschutzabkommen durchzusetzen, was misslang.<br />
Erst danach haben sie die Forderung nach der 35-Stunden-Woche erhoben.
248 Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit<br />
Die Streikbewegungen von 1969 und 1973 hatten den unteren und mittleren<br />
Hierarchieebenen in der IG Metall die Erfahrung vermittelt, dass es unter bestimmten<br />
Umständen wichtig ist, selbst zu handeln, wenn man nicht zwischen<br />
Führung und unzufriedener Basis aufgerieben werden will. Die bis dahin gehandelte<br />
Vielfalt an Lösungsvorschlägen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit reichte<br />
ihnen deswegen nicht mehr aus. Die Beliebigkeit gab keine Orientierung, das<br />
sollte sich nach den Vorstellungen vor allem vieler Vertrauensleute endlich ändern,<br />
um wieder handlungsfähig zu werden.<br />
Ihren ersten Niederschlag fand die Debatte innerhalb der IG Metall auf dem Gewerkschaftstag<br />
1977. Wie es im Protokoll des Gewerkschaftstages heißt, forderten<br />
45 Verwaltungsstellen mit insgesamt über einer Million Mitglieder (die damit knapp<br />
die Hälfte der IG Metall-Mitglieder repräsentierten) in den zum Gewerkschaftstag<br />
vorliegenden Anträgen die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit, 29 Verwaltungsstellen<br />
gaben dabei als Zielsetzung eine Wochenarbeitszeit von 30 bis 35 Stunden<br />
an. […]<br />
In einem Pressegespräch unmittelbar vor Beginn des Gewerkschaftstages machte<br />
der damalige 1. Vorsitzende Loderer deutlich, »dass die IG Metallspitze die in einigen<br />
der insgesamt 1.080 Anträgen zum Gewerkschaftstag erhobene Forderung nach<br />
Einführung einer 35-Stunden-Woche mit der Konsequenz der Vermehrung der Arbeitsplätze<br />
ablehne. 17<br />
Die Forderung nach der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich war von<br />
Anfang an in der IG Metall und in den übrigen DGB-Gewerkschaften umstritten.<br />
Für die Gewerkschaftsführung war die Forderung nach der 35-Stunden-Woche<br />
weniger ein konkretes Kampfziel, sondern vielmehr ein konzeptioneller Ansatz,<br />
um verlorene Verhandlungsspielräume zurückzugewinnen.<br />
Die Entscheidung auf dem 12. Gewerkschaftstag der IG Metall im September<br />
1977, die Forderung nach der 35-Stunden-Woche in den tarifpolitischen Zielkatalog<br />
aufzunehmen, ohne ihr gleichzeitig eine Priorität einzuräumen, viel mit 275<br />
Ja-Stimmen bei 261 Nein-Stimmen denkbar knapp aus. Der Vorstand hatte sich<br />
damit zunächst durchgesetzt, konnte aber nicht verhindern, dass die große Tarifkommission<br />
der Stahlindustrie nach Auslaufen des Manteltarifvertrages bereits<br />
ein Jahr später doch einstimmig die Forderung erhob:<br />
Verkürzung der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich mit<br />
dem Ziel der 35-Stunden-Woche – auch durch Freizeitausgleich.<br />
17<br />
Reinhard Bahnmüller, »Der Streik – Tarifkonflikt um Arbeitszeitverkürzung in der Metallindustrie<br />
1984«, Hamburg 1985, S. 38.
Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit 249<br />
Der Stahlarbeiterstreik 1978/79<br />
Der Vorstand der IG Metall stimmte dieser Forderung angesichts der Geschlossenheit<br />
der Tarifkommission zwar zu, signalisierte den Arbeitgebern 1978 aber<br />
gleichzeitig Kompromissbereitschaft. Der Kampf um Arbeitszeitverkürzung<br />
wurde mit den laufenden Tarifverhandlungen und der – angesichts höherer Inflationsraten<br />
– niedrigen Lohnforderung von 5 Prozent verbunden und mit der Beteuerung,<br />
dass es nur um einen Einstieg in die Arbeitszeitverkürzung ginge. Damit<br />
wurde ein deutliches Signal an die Arbeitgeber gesendet, dass man zu Zugeständnissen<br />
bereit sei.<br />
Gleichzeitig verhielt sich die Gewerkschaftsführung bei der Mobilisierung der<br />
Mitgliedschaft anfangs sehr zögerlich, um ihren Friedenswillen zu bekunden. Sie<br />
nahm damit in Kauf, dass die groß angelegte Propaganda der Arbeitgeber nicht<br />
ohne Wirkung auf die öffentliche Meinung, aber auch die eigene Mitgliedschaft<br />
blieb.<br />
Begonnen hatte die Auseinandersetzung schon Monate vorher – allerdings fast nur<br />
am Verhandlungstisch. In den Betrieben war wenig zu spüren vom Kampf um die<br />
35 Stunden. Informationen zum Thema kamen fast nur vom Gegner: Übers Fernsehen,<br />
über die Presse. Die Gewerkschaft hielt sich dagegen sehr zurück. Viele Kollegen<br />
wussten nicht, welchen Sinn die Arbeitszeitverkürzung haben sollte. 18<br />
Die Wirkung einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf die Schaffung neuer<br />
Arbeitsplätze ist nicht mit einem einfachen Dreisatz zu ermitteln. Aber je größer<br />
der Schritt zur Verkürzung, umso geringer die Möglichkeit der Unternehmer, mit<br />
Rationalisierungsmaßnahmen notwendige Neueinstellungen zu vermeiden, um<br />
die gleiche Produktionsmenge herstellen zu können. Deswegen war es illusorisch<br />
zu glauben, die Arbeitslosigkeit auf diesem Weg bekämpfen zu können, ohne<br />
gleichzeitig die Unternehmer herauszufordern.<br />
Im Vergleich zu den vorangegangenen Arbeitszeitverkürzungen in den 1950er<br />
Jahren von 48 auf 40 Wochenstunden, war die wirtschaftliche Situation seit der<br />
Rückkehr der Krisen eine völlig andere. Die hohen Wachstumsraten hatten es<br />
früher möglich gemacht, die Kosten der Arbeitszeitverkürzung teilweise zu kompensieren.<br />
Das war jetzt nicht mehr möglich. Es ging damit auch um eine Umverteilung<br />
der Gewinne zugunsten der Arbeitnehmer.<br />
Die ideologische Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche wurde von<br />
den Arbeitgebern mit harten Bandagen ausgetragen, obwohl der Vorstand der<br />
IG Metall Kompromissbereitschaft zeigte. Die Stahlmanager sahen ihre Profite<br />
gefährdet, weil sie der IG-Metall-Führung nach den Erfahrungen mit den spon-<br />
18<br />
REVIER-Redaktion (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Kollegen aus den bestreikten und ausgesperrten<br />
Stahlbetrieben, »Dokumentation-Streikwinter – Der Stahlarbeiterstreik 1978/79«, Duisburg<br />
1979, S. 32.
250 Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit<br />
tanen, von der Gewerkschaftsführung nicht kontrollierten Streikbewegungen<br />
von 1969 und 1973, nicht mehr zutrauten, die Mitgliedschaft im Zaum zu halten.<br />
Aus Sicht der IG-Metall-Führung musste es in diesem Arbeitskampf also auch<br />
darum gehen, das verlorengegangene Vertrauen der Gegenseite zurückzugewinnen.<br />
Nach dem eindeutigen Votum der Tarifkommission für die 35-Stunden-Woche<br />
bei vollem Lohnausgleich waren die Ausgangsbedingungen dafür denkbar<br />
schwierig.<br />
Die IG Metall begann erst 14 Tage vor der entscheidenden Urabstimmung,<br />
ihre inzwischen durch die Propaganda der Arbeitgeber verunsicherte Mitgliedschaft<br />
aufzuklären und zu mobilisieren. Die Führung wollte verhindern, dass sich<br />
infolge einer monatelangen Aufklärungskampagne und ideologischer Auseinandersetzung<br />
mit den Unternehmern, die Fronten während der Verhandlungsphase<br />
noch weiter verhärteten. Erst als ein Streik unausweichlich war, weil die Stahlunternehmer<br />
nur ein Angebot vorlegten, das einer Provokation gleichkam, nahm<br />
die Gewerkschaft den hingeworfenen Fehdehandschuh auf. Bei der Urabstimmung<br />
stimmten 87 Prozent für einen Streik zur Durchsetzung der Forderung<br />
nach der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich.<br />
Der Versuch der IG-Metall-Führung gleichzeitig zu bremsen und Gas zu geben<br />
durchzog den ganzen Arbeitskampf und führte ihn am Ende in eine Niederlage.<br />
Am 28. November 1978 traten 37.000 Arbeiter und Angestellte in den<br />
Streik, bereits zwei Tage später reagierten die Unternehmer mit der Aussperrung<br />
von 29.000 Beschäftigten in der Stahlindustrie. Trotz dieser Eskalation der Arbeitgeber<br />
weitete die IG-Metall-Führung den Streik nicht aus.<br />
Die IG Metall rückte in den ersten beiden Wochen nach Aussperrungsbeginn den<br />
Kampf gegen die Aussperrung ins Zentrum der Auseinandersetzung. Dieser Kampf<br />
erfuhr allerdings nach den Plänen der Führung keine unmittelbare Verknüpfung mit<br />
dem Streik, etwa durch die Eskalation des Konflikts durch Streikausweitung, Reduktion<br />
der Notdienste usw., wie es von einigen Belegschaften gefordert wurde. 19<br />
Die IG Metall reagierte auf die Aussperrungen stattdessen mit Demonstrationen<br />
und Kundgebungen, die keinen zusätzlichen ökonomischen Druck erzeugten.<br />
Ein Signal an die Arbeitgeber, dass das eigentliche Kampfziel, die Verkürzung<br />
der Wochenarbeitszeit, von der Führung nicht mehr als Bedingung für ein Verhandlungsergebnis<br />
angesehen wurde.<br />
Am Ende des ersten Kampfes um die 35-Stunden-Woche stand ein Kompromiss,<br />
der neben zusätzlichen Freischichten für Nachtarbeiter und ältere Beschäftigte<br />
auch die Verlängerung des Jahresurlaubs vorsah. Michael Schneider, wissen-<br />
19<br />
Helmut Martens, »Der Streik um die 35-Stunden-Woche in der Stahlindustrie 1978/79«, in: Kritisches<br />
Gewerkschaftsjahrbuch 1979/80, Berlin 1979, S. 16.
Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit 251<br />
schaftlicher Mitarbeiter der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung, fasste<br />
das Ergebnis später so zusammen:<br />
Dies […] entsprach sicherlich nur entfernt dem von der IG Metall angestrebten Ziel<br />
eines Einstieges in die 35-Stunden-Woche. Das spiegelt sich auch in der relativ verbreiteten<br />
Unzufriedenheit der betroffenen Arbeitnehmer mit dem Verhandlungsergebnis:<br />
In der zweiten Urabstimmung vom 8. Bis 10. Januar 1979 stimmten 54,4<br />
Prozent dem Ergebnis zu, immerhin 45,0 Prozent lehnten es jedoch ab. 20<br />
Wie negativ dieses Ergebnisses an der Basis beurteilt wurde, lässt sich vor allem<br />
an der harten Kritik vieler Vertrauensleute ablesen, die im Streik eine zentrale<br />
Rolle gespielt hatten. Ihnen war bis Anfang der 1970er Jahre von Betriebsräten<br />
und Gewerkschaften die Rolle zugeschrieben worden, ihre Beschlüsse gegenüber<br />
der Belegschaft zu vertreten. Während der spontanen Streiks wurde ihnen vor<br />
Augen geführt, wie undankbar diese Aufgabe war. Wenn sie die Ergebnisse der<br />
verfehlten gewerkschaftlichen Tarifpolitik auf ihre Kappe nahmen, dann wurden<br />
sie von den eigenen Kollegen kritisiert. Stellten sie sich aber an die Spitze der<br />
Kritiker, dann bekamen sie Druck von der eigenen Gewerkschaft. Die Schlussfolgerung<br />
des klassenbewusstesten Teils der Vertrauensleute war, dass sie zukünftig<br />
viel stärker in die gewerkschaftliche Meinungsbildung eingebunden werden<br />
wollten.<br />
Wie hart die Auseinandersetzungen zwischen Vertrauensleuten auf der einen<br />
und Gewerkschaftssekretären und Betriebsräten auf der anderen Seite schon Anfang<br />
der 1970er Jahre geführt wurde, geht aus einer vertraulichen Gesprächsnotiz<br />
eines Treffens von IG-Metall-Arbeitsdirektoren der Stahlindustrie hervor, die<br />
1971 den Delegierten auf dem Gewerkschaftstag zugespielt wurde. In ihr heißt<br />
es:<br />
Die Vertrauensleute spielten sich als die Kontrolleure des Betriebsrates auf. Das war<br />
Honecker-Politik. Im Rheinstahlbereich kennen wir diese Vertrauensleute alle. Heute<br />
bringt jeder Tag neue Konflikte, und wir fragen uns, warum das eigentlich so sein<br />
muss. 21<br />
Es ist nicht verwunderlich, dass auch die Presse in den Vertrauensleuten einen<br />
Störfaktor sah, der den Handlungsspielraum der hauptamtlichen Gewerkschaftsvertreter<br />
und der Betriebsräte einzuschränken drohte. So erinnerte »DER SPIE-<br />
GEL« 1979 nach den Stahlarbeiterstreiks an die Auseinandersetzung auf der Vertrauensleute-Konferenz<br />
der IG Metall 1976:<br />
Auf der alle drei Jahre stattfindenden Vertrauensleute-Konferenz der IG Metall 1976<br />
in Nürnberg klagten viele der Gewerkschaftshelfer (gemeint waren die Vertrauens-<br />
20<br />
Michael Schneider, »Kleine Geschichte der Gewerkschaften«, Bonn 1989, S. 385.<br />
21<br />
Veröffentlicht von: EXPRESS international, Reihe Betrieb und Gewerkschaft, Offenbach 1972, S.<br />
48.
252 Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit<br />
leute), dass manche Betriebsräte sich eher wie »Geheimräte« benehmen und die Vertrauensleute<br />
nur »ungenügend an Entscheidungsprozessen beteiligen« […]. Die Betriebsräte<br />
dagegen werfen den Vertrauensleuten oft vor, dass sie sich wie ein »Kontrollorgan<br />
des Betriebsrats« benehmen. 22<br />
Der IG-Metall-Vertrauenskörper des Mannesmann-Stahlwerkes in Duisburg-Huckingen<br />
drückte seinen Protest gegen die Streiktaktik der Führung in einer<br />
am 15.02.1979 einstimmig angenommenen Resolution wie folgt aus. Es ist eines<br />
der eindrucksvollsten, aber bei weitem nicht das einzige Dokument, in dem<br />
der Zorn über den aus ihrer Sicht faulen Kompromiss deutlich wird:<br />
Am 24.11.1978 hatten wir kurz vor Beginn des Arbeitskampfes in einer dem Kollegen<br />
Herb (Kurt Herb, damals zuständiger Bezirksleiter der IG Metall) überreichten<br />
Resolution noch einmal klar herausgestellt, dass es für uns in dieser Frage keine<br />
Kompromisse geben könnte, zumal wir bereits selbst seit längerem für die Forderung<br />
nach der 32-Stunden-Woche eintreten. Denn wir wissen, wie auch die Kollegen<br />
Herb, Janßen und Loderer (die beiden zuletzt genannten waren damals Mitglieder im<br />
IG-Metall-Hauptvorstand) dass ohne eine spürbare Umverteilung der Arbeit in den<br />
Stahlbetrieben auf mehr Köpfe in den nächsten Jahren jeder Vierte von uns seinen<br />
Arbeitsplatz verlieren wird. […] In diesem Arbeitskampf ist uns eine Lektion erteilt<br />
worden.<br />
Die Mitglieder der Großen Tarifkommission, darunter die Bezirksleiter der vier<br />
Tarifbezirke, im Einvernehmen mit den Kollegen Janßen, Mayr und Loderer, haben<br />
durch Mehrheitsbeschluss mitten im Arbeitskampf das ursprüngliche Streikziel fallengelassen.<br />
[…]<br />
Wir waren kampfbereit bis zur letzten Minute, und unser Kampf begann Wirkung<br />
zu zeigen. Wenn sich die Kollegen Herb, Janßen und Loderer in der Öffentlichkeit<br />
zu diesem Abschluss bekennen, und ihn als Einstieg verkaufen wollen, dann machen<br />
sie uns deutlich, dass sie schwach sind. Sie haben nicht nur eine Niederlage im Arbeitskampf<br />
zu verantworten, sondern mit ihrer Interpretation des Ergebnisses tragen<br />
sie die Verwirrung in die Reihen der Organisation und der DGB-Gewerkschaften.<br />
23<br />
In der Resolution wurden personelle Konsequenzen und eine Demokratisierung<br />
der Gewerkschaft gefordert und am Ende die Frage aufgeworfen:<br />
Müssen wir nicht gegen die uneingeschränkte Verfügung der Kapitaleigner über den<br />
technischen Fortschritt, Investition, Produktion, ihr Tempo, ihre Richtung, Strategien<br />
und Forderungen entwickeln, die darauf zielen, dass wir selbst Herr über die Produktion<br />
werden? 24<br />
22<br />
DER SPIEGEL, 17/1979, 23.04.1979, S. 112.<br />
23<br />
Veröffentlicht in: »Kritisches Gewerkschaftsjahrbuch 1979/80«, Berlin 1979, S. 37f<br />
24<br />
Ebenda.
Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit 253<br />
Obwohl die Vertrauensleute im Stahlstreik 1978/79 eine wichtige Rolle spielten,<br />
gelang es ihnen nicht, die Politik ihrer Gewerkschaft entscheidend zu beeinflussen.<br />
Die Niederlage von 1979 stellte noch keine Zäsur für die gesamte Gewerkschaftsbewegung<br />
dar, aber die Kräfteverhältnisse hatten sich in der Stahlindustrie<br />
zugunsten der Arbeitgeber verschoben.<br />
Die Niederlage löste einen schleichenden Prozess aus, in dessen Folge Teile der<br />
Gewerkschaftslinken ihre politische Arbeit immer weniger auf die Basis orientiert<br />
haben. Ablesbar ist diese Entwicklung an der Biografie von verschiedenen<br />
damaligen linken Aktivisten, wie der von Klaus Franz. Er hatte 1975 bei Opel in<br />
Rüsselsheim als Lackierer angefangen, um im Betrieb als Mitglied der »Gruppe<br />
der undogmatischen und wirklichen Gewerkschafter« politisch zu arbeiten. 1979<br />
war er ein engagierter Vertrauensmann, der sich mit seinen Vorgesetzten und<br />
dem Betriebsrat anlegt, indem er ohne Absprache einen spontanen Streik für<br />
bessere Arbeitskleidung organisiert.<br />
Auch der Lackierer Klaus Franz macht sich häufig unbeliebt. Vor jeder Schicht […]<br />
prüft Franz zunächst einmal, ob das Fließband das vorgeschriebene Tempo einhält.<br />
Läuft es einige Sekundentakte zu schnell oder sind zu wenig Arbeiter eingesetzt, beschwert<br />
der Arbeiter sich sofort beim Meister. 25<br />
Der damalige Betriebsratsvorsitzende Richard Heller verschafft Franz 1981 einen<br />
sicheren Platz auf der IG-Metall-Liste für die Betriebsratswahl, um den unbequemen<br />
Vertrauensmann einzubinden<br />
[…] gegen den Widerstand der SPD-Fraktion, die im Betriebsrat und im Vertrauenskörper<br />
der IG Metall damals die Mehrheit bildet. Es gibt scharfe Polarisierungen im<br />
Betriebsrat: die Parteilosen und Undogmatischen, als die Grünen verschrien, auf der<br />
einen und den straffen, hart organisierten Sozialdemokraten auf der anderen Seite.<br />
Heller will den Wortführer dieser neuen Bewegung integrieren. 26<br />
Der Versuch, Klaus Franz zu integrieren, ist geglückt. Bis zu seinem Rücktritt<br />
2011 als Gesamtbetriebsratsvorsitzender galt er als der Repräsentant eines Co-<br />
Managements schlechthin.<br />
Der Kampf um die 35-Stunden-Woche 1984<br />
Nach dem verlorenen Stahlarbeiterstreik stieg die Arbeitslosigkeit immer rascher<br />
auch in anderen Branchen bis auf insgesamt weit über 2 Millionen an. Die Gewerkschaften<br />
reagierten so, wie von den Arbeitgebern, der SPD-Regierung unter<br />
Helmut Schmidt und dann ab 1982 von der CDU-Regierung unter Helmut Kohl<br />
gefordert, zunächst mit Lohnzugeständnissen. Doch die von den Gewerkschafts-<br />
25<br />
DER SPIEGEL, 17/1979, 23.04.1979, S. 109.<br />
26<br />
Andreas Drinkuth, »Eine soziale Elite – die Betriebsräte«, Marburg 2010, S.71.
254 Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit<br />
führungen erhoffte Wirkung auf die Arbeitsplatzsicherheit blieb aus. Viele Gewerkschaftsmitglieder<br />
sahen sich nur noch in der Rolle des Opfers. Die Gewerkschaften<br />
drohten, mit dem Stillhalten angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit<br />
immer weiter in die Defensive zu geraten.<br />
Eine Antwort der Mitglieder an der Basis waren Betriebsbesetzungen und Blockaden.<br />
1980 waren es erst drei, ein Jahr später sechs und 1982 bereits zehn und<br />
im folgenden Jahr über elf. 27 Für besondere Aufmerksamkeit sorgten dabei 1983<br />
in Hamburg und Bremen die Werftbesetzungen, nachdem die Pläne für Massenentlassungen<br />
öffentlich geworden waren, weil es sich um Großbetriebe mit jeweils<br />
2.000 und 4.000 Beschäftigten handelte. Nach 9 Tagen wurde die Besetzung<br />
der Werften abgebrochen, die Entlassungspläne konnten nicht verhindert<br />
werden, aber es gab einen verbesserten Sozialplan und die Werftarbeiter erfuhren<br />
eine breite Solidarität aus anderen Betrieben und der Bevölkerung. Johannes<br />
Müller, ein Vertreter der Verwaltungsstelle Hamburg der IG Metall, forderte<br />
1983 in einer Rede auf dem Gewerkschaftstag seine Organisation auf, die Besetzungen<br />
der Werften als Denkanstoß zu begreifen:<br />
Es wäre für uns als Organisation fatal, diese Aktion als Episode, als Ausrutscher abzutun.<br />
Es war in der Tat ein Signal, das uns nicht nur auffordert, nachzudenken, sondern<br />
das uns verpflichtet, eine Weiterentwicklung vorheriger Kämpfe mit in Betracht<br />
zu ziehen […] wenn die politisch Mächtigen in unserem Staat die Gewerkschaften<br />
entmachten und sie gegenüber ihren Mitgliedern zum Popanz degradieren wollen,<br />
wenn die Massenarbeitsplatzvernichtung sich in diesen Dimensionen fortsetzt und<br />
noch steigert […] dann müssen wir zu einer Bestandsaufnahme und der Überprüfung<br />
unserer Kampfformen kommen […] wir brauchen neue Widerstandsformen. 28<br />
Die IG Metall hat die Chance, den Widerstand der Werftarbeiter zum Ausgangspunkt<br />
für einen breiten Kampf gegen Arbeitslosigkeit zu nutzen, verstreichen<br />
lassen. Hans Mayr, der damalige IG-Metall-Vorsitzende, hat 1984 die Folgen dieser<br />
auch von ihm zu verantwortenden Politik so zusammengefasst:<br />
Seit Beginn der 1980er Jahre waren die verteilungspolitischen Forderungen der Arbeitgeber<br />
zunehmend erfüllt worden. Die Realeinkommen der Arbeitnehmer waren<br />
gesunken, weil die Tarifabschlüsse hinter der Inflationsrate zurückgeblieben waren<br />
und weil die staatliche Steuer- und Sparpolitik die Arbeitnehmer zusätzlich einseitig<br />
benachteiligte. […] Gleichzeitig hatten sich die beschäftigungspolitischen Versprechungen<br />
der Arbeitgeber als völlig unwirksam erwiesen. So war die Zahl der abhängig<br />
Beschäftigten im vierten Quartal 1983 in der Gesamtwirtschaft um rund 1,1 Millionen,<br />
allein in der Metallverarbeitung um mehr als 300.000 niedriger als drei Jahre<br />
zuvor. 29<br />
27<br />
Michael Kittner (Hrsg.), »Gewerkschaftsjahrbuch 1984«, Köln 1984, S. 115.<br />
28<br />
Ebenda, S. 118.
Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit 255<br />
Diese Entwicklung setzte der IG-Metall-Führung von zwei Seiten zu. Sie war einerseits<br />
auf dem besten Weg, gegenüber der Mitgliedschaft an Glaubwürdigkeit<br />
und Einfluss zu verlieren, wenn sie keine neue Perspektive im Kampf gegen die<br />
Arbeitslosigkeit bot. Andererseits registrierten die Arbeitgeber, dass mit jedem<br />
weiteren Arbeitslosen die Verhandlungsposition ihres Gegners noch schwächer<br />
wurde. 30<br />
Die 1983 vom Gewerkschaftstag der IG Metall bekräftigte Forderung nach der<br />
35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, war bereits ein Jahr zuvor 1982<br />
vom IG-Metall-Vorstand beschlossen worden. 31 Die Führung tat sich 1984, vor<br />
dem Hintergrund ihrer defensiven Lohnpolitik, den verlorenen Werftbesetzungen<br />
und dem Ergebnis des Stahlarbeiterstreiks, zunächst sehr schwer damit, die<br />
eigene Basis für die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung zu mobilisieren und<br />
musste viel Überzeugungsarbeit leisten, bis sie den Arbeitskampf wagen konnte.<br />
Die bevorstehende Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern wurde zur Schicksalsfrage<br />
erklärt:<br />
Franz Steinkühler hat deswegen in seiner Wortwahl nicht zu hoch gegriffen, als er<br />
davon sprach, dass es bei der Tarifbewegung um die 35-Stunden-Woche auch um<br />
Sein und Nichtsein für die Gewerkschaften gehe. 32<br />
Verglichen mit der heutigen Diskussion um Arbeitslosigkeit vor dem Hintergrund<br />
des Krisenkorporatismus und der Agenda 2010 bot der damalige Versuch,<br />
eine Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen, für die Gewerkschaftsbewegung zunächst<br />
eine Chance, wieder in die Offensive zu kommen. Doch schon vor dem<br />
Arbeitskampf zeigte sich, dass das Interesse, diese Chance auch zu nutzen, nicht<br />
bei allen Gewerkschaften sehr ausgeprägt war. Fünf von ihnen, darunter die IG<br />
Chemie und die IG Bergbau, strebten zusammen mit den Arbeitgebern, unterstützt<br />
von der Bundesregierung, stattdessen eine Vorruhestandsregelung an. Diese<br />
Regelung überließ es jedem Einzelnen, ob er sie in Anspruch nehmen wollte,<br />
wenn er sie sich finanziell überhaupt leisten konnte. Die mögliche Wirkung auf<br />
29<br />
Hans Mayr, »Der Kampf um die 35-Stunden-Woche – Erfahrungen und Schlussfolgerungen aus<br />
der Tarifbewegung 1984«, in: Gewerkschaftlicher Monatshefte 11/1984, S. 663.<br />
30<br />
Viele Äußerungen von hochrangigen Gewerkschaftsvertretern dieser Zeit sind von der Befürchtung<br />
geprägt, dass die Gewerkschaften durch die steigende Massenarbeitslosigkeit in ihrer Verhandlungsposition<br />
geschwächt werden. Dazu hat sicher auch der Sturz der Schmidt-Regierung<br />
beigetragen, der nicht nur das Ende sozialdemokratischer Reformhoffnungen bedeutete, sondern<br />
für die Gewerkschaften auch mit dem Verlust von einigen bewehrten Ansprechpartnern in<br />
Regierungskreisen verbunden war, von denen man sich trotz großer Enttäuschungen immer wieder<br />
Zugeständnisse erhoffte.<br />
31<br />
Vergl.: Reinhard Bahnmüller, »Der Streik – Tarifkonflikt um Arbeitszeitverkürzung in der Metallindustrie<br />
1984«, Hamburg 1985, S. 9ff.<br />
32<br />
Michael Kittner (damals Justitiar der IG Metall) in: Michael Kittner (Hrsg.), »Gewerkschaftsjahrbuch<br />
1984«, Köln 1984, S. 36.
256 Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit<br />
den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit war sehr gering, die politische Wirkung<br />
war umso größer, weil sie die Gewerkschaftsbewegung gespalten hat.<br />
Die Kraftprobe der IG Metall mit dem Verband der Metallindustrie 1984 um<br />
die Einführung der 35-Stunden-Woche ist das Musterbeispiel für einen bürokratisch<br />
geführten Massenstreik 33 gewesen, weil zwar sehr viele Beschäftigte direkt<br />
als Streikende und noch mehr indirekt als Ausgesperrte am Kampf beteiligt waren,<br />
aber die Führung aus Angst vor einer Zuspitzung und einem Kontrollverlust<br />
im entscheidenden Moment keine Ausweitung zuließ.<br />
Bereits im Vorfeld der Tarifrunde wurde von der IG-Metall-Führung signalisiert,<br />
dass eine Arbeitszeitverkürzung nicht ohne Folgen für die Lohnentwicklung<br />
bleiben würde. So hatte der IG-Metall-Vorsitzende Eugen Loderer bereits<br />
im November 1982 erklärt:<br />
Wir haben keinen Anlass, von unserer in der Vergangenheit bewährten Strategie der<br />
Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich abzugehen. […] Aber wir wissen,<br />
dass ein Lohnausgleich sich bei den Kosten niederschlägt. […] Die Kosten für die<br />
Arbeitszeitverkürzung wurden schon immer von der folgenden Lohnerhöhung abgezogen.<br />
34<br />
Kurz vor Streikbeginn bot der 1983 zum Vize-Chef der IG Metall gewählte<br />
Franz Steinkühler »flexible Arbeitszeiten, auch Samstagarbeit« an. 35 Mit seiner<br />
sechswöchigen Dauer und insgesamt knapp 60.000 Streikenden und 150.000 bis<br />
180.000 »heiß« 36 Ausgesperrten, zu denen in der letzten Streikwoche noch etwa<br />
200.000 Betroffene kamen, die »kalt« ausgesperrt waren 37 , war er einer der längsten<br />
und härtesten Arbeitskämpfe in der damaligen Bundesrepublik.<br />
Die IG-Metall-Führung versuchte zu Beginn des Arbeitskampfes durch<br />
Schwerpunktstreiks eine möglichst große Wirkung mit möglichst geringem Aufwand<br />
zu erzielen, die so genannte »Mini-Max-Taktik«. Die Arbeitgeber reagierten<br />
mit Aussperrungen und die Kohl-Regierung entschied, dass die Ausgesperrten<br />
kein Arbeitslosengeld erhalten sollten, um die Gewerkschaft zu schwächen. Anstatt<br />
dieser Herausforderung mit einer Ausweitung der Streiks und durch Betriebsbesetzungen<br />
von Ausgesperrten zu begegnen, versuchte die IG Metall an<br />
ihrer Strategie festzuhalten.<br />
33<br />
Siehe dazu auch die Auseinandersetzung von Rosa Luxemburg mit dem Massenstreik in ihrer<br />
Schrift »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften«, Hamburg 1906.<br />
34<br />
Eugen Loderer in: Wirtschaftswoche Nr. 45, 1982.<br />
35<br />
DER SPIEGEL, 10/1984, 05.03.1984; S. 29.<br />
36<br />
Als »heiß« ausgesperrt werden die bezeichnet, deren geplanter Streik durch eine vorher vorgenommene<br />
Aussperrung durch die Arbeitgeber unterlaufen wird, im Gegensatz zu den »kalt«<br />
Ausgesperrten, die mit dem Arbeitskampf nicht unmittelbar etwas zu tun haben.<br />
37<br />
Vergl.: Reinhard Bahnmüller, »Der Streik – Tarifkonflikt um Arbeitszeitverkürzung in der Metallindustrie<br />
1984«, Hamburg 1985, Seite 117 und Michael Kittner (Hrsg.), »Gewerkschaftsjahrbuch<br />
1985«, Köln 1985, S. 113.
Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit 257<br />
Im wichtigen Verwaltungsbezirk Stuttgart wurde Kritik seitens der Gewerkschaftsbasis<br />
in den Betrieben daran laut und es gab erfolglose Versuche, eine<br />
Ausweitung des Kampfes gegen den Willen der Führung durchzusetzen. Reinhard<br />
Bahnmüller zitiert in seiner Dokumentation des Kampfes um die 35-Stunden-Woche<br />
den Betriebsratsvorsitzenden eines Reutlinger Streikbetriebes mit den<br />
Worten:<br />
Das Konzept war bestimmt richtig, die ersten 14 Tage, so der Betriebsratsvorsitzende<br />
eines Reutlinger Streikbetriebs, aber das nach der 1. Aussperrung nichts kam,<br />
dann die 2. Aussperrung und wieder nichts, das war furchtbar schädlich. Das haben<br />
uns die Mitglieder massiv an den Kopf geworfen, dass nach 4 Wochen Streik immer<br />
noch 13 Betriebe streiken, das war für die dann fast nicht mehr fassbar. 38<br />
Die Folge war eine wachsende Demoralisierung der Basis während des Kampfes.<br />
Aus Angst vor Kontrollverlust durch eine Ausweitung hielt die Führung bis zum<br />
bitteren Ende an ihrer Strategie fest, obwohl die Stimmen in den Reihen des unteren<br />
Funktionärskörpers der IG Metall immer lauter wurden, den Streik auszuweiten.<br />
Das Ergebnis war mager, es wurde eine Wochenarbeitszeitverkürzung auf 38,5<br />
Stunden vereinbart und der Einstieg in die Arbeitszeitverkürzung wurde gegen<br />
die Möglichkeiten einer Flexibilisierung der Arbeitszeiten eingekauft. Mehr noch,<br />
es wurde festgelegt, dass deren Umsetzung durch Betriebsvereinbarungen geregelt<br />
werden sollte. Damit hatten die Arbeitgeber eine Öffnungsklausel von Tarifverträgen<br />
erreicht. Der ehemalige FDP-Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff<br />
frohlockte damals in der »Wirtschaftswoche«:<br />
[…] mit der Verlagerung der Entscheidungsgewalt über die Arbeitszeit auf die Betriebsräte<br />
wird die Autorität und die Eingriffsmöglichkeit für die IG Metall-Führung<br />
so stark abgeschwächt, dass die Geschlossenheit der Gewerkschaft langsam abbröckelt.<br />
39<br />
Diese Gefahr, dass damit der Konkurrenzausschluss, der durch den Flächentarifvertrag<br />
sichergestellt werden soll, unterlaufen wird, ist sofort von Teilen der Mitgliedschaft<br />
erkannt worden. 40 Mit diesem Zugeständnis wurde der Grundstein<br />
für das Ausspielen von Belegschaften gegeneinander konkurrierender Betriebe<br />
gelegt. Der mit dem Abschluss ebenfalls verbundene niedrige Lohnabschluss von<br />
unter 3 Prozent mit einer Laufzeit von fast 2 Jahren und der Einschränkung von<br />
38<br />
Reinhard Bahnmüller, »Der Streik – Tarifkonflikt um Arbeitszeitverkürzung in der Metallindustrie<br />
1984«, Hamburg 1985, S. 124.<br />
39<br />
Wirtschaftswoche Nr. 28, 06.07.1984.<br />
40<br />
Hans Joachim Sperling, »Arbeitszeitverkürzung – Ein neues Feld für betriebsnahe Tarifpolitik?«,<br />
in: Kritisches Gewerkschaftsjahrbuch 1985, Berlin 1985, S. 148.
258 Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit<br />
Überstundenzuschlägen, bestätigte außerdem die von vielen gehegte Befürchtung,<br />
dass der volle Lohnausgleich auf der Strecke bleiben würde.<br />
Die Hoffnung, mit der Arbeitszeitverkürzung eine wirksame Waffe gegen die<br />
Massenarbeitslosigkeit in die Hände zu bekommen, hatte sich endgültig zerschlagen<br />
und die demoralisierende Wirkung des Kampfes für die 35-Stunden-Woche<br />
wurde 1986 durch den ausschließlich symbolisch geführten Kampf gegen die<br />
Neufassung des Paragraf 116 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) durch die<br />
Bundesregierung noch verstärkt. Denn mit dieser Neufassung wurde nicht nur<br />
nachträglich die Anordnung an die Arbeitsämter, den Ausgesperrten keine Unterstützung<br />
zu gewähren, legitimiert. Die Regeln für zukünftige Konflikte wurden<br />
zugunsten der Arbeitgeber verändert, nachdem sich zuvor die Kräfteverhältnisse<br />
zugunsten der Arbeitgeber verschoben hatten. Damit sollte ein deutliches<br />
politisches Zeichen gesetzt werden und das gelang.<br />
Der Kampf um Rheinhausen 1987<br />
Nur ein Jahr später kam es 1987 zum bisher größten Kampf gegen Massenentlassungen<br />
in Deutschland. Während der Betriebsrat mit dem Management bereits<br />
vereinbart hatte, 2.000 Arbeitsplätze zu vernichten, in dem Glauben, mit einem<br />
sogenannten Optimierungskonzept den Stahlstandort zu erhalten, besprach<br />
der Krupp-Vorstand bereits Stilllegungspläne für das Stahlwerk in Rheinhausen<br />
mit seinen damals noch rund 6.000 Beschäftigten, um weiter seine Profite abzusichern.<br />
Als diese Information durchsickerte, kam es zu einem fast sechs Monate<br />
anhaltenden, erbitterten Kampf um den Erhalt von Rheinhausen als Stahlstandort.<br />
Auslöser war die Aufkündigung der Sozialpartnerschaft durch das Management<br />
und nicht der Kampf um den Erhalt aller Arbeitsplätze. Diese defensive<br />
Grundhaltung der großen Mehrheit der Belegschaft war das Ergebnis der vorangegangenen<br />
Niederlagen.<br />
Nicht der Betriebsrat, der vom Vorstand hintergangen worden war, sondern einer<br />
der Betriebsleiter rief die Belegschaft zum Kampf auf. Der Betriebsrat nahm<br />
diese Unterstützung gerne an, war er doch nicht nur hintergangen, sondern auch<br />
blamiert worden, weil er die Kaltschnäuzigkeit seines Gegners unterschätzt hatte.<br />
Auf einer legendär gewordenen Rede vor der versammelten Belegschaft und<br />
Einwohnern Duisburgs gab Helmut Laakmann am 30.11.1987 das Signal zur Gegenwehr:<br />
Herr Dr. Cromme (damals für Rheinhausen verantwortlicher Manager), Sie haben<br />
mit uns Verträge gemacht und diese Verträge auf beschämende Weise gebrochen.<br />
Sie haben sich mit dem Betriebsrat an einen Tisch gesetzt und unseren Betriebsratsvorsitzenden<br />
Manfred Bruckschen in beschämender weise hintergangen. Manfred,
Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit 259<br />
dir kann ich sagen, dass wir jetzt hinter dir stehen und den Kampf ausweiten werden,<br />
bis wir den Sieg in unserer Tasche haben. […] Leute, das Buch der Geschichte<br />
ist aufgeschlagen, und jetzt liegt es an euch, hier mal ein paar neue Seiten zu schreiben.<br />
Lasst die Generation, die nach uns kommt, nachlesen, wie man einen Arbeitskampf<br />
führt, wie man diesen Vorstand in die Knie zwingt. 41<br />
In den folgenden Tagen kam es zu zahlreichen Demonstrationen und zum Teil<br />
spektakulären Aktionen unter der Parole »Rheinhausen ist überall«. Am 2. Dezember<br />
1987 blockierten Stahlarbeiter die Rheinbrücke in Rheinhausen, am<br />
nächsten Tag demonstrierten 12.000 Schüler, um ihre Solidarität auszudrücken.<br />
Fünf Tage später demonstrierten 10.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes<br />
für die Stahlarbeiter. Am 9. Dezember stürmten nach einer Demonstration 3000<br />
Stahlarbeiter die »Villa Hügel« in Essen, in der gerade der Aufsichtsrat tagte.<br />
Einen Tag später wurden im Rahmen eines Aktionstages unter der Losung<br />
»Alle Räder stehen still« Straßensperren errichtet und Autobahnen blockiert. Immer<br />
wieder kam es parallel zu Arbeitsniederlegungen im Rheinhausener Stahlwerk,<br />
die dem Krupp-Konzern finanziellen Schaden zufügten, weil trotz der<br />
Stilllegungspläne noch Lieferverpflichtungen bestanden. »DER SPIEGEL« beschrieb<br />
die Ende 1987 sehr zugespitzte Situation im Ruhrgebiet:<br />
Mehr als 100.000 Stahlwerker waren im Arbeitskampf, bei Opel rückte aus Sympathie<br />
die Frühschicht mit aus und in Duisburg schlossen sich Landwirte mit Treckern<br />
an. Auf Transparenten wurde eine ganz ungewohnte Koalition verkündet: »Bauern<br />
und Arbeiter Hand in Hand«. Gleichzeitig legten in den Zechen 100.000 Bergarbeiter<br />
die Arbeit aus Protest gegen die Kohlepolitik der Bundesregierung nieder. Sie<br />
setzten die Flagge auf halbmast und zogen vor dem Bundeskanzleramt eine Mahnwache<br />
auf. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Schnoor sah sich die Lage<br />
aus der Luft im Hubschrauber an und resümierte: So einen Tag hat das Revier noch<br />
nicht gesehen. Da kann es wie Dynamit hochgehen. 42<br />
In dieser Situation bestand die Chance, alle Kräfte zusammenzuführen und sehr<br />
weitgehende Zugeständnisse zu erreichen. Doch der Versuch dazu blieb aus, weil<br />
es keine politische Kraft gab, deren Einfluss ausgereicht hätte, das umzusetzen.<br />
Der Einfluss der SPD während des gesamten Kampfes war bestimmend. Daran<br />
änderte sich auch nichts durch den Verdacht, dass die sozialdemokratische<br />
Landesregierung einer Schließung von Rheinhausen längst zugestimmt hatte und<br />
nur noch daran interessiert war, diesen Beschluss schnell umgesetzt zu sehen, um<br />
die Situation befrieden zu können. Sie handelte ganz im Sinne einer von ihr vertretenen<br />
Strukturpolitik, die Massenentlassungen akzeptierte.<br />
Die Gewerkschaft hatte sich mit den Arbeitgebern im gleichen Jahr in der<br />
»Frankfurter Vereinbarung« auf die einvernehmliche Abwicklung von Entlassun-<br />
41<br />
Dokumentiert auf: http://www.youtube.com/watch?v=88Hh_DqJA5k<br />
42<br />
DER SPIEGEL, 14.12.1987, S. 18/19.
260 Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit<br />
gen geeinigt, die sogenannten Strukturanpassungsmaßnahmen. Die IG Metall<br />
verband damit die Hoffnung, dass die Stahlunternehmer ihre vage Zusage, im<br />
Gegenzug Ersatzarbeitsplätze in der Region zu schaffen, einhalten würden.<br />
Die IG-Metall-Führung stand von Anfang an dem Kampf in Rheinhausen<br />
sehr distanziert gegenüber und wurde an der Basis dafür scharf kritisiert. Um<br />
den Konflikt unter Kontrolle zu bekommen, versuchte der Krupp-Vorstand dort<br />
anzuknüpfen, wo der Gesprächsfaden mit dem Betriebsrat abgerissen war. Er<br />
suchte und bekam Hilfe im sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Johannes<br />
Rau, der sich als Vermittler anbot. Er knüpfte das an die Bedingung, dass der zu<br />
diesem Zeitpunkt stattfindende Streik sofort abgebrochen wird. Auf einer hastig<br />
einberufenen Betriebsversammlung, die nicht vorbereitet und zu der nicht ordentlich<br />
eingeladen war, verschaffte sich der Betriebsratsvorsitzende Manfred<br />
Bruckschen die notwendige Mehrheit für den Streikabbruch.<br />
Es gab keine politische Kraft im Betrieb, die in der Lage gewesen wäre, dieses<br />
Manöver zu stoppen und die dadurch ausgelöste Konfusion in der Belegschaft<br />
zu verhindern. Viel zu spät wurde versucht, eine vom Betriebsrat unabhängige<br />
Streikleitung zu wählen und darüber eine gemeinsame Diskussion zu organisieren.<br />
Daher wurden wichtige Fragen nach der Perspektive des Kampfes nicht gemeinsam<br />
besprochen. So suchte eine Mehrheit die Antwort mit Hilfe der SPD<br />
wieder in der Sozialpartnerschaft. Das Ergebnis war, dass das Stahlwerk nur etwas<br />
später als vom Vorstand geplant, wegen überraschend guter Konjunkturentwicklung,<br />
geschlossen wurde.<br />
Schlussfolgerungen<br />
Die Situation heute unterscheidet sich in vielem gegenüber der damaligen. Alle<br />
Bundesregierungen haben in den zurückliegenden Jahrzehnten die Defensive, in<br />
der sich die Gewerkschaften befinden, genutzt, um deren Handlungsspielraum<br />
einzuengen und die Beschäftigten mit der Agenda 2010 massiv unter Druck zu<br />
setzen. Für die heutige Diskussion um die Perspektiven im Kampf gegen Arbeitslosigkeit<br />
lassen sich aus den Erfahrungen, die in den Kämpfen von Ende<br />
der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre gemacht worden sind, trotzdem wichtige<br />
Schlüsse ziehen.<br />
Der Kampf um Rheinhausen hat gezeigt, dass bei Entscheidungen vom Management,<br />
die Existenzängste auslösen und willkürlich erscheinen, weil der Betriebsrat<br />
nicht eingebunden ist, ungeahnte Kräfte freigesetzt werden können.<br />
Das ist bis heute so, wie sich 2009 in Sindelfingen gezeigt hat, nachdem Daimler<br />
die Produktion der C-Klasse von dort verlagern wollte. Der Politikwissenschaftler<br />
Heiner Dribbusch hat das 2012 beschrieben:
Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit 261<br />
Die Antwort der Beschäftigten waren mehrtägige betriebliche Proteste und Arbeitsniederlegungen,<br />
denen sich andere Daimler-Belegschaften in der Region anschlossen.<br />
Die Verlagerungsdrohung wurde als Grenzüberschreitung und existenzielle Bedrohung<br />
wahrgenommen. Die Wucht, mit der die Proteste ausbrachen, unterstrich,<br />
welch betriebliches Widerstandspotential mobilisierbar war, sollten bestimmte rote<br />
Linien überschritten werden. Der anschließende Kompromiss dehnte für Sindelfingen<br />
den konditionierten Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis 2020 aus. 43<br />
Der spontane Kampf bietet die Chance, eine Entwicklung auszulösen, die zu<br />
mehr Skepsis und damit auch Wachsamkeit gegenüber der Betriebsleitung führt.<br />
Das kann eine viel bessere Ausgangssituation für weitere Abwehrkämpfe zur Folge<br />
haben, denn Betriebsschließungen kündigen sich meistens vorher an. Oft gehen<br />
ihnen Entlassungen voraus, die damit begründet werden, dass damit die verbleibenden<br />
Arbeitsplätze gesichert werden.<br />
Der spontane Kampf ist aber kein Ersatz für gewerkschaftliche Basisstrukturen,<br />
in denen sich die klassenbewusstesten Kollegen zusammenschließen. Der<br />
Stahlarbeiterstreik im Winter 1978/79 ist von einer starken Minderheit klassenbewusster<br />
Gewerkschaftsmitglieder, die vor allem unter den Vertrauensleuten zu<br />
finden waren, getragen worden. Diese starke Minderheit gibt es heute nicht<br />
mehr. Sie lässt sich nicht herbeireden, aber es können die Voraussetzungen geschaffen<br />
werden, damit sich wieder eine bilden kann.<br />
Zwei Themenfelder stehen bei der Diskussion im Mittelpunkt. Das eine sind<br />
die Kämpfe gegen Entlassungen oder Werksschließungen auf betrieblicher Ebene,<br />
das andere sind die Diskussionen um Forderungen, die geeignet sind, die Arbeiterklasse<br />
zusammenzuführen und so die Trennung nach Betrieben und Branchen<br />
überwinden helfen.<br />
Die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung, so wie die 35-Stunden-Woche<br />
mit vollem Lohnausgleich, ist grundsätzlich gut geeignet, die Grundlage für<br />
einen gemeinsamen Kampf zu bilden. Das hat sich 1979 und 1984 gezeigt. Doch<br />
die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung ist diskreditiert worden und wird heute<br />
mit Leistungsverdichtung, Flexibilisierung und Lohneinbußen in Verbindung<br />
gebracht. Die Forderung nach einer 30-Stunden-Woche, wie sie von Mohssen<br />
Massarrat und Heinz-Josef Bontrup in ihrem »Manifest zur Bekämpfung der<br />
Massenarbeitslosigkeit« 44 vorgeschlagen wird, hat nur dann eine Chance, von einer<br />
Mehrheit der abhängig Beschäftigten akzeptiert zu werden, wenn sie zweifelsfrei<br />
ohne Lohnverzicht auskommt und gesichert ist, dass sie keine Leistungsverdichtung<br />
zur Folge hat. In dem »Manifest« wird deswegen auch gefordert,<br />
43<br />
Heiner Dribbusch, »Sozialpartnerschaft und Konflikt: Gewerkschaftliche Krisenpolitik am Beispiel<br />
der deutschen Automobilindustrie«, in: Zeitschrift für Politik, München 59 Jg. 2/2012, S. 137.<br />
44<br />
Heinz-J. Bontrup, Mohssen Massarrat (Hrsg.), »Arbeitszeitverkürzung jetzt! 30-Stunden-Woche<br />
fordern!«, Bergkamen <strong>2013</strong>, S. 10ff.
262 Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit<br />
dass es zugunsten der abhängig Beschäftigten eine massive Umverteilung von<br />
oben nach unten geben müsse, um die Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich<br />
finanzieren zu können.<br />
Die Initiatoren des Aufrufs sind sich an diesem entscheidenden Punkt aber<br />
nicht einig und schaden somit der Idee, eine notwendige Debatte um gemeinsame<br />
Perspektiven anzustoßen. So antwortete Heinz-Josef Bontrup letztes Jahr in<br />
einem Interview der VDI-Nachrichten auf die Frage, ob man davon ausgehen<br />
könne, dass die Arbeitnehmer zugunsten der kürzeren Arbeitszeit auf Lohn verzichten:<br />
Viele, die einen Arbeitsplatz haben, werden nicht verzichten wollen. Aber das ist<br />
kurzfristig gedacht, denn sie können morgen schon selbst arbeitslos werden. Wir<br />
müssen von einer gesamtwirtschaftlichen Rationalität ausgehen und nicht von einem<br />
individuellen Wunschdenken. Das ist auch eine Aufgabe von Politik. 45<br />
Schon 1978/79 und 1984 hat sich gezeigt, dass Äußerungen von Seiten der Gewerkschaften,<br />
die einen Lohnverzicht im Zusammenhang mit Arbeitszeitverkürzung<br />
nicht ausschlossen, zur Demobilisierung beigetragen haben. Die meisten<br />
abhängig Beschäftigten können sich einen Lohnverzicht nicht leisten.<br />
Wie wichtig und wirksam eine Arbeitszeitverkürzung ist, wenn es darauf ankommt,<br />
Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, hat sich 2009 gezeigt. Die während der<br />
tiefsten Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs gewährte großzügige Kurzarbeitergeldregelung<br />
hat dafür gesorgt, dass trotz eines Rückgangs der Wirtschaftsleistung<br />
um 5,1 Prozent die Arbeitslosigkeit in Deutschland nicht angestiegen ist.<br />
Die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes ist mit Ausbruch der Krise sofort von 6<br />
auf 24 Monate erhöht worden. Im Sommer 2009 haben 1,4 Millionen abhängig<br />
Beschäftigte Kurzarbeitergeld bezogen, deren Arbeitszeit im Durchschnitt um<br />
31,2 Prozent gesenkt wurde. Die Nettobezüge der Betroffenen lagen während<br />
der Kurzarbeit bei durchschnittlich etwa 90 Prozent des regulären Gehalts bei<br />
Vollzeitbeschäftigung.<br />
Die Forderung nach einer Fortsetzung dieser Regelung bei vollem Lohnausgleich,<br />
sowie gesetzlicher Festschreibung der Bezugsdauer auf 24 Monate, kann<br />
ein Einstieg in die Diskussion um eine generelle Arbeitszeitverkürzung sein. Damit<br />
ist auch die Chance verbunden, die Auseinandersetzung um die Kurzarbeitergeldregelung<br />
für eine breite politische Mobilisierung zu nutzen, weil die elementaren<br />
Interessen aller abhängig Beschäftigten in allen Branchen davon berührt<br />
sind.<br />
Das Kurzarbeitergeld wird bisher hälftig aus den Beiträgen der Arbeiter und<br />
Angestellten für die Arbeitslosenversicherung finanziert. Betrachtet man die<br />
steuerpolitisch ausgelöste Umverteilung von unten nach oben und die Reallohn-<br />
45<br />
Ebenda, S. 62.
Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit 263<br />
entwicklung der letzten Jahrzehnte, dann sollte die Arbeitszeitverkürzung in Zukunft<br />
ausschließlich aus den Gewinnen der Unternehmen und den großen Privatvermögen<br />
finanziert werden.<br />
Ohne eine offensivere Gewerkschaftsbewegung, die die abhängig Beschäftigten<br />
ermutigt zu kämpfen und dadurch erst ihr Interesse an einer Diskussion um Perspektiven<br />
weckt, ist der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit aussichtslos. Ende der<br />
1970er Jahre gab es noch starke und erfahrene Vertrauensleutekörper in den Betrieben,<br />
die in der Lage gewesen sind, Druck von unten zu erzeugen.<br />
Heute gibt es aber durch die DIE LINKE ein Netzwerk von einfachen Gewerkschaftsmitgliedern,<br />
Vertrauensleuten, Betriebsräten und Gewerkschaftssekretären,<br />
die über viel Erfahrung verfügen und die gemeinsam in die Fußstapfen einer<br />
Basisbewegung treten können. Die können diese zwar nicht ersetzen, aber eine<br />
sehr wichtige Rolle bei deren Aufbau spielen.<br />
Ob der Aufbau von Basisstrukturen linker Gewerkschafter in den Betrieben<br />
gelingt, hängt entscheidend davon ab, wie gewerkschaftliche Kämpfe geführt<br />
werden. Stellvertretertum entmündigt und begünstigt Passivität und führt schnell<br />
zur Entfremdung gegenüber der Gewerkschaft, wenn ein Verhandlungsergebnis<br />
unbefriedigend ist. Die positiven Erfahrungen mit einer kampagnenorientierten,<br />
die Mitglieder aktivierenden Gewerkschaftspolitik sind ermutigend, zeigen sie<br />
doch, dass es eine Alternative zum Stellvertretertum gibt.<br />
Auch Kämpfe gegen drohende Betriebsschließungen können für das Bewusstsein<br />
der Kollegen von großer Bedeutung sein, wenn die Erfahrung gemacht<br />
wird, dass es sich in jedem Fall lohnt zu kämpfen. Auch eine Niederlage im<br />
Kampf bietet die Chance, die bloße Opferrolle zu verlassen, weil man alles versucht<br />
hat, um den eigenen Arbeitsplatz zu retten und dabei Solidarität unter den<br />
Kollegen erfährt.<br />
In einer umfangreichen Studie, die Auseinandersetzungen um Betriebsschließungen<br />
dokumentiert und analysiert 46 , kommen die Autoren in diesem Zusammenhang<br />
zu interessanten Schlussfolgerungen. Zum einen zeigt sich, dass mit<br />
dem Bruch der Sozialpartnerschaft durch das Management unter den Beschäftigten<br />
die Bereitschaft wächst, sich nicht wie bisher einfach nur durch Betriebsräte<br />
und Gewerkschaft vertreten zu lassen. Die Belegschaften wollen Klarheit über<br />
ihre Zukunft und die Chance haben, über ihr Schicksal selbst bestimmen zu können.<br />
Diese Aufkündigung der bisherigen Rollenverteilung von unten führt öfters<br />
zu Konflikten mit Betriebsräten und Gewerkschaften, die an den aus ihrer Sicht<br />
bewährten Mustern von Interessenvertretung festhalten wollen. Das hemmt<br />
nicht nur die Entwicklung von unten, es kann auch dazu führen, dass die Ge-<br />
46<br />
R. Detje, W. Menz, S. Nies, G. Sanné, D. Sauer, T. Birken (Hrsg.) »Auseinandersetzungen um Betriebsschließungen«,<br />
Hamburg und München 2008 (Hans Böckler Stiftung).
264 Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit<br />
werkschaft selbst dabei in Misskredit gerät, und das würde letztlich nur den Kapitalisten<br />
nützen.<br />
Der Kampf gegen Entlassungen birgt aber auch ein großes politisches Potenzial,<br />
weil der Kapitalismus mit der schweren Krise 2009 erheblich an Akzeptanz<br />
verloren hat. Schon die Meldung von geplanten Entlassungen treibt den Aktienkurs<br />
eines Unternehmens in die Höhe, löst aber auf der anderen Seite eine wachsende<br />
Empörung aus. Das bietet die Chance für die Betroffenen, mit ihrem Widerstand<br />
die Öffentlichkeit zu mobilisieren und das Management unter politischen<br />
Druck zu setzen, weil es einen Imageschaden fürchten muss, der Kunden<br />
vertreibt und damit Geld kostet.<br />
Selbst wenn es nicht gelingt, eine Betriebsschließung zu verhindern, kann der<br />
Preis für den Eigentümer zugunsten der Betroffenen in die Höhe getrieben werden.<br />
Die Qualität eines Sozialplans mit oder ohne Transfergesellschaft hängt ausschließlich<br />
davon ab, wie groß der Druck ist, der ausgeübt wird. Das eigene<br />
Selbstwertgefühl und gewerkschaftliche Bewusstsein gewinnt durch einen<br />
Kampf in jedem Fall. In der oben erwähnten Studie zum Kampf gegen Betriebsschließungen<br />
heißt es in der Zusammenfassung:<br />
Politische Sprengkraft und eine wirkungsvolle Stärkung von Arbeitnehmerpositionen<br />
entstehen dann, wenn beide Seiten zusammenkommen: wenn Widerstand und Mobilisierung<br />
eine inhaltliche Perspektive erhalten und wenn alternative Produkt- und<br />
Produktionskonzepte nicht nur das Argument der ökonomischen Vernunft für sich,<br />
sondern auch eine kampfbereite Belegschaft und aufmerksame Öffentlichkeit hinter<br />
sich haben. 47<br />
Ob alternative Produkt- und Produktionskonzepte wirklich eine Perspektive<br />
sind, darf bezweifelt werden, solange die Spielregeln der kapitalistischen Konkurrenz<br />
weiter herrschen. Aber das Zusammenspiel vom Kampf einer Belegschaft<br />
und inhaltlicher Perspektive ist ein sehr wichtiger Hinweis, denn das kann<br />
auch eine Arbeitszeitverkürzung oder etwas anderes sein, wie die Forderung nach<br />
Vergesellschaftung. Diese gehörte sogar einmal zum Forderungskatalog des<br />
DGB.<br />
Die französische Regierung unter Präsident François Hollande hat angekündigt,<br />
ein Gesetz zum Verbot von Werksschließungen zu erlassen, solange das<br />
Unternehmen Gewinne macht. Dieser Plan geht auf ein Wahlversprechen zurück,<br />
an das er im Zusammenhang mit massiven Entlassungen von den Beschäftigten<br />
mit Nachdruck erinnert wurde. Das ist ein sehr weitgehender Eingriff in<br />
die Verfügungsgewalt eines Eigentümers, der zeigt, wie groß die Schritte sein<br />
können, zu denen eine Regierung sich gezwungen sieht, wenn der politische<br />
Druck von unten groß genug ist.<br />
47<br />
Ebenda, S. 59.
Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit 265<br />
Eine endgültige Lösung des Problems wird es im Kapitalismus nicht geben.<br />
Die Arbeitslosigkeit ist ein sehr zentrales Problem aber nicht das einzige, das<br />
durch Konkurrenz und das Streben nach Profit ausgelöst wird. Auch Umweltzerstörung,<br />
Krieg und anderes gehören dazu. Erst mit der Aufhebung der Profitwirtschaft<br />
im Sozialismus eröffnet sich eine Chance, die Widersprüche aufzulösen,<br />
die unsere Gesellschaft charakterisieren.<br />
Der Kampf um die Linderung der Folgen der kapitalistischen Konkurrenz ist<br />
die Voraussetzung, damit dafür das notwendige politische Bewusstsein entstehen<br />
kann.
Die Klassenkämpfe in<br />
Europa<br />
Joseph Choonara 1<br />
Die mittlerweile über ein halbes Jahrzehnt andauernde Krise des globalen Kapitalismus<br />
bestimmt nach wie vor die politische Situation in Europa und darüber<br />
hinaus. Doch gegen die Auswirkungen der Krise hat sich Widerstand formiert,<br />
dessen sichtbarster Ausdruck eine Serie von Generalstreiks in mehreren europäischen<br />
Ländern seit dem Jahr 2008 war.<br />
Die größte Anzahl an Generalstreiks hat Griechenland erlebt – 29 seit Beginn<br />
der Krise. Dennoch ist Griechenland, wenn es auch in vielerlei Hinsicht eine<br />
Ausnahme darstellt, Teil eines größeren Musters. In Spanien führten die Gewerkschaften<br />
im September 2010 einen Generalstreik durch, ein weiterer folgte<br />
im März 2012. In Portugal riefen die wichtigsten Gewerkschaftsverbände im<br />
November 2010 zum ersten Mal seit 22 Jahren zu einem gemeinsam koordinierten<br />
Generalstreik auf, ein noch größerer fand genau ein Jahr später im November<br />
2011 statt; ein dritter folgte im März 2012, eine Woche vor den Aktionen<br />
in Spanien.<br />
Am 14. November 2012 fanden schließlich das erste Mal seit dem Ende der<br />
Diktaturen in beiden Ländern koordinierte Generalstreiks statt. Etwa 80 Prozent<br />
der spanischen Intercity- und zwei Drittel aller Pendlerzüge fielen aus,<br />
dazu 600 Flüge; der Energieverbrauch sank um 20 Prozent, als die Arbeit in<br />
den Fabriken eingestellt wurde; davon betroffen waren auch multinationale<br />
Konzerne wie Danone und Heineken, die ihre Werke schließen mussten. Die<br />
Gewerkschaften berichteten von einer fast hundertprozentigen Befolgung der<br />
Streiks im Automobilsektor, im Schiffsbau und im Bauwesen; in Madrid und<br />
Barcelona gab es Demonstrationen und Straßenschlachten. In Portugal war die<br />
Streikbeteiligung im öffentlichen Dienst am höchsten. Postzustellungs- und<br />
Busdienste kamen zum Erliegen; 90 Prozent der U-Bahnen in Lissabon standen<br />
still; die Hälfte aller Flüge wurde gestrichen; zudem fanden am selben Abend 40<br />
Demonstrationen statt.<br />
1<br />
Aus dem Englischen von Jan-Peter Hermann und David Meienreis
268 Die Klassenkämpfe in Europa<br />
Die Aktionen auf der Iberischen Halbinsel bildeten das Zentrum eines europäischen<br />
Aktionstags, der seinen Niederschlag unter anderem in einem dreistündigen<br />
Streik in Griechenland fand sowie in einer vierstündigen Aktion des italienischen<br />
Gewerkschaftsverbands CGIL, bei der Schulen, Fabriken, Häfen und<br />
Verkehrsnetze stillgelegt und die von etwa 100 Einzelprotesten begleitet wurden;<br />
außerdem gab es Proteste in 130 französischen Städten und Demonstrationen<br />
und Streiks von Bahnarbeitern in Belgien, die in einigen Fällen sogar die Schienen<br />
besetzten.<br />
Isoliert für sich betrachtet könnten diese Auseinandersetzungen als bürokratische<br />
Massenstreiks interpretiert werden, damit einfache Arbeiter etwas »Dampf<br />
ablassen« – dabei aber wirkungslos bleiben und letztendlich ins Leere laufen. 2<br />
Zusammen betrachtet und besonders mit Blick auf die Spannungen, von denen<br />
sie durchzogen sind, können wir sie jedoch als das erkennen, was sie sind: Bestandteile<br />
eines sich entwickelnden Kampfzyklus, der eine reale Bedrohung für<br />
die Machthaber des europäischen Kapitalismus darstellen kann.<br />
Ein neuer Kampfzyklus<br />
Das Jahr 2011 markierte weltweit einen Wendepunkt. Der britische Marxist John<br />
Molyneux interpretierte in einem Artikel vom Juni desselben Jahres die aufkommenden<br />
Kämpfe wie folgt:<br />
Gegenwärtig gibt es international einen Aufschwung von Klassenkämpfen. Es fällt<br />
nicht ganz leicht, diese Art verallgemeinernde Aussage zu treffen, da die Kämpfe unterschiedlichen<br />
Niveaus sind und je nach Land unterschiedliche Formen annehmen.<br />
Im Jahr 2010 spielte Griechenland mit acht Generalstreiks und zahlreichen Großdemonstrationen<br />
und Straßenschlachten die Hauptrolle. Doch auch in Spanien und<br />
Portugal fanden Generalstreiks statt […] und in Frankreich gab es heftige Auseinandersetzungen<br />
über eine Rentenreform, während derer es zu Massenstreiks und riesigen<br />
Mobilisierungen auf der Straße mit bis zu 3,5 Millionen Menschen kam. In Island<br />
wurde die Regierung zu einem Referendum über das IWF-Rettungspaket gezwungen<br />
– und verlor […].<br />
Es folgte […] der Arabische Frühling, der die Kämpfe auf ein völlig neues Niveau<br />
hob. Die tunesische Revolution, die innerhalb eines Monats den seit 23 Jahren<br />
amtierenden Diktator Zine Ben Ali stürzte, führte direkt zur Revolution in<br />
Ägypten, die am 25. Januar [2011] begann und am 11. Februar die Herrschaft<br />
Husni Mubaraks beendete […]. Sie führte wiederum unmittelbar zu Aufständen<br />
2<br />
Siehe zum Beispiel Wall Street Journal, 2012, für eine besonders abschätzige Berichterstattung.<br />
Cliff, 1985, hat eine brillante Studie der verschiedenen Arten von Massenstreiks verfasst, einschließlich<br />
bürokratischer Massenstreiks, die Demonstrationen gewerkschaftlicher Macht darstellen,<br />
strikt von oben kontrolliert werden und wenig Raum für den Kampfgeist der Mitglieder bie -<br />
ten.
Die Klassenkämpfe in Europa 269<br />
in Libyen, Bahrain, Jemen und Syrien. Dann kam […] der 15. Mai in Spanien und<br />
die Besetzung der Puerta del Sol in Madrid. Die Proteste weiteten sich mit enormer<br />
Geschwindigkeit auf andere Städte wie Barcelona und Sevilla aus. […] Während<br />
ich dies schreibe, erhalte ich Nachricht von 50.000 bis 100.000 Menschen<br />
auf den Straßen Mailands, die die Niederlage Berlusconis in ihrer Stadt feiern,<br />
während in Ägypten am 27. Mai Hunderttausende auf der Straße waren und die<br />
Revolution weiter voranschreitet. 3<br />
Molyneux verglich diese Ereignisse mit vergangenen Zyklen von Arbeitskämpfen.<br />
Der erste Zyklus, im Jahr 1848, bestand aus einer Reihe von Aufständen in<br />
Frankreich, Deutschland, Ungarn, Griechenland, Italien, der Schweiz und in Österreich<br />
sowie den Massenmobilisierungen der Chartisten in Großbritannien.<br />
Der zweite war die revolutionäre Woge nach dem Ersten Weltkrieg: im Jahr 1917<br />
die russische Revolution, 1918 bis 1923 die deutsche Revolution und revolutionäre<br />
Bewegungen in Italien, Ungarn, Österreich und Finnland. Die dritte bestand<br />
aus den Rebellionen Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, darunter der<br />
französische Generalstreik von 1968, der italienische »heiße Herbst« von 1969,<br />
die Schlacht um Chile 1973 und die portugiesische Revolution von 1974, dazu<br />
die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung und eine Streikwelle in Großbritannien,<br />
die die Tory-Regierung zu Fall brachte. 4<br />
Ob der gegenwärtige globale Zyklus an seine Vorgänger heranreichen wird,<br />
bleibt abzuwarten. Sicherlich erleben wir bisher keine anhaltenden Arbeitskämpfe;<br />
die Aktionen in Europa sind eher Einzelereignisse, und selbst in Ägypten, wo<br />
eine Streikbewegung 2011 erheblich zum Sturz Mubaraks beitrug, sind der beständigste<br />
Faktor die Straßenproteste. 5 Dennoch hat sich die Lage deutlich verändert.<br />
Und ob dieser Prozess weitergeht, hängt davon ab, ob unsere Herrschenden<br />
einen Weg finden, die von ihnen gelenkten Gesellschaften zu stabilisieren und<br />
zumindest einen Teil derer zu schlagen, die sich ihnen widersetzen, um die übrigen<br />
unterwerfen zu können. Die Bewegungen mussten zwar Rückschläge hinnehmen,<br />
wurden aber im Allgemeinen nicht geschlagen, darüber hinaus ist die<br />
derzeitige Krise ein Faktor der gesellschaftlichen Destabilisierung und beschränkt<br />
den Handlungsspielraum unserer Herrschenden.<br />
Mit diesem Artikel soll den Spannungen und Komplexitäten des Widerstands<br />
nachgegangen werden, der sich in Westeuropa entwickelt hat. Zuvor ist es allerdings<br />
nötig, auf die Lehren früherer Widerstandszyklen einzugehen.<br />
3<br />
Molyneux, 2011.<br />
4<br />
Die gelungenste Darstellung der dritten Kampfwelle findet sich bei: Harman, 1998.<br />
5<br />
Eine exzellente Darstellung der Spannungen innerhalb der ägyptischen Revolution bietet: Marfleet,<br />
<strong>2013</strong>.
270 Die Klassenkämpfe in Europa<br />
Von der Krise zum Widerstand<br />
Die bekanntesten Kommentare von Karl Marx und Friedrich Engels zu dem<br />
Verhältnis von Krise und Widerstand waren Ergebnis ihrer Analyse der Revolutionen<br />
des Jahres 1848. Wenngleich diese Kämpfe letztlich zeigten, dass die Arbeiterklasse<br />
zunächst noch weiter anwachsen und sich entwickeln musste, ehe sie<br />
in der Lage sein würde, auf dem ganzen Kontinent eine Alternative zum Kapitalismus<br />
zu schaffen, waren dies zugleich Marx’ und Engels’ einzige direkte Erfahrungen<br />
mit einer Revolution. 6 In seiner Schrift Die Klassenkämpfe in Frankreich befasste<br />
sich Marx mit den größeren politischen Widersprüchen, die dem revolutionären<br />
Ausbruch den Boden bereiteten, doch er fügte hinzu, dass »zwei ökonomische<br />
Weltereignisse« den Reifeprozess beschleunigten:<br />
Die Kartoffelkrankheit und Mißernten von 1845 und 1846 steigerten die allgemeine Gärung<br />
im Volke. Die Teuerung von 1847 rief in Frankreich wie auf dem übrigen Kontinente<br />
blutige Konflikte hervor. Gegenüber den schamlosen Orgien der Finanzaristokratie<br />
– der Kampf des Volkes um die ersten Lebensmittel! […]<br />
Das zweite große ökonomische Ereignis, welches den Ausbruch der Revolution<br />
beschleunigte, war eine allgemeine Handels- und Industriekrise in England; schon Herbst<br />
1845 angekündigt […] eskalierte sie endlich Herbst 1847 […] Noch war die Nachwirkung<br />
dieser Krise auf dem Kontinent nicht erschöpft, als die Februarrevolution<br />
ausbrach. 7<br />
Im Jahr 1850, als die Revolutionen besiegt worden waren, hatte Marx schließlich<br />
gefolgert: »Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber<br />
auch ebenso sicher wie diese.« 8 Ähnlich schrieb Engels rückblickend in seiner Einleitung<br />
zu Die Klassenkämpfe in Frankreich im Jahr 1895, dass:<br />
die Welthandelskrise von 1847 die eigentliche Mutter der Februar- und Märzrevolutionen<br />
gewesen und daß die seit Mitte 1848 allmählich wieder eingetretene, 1849 und<br />
1850 zur vollen Blüte gekommene industrielle Prosperität die belebende Kraft der<br />
neuerstarkten europäischen Reaktion war. 9<br />
Die Vorstellung, dass der Klassenkampf auf ökonomische Ursachen zurückgeführt<br />
werden kann, war eine der intellektuellen Früchte der Analyse des ersten<br />
unserer drei großen Zyklen. 10 Es blieb einer späteren Generation Marxisten vorbehalten,<br />
eine umfassendere Darstellung des Verhältnisses von Krise und Widerstand<br />
zu entwickeln – vor allem denen, die mit der Dritten Internationale ver-<br />
6<br />
Siehe Nimtz, 2000, zu dem Beitrag der beiden Revolutionäre zum Revolutionsjahr 1848.<br />
7<br />
Marx, 1960, S. 15–16.<br />
8<br />
Marx, 1960, S. 98.<br />
9<br />
Engels, 1960, S. 512.<br />
10<br />
Siehe Engels, 1950, S. 510–511.
Die Klassenkämpfe in Europa 271<br />
bunden waren. 11 Der zweite revolutionäre Zyklus sollte Unmengen Rohmaterial<br />
dafür liefern. Anfang des Jahres 1921 musste der dritte Kongress der Komintern<br />
nach der revolutionären Woge vom Ende des Ersten Weltkriegs die teilweise Restabilisierung<br />
Europas unter kapitalistischer Herrschaft feststellen. Zwar gab es<br />
1919/1920 einen Wirtschaftsaufschwung, doch folgte schnell darauf die Krise,<br />
die Ende 1920 begann und bis Herbst 1921 anhielt. Auf dem Kongress versuchte<br />
Leo Trotzki die Aussichten für einen erneuten Kampf einzuschätzen. Er zitierte<br />
Marx’ und Engels’ Kommentare zu 1848, warnte allerdings vor der Versuchung,<br />
daraus ein mechanisches Verhältnis zwischen Krise und Widerstand abzuleiten:<br />
Es wäre […] höchst einseitig und völlig falsch, diese Einschätzungen in dem Sinne<br />
zu bewerten, dass eine Krise unvermeidlich revolutionäres Handeln erzeugt, während<br />
im Gegensatz dazu ein Wirtschaftsaufschwung die Arbeiterklasse pazifiert. Die<br />
Revolution von 1848 wurde nicht aus der Krise geboren. Letztere gab nur den letzten<br />
Anstoß. Die Revolution war dem Wesen nach aus dem Widerspruch zwischen<br />
den Erfordernissen der kapitalistischen Entwicklung und den Fesseln eines halbfeudalen<br />
Staatssystems hervorgegangen. Die unentschlossene und halbherzige Revolution<br />
von 1848 fegte dennoch die Überreste des Zunftregimes und der Leibeigenschaft<br />
hinfort und erweiterte dabei den Rahmen der kapitalistischen Entwicklung. Unter<br />
diesen Umständen, und allein unter diesen Umständen, kennzeichnete der Aufschwung<br />
von 1851 den Beginn einer gesamten Epoche kapitalistischer Prosperität,<br />
die bis zum Jahr 1873 anhielt. 12<br />
Als Erstes hebt Trotzki hervor, dass der allgemeine Charakter der jeweiligen Zeit<br />
zu beachten ist. »Hier geht es nicht darum, ob eine Hebung der Konjunktur<br />
möglich ist, sondern ob die Schwankungen sich um eine auf- oder absteigende<br />
Kurve bewegen.« 13<br />
Die Zyklen aus Auf- und Abschwung sind ein dem Kapitalismus innewohnendes<br />
Merkmal, doch das System weist zugleich Langzeittendenzen auf, die die Rezessionen<br />
zunehmend heftiger und die Aufschwünge kurzlebiger ausfallen lassen.<br />
Im Gegensatz dazu kann es auch Phasen allgemeinen Wohlstands geben, in denen<br />
der Niedergang die Form einer leichten Verlangsamung oder eines Rückgangs<br />
der Produktion annimmt. Der anhaltende Aufschwung in der Folge des<br />
Zweiten Weltkrieges war eine solche Phase. In einer Depressionsphase wäre »die<br />
Bourgeoisie genötigt, der Arbeiterklasse verstärkt die Daumenschrauben anzulegen«.<br />
14<br />
11<br />
Die Dritte Internationale, Komintern oder Kommunistische Internationale war die internationale<br />
Gruppierung revolutionärer Sozialisten, die im Jahr 1919 von den Bolschewiki ins Leben gerufen<br />
wurde. Einen kurzen Überblick bietet Hallas, 1985.<br />
12<br />
Trotsky, 1973 a, S. 259.<br />
13<br />
Trotsky, 1973 a, S. 259–260.<br />
14<br />
Trotsky, 1973 a, S. 261.
272 Die Klassenkämpfe in Europa<br />
Die Abwehrkämpfe, die das nach sich zieht, würde den Revolutionären erlauben,<br />
mittels der Einheitsfrontpolitik, die schon bald darauf von der Komintern<br />
angenommen wurde, neue Flügel der Arbeiterklasse zu erreichen. 15 In dieser<br />
Phase käme es aber zu weiteren drastischen Veränderungen in der Wirtschaftslage,<br />
und Revolutionäre müssten deren Bedeutung begreifen: »Weder Verelendung<br />
noch wachsender materieller Wohlstand können für sich genommen eine Revolution<br />
auslösen. Sehr wohl aber der Wechsel zwischen Wohlstand und Verelendung,<br />
die Krisen, die Unsicherheit, die Abwesenheit von Stabilität – das sind die<br />
treibenden Faktoren für die Revolution.« 16<br />
Trotzkis Anliegen in dieser Auseinandersetzung war es, den folgenden Standpunkt<br />
zu verteidigen: »Im Allgemeinen steht die proletarische revolutionäre Bewegung<br />
nicht in einer zwangsläufigen Abhängigkeit zu einer Krise. Es gibt lediglich<br />
eine dialektische Wechselwirkung.« 17 Mit einem Beispiel aus Russland begegnete<br />
er der vereinfachenden Interpretation der Kommentare Marx ʼ und Engelsʼ<br />
zu den Ereignissen von 1848:<br />
Die Revolution von 1905 war geschlagen worden. Die Arbeiter mussten große Opfer<br />
bringen. In den Jahren 1906 und 1907 gab es ein letztes revolutionäres Aufflackern<br />
und im Herbst 1907 brach eine schwere Weltwirtschaftskrise aus. Der Vorbote war<br />
der Schwarze Freitag an der Wall Street. In den Jahren 1907 und 1908 und 1909<br />
herrschte auch in Russland eine verheerende Krise. Sie versetzte der Bewegung den<br />
Todesstoß, weil die Arbeiter bereits während der Kämpfe schwer gelitten hatten,<br />
weshalb sie sich durch diese Depression nur noch gedrückter fühlen konnten. […]<br />
In den Jahren 1910, 1911 und 1912 verbesserte sich die wirtschaftliche Lage und es<br />
setzte ein industrieller Aufstieg ein, der das demoralisierte und erschöpfte Proletariat,<br />
das allen Mut verloren hatte, zu neuem Leben erweckte und zusammenschweißte.<br />
Erneut begriffen die Arbeiter, welch eine entscheidende Stellung sie im Produktionsprozess<br />
einnahmen; und sie gingen zur Offensive über, zunächst auf dem Feld der<br />
Wirtschaft und dann auf dem politischen Feld. 18<br />
Die Gestalt der Krise<br />
Wenn nach Trotzkis Analyse die allgemeine Gestalt der Krise so entscheidend ist,<br />
was sagt uns das dann über die aktuelle Situation? Die Krise, die 2007/08 einsetzte,<br />
ist nicht einfach Teil des Aufschwung-Abschwung-Zyklus und auch nicht<br />
bloß das Resultat einer Störung im Finanz- und Bankenwesen. Wie die Rezession<br />
in den 1930er Jahren ist auch die aktuelle Krise das Resultat eines langfristigen<br />
15<br />
Die Einheitsfront beinhaltete, dass Revolutionäre den reformistischen Anführern und den Arbeitern,<br />
die ihrer Führung weiterhin treu folgten, Angebote für gemeinsame Initiativen machten,<br />
ohne dabei ihre politische Unabhängigkeit aufzugeben. Siehe Trotzki, 1989.<br />
16<br />
Trotsky, 1973 b, S. 285–286.<br />
17<br />
Trotsky, 1973 a, S. 261.<br />
18<br />
Trotsky, 1973 a, S. 261–262.
Die Klassenkämpfe in Europa 273<br />
Falls der Profitrate – in diesem Fall in den Jahrzehnten nach Ende des Zweiten<br />
Weltkrieges, der bis in die 1980er Jahre anhielt und in den folgenden Jahren bis<br />
heute nicht umgekehrt werden konnte.<br />
Dieser Fall resultiert daraus, dass die Akkumulation »toter Arbeit« (Investitionen<br />
in Maschinen, Rohstoffe usw.) tendenziell schneller wächst als die Menge der<br />
vom System beschäftigten »lebendigen Arbeit« (LohnarbeiterInnen). Wenn, wie<br />
Marx argumentierte, lebendige Arbeit die Quelle des Mehrwerts ist, aus dem der<br />
Profit generiert wird, dann gerät die Rentabilität aufgrund des wachsenden Anteils<br />
toter im Verhältnis zur lebendigen Arbeit auf lange Sicht unter Druck. 19<br />
Diese Tendenz impliziert weder eine »finale Krise« des Kapitalismus noch eine<br />
Theorie von seinem »Zusammenbruch«, sondern vielmehr, dass ein Punkt erreicht<br />
werden kann, an dem eine neue Wachstumsphase die Zerstörung oder<br />
Entwertung von Kapital in gigantischem Ausmaß voraussetzt. Es sind »Krisen,<br />
in denen durch momentane Einstellung der Arbeit und die Vernichtung eines<br />
großen Teils des Kapitals das letztere gewaltig reduziert wird bis zu dem Punkt,<br />
von welchem aus es weiter kann, in der Lage ist, seine Produktivkräfte voll anzuwenden,<br />
ohne Selbstmord zu verüben.« 20<br />
Allein das Ausmaß der Kapitaleinheiten, die das System ausmachen, und die<br />
Art und Weise ihrer Verflechtung miteinander, mit dem Finanzsystem und dem<br />
Staat macht eine solche Bereinigung des Kapitalismus heutzutage zu einem sehr<br />
traumatischen und riskanten Unterfangen. Die Verwalter des Systems sehen deshalb<br />
ihr Heil in der Rettung von Unternehmen und staatlichen Eingriffen, um<br />
der Krise Herr zu werden. Allerdings kann gerade das die Krise noch verlängern.<br />
21<br />
In Europa ist die Krise besonders akut, weil sie vermittelt über die gemeinsame<br />
Währung der Euroländer wirkt. Die Einführung des Euro erlaubte schwächeren<br />
Volkswirtschaften wie Portugal, Spanien und Griechenland Zugang zu billigen<br />
Kreditströmen, oftmals von Banken stärkerer Volkswirtschaften wie Deutschland<br />
oder Frankreich. Der Angriff auf die Löhne der Beschäftigten in Deutschland<br />
führte zu einem relativen Anstieg der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Exporte,<br />
und die daraus resultierenden Leistungsbilanzdefizite der schwächeren<br />
Volkswirtschaften wurden durch wachsende Verschuldung finanziert, ein Großteil<br />
in Form von Staatsverschuldung. Nach Ausbruch der Krise vergrößerte sich<br />
dieses Ungleichgewicht noch. Die Mischung einerseits aus der Sparpolitik, die<br />
diesen Ländern als Gegenleistung für Rettungspakete des IWF, der EZB und der<br />
19<br />
Wer mit Marx’ Theorie vom tendenziellen Fall der Profitrate nicht vertraut ist, dem sei Harman,<br />
2007, empfohlen.<br />
20<br />
Marx, 1983 b, S. 662.<br />
21<br />
Dies ist die Zusammenfassung einer Darstellung, die ich bereits in Choonara, 2009, 2011, 2012,<br />
vorgebracht habe. Ähnlich auch: Callinicos, 2010; Carchedi, 2011; Harman, 2009; Kliman, 2011.
274 Die Klassenkämpfe in Europa<br />
Europäischen Union auferlegt wurde und das Wachstum weiter schwächt, und<br />
andererseits dem Vorgehen der Anleihemärkte, die die Zinsraten auf ein unhaltbares<br />
Niveau hochgetrieben haben, hat die Schuldenkrise weiter verschärft. 22<br />
Nach dieser Analyse stehen wir vor einer Krise, die sowohl tief als auch lang<br />
anhaltend und in der Eurozone von hoher Instabilität begleitet ist. Wegen der<br />
langen Dauer der Krise kann es verschiedene Phasen geben, die jeweils von politischen<br />
Verschiebungen begleitet sind und auch zu Veränderungen im Bewusstsein<br />
der Arbeiter führen – die von Trotzki diskutierte »Abwesenheit von Stabilität«.<br />
Bedingungen für den Aufstand<br />
Es sind nicht einfach die materiellen Umstände der unteren Schichten der Gesellschaft,<br />
die bestimmen, ob eine Krise in Widerstand umschlägt. Lenin sagte<br />
über die Bedingungen für eine Revolution: »Erst dann, wenn die ›Unterschichten‹<br />
das Alte nicht mehr wollen und die ›Oberschichten‹ in der alten Weise nicht mehr<br />
können, erst dann kann die Revolution siegen.« 23 Was hier für Revolutionen gilt,<br />
trifft auch im allgemeineren Sinne auf unterschiedliche Kämpfe zu. Antonio<br />
Gramsci kann wohl als der Marxist gelten, der am besten die Bedingungen erfasste,<br />
unter denen die herrschende Klasse den begrenzten Konsens herstellen<br />
kann, auf den sie zur Herrschaftsausübung angewiesen ist, ohne ausschließlich<br />
auf Repression zurückgreifen zu müssen:<br />
Durch die eigene Weltauffassung gehört man immer zu einer bestimmten Gruppierung,<br />
und genau zu der aller gesellschaftlichen Elemente, die ein- und dieselbe<br />
Denk- und Handlungsweise teilen. Man ist Konformist irgendeines Konformismus,<br />
man ist immer Masse-Mensch oder Kollektiv-Mensch. […] Wenn die Weltauffassung<br />
nicht kritisch und kohärent, sondern zufällig und zusammenhanglos ist, gehört man<br />
gleichzeitig zu einer Vielzahl von Masse-Menschen, die eigene Persönlichkeit ist auf<br />
bizarre Weise zusammengesetzt: es finden sich in ihr Elemente des Höhlenmenschen<br />
und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteile aller<br />
vergangenen, lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen<br />
Philosophie, wie sie einem weltweit vereinigten Menschengeschlecht zueigen<br />
sein wird. 24<br />
Die Kombination dieser zwei widersprüchlichen Konzeptionen der Welt kann<br />
bei der Arbeiterschaft zu einem gewissen Maß an Lähmung und Passivität führen,<br />
doch ist das keine statische Angelegenheit. Im selben Abschnitt seiner Gefängnishefte<br />
unterscheidet Gramsci zwischen den »normalen Zeiten« und den<br />
22<br />
Viele der Details werden von Lapavitsas u. a., 2012, behandelt, obwohl die Autoren mit meiner<br />
Einordnung der Probleme in eine langfristige Krise der Rentabilität nicht übereinstimmen.<br />
23<br />
Lenin, 1983, S. 71.<br />
24<br />
Gramsci, 1994, S. 1376.
Die Klassenkämpfe in Europa 275<br />
anormalen. 25 Anhaltende Krisenzeiten können die Kohärenz der Ideen der Herrschenden<br />
zersetzen, wie auch die Ideen des »Alltagsverstands«, die Arbeiterinnen<br />
und Arbeiter für eine Weile unkritisch übernehmen und die nun Platz machen<br />
für einen »gesunden Menschenverstand«, der der Erfahrung der Solidarität und<br />
kollektiven Aktivität entspringt.<br />
Ein Merkmal der gegenwärtigen Phase war die politische Radikalisierung der<br />
Bevölkerung, nicht nur der Arbeiterklasse, sondern auch anderer von Unterdrückung<br />
betroffener Schichten wie Studierende oder Arbeitslose, was sich oft in<br />
heftigen Protesten Bahn bricht. Die Entstehung der Occupy-Bewegung im Jahr<br />
2011 ist ein wichtiges solches Symptom, und solche Bewegungen können mit<br />
Kämpfen der Arbeiterschaft zusammenfließen und ihnen weitere Anstöße geben.<br />
26<br />
Eine Krise führt nicht nur zur Zersetzung der Kohärenz der in einer Gesellschaft<br />
herrschenden Ideen, sondern auch zu Spaltungen innerhalb der herrschenden<br />
Klasse selbst, weil der Kapitalismus ein System der konkurrierenden Akkumulation<br />
ist. Marx sagte dazu:<br />
Solange alles gut geht, agiert die Konkurrenz, wie sich bei der Ausgleichung der allgemeinen<br />
Profitrate gezeigt, als praktische Brüderschaft der Kapitalistenklasse […].<br />
Sobald es sich aber nicht mehr um Teilung des Profits handelt, sondern um Teilung<br />
des Verlustes, sucht jeder soviel wie möglich sein Quantum an demselben zu verringern<br />
und dem andern auf den Hals zu schieben. […] Wieviel aber jeder einzelne davon<br />
zu tragen, wieweit er überhaupt daran teilzunehmen hat, wird dann Frage der<br />
Macht und der List, und die Konkurrenz verwandelt sich dann in einen Kampf der<br />
feindlichen Brüder. 27<br />
Eine Krise kann zu Spaltungen zwischen Kapitalisten führen oder auch zwischen<br />
verschiedenen Sektionen der Kapitalistenklasse oder zwischen Nationalstaaten,<br />
in denen bestimmte Kapitalisten ihren Sitz haben, während rivalisierende Gruppierungen<br />
darüber streiten, wer die Kosten der Krise zu tragen hat und welche<br />
Strategien zu verfolgen sind, um ihr zu entgehen. Dabei handelt es sich nicht einfach<br />
um ökonomische Spannungen. Wie Lenin sagte: »Die Politik ist der konzentrierte<br />
Ausdruck der Ökonomik.« 28<br />
Ein weiteres Ergebnis der Krise ist die politische Fragmentierung. Die Eurozone,<br />
in der die Probleme sich als besonders hartnäckig erwiesen haben, stellt ein<br />
Paradebeispiel für solche Spaltungen dar, wo Auseinandersetzungen zwischen<br />
der deutschen und der französischen Regierung, den Regierungen schwächerer<br />
Länder der Eurozone, der EZB und der Bundesbank und so fort mit schöner<br />
25<br />
Gramsci, 1994, S. 1378.<br />
26<br />
Siehe Jones, 2012, für eine detaillierte Diskussion<br />
27<br />
Marx, 1983 a, S. 263–264.<br />
28<br />
Lenin, 1988, S. 73.
276 Die Klassenkämpfe in Europa<br />
Regelmäßigkeit stattfinden. Wir werden wohl eine weitere Zunahme der Spannungen<br />
zwischen einzelnen nationalen herrschenden Klassen erleben. In diesem<br />
Sinne kann eine Krise der Entstehung kohärenterer politischer und ideologischer<br />
Alternativen den Boden bereiten. 29<br />
Politische Polarisierung<br />
Die politischen Turbulenzen und in manchen Fällen die scharfe politische Polarisierung,<br />
die sich in vielen Teilen Europas beobachten lässt, sind ein weiteres<br />
Symptom. Wo die Rezepte der Parteien der Mitte versagen und die von ihnen angebotenen<br />
Reformen in steigendem Maße wieder zurückgenommen werden,<br />
kann eine Stimmung entstehen, in der radikalere Alternativen von rechts oder<br />
von links realistischer erscheinen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die bürgerlichen<br />
Parteien über Nacht verschwinden; in vielen Ländern sind noch immer Mitte-rechts-<br />
oder Mitte-links-Parteien an der Macht. Dennoch gibt es in vielen Fällen<br />
Anzeichen für das Aufkommen radikalerer Kräfte und einer schärferen Polarisierung<br />
im Verlauf der Krise.<br />
Die extreme Rechte ist in vielen europäischen Ländern gewachsen. In Griechenland<br />
erhielt Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte), eine offen neonazistische<br />
Organisation, im Juni 2012 7 Prozent der Stimmen bei den Wahlen. In Frankreich<br />
gewann im letzten Jahr Marine Le Pen von der Front National (FN) 6,4<br />
Millionen Stimmen bei den Präsidentschaftswahlen. Dieser Ausdruck des Erstarkens<br />
der extremen Rechten auf parlamentarischer Ebene wird zum Teil begleitet<br />
von gewalttätigen Straßenaufmärschen und rassistischen Angriffen.<br />
Auf der Seite der Linken haben bisher hauptsächlich die traditionellen reformistischen<br />
Parteien profitiert, vor allem dort, wo sie seit Längerem nicht an der<br />
Macht waren. Der Wahlsieg von François Hollande bei den französischen Präsidentschaftswahlen<br />
ist ein Beispiel dafür. Und auch in Großbritannien hat die Labour<br />
Party verstärkt Unterstützung erfahren, seit sie in der Opposition ist, obwohl<br />
sie lediglich eine leicht verwässerte Version des Sparprogramms der regierenden<br />
Koalition anzubieten hat. Aber auch wenn die traditionellen reformistischen<br />
Parteien in den vergangenen Jahrzehnten allgemein nach rechts rückten<br />
und ihre Verbindungen zu den Gewerkschaften schwächer geworden sind, haben<br />
sie noch lange nicht ihre Verbindung zur Arbeiterklasse eingebüßt.<br />
Wo sie eine scheinbar weniger bösartige Sparpolitik anbieten, können sie immer<br />
noch auf Unterstützung zählen. Dennoch wird der Raum links der Parteien<br />
in einigen Fällen von radikaleren Kräften gefüllt. In Frankreich erhielt Jean-Luc<br />
29<br />
Ich konzentriere mich hier auf die Wirtschaftskrise, allerdings könnte eine tiefgreifende politische<br />
Krise, beispielsweise durch einen verheerenden Krieg, dieselben Auswirkungen nach sich<br />
ziehen.
Die Klassenkämpfe in Europa 277<br />
Mélenchon mit seinem Antisparkurs und einer antirassistischen Kampagne in der<br />
ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 11 Prozent der Wählerstimmen. In<br />
Spanien stand die von den Kommunisten angeführte Izquierda Unida (Vereinigte<br />
Linke) im Sommer 2012 in Umfragen bei 13 Prozent, während sie im November<br />
im Bündnis mit einer weiteren linken »ökosozialistischen« Partei die Anzahl ihrer<br />
Vertreter im katalanischen Parlament von 10 auf 13 erhöhen konnte, als sie 9,9<br />
Prozent bei den Regionalwahlen gewann. In Griechenland tritt dieses Muster am<br />
spektakulärsten zutage, wo das sehr linke Bündnis Syriza bei den Wahlen im Juni<br />
2012 fast 27 Prozent der Stimmen erhielt; seit den 1970er Jahren hat keine so<br />
weit links stehende Partei in Europa ein so hohes Ergebnis erzielt.<br />
Die linksreformistischen Kräfte haben verschiedene Wurzeln. Mélenchons<br />
Front de Gauche vereinigt die französische Kommunistische Partei und eine linke<br />
Abspaltung der Sozialistischen Partei sowie Abtrünnige der radikallinken<br />
Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA); Syriza vereinigt die meisten aus der Kommunistischen<br />
Partei Griechenlands hervorgegangenen eurokommunistischen<br />
Elemente sowie einige radikallinke Gruppierungen. Die niederländische Sozialistische<br />
Partei, die 15 Parlamentssitze bei den Wahlen im September 2012 gewann,<br />
begann einst als maoistische Organisation, bevor sie Mitte der 1990er Jahre ihren<br />
Durchbruch erlebte und breitere Unterstützerkreise unter Gegnerinnen und<br />
Gegnern des Neoliberalismus anziehen konnte. Was sie alle gemeinsam haben,<br />
ist ihre Fähigkeit, die etablierten linken Parteien durch Ablehnung des allgemein<br />
herrschenden Sparkonsenses herauszufordern. Sie sind trotz alledem aber linksreformistisch.<br />
30 Sie spiegeln den Kampf von unten wider oder zumindest das Streben<br />
nach einer solchen Bewegung, aber ihnen schwebt eine Transformation des<br />
kapitalistischen Systems mithilfe der existierenden staatlichen Strukturen, teilweise<br />
auch der Strukturen der Eurozone, vor. Wie Alexis Tsipras, der Chef von Syriza,<br />
neulich der US-amerikanischen liberalen Brookings Institution verriet: »Syrizas<br />
radikale Positionen haben nichts mit einer Herauslösung Griechenlands aus<br />
der Eurozone zu tun. Und wenn es uns nicht um eine geplante Auflösung unserer<br />
Vereinbarungen mit der Eurozone geht, was ist dann mit ›radikallinks‹ gemeint?<br />
Es bedeutet, dass wir in der Regierung für radikale Reformen bereit sind,<br />
um ein stabiles Umfeld für Gerechtigkeit, die Umverteilung von Reichtum und<br />
für Investitionen zu schaffen.« 31<br />
Nichtsdestotrotz kann die radikale Linke es sich nicht leisten, das Aufkommen<br />
solcher Strömungen zu ignorieren; ihr Erfolg kann das Selbstbewusstsein und die<br />
Erwartungen der Arbeiterklasse durchaus steigern und die politische Stimmung<br />
insgesamt nach links verschieben. Wer glaubt, dass die Arbeiterklasse nach dem<br />
Beginn von Kämpfen automatisch ihren alten Organisationen den Rücken kehrt<br />
30<br />
Siehe Callinicos, 2012 a.<br />
31<br />
Tsipras, <strong>2013</strong>, S. 13–14.
278 Die Klassenkämpfe in Europa<br />
und den revolutionären Parteien zuströmt, die übrigens in ganz Europa winzig<br />
klein sind, unterliegt einem Irrtum. Was Trotzki in Bezug auf die russische Revolution<br />
schrieb, trifft allgemein auch auf Phasen verstärkter Kämpfe zu:<br />
Der grundlegende politische Prozess der Revolution besteht eben in der Erfassung<br />
der sich aus der sozialen Krise ergebenden Aufgaben durch die Klasse und der aktiven<br />
Orientierung der Masse nach der Methode sukzessiver Annäherungen. Die einzelnen<br />
Etappen des revolutionären Prozesses, gefestigt durch die Ablösung der einen<br />
Parteien durch andere, immer extremere, drücken das anwachsende Drängen der<br />
Massen nach links aus, bis der Schwung der Bewegung auf objektive Hindernisse<br />
prallt. 32<br />
Oftmals sind es im Laufe einer Krise aufkommende politische Faktoren, die zum<br />
Mitauslöser von Kämpfen werden. Das gilt zweifellos für die Arbeitskämpfe in<br />
der Depression der 1930er Jahre. Der große Aufschwung an Streikaktivitäten in<br />
den USA fand in den Jahren 1933/34 statt, einige Jahre nach dem Crash an der<br />
Wall Street. Nach einer Zeit der Demoralisierung und Passivität brachen plötzlich<br />
wilde Arbeitskämpfe aus, die schließlich in den drei großen Streiks von 1934<br />
in Toledo (Automobilindustrie), Minneapolis (Lastkraftfahrer) und San Francisco<br />
(Hafenarbeiter) gipfelten, welche wiederum das Kräfteverhältnis im Klassenkampf<br />
zugunsten der Arbeiter verschoben.<br />
Der Hintergrund war der weit verbreitete Glaube, die Weltwirtschaftskrise sei<br />
an ihr Ende gekommen. Doch Arbeiter gewannen auch Selbstbewusstsein, als<br />
die Politik des New Deals der Regierung Roosevelt eine Woge gewerkschaftlicher<br />
Organisierung auslöste. 33 Auch in Frankreich, das seit dem Jahr 1931 ebenfalls<br />
eine tiefe Wirtschaftskrise durchmachte, brachen fünf Jahre später, nach einer<br />
sich zuspitzenden politischen Polarisierung, Kämpfe aus. Die Arbeiter, meist glühende<br />
Verfechter einer Einheit gegen die faschistische Bedrohung, begrüßten<br />
den Wahlsieg der von Sozialisten und Kommunisten unterstützten Volksfrontregierung<br />
im Jahr 1936 mit einer Reihe von Streiks und Fabrikbesetzungen. 34 In<br />
beiden Fällen ging die Radikalisierung der Arbeiter deutlich über die Politik hinaus,<br />
die ursprünglich zur Mobilisierung beigetragen hatten.<br />
Wie steht es um die Arbeiterklasse?<br />
Wenn sich das Bewusstsein der Arbeitermassen verändert, heißt das nicht nur,<br />
dass die Ideen der herrschenden Klasse in sich zusammenfallen oder das Establishment<br />
in eine politische Krise gerät; es kristallisieren sich auch aus der praktischen<br />
Aktivität der Arbeiter ein neues Bewusstsein und neue Organisationsfor-<br />
32<br />
Trotsky, 1960, S. 12.<br />
33<br />
Newsinger, 2009, S. 69–71.<br />
34<br />
Danos und Gibelin, 1982.
Die Klassenkämpfe in Europa 279<br />
men heraus. Deshalb ist es von großer Bedeutung, in welcher Verfassung sich die<br />
Arbeiterklasse zum Zeitpunkt des Beginns einer Krise, in deren Verlauf sie mehr<br />
oder weniger Selbstbewusstsein für den Kampf entwickelt, befindet. Trotzki sagte<br />
dazu: »Die Auswirkungen einer Krise […] sind von der politischen Gesamtsituation<br />
und von den Ereignissen, die der Krise vorausgehen und sie begleiten,<br />
bestimmt, insbesondere den Kämpfen, Erfolgen oder dem Scheitern der Arbeiterklasse<br />
im Vorfeld der Krise.« 35<br />
Allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine festgefügte Arbeiterklasse, die<br />
an Selbstbewusstsein gewinnt oder zunehmend besser organisiert ist. Mit der regelmäßig<br />
stattfindenden Umstrukturierung des Kapitalismus werden alte Hochburgen<br />
der Arbeiterklasse geschleift und neue Arbeiter in neue Bereiche hineingezogen.<br />
Es erfordert meistens Zeit und das Sammeln von Erfahrungen mit Arbeitskämpfen,<br />
damit solche Arbeiterschichten das für den kollektiven Kampf<br />
nötige Selbstbewusstsein und den Organisationsgrad erreichen und damit auch<br />
noch vorhandene ältere Gruppen wieder Selbstbewusstsein schöpfen.<br />
Der dritte unserer Kampfzyklen, der Ende der 1960er Jahren begann, folgte einer<br />
langen Wachstumsphase, die in vielen fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten<br />
zur Entstehung und Entwicklung neuer Klassenkräfte geführt hatte – oft als<br />
Ergebnis lokaler und spartenbezogener Kämpfe für bessere Löhne oder Arbeitsbedingungen,<br />
in denen Kapitalisten und Regierungen häufig klein beigaben. In<br />
Großbritannien waren in der Phase vor 1972 etwa 95 Prozent aller Streiks »wilde«<br />
Streiks und ein eindrückliches Beispiel für den »Do it yourself«-Reformismus,<br />
wie der britische Sozialist Tony Cliff es nannte. In Frankreich kam es in den zwei<br />
Jahren vor dem Generalstreik des Jahres 1968 zu »Arbeitskämpfen begleitet von<br />
schweren Auseinandersetzungen« und »Warnstreiks bis zu eintägigen Generalstreiks«,<br />
die vom Gewerkschaftsbund CGT organisiert wurden. Die Zahl der<br />
Streiktage stieg von knapp unter einer Million im Jahr 1965 auf über vier Millionen<br />
schon im Jahr 1967. 36<br />
Trotz dieser Anzeichen setzten viele zeitgenössische Kommentatoren das Fehlen<br />
revolutionärer Aufstände wie in den Zwischenkriegsjahren mit der mangelnden<br />
Fähigkeit der Arbeiter gleich, die Gesellschaft zu verändern. Die neuen<br />
»Wohlstandsarbeiter« der Autofabriken und ähnlicher Industrien waren angeblich<br />
mehr daran interessiert, Konsumgüter zu erwerben, als zu streiken. Der linke<br />
französische Theoretiker André Gorz erklärte bekanntermaßen im Frühjahr<br />
1968, dass es »in absehbarer Zukunft keine so dramatische Krise des europäischen<br />
Kapitalismus geben wird, die Massen von Arbeitern in revolutionäre Generalstreiks<br />
treiben könnte«. 37 Doch als die entstehenden Klassenkräfte mit ei-<br />
35<br />
Trotsky, 1974, S. 76.<br />
36<br />
Cliff, 1985.<br />
37<br />
Zitiert in Harman, 2008, S. 18.
280 Die Klassenkämpfe in Europa<br />
nem System zusammenprallten, das ab Ende der 1960er Jahre nicht länger in der<br />
Lage war, den gestiegenen Erwartungen zu entsprechen, brach sich das in den<br />
langen Jahren des Aufschwungs entstandene Potenzial für einen revolutionären<br />
Ausbruch Bahn. Erst Ende der 1970er Jahre konnten sich die bürgerlichen Institutionen<br />
weitgehend wieder festigen, sozialdemokratische und stalinistische Organisationen<br />
machten sich daran, die Radikalität einzufangen und in kontrollierbare<br />
Kanäle zu lenken, und der revolutionäre Aufschwung konnte wieder eingedämmt<br />
werden. 38<br />
Der Vorlauf zu der gegenwärtigen Krise gestaltete sich jedoch völlig anders<br />
und war keineswegs eine Zeit des Aufschwungs oder ein »goldenes Zeitalter« des<br />
Reformismus. Doch auch hier haben sich neue Klassenkräfte entwickelt, die all<br />
die Pessimisten in Verwirrung stürzen, die Arbeitskämpfe schon zu einer Sache<br />
der Vergangenheit erklärt hatten. Ein bemerkenswertes Beispiel ist die besondere<br />
Rolle der öffentlich Beschäftigten in den gegenwärtigen europäischen Streiks.<br />
Moderne kapitalistische Gesellschaften beruhen nicht einfach nur auf der direkten<br />
Ausbeutung produktiver Arbeiterinnen und Arbeiter zur Erzeugung von Profit,<br />
sondern benötigen auch den Zugriff auf eine Vielzahl »unproduktiver« Arbeitskräfte,<br />
um ihren Bedarf an produktiven Arbeitskräften zu decken. Die Kapitalisten<br />
benötigen ein Gesundheits- und Bildungssystem, um im Konkurrenzkampf<br />
der globalen Arbeitsteilung durch die Ausbeutung qualifizierter, relativ<br />
gesunder und verlässlicher Arbeiter bestehen zu können. Die Infrastruktur und<br />
das sichere Umfeld, das Regierungen zur Verfügung stellen, sind für Kapitalisten<br />
ebenso wichtig wie die öffentlich Bediensteten, die die Steuern eintreiben und<br />
zum Funktionieren des gesamten Systems beitragen.<br />
Die Tatsache der Ausweitung des öffentlichen Dienstes und des Dienstleistungssektors<br />
im Allgemeinen bedeutet nicht, dass wir den Mythos von der umfassenden<br />
»Deindustrialisierung« glauben müssen. Der Großteil der Industrieproduktion<br />
befindet sich nach wie vor in den wohlhabenden OECD-Ländern,<br />
wenn sie heute auch mit weniger Arbeitern stattfindet. Aufgrund der in den letzten<br />
Jahrzehnten gestiegenen Produktivität können tatsächlich relativ kleine<br />
Gruppen von Arbeitern, die vielleicht auch noch in multinationale Produktionsnetze<br />
eingebunden sind, unverhältnismäßig großen Einfluss auf kapitalistische<br />
Profite nehmen. Zugleich hat es auch eine Zunahme von Arbeitsplätzen im<br />
Dienstleistungsbereich gegeben mit derselben Art Schinderei und Ausbeutung<br />
wie im produktiven Sektor – und damit ist auch dasselbe Organisationspotenzial<br />
entstanden.<br />
38<br />
Harman, 1979. Wie Harman betont, war hier auch ein subjektiver Faktor am Werk, nämlich das<br />
Versagen der revolutionären Linken in ganz Europa, als es darum ging, den Arbeiterbewegungen<br />
eine kohärente politische Alternative zu bieten.
Die Klassenkämpfe in Europa 281<br />
In vielen Ländern konnte sich angesichts des anhaltenden Wachstums und der<br />
relativen Stabilität des öffentlichen Sektors ein gewerkschaftlicher Organisationsgrad<br />
entwickeln und erhalten, der im heutigen Privatsektor seinesgleichen sucht.<br />
Es sind Bereiche, in denen sich viele zunehmend demselben Druck und denselben<br />
Angriffen ausgesetzt sehen wie die übrige Arbeiterklasse, und sie schließen<br />
sich Gewerkschaften an, um sich zu verteidigen. Frisch ausgebildete Lehrerinnen<br />
oder Dozenten werden heute nicht mehr als AnwärterInnen auf einen privilegierten<br />
oder geehrten Beruf angesehen.<br />
Der Einwand, solche Gruppen könnten keine gesellschaftliche Macht ausüben,<br />
da sie nicht direkt Profite erzeugen, ist aus zwei Gründen verfehlt. Erstens sind<br />
sie für Kapitalisten sowohl auf lange Sicht als auch für das alltägliche Funktionieren<br />
des Systems auf indirekte Weise unverzichtbar. Ein Streik von Lehrerinnen<br />
und Lehrern beispielsweise, bei dem die Schulen geschlossen werden, kann die<br />
Wirtschaft empfindlich stören. Die britische Regierung legte jedenfalls großen<br />
Wert darauf, zu betonen, dass der eintägige Streik von 2,5 Millionen öffentlich<br />
Bediensteten die Wirtschaft angeblich 500 Millionen Pfund gekostet habe – 200<br />
Pfund täglich pro Arbeiter! 39 Zweitens können öffentlich Bedienstete vor dem<br />
Hintergrund, dass sie in vielen Ländern die größte Gruppe organisierter Arbeiterinnen<br />
und Arbeiter darstellen, und in Anbetracht ihrer Macht Arbeitskämpfe<br />
auch gewinnen, selbst mit eher bürokratischen Streiks, die von der Gewerkschaftsführung<br />
strikt kontrolliert werden.<br />
Siege von Arbeitern im öffentlichen Dienst können andere Gruppen – in der<br />
Produktion oder im Dienstleistungsbereich – dazu anregen, dem Beispiel zu folgen,<br />
sich zu organisieren und zu kämpfen. Die Linke sollte die Schwierigkeiten<br />
des Wiederaufbaus kollektiver Organisation und Selbstbewusstseins im Privatsektor<br />
nicht unterschätzen, doch das ist nur ein Grund mehr, warum jedes Potenzial<br />
für einen möglichen Durchbruch egal welcher Beschäftigtengruppe aufgegriffen<br />
werden und die Lehre daraus für die gesamte Klasse verallgemeinert<br />
werden sollte. Es gibt jedoch keine Abkürzungen. Nur durch die Aktivität der<br />
Arbeiterinnen und Arbeiter selbst kann der Niedergang von Arbeitskämpfen im<br />
Privatsektor, wie er in vielen europäischen Ländern über die vergangenen Jahrzehnte<br />
zu beobachten war, umgekehrt werden.<br />
Die Spannungen in der Bewegung<br />
Es gibt reale Spannungen in den Streikbewegungen. Das Bewusstsein der Arbeiterklasse<br />
ist nie einheitlich. Gramscis Beschreibung des widersprüchlichen Bewusstseins,<br />
wie ich sie oben zitiert habe, verweist darauf, dass die sehr unterschiedlichen<br />
Erfahrungen unterschiedlicher Teile der Arbeiterklasse auch zu ei-<br />
39<br />
BBC, 2011.
282 Die Klassenkämpfe in Europa<br />
nem unterschiedlichen Grad an Selbstbewusstsein und Kampfbereitschaft sogar<br />
innerhalb ein und desselben Landes führen.<br />
Das die meiste Zeit überwiegend reformistische Bewusstsein der meisten Arbeiter<br />
spiegelt sich in den reformistischen Organisationen wider und wird durch sie<br />
verstärkt. Die Tradition des Labourism in der britischen Arbeiterklasse beispielsweise<br />
ist der Fels, an dem Arbeitskämpfe im 20. Jahrhundert immer wieder zerschellten.<br />
Die Labour Party versuchte während ihrer Regierungszeit in den Jahren<br />
1964 bis 1970 und 1974 bis 1979 mit Unterstützung der Gewerkschaftsführer<br />
und unter häufigem Verweis auf das »nationale Interesse« die Kampfbereitschaft<br />
der Arbeiter zu dämpfen, indem sie Lohnsteigerungen an die Produktivitätsentwicklung<br />
koppelte und so die Macht der betrieblichen Vertrauensleute, der<br />
Shop Stewards, bei der Aushandlung von Zulagen schwächte, und indem sie eine<br />
Schicht hauptamtlicher betrieblicher Gewerkschaftsfunktionäre und Vertrauensleute<br />
schuf, die in weniger unmittelbarem Kontakt mit den Arbeitern standen. 40<br />
Zwischen den reformistischen Organisationen herrscht Arbeitsteilung. Während<br />
sozialdemokratische Parteien schrittweise politische Reformen im Rahmen<br />
des kapitalistischen Staates versprechen, spielen im wirtschaftlichen Bereich die<br />
Gewerkschaftsbürokratien die zentrale Rolle bei der Aushandlung der Ausbeutungsbedingungen<br />
der Arbeiter. In Ländern mit etablierten Gewerkschaften und<br />
dem Spielraum, stabile reformistische Organisationen zu entwickeln, bilden die<br />
Gewerkschaften in der Regel eine Schicht hauptamtlicher Funktionäre heraus, die<br />
mit dem Arbeitsalltag der Beschäftigten keinen unmittelbaren Kontakt mehr haben.<br />
41 Die gesellschaftliche Funktion dieser Bürokratie – die Verhandlungsführung<br />
im Rahmen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse – wird noch verstärkt<br />
durch ihre privilegierte Stellung. Wenn die von dieser Bürokratie vertretenen<br />
Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Arbeitsplatz verlieren, trifft das für die<br />
Funktionäre nicht zu. Wenn die Löhne der Gewerkschaftsmitglieder fallen, führt<br />
das nicht automatisch dazu, dass sich auch die Vergütung oder die Arbeitsbedingungen<br />
der Funktionäre verändern. Cliff und Gluckstein schreiben:<br />
[D]ie Bürokratie hält das Gleichgewicht zwischen den beiden Hauptklassen der kapitalistischen<br />
Gesellschaft: den Arbeitgebern und den Arbeitern. Die Gewerkschaftsfunktionäre<br />
sind weder Arbeitgeber noch Arbeiter. In den Geschäftsstellen der Gewerkschaften<br />
mögen viele Menschen arbeiten, aber anders als kapitalistische Unternehmer<br />
beziehen die Gewerkschaftsfunktionäre nicht ihren wirtschaftlichen und sozialen<br />
Status daraus. […] [D]er Gewerkschaftsfunktionär leidet nicht wie die Masse<br />
der Arbeiter unter niedrigen Löhnen, unter den Schikanen eines Arbeitgebers, Angst<br />
um den Arbeitsplatz und so weiter. Die Gewerkschaftsbürokratie ist eine eigene,<br />
grundsätzlich konservative gesellschaftliche Formation. […] Sie zügelt und kontrol-<br />
40<br />
Cliff und Gluckstein, 1996, S. 328–331.<br />
41<br />
Cliff und Gluckstein, 1986, S. 13–20.
Die Klassenkämpfe in Europa 283<br />
liert den Kampf der Arbeiter, aber sie hat ein vitales Interesse daran, ihre Zusammenarbeit<br />
mit den Arbeitgebern und dem Staat nicht so weit zu treiben, dass die Gewerkschaften<br />
gänzlich machtlos werden. […] Wenn die Gewerkschaft vollständig dabei<br />
versagt, den Anliegen ihrer Mitglieder Ausdruck zu verleihen, wird die Führung<br />
über kurz oder lang von innen unter Druck geraten oder die Mitgliedschaft wird apathisch<br />
und die Organisation zerfällt. […] Driftet die Gewerkschaftsbürokratie zu<br />
weit ins Lager der Bourgeoisie ab, verliert sie ihre Basis. 42<br />
All das heißt nicht, dass Revolutionäre gleichgültig gegenüber der Frage sind, wer<br />
an der Spitze der Gewerkschaften steht. Es kann erhebliche Differenzen zwischen<br />
dem rechten und dem linken Flügel der Funktionäre geben. Spannungen<br />
innerhalb der Bürokratie können den Einfluss der Konservativen schwächen,<br />
und die Wahl eines linken Gewerkschaftsfunktionärs kann unter Umständen das<br />
Selbstvertrauen der Arbeiter stärken. Aber letzten Endes und besonders in Zeiten<br />
tiefer Krisen wiegt das Gewicht der Gewerkschaftsbürokratien als konservative<br />
soziale Schicht schwerer als die Spaltung dieser Schicht in Linke und Rechte.<br />
43 Wie können diese konservativen Tendenzen überwunden werden? In Zeiten<br />
vermehrter Kämpfe können die Arbeiter eigenständige Basisbewegungen in den<br />
Gewerkschaften aufbauen. Solche Basisorganisationen können zwei Funktionen<br />
erfüllen: Sie können Druck auf die Gewerkschaftsbürokratie ausüben, auf diese<br />
Weise Aktivitäten anschieben und einen Ausverkauf zu verhindern suchen, und<br />
sie können notfalls den Arbeitern den Rahmen für »wilde« Streiks unabhängig<br />
von der Bürokratie bieten.<br />
Die griffigste Zusammenfassung dieser Funktion stammt von dem Arbeiterkomitee<br />
von Clyde, einer der inoffiziellen Organisationen, die sich während des<br />
Aufschwungs von Klassenkämpfen in Großbritannien ab 1910 herausbildeten:<br />
»Wir werden die Funktionäre unterstützen, so lange sie die Arbeiter wirklich vertreten,<br />
aber sofort eigenständig handeln, wenn sie aufhören, uns zu vertreten.<br />
Wir sind Delegierte aus jedem Betrieb und lassen uns von überkommenen Regeln<br />
und Gesetzen nicht hindern. Daher beanspruchen wir, die wahren Gefühle<br />
der Arbeiter zu repräsentieren. Wir können, wenn es die Lage erfordert und unsere<br />
Mitglieder dies verlangen, sofort handeln.« 44<br />
Eine solche Bewegung kann nur im Kampf aufgebaut werden. Würde die Bürokratie<br />
sich ausschließlich bemühen, Streiks zu verhindern, könnte der Aufbau<br />
von Basisorganisationen nur Schritt für Schritt und durch begrenzte Aktionen an<br />
der Führung vorbei erfolgen. Glücklicherweise steht die Bürokratie aber auch<br />
unter dem Druck, gewerkschaftliche Kämpfe zu führen. Dieser Druck kann von<br />
42<br />
Cliff und Gluckstein, 1986, S. 27–28.<br />
43<br />
Cliff und Gluckstein, 1986, S. 28.<br />
44<br />
Zitiert nach: Callinicos, 1995, S. 33.
284 Die Klassenkämpfe in Europa<br />
unten kommen, durch den Zorn einfacher Gewerkschaftsmitglieder und ihre Politisierung<br />
im Zuge größerer Veränderungen in der Gesellschaft. Aber er kann<br />
auch von oben her kommen. Wenn die Angriffe zum Beispiel ein solches Ausmaß<br />
annehmen, dass die Spitzenfunktionäre um ihre Verhandlungsmacht fürchten<br />
müssen, weil eine signifikante Anzahl ihrer Mitglieder ihren Arbeitsplatz zu<br />
verlieren droht oder weil grundlegende Gewerkschaftsrechte abgebaut werden,<br />
können sie sich zum Handeln gezwungen sehen.<br />
Das war in den vergangenen Jahren tatsächlich das Muster. Das Niveau wirtschaftlicher<br />
Streiks im Privatsektor ist in ganz Westeuropa seit den 1970er Jahren<br />
von durchschnittlich 419 Streiktagen pro Jahr und 1.000 Beschäftigten auf 51<br />
Tage in den Jahren 2000 bis 2004 gefallen. Aber die Anzahl offiziell von Gewerkschaften<br />
ausgerufener Generalstreiks ist gestiegen. In den Jahren 1980 bis 1989<br />
fanden 19 statt, in den 1990er Jahren 39, und von 2000 bis 2008 waren es sogar<br />
40 Generalstreiks. 45<br />
Generalstreiks wurden außergewöhnlich oft gegen Regierungen ausgerufen, die<br />
radikale Veränderungen im Arbeitsrecht, bei Renten oder der Arbeitslosenversicherung<br />
planten, ohne die Gewerkschaften substanziell in die Beratungen einzubeziehen.<br />
46<br />
Unter solchen Bedingungen kann sich sogar eine konservative Gewerkschaftsbürokratie<br />
zum Handeln genötigt sehen. Und dies ist eindeutig der Fall, seit die<br />
Krise in Europa ausgebrochen ist. Aber die Massenstreiks, die wir erlebt haben,<br />
standen meist unter strenger Kontrolle der Bürokratien und haben selten den allgemeinen<br />
Rahmen der Sparpolitik infrage gestellt. Trotzdem wäre es unverantwortlich,<br />
solche Streiks einfach abzuschreiben. In vielen Ländern steht die radikale<br />
Linke heute vor einer entscheidenden Frage: Kann sie die kurzen, offiziellen<br />
Massenstreiks dazu nutzen, den Grundstein für die Herausbildung einer unabhängigen<br />
Arbeiterorganisation zu legen? Oder bleiben sie einfach streng kontrollierte<br />
bürokratische Massenstreiks? 47<br />
Die bisherigen Erfahrungen<br />
Statt den fast unmöglichen Versuch zu unternehmen, ein umfassendes Bild von<br />
den europäischen Kämpfen zu geben, ist es hilfreicher, einige der zentralen Erfahrungen<br />
in vier Ländern zu beleuchten, aus denen sich allgemeine Lehren ziehen<br />
lassen. 48<br />
45<br />
Kelly und Hamann, 2009, S. 1.<br />
46<br />
Kelly und Hamann, 2009, S. 10-12.<br />
47<br />
Siehe Cliff, 1985, für eine Analyse der unterschiedlichen Formen von Massenstreiks.<br />
48<br />
Bei der Abfassung dieses Abschnitts haben mir dankenswerterweise Miguel Sanz Alcántara und<br />
Jesús M Castillo von En Lucha in Spanien, Denis Godard von Que Faire? und die NPA in<br />
Frankreich und Nikos Loudos von der griechischen Socialist Workers Party geholfen, die ich zu
Die Klassenkämpfe in Europa 285<br />
Griechenland<br />
Griechenland erlebte nach den Kämpfen der 1970er Jahre nur einen teilweisen<br />
Abschwung radikaler Bewegungen. Eine Zeit lang, von Anfang der 1980er bis<br />
Ende der 1990er Jahre, konnte die Gewerkschaftsbürokratie die Arbeiter fest im<br />
Griff halten. Aber auch in dieser Phase kam es zu periodischen Streiks gegen die<br />
Versuche mehrerer Regierungen – unter Führung der Konservativen wie der sozialdemokratischen<br />
Pasok – neoliberale Maßnahmen durchzusetzen. Dazu gehörte<br />
zum Beispiel die Welle von Streiks und Protesten anlässlich des Wahlsiegs<br />
der konservativen Nea Dimokratia im April 1990 49 mit einem extrem militanten<br />
und wochenlangen Streik, als die Regierung im Jahr 1992 versuchte, die Athener<br />
Busbetriebe zu privatisieren. Diese Arbeitskämpfe wurden durch das Eingreifen<br />
von Kräften links von Pasok gestärkt. Zu diesen gehörten die antikapitalistische<br />
Linke, die eurokommunistische Synaspismos (die später den Kern von Syriza bildete)<br />
und die Kommunistische Partei. Ab 1998 setzte eine neue Phase eskalierender<br />
Kämpfe ein, deren Auftakt ein Vollstreik der Mitarbeiter der Ioniki-Bank gegen<br />
die Privatisierung der Bank und ein Lehrerstreik gegen Verschlechterungen<br />
im Bildungssystems bildete, und auf den im Jahr 2001 ein machtvoller Generalstreik<br />
folgte, der Angriffe auf das Rentensystem zurückschlug.<br />
Bei Einsetzen der Krise war ungefähr ein Drittel der Beschäftigten gewerkschaftlich<br />
organisiert, vor allem im großen öffentlichen Sektor. Der gewerkschaftliche<br />
Organisationsgrad ist in der Privatwirtschaft niedriger, aber die Zahlen<br />
dazu sind oft irreführend, denn einige Branchen und Betriebe mit äußerst<br />
niedrigem Organisationsgrad können sehr wirksame Streiks organisieren, an denen<br />
sich nicht organisierte Arbeiter beteiligen. Die griechischen Gewerkschaften<br />
sind sehr unterschiedlich aufgebaut und organisieren auf allgemeiner, branchenspezifischer<br />
oder geografischer Basis und innerhalb zweier Gewerkschaftsbünde:<br />
des Dachverbands GSEE für die Privatwirtschaft und große Betriebe, die sich<br />
früher in Staatsbesitz befanden oder noch befinden, und der Dienstleistergewerkschaft<br />
ADEDY. Obschon nicht offiziell an politische Parteien gebunden,<br />
werden die Gewerkschaftsfunktionäre über Parteilisten gewählt, und die Pasok<br />
verfügt normalerweise über die größte Unterstützung. Auch die Kommunisten<br />
kontrollieren eine Reihe von Gewerkschaften, die sich innerhalb der Dachverbände<br />
zusammengetan haben.<br />
Anfänglich waren die Gewerkschaftsführungen äußerst zögerlich, zu Streiks<br />
aufzurufen, dies besonders während der Regierungszeit der Pasok in den Jahren<br />
2009 bis 2011. Druck von Gruppen einfacher Arbeiter, unter denen die radikale<br />
Linke bedeutenden Einfluss hatte, zwang die Bürokratie schließlich zum Handen<br />
Arbeitskämpfen in ihren Ländern befragen durfte. Für Fehler bin allein ich verantwortlich.<br />
49<br />
Styllou und Garganas, 1991.
286 Die Klassenkämpfe in Europa<br />
deln. Und jedes Mal, wenn Streiks offiziell beschlossen wurden, beteiligten sich<br />
die Arbeiterinnen und Arbeiter in Scharen daran und erzeugten so neuen Druck<br />
für weitere Aktionen. Der Streik der Lehrer zum Beispiel, unter denen die Linke<br />
besonders stark ist, bot in der Anfangsphase der Krise ein Beispiel für Militanz<br />
und Selbstvertrauen. In der Folge erwies sich die starke Präsenz der Linken in<br />
diesem Sektor als zweischneidiges Schwert. Denn wegen der sektiererischen Traditionen<br />
von Teilen der Linken und der Jahre, in denen die Lehrkräfte oft allein<br />
streikten, kam die Vorstellung auf, dass sich ohne eine Verschiebung der politischen<br />
Kräfteverhältnisse nichts ändern werde. In letzter Zeit haben sich die Lehrer<br />
an den Generalstreiks weiter beteiligt, aber ansonsten weniger Arbeitskämpfe<br />
geführt. Nichtsdestotrotz leistete ihr früher Streik einen wichtigen Beitrag dazu,<br />
den Kampfesmut anderer zu stärken.<br />
Das dramatischste Anzeichen für die neue Kampfbereitschaft in Griechenland<br />
ist die Kette von Generalstreiks gegen die Sparmaßnahmen. Diese begannen unter<br />
der Pasok-Regierung und wurden nach deren Zusammenbruch im Jahr 2001<br />
und der Regierungsübernahme durch eine Koalition unter Führung der konservativen<br />
Nea Dimokratia fortgesetzt. Diese Streiks trugen dazu bei, ein Netzwerk<br />
militanter Arbeiteraktivisten herauszubilden, sie zu politischer Verallgemeinerung<br />
zu ermutigen und ihnen die Möglichkeit zu geben, in Austausch mit Beschäftigten<br />
unterschiedlicher Branchen zu treten. Während die anfänglichen Streiks dadurch<br />
gekennzeichnet waren, dass die Arbeiter dem Aufruf folgten und zu Hause<br />
blieben, finden sie zunehmend unter massenhafter Beteiligung der einfachen<br />
Gewerkschaftsmitglieder statt und umfassen öffentliche Versammlungen, Massendemonstrationen<br />
und Werksschließungen. Die Macht dieser Netzwerke wurde<br />
im Februar 2012 deutlich, als mit nur einem Tag Vorlauf ein 48-stündiger Generalstreik<br />
ausgerufen wurde, obwohl für dieselbe Woche bereits ein 24-stündiger<br />
Generalstreik angesetzt war. Die kämpferischen Arbeiteraktivisten konnten<br />
den Erfolg des neu ausgerufenen Streiks sicherstellen.<br />
Jeder der letzten Generalstreiks stand am Ende vorausgegangener Aktivitäten<br />
in einzelnen Branchen und trug meist nach einer kurzen Verschnaufpause dazu<br />
bei, neue branchenbezogene Aktivitäten auszulösen. Eine zentrale Debatte in der<br />
Bewegung ist zurzeit die über anhaltende Aktionen. Arbeiter wollen wissen, wie<br />
sie über ein- oder zweitägige Streiks hinausgehen können. Das erklärt, warum die<br />
Regierung so hart gegen Arbeitergruppen vorgeht, die länger dauernde Aktionen<br />
durchführen. Zu ihnen gehören Seeleute und U-Bahn-Beschäftigte in Athen, die<br />
dienstverpflichtet wurden, um ihre Streiks zu brechen.<br />
Die Kluft zwischen den Arbeitern und der Gewerkschaftsbürokratie ist mittlerweile<br />
so tief, dass Spitzenfunktionäre der Gewerkschaftsbünde es vermeiden,<br />
während Generalstreiks auf Demonstrationen aufzutreten. Auch auf Betriebsversammlungen<br />
werden Stimmen laut, die den Führungsanspruch der Gewerk-
Die Klassenkämpfe in Europa 287<br />
schaftsfunktionäre infrage stellen. Im Verlauf eines neueren Streiks von Busfahrern<br />
überstimmten die Arbeiter zum Beispiel die Gewerkschaftsführung, die sich<br />
gegen eine Fortführung des Streiks ausgesprochen hatte, und zwang sie zum<br />
Rücktritt. Auch in Krankenhäusern haben militante Aktivisten Unterschriften gesammelt,<br />
um Betriebsversammlungen einzuberufen und der Zögerlichkeit der<br />
Bürokratie etwas entgegenzusetzen. Sie haben Besetzungen und Blockaden organisiert,<br />
um die Gewerkschaften zu zwingen, zu gemeinsamen Aktionen der<br />
Krankenhäuser der betreffenden Region aufzurufen.<br />
Auf der kommunalen Ebene haben die Rathaus- und Amtsbesetzungen den<br />
Grundstein für den Zusammenschluss von Arbeitern gelegt, die Werksblockaden<br />
organisieren und für Generalstreiks mobilisieren. Die Revolte der einfachen Arbeiter<br />
reicht bis in Bereiche hinein, die wenig kämpferische Traditionen haben.<br />
Im August 2012 wurden die Angestellten der Agrotiki-Bank zu einer Betriebsversammlung<br />
geladen, um für die Beendigung ihres Streiks zu stimmen. Die Beschäftigten<br />
weigerten sich, stellten Streikposten auf und organisierten weitere<br />
Massenversammlungen. Auch kleine Betriebe ohne gewerkschaftliche Organisierung<br />
sind besetzt worden.<br />
Der Niedergang der Pasok, die in jüngsten Umfragen bei unter zehn Prozent<br />
liegt, hat die Position ihr nahestehender Gewerkschaftsführer weiter geschwächt.<br />
Bis jetzt hat der Aufstieg der linksreformistischen Syriza noch zu keiner nachhaltigen<br />
Veränderung auf Organisationsebene geführt. Die Kommunisten sind sehr<br />
viel stärker in den Gewerkschaften vertreten, und sogar das links angesiedelte<br />
Bündnis Antarsya ist in vielen Bereichen sichtbarer. Aber die ideologische Auswirkung<br />
des Aufschwungs linker Alternativen zur Pasok hat die Revolte beflügelt.<br />
Vor diesem Hintergrund versucht die radikale Linke, zu der auch die griechische<br />
Sozialistische Arbeiterpartei SEK gehört, innerhalb der Gewerkschaften<br />
Druck von unten aufzubauen, indem sie zum Beispiel Zeitungen für die Angestellten<br />
der Medienbranche, für Lehrer und Krankenhausangestellte herausgibt.<br />
Ziel ist es, das Vertrauen der Arbeiterinnen und Arbeiter in die Möglichkeit<br />
selbstständiger Aktionen zu stärken und die offiziellen Streikaufrufe zu nutzen,<br />
wie zum Beispiel den jüngeren Aufruf eines der Anführer der Elektrizitätsarbeitergewerkschaft<br />
zur Ausweitung von Kampfaktionen. Außerdem beteiligt sich<br />
die SEK an der Koordinierung von Streikaktionen, indem sie zu Foren einlädt<br />
und an ihnen teilnimmt, bei denen Arbeiter aus verschiedenen Branchen zusammenkommen.<br />
Die radikale Linke hat es auch geschafft, wirksam in politische und<br />
ideologische Auseinandersetzungen einzugreifen, und versucht zum Beispiel,<br />
eine Einheitsfront gegen die faschistische Goldene Morgenröte aufzubauen.
288 Die Klassenkämpfe in Europa<br />
Der Kampf hat ein Niveau erreicht, auf das viele Linke in Europa stolz wären,<br />
aber das ändert nichts daran, dass die revolutionäre Linke vor großen und komplizierten<br />
Herausforderungen steht.<br />
Der spanische Staat<br />
Bei Ausbruch der Krise lag der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Spanien<br />
bei 17 Prozent. Die Belegschaften der einzelnen Betriebe sind in jeweils nur einer<br />
Gewerkschaft organisiert und nicht nach Branchen oder Berufen. Die meisten<br />
Arbeiter gehören entweder der UGT an, die mit der Sozialistischen Partei verbunden<br />
ist, oder der CCOO, die historisch der Kommunistischen Partei näher<br />
stand, heute aber in der Praxis den Sozialisten nahe steht. 50<br />
Die traditionellen Industriebranchen wie der Bergbau und die metallverarbeitende<br />
Industrie sind ebenso wie der öffentliche Dienst gewerkschaftlich gut organisiert.<br />
Viele Großbetriebe weisen nur einen Organisationsgrad von 15 bis 20<br />
Prozent auf, die Tarifverträge gelten aber für alle Beschäftigten, und alle haben<br />
Streikrecht und dürfen sich an der Wahl der Betriebsräte beteiligen. 51<br />
In den Jahren 1996 bis 2006 lag die Zahl der registrierten Streiks ohne Generalstreiks<br />
zwischen 618 und 807 pro Jahr. Die Streiks in dieser Periode waren üblicherweise<br />
relativ lang und bezogen eine große Anzahl Arbeiter mit ein. Die<br />
wichtigste Aktion dieser Art war im Jahr 2002: ein erfolgreicher eintägiger Generalstreik<br />
gegen die konservative Regierung Aznar. Er fand vor dem Hintergrund<br />
einer allgemein verbreiteten antikapitalistischen Stimmung statt und richtete sich<br />
wie viele andere große Streiks dieser Zeit gegen eine Regierungsentscheidung, die<br />
die gesamte Bevölkerung betraf, in diesem Fall die Absenkung der Arbeitslosenunterstützung.<br />
Nach Ausbruch der Krise erlebte Spanien einen Aufschwung an Streiks, in deren<br />
Zentrum die Privatwirtschaft stand, weil die Arbeitgeber bei den Tarifverhandlungen<br />
keine Lohnzugeständnisse mehr machten und sowohl die CCOO<br />
(Confederación Sindical de Comisiones Obreras ) als auch die UGT (Unión General<br />
de Trabajadores) zu Streiks aufriefen. Nach Zahlen des Arbeitsministeriums<br />
erreichte diese Welle ihren Höhepunkt mit 1.001 Streiks im Jahre 2009 und ebbte<br />
in den beiden folgenden Jahren nur leicht ab. 52 Viele dieser Streiks dauerten nicht<br />
sonderlich lange und wurden von relativ wenigen Beschäftigten getragen, aber<br />
mit der Offensive wurde in manchen Branchen wie der Metallverarbeitung ein<br />
50<br />
Obwohl das je nach Region unterschiedlich ist. Im Baskenland sind die Hauptgewerkschaften<br />
nationalistisch gesinnt.<br />
51<br />
Den Großteil ihrer Gelder erhalten die Gewerkschaften vom Staat entsprechend der Anzahl gewählter<br />
Delegierter, was den bürokratischen Charakter der zwei größten Gewerkschaften noch<br />
verstärkt, die gemeinsam über 85 Prozent der Delegierten stellen und nicht unmittelbar von Mitgliedsbeiträgen<br />
abhängig sind; siehe Durgan und Sans, 2011.<br />
52<br />
Wieder ohne die Generalstreiks, um ein klareres Bild zu gewinnen.
Die Klassenkämpfe in Europa 289<br />
Durchbruch geschafft, der drohte, in einen größeren Aufschwung von Kämpfen<br />
zu münden. Die Gewerkschaftsführungen allerdings stimmten dessen ungeachtet<br />
Maßnahmen zur »Flexibilisierung« zu und unterzeichneten ein Abkommen mit<br />
dem Arbeitgeberverband, das die wachsende Bewegung schwächte.<br />
Auf dieses Zugeständnis folgte im Mai 2010 ein massiver Angriff der sozialistischen<br />
Regierung auf den öffentlichen Dienst mit einer Reihe von Kürzungsmaßnahmen<br />
einschließlich einer fünfprozentigen Lohnkürzung im öffentlich<br />
Dienst. Damit provozierte sie im Juni jenes Jahres einen Streik im gesamten öffentlichen<br />
Dienst. Es gelang nicht, die Regierung mit diesem Streik zum Rückzug<br />
zu zwingen, und ein weiterer Angriff folgte in Form des Versuchs, viele der in<br />
den vergangenen 35 Jahren erkämpften Arbeitsrechte abzuschaffen. Dies führte<br />
zu dem Generalstreik im September 2010. Die Regierung blieb stur, und die Gewerkschaften,<br />
die sich in Konflikt mit ihrer »eigenen« sozialistischen Regierung<br />
sahen, kapitulierten. Die Verbindung dieser Angriffe auf die Arbeiterrechte mit<br />
einem scharfen Anstieg der Arbeitslosigkeit im Zuge der Verschärfung der Krise<br />
und der Niederlage des Generalstreiks (dies war das erste Mal seit dem Ende der<br />
Diktatur in den 1970er Jahren, dass eine solche Kampfmaßnahme erfolglos<br />
blieb) führten zu einem deutlichen Rückgang der Streikaktivitäten in der Privatwirtschaft.<br />
Die wenigen Streiks, die noch stattfanden, hatten zunehmend defensiven<br />
Charakter und wandten sich gegen Arbeitsplatzabbau oder die Zurückhaltung<br />
von Lohnzahlungen. 53 Nun verlagerte sich das Zentrum der Aktivitäten<br />
wieder auf den öffentlichen Dienst, wo es Ende 2011 zu einem erneuten Aufschwung<br />
von Arbeitskämpfen kam.<br />
Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Streiks von oben ausgerufen worden, und<br />
es hatte wenig Druck von der Basis gegeben. Ab Mitte des Jahres 2011 jedoch<br />
verband sich die Unzufriedenheit über die Kollaboration der Gewerkschaftsführungen<br />
mit Arbeitgebern und dem Staat bei der Durchsetzung der Kürzungen<br />
mit der sich in ganz Spanien ausbreitenden Radikalisierung. Die Bewegung der<br />
Indignados (die auch als Movimiento 15-M bekannt wurde, benannt nach dem<br />
15. Mai 2011, als die Bewegung zum ersten Mal auf die Straße ging) begann mit<br />
einer Reihe von Protesten und Besetzungen öffentlicher Plätze, an denen vor allem<br />
Studenten, junge Arbeitslose und Unterbeschäftigte teilnahmen und die teilweise<br />
von der ägyptischen Revolution inspiriert waren. 54 Anfänglich stand diese<br />
Bewegung den traditionellen Arbeiterorganisationen distanziert, sogar feindselig<br />
gegenüber. Ihr Slogan »Niemand vertritt uns« richtete sich ebenso gegen die Sozialisten<br />
und die Gewerkschaften wie gegen die Elite, auch wenn zahlreiche Ge-<br />
53<br />
In den Jahren 2006 und 2007 waren über die Hälfte der Streiks mit Forderungen nach Lohnerhöhungen<br />
und besseren Arbeitsbedingungen Offensivstreiks, im Jahr 2011 waren nur noch ein<br />
Fünftel der Arbeitskämpfe Offensivstreiks.<br />
54<br />
Siehe Durgan und Sans, 2011, über den Ursprung und die Entwicklung der Bewegung.
290 Die Klassenkämpfe in Europa<br />
werkschaftsmitglieder, vor allem junge Leute und Angestellte im öffentlichen<br />
Dienst, sich individuell beteiligten und den Einfluss der Bewegung zurück in ihre<br />
Betriebe trugen. Trotz dieser Distanz gegenüber den Gewerkschaften übte das<br />
Ausmaß der Straßenbewegung, bei der verstärkt die Forderung nach einem Generalstreik<br />
»ohne die Gewerkschaften« erhoben wurde, Druck auf die offizielle<br />
Gewerkschaftsbewegung aus.<br />
Die Bewegung auf der Straße hat sich noch nicht in einen allgemeinen Aufschwung<br />
betrieblicher Kämpfe übersetzt, denn sie ist noch nicht in der Lage,<br />
sich über die Kontrolle der Gewerkschaften, die Auswirkungen der rasant steigenden<br />
Arbeitslosigkeit (die gegenwärtig bei einem Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung<br />
liegt), die Reformen des Arbeitsrechts, die es weit einfacher und billiger<br />
machen, Leute zu entlassen, und die Demoralisierung infolge der Niederlage<br />
der sozialistischen Regierung bei den Wahlen vom Dezember 2011 hinwegzusetzen.<br />
Aber kleine, politisch radikalere Gewerkschaften gewinnen Mitglieder, und<br />
die Lehrerinnen und Lehrer in Madrid haben Organisierungsversammlungen<br />
veranstaltet, die in mancher Hinsicht nach dem Vorbild der Indignados-Bewegung<br />
abgehalten wurden. Kämpfe gibt es auch in Teilen des öffentlichen Dienstes<br />
wie dem Bildungs- und Gesundheitswesen. In diesen Bereichen helfen heute<br />
informelle Netzwerke, die als Mareas (Gezeiten) bekannt sind, bei der Organisierung<br />
des Protests. Und der zweimonatige Streik der Bergarbeiter in Asturien im<br />
Sommer 2012 bildete eine besonders wichtige Ausnahme von dem allgemeinen<br />
Abschwung der Streikbewegung in der Industrie. Hier sind die sozialen Bewegungen<br />
und die Gewerkschaften tatsächlich zusammengekommen und organisierten<br />
Massendemonstrationen mit mehreren hunderttausend Menschen, mit<br />
denen sie die Bergarbeiter im Sommer letzten Jahres nach ihrem 400 Kilometer<br />
langen Marsch in Madrid empfingen. Trotz der Stimmung auf der Straße verweigerten<br />
die Führungen von UGT und CCOO die notwendige Solidarisierung, es<br />
kam zu keiner Ausweitung des Arbeitskampfs und der Streik endete mit einer<br />
Niederlage.<br />
Einzelaktionen auf hohem Niveau hat es weiterhin gegeben, so die Generalstreiks<br />
im März und erneut im November 2012, an dem sich mehr als acht Millionen<br />
Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligten, weil die großen Gewerkschaften<br />
sich genötigt sahen, auf den Druck der Straße und Betriebe sowie auf das schiere<br />
Ausmaß der von der Regierung beschlossenen Kürzungsmaßnahmen zu reagieren.<br />
Auch diese Aktionen wurden von den Bewegungen massiv unterstützt,<br />
und in einigen Fällen gab es Versuche der Selbstorganisation mit kämpferischeren<br />
Streikposten. Addiert man diese Streiks zu den offiziellen Zahlen, lässt sich<br />
ein deutlicher Anstieg an betrieblichen Kämpfen erkennen. Aber den Aktionen<br />
von 2012 sind Grenzen gesetzt: In den sieben Monaten zwischen den Generalstreiks,<br />
in denen die Gewerkschaftsführungen kaum oder gar keine Richtung
Die Klassenkämpfe in Europa 291<br />
wiesen, kam es zu einer Entlassungswelle. Es blieb den sozialen Bewegungen<br />
überlassen, die Proteste gegen diese Angriffe anzuführen.<br />
Neue Möglichkeiten eröffneten sich Anfang <strong>2013</strong>, als Korruptionsskandale öffentlich<br />
wurden, in die führende Mitglieder der Konservativen verwickelt sind,<br />
und die Umfragewerte der konservativen Regierung in den Keller rutschten. Zur<br />
selben Zeit zeigt die Indignados-Bewegung Anzeichen einer Wiederbelebung.<br />
Große, koordinierte Proteste der Mareas-Bewegung waren für Februar angesetzt,<br />
und es gibt eine Reihe lokaler Streiks im öffentlichen Dienst, insbesondere im<br />
Gesundheitswesen. Die Zeit ist reif dafür, die Regierung offen anzugreifen. Die<br />
Frage ist, ob es trotz des Ausverkaufs durch die großen Gewerkschaften und des<br />
von Arbeitslosigkeit und Kürzungen geprägten Klimas zu einem nachhaltigen<br />
und allgemeinen Aufschwung der Arbeitskämpfe und der Kampfbereitschaft der<br />
Arbeiter kommt.<br />
Es gibt zwar Unzufriedenheit an der Basis der Gewerkschaften und ebenso<br />
Spannungen zwischen den Aktiven und der hochgradig bürokratisierten Gewerkschaftsführung,<br />
aber diese Unzufriedenheit hat noch keinen organisatorischen<br />
Ausdruck gefunden. Es gibt bestimmte Bereiche, in denen die großen Gewerkschaften<br />
als besonders kämpferisch gelten, und eine Reihe kleinerer linker Gewerkschaften,<br />
die in der Vergangenheit bewiesen haben, dass sie eher zu Aktivitäten<br />
bereit sind, auch wenn es ihnen eher darum geht, den großen Gewerkschaften<br />
Mitglieder abzujagen, statt auf diese Einfluss zu nehmen oder Kontakt<br />
mit deren Mitgliedschaft aufzubauen. Es gibt auch Beispiele von in der UGT<br />
oder CCOO organisierten Arbeitern, die in ihren Betrieben – mitunter außerhalb<br />
der offiziellen Strukturen – daran arbeiten, Streiks oder Besetzungen zu organisieren.<br />
Eine der Herausforderungen für die geringen Kräfte der revolutionären<br />
Linken wird in dem Versuch bestehen müssen, solche Anstrengungen zu bündeln,<br />
zu organisieren und zu koordinieren.<br />
Frankreich<br />
Wenn Spanien zeigt, wie Massenstreiks unter dem Druck sozialer und politischer<br />
Faktoren abebben, aber auch wieder anschwellen können, zeigt Frankreich, wie<br />
der Kampf beschränkt und wenigstens vorübergehend eingehegt wird.<br />
Wie in Spanien sind die Gewerkschaften hauptsächlich in traditionellen Bastionen<br />
der Arbeiterklasse wie im Automobilbau, der Stahl- und Chemieindustrie<br />
und im öffentlichen Dienst konzentriert. Eine Reihe Gewerkschaftsbünde, darunter<br />
die beiden größten, die CGT (Confédération générale du travail), die traditionell<br />
Verbindungen zur Kommunistischen Partei (und heute zur Front de Gauche,<br />
an der die Kommunisten beteiligt sind) unterhält, und die CFDT (Confédération<br />
française démocratique du travail), die weniger eng mit den Sozialisten<br />
verbunden ist, sowie einige kleinere, zu denen auch die radikale SUD (Solidaire,
292 Die Klassenkämpfe in Europa<br />
Unitaire et Démocratique) zu zählen ist, wetteifern um die Gunst der Beschäftigten.<br />
Als Frankreich in die Krise geriet, konnte es auf eine jüngere Geschichte<br />
kämpferischer Bewegungen zurückblicken, die in erfreulichem Missverhältnis<br />
zum allgemeinen gewerkschaftlichen Organisationsgrad von unter neun Prozent<br />
stand. Im November 1995 kam es zu einer Explosion gewerkschaftlicher Aktivitäten<br />
gegen Angriffe auf das Rentensystem. Die Streiks waren zwar offiziell ausgerufen<br />
worden, gingen aber bald in »wilde« Aktionen über mit selbstorganisierten<br />
Massenstreikversammlungen Streikender und fast täglichen Protesten, an denen<br />
sich Millionen Menschen beteiligten. Am Ende des Jahres war die konservative<br />
Regierung gezwungen, viele ihrer Angriffe zurückzunehmen. Weitere große<br />
Streiks hauptsächlich im öffentlichen Dienst folgten im Jahr 2003 und dann wieder<br />
im Jahr 2006 und richteten sich gegen Verschlechterungen im Bildungssystem.<br />
Außerdem gab es in den Jahren 1999/2000 eine Welle örtlicher Streiks für<br />
die Umsetzung eines neuen Gesetzes zur Einführung der 35-Stundenwoche auch<br />
im Privatsektor.<br />
In den Jahren unmittelbar vor Einbruch der Krise wies Frankreich durchgängig<br />
die höchste Zahl an Streiktagen pro Beschäftigten in Westeuropa auf. 55 Vor diesem<br />
Hintergrund riefen die Gewerkschaften im Herbst 2010 in einer Zeit großer<br />
Straßenproteste und Studierendenbewegungen zu einer Reihe von sieben nationalen<br />
Streiks gegen einen neuen Angriff auf die Renten auf. Die Streiks waren<br />
die Antwort auf den Druck von Gewerkschaftsfunktionären der unteren Ebenen<br />
(zumeist Belegschaftsvertreter, die ihre Basis in den Betrieben haben, aber hauptamtlich<br />
bei Gewerkschaften angestellt sind) und auf das Ausmaß der Angriffe<br />
der Regierung Nicolas Sarkozys und ihrer Unnachgiebigkeit gegenüber der Kritik<br />
an ihrem Vorhaben. Die Intersyndicale – eine Einrichtung, in der sich die unterschiedlichen<br />
nationalen Gewerkschaftsbünde koordinieren – rief zu einer Reihe<br />
von »Aktionstagen« auf, und da die Bewegung im Aufschwung war, fand ihr Aufruf<br />
rege Resonanz. Die Aktionen konzentrierten sich auf den öffentlichen<br />
Dienst, aber auch in der Privatwirtschaft kam es zu sporadischen Arbeitsniederlegungen.<br />
Daraus wurde der größte Streik in der Geschichte Frankreichs, der die<br />
Unterstützung von zwei Dritteln der Bevölkerung genoss.<br />
55<br />
Eurofound, 2010, Tabelle 4. Die Zahl für 2007 lag bei 28 Streiktagen pro 1.000 Beschäftigten.<br />
Die nächsthöchsten waren die Zahlen für Spanien (58,1 Tage) und Italien (47,6 Tage). Diese ab -<br />
strakten Zahlen können allerdings ein verzerrtes Bild zeichnen, vor allem wenn vor dem Hintergrund<br />
eines niedrigen Niveaus von Arbeitskämpfen ein oder zwei große Streiks stattfinden. Dänemark<br />
zum Beispiel wies im Jahr 2008 im Hinblick auf die Anzahl durch Streiks verlorener Arbeitstage<br />
einen der höchsten Werte Europas während des ganzen Jahrzehnts auf. Dies war aber<br />
ausschließlich auf einen zweimonatigen Streik von Kranken-, Pflege- und Lehrpersonal zurückzuführen,<br />
der allein bereits 98 Prozent der Streiktage dieses Jahres ausmachte.
Die Klassenkämpfe in Europa 293<br />
Die revolutionäre Linke war in der Lage, die Streikbewegung in dieser Phase zu<br />
beeinflussen, sie griff die weit verbreitete Forderung nach unbefristeten Arbeitsniederlegungen<br />
auf, und kurz schien es, als könnte der Aufruf befolgt werden.<br />
Wo es aber solche Aktivitäten gab, blieben sie isoliert. Ein Beispiel ist die Arbeitsniederlegung<br />
und Blockade von Ölraffinerien, die ein Drittel der Tankstellen<br />
Frankreichs lahmlegte. Das hätte das Fanal für einen unbefristeten Generalstreik<br />
werden können, letztlich aber waren die Gewerkschaftsführungen sowohl auf<br />
nationaler als auch lokaler Ebene in der Lage, diesen Druck von unten einzudämmen.<br />
Die Polizei wurde eingesetzt, um die Streikposten anzugreifen und die<br />
Ölblockade aufzulösen.<br />
Die Gewerkschaften schafften es, eine Kette eintägiger Aktionen zu organisieren,<br />
die dem Zorn der Arbeiter Ausdruck verliehen, aber letztlich ließen sie zu,<br />
dass die Bewegung an Schwung verlor und Nikolas Sarkozy sein Gesetz durchbringen<br />
konnte, mit dem das Renteneintrittsalter angehoben wurde. Ende Oktober<br />
war mehr oder weniger die Luft aus den Protesten und Streiks raus und weniger<br />
radikale Flügel der Intersyndicale fingen an, sich von den Aktionen zu distanzieren.<br />
Ein Mitarbeiter des CFDT-Vorsitzenden sagte einer Zeitung: »Insgeheim<br />
würden es einige Vorstandsmitglieder des Gewerkschaftsbunds nicht bedauern,<br />
wenn sich die Bewegung im Sande verläuft. Sie wissen, dass Sarkozys Regierung<br />
nie nachgeben wird. Je länger die Bewegung anhält, desto schwieriger<br />
wird es, die Frustration der Protestierenden intern zu handhaben.« 56 Die CFDT<br />
schlug Verhandlungen vor, und die CGT folgte ihr mit kurzem Abstand. Die radikale<br />
Linke war nicht in der Lage, die Situation zu nutzen und die Kampfbereitschaft<br />
der Basis zu koordinieren oder das Schwanken der Gewerkschaftsführungen<br />
zu überwinden.<br />
Nach dieser Niederlage fand die Verbitterung ihren politischen Ausdruck in<br />
der Wahl einer sozialistischen Regierung und dem starken Abschneiden der<br />
Front de Gauche. 57 Aber die Streikaktivität ging nach dem Jahr 2011 zurück. Die<br />
neueren Arbeitskämpfe bestanden zumeist aus Abwehrschlachten gegen Lohnsenkungen<br />
oder Standortschließungen. Diese Auseinandersetzungen sind, wie<br />
die Streiks in der Automobilindustrie zeigen, allerdings häufig ziemlich militant.<br />
Hunderte Arbeiter besetzten im Januar und Februar die PSA Peugeot-Citroën-Fabrik<br />
in Aulnay-sous-Bois. Dieser Kampf wurde von einem Komitee angeführt,<br />
das sich hauptsächlich aus Mitgliedern der Gewerkschaften CGT und<br />
SUD zusammensetzte, denen sich gewerkschaftlich nicht organisierte Arbeiter<br />
sowie einige Mitglieder der CFDT anschlossen. 58 Die Streikenden versuchten, ih-<br />
56<br />
Erlanger, 2010.<br />
57<br />
Die NPA dagegen ist in die Krise gestürzt, was ihren Einfluss auf den Gang der Ereignisse erheblich<br />
geschwächt hat. Siehe Callinicos, 2012 b; Godard, <strong>2013</strong>.<br />
58<br />
Auto Critique, <strong>2013</strong>.
294 Die Klassenkämpfe in Europa<br />
ren Kampf mit ähnlichen Auseinandersetzungen in den Renault-Werken zu verbinden.<br />
59 Es bleibt abzuwarten, ob solche Aktionen die Unentschlossenheit der<br />
anderen Gewerkschaften der Branche überwinden können und ob der Kampf<br />
sich auf größere Gruppen von Arbeitern ausweiten lässt.<br />
Solche Funken zeigen, dass die Bewegung in Frankreich noch nicht zerschlagen<br />
ist, aber die Tatsache, dass eine der mächtigsten Arbeiterbewegungen Europas,<br />
wenn auch zeitweilig, zurückgedränkt werden konnte, sollte der Linken eine<br />
Warnung sein.<br />
Großbritannien<br />
Großbritannien hatte in den Jahren bis Einbruch der Krise ein erschreckend<br />
niedriges Niveau an Klassenkämpfen. Von durchschnittlich 12,9 Millionen<br />
Streiktagen pro Jahr in den 1970ern und 7,2 Millionen in den 1980er Jahren fiel<br />
die Zahl auf 660.000 in den 1990ern und hat sich seither nicht erholt. Die Höhepunkte<br />
statistisch erfasster Streikaktivitäten bildeten seit den 1990er Jahren meist<br />
eintägige Streiks mit massenhafter Beteiligung im öffentlichen Dienst, so in den<br />
Jahren 2002 und 2007. 60 Die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften fallen seit den<br />
frühen 1980er Jahren, und der gewerkschaftliche Organisationsgrad liegt heute<br />
insgesamt bei rund einem Viertel aller Beschäftigten, wobei er im öffentlichen<br />
Dienst mit 56,5 Prozent deutlich über diesem Durchschnitt liegt. 61 Dieser Niedergang<br />
ist ein Ergebnis der schweren Niederlagen, die der Arbeiterklasse unter<br />
der Thatcher-Regierung in den 1980ern zugefügt wurden.<br />
Mehr als die Hälfte aller Mitglieder des britischen Gewerkschaftsbunds Trade<br />
Union Congress (TUC) verteilen sich auf drei große Gewerkschaften. Unite und<br />
die GMB sind allgemeine Gewerkschaften mit einer Basis vor allem in der Privatwirtschaft,<br />
die aber auch in erheblichem Maße im öffentlichen Dienst vertreten<br />
sind. Unison organisiert den öffentlichen Dienst zum Beispiel in Krankenhäusern<br />
und in den Kommunen, aber Privatisierungen haben dazu geführt, dass ihre<br />
Mitglieder heute auch in privaten Unternehmen arbeiten. Kleinere Gewerkschaften<br />
organisieren bestimmte Branchen oder Berufe, so zum Beispiel die Lehrer<br />
(NUT und NASUWT), Angestellte bei Post und Telekommunikationsanbietern<br />
(CWU), Hochschullehrer (UCU), Angestellte im öffentlichen Dienst (PCS) oder<br />
Bauarbeiter (UCATT). Der TUC ist schon immer eng mit der Labour Party verbunden<br />
gewesen, und die meisten Gewerkschaften unterstützen die Partei mit erheblichen<br />
Spenden.<br />
Die Krise, die unter einer Labour-Regierung einsetzte, bewegte die Gewerkschaftsführungen<br />
zur Beendigung einer Kampagne für höhere Löhne im öffent-<br />
59<br />
CGT PSA Aulnay, <strong>2013</strong>.<br />
60<br />
Hale, 2010.<br />
61<br />
Brownlie, 2011.
Die Klassenkämpfe in Europa 295<br />
lichen Dienst, an der sich im Frühjahr 2008 400.000 Angestellte, Lehrer und<br />
Hochschuldozenten beteiligt hatten, gefolgt von einem zweitätigen Streik im<br />
Sommer desselben Jahres mit 650.000 kommunalen Angestellten. Als die Krise<br />
in der Privatwirtschaft spürbar wurde, kam es 2009 zu einer Vielzahl ungewöhnlich<br />
militanter Streiks, einigen Besetzungen von Schließung bedrohter Fabriken<br />
und Aktionen bei Ölraffinerien und auf Baustellen. Der Funke sprang aber nicht<br />
über, und das Streikniveau insgesamt blieb miserabel: In den zwölf Monaten bis<br />
März 2011 gab es die geringste Zahl an Streiktagen seit Beginn der Aufzeichnung<br />
im Jahr 1931.<br />
Ende 2011 jedoch war die Zahl mittlerweile auf den höchsten Wert in zwei<br />
Jahrzehnten geklettert, fast ausschließlich aufgrund einer Reihe eintägiger Streiks<br />
im öffentlichen Dienst. Politisch stand dies im Zusammenhang mit den Wahlen<br />
im Mai 2010, die eine Koalition aus Konservativen und Liberalen Demokraten<br />
an die Regierung brachten. Diese Koalition war schwach, konnte sich nur auf ein<br />
begrenztes Mandat stützen und war entschlossen, Kürzungen durchzusetzen, zu<br />
denen auch ein Angriff auf die Renten gehörte, was den geschlossenen Widerstand<br />
des öffentlichen Dienstes hervorrief.<br />
In diesem Kontext trugen die Aktivitäten kleinerer Gewerkschaften, in denen<br />
Sozialisten ein größeres Gewicht hatten, dazu bei, die größeren Gewerkschaften<br />
so unter Druck zu setzen, dass sie den Kampf um die Renten aufnahmen. Die<br />
Gewerkschaft der Hochschullehrer UCU hielt im März 2011 einen landesweiten<br />
Streik ab. Im selben Monat unterstützte der TUC den Protest einer Viertelmillion<br />
Menschen in London. Ein Slogan, der an diesem Tag besonders gut ankam, lautete:<br />
»Wir sind gemeinsam marschiert, nun lasst uns gemeinsam streiken!« Im<br />
Juni organisierten die UCU, PCS und NUT einen abgestimmten eintägigen Streik<br />
von 750.000 Beschäftigten. Nun traten die großen Bataillone der Gewerkschaftsbewegung<br />
in Aktion, und am 30. November traten 2,5 Millionen Beschäftigte aus<br />
23 Gewerkschaften in einen Streik, dem sich die Gewerkschaften Unison, Unite<br />
und GMB in weiten Teilen des öffentlichen Dienstes anschlossen. Dies war der<br />
größte Streik in Großbritannien seit 1926, und überall im Land gab es lebendige<br />
Demonstrationen. 62<br />
In den folgenden Wochen allerdings zeigte sich die andere Seite der Gewerkschaftsbürokratie.<br />
Kurz vor Weihnachten unterzeichneten die größeren Gewerkschaften<br />
einen Rahmenvertrag mit der Regierung, um die Auseinandersetzungen<br />
zu beenden. Diesmal konnten die großen Gewerkschaften Druck auf die kleineren<br />
ausüben, um die Aktivitäten einzudämmen. Die Linke konnte die Niederlage<br />
im Frühjahr 2012 nur noch etwas abfedern, indem sie im Mai einen Hochschullehrerstreik<br />
organisierte, dem sich einige Angestellte im öffentlichen Dienst und<br />
62<br />
Eine Untersuchung von 60 der rund 100 Demonstrationen an diesem Tag zeigte, dass 300.000<br />
Menschen zur Unterstützung der Streiks auf die Straßen zogen. Siehe Kimber, 2012.
296 Die Klassenkämpfe in Europa<br />
im Gesundheitswesen anschlossen. Und trotzdem rief ein Vorsitzender einer<br />
kleinen Gewerkschaft nach der anderen zur Beendigung oder Eingrenzung von<br />
Streiks auf. Die Mitglieder der großen Gewerkschaften sahen sich vor eine Situation<br />
gestellt, in der es kaum Hoffnung auf einen Kampf gab, und so stimmten<br />
sie unter Murren dem Rentenabkommen zu. Im Herbst 2012 erteilte auch die<br />
Gewerkschaft NUT, von der man einen Streik erwartet hatte, Streikaktionen eine<br />
Absage. Nun wandelte sich der Aufruf zu einem koordinierten Vorgehen, der im<br />
Jahr 2011 den Kampfesmut der Arbeiterinnen und Arbeiter gestärkt hatte, in<br />
eine Entschuldigung für Untätigkeit. Die Führung der NUT verwies auf die fehlende<br />
Streikbereitschaft der großen Lehrergewerkschaft NASUWT.<br />
Eine zweite vom TUC unterstützte Demonstration im Oktober 2012 zog<br />
200.000 Teilnehmer an und spiegelte den Wunsch vieler Aktivisten nach Aktion<br />
ebenso wie ihre Verbitterung wider. Nach diesem Ausverkauf sprachen die<br />
großen Gewerkschaftsführungen von einem möglichen Generalstreik und verbanden<br />
dies mit einem Aufruf zur Unterstützung der Labour Party bei den anstehenden<br />
Wahlen. Len McClusky, der Vorsitzende der größten britischen Gewerkschaft,<br />
Unite, sagte: »Da die Arbeiterklasse sich wieder Geltung verschafft,<br />
ist Labour ihr natürliches, historisches Sprachrohr. […] Und das ist das Bündnis<br />
[zwischen den Gewerkschaften und Labour], das Labour im Jahr 2015 zum Sieg<br />
verhelfen wird.« 63<br />
Die Linke hat sich darauf konzentriert, wieder offizielle Streiks gegen die Angriffe<br />
herbeizuführen, die die Regierung in rascher Folge verabschiedet. Deshalb<br />
hat die Socialist Workers Party (SWP) vor zwei Jahren Unite the Resistance gegründet,<br />
ein Bündnis aus linken Gewerkschaftsfunktionären, die bereit sind,<br />
Streiks zu unterstützen. Die Initiative hat eine Reihe erfolgreicher Demonstrationen<br />
und Konferenzen organisiert, bei denen die SWP weitere Kreise der Arbeiterklasse<br />
in die Debatte über das weitere Vorgehen der Bewegung einbeziehen<br />
und Solidarität mit streikenden Arbeitern organisieren konnte.<br />
Unite the Resistance hat sich unter anderem die Nationale Minderheitsbewegung<br />
in den 1920er Jahren zum Vorbild genommen. Diese wurde von der Kommunistischen<br />
Partei gegründet, die damals mehrere tausend militante Mitglieder<br />
in Großbritannien hatte. Auch diese Bewegung hatte zum Ziel, Arbeiter und linke<br />
Gewerkschaftsfunktionäre zusammenzubringen, um dem Niedergang und der<br />
Demoralisierung nach der großen Niederlage der Arbeiter im Jahr 1921 entgegenzutreten.<br />
Die Bewegung begann unter den Berg- und Metallarbeitern und<br />
wuchs sich schließlich zu einer landesweiten Minderheitsbewegung aus. Sie verlieh<br />
jenen Arbeitern, die kämpfen wollten, größere Zuversicht.<br />
63<br />
McCluskey, <strong>2013</strong>.
Die Klassenkämpfe in Europa 297<br />
Zu ihren Erfolgen zählte der Wiederanstieg des gewerkschaftlichen Organisationsgrads<br />
und der Militanz in einer Reihe von Branchen. Darüber hinaus konnte<br />
die Kommunistische Partei ihre Basis in der Arbeiterklasse ausweiten. Mitte der<br />
1920er Jahre jedoch führten der Druck aus Moskau und die Verwirrung und Orientierungslosigkeit<br />
der Parteiführung zur Anpassung der Bewegung an den linken<br />
Flügel der Bürokratie. Als es im Jahr 1926 zum Generalstreik kam, begnügte<br />
sich die Bewegung mit dem Aufruf, »alle Macht in die Hände des Generalrats des<br />
TUC« zu legen und unterstützte die Bürokratie, als diese die Streikbewegung in<br />
eine verheerende Niederlage führte. 64<br />
Um eine solche Entwicklung zu verhindern, darf sich Unite the Resistance<br />
nicht einfach darauf beschränken, linke Funktionäre und einfache Arbeiterinnen<br />
und Arbeiter zusammenzubringen. Arbeiterinnen und Arbeiter müssen auch<br />
dazu ermutigt werden, auf die Funktionäre Druck auszuüben und sie zu kritisieren.<br />
UtR muss außerdem als Ziel vor Augen haben, jene Arbeiterinnen und Arbeiter<br />
zusammenzubringen, mit denen eine echte Basisbewegung aufgebaut werden<br />
kann. Wie gut durchdacht jedoch ein solcher Ansatz auch sein mag, die<br />
Möglichkeit für den Aufbau einer Basisbewegung hängt von etwas ab, das eine<br />
kleine revolutionäre Linke nur beeinflussen, aber nicht garantieren kann: einem<br />
ausreichend machtvollen Wiedererstarken der Arbeiterbewegung.<br />
Schlussfolgerung<br />
Das komplizierte Verhältnis zwischen Krise und Widerstand macht es unmöglich,<br />
eine allgemeingültige Antwort darauf zu geben, welche Taktik die Linke anwenden<br />
sollte. Der Unterschied in Tempo und Tiefe der Krise, die unterschiedlichen<br />
politischen Faktoren und Strukturen der Gewerkschaften und das Vorhandensein<br />
einer unterschiedlich starken revolutionären Linken in den verschiedenen<br />
Ländern erfordert unterschiedliche Ansätze.<br />
Eine Beobachtung aber, die wir machen können, ist die zentrale Bedeutung des<br />
Politischen in den entstehenden Kämpfen, zumal es in der vorangegangenen<br />
Phase im Großen und Ganzen keine schrittweise Zunahme von Kämpfen gegeben<br />
hat, die den Arbeitern ausreichend Vertrauen in die Selbstaktivität der Basis<br />
geben konnten. Das macht es nötig, die politischen Unruhen zu nutzen, um die<br />
Möglichkeit von Arbeitskämpfen in den Betrieben zu erhöhen, und die offiziellen<br />
Streiks dazu zu nutzen, gewerkschaftliche Aktivitäten und Organisation von<br />
unten aufzubauen. Eine zweite Beobachtung lautet, dass der noch schwach entwickelte<br />
Kampfzyklus des Jahres 2011 sich weiterentwickelt, dies aber mit Komplikationen<br />
und Spannungen. Wir sollten uns auf Rückschläge wie Fortschritte<br />
64<br />
Cliff und Gluckstein, 1986, S. 117; für eine allgemeine Darstellung der Minderheitsbewegung<br />
siehe S. 103–140.
298 Die Klassenkämpfe in Europa<br />
einstellen. Die gegenwärtige Phase bleibt in jedem Fall von ideologischem<br />
Durcheinander, politischer Instabilität und massivem Druck auf die Beschäftigten<br />
geprägt. In einigen Fällen hat dies seit Ausbruch der Krise zu einem Anstieg<br />
von Arbeitskämpfen geführt. In anderen Fällen gibt es wenig Anzeichen für<br />
einen nachhaltigen Aufschwung von Eigenaktivität, sondern nur ein Potenzial<br />
dafür, das sich in den kommenden Monaten oder Jahren zeigen könnte.<br />
Gramsci forderte »Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens« ein. 65<br />
Angesichts der Verbindung der Möglichkeiten, die sich in der kommenden Periode<br />
ergeben könnten, und der enormen Herausforderungen für die geringen<br />
Kräfte der revolutionären Linken, scheinen diese Worte, wenn wir die sich bietenden<br />
Möglichkeiten ausschöpfen wollen, besonders treffend.<br />
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Portugal: Von der<br />
Mobilisierung zum<br />
Widerstand<br />
Horizonte des Kampfs gegen die Sparpolitik<br />
Von Catarina Principe *<br />
Portugal, eins der EU-Länder, die die Troika aus Internationalem Währungsfonds,<br />
Europäischer Zentralbank und EU-Kommission in Haftung genommen<br />
hat, wird einer zunehmend gnadenlosen Kürzungspolitik unterworfen, die das<br />
Land in eine beispiellose Rezession mit Massenverarmung treibt. Dem Mandat<br />
der Troika kommen noch weitere hauseigene Kürzungen der gegenwärtigen Regierung<br />
hinzu. Es ist das rasanteste und brutalste neoliberale Programm, das<br />
das Land jemals erlebt hat. Die konservative Regierung ihrerseits nimmt die<br />
Krise und das Troika-Memorandum zum Vorwand für einen Frontalangriff auf<br />
Arbeitnehmerrechte und den Sozialstaat. Die Forderungen der europäischen<br />
und portugiesischen herrschenden Klassen nach weiteren Kürzungen scheinen<br />
kein Ende nehmen zu wollen.<br />
Diese heftigen Angriffe haben jedoch keinen allgemeinen Widerstand hervorgerufen.<br />
Es hat in den letzten zwei Jahren Massenmobilisierungen gegeben, zu<br />
denen die Monsterdemonstrationen gegen Kürzungen am 12. September 2012<br />
und am 2. März <strong>2013</strong> zählen. Es gelang diesen jedoch nicht, sich zu einem verallgemeinerten<br />
Widerstand zu entwickeln, der die Kräfteverhältnisse zwischen<br />
den Klassen verschieben könnte. In diesem Artikel soll der Versuch unternommen<br />
werden, diese Entkopplung daraus zu erklären, dass die Massenmobilisierungen<br />
quasi »außerhalb« jener nationalen Strukturen stattfinden, die einen umfassenden<br />
und längerfristigen Widerstand organisieren könnten. Diese Kluft<br />
zwischen den Mobilisierungen und den sozialen Strukturen ist Ergebnis einer<br />
bewussten Orientierung der sozialen Bewegungen weg von einer Organisierung<br />
in den Betrieben und in den Gemeinden. Diese vor etwa sechs Jahren getroffe-<br />
*<br />
Aus dem Englischen von David Paenson
304 Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand<br />
ne Entscheidung hatte zu dem Zeitpunkt ihre Berechtigung, sie zeigt aber mittlerweile<br />
deutliche Schwächen. Hier wollen wir die Geschichte des Widerstands in<br />
Portugal in den letzten Jahren, mit ihren Höhepunkten und Beschränkungen,<br />
nachzeichnen und analysieren, um im Geist der Solidarität einen Beitrag zur Strategiedebatte<br />
zu leisten.<br />
»Sie wollen uns prekarisieren, wir werden rebellieren« 1<br />
Im Jahr 2007 beschloss eine Gruppe Aktivistinnen und Aktivisten aus der Studentenbewegung,<br />
das Konzept des »EuroMayDay« in Portugal einzuführen. Die<br />
Gewerkschaften mit ihren bürokratisierten und geschlossenen Strukturen reagierten<br />
nur sehr träge auf die steigende Zahl prekärer Arbeitsverhältnisse. Prekarität<br />
wurde als ein Generationenproblem abgetan, das ältere Arbeitnehmer angeblich<br />
nicht berührte, und manche schoben den Jugendlichen die Schuld zu,<br />
weil diese nicht willens oder interessiert seien, für ihre Rechte einzutreten. Solche<br />
Einstellungen waren auch in den Gewerkschaften weit verbreitet. Außerdem war<br />
der Begriff Prekarität für die meisten portugiesischen Arbeiter ein Fremdwort,<br />
denn ihnen fehlte eine kollektive Definition ihrer Arbeitsbedingungen. Die meisten<br />
hatten eine individualisierte Sicht, nach dem Motto: »Ich habe einen Zeitvertrag,<br />
ich bin nicht prekarisiert« oder »Ich wurde von einer Zeitarbeitsfirma vermittelt,<br />
das ist so in meinem Beruf, aber das ist kein allgemeines Problem.«<br />
In diesem politischen Kontext war die Entscheidung, den EuroMayDay als frische,<br />
junge und neue Protestform einzuführen, aus mehreren Gründen die richtige:<br />
• Wir verstanden die Notwendigkeit, Prekarität als etwas zu begreifen, das alle<br />
Lebensbereiche tangiert. Die Idee vom »prekären Leben« als gemeinsamem<br />
Ausgangspunkt eröffnete uns die Möglichkeit, Prekarität nicht bloß als einen<br />
auf die Arbeitswelt beschränkten Zustand zu begreifen, sondern zu sehen,<br />
wie diese in Beziehung steht zu Fragen der Unabhängigkeit, der Selbstbestimmung,<br />
der Lebensplanung und auch der Diskriminierung und des Rassismus.<br />
• Indem wir den Konflikt in einem breiteren Rahmen verorteten, und dank der<br />
Kreativität einer von jungen Menschen geführten Bewegung konnten wir<br />
dem öffentlichen Diskurs über Prekarität eine neue Richtung geben. Sie wurde<br />
nicht mehr als das Ergebnis einer individuellen Entscheidung aufgefasst,<br />
sondern als eins politischer und ökonomischer Prozesse. Daher existiert heute<br />
in Portugal ein kollektives Verständnis davon, was Prekariat ist und wie es<br />
alle ganz unabhängig vom Alter betrifft.<br />
1<br />
Eine der prominentsten Slogans der Bewegung gegen Präkarisierung
Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand 305<br />
• Weil wir wussten, dass bald die gesamte portugiesische Arbeiterklasse von<br />
Prekarität betroffen sein würde, lehnten wir die Vorstellung, es sei ein Generationenproblem,<br />
ab. Wir organisierten den EuroMayDay bewusst nicht als<br />
Konkurrenzveranstaltung zu den traditionellen Gewerkschaftsdemonstrationen<br />
– wie das in mehreren anderen Ländern der Fall war –, sondern versuchten<br />
vielmehr, »dem Kampf weitere hinzuzufügen«. Das taten wir, indem wir<br />
Verbindungen aufbauten und uns an den gewerkschaftlichen Protesten beteiligten<br />
und für sie mobilisierten – so nehmen die Beteiligten am EuroMayDay<br />
immer auch an den offiziellen Maidemonstrationen der Gewerkschaften teil.<br />
Diese Orientierung ermöglichte uns, neue Verbindungen zwischen den Gewerkschaften<br />
und den sozialen Bewegungen aufzubauen, und auch wenn diese<br />
sehr brüchig sind, spielen sie doch eine wichtige Rolle in den gegenwärtigen<br />
Protesten gegen die Troika.<br />
Es gibt mehr Arbeitslose als Gewerkschaftsmitglieder in Portugal, und die meisten<br />
prekär Beschäftigten sind keine Gewerkschaftsmitglieder. Portugals größter<br />
gewerkschaftlicher Dachverband, die CGTP, widmete sich nur sehr unzureichend<br />
dieser Problematik und hinterließ ein großes Vakuum, das es zu füllen galt. Angesichts<br />
des allgemein niedrigen Niveaus der Klassenkämpfe und unserer fehlenden<br />
Verbindungen zu den Gewerkschaften, entschlossen wir uns, außerhalb der<br />
Betriebe zu organisieren. Das war zum damaligen Zeitpunkt die richtige Entscheidung.<br />
Die CGTP ist ein ziemlich kämpferischer Dachverband und steht der Kommunistischen<br />
Partei Portugals (PCP) sehr nah. Ihr Apparat ist allerdings sehr verschlossen,<br />
ihre Strukturen sind stark verbürokratisiert, und die CGTP beäugt jegliche<br />
Aktivität, die nicht aus den eigenen Reihen initiiert wird, äußerst argwöhnisch.<br />
Hinzu kommt, dass viele der jungen Aktivistinnen und Aktivisten, die die<br />
Bewegung gegen Prekarität in Gang setzten, dem Bloco de Esquerda der radikalen<br />
Linken oder mehr autonomistisch geprägten Gruppierungen nahe stehen<br />
und daher nur über wenig bis gar keinen Einfluss in den Gewerkschaften verfügen.<br />
Unter diesen Bedingungen war eine reale Kooperation zwischen der Gewerkschaftsführung<br />
und der Bewegung mehr oder minder ausgeschlossen. Ohne<br />
Verankerung in den traditionellen Strukturen der Gewerkschaftsbewegung war<br />
die soziale Bewegung gezwungen, prekarisierte Arbeiter und Arbeiterinnen außerhalb<br />
des Produktionsprozesses zu organisieren. Es war eine notwendige und<br />
richtige Entscheidung, die allerdings Zeichen unserer Schwäche, nicht unserer<br />
Stärke war. Genau der Versuch, aus dieser Notwendigkeit eine Tugend zu machen,<br />
bremst die Bewegung heute aus.<br />
Die EuroMayDay-Demonstrationen finden seit 2007 in Lissabon und seit 2009<br />
in Porto statt. Zwei bedeutende Organisationen sind aus ihnen entstanden, die
306 Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand<br />
Precários Inflexíveis (die unflexiblen Prekären) in Lissabon, und Ferve – Fartos<br />
d’Estes Recibos Verdes (Wir haben diese grünen Belege satt) in Porto. Diesen<br />
beiden Gruppierungen ist es gelungen, die Frage der Prekarität über das ganze<br />
Jahr auf der politischen Agenda zu halten (während die EuroMayDay-Netzwerke<br />
nur in den Monaten vor dem 1. Mai in Aktion treten), sie haben eine wichtige öffentlichkeitswirksame<br />
Plattform gebildet, die auch in den Medien sehr präsent<br />
ist, und sie haben eigene Kampagnen initiiert. Die Tatsache jedoch, dass wir<br />
ständig außerhalb der Betriebe aktiv waren, erschwerte es uns außerordentlich,<br />
die Arbeiterinnen und Arbeiter mit ihren Alltagsproblemen anzusprechen. Es<br />
fehlte uns überhaupt an den notwendigen Ressourcen, Kämpfe vor Ort, geschweige<br />
denn Streiks, zu organisieren. Der Kern dieser Organisationen setzt<br />
sich aus den engagiertesten Aktivisten zusammen, die allerdings kein soziales<br />
Umfeld für ihre Interventionen haben, sodass organisatorisches Wachstum,<br />
wenn überhaupt, dann nur extrem langsam verläuft. Wir haben keinen Einfluss<br />
in den Betrieben und bekommen daher aus ihnen keine Rückmeldungen, die<br />
aber für eine Arbeiterorganisation lebensnotwendig sind. Dennoch waren diese<br />
Organisationskerne ständig präsent bei der Gestaltung und Mobilisierung zu den<br />
wichtigsten Protesten der letzten beiden Jahre in Portugal.<br />
Die »verzweifelte Generation«<br />
Seit dem 12. März 2011 hat es mehrere Protesthöhepunkte gegeben, die Erwähnung<br />
verdienen. Die Demonstration der »verzweifelten Generation« am 12. März<br />
2011, die »wirkliche Demokratie jetzt«-Demonstration am 15. Oktober 2011 und<br />
die beiden »Scheiß auf die Troika«-Demonstrationen am 15. September 2012<br />
und am 2. März <strong>2013</strong>.<br />
Eine portugiesische Folkgruppe hatte im Januar 2011 ein Lied herausgebracht<br />
mit dem Titel: »Parva Que Sou« (wie dumm ich bin), das die grassierende Prekarität<br />
und den Mangel an Perspektiven für die Jugend anprangerte. Das Lied überschwemmte<br />
das Internet und inspirierte eine Gruppe von vier Jugendlichen, über<br />
Facebook zu einer Demonstration am 12. März aufzurufen. Fast eine halbe Million<br />
Menschen in vielen Städten gingen auf die Straße, es war eine der größten<br />
Demonstrationen seit der portugiesischen Revolution von 1974/75.<br />
Der Demonstrationsaufruf hatte die unerträgliche Situation einer Generation<br />
ohne Zukunft zum Fokus gemacht. Weil er aber sehr allgemein formuliert war,<br />
versuchten neoliberale Kräfte ihn zu vereinnahmen. Die verantwortlichen Organisatoren<br />
ersuchten daraufhin die Initiativen gegen das Prekariat, die LGBT und<br />
andere Bewegungen um Hilfe, die diese bereitwillig leisteten, ohne die Autonomie<br />
der neuen Bewegung infrage zu stellen. So konnten sie einer Vereinnahmung<br />
durch die Rechte zuvorkommen, auch dem Versuch, das Problem als Generatio-
Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand 307<br />
nenkonflikt abzutun. Es gelang, eine wirklich generationenübergreifende Solidarität<br />
herzustellen. Die Demonstration umfasste junge, prekarisierte Arbeiter zusammen<br />
mit ihren Eltern und Großeltern, die aus Solidarität dabei waren, aber<br />
auch deswegen, weil sie ihre eigene Ablehnung der von der regierenden Sozialistischen<br />
Partei (PS) vorgeschlagenen Kürzungen zum Ausdruck bringen wollten.<br />
Einen Teil ihres Erfolgs verdankte die Demonstration der medialen Aufmerksamkeit<br />
im Vorfeld – unmittelbar im Gefolge des Arabischen Frühlings und der<br />
breiten Debatte über die Rolle der neuen Medien bei der Organisierung von Protesten.<br />
Denn hier war ja ein ähnlicher Mechanismus am Werk, der viel Aufsehen<br />
auf sich zog. Außerdem litt die PS-Regierung von José Sócrates nach mehreren<br />
Kürzungsrunden unter einem enormen Vertrauensverlust. Die Medien halfen der<br />
Mobilisierung aus dem Kalkül, der Regierung zu schaden, verloren aber schnell<br />
das Interesse daran, als die Demonstration einmal vorbei war.<br />
Es wäre allerdings ein Fehler, den Erfolg der Demonstration allein der medialen<br />
Aufmerksamkeit zuzuschreiben. Der 12. März steht auch für eine neue Herangehensweise<br />
an die Mobilisierung. Wegen seines unbestimmten Charakters zog<br />
sie ein breites Spektrum von Menschen und Bevölkerungsschichten weit über<br />
den üblichen Wirkungskreis der Gewerkschaften und linken Parteien hinaus an.<br />
Daher auch der enorme Argwohn der Gewerkschaften und der Kommunistischen<br />
Partei gegenüber einer Massenbewegung, die sich ihrer Kontrolle entzog.<br />
Bemerkenswert ist, dass die allgemeine Unzufriedenheit und die vielerorts geäußerte<br />
Kritik an den demokratischen Institutionen keinen Niederschlag in den<br />
Parlamentswahlen am 5. Juni 2011 fanden. Der Inhalt des Troika-Memorandums<br />
(das die PS, die rechts stehende PSD der portugiesischen Sozialdemokraten und<br />
die konservative christdemokratische CDS bereits vor den Wahlen unterzeichnet<br />
hatten) wurde erst lange nach den Wahlen veröffentlicht, so dass die meisten<br />
Wähler dessen Bedeutung nicht einschätzen konnten. Das allgemein herrschende<br />
Gefühl der Unvermeidlichkeit und Notwendigkeit der Kürzungsmaßnahmen, um<br />
die portugiesische Wirtschaft zu »retten«, trugen das Ihre dazu bei, die linken<br />
Gegner des Memorandums zu marginalisieren: Blocos Stimmenanteil fiel von<br />
fast 10 Prozent noch im Jahr 2009 auf nur noch 5,2 Prozent, bei einer Wahlenthaltung<br />
von 40 Prozent. Die Kommunisten mit ihrer sehr gefestigten Basis<br />
konnten ihr früheres Wahlergebnis halten, gewannen aber keine neuen Stimmen<br />
hinzu. Auf die Gründe für den tiefen Absturz des Bloco gehen wir weiter unten<br />
ein. Dennoch kann man festhalten, dass die Mobilisierung des 12. März eine sehr<br />
aufmunternde Erfahrung war, die die sozialen Bewegungen mit der nötigen Frischluft<br />
versorgte.
308 Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand<br />
Der 15. Oktober 2011 – Wirkliche Demokratie jetzt!<br />
Die Platzbesetzungsbewegung erfasste 2011 auch Portugal. Sie begann als Versuch,<br />
die mächtigen Besetzungen von Plätzen in Spanien und Griechenland, allerdings<br />
in viel kleinerem Maßstab, nachzuahmen. Anfang Mai, auf dem Höhepunkt<br />
des Wahlkampfes, besetzten etwa hundert Aktivistinnen und Aktivisten<br />
zwei Wochen lang einen zentralen Platz in Lissabon. Es gab weitere Platzbesetzungen<br />
in Porto, Coimbra und Ponta Delgada. Die Politik der Acampadas nachahmend<br />
entwickelten sich die Forderungen von der spezifischen Frage der Prekarität<br />
zu einer Systemkritik. Die Platzbesetzungsbewegung nahm Verbindung<br />
mit den Aktivisten der Mobilisierung zum 12. März auf und es entstand ein<br />
Netzwerk, das sich dem internationalen Aufruf zu einer Demonstration gegen<br />
Kürzungspolitik am 15. Oktober 2011 anschloss.<br />
Die Regierung veröffentlichte ihren Entwurf für den Haushalt von 2012 am<br />
13. Oktober. Er sah einschneidende Lohnkürzungen und die Abschaffung des<br />
Urlaubsgeldes im Öffentlichen Dienst vor. Über 100.000 Menschen protestierten<br />
dagegen in Lissabon, in Porto waren es 15.000. In Lissabon umzingelten die Demonstranten<br />
das Parlement und veranstalteten eine eigene Vollversammlung, die<br />
die ganze Nacht anhielt. Bemerkenswerterweise verabschiedete sie einen Aufruf<br />
zum Generalstreik, obwohl viele der Teilnehmer mit ihrem politischen Aktivismus<br />
Neuland betraten.<br />
Aufbauend auf dieser Bewegung riefen die beiden Gewerkschaftsdachverbände<br />
Portugals zu einem Generalstreik am 24. November auf. Dieser Streik, Ergebnis<br />
der Initiative aus der Bewegung, hatte einen anderen Charakter als die ritualisierten<br />
jährlichen Ein-Tages-Aktionen der Vergangenheit.<br />
Der 15. Oktober markierte eine Reihe wichtiger politischer Entwicklungen in<br />
Portugal. Die wichtigste betraf den qualitativen Sprung in den politischen Forderungen<br />
seit dem 12. März. Die Demonstration vom 12. März war politisch unbestimmt<br />
und uneinheitlich. Sie umfasste die antikapitalistische Linke, die sozialen<br />
Bewegungen (die feministische Bewegung, LGBT, die Bewegung gegen Prekarität,<br />
die antirassistische Bewegung) und Teile der politischen Rechten – wobei sogar<br />
manche extreme Rechte den Versuch unternahmen, sich in die Demonstration<br />
einzureihen. Im Oktober war der Fokus klarer. Es ging nicht mehr nur um<br />
eine Kritik an der Prekarität und der unsicheren Zukunft, die Bewegung richtete<br />
ihre Kritik jetzt viel konkreter gegen die Regierung und die Kürzungsmaßnahmen<br />
generell. Die Oktoberdemonstration war viel kleiner, aber qualitativ ein<br />
Fortschritt.<br />
Die Oktoberbewegung wurde auch bereichert durch Fragen, die die Occupy-<br />
Bewegung aufgeworfen hatte: das Wesen der parlamentarischen Demokratie und<br />
demokratischer Institutionen, die Gegnerschaft zur Herrschaft der »1 Prozent«
Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand 309<br />
und ein allgemeines Misstrauen gegenüber etablierten politischen Parteien und<br />
Organisationen, wie wir es in diesem Ausmaß noch nicht erlebt hatten (das Gefühl<br />
gab es schon in Portugal, wurde aber noch nie so laut und dezidiert zum<br />
Ausdruck gebracht wie heute). Die niederschmetternden Wahlergebnisse der<br />
Linken, die 40 Prozent Wahlenthaltung und der fortgeschrittene Prozess der Institutionalisierung<br />
der radikalen Linken (auf den wir später noch eingehen werden)<br />
schufen eine Atmosphäre und den politischen Raum für das Misstrauen gegenüber<br />
politischen Organisationen und Gewerkschaften. Es ist wichtig, diesen<br />
Zusammenhang zu verstehen, da es ein Problem ist, mit dem die radikale Linke<br />
heute noch konfrontiert ist.<br />
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Verhältnis zur CGTP. Der im Jahr 2007<br />
angebahnte Dialog zwischen den Bewegungen und den Gewerkschaften ist sehr<br />
beschränkt. Die Zusammenarbeit zwischen den sozialen Bewegungen und der<br />
Gewerkschaftsbürokratie ist dennoch eine sehr erfreuliche Entwicklung. Sie ist<br />
Beleg dafür, dass die Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung sich nicht gegen<br />
die traditionellen Arbeiterorganisationen stellen. Aber ihre Reichweite ist<br />
nach wie vor sehr begrenzt. Ihnen fehlt jegliche Organisation an der Basis, über<br />
die sie breitere Teile der Arbeiterklasse direkt ansprechen könnten, so dass sie<br />
auf den guten Willen der bürokratischen Führungen angewiesen bleiben.<br />
»Scheiß auf die Troika – wir wollen unser Leben zurück!«<br />
Nach den Demonstrationen im Oktober gab es fast ein ganzes Jahr lang keine<br />
Proteste mehr. Es gab zwar einen Generalstreik am 22. März und Kämpfe in einzelnen<br />
Branchen. Aber die großen Medien und die Politik zeichneten ein Bild<br />
von Portugal als Musterschüler des europäischen Südens. Die Bevölkerung akzeptiere<br />
die Notwendigkeit der Sparpolitik und sehe ein, dass sie über ihre Verhältnisse<br />
gelebt habe und deswegen Opfer bringen müsse. Das portugiesische<br />
Volk und die Regierung würden in der Troika einen guten Freund sehen.<br />
Das Bild ist nicht vollkommen falsch: Die Vorstellung von der Unvermeidlichkeit<br />
der Sparpolitik beherrschte tatsächlich das Denken der Menschen. Viele<br />
dachten, es gäbe dazu keine Alternative, und suchten nach individuellen Lösungen.<br />
Eine politische Antwort fiel auch deswegen schwer, weil manche der von<br />
der Regierung vorgeschlagenen Maßnahmen bis <strong>2013</strong> hinausgezögert wurden, so<br />
dass die Auswirkungen auf die Bevölkerung gedämpft wurden. Portugal schien<br />
sich den Forderungen der Troika fügen zu wollen, und wurde als positives Gegenbeispiel<br />
zu Griechenland hingestellt, wo die Linke gerade begonnen hatte, die<br />
politische Landschaft auf den Kopf zu stellen.<br />
Angesichts dieser Flaute riefen Organisatoren der Bewegung gegen Prekarität<br />
zusammen mit anderen, darunter auch öffentlichen Persönlichkeiten, zu einer
310 Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand<br />
Demonstration am 15. September 2012 auf. Der Zeitpunkt wurde gewählt, weil<br />
er zusammenfiel mit dem Beginn des neuen politischen Jahres und den damit<br />
einhergehenden Debatten über den Staatshaushalt <strong>2013</strong>. Die Aktivisten wussten<br />
auch, dass das neue Schuljahr neuen Unmut mit sich bringen würde, da tausende<br />
Lehrerinnen und Lehrer wegen der Kürzungen im Bildungsbereich keine Jobs<br />
hatten. Es wurde in erster Linie über Facebook mobilisiert, und auch diesmal<br />
stand die Demonstration im Mittelpunkt des medialen Interesses.<br />
Premierminister Pedro Passos Coelho und Finanzminister Vitor Gaspar verkündeten<br />
die für <strong>2013</strong> geplanten Kürzungsmaßnahmen am 7. September. Neben<br />
weiteren Lohn- und Rentenkürzungen sah die Haushaltsplanung die Abschaffung<br />
des Urlaubsgelds für den Öffentlichen Dienst sowie eine massive Erhöhung<br />
der Sozialabgaben vor. Konkret bedeutete das Maßnahmepaket den Verzicht auf<br />
einen ganzen Monatslohn zugunsten der Bosse, eine weitere Senkung der Inlandsnachfrage<br />
und die Bestrafung der ärmsten Teile der Gesellschaft.<br />
Diese Maßnahmen spornten eine Welle des Widerstands an. Der Demonstrationsaufruf<br />
verbreitete sich über Facebook und in den Medien mit rasanter Geschwindigkeit.<br />
Das informelle Netzwerk der Demonstrationsaufrufer kontaktierte<br />
auch die Gewerkschaften, erhielt von ihnen aber keine Antwort. Aber trotz<br />
der Weigerung der Gewerkschaftsbürokratie, die Demonstration aktiv zu unterstützen<br />
(der Gewerkschaftsvorsitzende erklärte am 14. September immerhin, er<br />
würde selbst als Privatperson an ihr teilnehmen), beteiligten sich die Mitglieder<br />
und Aktivisten an der Basis zahlreich.<br />
»Scheiß auf die Troika – wir wollen unser Leben zurück«, war das Motto der<br />
Demonstration am 15. September. Es war das größte politische Ereignis seit der<br />
Revolution von 1974. Etwa eine Million Menschen in 40 Städten gingen auf die<br />
Straße (hinzu kamen Solidaritätsdemonstrationen in Brasilien und Europa). Auf<br />
der Abschlusskundgebung riefen die Organisatoren zu einem alle Lebensbereiche<br />
umfassenden Streik auf.<br />
Die Ankündigung der Erhöhung der Sozialabgaben rief allgemeine Empörung<br />
hervor. Es fand sich keiner, der sie öffentlich verteidigt hätte, nicht einmal Mitglieder<br />
des Troika-Komitees. Das Verfassungsgericht Portugals erklärte die Maßnahmen<br />
derweil für verfassungswidrig. Die Regierung sah sich genötigt, beide<br />
Maßnahmen zurückzuziehen. Stattdessen ließ sie verlauten, sie würde bald Alternativmaßnahmen<br />
verkünden.<br />
Währenddessen beschloss die CGTP, für den 29. September zu einer Demonstration<br />
aufzurufen. 200.000 Menschen folgten dem Aufruf in Lissabon. Der Generalsekretär<br />
der CGTP erklärte in seiner Rede, dem populären Ruf nach einem<br />
Generalstreik folgen zu wollen, ohne allerdings ein Datum zu nennen.<br />
Während einer Fernsehansprache am 3. Oktober verkündete der Finanzminister<br />
neue Maßnahmen. Nachdem er die beiden wichtigsten Vorhaben – die Erhö-
Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand 311<br />
hung der Sozialabgaben und die Streichung des Urlaubsgelds – hatte zurücknehmen<br />
müssen, kam er jetzt mit der größten Erhöhung der Einkommenssteuer in<br />
der ganzen Geschichte Portugals, nämlich um satte 35%. Damit ersetzte die Regierung<br />
bloß die eine Kürzungsmaßnahme durch eine andere in gleicher Höhe.<br />
Nach diesem brutalen Angriff rief die CGTP zu einem Generalstreik am 14.<br />
November auf, und ihr spanischer Gegenpart erklärte seinen Willen, sich daran<br />
zu beteiligen und daraus einen iberischen Generalstreik zu machen. Der Europäische<br />
Gewerkschaftsbund kam am 16. Oktober zusammen, um die Möglichkeit<br />
einer Ausweitung der Generalstreiks auf ganz Europa zu diskutieren. Daraus<br />
wurde der erste mehrstaatliche Generalstreik der europäischen Geschichte.<br />
Der Generalstreik vom 14. November zeitigte große Wirkung in Portugal,<br />
nicht nur wegen der sehr hohen Beteiligung, sondern auch weil der Kampf jetzt<br />
eine internationale Perspektive bekam und er einen ersten Schritt zur Entwicklung<br />
europaweiter Proteste gegen die Kürzungspolitik darstellte. Bemerkenswert<br />
an dieser Entwicklung ist die Tatsache, dass der Anstoß zum Streik aus den vorausgehenden,<br />
von Gruppierungen außerhalb der Gewerkschaft organisierten<br />
Mobilisierungen kam. Zugleich machte er die Schwäche dieser Bewegungen offensichtlich,<br />
denn obwohl eine Million Menschen auf die Straße gingen, hatten<br />
die Organisatoren der Bewegungen keinen Einfluss auf die gewerkschaftlichen<br />
Entscheidungen. Sie mussten vielmehr auf die Unterstützung für den Streik<br />
durch die Führung der CGTP warten, damit er möglich wurde.<br />
Die Schwächen des Widerstands<br />
Diese drei Momente der Massenmobilisierung in Portugal haben Ähnlichkeiten<br />
miteinander: Sie wurden von »wurzellosen« Bewegungen initiiert, sie zeigten ein<br />
enormes Mobilisierungspotenzial weit über die Reihen der bereits Aktiven hinaus,<br />
sie kamen als unmittelbare Reaktion auf ein konkretes politisches Vorhaben<br />
der Regierung zustande, und sie standen alle im medialen Rampenlicht. Die unglaublich<br />
hohe Zustimmungsrate zu der Kritik der Bewegung an der Kürzungspolitik<br />
belegt, welche ungeahnten Möglichkeiten die radikale Linke Portugals hat.<br />
Was ist also das Problem? Warum erleben wir zur Zeit keine weiteren Mobilisierungen?<br />
Warum gelingt es der Arbeiterklasse nicht, mit Branchen- oder Solidaritätsstreiks<br />
die Regierung unter Druck zu setzen? Warum haben die Auswirkungen<br />
der Kürzungspolitik keinen allgemeinen Widerstandswillen hervorgebracht?<br />
Das sind gegenwärtig die zentralen Fragen, die sich dem portugiesischen Widerstand<br />
stellen.<br />
Wie eingangs gesagt haben wir, als wir die Mobilisierungen gegen Prekarität im<br />
Jahr 2007 in Gang setzten, die richtige Entscheidung getroffen, die den Weg freimachte<br />
für die Schaffung einer kollektiven Identität und eines politischen Anzie-
312 Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand<br />
hungspols in der portugiesischen Gesellschaft. Die Entscheidung, außerhalb der<br />
Betriebe zu organisieren, war allerdings Ausdruck der Schwäche. Wir hatten ganz<br />
einfach nicht die Fähigkeit, die Gewerkschaften politisch zu beeinflussen, und<br />
auch keine Netzwerke innerhalb der Gewerkschaftsstrukturen. Die Gewerkschaftsbürokratie<br />
hat ihrerseits wenig Interesse an der Schaffung von Basisnetzwerken<br />
aktiver Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die ihrer Kontrolle<br />
entgleiten und die Stabilität des Systems in Frage stellen könnten. Die portugiesische<br />
KP betrachtet den Kampf gegen die Troika als einen »nationalen Befreiungskampf«,<br />
mit dem eine »patriotische linke Regierung« beauftragt werden sollte.<br />
Für sie finden der politische und der ökonomische Kampf in unterschiedlichen<br />
und getrennten Sphären statt. Unter diesen Bedingungen bleibt diese wurzellose<br />
Bewegung – von Arbeitern, aber ohne betriebliche Verankerung – von<br />
den Launen der CGTP-Führung abhängig. Die Schwierigkeit zeigte sich sowohl<br />
am 15. Oktober 2011 als auch am 15. September 2012: Obwohl es die größten<br />
Demonstrationen waren, die Portugal seit der Revolution von 1974 erlebt hatte,<br />
mussten deren Organisatoren warten, bis die CGTP grünes Licht für den Generalstreik<br />
gab, und sie hatten kaum Möglichkeiten, diesen Vorgang zu beeinflussen.<br />
Das erklärt zum Teil warum die Generalstreiks »nach dem Kalender« terminiert<br />
wurden und nicht das Ergebnis eines spezifischen Moments in einer unmittelbaren<br />
Konfrontation mit der Regierungspolitik waren.<br />
Auch muss man sehen, dass die Netzwerke gegen Prekarität zwar einen lebendigen<br />
politischen Raum in Portugal geschaffen haben, dass dieser aber mehr virtuell<br />
als konkret bleibt. Diese Gruppierungen setzen die neuen Medien sehr<br />
wirksam ein, sie haben Blogs und Websites eingerichtet, die von prekarisierten<br />
Arbeitern zur Mitteilung ihrer Erfahrungen und für den politischen Austausch<br />
benutzt werden, und sie haben gute Beziehungen zu den traditionellen Medien<br />
aufgebaut, die es ihnen ermöglichen, ihre Forderungen und Kampagnen in den<br />
Nachrichten des Mainstreams zu platzieren. Aber ihr organisatorischer Kern<br />
bleibt klein und ist über die Jahre kaum gewachsen – gerade wegen ihrer Wurzellosigkeit.<br />
Die politische Lage in Portugal ist instabil und kann jederzeit kippen. Wurzellose<br />
Netzwerke wie das unsrige sind nicht immer fähig, schnelle Antworten zu<br />
liefern, wie sich deutlich anlässlich des Besuchs von Angela Merkel in Portugal<br />
am 12. November, gerade einen Monat nach der Demonstration von über einer<br />
Million Menschen und nur zwei Tage vor dem europäischen Generalstreik zeigte:<br />
Nur etwa hundert Menschen erschienen zur Protestkundgebung.<br />
Die Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung gegen Prekarität bilden seit<br />
2007 den Kern des Widerstands. Die Aktivisten der Precários Inflexíveis haben<br />
sich nicht in der allgemeinen Bewegung aufgelöst, sondern agieren nach wie vor<br />
als eigenständige Gruppe mit eigenen Projekten, darunter eine landesweite Petiti-
Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand 313<br />
on gegen ein neues Spargesetz. Diese Petition verschlingt sehr viele Ressourcen,<br />
denn es müssen mindestens 35.000 Unterschriften gesammelt werden, damit sie<br />
gültig ist, und dafür darf nicht das Internet verwendet werden. Es ist erst das<br />
zweite Mal in der Geschichte des Landes, dass eine solche Unterschriftenkampagne<br />
geführt wird. Die Precários Inflexíveis haben sich auch als Verein konstituiert<br />
mit der Möglichkeit der Einzelmitgliedschaft, um so der Atomisierung und<br />
Isolation prekärer Beschäftigungsverhältnisse entgegenzuwirken. Der organisatorische<br />
Kern bleibt dennoch klein und wächst nicht. Die Bewegung hat in einer<br />
höheren Gewichtsklasse gekämpft, was in vielen von uns die Illusion entstehen<br />
ließ, wir wären stärker, als wir in Wirklichkeit sind. Das ist ein Problem, denn es<br />
verleitet uns dazu, den Aufbau von verwurzelten und tragfähigen Netzwerken<br />
des Widerstands in den Betrieben und in den Gemeinden zugunsten einmaliger<br />
Großereignisse ohne Folgekämpfe zu vernachlässigen.<br />
Prekarität und die traditionellen Formen der Organisierung von<br />
Arbeitern<br />
Prekarität beschert Arbeitern ein Leben ständiger Instabilität und unsicherer Zukunftsperspektiven.<br />
Prekäre Verhältnisse gründen in der Verschlechterung der<br />
Arbeitsbedingungen, wirken sich aber auf alle Lebensbereiche aus. Prekarität bedeutet<br />
nicht nur befristete Arbeitsverhältnisse, es geht auch um den so genannten<br />
»falschen grünen Beleg« 2 , der vom portugiesischen Staat massenweise in Umlauf<br />
gebracht wurde und hunderttausenden Menschen einen ordentlichen Arbeitsvertrag<br />
vorenthält, es geht um die Subunternehmer, die etwa die Hälfte des Lohns<br />
einbehalten, es geht um die Alltagserfahrung der Schwarzarbeit. Die Hälfte der<br />
aktiven Arbeitsbevölkerung Portugals pendelt zwischen verschiedenen Formen<br />
von Prekarität, der Unterbeschäftigung und der Arbeitslosigkeit hin und her. 3 Vor<br />
allem erschwert Prekarität eine kollektive Organisierung wegen der Individualisierung<br />
der Arbeitsverhältnisse und der ständigen Drohung mit Entlassung. Prekarität<br />
erfasst immer mehr Berufe und ist generationsunabhängig. Es handelt<br />
sich um eine Neuordnung der Arbeitswelt und des sozialen Gefüges auf der Basis<br />
extremer Ausbeutung und permanenter Erpressung durch die Drohung mit<br />
Arbeitslosigkeit.<br />
Aus diesen Gründen fassen wir Prekarität nicht als Entstehung einer neuen<br />
Klasse in Widerspruch zur Arbeiterklasse, sondern als rasante Zerstörung von im<br />
Verlauf des 20. Jahrhunderts durch Arbeiterkämpfe durchgesetzten Arbeiter-<br />
2<br />
Die falschen grünen Belege sind eine Art Scheinselbständigkeitsvertrag, der von vielen Arbeitgebern<br />
und dem Staat benutzt werden, um eine feste Anstellung sowie die Abführung von Sozialabgaben,<br />
Fortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsgeld und Arbeitslosenbeiträge einzusparen.<br />
3<br />
Zahlen der Bürgerinitiative Precários Inflexíveis auf Grundlage von Daten der INE – Instituto<br />
Nacional de Estatística (Statistikamt): http://www.precariosinflexiveis.org/?p=4241
314 Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand<br />
rechten wie dem Achtstundentag, dem Recht auf Freizeit, Organisations- und<br />
Redefreiheit, Schutzbestimmungen im Fall von Krankheit oder Arbeitslosigkeit,<br />
Anspruch auf bezahlten Urlaub und feste Arbeitsverträge mit klar definierten<br />
Rechten und Garantien, kollektiven Tarifverhandlungen und -verträgen, dem<br />
Aufbau eines Sozialstaats, der allen Zugang zu Bildung und Gesundheit gewährt.<br />
Insofern betrifft die Prekarisierung uns alle, wobei die Arbeiterklasse jene Klasse<br />
ist, die darunter am meisten leidet.<br />
Unsere Einsicht in die politische Bedeutung einer Zusammenführung aller von<br />
Prekarisierung Betroffenen mit den traditionellen Formen von Arbeiterorganisation,<br />
um deren Kampf zu stärken und auf breitere Füße zu stellen, ermöglichte<br />
es uns, eine Beziehung zu den Gewerkschaften aufzubauen.<br />
Die Gewerkschaften sind nach wie vor die repräsentativste Arbeitervertretung.<br />
Allerdings besteht dringender Bedarf nach Erneuerung der Gewerkschaften und<br />
ihrer Strukturen. Die Tatsache, dass in Portugal Arbeiter sich nur in Branchengewerkschaften<br />
organisieren können, erschwert die Organisierung von prekär Beschäftigten,<br />
die ja sehr oft und in kurzen Abständen in ganz unterschiedlichen<br />
Branchen tätig sein müssen. Auch Arbeitslose können keiner Gewerkschaft beitreten.<br />
Schwarzarbeit macht eine Organisierung quasi unmöglich, das ist die Erfahrung<br />
von Arbeitsmigranten. Hinzu kommen die geschlossenen und bürokratischen<br />
Strukturen, die Initiativen von Mitgliedern an der Basis stark hemmen.<br />
Diese Spaltung zwischen den Arbeiterorganisationen und jenen, die außerhalb<br />
von ihnen stehen, allerdings zu einem Antagonismus auszubauen, würde nur die<br />
Gesamtarbeiterklasse schwächen. Prekarität ist vielmehr eine Herausforderung<br />
an die Gewerkschaften, ihre Strukturen und ihre Aktivitäten kämpferischer und<br />
dialogorientierter zu gestalten und das Potenzial der prekarisierten, unterbeschäftigten<br />
und beschäftigungslosen Arbeiterinnen und Arbeiter in gemeinsame<br />
Kampfanstrengungen einfließen zu lassen.<br />
Der Bloco und die Bewegungen<br />
Die Rolle des Bloco de Esquerda, der Partei der radikalen Linken, ist auch von<br />
Bedeutung. Der Bloco wurde im Jahr 1999 von drei radikalen Parteien und einer<br />
breiten Schicht unabhängiger Aktivisten gegründet. Ziel war es, als Oppositionspartei<br />
zu agieren, links von der stalinistischen KP und der sozialliberalen Sozialistischen<br />
Partei. Der Bloco versuchte, eine Brücke zwischen den entstehenden antikapitalistischen<br />
Milieus und der sozialen Basis der PS (Menschen, die lange Jahre<br />
PS-Mitglieder waren, aber von ihrer neoliberalen Wendung enttäuscht waren)<br />
zu bauen. Das Verhältnis des Bloco zu den sozialen Bewegungen sollte von gegenseitigem<br />
Respekt und Zusammenarbeit geprägt sein. Unsere Aktivistinnen<br />
und Aktivisten sollten sich am Aufbau der sozialen Bewegung in solidarischer
Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand 315<br />
Weise beteiligen, respektvoll und mit der Bereitschaft, mit anderen politischen<br />
Strömungen in Debatten zu treten, aber immer mit dem Ziel, die Bewegung als<br />
Ganze voranzubringen.<br />
Zwischen 1999 und 2009 erzielten wir immer eindrucksvollere Wahlergebnisse,<br />
im Jahr 2009 erreichte Bloco einen Stimmenanteil von 10 Prozent. Bei den eilig<br />
einberufenen Wahlen von 2011 sackte die Partei dann auf 5 Prozent ab. Das gab<br />
Anlass für eine Strategiedebatte in den Reihen der Partei, wobei den meisten Aktiven<br />
klar war, dass der Bloco widersprüchliche Signale an seine Anhänger aussandte.<br />
Einerseits war der Bloco bemüht, als »respektable« Partei in Erscheinung<br />
zu treten, um die enttäuschten Anhänger der bis 2011 regierenden PS zu gewinnen.<br />
Andererseits war er bemüht, sein Image als Partei neuen Typs zu bewahren,<br />
die als Alternative zum bestehenden politischen System wahrgenommen werden<br />
wollte. Das führte dazu, dass die Partei in den Augen mancher zu radikal erschien,<br />
anderen wiederum nicht radikal genug, und in der Folge zu dem schlechten<br />
Wahlergebnis von 2005. Aus dieser Debatte entwickelte sich die gegenwärtige<br />
Parteilinie: der Ruf nach einer Regierung der Linken auf Grundlage von vier<br />
Programmpunkten:<br />
• Streichung der überzogenen Schuldenlast, Reduzierung der Schulden auf 60<br />
Prozent des Bruttoinlandsproduktes, Neuverhandlung der Zahlungsfristen<br />
und Zinshöhen mit allen öffentlichen wie privaten, nationalen wie internationalen<br />
Kreditgebern<br />
• Rücknahme aller Lohnkürzungen und eine Garantie aller lebenswichtigen<br />
Sozialleistungen: öffentliche Bildung, öffentliches Gesundheitswesen und öffentliche<br />
Daseinsvorsorge<br />
• Verstaatlichung aller Banken, die Empfänger staatlicher Bankenhilfen sind,<br />
Umlenkung von Investitition in Projekte für die Allgemeinheit und Rücknahme<br />
von Privatisierungen ehemals öffentlicher Wirtschaftssektoren (Energie,<br />
Telekommunikation, usw.)<br />
• Stärkung der finanziellen Kontrollmechanismen, Kampf gegen Steuerbetrug<br />
und eine Verschiebung der Steuerlast von den Arbeitern hin zum Kapital<br />
Diese vier Programmpunkte sollten als Grundlage für eine mögliche linke Regierung<br />
dienen, an der alle politischen Kräfte, die sich zu allen vieren bekannten,<br />
beteiligt sein sollten. Angesichts eines Wahlergebnisses von nur 5 Prozent im<br />
Jahr 2011 kann der Ruf nach einer linken Regierung unter Einschluss der KP<br />
und der PS – vorausgesetzt letztere wäre bereit, das Memorandum der Troika<br />
neu zu verhandeln – nicht als Ergebnis eines Wahlkalküls gesehen werden, sondern<br />
vielmehr als Versuch, in Portugal eine ganz neue Richtung einzuschlagen.
316 Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand<br />
Diese Plattform bringt jedoch kurzfristig (mittel- und langfristig sowieso) Probleme<br />
mit sich. Die KP ist äußerst sektiererisch und unwillens, irgendwelche Projekte<br />
zu unterstützen, die sie nicht kontrollieren kann (ihr Verhältnis zum Bloco war<br />
immer bestenfalls ein misstrauisches). Die PS ist gar nicht an der Macht (im Gegensatz<br />
zur PASOK in Griechenland, als SYRIZA dort zu einer linken Regierung<br />
aufrief) und würde den vier Punkten sowieso nicht zustimmen, da sie selbst das<br />
Memorandum mit unterzeichnet hat. Mittlerweile ist die PS damit beschäftigt,<br />
sich rhetorisch ein linkeres Image zuzulegen, um den Bloco zu marginalisieren –<br />
warum sollte sie sich an einer Linksregierung beteiligen?<br />
Aber abgesehen von diesem politischen Kalkül liegt das Hauptproblem im<br />
Fehlen einer Widerstandsbewegung an der Basis. Wenn der Ruf nach einer linken<br />
Regierung auf der Annahme beruht, dass dazu eine erdbebenartige Verschiebung<br />
der politischen Landschaft Portugals im Zuge wachsender Mobilisierung und<br />
Widerstands notwendig ist, dann müsste dieser Widerstand schon vorhanden<br />
sein, bevor eine potenzielle Linksregierung überhaupt eine soziale Basis hätte.<br />
Die portugiesische Linke hat bedeutende Momente der Mobilisierung erlebt, diese<br />
haben sich aber nicht in einem organisierten Widerstand niedergeschlagen.<br />
Dagegen mit einer institutionell-parlamentarischen Lösung angehen zu wollen,<br />
heißt, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Bevor wir von einer politischen Wende<br />
reden können, müssen wir dafür das Fundament schaffen.<br />
Im Jahr 2012 wurde eine Umfrage zur Qualität der Demokratie in Portugal<br />
veröffentlicht. 4 Die Ergebnisse sind sehr interessant und liefern einige Anhaltspunkte<br />
dafür, wie wir unsere Strategie formulieren könnten. 78 Prozent der Teilnehmer<br />
stimmten der Aussage zu, dass die Politiker nur die eigenen Interessen<br />
verfolgen, 77 Prozent waren der Meinung, dass die wichtigsten politischen Entscheidungen<br />
die Großkonzerne begünstigten. Heraus kam auch ein enormes<br />
Misstrauen den Parteien gegenüber, während den sozialen Bewegungen eher zugetraut<br />
wird, die Sorgen der Menschen zu vertreten. Das öffentliche Vertrauen in<br />
demokratische Institutionen schwindet zusehends, nicht zuletzt, weil die portugiesische<br />
Regierung als Geisel der internationalen Institutionen gesehen wird. In<br />
dieser Situation ist die Suche nach einer ausschließlich oder auch nur primär institutionellen<br />
Lösung außerordentlich problematisch und beschränkt. Wahlen<br />
und parlamentarische Manöver verändern die Gesellschaft nicht grundlegend –<br />
was das Verhältnis der Menschen zur Politik ändert, sind Aktivismus, gemeinsame<br />
Erfahrungen und Organisation.<br />
Der Bloco muss das immense Potenzial seiner Aktivistinnen und Aktivisten<br />
einsetzen, um vor Ort Strukturen zu schaffen, die in der Lage sind, breit angelegte<br />
Kampagnen zur Verteidigung lokaler Institutionen und öffentlicher Güter zu<br />
4<br />
Pinto, Magalhães, Sousa, and Gorbunova, 2012: »A Qualidade da Democracia em Portugal: A<br />
perspectiva dos Cidadãos«
Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand 317<br />
organisieren. Vor allem angesichts der kommenden Kommunalwahlen wäre eine<br />
solche Herangehensweise sehr vielversprechend. Zugleich muss die Partei in den<br />
Bewegungen präsenter sein und die Solidaritätsnetzwerke stärken, beispielsweise<br />
um Zwangsräumungen zu verhindern oder bei der Organisierung von Volksküchen<br />
– nicht mit dem Ziel, den Staat aus seiner Verantwortung zu entlassen, sondern<br />
um die Botschaft zu vermitteln, dass kollektive Probleme (Arbeitslosigkeit,<br />
Armut, Hunger und Wohnungsnot) nicht individuell zu lösen sind. Die Aktivisten<br />
des Bloco müssen auch angesichts der politischen Herausforderungen, vor<br />
denen die Bewegung steht, ein breiteres Verständnis dafür entwickeln, dass es<br />
sich nicht um vorübergehende Probleme handelt, sondern um eine Krise des<br />
Systems. Die Partei muss die Möglichkeit und Notwendigkeit von Alternativen<br />
zum Kapitalismus artikulieren und den Menschen helfen zu glauben, dass sie<br />
auch machbar sind, wenn wir sie gemeinsam aufbauen.<br />
Von der Mobilisierung zum Widerstand – einige<br />
Schlussfolgerungen<br />
Die größte Herausforderung für die portugiesische Linke liegt in der Verwandlung<br />
der spontanen und ungleichmäßigen Momente der Mobilisierung in einen<br />
organisierten Widerstand. Wir müssen unser Verhältnis zu den traditionellen Arbeiterorganisationen<br />
überdenken, die neue Realität prekärer Arbeitsverhältnisse<br />
aufgreifen, die politische Linie der Gewerkschaften in Frage stellen und die<br />
künstliche Trennung von Politik und Ökonomie überwinden. Wir müssen Wurzeln<br />
schlagen und neue Kampferfahrungen in der Arbeiterbewegung und den<br />
sozialen Bewegungen verbreiten: die Basis reaktivieren, die Arbeitslosen organisieren,<br />
Solidaritätsnetzwerke mit Einzelkämpfen aufbauen. Es kommt letztlich<br />
darauf an, Wurzeln zu schlagen und das allgemeine Gefühl der Unzufriedenheit<br />
in organisierte Aktion und kollektive Erfahrung überzuleiten.<br />
Die Aktivistinnen und Aktivisten, die die Demonstration vom 15. September<br />
organisierten, erweiterten ihre Organisation und bereiteten dann die Demonstration<br />
vom 2. März <strong>2013</strong>. Die Organisatoren schätzen, dass eineinhalb Millionen<br />
Menschen auf die Straße gingen, womit sie eine der größten Demonstrationen<br />
der portugiesischen Geschichte wäre. Die beiden Demonstrationen unterscheiden<br />
sich in zweierlei Hinsicht: Das mediale Interesse im Vorfeld des 2. März war<br />
nicht so groß wie vor dem 15. September, und die Regierung stellte im Vorfeld<br />
diesmal keine neuen Kürzungsvorhaben vor. Somit stellt der 2. März einen qualitativen<br />
Sprung hinsichtlich der Mobilisierungsfähigkeit der sozialen Bewegungen<br />
in Portugal dar. Auch muss festgehalten werden, dass der führende Sprecher der<br />
CGTP die Demonstration öffentlich unterstützte und zur Beteiligung aufrief,<br />
was eine Verschiebung der politischen Dynamik in Portugal bedeutet. Die
318 Portugal: Von der Mobilisierung zum Widerstand<br />
Hauptlosung der Demonstration war »Grândola, Vila Morena«, die Hymne der<br />
portugiesischen Revolution von 1974/75. Die Erinnerung an die Revolution<br />
wird immer wacher und damit die Rückbesinnung auf radikalere Vorstellungen<br />
und die Öffnung für eine breitere Palette von Alternativen möglich. Die Demonstration<br />
hat dem Widerstand in Portugal neues Leben eingehaucht. Diese<br />
Erfahrung muss sich allerdings in neuen Formen der Organisierung und Mobilisierung<br />
niederschlagen, um die periodischen Mobilisierungen in einen neuen aktiven<br />
Widerstand zu verwandeln.
Zu Theorie, Geschichte und<br />
Funktion des Rassismus<br />
Anmerkungen zu Volkhard Mosler 1<br />
Benjamin Opratko<br />
Es ist höchst erfreulich, dass die jüngste Ausgabe von theorie21 (2/2012) ausführlich<br />
der kritischen, theoretisch informierten Analyse des Phänomens Rassismus<br />
gewidmet ist. Dass eine solche Auseinandersetzung dringend notwendig<br />
ist, zeigen nicht nur die im Heft aufgeführten und diskutierten Beispiele für die<br />
gegenwärtige Stärkung rassistischer Tendenzen im Kontext einer tiefen Krise<br />
des globalen Kapitalismus. Sie ist auch notwendig, weil unsere politisch-praktischen<br />
Aktivitäten gegen Rassismus und Faschismus – etwa bei Anti-Nazi-Blockaden,<br />
in Kämpfen gegen rassistische Asylpolitik oder bei Aktionen gegen den<br />
antimuslimischen Rassismus der Mitte – sich nicht allein aus (allemal berechtigter)<br />
Wut und moralischer Empörung speisen sollten.<br />
Als Linke wollen wir die Verhältnisse verstehen, um sie kritisieren und<br />
schließlich verändern zu können. Aus der Perspektive eines offenen, revolutionären<br />
und lernfähigen Marxismus ist dafür die Weiterentwicklung einer theoretischen<br />
Analyse des Rassismus wesentlich. Umso mehr, als gerade im deutschsprachigen<br />
Raum marxistische Ansätze im wissenschaftlichen Feld der Rassismusforschung,<br />
aber auch unter antirassistischen AktivistInnen, im Vergleich zu<br />
anderen kritischen Ansätzen eine vergleichsweise geringe Rolle spielen.<br />
Vor diesem Hintergrund betont der Rassismus-Schwerpunkt der letzten Ausgabe<br />
in seiner Gesamtheit drei wichtige Aspekte. Erstens macht er klar, dass<br />
sich hinter dem scheinbar evidenten Begriff »Rassismus« unterschiedliche Phänomene<br />
verbergen, die in unterschiedlichen historischen, räumlichen und politischen<br />
Kontexten untersucht werden müssen. Wenn von »Rassismus« die Rede<br />
ist, reicht der Gegenstandsbereich vom beängstigenden Aufstieg faschistischer<br />
Bewegungen in Ungarn und Griechenland, über die »Tabubrüche« von deutschen<br />
Bestsellerautoren wie Thilo Sarrazin und Heinz Buschkowsky, bis zur an-<br />
1<br />
Ich danke Stefan Probst für wertvolle Kommentare und Hinweise.
320 Zu Theorie, Geschichte und Funktion des Rassismus<br />
tiislamischen Ideologie des Imperialismus, die den angeblichen »Krieg gegen den<br />
Terror« begleitet und weiter.<br />
»Der Rassismus« entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Sammelbegriff für<br />
diverse Rassismen. Zweitens wird deutlich, dass die konkrete Untersuchung verschiedener<br />
Rassismen AktivistInnen nicht der politischen Verantwortung entheben<br />
darf, die gegenwärtig dominanten Form(en) des Rassismus zu benennen, sie<br />
zu analysieren und praktisch zu konfrontieren. Dies betrifft aktuell besonders<br />
den antimuslimischen Rassismus und damit verbundene Konstruktionen des<br />
»Feindbild Islam«. Folgerichtig konzentrieren sich mehrere Beiträge darauf.<br />
Drittens schließlich wird betont, dass eine Analyse des Rassismus den Zusammenhang<br />
von »Konjunkturen des Rassismus« 2 und den Konjunkturen des Kapitalismus<br />
– daher aktuell vor allem die »Kopplung zwischen ökonomischem Abschwung,<br />
politischer Krise und zunehmender Hetze« in den Blick nehmen muss. 3<br />
In Volkhard Moslers programmatischem Aufsatz »Rassismus im Wandel« finden<br />
sich diese wichtigen Argumente konzentriert. 4 Darüber hinaus macht er zentrale<br />
Grundsatzthesen einer marxistischen Rassismusanalyse zugänglich, die für<br />
gegenwärtige Debatten in der Linken, innerhalb wie außerhalb der gleichnamigen<br />
Partei, wichtige Bezugspunkte sein sollten.<br />
Vielen seiner Ausführungen stimme ich zu; andere halte ich jedoch für problematisch<br />
oder verkürzt. Im Rahmen der nun folgenden kritischen Anmerkungen<br />
geht es mir jedoch nicht darum, Volkhard zu »widerlegen«, sondern auf einige<br />
Schwächen beziehungsweise Probleme hinzuweisen. Meine Einwände beziehen<br />
sich auf drei Aspekte, auf die ich im Folgenden gesondert eingehe.<br />
Erstens geht es um die theoretische Bestimmung von Rassismus. Zweitens,<br />
und damit zusammenhängend, wird die historische Einordnung des Rassismus<br />
problematisiert. Drittens kritisiere ich die von Marx hergeleitete These, wonach<br />
rassistische Spaltungen alleine der Bourgeoisie nutzen.<br />
Was ist überhaupt Rassismus?<br />
Wenn, wie oben angedeutet, eine Vielfalt historisch nach- wie nebeneinander<br />
existierender Rassismen festgestellt werden muss, steht die Frage im Raum, welche<br />
Gemeinsamkeiten diese Phänomene eint, damit überhaupt sinnvoll von<br />
»Rassismus« gesprochen werden kann. Dabei steht jede kritische Rassismustheorie<br />
zunächst vor folgendem Problem: Lange wurde – etwa im Anschluss an die<br />
erste systematische Definition durch die US-amerikanische Ethnologin Ruth Benedict<br />
in den 1940er Jahren – Rassismus als Doktrin der<br />
2<br />
Demirović, Alex und Manuela Bojadžijev (Hg.) Konjunkturen des Rassismus, Münster 2007.<br />
3<br />
»Rassismus, Kapitalismus und die Eliten« (Editorial) in: theorie21, 2/2012, S. 6.<br />
4<br />
Mosler, Volkhard, »Rassismus im Wandel. Vom Sozialdarwinismus zum Kampf der Kulturen«<br />
in: theorie21, 2/2012, S. 19–52.
Zu Theorie, Geschichte und Funktion des Rassismus 321<br />
»Rassendiskriminierung« verstanden und kritisiert. Dass die Menschheit naturgeschichtlich<br />
in »Rassen« geteilt ist, wurde als evident angenommen; zu überwinden<br />
gälte es die Hierarchisierung der verschiedenen Rassen in höher- und minderwertige.<br />
Dieses Verständnis von Rassismus verlor im Verlauf der Nachkriegsjahrzehnte<br />
an Überzeugungskraft, als naturwissenschaftliche Forschungen nachwiesen, dass<br />
biologisch definierbare »Menschenrassen« nicht existieren. Zugleich wurde, vor<br />
allem im deutschsprachigen Raum, unter dem Eindruck des »rassisch« rationalisierten<br />
Völkermords der Nationalsozialisten, die diskursive Legitimität der Rede<br />
von »Menschenrassen« gesellschaftlich marginalisiert.<br />
Das bedeutete jedoch nicht, dass damit auch der Rassismus verschwunden<br />
wäre. Vielmehr zeigte sich, dass rassistische Diskurse nicht auf den Begriff »Rasse«<br />
angewiesen waren; an dessen Stelle konnten andere, weniger verfängliche Begriffe<br />
gesetzt werden wie »Ethnie«, »Herkunft«, »Hautfarbe« oder »Kultur«.<br />
Gleich blieb, und bleibt bis heute, die Funktion dieser Begriffe. Sie werden eingesetzt,<br />
um scheinbar objektiv existierende »Andersheit« zu markieren.<br />
Dieser Sachverhalt wird in Volkhards Artikel dargestellt als »Formwechsel des<br />
Rassismus: weg vom biologistischen Rassismus hin zu einem neuen, kulturalistischen<br />
Rassismus«. 5 Zu Recht weist er darauf hin, dass »Ethnie« oder »Kultur«<br />
»häufig nur anstelle des allzu diskreditierten Begriffs ›Rasse‹ benutzt« werden. 6<br />
Wenn wir jedoch ernst nehmen, dass die Ideologien des Rassismus nicht notwendig<br />
mit Ideologien der Rassen verbunden sein müssen, stehen wir vor der theoretischen<br />
Herausforderung, »die konzeptionelle Verknüpfung zwischen Rassismus<br />
und dem Diskurs der ›Rasse‹ aufzubrechen«. 7<br />
Wie geht Volkhard mit dieser Herausforderung in seiner Definition des Rassismus<br />
um? Zunächst nennt er Rassismus »eine ›von oben‹ konstruierte Ideologie,<br />
ein Beispiel dafür, dass, wie Marx und Engels es formulierten, die ›Gedanken der<br />
herrschenden Klasse […] in jeder Epoche die herrschenden Gedanken sind‹«. 8<br />
Später präzisiert er: Es handle sich dabei wesentlich um »die Diskriminierung<br />
und Unterdrückung bis hin zur Vertreibung oder Vernichtung von Menschen anderer<br />
Herkunft oder Kulturen als minderwertige oder bösartige gegenüber anderen,<br />
überlegenen oder höherwertigen«. Diese könne sich »gegen Menschen anderer<br />
Hautfarbe, Menschen fremder Herkunft, […] oder Menschen aus anderen<br />
Kulturen richten«. 9<br />
5<br />
Mosler S. 38.<br />
6<br />
Mosler S. 40.<br />
7<br />
Miles, Robert Racism, London/New York 1989, S. 69.<br />
8<br />
Mosler S. 20.<br />
9<br />
Mosler S. 33.
322 Zu Theorie, Geschichte und Funktion des Rassismus<br />
Diese Definition beinhaltet eine meines Erachtens falsche Prämisse, indem sie<br />
davon ausgeht, dass zunächst – das heißt unabhängig von rassistischen Ideologien<br />
– Gruppen von Menschen existierten, die durch bestimmte Eigenschaften,<br />
Menschen »anderer Hautfarbe«, »fremder Herkunft« oder »aus anderen Kulturen«,<br />
identifizierbar wären. Ähnlich wie im oben erwähnten Verständnis von Rassismus<br />
als »Rassendiskriminierung« könnte hier von Rassismus gesprochen werden,<br />
wenn diese vorgeblich prä-existenten Menschengruppen diskriminiert, abgewertet<br />
oder »unterdrückt« würden.<br />
Gegen diese Auffassung steht die adäquatere Ansicht, dass rassistisch unterdrückte<br />
Gruppen nicht unabhängig von Rassismus existieren und von diesem<br />
dann hierarchisiert werden. Im Gegenteil sind die Kategorisierungen und ihre<br />
Kriterien, die Einteilung von Menschen in bestimmte Gruppen, selbst schon Teil<br />
der rassistischen Ideologien. Andersrum formuliert: Ein wesentlicher Aspekt von<br />
Rassismus ist, dass seine »Objekte«, zum Beispiel »die Schwarzen«, »die Juden«,<br />
»die Ausländer«, »die Muslime« und so weiter, ständig produziert werden müssen.<br />
Der marxistische Rassismusforscher Robert Miles hat dafür, in Anlehnung an<br />
Frantz Fanon, den Begriff »Rassifizierung« oder »Rassenkonstruktion« (»racialisation«)<br />
geprägt. 10<br />
Darunter versteht er einen Prozess, in dem »soziale Beziehungen dadurch<br />
strukturiert werden, dass biologische Merkmale die Bedeutung bekommen, unterschiedliche<br />
soziale Gruppen zu konstruieren«. Der Begriff verweise also »auf<br />
einen Vorgang der Kategorisierung und Repräsentation, in dem ein Anderer<br />
(normalerweise aber nicht ausschließlich) somatisch definiert wird. Die definierte<br />
Gruppe wird (implizit oder sogar explizit) für eine von Natur aus existierende<br />
Gruppe gehalten, die sich biologisch reproduziert«. 11<br />
Gerade in Bezug auf antimuslimischen Rassismus ist es wichtig, diesen Gesichtspunkt<br />
in die Analyse mit einzubeziehen. Antimuslimischer Rassismus um-<br />
10<br />
Vgl. Miles, Robert »Bedeutungskonstitution und der Begriff des Rassismus« in: Räthzel, Nora<br />
(Hg.): Theorien über Rassismus, Hamburg 2000, S. 17–33; Garner, Steve Racisms. An Introduction,<br />
London/Thousand Oaks 2010; Murji, Karimund John Solomos (Hg.) Racialisation. Studies in<br />
Theory and Practice, Oxford 2005.<br />
11<br />
Miles, 2000, S. 21. Problematisch ist, dass Miles seine Definition des Rassismus ausdrücklich an<br />
»biologische« oder »somatische« Merkmale koppelt, wodurch die Bedeutung des »kulturalistischen«<br />
Rassismus unterschätzt wird. Trotz dieser Einschränkung ist eine an Miles orientierte Definition<br />
des Rassismus jener vorzuziehen, die in Volkhards Artikel vorgestellt wird. Rassismus<br />
bezeichnet demnach gesellschaftliche Praxen, in denen Menschen bestimmten, hierarchisch definierten<br />
Kategorien zugeordnet und ihnen auf dieser Basis Eigenschaften zugeschrieben werden.<br />
Diese Kategorien können mit Verweisen auf die »Natur« beziehungsweise »Biologie« oder auf<br />
»Kultur« oder »Religion« operieren (zumeist mit einer Mixtur aus alledem). Entscheidend ist<br />
nicht, ob die Kategorisierungen an körperlichen (»somatischen«) oder anderen Eigenschaften<br />
festgemacht werden, sondern ob die zugeschriebenen Charakteristika als (mehr oder weniger)<br />
unabänderlich, essenziell und somit quasi-natürlich aufgefasst werden.
Zu Theorie, Geschichte und Funktion des Rassismus 323<br />
fasst nicht nur manifeste Formen der Unterdrückung und Diskriminierung, sondern<br />
muss auch dort kritisiert und bekämpft werden, wo »der Islam« und »die<br />
MuslimInnen« von sozialen Akteuren quer durch die politische Landschaft konstruiert<br />
und zu »Anderen« gemacht, das heißt »rassisiert« werden. 12 Ich nehme<br />
stark an, dass Volkhard diese politische Schlussfolgerung teilt. Um sie theoretisch<br />
und argumentativ hinreichend zu begründen, müsste er jedoch seine Definition<br />
von Rassismus präzisieren.<br />
Dass Menschen scheinbar eindeutig einer »anderen Herkunft«, »anderen Hautfarbe«<br />
oder »anderen Kultur« zugeordnet werden können, ist nicht einfach objektiv<br />
der Fall, sondern selbst Effekt rassistischer Ideologien. Welche Menschen als<br />
»Fremde« oder »Andere« gelten, ist Produkt der Geschichte; das zeigen historische<br />
Analysen zum Verständnis des Phänomens Rassismus deutlich. Sie betonen,<br />
was Mark Terkessidis zusammenfasst: »Rassismus schafft erst die Distanz, die<br />
ihm angeblich zugrunde liegt«. 13 Auf die historische Dimension des Rassismus<br />
und damit notwendig einhergehend dessen epochale Einordnung soll nun näher<br />
eingegangen werden.<br />
Historische Dimensionen des Rassismus<br />
Vor dem Hintergrund des eben Ausgeführten muss die Frage nach der historischen<br />
Verortung des Rassismus neu aufgeworfen werden. Volkhard vertritt die –<br />
auch, aber nicht nur in marxistisch orientierten Rassismustheorien weit verbreitete<br />
– These, wonach der Kapitalismus Voraussetzung und »Basis« rassistischer<br />
Ideologie sei. 14 Die Entstehung des Rassismus setzt er an unterschiedlichen Stellen<br />
mit dem »17./18. Jahrhundert« beziehungsweise »Mitte des 18. Jahrhunderts«<br />
an. Er erklärt sie als Bearbeitungsform des Widerspruchs zwischen den Ideen<br />
der bürgerlichen Aufklärung einerseits und der Entstehung und Ausbreitung des<br />
transatlantischen Sklavenhandels andererseits. Um die Versklavung zu rechtfertigen,<br />
wäre der Rassismus, »eine moderne Herrschaftsideologie der Bourgeoisie«,<br />
erfunden worden. 15<br />
Tatsächlich betrieben im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts zahlreiche Wissenschaftler,<br />
Philosophen, Politiker und Publizisten (die »organischen Intellektuellen«<br />
der Bourgeoisie, die für die Ausarbeitung der Hegemonie ihrer geschäftigen<br />
Klasse zuständig sind) enormen Aufwand, um die Minderwertigkeit jener<br />
12<br />
Vgl. Shooman, Yasemin, »›… weil ihre Kultur so ist‹ – Der neorassistische Blick auf MuslimIn -<br />
nen«, in: Sir Peter Ustinov Institut (Hg.): »Rasse« – eine soziale und politische Konstruktion. Strukturen<br />
und Phänomene des Vorurteils Rassismus, Wien 2010, S. 101–111.<br />
13<br />
Terkessidis, Mark Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive,<br />
Bielefeld 2004.<br />
14<br />
Mosler S. 26ff.<br />
15<br />
Mosler S. 29, 31.
324 Zu Theorie, Geschichte und Funktion des Rassismus<br />
versklavten Menschen zu belegen, die sie zu nicht-weißen Rassen erklärten. Dieser<br />
»Farb-Rassismus«, der sich auf die 1735 publizierte Einteilung der Menschheit<br />
in »Weiße«, »Rote«, »Gelbe« und »Schwarze« durch Carl Linneaus stützen<br />
konnte und von Immanuel Kant ein halbes Jahrhundert später in der »Physischen<br />
Geographie« systematisiert wurde, kann nur im Kontext von Kolonialismus<br />
und Sklaverei verstanden werden. 16<br />
Volkhards Argument geht jedoch weit über diese Aussage hinaus. Er identifiziert<br />
diesen historisch spezifischen Farbrassismus mit Rassismus insgesamt. Diese<br />
Identifikation ist aber nur dann zulässig, wenn wir davon ausgehen, dass Rassismus<br />
auf den Begriff der (Menschen-)Rasse und dessen Systematisierung zu einer<br />
kohärenten, wissenschaftlich-philosophischen Doktrin angewiesen ist. Letzteres<br />
fand tatsächlich erst im Europa des 18. Jahrhunderts statt, auch wenn der<br />
Begriff der Rasse bereits im Westeuropa des 16. Jahrhunderts zur Unterscheidung<br />
zwischen Menschen »hoher« und »niedriger« Abstammung verwendet wurde.<br />
Hier zeigt sich eine entscheidende Inkonsistenz in der von Volkhard vertretenen<br />
These. Er akzeptiert einerseits, dass es einen »Rassismus ohne Rassen« nach<br />
1945 gibt. 17 Konsequenterweise müsste das, wie von Miles gefordert und oben<br />
dargestellt, bedeuten »die konzeptionelle Verknüpfung zwischen Rassismus und<br />
dem Diskurs der ›Rasse‹ aufzubrechen«. Wenn aber Rassismus nicht auf den<br />
»Diskurs der Rasse« angewiesen ist, gibt es keinen Grund, seine Entstehung mit<br />
der Entstehung des modernen Rassendiskurses gleichzusetzen.<br />
Dieses Argument wird in der deutschsprachigen Debatte unter anderem von<br />
Wulf D. Hund überzeugend vertreten. Er formuliert dies so: »Wenn der Begriff<br />
der Rasse keine conditio sine qua non rassistischer Diskriminierung ist und sich außerdem<br />
aus soziokulturellen Anfängen heraus zu einer biologisch-anthropologischen<br />
Kategorie entwickelt hat, dann muss gefragt werden, ob es nicht auch vor<br />
deren Verwendung einen kulturalistischen Rassismus gegeben hat und inwieweit<br />
sie nicht auch selbst immer kulturalistisch unterlegt war«. 18<br />
Diese Frage wird von Hund energisch bejaht. Es gab und gibt, so argumentiert<br />
er, Rassismus »vor, mit, nach und ohne ›Rassen‹«. 19 Kern rassistischer Ideologien<br />
ist nicht die Rede von »Menschenrassen« – wäre dem so, wäre beispielsweise der<br />
antimuslimische Rassismus gar keiner – sondern die Konstruktion von »unterschiedliche[n]<br />
Grade[n] des Menschseins«, die als »wesenhaft«, natürlich oder<br />
quasi-natürlich, postuliert werden und deren Funktion in der Legitimierung von<br />
16<br />
Hannaford, Ivan Race. The History of an Idea in the West, Baltimore 1996, S. 203f.<br />
17<br />
Mosler S. 39.<br />
18<br />
Hund, Wulf D. Rassismus, Bielefeld 2007, S. 12.<br />
19<br />
Hund, Wulf D. »Vor, mit, nach und ohne ›Rassen‹. Reichweiten der Rassismusforschung«, in:<br />
Archiv für Sozialgeschichte, Nr. 52, 2012, S. 723-761.
Zu Theorie, Geschichte und Funktion des Rassismus 325<br />
sozialer Ungleichheit besteht. 20 Aus dieser Perspektive muss eine weit längere<br />
Geschichte des Rassismus angenommen werden, die nicht mit der Entstehung<br />
des Kapitalismus zusammenfällt, sondern sich durch die Epochen vorkapitalistischer<br />
Klassengesellschaften zieht.<br />
An dieser Stelle können nur einige wenige Hinweise auf vorkapitalistische Rassismen<br />
gegeben werden, die in der von Volkhard vertretenen Periodisierung keinen<br />
Platz finden. Einige Beispiele will ich erwähnen. Zahlreiche weitere ließen<br />
sich hinzufügen.<br />
So kann auf die Ereignisse rund um das geschichtsträchtige Jahr 1492 verwiesen<br />
werden. Diese historische Phase ist aus zwei Gründen besonders signifikant.<br />
Zunächst markiert 1492 bekanntermaßen die »Entdeckung« des amerikanischen<br />
Kontinentes und dessen BewohnerInnen. Die Existenz von »Indianern« warf<br />
knifflige Fragen auf, für die Eroberer wie für deren organische Intellektuelle in<br />
Europa. Dass es sich bei den BewohnerInnen Amerikas um Minderwertige handelte,<br />
stand in weiten Teilen dieser philosophischen, theologischen und praktisch-administrativen<br />
Debatten außer Frage. Unklar war, ob es sich bei ihnen<br />
überhaupt um Menschen handelte, die wie Europäer als Kinder Gottes gelten<br />
müssten, wie 1550 in der berühmten »Disputation von Valladolid« von Bartholomé<br />
de Las Casas vertreten, oder um »barbarische, unzivilisierte und unmenschliche«<br />
Wesen, wie ebendort dessen Gegenspieler, Juan Ginés de Sepulveda, argumentierte.<br />
21<br />
Im ersten Fall gälte es, die Heiden zu bekehren; im zweiten, sie zu bekriegen<br />
und zu versklaven. Entscheidend ist, dass diese Debatten zwar in einem theologischen<br />
Register ausgetragen wurden, die Kategorisierungen und Charakterisierungen<br />
aber zugleich auf die Essenz oder Natur der als »Indianer« konstruierten<br />
Menschengruppe abzielte. Auch wenn der Begriff der Rasse zu jenem Zeitpunkt<br />
noch keine Rolle spielte, handelte es sich dennoch um rassistische Ideologien, die<br />
die Versklavung und teilweise Ausrottung der indigenen Bevölkerungen Amerikas<br />
begleiteten. 22<br />
1492 ist aber noch aus einem zweiten Grund relevant. In diesem Jahr wurde<br />
die katholische Rückeroberung der iberischen Halbinsel mit der Eroberung der<br />
maurischen Stadt Granada besiegelt. Im Zuge der Reconquista wurde ein System<br />
der »Blutreinheit« – limpieza de sangre – erfunden, das Juden und Jüdinnen auch<br />
dann, wenn sie, meist unter Zwang, zum Christentum konvertiert worden waren,<br />
20<br />
Hund, Wulf D. »Rassismus«, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.): Enzyklopädie Philosophie, 2. erw.<br />
Aufl., Bd. 3, Hamburg 2010, S. 2191-2200, hier: S. 2191.<br />
21<br />
Zit. nach Buffington, Robert/Caimari, Lila (Hg.) Keen’s Latin American Civilization. History and Society,<br />
1492 to the Present, Boulder 2008, S. 86.<br />
22<br />
Delacampagne, Christian Die Geschichte des Rassismus, Düsseldorf 2005, S. 101ff.
326 Zu Theorie, Geschichte und Funktion des Rassismus<br />
als »unrein« markierten und von einer Reihe sozialer Institutionen ausschloss. 23<br />
In diesem »Rassismus der Kontamination« war, schon lange vor der Verwissenschaftlichung<br />
des Rassismus im 18. und 19. Jahrhundert, der Verweis auf vorgeblich<br />
körperliche Stigmata ein Bestandteil des Rassismus. 24 Die epochale Scheidung<br />
zwischen einem christlichen – nicht-rassistischen – Anti-Judaismus und einem<br />
modernen – rassistischen – Antisemitismus lässt sich nicht aufrecht erhalten,<br />
wie nicht nur diese Episode nahelegt. 25 So lassen sich die Judenverfolgungen<br />
in den Kreuzzugsbewegungen ebenso wie die zahlreichen Pogrome des 12., 13.<br />
und 14. Jahrhunderts nur dann nicht als rassistisch bezeichnen, wenn Rassismus<br />
auf verwissenschaftlichte Rassentheorien verengt wird. Wo Juden und Jüdinnen<br />
als teuflische, barbarische oder unreine Andere konstruiert und verfolgt wurden,<br />
wurde diesen ein unhintergehbares Wesen, eine »Natur« unterstellt, auch wenn<br />
dies im Rahmen eines magisch-religiösen, nicht eines wissenschaftlich-rationalen<br />
Diskurses geschah. 26<br />
Um schließlich noch ein Stück tiefer in die europäische Geschichte vorzudringen,<br />
muss auch Volkhards These, wonach es in der griechischen Antike »einer<br />
besonderen Ideologie zur Legitimation von Sklaverei« nicht bedurft hätte, widersprochen<br />
werden. Er zitiert hier ausgerechnet Aristoteles mit den Worten »Diejenigen,<br />
die glauben, die Sklaven hätten keine Vernunft, irren sich«. 27 Tatsächlich<br />
jedoch wendet Aristoteles weite Teile des ersten Buchs seiner Abhandlung über<br />
»Politik« dafür auf, die »despotische Gewalt« des Herrn über den Sklaven zu<br />
rechtfertigen (neben der »ehelichen Gewalt« des Ehemanns über die Frau und<br />
der »väterlichen Gewalt« über die Kinder). Dass ein Sklave von einem freien<br />
Mann als »lebendiges Besitzstück« besessen werden kann, führt Aristoteles darauf<br />
zurück, dass ersterer »von Natur nicht sich selbst angehört«, ergo »von Natur<br />
Sklave« sei. 28 Die von Volkhard zitierte »Vernunft«, die Aristoteles den Sklaven<br />
zugesteht, wird hier streng umfasst: Sklave ist, »wer an der Vernunft bloß insofern<br />
Teil hat, dass er sie vernimmt, aber nicht besitzt«. 29 Entsprechend wird der<br />
Sklave in der natürlichen Rangordnung verortet: Der Unterschied zwischen ihm<br />
und einem Haustier sei »kein sehr beträchtlicher«. 30 Dass es keinen antiken Ras-<br />
23<br />
Hering Torres, Max Rassismus in der Vormoderne. Die »Reinheit des Blutes« im Spanien der Frühen Neuzeit,<br />
Frankfurt/M. 2006.<br />
24<br />
Hund 2007, S. 50.<br />
25<br />
Mosler S. 31. Dass von einer »langen Geschichte« des Antisemitismus ausgegangen wird, stellt<br />
keineswegs die historische Singularität des Vernichtungsantisemitismus der Nazis und der industriellen<br />
Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden und Jüdinnen in Abrede.<br />
26<br />
Vgl. Delacampagne, 2005, S. 62ff.<br />
27<br />
Mosler S. 27.<br />
28<br />
Aristoteles Politik. Erstes, zweites und drittes Buch, Berlin 1872, S. 12ff.<br />
29<br />
Aristoteles Poliltik S. 17; vgl. Delacampagne, 2005, S. 54.<br />
30<br />
Aristoteles S. 17.
Zu Theorie, Geschichte und Funktion des Rassismus 327<br />
sismus gab, der wie jener des 18. Jahrhunderts »einen Zusammenhang zwischen<br />
Hautfarbe und Ungleichwertigkeit von Menschen« behauptete, ist richtig. 31 Insofern<br />
die Unterdrückung der Sklaven von Aristoteles als natürlich legitimiert wurde,<br />
kann und muss jedoch auch hier von einem »Rassismus ohne Rassen« gesprochen<br />
werden.<br />
Dabei stellt Aristoteles keineswegs eine Ausnahme dar. Benjamin Isaacs monumentale<br />
Literaturstudie über die »Erfindung des Rassismus in der klassischen<br />
Antike« zeigt deutlich, dass Formen des Rassismus im römischen und griechischen<br />
Altertum weit verbreitet waren. 32 Diese Erkenntnis erschließt sich jedoch<br />
nur, wenn die konzeptionelle Entkopplung von »Rasse« und »Rassismus«, die<br />
oben erläutert wurde, ernst genommen wird. 33<br />
Wem nützt Rassismus?<br />
Gegen die hier vorgeschlagene Ausweitung des Rassismusbegriffs ließe sich einwenden,<br />
dass damit der Rassismus »enthistorisiert« und zu einer anthropologischen<br />
Konstante verklärt werde, wie das in den von Volkhard zu Recht kritisierten<br />
konservativen Rassismustheorien der Fall ist. Ich behaupte jedoch, dass, genau<br />
im Gegenteil, erst dadurch eine adäquate Historisierung des Rassismus möglich<br />
wird. Rassistische Ideologien sind, das eint sie über alle historischen Wandlungen<br />
hinweg, Formen der Legitimation sozialer Ungleichheit. Dabei legitimieren<br />
sie nicht nur die »Ausschließungspraxen« – die von symbolischer Ausgrenzung<br />
über Diskriminierung bis zu offener Gewalt und physischer Auslöschung<br />
reichen können –, von denen die rassistisch definierten Anderen betroffen sind;<br />
sie tragen auch dazu bei, das Gesamtgefüge von in Klassen gespaltenen Gesellschaftsformationen<br />
zu reproduzieren. Rassismus ist also Bestandteil von Klassengesellschaften.<br />
So wie es vorkapitalistische Klassengesellschaften gab, existierten<br />
auch vorkapitalistische Rassismen. Diese brachen mit dem Übergang zur kapitalistischen<br />
Produktionsweise nicht einfach weg, sondern wurden aufgegriffen,<br />
reorganisiert und dien(t)en als gigantisches Archiv der Abwertung und Entmenschlichung,<br />
auf das auch in heutigen Formen des Rassismus zurückgegriffen<br />
wird. Dies lässt sich etwa an der Aktualisierung alter, orientalistischer Klischees<br />
31<br />
Mosler S. 28.<br />
32<br />
Isaac, Benjamin The Invention of Racism in Classical Antiquity, Princeton 2004.<br />
33<br />
Tatsächlich existierte im Altgriechischen kein Begriff, der jenem der »Rasse« im modernen Sinne<br />
entsprochen hatte. Daraus schließen einige ForscherInnen, dass es auch keinen Rassismus gegeben<br />
hätte (vgl. Hannaford, 1996, Kap. 2). Isaac definiert Rassismus jedoch, ohne auf ein Äquivalent<br />
zu »Rasse« angewiesen zu sein, wie folgt: »The essence of racism is that it regards individuals<br />
as superior or inferior because they are believed to share imagined physical, mental and<br />
moral attributes with the group to which they are deemed to belong, and it is assumed that they<br />
cannot change these traits individually. This is held to be impossible, because these traits are determined<br />
by their physical makeup.« (Isaac, 2004, S. 23).
328 Zu Theorie, Geschichte und Funktion des Rassismus<br />
im gegenwärtigen antimuslimischen Rassismus ablesen, oder auch an der Beharrlichkeit<br />
teils uralter antisemitischer Stereotypen. 34<br />
Wenn Rassismus zur Stabilisierung und Reproduktion von Klassengesellschaften<br />
beiträgt, stellt sich jedoch die Frage, wie dies funktioniert. Volkhards Antwort,<br />
die er mit weiten Teilen der »klassischen« marxistischen Analysen zu dem<br />
Thema teilt, ist, dass Rassismus »zur Unterdrückung des Widerstands durch Spaltung<br />
der unterdrückten Klassen« beiträgt. 35 Damit ist auch klar, wem Rassismus<br />
nützt. Peter Alexander (nicht der österreichische Sänger, sondern Ende der<br />
1970er Jahre führendes Mitglied der englischen SWP und National Organiser der<br />
Anti Nazi League) bringt diese Position auf den Punkt: »Racism, because it divides<br />
workers, is in the interests of capital.« 36<br />
Diese Aussage ist in ihrer Allgemeinheit jedoch ebenso wahr wie falsch – und<br />
deshalb wenig nützlich. Wahr ist die von Volkhard betonte Marx’sche Einschätzung,<br />
»dass die englische Arbeiterklasse sich [mit rassistischen Vorurteilen] selbst<br />
ein Bein stellt«. 37 UnternehmerInnen profitieren von rassistischen Verhältnissen;<br />
eine ArbeiterInnenklasse, die nicht entlang rassistischer Linien gespalten ist, kann<br />
ihre Interessen weit effektiver durchsetzen. Aber bedeutet das auch, dass rassistische<br />
ArbeiterInnen, wie Volkhard schreibt, »gegen ihre eigenen Interessen« handeln?<br />
38 Das impliziert, dass ArbeiterInnen, die der »dominanten« Seite rassistischer<br />
Verhältnisse zugeschlagen werden – z. B. als »weiße« Deutsche – gar keinen<br />
Nutzen aus Rassismus ziehen würden. Das halte ich für falsch. Einerseits, weil<br />
die Arbeitsteilung innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen wesentlich entlang<br />
rassistischer Linien strukturiert ist; das bedeutet, dass »weiße Deutsche« im Verhältnis<br />
zu rassistisch unterdrückten ArbeiterInnen relativ erträglichere Arbeitsbedingungen,<br />
höhere Löhne und bessere Aufstiegsmöglichkeiten vorfinden. Das<br />
verträgt sich übrigens auch ganz wunderbar mit der Bemerkung von Karl Marx<br />
im ersten Band von Das Kapital, wonach »die Wertbestimmung der Arbeitskraft<br />
ein historisches und moralisches Element« enthalte. 39 (Wie sich diese statistische<br />
Verallgemeinerung in konkreten Fällen, Branchen und besonders im Kontext krisenbedingter<br />
»Umstrukturierungen« der Ökonomie darstellt, müsste natürlich<br />
spezifisch untersucht werden.)<br />
34<br />
Vgl. Attia, Iman Die »westliche Kultur« und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischem<br />
Rassismus, Bielefeld 2007; Messerschmidt, Astrid »Rassismusanalyse in einer postnationalsozialistischen<br />
Gesellschaft«, in: Melter, Claus, Paul Mecheril (Hg.), Rassismuskritik. Bd. 1,<br />
Rassismustheorie und -forschung, Schwalbach/Ts. 2009, S. 59-74.<br />
35<br />
Mosler, S. 30.<br />
36<br />
Alexander, Peter Racism, Resistance and Revolution, London 1987, S. 135.<br />
37<br />
Mosler, S. 26.<br />
38<br />
Mosler, S. 50.<br />
39<br />
Marx, Karl Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie, Bd. 1, MEW 1962, Bd. 23, S. 185.
Zu Theorie, Geschichte und Funktion des Rassismus 329<br />
Darüber hinaus, und vielleicht noch wichtiger, darf die gesellschaftliche Privilegierung,<br />
die mit rassistischen Verhältnissen einhergeht, nicht unterschätzt werden.<br />
Dies wird in einer Passage aus W. E. B. Du Bois’ wichtigem Werk »Black Reconstruction<br />
in America 1860–1880« deutlich, die Alex Callinicos in einem Beitrag,<br />
der in der gleichen Ausgabe von theorie21 nachgedruckt wurde, zitiert. Du<br />
Bois, Schwarzer Marxist und einer der scharfsinnigsten Analytiker rassistischer<br />
Verhältnisse schrieb über die Formierung der US-amerikanischen Arbeiterklasse:<br />
»Es muss daran erinnert werden, dass die weiße Gruppe von Arbeitern, wenngleich<br />
sie auch niedrige Löhne bezog, einen Ausgleich in Form einer Art öffentlichen<br />
und psychologischen Lohns erhielt. Weil sie weiß waren, wurden sie in der<br />
Regel besser behandelt und geachtet.« 40 Dieser »politische und psychologische<br />
Lohn« ist keine Illusion, sondern materielle Realität in praktisch allen Lebensbereichen;<br />
Rassismus bietet bestimmten sozialen Gruppen eine »Kompensation für<br />
ausbeuterische und entfremdende Klassenverhältnisse«. 41 Indem Rassismus darüber<br />
hinaus eine Ideologie der Einheit über Klassengrenzen hinweg anbietet und<br />
im »Alltagsverstand« weiter Teile der beherrschten Klassen wirkt, ist er Teil dessen,<br />
was der italienische Revolutionär Antonio Gramsci einst die »Hegemonie«<br />
des Bürgertums nannte. 42 Die »Wages of Whiteness«, die etwa von dem Historiker<br />
David Roediger in Kontext der Formierung der US-amerikanischen ArbeiterInnenklasse<br />
detailliert untersucht wurden, gilt es ernst zu nehmen; ebenso wie<br />
die Tatsache, dass Teile der ArbeiterInnenklasse durch rassistische Ideologien an<br />
die Interessen der Herrschenden gebunden werden.<br />
Fazit<br />
Die hier formulierten Einwände gegen das von Volkhard vertretene Verständnis<br />
von Rassismus sollten nicht als rein theoretische Spitzfindigkeiten missverstanden<br />
werden. Sie sind mit politischen und strategischen Konsequenzen verknüpft.<br />
Zunächst verweist die zuletzt diskutierte funktionale Dimension des Rassismus<br />
darauf, dass nur eine Analyse der widersprüchlichen Effekte des Rassismus eine<br />
Basis für die Formulierung effektiver antirassistischer Strategien sein kann. Es<br />
nützt wenig, für Rassismen empfängliche Lohnabhängige davon zu überzeugen,<br />
was ihre »eigentlichen« Interessen wären, wenn sie tatsächlich realen Anteil am<br />
»politischen und psychologischen Lohn« des »Weißseins« haben. Gemeinsame<br />
40<br />
W. E. B. Du Bois, zit. n. Callinicos, Alex, »Karl Marx über die Ursachen des Rassismus«, in: theorie21,<br />
2/2012, S. 11-17, hier: S. 13. Korrigierte Übersetzung. Vgl. Du Bois, W. E. B., 1985 [1935]),<br />
Black Reconstruction in America 1860-1880, New York.<br />
41<br />
Cleaver, Kathleen, 2007, »Introduction«, in: Roediger, David R. The Wages of Whiteness. Race and<br />
the Making of the American Working Class, Revised Edition, London 2007, S. xix-xxvi, hier: S. xx.<br />
42<br />
Zu Gramscis Konzept der Hegemonie vgl. Opratko, Benjamin Hegemonie. Politische Theorie nach<br />
Antonio Gramsci, Münster 2012.
330 Zu Theorie, Geschichte und Funktion des Rassismus<br />
Klasseninteressen liegen nicht unter einer Schicht aus Politik und Ideologie verborgen,<br />
sondern müssen politisch hergestellt werden. Dies geschieht am besten<br />
und effektivsten – und hier trifft sich diese Perspektive wieder mit jener Volkhards<br />
– im Rahmen von konkret ausgefochtenen Klassenkämpfen.<br />
Auch die zunächst abstrakt wirken mögende theoretische Kritik, die ich eingangs<br />
vorgestellt habe, ist von politischer Relevanz. Ein Rassismusverständnis,<br />
das davon ausgeht, dass zunächst mal Menschen existieren, die »objektiv« anders<br />
sind (aufgrund anderer Herkunft, Hautfarbe, Kultur, Ethnie etc.), öffnet den<br />
Raum für Strategien eines liberalen Multikulturalismus, der an die Stelle eines<br />
kämpferischen Antirassismus (als Teil eines umfassenden sozialistischen Projekts)<br />
die Vision eines »Karnevals der Kulturen« stellt.<br />
Schließlich ist die Perspektive einer »langen Geschichte« des Rassismus nicht<br />
ohne politische Konsequenzen. Wenn gezeigt werden kann, dass Rassismen<br />
überall existiert haben, wo Gesellschaften in Klassen gespalten waren, muss das<br />
keinesfalls für einen vermeintlich »ewigen Rassismus« sprechen; es verweist<br />
schlicht auf die kolossale Notwendigkeit, diese Spaltung endlich zu überwinden.
Nützt Rassismus den<br />
»weißen« Arbeitern?<br />
Volkhard Mosler antwortet auf Benjamin Opratko<br />
Benjamin Opratko schreibt, dass Begriffe wie Rasse, Ethnie oder Kultur eingesetzt<br />
würden, »um scheinbar objektiv existierende ›Andersheit‹ zu markieren«.<br />
Er sagt weiter, mich zitierend, dass Rassismus schon da beginne, wo »Menschen<br />
scheinbar eindeutig einer ›anderen Herkunft‹, ›anderen Hautfarbe‹ oder ›anderen<br />
Kultur‹ zugeordnet werden können«. Solche Zuordnungen wie z. B. »›die<br />
Schwarzen‹, ›die Juden‹, ›die Ausländer‹, ›die Muslime‹« seien »selbst schon Teil<br />
der rassistischen Ideologie«.<br />
Nein, ich bin nicht der Meinung, dass jemand Rassist ist, wenn er davon ausgeht,<br />
dass es eine Gruppe von Menschen muslimischen oder jüdischen Glaubens<br />
gibt. Das ist kein Konstrukt von Rassisten. Ich bin auch nicht der Auffassung,<br />
dass Karl Marx ein Rassist war, weil er – fälschlicher Weise – davon ausging,<br />
dass die Slawen »eine Rasse« darstellen. Im Grundgesetz der Bundesrepbulik<br />
heißt es im Artikel 3, dass niemand auf Grund seiner Rasse diskriminiert<br />
werden dürfe. Auch das halte ich nicht für eine Vorstufe des Rassismus. Das<br />
Wesen von Rassismus besteht darin, Menschen anderer Hautfarbe oder fremder<br />
Herkunft abzuwerten, indem z. B. Unterschiede der Hautfarbe mit positiven<br />
oder negativen Eigenschaften gewertet werden.<br />
Sarrazins Verbrechen besteht nicht in seiner Feststellung, dass es Menschen<br />
unterschiedlicher kultureller oder ethnischer Herkunft gibt. Benjamin schreibt,<br />
dass »rassistisch unterdrückte Gruppen nicht unabhängig von Rassismus existieren.«<br />
Roma und Sinti, Juden und Muslime in Deutschland werden dem heftig<br />
widersprechen. Nicht die Annahme von Differenz, sondern ihre Dämonisierung,<br />
Fixierung und Hierarchisierung in überlegene und minderwertige Menschengruppen<br />
markiert das Wesen des Rassismus. Ja, Rassen sind ein Konstrukt,<br />
aber diese sind, wie ich schrieb, nicht »frei erfindbar,« sie seien »wie jede<br />
Ideologie« (im Sinne von falschem Bewusstsein) »in ihrer Akzeptanz« auf Anknüpfungspunkte<br />
in der realen Welt angewiesen.
332 Nützt Rassismus den »weißen« Arbeitern?<br />
Hier liegt auch das fortschrittliche Moment »multikulturalistischer« Positionen:<br />
die Anerkennung des Rechts auf Anderssein (z. B. des Rechtes muslimischer<br />
Lehrerinnen an deutschen Schulen ein Kopftuch zu tragen). Benjamin warnt vor<br />
»Strategien eines liberalen Multikulturalismus, der an die Stelle eines kämpferischen<br />
Antirassismus […] die Vision eines ›Karnevals der Kulturen‹ stellt«.<br />
Ich stimme Benjamin zu, dass das Abfeiern kultureller Verschiedenartigkeit allein<br />
noch keine sozialistische Strategie gegen Rassismus ausmacht. Aber eine solche<br />
Strategie setzt die uneingeschränkte Verteidigung des Rechts auf Anderssein<br />
voraus, nur so kann Internationalismus und eine internationale Weltkultur entstehen,<br />
so wie die Betonung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung unterdrückter<br />
nationaler Minderheiten durch die Sozialisten der unterdrückenden Nation<br />
zur Überwindung des Nationalismus beitragen kann. SPD und auch die<br />
GRÜNEN sind lange schon von einem radikalen Multikulturalismus abgerückt,<br />
zusammen mit den Konservativen warnen sie vor dem Entstehen (muslimischer)<br />
»Parallelgesellschaften« und fordern ultimativ »Integration«, das heißt Unterwerfung<br />
und Anpassung von Migrantinnen und Migranten an die herrschende<br />
»deutsche« Mehrheitsgesellschaft.<br />
Benjamin behauptet, ich akzeptierte, dass es »einen Rassismus ohne Rassen«<br />
nach 1945 gebe. Ich sage im Gegenteil: »Die Sprache des Rassismus hat sich<br />
(nach 1945) dem Zeitgeist angepasst, ihr Inhalt bleibt im Wesentlichen unverändert.«<br />
Als aktuelles Beispiel führe ich den Fall Sarrazin (»Deutschland schafft sich<br />
ab«) an, der auf Druck seines Verlegers in seinem Buch den Begriff der Rasse ersetzen<br />
musste durch den Begriff der Ethnie. Ethnie und Rasse seien in der Diktion<br />
der »modernen« Rassisten austauschbare Begriffe im Sinne von unveränderlichen<br />
Charaktereigenschaften bestimmter Menschengruppen. Zentral ist hier<br />
das Argument der Unveränderlichkeit, des Schicksalhaften und Unentrinnbaren<br />
angeblicher negativer Wesensmerkmale, wie sie von Rassisten bestimmten Menschengruppen<br />
zugeschrieben werden.<br />
Gab es Rassismus schon im Altertum?<br />
Benjamin argumentiert mit dem Rassismus-Forscher Wulf D. Hund, der den<br />
Rassismus mit der Entstehung von Klassenherrschaft verbindet. Rassismus ist<br />
bei Hund jede Konstruktion von »unterschiedlichen Graden des Menschseins«.<br />
Rassistisch sind dann auch die Begründungen zur Unterdrückung von Frauen,<br />
von Sklaven, von unteren Klassen, die Abwertung anderer Religionen, Nationalitäten,<br />
kurz alle Ideologien, die eine Unterdrückung von Menschen durch Menschen<br />
legitimieren. Ich teile nicht Heitmeyers Kritik des »Allrassismus«, aber auf<br />
Hunds Definition scheint sie zuzutreffen.
Nützt Rassismus den »weißen« Arbeitern? 333<br />
Benjamin weist darauf hin, dass es »vorkapitalistische Rassismen« gegeben<br />
habe und verweist auf das Jahr 1492, das Jahr der »Entdeckung« Amerikas und<br />
das Jahr der endgültigen Vertreibung des Islam von der iberischen Halbinsel<br />
durch die »christliche Reconquista«. Die Versklavung und teilweise Ausrottung<br />
der Indianer durch die spanischen Eroberer sei Ausdruck einer rassistischen<br />
Ideologie. Als Beleg führt Benjamin die »Disputation von Valladolid« von 1550<br />
an. Im Streit zwischen den zwei Gelehrten Las Casas und de Sepulveda habe<br />
letzterer die Indianer als »barbarische, unzivilisierte und unmenschliche Wesen«<br />
bezeichnet und so deren gewaltsame, kriegerische Unterwerfung, teilweise Ausrottung<br />
und Versklavung gerechtfertigt.<br />
In seiner schriftlichen Eingabe zum Disput zitierte Sepulveda das alte Testament:<br />
»Diejenigen, die dumm sind, sollen den weisen Männern dienen«, und bezieht<br />
dies auf die »barbarischen und unmenschlichen« Bewohner Amerikas. Dabei<br />
verlässt Sepulveda jedoch nicht das in der damaligen christlichen Welt vorherrschende<br />
Bild von »Zivilisierten« (christliche Europäer) und »Wilden« oder<br />
»Barbaren«. Die Wilden waren in diesem Bildnis nicht als die völlig Anderen der<br />
zivilisierten Menschen angelegt, sondern wie diese einmal waren, also das Produkt<br />
eines niedrigen Standes der Produktivkräfte. Selbst Sepulveda, der Vertreter<br />
der spanischen Abenteurer und Eroberer in Amerika, sah sich in seiner Argumentation<br />
gezwungen, diesem vorherrschenden Bild Zugeständnisse zu machen:<br />
»Dank der Tugenden und praktischen Weisheit ihrer Gesetze« seien die spanischen<br />
Eroberer dazu berufen, »die Barbarei zu zerstören und diese (Minderwertigen)<br />
zu einem menschlicheren und tugendhafterer Leben zu erziehen«. Sepulveda<br />
geht noch einen Schritt weiter, wenn er auf das hoch entwickelte Königreich<br />
der Azteken zu sprechen kommt, das ihm wohl als Gegenargument von Las Casas<br />
vorgehalten wurde. Dass es Städte, Häuser, Handel und einen gewählten König<br />
gebe, zeige nur, dass »sie weder Bären noch Affen seien und dass sie nicht<br />
völlig unvernünftig« seien. Was könne den Barbaren aber besseres geschehen, als<br />
von »barbarischen zu zivilisierten Menschen, […] von ungläubigen Dienern des<br />
Teufels zu Gläubigen des wahrhaftigen Gottes« konvertiert zu werden (aus »Secunda<br />
Democrates«, 1547). Der Disput zwischen Las Casas und de Sepulveda<br />
betraf nicht die Frage, ob die Indianer zur christianisieren wären, sondern mit<br />
welchen Methoden dies zu geschehen habe (Krieg und gewaltsame Unterwerfung<br />
oder Selbstregierung). Sarrazin und die heutigen Rassisten behaupten dagegen,<br />
dass die »Anderen« (Muslime) nicht integrierbar seien, ganz gleich wie viel<br />
Geld man in ihre Bildung und Ausbildung stecke.<br />
Benjamin fragt, warum ich ausgerechnet auf Aristoteles als Zeuge meiner Argumente<br />
zurückgreife, der doch die Versklavung von Barbaren durch die griechischen<br />
Stadtstaaten als Folge deren natürlichen Bestimmung vertrat. Zunächst<br />
einfach deshalb, weil Aristoteles der einzige große Denker des Altertums war, der
Nützt Rassismus den »weißen« Arbeitern? 335<br />
christlichen und muslimischen Lager wurde sie verdächtigt, die andere Seite zu<br />
unterstützen. Viele Juden versuchten dem zu entkommen, indem sie konvertierten.<br />
Die meisten der »conversos« hielten aber heimlich am Judentum fest. Die<br />
Ursache für diese »Verstocktheit« fand man dann in der »Unreinheit des jüdischen<br />
Blutes«. Der Nachweis des reinen Blutes (limpieza sangre) wurde über<br />
Jahrhunderte zu einer Institution der spanischen und portugiesischen Gesellschaft.<br />
Das Edikt wurde im 16. Jahrhundert auch auf konvertierte Muslime übertragen,<br />
auch sie wurden mit Hilfe des Blutedikts aus dem Land vertrieben. Trotz<br />
der Ähnlichkeiten zum heutigen, kulturalistischen Rassismus blieb der Nachweis<br />
der christlichen Abstammung eine Episode in einem brutalen Religionskrieg der<br />
»Re-Christianisierung« des Landes. Die Vertreibung von Muslimen und Juden<br />
war Ausdruck extremer religiöser Intoleranz.<br />
Dies gilt auch für die Judenverfolgung im späten Mittelalter. Der deutsche Reformator<br />
Martin Luther bot den Juden an, seinem neuen evangelischen Glauben<br />
beizutreten. Als sie sein Werben beharrlich ablehnten, rief er dazu auf, ihre Synagogen<br />
in Brand zu setzen, ihre Häuser zu verbrennen und sie aus dem Land zu<br />
jagen. Georg von Schönerer, der Gründer der antisemitischen Bewegung in Österreich,<br />
schrieb dagegen 1881: »Die Religion ist einerlei, in der Rasse liegt die<br />
Schweinerei.« Antisemitismus ist eine Unterform des modernen Rassismus, die<br />
vom christlichen Antijudaismus Luthers zu unterscheiden ist, auch wenn der Antisemitismus<br />
seine Wirksamkeit auf eine jahrhundertealte Tradition christlichen<br />
Antijudaismus aufbauen konnte.<br />
Nützt der Rassismus den »weißen« Arbeitern?<br />
Benjamin kritisiert meine These, dass rassistisch gesinnte Arbeiter gegen ihre eigenen<br />
Interessen verstoßen. Er hält dagegen, dass »›weiße‹ Deutsche im Verhältnis<br />
zu rassistisch unterdrückten Arbeitern relativ erträglichere Arbeitsbedingungen,<br />
höhere Löhne und bessere Aufstiegsmöglichkeiten vorfinden« und dass sie<br />
dies ihrer rassistischen Gesinnung verdanken. Ersteres stimmt für einen Teil der<br />
»weißen« Arbeiter, zweites trifft jedoch nicht zu. Ein »weißer«, »deutscher«<br />
Durchschnittsarbeiter ist selbst unterprivilegiert, seine Bildungschancen, seine-<br />
Wohnsituation, seine Aufstiegschancen machen ihn zum Proletarier mit entsprechenden<br />
Lebensverhältnissen. Die Tatsache, dass es unter ihnen Menschen gibt,<br />
denen es noch schlechter geht, macht sie nicht zu Privilegierten. Die Mehrheit<br />
der Niedriglohnbeschäftigten verfügt über die deutsche Staatsangehörigkeit<br />
(84,6 %) und hat keinen Migrationshintergrund und ein wachsender Anteil der<br />
mehrheitlich deutschen Stammbelegschaften macht die Erfahrung, dass sich ihre<br />
Löhne und Arbeitbedingungen unter dem Druck des »prekären« Sektors ebenfalls<br />
kontinuierlich verschlechtern. Die Arbeitsteilung innerhalb der Arbeiterklas-
336 Nützt Rassismus den »weißen« Arbeitern?<br />
se in Fachkräfte, Angelernte und Ungelernte ist nicht Ausdruck rassistischer Gesinnung<br />
der deutschen Kollegen, sondern von Qualifikation und dem damit gegebenen<br />
geringeren oder größeren Wert .<br />
Sind Arbeiter privilegiert, weil sie nicht rassistisch diskriminiert werden? In der<br />
deutschen Bauindustrie sanken zunächst die Löhne im Bereich der Un- und Angelernten<br />
und in der zweiten Runde sanken die Löhne der meist »weißen« (deutschen)<br />
Stammbelegschaften. Benjamin scheint zu argumentieren, dass die »weißen«<br />
Stammbelegschaften vom Rassismus profitierten, weil ihre Lage noch nicht<br />
ganz so elendig ist wie die der rumänischen Leih- und Kontraktarbeiter. Eine solche<br />
Argumentation ist nicht nur sachlich falsch, sie führt politisch in eine Sackgasse,<br />
indem sie die bestehende ökonomische Spaltung politisch stärkt. Der<br />
Ausweg aus dieser Lage liegt in der Überwindung rassistischer Spaltungen auf<br />
der Grundlage gemeinsamen Klasseninteresses gegen das Kapital, das allein von<br />
dieser Spaltung profitiert.<br />
Der afro-amerikanische Sozialwissenschaftler W.E.B. du Bois fasst seine Untersuchung<br />
über die Auswirkungen des Rassismus auf die Arbeiterklasse wie folgt<br />
zusammen. Erstens bedeute Rassismus , dass »zwei Arbeitergruppen […] [mit]<br />
praktisch gleichen Interessen gespalten wurden, so dass die Löhne beider Gruppen<br />
niedrig gehalten werden konnten«. Er weist nach, dass weiße Arbeiter kein<br />
Interesse an der Unterdrückung der Schwarzen haben (zitiert nach A. Callinicos,<br />
»Rassismus«, 1998, S. 53 f.) Andere Untersuchungen zeigen, dass je größer der<br />
Lohnabstand zwischen »weißen« und »schwarzen« Arbeitern, desto niedriger der<br />
Lohn der »weißen«. (Callincos a.a.O.) In seinem Bemühen nachzuweisen, dass<br />
die »weißen« Arbeiter vom Rassismus mit profitierten, zitiert Benjamin dann<br />
auch du Bois, der als zweite Verallgemeinerung seiner Untersuchung einen »politisch-psychologischen«<br />
Lohn nennt, den »weiße« Arbeiter als »eine Art Kompensation<br />
für ihre niedrigen Löhne« erhielten (a.a.O. , S.54). Benjamin sagt über diesen<br />
»politisch-psychologischen Lohn«, dass er »keine Illusion, sondern materielle<br />
Realität in praktisch allen Lebensbereichen« sei. Worin soll aber der »materielle«<br />
Gehalt des »politisch-psychologischen Lohns« bestehen? Erhalten sie wegen ihrer<br />
rassistischen Einstellung bessere und billigere Wohnungen, eher einen Kinderbetreungsplatz,<br />
einen krisensicheren Job? Die »materielle Realität« verflüchtigt<br />
sich bei näherem Hinsehen in die wolkige Einbildung, Teil einer »überlegenen«<br />
Rasse oder Nation zu sein. Kaufen kann man sich vom »politisch-psychologischen<br />
Lohn« nichts. Anders als im Apartheidregime Südafrika, wo weiße Arbeiter<br />
das Zehnfache eines schwarzen Arbeiters verdienten, sind die »Vorrechte« der<br />
»weißen Arbeiter hier gering und sie beruhen nicht auf rassistischen Einstellungen<br />
in der Arbeiterklasse. Benjamin spricht vom »widersprüchlichen Effekt«, den<br />
der Rassismus auf Lohnabhängige ausübe. Ein gemeinsames Klasseninteresse<br />
»an sich« gibt es nach Benjamin nicht, dieses müsse erst »politisch hergestellt«
Nützt Rassismus den »weißen« Arbeitern? 337<br />
werden. Dem ist zu widersprechen: ohne ein gemeinsames Klasseninteresse als<br />
»Klasse an sich« gibt es für eine Vereinigung durch politische Klassenkämpfe keine<br />
Grundlage, sie bliebe auf moralische Appelle beschränkt, dass die »Anderen«<br />
auch Menschen seien. Das gesellschaftliche Sein, die unterschiedliche oder gemeinsame<br />
Klassenlage, bestimmt auch hier das potenzielle Bewusstsein.
Autorenangaben<br />
Nils Böhlke, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt »Tariftreue<br />
und Mindestlöhne« im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut<br />
(WSI) und promoviert zum Thema Privatisierung von Krankenhäusern<br />
Joseph Choonara, Autor von »Unravelling Capitalism: A Guide to Marxist Political<br />
Economy« und Mitglied der Socialist Workers Party (SWP) in Großbritannien<br />
Heiner Dribbusch, Arbeitskampfexperte des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen<br />
Instituts (WSI)<br />
Bill Dunn lehrt an der University of Sydney und ist Autor des Buches »Global<br />
Restructuring and the Power of Labour«<br />
Jürgen Ehlers, Angestellter, Mitglied im KV der LINKEN in Frankfurt/M.<br />
Carolin Hasenpusch studierte Soziologie und Politikwissenschaften. Sie ist aktiv<br />
in der Partei DIE LINKE- Neukölln und seit Frühjahr 2012 als Redakteurin<br />
für marx21 tätig<br />
Olaf Klenke, Autor von »Kampfauftrag Mikrochip. Rationalisierung und sozialer<br />
Konflikt in der DDR«<br />
Catarina Principe, Mitglied des Bloco de Esquerda in Portugal und dort aktiv in<br />
der Organisation »Precários inflexíveis«, lebt seit 2012 in Berlin und ist im<br />
Studierendenverband Linke.SDS aktiv<br />
Volkhard Mosler, von 1963-1969 aktiv im Sozialistischen Deutschen Studentenbund<br />
(SDS) in Frankfurt, in den 1970er Jahren Mitarbeiter des Instituts für<br />
Sozialforschung und Co-Autor der Studie »Die Funktionen leistungsbezogener<br />
Lohnsysteme und die Bestimmungsgründe ihres Wandels«. Heute Mitglied<br />
der LINKEN und aktiv im Solidaritätskomitee für Maredo-Beschäftigte<br />
in Frankfurt<br />
Benjamin Opratko, promoviert zu antimuslimischem Rassismus in Österreich,<br />
Autor von »Hegemonie. Politische Theorie nach Antonio Gramsci«<br />
Frank Renken, in den 80er Jahren industrielle Ausbildung zum Flugtriebwerkmechaniker<br />
in Hamburg, später Betriebsrat bei der Lebenshilfe Berlin; heute<br />
Mitglied der LINKEN in Berlin-Neukölln<br />
Bernd Riexinger, Parteivorsitzender der LINKEN, ehemaliger Geschäftsführer<br />
von Ver.di Stuttgart<br />
Luigi Wolf, promoviert über gewerkschaftliche Erneuerung in Krankenhäusern,<br />
Mitglied der LINKEN
Erleben wir gegenwärtig eine Wiedergeburt der so häufig totgesagten<br />
Gewerkschaften? Im Organisationsbereich von ver.di wird<br />
so viel gestreikt wie noch nie seit ihrer Gründung. Doch insgesamt<br />
ist die Bilanz der Gewerkschaftsbewegung alarmierend:<br />
Der Organisationsgrad hat sich seit 1991 halbiert, die Reallöhne der Arbeitnehmerinnen<br />
und Arbeitnehmer in Deutschland sinken und immer<br />
weniger Arbeitsverhältnisse sind durch Tarifverträge abgesichert.<br />
Diese Ausgabe von theorie21 widmet sich deswegen einer kritischen Bestandsaufnahme<br />
der Gewerkschaften und der Suche nach strategischen<br />
Alternativen.<br />
Erzieherinnen, Reinigungskräfte, Pflegekräfte – Streiks haben heute oft<br />
ein weibliches Gesicht. Carolin Hasenpusch und Olaf Klenke fragen in<br />
ihrem Artikel, welches Potenzial die Organisierung dieses Teils der Arbeiterklasse<br />
entfalten könnte.<br />
In einem gemeinsamen Beitrag fragen Volkhard Mosler und Luigi Wolf<br />
nach dem Wesen der Gewerkschaften zwischen Sammelpunkten des Widerstandes<br />
und sozialpartnerschaftlicher Ordnungsmacht.<br />
theorie21<br />
Nr. 3 | <strong>2013</strong><br />
2. Jahrgang<br />
6,50 €<br />
Heiner Dribbusch, Arbeitskampfexperte des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen<br />
Instituts der Hans-Böckler-Stiftung, gibt im Interview<br />
mit theorie21 Auskunft über die neusten Trends und Entwicklungen des<br />
Streikgeschehens in Deutschland.<br />
Bernd Riexinger, Vorsitzender der LINKEN und ehemaliger Geschäftsführer<br />
von ver.di in Stuttgart, sprach bei der Konferenz »Erneuerung<br />
durch Streik« über die Demokratisierung von Streikbewegungen. Wir<br />
dokumentieren seine Rede.<br />
Frank Renken arbeitet heraus, wie eng die Theorien, die Karl Marx über<br />
die Gewerkschaften entwickelt hat, mit den Kämpfen und Bewegungen<br />
der Arbeiterbewegung seiner Zeit verflochten sind.<br />
Catarina Principe war selbst in der Organisierung prekärer Beschäftigter<br />
in Portugal aktiv. Ihre Gruppe war einer der Organisatoren der größten<br />
Massendemonstrationen seit der Nelkenrevolution. Für theorie21 untersucht<br />
sie die strategische Bedeutung des Verhältnisses von Gewerkschaften<br />
und »Prekären« am Beispiel Portugal.<br />
<strong>IS</strong>BN 978-3-934536-48-7| 6,50 €