Der Frieden will gelernt sein
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— Schule —<br />
<strong>Der</strong> <strong>Frieden</strong> <strong>will</strong><br />
<strong>gelernt</strong> <strong>sein</strong><br />
<strong>Der</strong> Südsudan hat die tiefste Bildungsrate der Welt.<br />
Wegen des jahrzehntelangen Bürgerkriegs konnten viele<br />
Kinder nicht zur Schule gehen. Dies ändert sich nun,<br />
zögerlich. Ein Besuch an der technischen Berufsschule in<br />
der Hauptstadt Juba, wo erste Erfolge sichtbar werden.<br />
Von Barbara Achermann (Text) und Espen Eichhöfer (Fotos)<br />
Eingang zur Juba Technical High School. Ein<br />
Motorrad können sich nur wenige leisten, die meisten<br />
Schüler kommen zu Fuss, zum Teil von weit her.<br />
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— Schule —<br />
Bulletin N° 4 / 2013 — 65
— Schule —<br />
Michael Kom Kom macht <strong>sein</strong>e Hausaufgaben in<br />
einer Wellblechhütte ohne Strom und Wasser.<br />
Michael Kom Kom verknotet<br />
<strong>sein</strong>e langen Finger, senkt<br />
den Kopf und schliesst die<br />
Augen. Er betet inmitten<br />
von 603 Schülern, betet für den Südsudan,<br />
den jüngsten Staat der Welt. Als Kindersoldat<br />
wurde er gezwungen, für die Unabhängigkeit<br />
<strong>sein</strong>es Landes zu töten. Jetzt<br />
<strong>will</strong> er helfen, die zwei Jahre alte Nation<br />
aufzubauen. Jedes Haus solle dereinst<br />
Licht haben, sagt Michael. Er lernt Elektriker,<br />
weil er sich davon ein Auskommen<br />
verspricht und weil er sich vor der Dunkelheit<br />
fürchtet. «Herr, Du machst meine<br />
Finsternis hell.»<br />
Nach dem Morgengebet auf dem<br />
Hof gehen alle Schülerinnen und Schüler<br />
der Technical High School in ihre Klassen.<br />
Die Berufsschule liegt im Zentrum von<br />
Juba, der Hauptstadt des Südsudans, in der<br />
schätzungsweise 400 000 Menschen leben.<br />
Michael setzt sich zu <strong>sein</strong>en Kollegen.<br />
Einer bewundert die neue Jacke <strong>sein</strong>es<br />
Freundes, einer schielt zu den Mädchen in<br />
der ersten Reihe, und wieder einer steckt<br />
sich ein Stück Kreide in den Mund und<br />
zieht daran, als wäre es eine Zigarette.<br />
Auch Jugendliche im Südsudan sind zuallererst<br />
einfach Jugendliche. Selbst wenn sie<br />
den Krieg besser kennen als den <strong>Frieden</strong>.<br />
Die 84 Schüler verstummen, als<br />
Rektor Samuel Amuzai das Zimmer betritt,<br />
Typ schusseliger Professor, auf den<br />
Gläsern <strong>sein</strong>er Lesebrille klebt noch das<br />
Preisschild. Er schreibt an die Wandtafel,<br />
wie man ein Spiegelbild der Sonne konstruiert.<br />
Michael überträgt die Ausführungen<br />
in <strong>sein</strong> Heft. Als die Tafel voll ist, tritt<br />
der Rektor einen Schritt zurück, kratzt<br />
sich am Hinterkopf und hinterlässt weisse<br />
Kreidewolken auf der dunklen Haut.<br />
Eine grausame Vergangenheit<br />
Er träumt davon, dass sich <strong>sein</strong>e technische<br />
Berufsschule zu einer Universität entwickelt.<br />
Aber er weiss, dass das ohne Internet<br />
und mit den wenigen alten Büchern,<br />
die <strong>sein</strong> Kollegium besitzt, im Moment<br />
nicht möglich ist. Zunächst <strong>will</strong> er einfach<br />
nur eine hohe Mauer um <strong>sein</strong>e Schule bauen<br />
und eine Wache ans Tor stellen, damit<br />
das spärliche Material, das sie haben, nicht<br />
wieder durch bewaffnete Banden geraubt<br />
wird. Die Stimmung in Juba ist angespannt,<br />
das Leben manchmal gefährlich.<br />
<strong>Der</strong> Bürgerkrieg, der sich über beinahe<br />
fünfzig Jahre hinstreckte und vor<br />
zwei Jahren in der Unabhängigkeit des<br />
Südsudans mündete, wird oft verkürzt erklärt<br />
mit Nord gegen Süd, Diktatur gegen<br />
Demokratie, Moslems gegen Christen,<br />
Reich gegen Arm. Es war ein grausamer<br />
und chaotischer Konflikt, die verschiedenen<br />
Stämme im Süden bekriegten sich<br />
auch untereinander. Humanitäre Verbrechen<br />
geschahen auf allen Seiten. Tausende<br />
von Kindern, genaue Zahlen gibt es nicht,<br />
wurden als Soldaten rekrutiert und in den<br />
Kampf geschickt. Zwei Millionen Menschen<br />
starben, und vier Millionen wurden<br />
aus ihren Heimatdörfern vertrieben.<br />
Zweite Stunde, ein junger Lehrer<br />
gibt einen Test zurück. Michael hat den<br />
Grund- und Aufriss einer komplizierten<br />
Figur skizziert. Null Fehler. Er lacht und<br />
zeigt dabei <strong>sein</strong>e wilde Zahnstellung. <strong>Der</strong><br />
Lehrer erarbeitet mit den Schülern einen<br />
technischen Plan, fragt nach, ob alle folgen;<br />
fordert, dass alle mitdenken.<br />
Dritte Stunde Englisch, vierte Religion,<br />
fünfte Mathematik, sechste und<br />
siebte Physik. Vor dem Fenster liegt ein<br />
weiter Platz. Kinder spielen Fussball, Ziegen<br />
suchen zwischen Plastiksäcken<br />
Grasbüschel, Männer auf Motorrädern<br />
schlängeln sich an Pfützen vorbei, und<br />
Schülerinnen hacken mit einfachen Werkzeugen<br />
den Boden auf. Eine Hauptstadt<br />
wie ein gigantisches Dorf, darüber ein<br />
grellgrauer Himmel. Vielleicht brennt die<br />
Sonne die Wolken weg, oder es kommt ein<br />
Platzregen. Das Wetter in der Regenzeit<br />
ist so unberechenbar wie die Politik im<br />
Südsudan. Präsident Salva Kiir hat unlängst<br />
alle <strong>sein</strong>e Minister entlassen und<br />
neue eingesetzt. Aus heiterem Himmel.<br />
Es ist zehn nach zwei, die Elektriker,<br />
Maurer, Zimmerleute und Automechaniker<br />
haben Schulschluss. Michael packt<br />
Bleistiftstummel und Ringheft in <strong>sein</strong>e<br />
Tasche mit Vierfruchtmuster. Er geht zu<br />
Fuss nach Hause, zunächst einer der wenigen<br />
geteerten Strassen entlang, dann auf<br />
matschigen, von Müll gesäumten Pisten.<br />
Eine Stunde und vierzig Minuten<br />
später kommt er bei <strong>sein</strong>er Frau und sei-<br />
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— Schule —<br />
Die Berufsschule bildet Mechaniker, Elektriker, Maurer oder Zimmerleute aus.<br />
nem einjährigen Sohn an. Die kleine Familie<br />
hat ein Zimmer in einer Wellblechhütte<br />
gemietet, ohne Wasser, ohne Strom.<br />
In einer Ecke ein hüfthoher Bücherturm:<br />
der Oxford Dictionary, die Bibel, ein esoterischer<br />
Ratgeber und ein dünnes Fotoalbum.<br />
Darin klebt ein Bild von Michaels<br />
Zeit im Krieg. Er sitzt auf einem Feldbett<br />
in einer Grashütte, hinter ihm hängt die<br />
grüne Uniform der Rebellenarmee SPLA,<br />
die ihm <strong>sein</strong>e Kindheit geraubt hat.<br />
Kinder mit Kalaschnikow<br />
Michael Kom Kom wurde vor 23 Jahren<br />
geboren, hundert Kilometer von der Stadt<br />
Warrap entfernt, an einem abgeschiedenen<br />
Ort im Norden des Landes, wo es bis heute<br />
keine Autos, keine Schule und kein Spital<br />
gibt. Er war ein ängstliches Kind, versteckte<br />
sich während der rituellen Kuhschlachtungen<br />
und fürchtete sich nachts vor den<br />
Schreien der Hyänen. Als die Soldaten der<br />
Sudanesischen Volksbefreiungsarmee in<br />
<strong>sein</strong> Dorf kamen, war er zehn oder zwölf<br />
Jahre alt, genau weiss er das nicht. Sie wollten<br />
die Männer mitnehmen, aber weil die<br />
sich versteckten, gab der Häuptling den<br />
Soldaten eine Schar Kinder mit.<br />
Michael kam ins Trainingscamp,<br />
musste immer wieder einen Hügel hochrennen.<br />
Er reibt sich die Oberschenkel:<br />
«Meine Beine schmerzten so sehr, dass ich<br />
weinen musste.» Ein Ausbilder schlug ihn<br />
mit einem Stock in die Kniekehle, ein anderer<br />
kam hinzu und schickte ihn zum<br />
Wäschewaschen. Trotzdem bekam Michael<br />
ein Sturmgewehr, eine Kalaschnikow<br />
AK-47, die so schwer war, dass er sie<br />
kaum halten konnte. Dann musste er gegen<br />
die «Araber» in den Krieg ziehen. So<br />
nennen die Südsudanesen ihre nördlichen,<br />
muslimischen Nachbarn, die damals von<br />
der Stadt Khartoum aus den ganzen Sudan<br />
kontrollierten.<br />
Michael kämpfte in Raga, Warrap,<br />
Rumbek und Equatoria, also in beinahe jeder<br />
Gegend des Südsudans, ein Land, das<br />
so gross ist wie Frankreich und das er jahrelang<br />
zu Fuss durchquerte, tagelang ohne<br />
Essen. «Ich vermisste meine Mutter», sagt<br />
er. Man kann sich Michael als Soldat kaum<br />
vorstellen. Er ist ein stiller Mann mit wenig<br />
Körperspannung. Seine Statur ist hager,<br />
er redet mit hoher Stimme und hat<br />
einen Händedruck wie der Flügelschlag<br />
eines Schmetterlings. In der Armee nannten<br />
ihn manche «Hure». Er hasste diesen<br />
und die anderen vierzig Übernamen, die er<br />
in <strong>sein</strong>em Tagebuch aufgelistet hat.<br />
Er wurde Funker, das war Fluch und<br />
Segen zugleich. Zum einen war er mit <strong>sein</strong>er<br />
hohen Antenne exponiert und ein strategisches<br />
Ziel des Gegners, zum anderen<br />
mussten ihn <strong>sein</strong>e Kollegen verteidigen.<br />
Auch <strong>sein</strong> bester Freund Lual Garang, den<br />
er sterben sah. «Das war … das war so<br />
traurig.» Er stockt, schaut Hilfe suchend<br />
zu <strong>sein</strong>er Frau. «Lual hat immer Essen für<br />
mich aufgehoben. Ich aber hatte nicht einmal<br />
Zeit, ihn zu begraben.» Geier stritten<br />
sich um den kleinen Körper.<br />
Michael nimmt <strong>sein</strong> Söhnchen auf<br />
den Schoss, schmust mit ihm. Er ist heute<br />
ein liebevoller Vater und Ehemann, <strong>sein</strong><br />
Lachen steckt an. Er habe mit sich und <strong>sein</strong>en<br />
einstigen Feinden <strong>Frieden</strong> geschlos-<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 72.<br />
Bulletin N° 4 / 2013 — 67
— Schule —<br />
Links: In der Hauptstadt herrscht nach<br />
dem Bürgerkrieg wieder eine Art von<br />
Normalität. Doch die Stimmung ist oft<br />
angespannt und das Leben gefährlich.<br />
Unten: Schülerinnen und Schüler der<br />
Technical High School lernen, wie man<br />
Lampen fachgerecht montiert. Vielerorts<br />
aber gibt es noch keine Elektrizität.<br />
Rechts: Markt in Juba. Im Südsudan sind<br />
die Preise für Lebensmittel hoch.<br />
2,3 Millionen Menschen erhalten<br />
Nahrungsmittelhilfe.<br />
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Bulletin N° 4 / 2013 — 69
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— Schule —
— Schule —<br />
Links: An der Juba Technical High School gibt es<br />
nur wenige Schulbücher, viele davon sind veraltet.<br />
Ganz oben: Rektor Samuel Amuzai möchte aus<br />
<strong>sein</strong>er Schule eine Universität machen.<br />
Oben: In einer Halle lernen die Schülerinnen und<br />
Schüler verschiedene Maurertechniken.<br />
Bulletin N° 4 / 2013 — 71
— Schule —<br />
<strong>Der</strong> Bürgerkrieg dauerte, mit Unterbrüchen, fast<br />
50 Jahre (1955–2005). Auf beiden Seiten wurden<br />
Kindersoldaten eingesetzt – Jungen und<br />
Mädchen, die keine 18 Jahre alt waren. Rund um<br />
die Welt kämpfen noch heute Zehntausende<br />
Kindersoldaten in bewaffneten Konflikten.<br />
Zentralafrikanische<br />
Republik<br />
0 100<br />
Western Wau<br />
Bahr El Ghazal<br />
km<br />
Northern<br />
Bahr Awel<br />
El Ghazal<br />
200<br />
Sudan<br />
Warrap<br />
Warrap<br />
Rumbek<br />
Lakes<br />
Western Equatoria<br />
Yambio<br />
Demokratische<br />
Republik Kongo<br />
Unity<br />
Bentiu<br />
Juba<br />
Central<br />
Equatoria<br />
SÜDSUDAN IN ZAHLEN<br />
Quellen: CIA, The World Factbook; Weltbank<br />
Malakai<br />
Jonglei<br />
Bor<br />
Upper Nile<br />
Uganda<br />
Äthiopien<br />
Eastern Equatoria<br />
Torit<br />
Kenia<br />
— <strong>Frieden</strong>svertrag: 2005,<br />
Unabhängigkeit vom Sudan: 2011<br />
— Bevölkerung: 11,1 Millionen<br />
— Anteil der Bevölkerung unter 25 Jahren: 66 %<br />
— Fruchtbarkeitsrate: 5,5 Kinder/Frau<br />
— Alphabetisierungsrate: 27 % (Frauen: 16 %)<br />
— BIP (Current USD): 9,337 Milliarden<br />
sen: «Ich glaube an einen gnädigen Gott.»<br />
Manchmal plagen ihn dennoch Albträume.<br />
Michaels Frau hat auf dem Feuer<br />
Fisch aus dem nahen Nil gekocht, dazu<br />
Maniokbrei. Er muss sich beeilen mit dem<br />
Abendessen, damit er rechtzeitig zur libanesischen<br />
Firma kommt, deren Generator<br />
er überwacht, bis drei Uhr nachts. Etwa<br />
120 Franken verdient er umgerechnet im<br />
Monat, die Hälfte davon geht für die Miete<br />
weg. Michael isst nur eine Mahlzeit am<br />
Tag. Das sieht man ihm an. Wenn er aber<br />
im Mai <strong>sein</strong>en Schulabschluss macht, hat<br />
er gute Chancen, dass er sich wenigstens<br />
um <strong>sein</strong> Essen keine Sorgen mehr machen<br />
muss. Die Regierung und die hunderten<br />
von Hilfsorganisationen im Land suchen<br />
dringend technische Fachkräfte.<br />
Weniger als zwei Prozent der Südsudanesen<br />
haben die Primarschule abgeschlossen.<br />
Die Bildungsrate des Landes, in<br />
dem zwei Drittel der Einwohner unter 25<br />
Jahre alt sind, ist die tiefste der Welt. Das<br />
muss sich nun ändern, da sind sich alle<br />
einig, die Regierung, die internationalen<br />
Organisationen, die Kirchen, die Medien.<br />
Bloss, was wird unternommen?<br />
Schulhäuser ohne Lehrer<br />
Melaniaia Itto, Programmleiterin bei Radio<br />
Bakhita, einem von acht Sendern des<br />
Landes, sagt: «Ich vermute, dass während<br />
des Kriegs mehr Kinder zur Schule gingen<br />
als heute.» Südsudanesen seien in den<br />
Flüchtlingscamps unterrichtet worden<br />
oder hätten in Khartoum, Uganda oder<br />
Kenia studiert. Jetzt kämen alle zurück,<br />
die Bevölkerung wachse exponentiell, aber<br />
die Regierung habe keinen Plan. «Politiker<br />
haben in ihren Heimatdörfern Schulhäuser<br />
hingestellt, aber niemand geht hin.<br />
Weshalb? Weil es weder Lehrer noch Unterrichtsmaterial<br />
gibt.»<br />
Die Journalistin kritisiert die Regierung<br />
offen und riskiert damit, dass sie verhaftet<br />
wird. In ihrer Morgensendung war<br />
der ehemalige Bildungsminister zu Gast.<br />
Hörer riefen an und tadelten ihn, das Geld<br />
versickere, er sei korrupt. Seither hat er alle<br />
Einladungen der Radiostation abgelehnt.<br />
Wie sieht die Journalistin die Zukunft des<br />
neuen Staates? «Zu vierzig Prozent positiv.»<br />
Sie hofft auf eine Bildungsstrategie<br />
der neuen Regierung, aber sie glaubt nicht<br />
so richtig daran.<br />
«<strong>Der</strong> Tag wird kommen»<br />
Es ist acht Jahre her, seit der <strong>Frieden</strong>svertrag<br />
unterschrieben wurde, und zwei<br />
Jahre, seit das Volk für die Unabhängigkeit<br />
gestimmt hat. <strong>Der</strong> Südsudan ist ein Baby,<br />
das nun sprechen lernen muss und von dem<br />
man nicht erwarten kann, dass es schon fähig<br />
ist zu lesen. Noch gibt es keinen geregelten<br />
Staatsapparat und keine funktionierende<br />
Justiz. <strong>Der</strong> Prozess der Trennung<br />
vom Norden ist unfertig, die Grenze umstritten.<br />
<strong>Der</strong> Südsudan ist mausarm und<br />
steinreich zugleich, es gibt Grundwasser,<br />
Edelmetalle und enorme Erdölvorkommen.<br />
Alles andere fehlt, zum Beispiel die<br />
Raffinerien, die stehen im Norden, oder<br />
internationale Investoren, denen ist die politische<br />
Lage zu instabil.<br />
Gegen Abend leuchtet der Staub in<br />
Juba golden, dann bricht jäh die Nacht herein.<br />
Nur wenige Häuser haben elektrisches<br />
Licht, die meisten liegen im Dunkeln.<br />
«Möge die Nacht auch lange dauern,<br />
der Tag wird kommen», sagte Präsident<br />
Salva Kiir bei der Unabhängigkeitsfeier.<br />
Josephine Angelo erwacht, wenn es<br />
dämmert. Die Schülerin besucht gemeinsam<br />
mit dem ehemaligen Kindersoldaten<br />
Michael Kom Kom die technische Berufsschule.<br />
Sie zieht einen blauen Overall an,<br />
verlässt ohne Frühstück ihr Wellblechhaus,<br />
fährt mit dem Bus zur Schule und<br />
setzt sich auf eine Treppe neben Winnie<br />
Bojo. Die Mädchen schauen sich an, wie<br />
sich nur beste Freundinnen anschauen.<br />
Dann lachen sie.<br />
Beide lernen Maurer, sind 18 Jahre<br />
alt, möchten später an der Universität Ingenieurwesen<br />
studieren und mögen metallblauen<br />
Nagellack. Heute haben sie<br />
72 — Bulletin N° 4 / 2013<br />
Foto: Martin Adler / Panos; Karte: Crafft
— Schule —<br />
Josephine Angelo (links) und Winnie Bojo sind beste Freundinnen. Die 18-Jährigen lernen Maurer und möchten Ingenieurinnen werden.<br />
praktischen Unterricht, sie lernen, aus<br />
Backsteinen eine sogenannte flämische<br />
Mauer zu bauen. In einem regelmässigen<br />
Muster schichten sie Steine aufeinander<br />
und kontrollieren die Konstruktion mit<br />
Winkel und Wasserwaage. Manchmal<br />
schäkern sie mit den Jungs in ihrer Klasse,<br />
aber meistens arbeiten sie schweigsam und<br />
schnell. Es ist harte Körperarbeit, doch die<br />
Mühe zahlt sich aus: Winnie hat in den Ferien<br />
mit einem Kollegen ein kleines Haus<br />
gebaut, Josephine einen neuen Ofen für die<br />
Mutter, auf dem sie nun Schnaps brennen,<br />
den sie später verkaufen. Es ist nicht selbstverständlich,<br />
dass Frauen im Südsudan<br />
klassische Männerjobs machen. Aber es<br />
wird akzeptiert. Nicht zuletzt deshalb,<br />
weil die Eltern bei der Hochzeit mehr Mitgift<br />
für ein Mädchen bekommen, das eine<br />
Ausbildung hat. An der Juba Technical<br />
High School sind über zehn Prozent der<br />
Studierenden weiblich. Jedes Jahr werden<br />
es mehr.<br />
Lehrer Jeffrey Elia Waraka, den alle<br />
nur «funny teacher» nennen, klatscht in die<br />
Hände: «Schauen Sie doch, wie schnell<br />
und sauber sie arbeiten!» Sie seien mindestens<br />
so gut wie die Jungs, und nach dem<br />
Abschluss fänden alle Arbeit. «No problem.»<br />
Ihre Ausbildung gleicht einer technischen<br />
Lehre in der Schweiz.<br />
10.30 Uhr, Pause. Auf dem Markt<br />
setzen sich Josephine und Winnie mit ihren<br />
Kollegen in eine stickige Hütte und bestellen<br />
Bohnen mit Brot. Eine Stimmung<br />
wie in einer Schweizer Schulkantine: Alle<br />
reden durcheinander, tauschen ständig die<br />
Plätze. Die Gespräche drehen sich nicht<br />
um Politik, davon hätten sie keine Ahnung,<br />
auch nicht um den Krieg, den wollten<br />
sie vergessen. Alle Schüler haben Verwandte<br />
verloren, jeder vierte sogar den<br />
Vater, die Mutter oder beide Eltern. Nein,<br />
sie kichern und tratschen über die Lehrer.<br />
Den «funny teacher» mögen alle, andere<br />
Lehrer fürchten sie. Etwa den Physiklehrer,<br />
der Winnie ins Gesicht geschlagen<br />
habe, weil sie einen Fingerring trug. Mit<br />
dem Essen kommt die Stille. Sie beugen<br />
sich tief über die Schüssel in ihrer Mitte.<br />
Bei Schulschluss ist die Mauer von Josephine<br />
und Winnie kniehoch. <strong>Der</strong> «funny<br />
teacher» misst nach, nickt, lobt und macht<br />
sich Notizen. Sie haben die Prüfung bestanden.<br />
Jetzt müssen die Mädchen heim<br />
zu ihren Grossfamilien: kochen, waschen,<br />
Hausaufgaben machen. Ein Stück des Weges<br />
gehen die Freundinnen gemeinsam,<br />
dicht nebeneinander, so dass sich zuweilen<br />
ihre Arme berühren. Die Sonne brennt auf<br />
ihre schmalen Schultern, ihre offenen Gesichter<br />
glänzen. Sie gehen vorbei an einem<br />
Plakat für Telefonwerbung mit der Aufschrift<br />
«Together we build our new nation»,<br />
vorbei an einem Bus mit dem<br />
Aufkleber «Rich people also cry».<br />
Barbara Achermann ist Reporterin/Redaktorin<br />
der Zeitschrift «Annabelle».<br />
Espen Eichhöfer ist Fotograf bei der Agentur<br />
Ostkreuz in Berlin.<br />
Mehr zum Thema auf der nächsten Seite.<br />
Bulletin N° 4 / 2013 — 73