Der Frieden will gelernt sein
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— Schule —<br />
Michael Kom Kom macht <strong>sein</strong>e Hausaufgaben in<br />
einer Wellblechhütte ohne Strom und Wasser.<br />
Michael Kom Kom verknotet<br />
<strong>sein</strong>e langen Finger, senkt<br />
den Kopf und schliesst die<br />
Augen. Er betet inmitten<br />
von 603 Schülern, betet für den Südsudan,<br />
den jüngsten Staat der Welt. Als Kindersoldat<br />
wurde er gezwungen, für die Unabhängigkeit<br />
<strong>sein</strong>es Landes zu töten. Jetzt<br />
<strong>will</strong> er helfen, die zwei Jahre alte Nation<br />
aufzubauen. Jedes Haus solle dereinst<br />
Licht haben, sagt Michael. Er lernt Elektriker,<br />
weil er sich davon ein Auskommen<br />
verspricht und weil er sich vor der Dunkelheit<br />
fürchtet. «Herr, Du machst meine<br />
Finsternis hell.»<br />
Nach dem Morgengebet auf dem<br />
Hof gehen alle Schülerinnen und Schüler<br />
der Technical High School in ihre Klassen.<br />
Die Berufsschule liegt im Zentrum von<br />
Juba, der Hauptstadt des Südsudans, in der<br />
schätzungsweise 400 000 Menschen leben.<br />
Michael setzt sich zu <strong>sein</strong>en Kollegen.<br />
Einer bewundert die neue Jacke <strong>sein</strong>es<br />
Freundes, einer schielt zu den Mädchen in<br />
der ersten Reihe, und wieder einer steckt<br />
sich ein Stück Kreide in den Mund und<br />
zieht daran, als wäre es eine Zigarette.<br />
Auch Jugendliche im Südsudan sind zuallererst<br />
einfach Jugendliche. Selbst wenn sie<br />
den Krieg besser kennen als den <strong>Frieden</strong>.<br />
Die 84 Schüler verstummen, als<br />
Rektor Samuel Amuzai das Zimmer betritt,<br />
Typ schusseliger Professor, auf den<br />
Gläsern <strong>sein</strong>er Lesebrille klebt noch das<br />
Preisschild. Er schreibt an die Wandtafel,<br />
wie man ein Spiegelbild der Sonne konstruiert.<br />
Michael überträgt die Ausführungen<br />
in <strong>sein</strong> Heft. Als die Tafel voll ist, tritt<br />
der Rektor einen Schritt zurück, kratzt<br />
sich am Hinterkopf und hinterlässt weisse<br />
Kreidewolken auf der dunklen Haut.<br />
Eine grausame Vergangenheit<br />
Er träumt davon, dass sich <strong>sein</strong>e technische<br />
Berufsschule zu einer Universität entwickelt.<br />
Aber er weiss, dass das ohne Internet<br />
und mit den wenigen alten Büchern,<br />
die <strong>sein</strong> Kollegium besitzt, im Moment<br />
nicht möglich ist. Zunächst <strong>will</strong> er einfach<br />
nur eine hohe Mauer um <strong>sein</strong>e Schule bauen<br />
und eine Wache ans Tor stellen, damit<br />
das spärliche Material, das sie haben, nicht<br />
wieder durch bewaffnete Banden geraubt<br />
wird. Die Stimmung in Juba ist angespannt,<br />
das Leben manchmal gefährlich.<br />
<strong>Der</strong> Bürgerkrieg, der sich über beinahe<br />
fünfzig Jahre hinstreckte und vor<br />
zwei Jahren in der Unabhängigkeit des<br />
Südsudans mündete, wird oft verkürzt erklärt<br />
mit Nord gegen Süd, Diktatur gegen<br />
Demokratie, Moslems gegen Christen,<br />
Reich gegen Arm. Es war ein grausamer<br />
und chaotischer Konflikt, die verschiedenen<br />
Stämme im Süden bekriegten sich<br />
auch untereinander. Humanitäre Verbrechen<br />
geschahen auf allen Seiten. Tausende<br />
von Kindern, genaue Zahlen gibt es nicht,<br />
wurden als Soldaten rekrutiert und in den<br />
Kampf geschickt. Zwei Millionen Menschen<br />
starben, und vier Millionen wurden<br />
aus ihren Heimatdörfern vertrieben.<br />
Zweite Stunde, ein junger Lehrer<br />
gibt einen Test zurück. Michael hat den<br />
Grund- und Aufriss einer komplizierten<br />
Figur skizziert. Null Fehler. Er lacht und<br />
zeigt dabei <strong>sein</strong>e wilde Zahnstellung. <strong>Der</strong><br />
Lehrer erarbeitet mit den Schülern einen<br />
technischen Plan, fragt nach, ob alle folgen;<br />
fordert, dass alle mitdenken.<br />
Dritte Stunde Englisch, vierte Religion,<br />
fünfte Mathematik, sechste und<br />
siebte Physik. Vor dem Fenster liegt ein<br />
weiter Platz. Kinder spielen Fussball, Ziegen<br />
suchen zwischen Plastiksäcken<br />
Grasbüschel, Männer auf Motorrädern<br />
schlängeln sich an Pfützen vorbei, und<br />
Schülerinnen hacken mit einfachen Werkzeugen<br />
den Boden auf. Eine Hauptstadt<br />
wie ein gigantisches Dorf, darüber ein<br />
grellgrauer Himmel. Vielleicht brennt die<br />
Sonne die Wolken weg, oder es kommt ein<br />
Platzregen. Das Wetter in der Regenzeit<br />
ist so unberechenbar wie die Politik im<br />
Südsudan. Präsident Salva Kiir hat unlängst<br />
alle <strong>sein</strong>e Minister entlassen und<br />
neue eingesetzt. Aus heiterem Himmel.<br />
Es ist zehn nach zwei, die Elektriker,<br />
Maurer, Zimmerleute und Automechaniker<br />
haben Schulschluss. Michael packt<br />
Bleistiftstummel und Ringheft in <strong>sein</strong>e<br />
Tasche mit Vierfruchtmuster. Er geht zu<br />
Fuss nach Hause, zunächst einer der wenigen<br />
geteerten Strassen entlang, dann auf<br />
matschigen, von Müll gesäumten Pisten.<br />
Eine Stunde und vierzig Minuten<br />
später kommt er bei <strong>sein</strong>er Frau und sei-<br />
66 — Bulletin N° 4 / 2013