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Texte der Preisverleihung - Herbert Haag Stiftung

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<strong>Herbert</strong> <strong>Haag</strong>-<strong>Stiftung</strong> für Freiheit in <strong>der</strong> Kirche<br />

Postfach 15138, 6000 Luzern 15<br />

Telefon +41 (0) 41 370 39 71<br />

Geschäftsführer: Andreas Heggli<br />

andheg@gmx.ch<br />

www.herberthaag-stiftung.ch<br />

<strong>Stiftung</strong>srat:<br />

Prof. Dr. Hans Küng, Tübingen – Präsident<br />

Dr. Erwin Koller, Uster / Zürich – Vizepräsident<br />

<strong>Herbert</strong> N. <strong>Haag</strong>, Zürich<br />

Prof. Dr. Sabine Demel, Regensburg (BRD)<br />

<strong>Preisverleihung</strong> vom 14. April 2013 in Luzern<br />

© Für alle <strong>Texte</strong> liegt das Copyright bei <strong>der</strong> <strong>Herbert</strong>-<strong>Haag</strong>-<strong>Stiftung</strong>.<br />

Hans Küng<br />

Sabine Demel<br />

Sr. Pat Farrell<br />

Erwin Koller<br />

Kirchenreform im Geist des Franz von Assisi?<br />

Laudatio auf die Preisträgerin Sr. Pat Farrell<br />

Text <strong>der</strong> Widmungsurkunde (englisch / deutsch)<br />

Dankesrede<br />

Von <strong>der</strong> Autorität <strong>der</strong> Freiheit<br />

14. April 2013<br />

© Hans Küng<br />

Kirchenreform im Geist des Franz von Assisi?<br />

Hans Küng<br />

Ob Jorge Mario Bergoglio sich überlegt hat, weswegen bisher kein einziger Papst den Namen<br />

Franziskus zu wählen wagte? Jedenfalls war sich <strong>der</strong> Argentinier bewusst, dass er mit dem Namen<br />

Franziskus an Franz von Assisi anknüpft, den weltberühmten Aussteiger des 13. Jahrhun<strong>der</strong>ts,<br />

jenen ehedem lebenslustigen, mondänen Sohn eines reichen Textilkaufmanns aus<br />

Assisi, <strong>der</strong> mit 24 Jahren auf Familie, Reichtum und Karriere verzichtet und selbst seine Klei<strong>der</strong><br />

an den Vater zurückgibt.<br />

Es ist erstaunlich, wie Papst Franziskus von <strong>der</strong> ersten Minute seiner Amtsführung an einen<br />

neuen Stil wählte: an<strong>der</strong>s als sein Vorgänger keine Mitra mit Gold und Edelsteinen, keine purpurne,<br />

mit Hermelin eingesäumte Mozetta, keine eigens angefertigten roten Schuhe und Kopfbedeckungen,<br />

kein Prachtthron mit Tiara.<br />

Erstaunlich auch, dass <strong>der</strong> neue Papst auf pathetische Gesten und hochgestochene Rhetorik<br />

bewusst verzichtet und in <strong>der</strong> Sprache des Volkes redet, wie sie auch Laienprediger, damals<br />

wie heute von Päpsten verboten, praktizieren können.<br />

Erstaunlich schließlich, wie <strong>der</strong> neue Papst seine Mitmenschlichkeit betont: er bittet um das Gebet<br />

des Volkes, bevor er es selber segnet; bezahlt wie je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e seine Hotelrechnung; realisiert<br />

Kollegialität mit den Kardinälen im Autobus, in <strong>der</strong> gemeinsamen Residenz, beim offiziellen<br />

Abschied, wäscht jungen Strafgefangenen, auch einer Muslimin, die Füße. Ein Papst, <strong>der</strong> sich<br />

als Mensch mit Bodenhaftung präsentiert.<br />

Alles das hätte Franziskus von Assisi gefreut und ist das Gegenteil von dem, was zu seiner Zeit<br />

Papst Innozenz III. (1198–1216) repräsentierte. Zu ihm war im Jahre 1209 Franz mit elf »Min<strong>der</strong>brü<strong>der</strong>n«<br />

(»fratres minores«) nach Rom gereist, um ihm seine kurze, ausschließlich aus Bibelzitaten<br />

bestehende Regel vorzulegen und die päpstliche Approbation für seine Lebensweise<br />

»nach <strong>der</strong> Form des heiligen Evangeliums« in gelebter Armut und Laienpredigt zu erhalten. Innozenz<br />

III., Graf von Segni, mit nur 37 Jahren zum Papst gewählt, war ein geborener Herrscher:


ein in Paris ausgebildeter Theologe, scharfsinniger Jurist, gewandter Redner, fähiger Administrator<br />

und raffinierter Diplomat. Nie hatte ein Papst größere Macht als er. Die mit Gregor VII. im<br />

11. Jahrhun<strong>der</strong>t eingeleitete Revolution von oben (»Gregorianische Reform«) hatte in ihm ihr<br />

Ziel erreicht. Gegenüber dem Titel »Stellvertreter Petri« bevorzugte er den bis ins 12. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

für jeden Bischof o<strong>der</strong> Priester gebrauchten Titel »Stellvertreter Christi« (Innozenz IV.<br />

machte dann daraus sogar »Stellvertreter Gottes«).<br />

Innozenz III. predigte bei seiner Amtseinsetzung kurzerhand über sich selbst und sah sich als<br />

Stellvertreter Christi in »die Mitte gestellt zwischen Gott und den Menschen, kleiner als Gott und<br />

größer als <strong>der</strong> Mensch, Richter über alle und von niemandem (außer vom Herrn) zu richten«.<br />

An<strong>der</strong>s als im ersten Jahrtausend und niemals anerkannt in den östlichen apostolischen Kirchen,<br />

geriert sich <strong>der</strong> Papst seither als absoluter Herrscher, Gesetzgeber und Richter <strong>der</strong> Christenheit<br />

– bis heute.<br />

Doch <strong>der</strong> triumphale Pontifikat Innozenz’ III. erwies sich nicht nur als Höhe-, son<strong>der</strong>n auch als<br />

Wendepunkt. Schon unter ihm zeigten sich die Verfallserscheinungen, die zum Teil bis in unsere<br />

Tage hinein Kennzeichen des römisch-kurialen Systems geblieben sind: Nepotismus und<br />

Verwandtenbegünstigung, Raffgier, Korruption und dubiose Finanzgeschäfte. Schon seit den<br />

70er- und 80er-Jahren des 12. Jahrhun<strong>der</strong>ts entwickelten sich mächtige nonkonformistische<br />

Buß- und Armutsbewegungen (Katharer, Waldenser). Päpste und Bischöfe gingen gegen diese<br />

bedrohlichen Strömungen mit Verboten <strong>der</strong> Laienpredigt, Verurteilung <strong>der</strong> »Ketzer«, Inquisition<br />

und sogar »Ketzer«-Kriegen vor.<br />

Doch es war gerade Innozenz III., <strong>der</strong> bei aller Ausrottungspolitik gegen hartnäckige »Ketzer«<br />

(Katharer) doch versuchte, evangelisch-apostolische Armutsbewegungen in <strong>der</strong> Kirche zu integrieren.<br />

Auch Innozenz wusste ja um die dringend notwendigen Reformen <strong>der</strong> Kirche, für die er<br />

schließlich das glanzvolle 4. Laterankonzil einberief. So gab er Franz von Assisi nach längerer<br />

Ermahnung die Erlaubnis zur Bußpredigt. Über das in <strong>der</strong> Regel gefor<strong>der</strong>te Ideal <strong>der</strong> absoluten<br />

Armut möge er erst einmal im Gebet den Willen Gottes erforschen. Aufgrund eines Traumgesichts,<br />

in welchem ein kleiner, unscheinbarer Ordensmann die päpstliche Lateranbasilika vor<br />

dem Einsturz bewahrt – so wird berichtet –, habe <strong>der</strong> Papst schließlich die Regel des Franz von<br />

Assisi gebilligt. Er gab sie im Konsistorium den Kardinälen bekannt, ließ aber nichts Schriftliches<br />

fixieren.<br />

Faktisch stellte Franz von Assisi die Alternative zum römischen System dar. Was wäre geschehen,<br />

wenn Innozenz und die Seinen das Evangelium wie<strong>der</strong> neu ernstgenommen hätten? Auch<br />

wenn nicht wörtlich, son<strong>der</strong>n geistlich verstanden, so bedeuteten und bedeuten seine evangelischen<br />

For<strong>der</strong>ungen doch eine gewaltige Infragestellung des zentralistischen, juridisierten, politisierten<br />

und klerikalisierten Systems, das sich seit dem 11. Jahrhun<strong>der</strong>t in Rom <strong>der</strong> Sache Christi<br />

bemächtigt hatte.<br />

Innozenz III. wäre wohl <strong>der</strong> einzige Papst gewesen, <strong>der</strong> aufgrund ungewöhnlicher Qualitäten<br />

<strong>der</strong> Kirche einen grundsätzlich an<strong>der</strong>en Weg hätte weisen können, was dem Papsttum im<br />

14./15. Jahrhun<strong>der</strong>t Aufspaltung und Exil und <strong>der</strong> Kirche im 16. Jahrhun<strong>der</strong>t die protestantische<br />

Reform hätte ersparen können. Freilich hätte dies dann schon im 13. Jahrhun<strong>der</strong>t für die katholische<br />

Kirche einen Paradigmenwechsel zur Folge gehabt, <strong>der</strong> die Kirche nicht gespalten, son<strong>der</strong>n<br />

erneuert und zugleich West- und Ostkirche wie<strong>der</strong> versöhnt hätte.<br />

So bleiben denn die urchristlichen Kernanliegen des Franz von Assisi bis heute Fragen an die<br />

katholische Kirche und jetzt an einen Papst, <strong>der</strong> sich programmatisch Franziskus nennt. Es geht<br />

dabei vor allem um drei Kernanliegen des franziskanischen Ideals, die in <strong>der</strong> heutigen Zeit ernst<br />

zu nehmen wären: um Paupertas, Armut, um Humilitas, Demut und um Simplicitas, Schlichtheit.<br />

Dies erklärt wohl, warum bisher kein Papst den Namen Franziskus anzunehmen wagte: zu<br />

hoch erschienen die Anfor<strong>der</strong>ungen.<br />

Damit stellt sich die zweite Frage: Was bedeutet es für einen Papst heute, wenn er mutig den<br />

Namen Franziskus annimmt? Selbstverständlich darf auch die Person des Franz von Assisi, die<br />

ihre Einseitigkeiten, Exaltationen und Schwächen hat, nicht idealisiert werden. Er ist keine ab-


solute Norm. Aber seine urchristlichen Anliegen müssen ernst genommen werden, auch wenn<br />

sie nicht buchstäblich umgesetzt werden müssen, son<strong>der</strong>n von Papst und Kirche in die heutige<br />

Zeit hineinübersetzt werden sollten.<br />

(1) Paupertas, Armut? Franz von Assisi meinte kompromisslose Armut, nach seinem Testament<br />

unbedingte Besitzlosigkeit, nicht nur des einzelnen Bru<strong>der</strong>s (wie bei den älteren Orden), son<strong>der</strong>n<br />

auch <strong>der</strong> Gemeinschaft als solcher. Deshalb das Verbot, große Kirchengebäude zu bauen.<br />

Wohl aber arbeiten, betteln nur im Notfall. Zu bedenken ist, dass Jesus selber nicht die Abgabe<br />

des Besitzes an die Gemeinschaft verlangte. Er billigte es, dass Zachäus nur die Hälfte seines<br />

Besitzes verteilte; er stellte diesbezüglich keine Gesetze auf. Verschiedene seiner Anhänger,<br />

auch Petrus, nannten Häuser ihr eigen. Aber: von allen verlangte Jesus genügsame Anspruchslosigkeit,<br />

vertrauende Sorglosigkeit, innere Freiheit vom Besitz.<br />

Doch Kirche im Geist Innozenz’ III. meint eine Kirche des Reichtums, des Protzes und Prunkes,<br />

<strong>der</strong> Raffgier und <strong>der</strong> Finanzskandale. Dagegen meint eine Kirche im Geist des Franziskus eine<br />

Kirche <strong>der</strong> transparenten Finanzpolitik und <strong>der</strong> genügsamen Anspruchslosigkeit. Eine Kirche,<br />

die sich vor allem um die Armen, Schwachen, Marginalisierten kümmert. Die nicht Reichtum<br />

und Kapital aufhäuft, son<strong>der</strong>n die Armut aktiv bekämpft und ihrem eigenen Personal vorbildliche<br />

Arbeitsbedingungen anbietet.<br />

(2) Humilitas, Demut? Franz von Assisi ging es um ein Leben in Verzicht auf Macht und Einfluss,<br />

um Geduld in allen Lagen und eine Grundstimmung <strong>der</strong> Freude. Franz identifiziert sich<br />

mit dem leidenden Jesus, dem Gekreuzigten.<br />

Doch Kirche im Geist von Papst Innozenz meint eine Kirche <strong>der</strong> Macht und <strong>der</strong> Herrschaft, <strong>der</strong><br />

Bürokratie und <strong>der</strong> Diskriminierung, <strong>der</strong> Repression und <strong>der</strong> Inquisition. Dagegen bedeutet eine<br />

Kirche im Geist des Franziskus eine Kirche <strong>der</strong> Menschenfreundlichkeit, des Dialogs, <strong>der</strong> Geschwisterlichkeit<br />

und Gastlichkeit auch für Nonkonformisten, des unprätentiösen Dienstes ihrer<br />

Leiter und <strong>der</strong> sozialen Solidargemeinschaft, die neue religiöse Kräfte und Ideen nicht aus <strong>der</strong><br />

Kirche ausschließt, son<strong>der</strong>n fruchtbar macht.<br />

(3) Simplicitas, Schlichtheit? Franz von Assisi meinte die Nachfolge Christi in großer Schlichtheit<br />

bei allem Tun. Das schließt – wie es im »Sonnengesang« des Franz und vielen Legenden<br />

zum Ausdruck kommt – auch ein neues Verhältnis zur Schöpfung ein, zu Tieren, Pflanzen und<br />

Naturerscheinungen, selbst zu »unserer Schwester, dem leiblichen Tod (im Italienischen ›la<br />

morte‹)«. Alle Kreaturen, als beseelt gedacht, sind uns Brü<strong>der</strong> und Schwestern.<br />

Doch Kirche im Geist von Papst Innozenz meint eine Kirche dogmatischer Unbeweglichkeit,<br />

moralistischer Zensur und juristischer Absicherung, eine Kirche <strong>der</strong> alles regelnden Kanonistik,<br />

<strong>der</strong> alles wissenden Scholastik und <strong>der</strong> Angst. Dagegen meint Kirche im Geist des Franz von<br />

Assisi eine Kirche <strong>der</strong> Frohbotschaft und <strong>der</strong> Freude, einer am schlichten Evangelium orientierten<br />

Theologie, die auf die Menschen hört, statt nur von oben herab zu indoktrinieren, eine nicht<br />

nur lehrende, son<strong>der</strong>n immer wie<strong>der</strong> neu lernende Kirche.<br />

So lassen sich im Licht <strong>der</strong> Anliegen und Ansätze des Franz von Assisi grundsätzliche Optionen<br />

auch für eine katholische Kirche heute formulieren, <strong>der</strong>en Fassade bei großen römischen Manifestationen<br />

zwar glänzt, <strong>der</strong>en innere Struktur im Alltag <strong>der</strong> Gemeinden in vielen Län<strong>der</strong>n sich<br />

jedoch als morsch und brüchig erweist, weswegen viele Menschen sich von ihr innerlich und oft<br />

auch äußerlich verabschiedet haben.<br />

Allerdings wird kein vernünftiger Mensch erwarten, dass alle Reformen über Nacht realisiert<br />

werden. In fünf Jahren freilich ist ein Paradigmenwechsel möglich: Dies zeigte im 11. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

<strong>der</strong> Lothringer Papst Leo IX. (1049–1054), <strong>der</strong> die Reform Gregors VII. vorbereitete, und im<br />

20. Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Italiener Johannes XXIII. (1958–1963), <strong>der</strong> das Zweite Vatikanische Konzil<br />

einberief. Zunächst aber muss die Richtung wie<strong>der</strong> klar sein: nicht eine restaurative Rückentwicklung<br />

in vorkonziliare Zeiten wie unter dem polnischen und dem deutschen Papst, son<strong>der</strong>n<br />

überlegte, geplante und gut vermittelte Schritte <strong>der</strong> Reform auf <strong>der</strong> Linie des Zweiten Vatikanischen<br />

Konzils.


Eine dritte Frage stellt sich damals wie heute: Wird eine Reform <strong>der</strong> Kirche nicht auf ernsthaften<br />

Wi<strong>der</strong>stand stoßen? Natürlich haben viele inner- und außerhalb <strong>der</strong> katholischen Kirche die<br />

Hoffnung, dass <strong>der</strong> Papst die Energie aufbringt, den schon lange anhaltenden Reformstau zu<br />

beenden und wichtige Reformen anzupacken. Zweifellos wird er damit mächtige Gegenkräfte<br />

vor allem im Machtbetrieb <strong>der</strong> römischen Kurie wecken, denen es standzuhalten gilt.<br />

Wie stark <strong>der</strong> Druck sein kann, musste auch Franz von Assisi erfahren. Er, <strong>der</strong> sich in Armut<br />

von allem lösen wollte, hängte sich umso mehr an die »heilige Mutter Kirche«. Nicht in Konfrontation<br />

mit <strong>der</strong> Hierarchie, son<strong>der</strong>n in Gehorsam gegenüber Papst und Kurie wollte er die Konformität<br />

mit Jesus leben: in gelebter Armut und mit Laienpredigt. Auf Wunsch seines Gönners, des<br />

Benediktinerkardinals Johann von St. Paul, einem Colonna, <strong>der</strong> ihm den Zugang zu Innozenz<br />

III. verschafft hatte, lässt er sich und seine Gefährten durch die Tonsur in den Klerikerstand<br />

erheben. Dies erleichtert einerseits die Predigttätigkeit, för<strong>der</strong>t jedoch die Klerikalisierung<br />

<strong>der</strong> jungen Gemeinschaft, die immer mehr Priester umfasst. So ist es denn nicht erstaunlich,<br />

dass die franziskanische Gemeinschaft immer mehr ins römische System integriert wird. Des<br />

Franziskus letzte Jahre wurden verdüstert durch die Spannung zwischen dem ursprünglichen<br />

Ideal <strong>der</strong> Nachfolge Jesu und <strong>der</strong> Angleichung seiner Gemeinschaft an den bisherigen Typus<br />

klösterlichen Lebens.<br />

Franziskus in Ehren: Am 3. Oktober 1226 stirbt er so arm, wie er gelebt hat, erst 44 Jahre alt.<br />

Schon zehn Jahre zuvor war Papst Innozenz III., ein Jahr nach dem 4. Laterankonzil, völlig unerwartet<br />

im Alter von 56 Jahren gestorben. Am 16. Juni 1216 fand man die Leiche dessen, <strong>der</strong><br />

Macht, Besitz und Reichtum des Heiligen Stuhls wie keiner vor ihm zu mehren wusste, in <strong>der</strong><br />

Kathedrale von Perugia, von allen verlassen und völlig nackt, von seinen eigenen Dienern ausgeraubt.<br />

Ein Fanal für den Umschlag <strong>der</strong> päpstlichen Weltherrschaft in päpstliche Ohnmacht:<br />

am Anfang des 13. Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>der</strong> glorreich regierende Innozenz III., am Ende des Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

<strong>der</strong> erbärmlich gefangen genommene größenwahnsinnige Bonifaz VIII. (1294–1303), auf<br />

den das rund 70 Jahre dauernde Exil von Avignon und das abendländische Schisma mit zwei<br />

und schließlich drei Päpsten folgte.<br />

Keine zwei Jahrzehnte nach des Franziskus Tod scheint die in Italien sich rasch ausbreitende<br />

franziskanische Bewegung nahezu völlig von <strong>der</strong> Kirche domestiziert, so dass sie bald <strong>der</strong><br />

päpstlichen Politik als normaler Orden zu Diensten steht und sich sogar für die Inquisition einspannen<br />

lässt. Dies war ein Werk vor allem des Neffen von Innozenz III., Kardinal Ugolino von<br />

Ostia, Vertrauter von Franz, <strong>der</strong> ein Jahr nach seinem Tod zum Papst gewählt wurde: Gregor<br />

IX. (1227–1241). Er machte den »von unten«, vom Volk, schon längst heilig gesprochenen<br />

Franziskus zu einem Heiliggesprochenen »von oben«. Und animierte den noch von Franz selber<br />

eingesetzten Vikar <strong>der</strong> Ordensgemeinschaft zum Bau einer auf gewaltigen Substrukturen<br />

ruhenden prachtvollen Basilika mit Ober- und Unterkirche samt einem großen Konventgebäude.<br />

Und dies über dem Grab des Poverello – entgegen dem ausdrücklichen Verbot des Heiligen,<br />

keine großen Kirchen und Gebäude zu errichten; zugleich »interpretierte« <strong>der</strong> Neffe von Innozenz<br />

die Regel des Franziskus durch eine päpstliche Bulle im römischen Sinn.<br />

Wenn es also möglich war, dass Franz von Assisi und seine Gefährten im römischen System<br />

schließlich domestiziert werden konnten, so kann selbstverständlich auch nicht ausgeschlossen<br />

werden, dass ein Papst Franziskus schließlich im römischen System eingefangen wird, das er<br />

reformieren sollte. Papst Franziskus: ein Paradoxon? Ob sich Papst und Franz, offensichtliche<br />

Gegensätze, je versöhnen lassen werden? Nur durch einen evangelisch gesinnten Papst <strong>der</strong><br />

Reformen. Unsere Hoffnung auf einen solchen Pastor Angelicus sollten wir nicht zu früh aufgeben!<br />

Zum Abschluss eine vierte Frage: Was tun, wenn uns die Hoffnung auf Reform von oben genommen<br />

wird? Die Zeiten sind jedenfalls vorbei, wo Papst und Bischöfe noch einfach mit dem<br />

Gehorsam <strong>der</strong> Gläubigen rechnen können. Ebenfalls durch die Gregorianische Reform im 11.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t wurde eine bestimmte Gehorsamsmystik in die katholische Kirche eingeführt: Gott<br />

gehorchen heiße <strong>der</strong> Kirche gehorchen, und das wie<strong>der</strong>um heiße dem Papst gehorchen, und<br />

umgekehrt. Seit dieser Zeit wurde <strong>der</strong> Gehorsam aller Christen gegenüber dem Papst als zen-


trale Tugend eingebläut; Befehl und Gehorsam zu erzwingen – mit welchen Mitteln auch immer!<br />

– wurde römischer Stil. Aber die mittelalterliche Gleichung »Gehorsam gegenüber Gott = gegenüber<br />

<strong>der</strong> Kirche = gegenüber dem Papst« wi<strong>der</strong>spricht schon dem Wort <strong>der</strong> Apostel vor dem<br />

Hohen Rat zu Jerusalem: »Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.«<br />

Wir dürfen also keinesfalls in Resignation verfallen, son<strong>der</strong>n müssen angesichts mangeln<strong>der</strong><br />

Reformimpulse »von oben«, von <strong>der</strong> Hierarchie her, entschieden Reformen »von unten«, vom<br />

Volk her, in Angriff nehmen. Wenn Papst Franziskus Reformen anpackt, wird er breite Zustimmung<br />

des Volkes weit über die katholische Kirche hinaus finden. Wenn er aber schließlich so<br />

weitermachen und den Reformstau nicht auflösen sollte, wird <strong>der</strong> Ruf »Empört euch! Indignez-vous!«<br />

mehr und mehr auch in <strong>der</strong> katholischen Kirche erschallen und Reformen von unten<br />

provozieren, die auch ohne Billigung durch die Hierarchie und oft sogar gegen die Vereitelungsversuche<br />

<strong>der</strong> Hierarchie realisiert werden. Im schlimmsten Fall – so schrieb ich schon vor dieser<br />

Papstwahl – wird die katholische Kirche statt eines Frühlings eine neue Eiszeit erleben und Gefahr<br />

laufen, zu einer wenig relevanten Großsekte zu schrumpfen.<br />

Doch wie, werden Sie, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, einwerfen, wie sollen denn Reformen<br />

»von unten« in die Wege geleitet werden? Ich kann Ihnen nichts Besseres raten, als was ich<br />

schon vor sage und schreibe vierzig Jahren – wer denkt da nicht an Israels 40jährigen Zug<br />

durch die Wüste! – <strong>der</strong> Erklärung »Wi<strong>der</strong> die Resignation« von 33 prominenten Theologen 1972<br />

auf den Weg gegeben hatte; zu diesen gehörten aus dem deutschen Sprachraum die Reformtheologen,<br />

an erster Stelle unser <strong>Stiftung</strong>sgrün<strong>der</strong> <strong>Herbert</strong> <strong>Haag</strong>, aber auch Alfons Auer,<br />

Franz Böckle, Norbert Greinacher, <strong>Herbert</strong> <strong>Haag</strong>, Otto Karrer, Walter Kasper und Johann Baptist<br />

Metz. Ich wie<strong>der</strong>hole die fünf Parolen:<br />

Parole 1: Schweiget nicht! Je<strong>der</strong>mann in <strong>der</strong> Kirche, ob im Amt o<strong>der</strong> nicht, ob Mann o<strong>der</strong> Frau,<br />

hat das Recht und oft die Pflicht, über Kirche und Kirchenleitung zu sagen, was er o<strong>der</strong> sie<br />

denkt und was er o<strong>der</strong> sie zu tun für nötig erachtet, also Vorschläge zur Verbesserung einzubringen<br />

(vgl. CIC Kanon 212 § 3).<br />

Vertraut auf die Macht des Wortes! Drei tapfere junge Frauen haben in Moskau als Pussy Riot<br />

des Kremlchefs Putin autoritäres Regime vor aller Welt blamiert. Und <strong>der</strong> chinesische Künstler<br />

Ai Weiwei hat sich in Peking, weltweit beachtet, für Menschenrechte, Demokratie und Gerechtigkeit<br />

eingesetzt und dem ganzen totalitären Parteiapparat getrotzt.<br />

Parole 2: Selber handeln! Nicht nur klagen und über Rom und die Bischöfe schimpfen, son<strong>der</strong>n<br />

selber aktiv werden.<br />

Vertrauen wir auf die Macht <strong>der</strong> Tat. Gerade in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft haben Einzelne wie<br />

Gruppen die Möglichkeit, das kirchliche Leben, beson<strong>der</strong>s durch die neuen Medien und das Internet,<br />

positiv zu beeinflussen. Ob nicht vielleicht doch einmal nach dem arabischen ein »katholischer<br />

Frühling« kommen könnte?<br />

Parole 3: Geht gemeinsam vor! Der Einzelne soll, wo immer möglich mit <strong>der</strong> Unterstützung von<br />

an<strong>der</strong>en vorgehen: von Freunden, des Pfarrgemein<strong>der</strong>ates, des Priester- o<strong>der</strong> Pastoralrats und<br />

<strong>der</strong> katholischen Laienverbände, o<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> freien Gruppierungen von Laien, <strong>der</strong> Reformbewegungen,<br />

<strong>der</strong> Priester- und Solidaritätsgruppen.<br />

Vertraut auf die Macht <strong>der</strong> Gemeinschaft. Vor vierzig Jahren habe ich den Satz formuliert, <strong>der</strong><br />

erst im Jahr 2011 in Erfüllung gegangen ist: »Ein Pfarrer in <strong>der</strong> Diözese zählt nicht, fünf werden<br />

beachtet, fünfzig sind unbesiegbar.« Die mutige und nachhaltige Pfarrerinitiative in Österreich,<br />

an <strong>der</strong> Spitze unser Preisträger Helmut Schüller, zählt bereits rund 500 Unterzeichner und hat<br />

den zuerst mit Exkommunikation drohenden Wiener Kardinal Schönborn zum Einlenken gebracht.<br />

Und die in <strong>der</strong> Schweiz eingeleitete Pfarreiinitiative zählt auch bereits über 300 Unterschriften<br />

von Seelsorgern und Seelsorgerinnen. Ähnliche ermutigende Aufbrüche und Entwicklungen<br />

an <strong>der</strong> Kirchenbasis gibt es heute überall in <strong>der</strong> Welt. Es ist zu hoffen, dass sich diesen<br />

Bewegungen viele weitere Einzelne, Gruppen und vor allem Seelsorger anschließen.<br />

Parole 4: Zwischenlösungen anstreben! Diskussionen allein helfen nicht, oft muss man zeigen,<br />

dass man es ernst meint. Und dies durchaus mit gutem Gewissen. Denn ein Druck auf die Au-


toritäten im Geist christlicher Brü<strong>der</strong>lichkeit kann dort legitim sein, wo Amtsträger ihrem Auftrag<br />

nicht entsprechen. Wer nicht hören will, muss fühlen.<br />

Vertraut auf die Macht des Wi<strong>der</strong>stands: Die Volkssprache in <strong>der</strong> gesamten katholischen Liturgie,<br />

die Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Mischehenbestimmungen, die Bejahung von Toleranz, Demokratie, Menschenrechten<br />

und so vieles in <strong>der</strong> Kirchengeschichte ist nur durch den ständigen loyalen Druck<br />

von unten erreicht worden. Der weit verbreitete Ungehorsam <strong>der</strong> deutschen Pfarrgemeinden<br />

etwa gegenüber dem römischen Verbot von Ministrantinnen hat es deutlich gezeigt: Wo eine<br />

Maßnahme <strong>der</strong> kirchlichen Autorität ganz offensichtlich dem Evangelium nicht entspricht, kann<br />

Ungehorsam und Wi<strong>der</strong>stand erlaubt und sogar geboten sein. Gerade in <strong>der</strong> Kirche muss man<br />

»Gott mehr gehorchen als den Menschen« (Apg 5,29). Und warum, frage ich mich, soll man<br />

nicht zum Beispiel das Zölibatsgesetz wie für die mit Rom unierten Kirchen des Ostens so auch<br />

für den deutschen Sprachraum durch freiwillige Ehelosigkeit ersetzen und das Gesetz denen<br />

lassen, die es beibehalten wollen?<br />

Parole 5: Nicht aufgeben! Bei <strong>der</strong> Rettung o<strong>der</strong> Erneuerung <strong>der</strong> Kirche, das wissen Sie, wirkt<br />

als die größte Versuchung, oft auch als bequemes Alibi, die Meinung, dass alles keinen Sinn<br />

habe, dass man doch nicht vorankomme, dass man sich besser verabschiede. Doch gerade in<br />

<strong>der</strong> gegenwärtigen Phase innerkirchlicher Restauration und Stagnation kommt es darauf an, in<br />

vertrauendem Glauben ruhig durchzuhalten und den langen Atem zu bewahren. Auch die politische<br />

»Restauration« im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t war nach drei Jahrzehnten vorbei.<br />

Vertrauen wir auf die Macht <strong>der</strong> Hoffnung! Noch warten viele auf die Einsicht <strong>der</strong> Verantwortlichen.<br />

Doch hat die Aufarbeitung <strong>der</strong> Missbrauchsfälle auch bei vielen Bischöfen langsam einen<br />

Bewusstseinswandel in Gang gesetzt. Und sie sind nun auch grundsätzlicheren Infragestellungen<br />

ausgesetzt: etwa nach <strong>der</strong> Macht und ihrer Ausübung in <strong>der</strong> Kirche, nach ihrem rigiden<br />

Dogmatismus o<strong>der</strong> nach <strong>der</strong> Sexualität und ihrer Verdrängung.<br />

Zum Schluss<br />

Zu den immensen gesellschaftlichen Problemen, in denen wir uns als Christen engagieren sollen,<br />

zum Kampf gegen Hunger und Armut, für Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlergehen, zu Kapitalismus<br />

und Sozialismus, habe ich Stellung bezogen im Buch »Anständig wirtschaften.<br />

Warum Ökonomie Moral braucht«. Hier und heute musste ich mich auf die innerkirchlichen Reformprobleme<br />

beschränken. Ich wollte und will die Kirchenfrage we<strong>der</strong> den Traditionalisten<br />

noch den Zynikern überlassen.<br />

Allerdings: mit meinem 85. Geburtstag am 19. März 2013 habe ich beschlossen, von <strong>der</strong><br />

großen Bühne abzutreten, liebe Freundinnen und Freunde. Ich überlasse es in Zukunft an<strong>der</strong>en,<br />

Hauptrollen zu spielen. Doch bleibe ich aktiv und solidarisch. Ich darf für mich das Wort<br />

Friedrich Schillers in Anspruch nehmen: Ich habe »die Träume meiner Jugend nicht verraten«:<br />

nicht den Traum von einer Erneuerung <strong>der</strong> Kirche und einer Einheit <strong>der</strong> christlichen Kirchen,<br />

nicht den Traum vom Frieden zwischen den Religionen und Zivilisationen und nicht den Traum<br />

von einer echten Gemeinschaft <strong>der</strong> Nationen.<br />

Diese Träume mögen jetzt von den nachfolgenden Generationen geträumt werden, und ich hoffe,<br />

dass das Wort des Propheten Joël vom Ausgießen des Geistes Gottes in neuer Weise in Erfüllung<br />

geht: »Und Eure Söhne und eure Töchter werden weissagen, eure Alten werden träumen,<br />

eure jungen Männer aber werden Visionen haben« (Joel 3,1). Ich wünsche Ihnen allen<br />

von Herzen: Lassen Sie sich bei allen Enttäuschungen nicht entmutigen. Kämpfen Sie zäh, tapfer<br />

und ausdauernd weiter in vertrauendem Glauben und bewahren Sie angesichts aller Trägheit,<br />

Torheit und Resignation die Hoffnung auf eine Kirche, die wie<strong>der</strong> mehr aus dem Evangelium<br />

Jesu Christi lebt und handelt. Und vergessen Sie bei allem Zorn, Streit und Protest die Liebe<br />

nicht!


Laudatio von Prof. Dr. Sabine Demel<br />

Meine Damen und Herren, liebe Schwester Pat Farell,<br />

im letzten Dezember konnte man in <strong>der</strong> Deutschen Presse lesen: „In den USA werden gerade<br />

ein paar rebellische Nonnen sehr berühmt. [Warum?] Weil sie sich mehr um die Armen als um<br />

die Dogmen <strong>der</strong> Kirche kümmern. … Die Frauen kümmern sich zu viel um die Ärmsten und protestieren<br />

nicht laut genug gegen Empfängnisverhütung, Schwulenehe und die Ordination von<br />

Frauen“ 1 – so lautet <strong>der</strong> Hauptvorwurf <strong>der</strong> Glaubenskongregation an die US-amerikanischen<br />

Ordensfrauen. Der damalige Präfekt <strong>der</strong> Glaubenskongregation, William Kardinal Levada, befürchtete<br />

„gar, radikalen Feminismus‘ bei den Nonnen. Und das bei einer Organisation, in <strong>der</strong><br />

das Durchschnittsalter bei 73 Jahren liegt“ 2 – soweit die Pressemeldung.<br />

Was liegt hier vor? Um was handelt es sich hier? Wer sind diese Nonnen? Und wieso sind sie<br />

in Rom in Ungnade gefallen?<br />

Es geht um ca. 46.000 US-amerikanische Ordensfrauen, die sich auf etwa 1.500 Ordensgemeinschaften<br />

verteilen und alle zu dem Dachverband namens „Lea<strong>der</strong>ship Conference of Women<br />

Religious“ (kurz: LCWR) mit Sitz in Silver Spring im US-Bundesstaat Maryland gehören.<br />

Die Präsidentin dieses Dachverbandes war bis letztes Jahr im August 2012 Schwester Pat Farell.<br />

Zu unserer großen Freude ist sie heute hier unter uns und nimmt stellvertretend für die<br />

LCWR den Preis <strong>der</strong> <strong>Herbert</strong>-<strong>Haag</strong>-<strong>Stiftung</strong> entgegen – seien Sie, Schwester Pat Farell, auch<br />

von dieser Stelle nochmals herzlich begrüßt! Schön, dass Sie zu uns gekommen sind!<br />

Bereits Ende des Jahres 2008 hatte <strong>der</strong> Vatikan eine Überprüfung des Dachverbandes <strong>der</strong> US-<br />

Frauenorden angeordnet. Der Ermittlungsbericht stellte nach Angaben <strong>der</strong> Glaubenskongregation<br />

„ernsthafte theologische Mängel“ in Fragen <strong>der</strong> Sexualethik, des Lebensschutzes und des<br />

Amtsverständnisses fest und stellte den Dachverband unter die Kuratel eines Erzbischofs. Auf<br />

diese Vorwürfe und die ergriffenen römischen Maßnahmen antwortete die Präsidentin <strong>der</strong><br />

LCWR – also Sie, Schwester Pat Farell – mit <strong>der</strong> unmissverständlichen Erklärung, dass die Anschuldigungen<br />

„unbegründet“, <strong>der</strong> Untersuchungsprozess intransparent und „mangelhaft“ sowie<br />

die Disziplinarmaßnahmen „unangemessen“ sind.<br />

Was lehrt uns das, meine Damen und Herren?<br />

Die Glaubenskongregation geht wohl offensichtlich davon aus, dass Kirche immer noch wie früher<br />

funktioniert. Nämlich: Wir in Rom bestimmen in <strong>der</strong> Kirche, über welche Themen gesprochen<br />

werden darf und wer sprechen darf, ebenso wer in welchen Situationen wie zu handeln<br />

hat, und ordnen das dann an – und zwar per Schreiben mit diffarmierenden Behauptungen.<br />

Also wurde wie<strong>der</strong> einmal einfach verordnet statt miteinan<strong>der</strong> gerungen, wurde über Personen<br />

geurteilt statt sich mit ihnen auseinan<strong>der</strong>zusetzen, Vermutungen angestellt statt Fakten geklärt.<br />

Seit dem II. Vatikanischen Konzil funktioniert das aber nicht mehr. Die inhaltliche Autorität <strong>der</strong><br />

Argumente und des Tuns kann nicht mehr einfach durch die formale Autorität <strong>der</strong> Macht zum<br />

Schweigen gebracht werden! Denn das Selbstverständnis <strong>der</strong> Kirche hat sich gewandelt: aus<br />

dem unmündigen ist das mündige Volk Gottes geworden; aus <strong>der</strong> gehorsamen Herde sind die<br />

Laien mit eigener Würde, Freiheit und Verantwortung kraft Taufe und Firmung geworden. Seitdem<br />

kann auch nicht mehr einfach die inhaltliche Autorität <strong>der</strong> Argumente durch die formale Autorität<br />

<strong>der</strong> Macht weggewischt werden! Wer das versucht, untergräbt die Glaubwürdigkeit seiner<br />

eigenen Autorität als Repräsentant <strong>der</strong> Kirche.<br />

Die LCWR hat das offensichtlich genau so gesehen. Präziser formuliert: Sie, liebe Schwester<br />

Pat Farell, die Sie ja zu dieser Zeit als Präsidentin <strong>der</strong> LCWR für <strong>der</strong>en Vertretung nach außen<br />

in die Kirche und Gesellschaft hinein die Verantwortung getragen haben, – Sie haben sich<br />

durch die Macht, ja Übermacht <strong>der</strong> formalen Autorität nicht einschüchtern lassen und ängstlich<br />

nachgefragt: „Was dürfen wir denn künftig noch tun – kraft unseres Status als kirchenamtlich<br />

1<br />

Michaela Haas, Heiliger Zorn, in: SZ vom Dezember 2012<br />

2<br />

Ebd.


anerkannter Dachverband?“ Nein, Sie haben vielmehr innegehalten und sich und ihre Mitschwestern<br />

gefragt: „Was müssen wir jetzt tun – und zwar kraft unserer Taufbegabung und kraft<br />

unserer Berufung als Ordenschristinnnen?<br />

Liebe Schwester Pat Farell,<br />

Ignatius von Loyola hätte Ihnen bestimmt attestiert: genau das ist es, wozu ich immer aufrufe:<br />

die „engagierte Gelassenheit“. Ja, Pat Farell, Sie haben uns in dieser schwierigen Phase <strong>der</strong><br />

grundsätzlichen Infragestellung <strong>der</strong> LCWR durch die Glaubenskongregation konkret vorgelebt,<br />

was es heißt: „Es kommt auf mich an, aber es hängt nicht von mir ab.“ Was es konkret heißt,<br />

dass ich allen Fleiß darauf verwende, als ob von mir alles und von Gott nichts abhängt und<br />

dass ich gleichzeitig so sehr auf Gott vertraue, als ob von ihm alles und von mir nichts abhängt.<br />

Was haben Sie also konkret gemacht? Sie haben auf <strong>der</strong> Jahresversammlung ihres Dachverbandes,<br />

dem sage und schreibe 46.000 Ordensfrauen und damit 80 % <strong>der</strong> weiblichen Ordensgemeinschaften<br />

und Kongregationen <strong>der</strong> Vereinigten Staaten angehören, eine im wahrsten Sinne<br />

des Wortes prophetische Rede gehalten. Vor 900 anwesenden Ordensfrauen haben Sie am<br />

10. August 2012 sich selbst und Ihre Mitschwestern in eindrucksvoller Weise neu auf die spirituellen<br />

Wurzeln Ihrer Ordensberufung verpflichtet. Ich darf Ihnen allen hier einen zentralen Passus<br />

aus dieser eindrucksvollen prophetischen Rede in deutscher Übersetzung zitieren:<br />

„Die Berufung zum Ordensleben ist von ihrem Wesen her prophetisch und charismatisch;<br />

sie bietet einen alternativen Lebensstil zu dem <strong>der</strong> herrschenden Kultur. …Prophetie<br />

ist beides: eine Gabe Gottes und des Ergebnis strenger Askese. … Die prophetische<br />

Stimme wagt es, die Wahrheit zu sagen. Wir können sie oft dort hören, wo etablierte<br />

Macht hinterfragt und menschlicher Schmerz und Not aufgedeckt werden. Sie greift<br />

Strukturen an, die einige Menschen ausschließt und an<strong>der</strong>e bevorzugt. Die prophetische<br />

Stimme spornt zum Handeln und zur Verän<strong>der</strong>ung an.<br />

Wenn wir die großen und kleinen Verän<strong>der</strong>ungen unserer Zeit betrachten, wie würde<br />

eine prophetische Antwort auf die ‚Lehrmäßige Beurteilung‘ dann aussehen? Ich glaube,<br />

sie wäre demütig, aber nicht unterwürfig; in einem gesunden Selbstbewusstsein verwurzelt,<br />

aber nicht selbstgerecht; aufrichtig, aber freundlich und absolut furchtlos. Ich möchte<br />

eindringliche Fragen stellen. Sind wir aufgefor<strong>der</strong>t, uns angemessen zurechtstutzen<br />

zu lassen, und sind wir offen dafür? Ist die ‚Lehrmäßige Beurteilung‘ Ausdruck <strong>der</strong> Fürsorge<br />

o<strong>der</strong> ein Versuch, uns zu kontrollieren? Fürsorge gründet auf Liebe und lädt zur<br />

Einheit ein. Kontrolle durch Angst und Einschüchterung wäre ein Machtmissbrauch.“<br />

Was für eine freimütige Haltung in dieser Krise! Was für eine hartnäckige Treue zur christlichen<br />

Botschaft! Und was für eine spirituelle Tiefe und Kraft!<br />

Wer so redet und mit seiner Rede 1500 Mitglied-Organisationen und damit Zehntausende von<br />

engagierten Ordensfrauen mit an die Hand und mit auf den Weg nimmt, ist nach paulinischen<br />

Kategorien ein prophetischer Mensch, ein Geist erfüllter Mensch, ein Mensch, <strong>der</strong> sich vom<br />

Geist Gottes umtreiben lässt – ob gelegen o<strong>der</strong> ungelegen. Und solche geistlichen Menschen<br />

sind es, die unsere Kirche bewegen. Denn sie nehmen nichts – keine Vorschriften und keine<br />

Vorwürfe – einfach hin, klagen und jammern darüber eine Zeit lang und ziehen sich dann enttäuscht<br />

zurück, son<strong>der</strong>n solche geistlichen Menschen prüfen alles unter dem Aspekt <strong>der</strong> Gerechtigkeit<br />

Gottes und schreiten dann zur entsprechenden Rede und zu entsprechenden Taten.<br />

Sie fangen selbst an, die Än<strong>der</strong>ung zu leben, die sie in <strong>der</strong> Welt sehen wollen. Und genau<br />

so bauen sie – zwar in kleinen, manchmal sehr kleinen und oft auch sehr beschwerlichen, aber<br />

eben auch kontinuierlichen Schritten – daran, Stück um Stück legitime Freiheitsräume in <strong>der</strong><br />

Kirche, also Freiheitsräume <strong>der</strong> christlichen Freiheit, zu schaffen, zu sichern und auszubauen.<br />

Nehmen wir uns die vielen zigtausend Ordensfrauen <strong>der</strong> LCWR mit ihrer engagierten Gelassenheit<br />

zum Vorbild und entwickeln wir wie sie künftig viel öfter den ChristInnenmut, Diskrepanzen<br />

zwischen Theorie und Wirklichkeit nicht nur wahrzunehmen und zu beklagen, son<strong>der</strong>n auch Visionen<br />

zu entwickeln und offensiv zu vertreten, wie diese Diskrepanzen überwunden werden<br />

können, wie aus dem Ist-Stand <strong>der</strong> Soll-Stand werden kann – <strong>der</strong> Soll-Stand, <strong>der</strong> ein erfülltes<br />

Leben aus dem Geist Gottes heraus für Männer und Frauen för<strong>der</strong>t statt behin<strong>der</strong>t. Dabei ist


speziell <strong>der</strong> ausgeprägter Bezug zum Leben und das beson<strong>der</strong>e Gespür für erfülltes Leben von<br />

uns Frauen meines Erachtens ein zusätzliches wichtiges „Pfund“, mit dem wir auch in unserer<br />

Kirche mehr denn je wuchern sollten. Als Motto formuliert: Ja nicht bei dem, was ist, stehen<br />

bleiben und dessen Defizite bejammern, son<strong>der</strong>n mit Sachkompetenz und christlicher Couragiertheit<br />

für eine bessere Zukunft eintreten. Deshalb ist die <strong>Herbert</strong>-<strong>Haag</strong>-<strong>Stiftung</strong> so hoch erfreut<br />

über die engagierte Gelassenheit, mit <strong>der</strong> die LCWR unerschrocken, weil mit dem kleinen<br />

Senfkorn Hoffnung im Gepäck, Energien und Initiativen freigesetzt hat und weiterhin freisetzt,<br />

unsere Kirche zu erneuern und zukunftsoffen zu gestalten. Wir hoffen und wünschen, dass wir<br />

mit <strong>der</strong> <strong>Preisverleihung</strong> ihrer Stimme – <strong>der</strong> Stimme starker Frauen in <strong>der</strong> Kirche – auch in Europa<br />

ein Gewicht geben und damit jene ermuntern, die aus Resignation verstummt sind o<strong>der</strong> am<br />

Verstummen sind, sich zurückgezogen haben o<strong>der</strong> am Sich-Rückziehen sind. Durch Weggehen<br />

und durch Verstummen hat sich noch nie eine Wirklichkeit geän<strong>der</strong>t!<br />

Meine Damen und Herren!<br />

Nicht auszudenken, was passiert, wenn immer mehr Frauen und Männer, Laien und Kleriker,<br />

Ordenschristen und Weltchristen in <strong>der</strong> katholischen Kirche sich von dieser Idee anstecken lassen<br />

– von dieser Idee, sich für eine Ordnung im Geist <strong>der</strong> christlichen Freiheit einzusetzen und<br />

sich in <strong>der</strong> Kraft des empfangenen Taufgeistes für diese Freiheitsordnung für Männer und Frauen<br />

umtreiben zu lassen! Nicht auszudenken, was passiert, wenn immer mehr Katholiken und<br />

Katholikinnen auf ihre Geistbegabung vertrauen und in geisterfüllter Weise mit den Vorgaben in<br />

<strong>der</strong> Kirche umgehen! Eigentlich müssten es ja alle ChristInnen so tun. Denn schließlich wirkt<br />

<strong>der</strong> Geist Gottes, <strong>der</strong> dazu befähigt und damit auch verpflichtet, kraft <strong>der</strong> Taufe in allen Glie<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong> Gemeinschaft. Heißt es vielleicht deshalb im kirchlichen Gesetzbuch, dass <strong>der</strong> christliche<br />

Gehorsam „im Bewusstsein <strong>der</strong> eigenen Verantwortung“ zu leisten ist (c.212 §1 CIC/1983)? Ja,<br />

wirklich – so steht es im kirchlichen Gesetzbuch: Christlicher Gehorsam ist nicht einfach zu leisten,<br />

son<strong>der</strong>n christlicher Gehorsam ist im Bewusstsein <strong>der</strong> eigenen Verantwortung zu leisten!<br />

Damit ist auch nach Ausweis des kirchlichen Gesetzbuches <strong>der</strong> christliche Gehorsam kein blin<strong>der</strong><br />

und erzwungener, son<strong>der</strong>n ein mündiger und vernünftiger Gehorsam. Zu so einem verantworteten<br />

Gehorsam bedarf es ein erhebliches Maß an Urteilsvermögen wie auch an christlicher<br />

Courage zum Ich-Sagen, und es braucht den Mut, in <strong>der</strong> Kirche nicht nur mitzulaufen, son<strong>der</strong>n<br />

auch selbstständig aufzubrechen und sich kritischselbstkritisch auf die Suche nach dem Besseren<br />

in <strong>der</strong> Kirche zu machen – nach dem besseren Reden, nach dem besseren Handeln, nach<br />

dem besseren Umgang miteinan<strong>der</strong>. Christsein und Kirche lebt in allen Bereichen und immer<br />

wie<strong>der</strong> vom Zeugnis des Ich-Sagens, ob es gelegen o<strong>der</strong> ungelegen kommt.<br />

Wenn nicht nur einzelne, son<strong>der</strong>n möglichst viele – ja alle – Gläubigen verstärkt lernen, kontinuierlich<br />

und in einer auf Dialog orientierten Weise für die legitimen Freiheitsräume von Männern<br />

und Frauen in <strong>der</strong> Kirche einzutreten und dafür mit ihrem Ich-Sagen einzustehen, wird es früher<br />

o<strong>der</strong> später für jede (kirchliche) Autorität unmöglich, ständig wegzuhören, sich für nicht zuständig<br />

zu erklären o<strong>der</strong> sich auf die weltkirchliche Einheit zurückzuziehen. – Also, worauf warten<br />

wir noch? Lassen wir uns von <strong>der</strong> heutigen <strong>Preisverleihung</strong> an die LCWR inspirieren! Auf<br />

dass das wirklich wahr wird, was Pat Farell ihren Mitschwestern zugerufen hat:<br />

„Sie können ein paar Blumen zertreten, aber sie können den Frühling nicht aufhalten!“


Text <strong>der</strong> Widmungsurkunde (englisch / deutsch):<br />

Sister Pat Farrell and The Lea<strong>der</strong>ship Conference of Women Religious<br />

The <strong>Herbert</strong> <strong>Haag</strong> Foundation is honoured to award the Prize 2013 for Freedom in the<br />

Church to the Franciscan Sr. Pat Farrell and the 46,000 American Women Religious<br />

who are organized in the Lea<strong>der</strong>ship Conference of Women Religious (LCWR), in appreciation<br />

of their commitment to people in need and on the fringe of society, of their<br />

mindful reflection of the signs of time in the spirit of the Second Vatican Council and of<br />

their steadfast stance in the arguments with the Congregation of the Faith for a renewal<br />

of the Church in tune with our times.<br />

May their charismatic vision of a future-orientated presence of religious or<strong>der</strong>s in the<br />

world, their engaged though calm perception of crises as an opportunity for transformation<br />

and their prophetic dream of a springtime in the Church take on a dynamic form.<br />

Lucerne, April 14, 2013<br />

Dr. Erwin Koller, President of the <strong>Herbert</strong> <strong>Haag</strong> Foundation<br />

(deutsch)<br />

Die <strong>Herbert</strong> <strong>Haag</strong>-<strong>Stiftung</strong> verleiht den Preis 2013 für Freiheit in <strong>der</strong> Kirche an die Franziskanerschwester<br />

Pat Farrell und die 46‘000 amerikanischen Ordensfrauen, die in <strong>der</strong><br />

Lea<strong>der</strong>ship Conference of Women Religious (LCWR) zusammengeschlossen sind, für<br />

ihren Einsatz bei den Menschen in Bedrängnis und am Rand <strong>der</strong> Gesellschaft, für ihre<br />

wache Reflexion <strong>der</strong> Zeichen <strong>der</strong> Zeit im Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils und<br />

für ihre standhafte Haltung in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Glaubenskongregation<br />

um eine zeitgerechte Erneuerung <strong>der</strong> Kirche.<br />

Mögen ihre charismatische Vision für eine zukunftsweisende Präsenz <strong>der</strong> Orden in dieser<br />

Welt, ihre engagiert-gelassene Wahrnehmung von Krisen als Chancen zur Transformation<br />

und ihr prophetischer Traum von einem Frühling <strong>der</strong> Kirche kraftvoll Gestalt annehmen.<br />

Luzern, 14. April 2013<br />

Dr. Erwin Koller, Präsident <strong>der</strong> <strong>Stiftung</strong><br />

Rede von Sr. Pat Farrell<br />

Copyright bei HHSt<br />

Sonntag, 14. April, <strong>Preisverleihung</strong> <strong>der</strong> <strong>Herbert</strong>-<strong>Haag</strong>-<strong>Stiftung</strong> für Freiheit in <strong>der</strong> Kirche<br />

Ganz herzlichen Dank für die überraschende Gelegenheit, heute hier zu weilen und diesen<br />

Preis entgegenzunehmen. In Demut darf ich diese Bühne mit Dr. Hans Küng und Dr. Erwin Koller<br />

teilen. Ich feiere mit Ihnen sowohl das Vermächtnis von Professor <strong>Herbert</strong> <strong>Haag</strong> wie auch<br />

die Treue dieser <strong>Stiftung</strong> zum Prozess <strong>der</strong> dauernden Erneuerung in <strong>der</strong> Kirche. Im Namen von<br />

Tausenden von Ordensfrauen in den Vereinigten Staaten danke ich Ihnen für diese Geste <strong>der</strong><br />

Solidarität mit dem Leitungsverband <strong>der</strong> Ordensfrauen (LCWR), die ich ehrenhalber vertreten<br />

darf. Dieser Preis war ausserhalb je<strong>der</strong> Erwartung von uns allen. Für uns war es sehr berührend<br />

zu erfahren, dass wir in verschiedenen Kontinenten das gleiche Verlangen nach grösserer<br />

Freiheit teilen, zu erkennen, was es heisst, treu in <strong>der</strong> Gefolgschaft Jesu in unseren schwierigen<br />

Zeiten zu bestehen. Ganz herzlichen Dank für Ihre Unterstützung von Ordensfrauen in den Vereinigten<br />

Staaten. Es ist für uns sehr ermutigend!


LCWR wird das Preisgeld einsetzen für ein Programm <strong>der</strong> Leiterinnenausbildung für Ordensfrauen,<br />

die in ihren Kongregationen Führungsfunktion übernehmen sollen. Ungefähr ein Drittel<br />

<strong>der</strong> Verbandsmitglie<strong>der</strong> sind jüngst ernannte Leiterinnen, und unser Wunsch ist es, ihnen zu<br />

helfen, die in ihrer neuen Rolle benötigten Fähigkeiten zu entfalten. Bei den grossen Zahlen älterer<br />

Schwestern und abnehmenden finanziellen Mitteln in den Kongregationen haben einige<br />

Gemeinschaften nicht die Mittel, an unserem Ausbildungsprogramm für neue Leiterinnen teilzuhaben.<br />

Das Preisgeld wird helfen, das Programm zu finanzieren und auch Stipendien zu ermöglichen,<br />

um es allen gewählten Leiterinnen zu ermöglichen, daran teilzunehmen, vor allem eingewan<strong>der</strong>ten<br />

Kongregationen und Schwestern. Besten Dank, dass uns das durch Sie ermöglicht<br />

wird. Dank für die Jahre treuen Engagements <strong>der</strong> <strong>Herbert</strong> <strong>Haag</strong> <strong>Stiftung</strong> für Freiheit in <strong>der</strong> Kirche.<br />

Und aufrichtigen Dank an Sie für diesen Preis.<br />

Absicht und Hoffnung, die wir mit unserem Werk verbinden<br />

Als Dr. Koller sich mit mir in Verbindung setzte bezüglich <strong>der</strong> Gelegenheit, anlässlich dieser<br />

<strong>Preisverleihung</strong> zu Ihnen zu sprechen, schlug er mir vor, von <strong>der</strong> Absicht und <strong>der</strong> Hoffnung, die<br />

wir in LCWR mit unserem Werk verbinden, zu erzählen. Ich bin sehr glücklich, zu Ihnen über<br />

unsere Ziele und Träume als Verband zu sprechen. Es gibt nichts Wichtigeres. Teilhard de<br />

Chardin sagt: „Der einzige Weg vorwärts geht in <strong>der</strong> Richtung einer gemeinsamen Leidenschaft,<br />

denn nichts im Universum kann letztlich <strong>der</strong> wachsenden Begeisterung <strong>der</strong> kollektiven<br />

Seele wi<strong>der</strong>stehen.“ Ich freue mich, zu Ihnen über die gemeinsame Leidenschaft von Leiterinnen,<br />

die in LCWR organisiert sind, zu berichten. In erster Linie ist es das Ziel unseres Verbandes,<br />

Leiterinnen von Kongregationen Hilfe zu bieten bei <strong>der</strong> Anleitung von Schwestern, in dieser<br />

historischen Zeit auf treue und belangvolle Weisen ein religiöses Leben zu führen. Wir helfen<br />

Leiterinnen führen und gemeinsam erkennen, welche Art geistlicher Führung unsere Zeit<br />

benötigt. Der Verband dient als Forum, Probleme und Ideen zu erkunden, Mittel zu teilen und<br />

gegenseitige Unterstützung zu bieten.<br />

Die Einleitung zu unserem 5-Jahres-Plan lautet: „Wir, die Mitglie<strong>der</strong> des Leitungsverbandes von<br />

Ordensfrauen, glauben, dass Gottes Anruf in den Zeichen unserer Zeit eingeschrieben ist. Unsere<br />

Vorfahrinnen und Grün<strong>der</strong>innen traten ein ins Chaos und das Ungewisse ihrer Zeit, vertrauten<br />

auf Gottes gute Führung und wun<strong>der</strong>bare Vorsehung. In unserer Zeit sind wir zu Gleichem<br />

gerufen. Beseelt vom radikalen Anruf <strong>der</strong> Frohbotschaft, geführt durch Gottes Geist und<br />

in gegenseitiger Begleitung, erfassen wir unsere Zeit als heilig, unsere Führung als heilig, und<br />

unsere Herausfor<strong>der</strong>ungen als Segnungen.“<br />

Wir stehen vor vielen Herausfor<strong>der</strong>ungen. Das Ausüben geistlicher Führung im beson<strong>der</strong>en Zusammenhang<br />

und <strong>der</strong> Kultur <strong>der</strong> Vereinigten Staaten ist nicht die geringste davon. Wie verkünden<br />

wir als amerikanische Ordensfrauen die Werte <strong>der</strong> Frohbotschaft und rügen die Gegenwerte<br />

in einem Umfeld <strong>der</strong> Konsumgesellschaft, des Militarismus, Isolationismus, mit all den begleitenden<br />

sozialen und politischen Verwicklungen? Wir wollen Jesus in unserer Zeit nachfolgen. In<br />

seinem eigenen kulturellen, religiösen und historischen Milieu verstand es Jesus, Dinge verschieden<br />

zu sehen, alternative Werte anzubieten und die Menschen zu einer umfassen<strong>der</strong>en<br />

Gemeinschaft einzuladen. Das Gleiche wollen wir in unserer Zeit erreichen.<br />

In zweiter Linie stehen sowohl unsere einzelnen Kongregationen wie auch <strong>der</strong> LCWR weitgehenden<br />

demographischen und finanziellen Verän<strong>der</strong>ungen gegenüber. Als Verband stehen wir<br />

in einem Prozess des Planens auf weite Sicht, um die Lebensdauer und die Wirksamkeit <strong>der</strong><br />

Organisation bei abnehmenden Mitteln zu maximieren. Wir arbeiten zusammen mit an<strong>der</strong>n nationalen<br />

Organisationen, helfen Kongregationen in <strong>der</strong> Planung hinsichtlich Finanz- und Leitungsnöte,<br />

da die Anzahl <strong>der</strong> Schwestern abnimmt. Wir ermutigen zu mehr Solidarität unter<br />

Kongregationen, um einan<strong>der</strong> angesichts einer sehr unsicheren Zukunft zu helfen.<br />

Drittens leben wir in einer Zeit enormer Wechsel. Verän<strong>der</strong>ung wird immer rascher. Wir erfahren<br />

die drückende Wucht einer sich schnell entwickelnden Welt und eines Universums mit einer<br />

damit einhergehenden Vielfalt von Kulturen, Weltsichten, und Theologien. Als Verband versuchen<br />

wir, eine vorausschauende Führung auszuüben. Sprecher und Themen bei unserer jährlichen<br />

Zusammenkunft konzentrieren sich auf neues Denken, das – beson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Theologie


– zum Vorschein kommt. Letzthin haben wir beispielsweise zusammen überlegt, was wir von<br />

<strong>der</strong> neuen Universumsgeschichte und <strong>der</strong> ökologischen Bewegung lernen können, und was für<br />

Folgerungen sich daraus für Theologie, religiöses Leben und für die Kirche ergeben könnten.<br />

Was führt Gott in all dem herbei, und zu was für Verän<strong>der</strong>ung in uns lädt es ein? Der Prophet<br />

Isaiah verkündete: „Seht, ich schaffe Neues. Könnt ihr es nicht sehen?“ Wir versuchen zu erkennen,<br />

zu welcher Mithilfe an <strong>der</strong> Zukunftsgestaltung Gott uns aufruft und unsere Rolle darin<br />

wahrzunehmen. Zusammen mit dem LCWR-Vorstand und dem nationalem Büro wurde eine<br />

Kommission eingesetzt, um aktiv die Zeichen <strong>der</strong> Zeit aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Frohbotschaft zu deuten<br />

und die Folgerungen für das religiöse Leben zu beachten, und daraufhin die Mitglie<strong>der</strong> auf<br />

die sich stellenden Fragen, Probleme und Trends aufmerksam zu machen. Unsere Hoffnung<br />

geht dahin, dass diese Fragen eingehen werden in das Planen unserer Programme, Dienste<br />

und Hilfsmittel, die wir unseren LCWR-Mitglie<strong>der</strong>n anbieten, um ihnen in ihrem Leitungsdienst<br />

beizustehen.<br />

In Kirche wie in Gesellschaft gibt es verschiedene Reaktionen auf Verän<strong>der</strong>ung. Gewisse Personen<br />

und Gruppen reagieren in Angst und wollen an <strong>der</strong> Gegenwart festhalten o<strong>der</strong> in die Vergangenheit<br />

zurückkehren. An<strong>der</strong>e wollen hoffnungsvoll voranmachen. Dieser Unterschied erklärt<br />

teilweise die Polarisation in unserer Kirche und <strong>der</strong> Welt. Was immer <strong>der</strong> Grund sein mag,<br />

es herrscht klar ein Klima <strong>der</strong> Polarisation, und eine unserer aufrichtigsten Hoffnungen ist es,<br />

Wege zu finden, die dies heilen helfen. Seit langem erfahren wir eine Art Stockung, im Beson<strong>der</strong>en<br />

mit Teilen in <strong>der</strong> Kirche. Sowohl innerhalb des LCWR wie auch einzelner Kongregationen<br />

haben wir viele Diskussionen darüber geführt, wie wir auf konstruktive Weisen diese Stockung<br />

angehen können.<br />

Unsere wichtigste Schlussfolgerung war, dass im Falle eines klaren Nicht-mehr-weiter-Kommens,<br />

einzig <strong>der</strong> Weg hinunter, zu einem tieferen kontemplativen Ort <strong>der</strong> Begegnung mit dem<br />

allernährenden Grund von Gottes transformieren<strong>der</strong> Präsenz bleibt. Bewusst führen wir einen<br />

kontemplativeren Stil <strong>der</strong> Konversation miteinan<strong>der</strong>. Wir pflegen Schweigen, Einsamkeit, Gebetshaltung<br />

in unseren Versammlungen und in unseren persönlichen und gemeinschaftlichen<br />

Leben. Persönlich habe ich mit meinem eigenen Kongregations-Leitungsteam ausgehandelt, an<br />

mehreren Tagen eines Monats Zeit für Einsamkeit und Gebet einzuhalten. Eines <strong>der</strong> wichtigsten<br />

Ziele von LCWR ist es, uns für Gottes Bewegen in uns bereit zu sein, um dadurch in die Zukunft<br />

geleitet zu werden, die Gott durch uns schaffen will. Wir sind uns unserer Bedürftigkeit für<br />

mystische Tiefe, Horchen, und Verän<strong>der</strong>ung bewusst geworden. Der Natur nach ist religiöses<br />

Leben sowohl mystisch wie prophetisch. Die Zwei können nicht getrennt werden, aber beide<br />

müssen sehr bewusst gelebt werden. Wir sind sehr aktiv gewesen im Bereich <strong>der</strong> Prophetie.<br />

Unser Ziel ist es, den mystischen Bereich zu vertiefen und die beiden Dimensionen auf konkrete,<br />

praktische Weisen zusammenzubringen.<br />

Indem wir das tun, lernen wir besseren Dialog und wie wir in echte Konversation mit „dem an<strong>der</strong>n“<br />

treten können; wir werden unserer fundamentalen Übereinstimmung bewusst. Es braucht<br />

eine Schulung, nicht jeden Gesichtspunkt als richtig o<strong>der</strong> falsch anzusehen, son<strong>der</strong>n die Spannung<br />

von Differenzen auszuhalten, bis sich etwas verän<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> sich etwas Neues zeigt. Allmählich<br />

lernen wir, wie wir respektvoll in einer Zeit des Übergangs stehen können, we<strong>der</strong> mit<br />

Beherrschung noch mit Unterwerfung, in Freiheit, Erwartung, tiefem Hinhorchen, Verschiedenheit<br />

achtend und Vielfalt willkommen heissend, selbst wenn wir mit unserer Verschiedenheit<br />

nicht willkommen sind. Wir können in diesem Prozess nur unseren Beitrag leisten, doch wir wollen<br />

ihn gut leisten. Wir möchten Salz, Licht und Sauerteig sein in diesem Moment unserer Zeit<br />

und die Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und höchst unverdiente Liebe Gottes für die Welt zeigen.<br />

Danke für Ihre Unterstützung und für diesen Preis.


Von <strong>der</strong> Autorität <strong>der</strong> Freiheit<br />

Rede von Erwin Koller zur Übernahme des Präsidiums <strong>der</strong> <strong>Herbert</strong>-<strong>Haag</strong>-<strong>Stiftung</strong> für Freiheit in<br />

<strong>der</strong> Kirche<br />

Verehrte Freundinnen und Freunde <strong>der</strong> Freiheit in <strong>der</strong> Kirche!<br />

Wie Sie sehen, habe ich mir gedacht: Wenn in Rom einer mit 76 Jahren – dann sollte doch in<br />

Luzern auch einer mit 72 Jahren… Und wenn Sie nun wie bei meinem Vorgänger 28 Amtsjahre<br />

hinzuzählen, wissen Sie, was Sie erwartet. Doch dieses Zahlenspiel soll keine Drohung sein,<br />

son<strong>der</strong>n zeigen: Wir sind uns dessen bewusst, dass unsere <strong>Stiftung</strong> den Übergang zur nächsten<br />

Generation bestenfalls zur Hälfte geschafft hat.<br />

Ich möchte zum Abschluss <strong>der</strong> heutigen <strong>Preisverleihung</strong> ein paar Überlegungen über unsere<br />

<strong>Stiftung</strong> anstellen und stelle sie unter den Titel: „Von <strong>der</strong> Autorität <strong>der</strong> Freiheit.“<br />

Zu diesem dialektischen Motto hat mich mein älterer Kollege in <strong>der</strong> NZZ inspiriert, <strong>der</strong> ehemalige<br />

Feuilletonchef Hanno Helbling. Er war als Protestant schon Berichterstatter am Zweiten Vatikanischen<br />

Konzil, und als letzten Beitrag für sein Blatt hat er einen Nachruf auf Johannes Paul<br />

II. geschrieben, <strong>der</strong> posthum in <strong>der</strong> NZZ 3 erschienen ist. Darin findet sich ein Satz, <strong>der</strong> nicht nur<br />

den vorletzten Bischof von Rom, son<strong>der</strong>n die katholische Kirche insgesamt in ihrem Kern trifft:<br />

„In seinen Lehräusserungen hat er [Johannes Paul II.] <strong>der</strong> Wahrheit einzig die Form <strong>der</strong><br />

autoritativen Antwort gegeben und die Autorität <strong>der</strong> Freiheit, die auch aus Fragen spricht,<br />

nicht zu Wort kommen lassen.“<br />

Hinter dieser Aussage steckt eine Überzeugung, die uns Katholikinnen und Katholiken seit<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ten fast wie ein Katechismussatz beigebracht wurde: Freiheit ist für die Wahrheit <strong>der</strong><br />

christlichen Botschaft eine Bedrohung. Und um die vermeintliche Richtigkeit dieser These zu<br />

bekräftigen, fand man in <strong>der</strong> Kirchengeschichte genügend Beispiele:<br />

Wie oft haben Impulse von christlichen Freiheitsstürmern Verunsicherung und Chaos angerichtet!<br />

Wie schnell kippte eine ‚Eingebung des Geistes‘ in Rechthaberei und blutige Verfolgung!<br />

Sollte es also Zufall sein, dass die Reformatoren, die im 16. Jh. die ‚Freiheit des Christenmenschen‘<br />

auf ihre Fahne schrieben, sich schon in <strong>der</strong> ersten Generation unversöhnlich bekämpften?<br />

Wer darum als Katholik in <strong>der</strong> Kirche etwas zu sagen hatte und sich auf die Freiheit berief, war<br />

sehr bald mit dem allmächtigen Lehramt und seiner rechten Hand, <strong>der</strong> Inquisition, konfrontiert.<br />

Deren Verfahren und Urteile treten bis in die Gegenwart hinein die Würde <strong>der</strong> Betroffenen mit<br />

Füssen; dass <strong>der</strong> Absen<strong>der</strong> seit dem Konzil Glaubenskongregation heisst, macht die Sache nur<br />

noch zynischer – das weiss Sister Pat Farrell inzwischen so gut wie unser Ehrenpräsident Hans<br />

Küng: auf morgen Montag wurde sie vor die Glaubenskongregation zitiert, sie wird aber bei uns<br />

in Luzern einen Katholische Dialog führen. Der jüngste Pontifikatswechsel machte allerdings<br />

deutlich, dass ernsthafte Anfragen an eine so verstandene Autorität in unserer Kirche hartnäckiger,<br />

öffentlicher und unbequemer werden, ganz beson<strong>der</strong>s wenn sie als ‚Aufruf zum Ungehorsam‘<br />

formuliert und praktiziert werden. Die Autorität <strong>der</strong> Freiheit, die auch aus Fragen spricht,<br />

beansprucht ihren Raum.<br />

Was das heisst, habe ich schon vor 32 Jahren mit Professor <strong>Herbert</strong> <strong>Haag</strong> erlebt. Kurz vor Ostern<br />

1981 rief mich meine Direktion an, es gebe an Ostern eine Leerstelle im Fernsehprogramm,<br />

ob ich nicht eine Idee hätte, um diese Lücke zu füllen. Ich studierte nicht lange und lud<br />

<strong>Herbert</strong> <strong>Haag</strong> zu einem viertelstündigen Gespräch ein. Und weil ich ja die Autorität <strong>der</strong> Freiheit,<br />

die auch aus Fragen spricht, zu meinem Beruf gemacht hatte, stellte ich die für einen Fernsehmann<br />

unvermeidliche Frage:<br />

„Herr <strong>Haag</strong>, wenn wir mit unseren Kameras vor dem Grab Jesu ausgeharrt wären, hätten<br />

wir dann die Auferstehung Jesu aufzeichnen können?“<br />

3<br />

NZZ vom 4. April 2005.


Darauf antwortete <strong>Herbert</strong> <strong>Haag</strong> mit seinem berühmten Lächeln im Gesicht:<br />

„Nein, sicher nicht. Wir können niemals die Auferstehung Jesu greifen, wir können sie<br />

auch niemals beweisen. Auch das leere Grab ist kein Beweis für seine Auferstehung. ...<br />

Auferstehung ist sicher ein objektives Ereignis, das aber menschliches Begreifen und<br />

menschliche Kontrolle übersteigt.“<br />

Er sagte noch Manches mehr in diesem Interview. Doch die eine Aussage genügte, um einen<br />

Sturm <strong>der</strong> Entrüstung auszulösen, in den Medien, in Reaktionen an <strong>Herbert</strong> <strong>Haag</strong> und natürlich<br />

ans Schweizer Fernsehen. Wie konnte ein Redaktionsleiter nur so unverfroren sein und einen<br />

katholischen Professor das erzählen lassen, was in <strong>der</strong> exegetischen Zunft so ziemlich Allgemeingut<br />

war? Und wie konnte ein Alttestamentler sich überhaupt auf neutestamentliches Gelände<br />

vorwagen und so viel Unruhe stiften? Einem Briefwechsel mit Bischof Anton Hänggi entnehme<br />

ich, dass sich sogar die Schweizer Bischofskonferenz mit dem Fall beschäftigte.<br />

Wenig später plante Johannes Paul II. seine erste Reise in die Schweiz, und wie<strong>der</strong>um hatte ich<br />

die verwegene Idee, zur <strong>der</strong> Zeit, da <strong>der</strong> Papst auf dem Flughafen Zürich landete, am Sen<strong>der</strong><br />

Hans Küng über den Zustand <strong>der</strong> katholischen Kirche zu befragen. Doch dieses Mal kam die<br />

Direktion mit einem Verbot dazwischen, stellte klar, was sich nicht gehört, und for<strong>der</strong>te mich<br />

auf, Hans Küng wie<strong>der</strong> auszuladen...<br />

Nur so viel, meine Damen und Herren, zum Thema Freiheit in den Medien. Es soll kein Vorwand<br />

sein, um die Unfreiheit in <strong>der</strong> Kirche zu rechtfertigen, aber doch den prekären Status <strong>der</strong><br />

Freiheit verdeutlichen, nicht nur in <strong>der</strong> Kirche. „Nirgends wird einem nichts geschenkt!“ – wie wir<br />

im Dialekt sagen. Wo kämen wir hin, wenn die am Ersten August so wohlfeil beschworene Freiheit<br />

auch noch praktiziert würde?! Ich glaube, das Pathos <strong>der</strong> Freiheit, um das ja keine politische<br />

Partei herum kommt, müsste uns skeptisch stimmen und jene Orte suchen lassen, wo<br />

Freiheit authentisch gelebt wird. Warum sollte sie nicht gerade in den Kirchen zu finden sein!<br />

In meinem letzten Fernseh-Interview mit <strong>Herbert</strong> <strong>Haag</strong> am 29. November 1998 antwortete er<br />

auf meine Frage, was denn die Bibel unter Wahrheit verstehe:<br />

„Die Bibel versteht unter Wahrheit das, was Gott den Menschen zu sagen hat. Um diese<br />

Sprache zu verstehen, bedarf es einer grossen äusseren und inneren Freiheit.<br />

Das heisst: Die Wahrheit kann nur gedeihen in einer Atmosphäre <strong>der</strong> Freiheit und umgekehrt<br />

kann die Freiheit nur gedeihen in einer Atmosphäre <strong>der</strong> Wahrheit. Das meint Jesus,<br />

wenn er sagt: ‚Die Wahrheit wird euch frei machen!‘ (Joh 8,32)“<br />

Aus dieser Perspektive deutete <strong>Herbert</strong> <strong>Haag</strong> auch das Hohe Lied als Botschaft einer befreiten<br />

Erotik und Sexualität. Darum <strong>der</strong> Titel: „Zur Liebe befreit“ 4 . Und mit dem „Abschied vom Teufel“ 5<br />

verband er die bittere Einsicht, dass <strong>der</strong> Mensch die böse Tat auch in den apokalyptischen Formen<br />

des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts nicht auf einen höllischen Blitzableiter abschieben könne. Eine Freiheit,<br />

die sich für das Gute o<strong>der</strong> das Böse entscheiden kann, enthält eben das Risiko abgrundtiefer<br />

Bosheit.<br />

Wahrheit und Freiheit sind also Geschwister. Und christliches Tun, auch das Handeln <strong>der</strong> Hierarchie,<br />

muss bestehen können vor dem berühmten Galaterwort des Apostels Paulus:<br />

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Steht also fest und<br />

lasst euch nicht wie<strong>der</strong> in das Joch <strong>der</strong> Knechtschaft einspannen“ (Gal 5,1).<br />

In reformatorischer Tradition hat es Karl Barth in einer Predigt klipp und klar zum Ausdruck gebracht:<br />

„‘Wo <strong>der</strong> Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.’ (2 Kor 3,17) … Da wäre er [<strong>der</strong> Geist] also<br />

nicht, wo diese Freiheit, diese Macht und Kunst nicht wäre, wo die freie Gemeinde <strong>der</strong><br />

freien Christen nicht geboren würde, nicht aufstünde, nicht am Werk wäre. Christentum in<br />

<strong>der</strong> Knechtschaft, in <strong>der</strong> Angst, im Schneckenhaus kann und mag an sich immer noch<br />

eine nette Sache sein. Nur mit dem Geist des Herrn wird ein solches unfreies Christentum<br />

bestimmt nichts zu tun haben." 6<br />

4<br />

Zusammen mit Katharina Elliger, Zürich 1998.<br />

5<br />

Einsiedeln 1969.


Die Autorität <strong>der</strong> Freiheit, die auch aus Fragen spricht, muss darum Massstab sein auch für die<br />

innerkirchlichen Dialoge, von denen heute so oft die Rede ist. Professor Sabine Demel hat kürzlich<br />

in einem kleinen Buch festgehalten, welche Kriterien für einen ernsthaften Dialog gelten.<br />

Sie erinnert daran, dass die beiden Konzilspäpste Johannes XXIII. und Paul VI. weit über das in<br />

den Dokumenten des Konzils Festgehaltene hinaus eine Atmosphäre des freien Austauschs<br />

und des gegenseitigen Verständnisses geschaffen haben. Diese Atmosphäre habe wesentlich<br />

dazu beigetragen, dass die Dokumente mit grossen Mehrheiten verabschiedet wurden. Je<strong>der</strong><br />

synodale Prozess steht und fällt mit dem Recht und dem Gebrauch <strong>der</strong> freien Rede, damit Konflikte<br />

in gegenseitiger Achtung und Transparenz ausgetragen werden können. Einige Prinzipien,<br />

die Sabine Demel in ihrem Buch festhält, können Sie im ‚aufbruch‘ nachlesen, <strong>der</strong> heute zum<br />

25-jährigen Jubiläum <strong>der</strong> Zeitschrift aufgelegt ist.<br />

Ein klares Bekenntnis zur Autorität <strong>der</strong> Freiheit legen auch die Pfarrer- und die Pfarrei-Initiative<br />

ab. Ich möchte nicht wie<strong>der</strong>holen, was Hans Küng gesagt hat. Aber ich glaube, nachdem wir<br />

letztes Jahre den Vordenker <strong>der</strong> Pfarrer-Initiative ausgezeichnet haben – schön, dass du auch<br />

heute unter uns bist, Helmut Schüller –, es ist hier und heute <strong>der</strong> Ort, die vier Hauptverantwortlichen<br />

<strong>der</strong> Schweizer Pfarrei-Initiative beim Namen zu nennen (wer anwesend ist, möge sich bitte<br />

kurz erheben):<br />

Gemeindeleiter und Diakon Markus Heil-Zürcher von Sursee/LU,<br />

Gemeindeleiterin Monika Schmid von Effretikon/ZH,<br />

Pfarrer Georg Schmucki von Nie<strong>der</strong>uzwil/SG sowie<br />

Gemeindeleiter und Diakon Hans-Peter Vonarburg von Emmenbrücke/LU.<br />

Ich wünsche euch und allen treuen Mitkämpferinnen und Mitkämpfern, dass eure Dialoge mit<br />

den Bischöfen gelingen, und dass die Pfarreien euren Mut zur Freiheit sich zu Eigen machen.<br />

Es gibt freilich – ich habe es zu Beginn erwähnt – noch immer jenen an<strong>der</strong>en, konventionell-abschätzigen<br />

Blick auf die Freiheit. Dostojewski legt diese Auffassung – nicht umsonst – dem<br />

Grossinquisitor in den Mund und lässt ihn dem stummen Jesus ins Angesicht sagen:<br />

„Es gibt für den Menschen, wenn er frei bleibt, keine hartnäckigere und qualvollere Sorge<br />

als jemanden zu finden, dem er möglichst bald jenes Geschenk <strong>der</strong> Freiheit übergeben<br />

könnte, mit dem er, dieses unglückselige Geschöpf, auf die Welt kommt.“<br />

Wir haben in <strong>der</strong> Südostschweiz eine Kirchenleitung, die sich ganz im Geiste des Grossinquisitors<br />

und mit viel destruktiver Energie auf die Suche nach diesen unglückseligen Geschöpfen<br />

begibt, und die darum auch den Pfarrei-Initiantinnen und Initianten Steine in den Weg legt. Ihr<br />

könnt, liebe Kolleginnen und Kollegen, darauf zählen, dass wir von <strong>der</strong> <strong>Stiftung</strong> für die Freiheit<br />

in <strong>der</strong> Kirche auch in Zukunft die Autorität <strong>der</strong> Freiheit zur Geltung bringen werden, damit eure<br />

Initiative nicht abgewürgt werden kann. Lei<strong>der</strong> gibt es ja nicht nur in Rom eine Kurie, die ausgemistet<br />

werden muss.<br />

Damit ist ein erstes Leitmotiv genannt, das für unsere <strong>Stiftung</strong> weiterhin bestimmend sein wird:<br />

Personen und Projekte, Institutionen und Bewegungen unterstützen und herausstellen, welche<br />

Freiheit in <strong>der</strong> Kirche leben und zu christlicher Zivilcourage ermutigen.<br />

Ein zweites Leitmotiv war schon bisher da, gewinnt aber zunehmend an Bedeutung: die internationale<br />

Vernetzung <strong>der</strong> Reform-orientierten Bewegungen. Es ist gewiss richtig, dass von Land<br />

zu Land je nach den Herausfor<strong>der</strong>ungen unterschiedliche Initiativen angepackt werden. Doch in<br />

zentralen Fragen sollten alle am gleichen Strick ziehen. Dazu muss man sich treffen, um die<br />

Kräfte zu bündeln und nicht gegeneinan<strong>der</strong> ausgespielt zu werden. Auch auf diesem Feld werden<br />

wir weiterhin Unterstützung leisten. Unsere <strong>Stiftung</strong> war seit je international ausgerichtet.<br />

Ich hoffe darum, dass bald auch im <strong>Stiftung</strong>srat neben Deutschland und <strong>der</strong> Schweiz auch Österreich<br />

vertreten sein wird.<br />

Ein drittes Leitmotiv betrifft jene Generation, auf die es bald einmal ankommen wird und die<br />

auch hier nur spärlich vertreten ist: die Jugend. Hans Küng hat letztes Jahr eine Initiative dazu<br />

ergriffen, die wir ausgearbeitet und kürzlich publiziert haben. Wir möchten auch hier die Autori-<br />

6<br />

Karl Barth: Predigten 1954-1967. (KGA 12) Zürich 1979, S. 265.


tät <strong>der</strong> Freiheit, die aus Fragen spricht, kennen lernen: Was denken junge Menschen über eine<br />

zukunftsfähige Kirche, jenseits fester Muster und erstarrter Dogmen? Wir möchten Impulse<br />

sammeln für eine Kirche, die junge Menschen anspricht, die etwas mit ihrer Lebenswelt zu tun<br />

hat und darum attraktiv ist.<br />

Wir sprechen zwei Zielgruppen an: erstens Studierende <strong>der</strong> Theologie und an<strong>der</strong>er Disziplinen<br />

und zweitens Firmgruppen, Ministrantinnen und Ministranten sowie an<strong>der</strong>e kirchliche Jugendgruppen.<br />

Die originellsten Ideen werden wir mit Preisen auszeichnen und öffentlich bekannt machen.<br />

Wir sind Ihnen, meine Damen und Herren, dankbar, wenn sie junge Menschen, die Sie<br />

kennen, auf diese Initiative hinweisen – auf unserer Homepage.<br />

Wir haben die Ausschreibung unter die Devise gestellt: „Yes we can change our church”. Abt<br />

Martin Werlen von Einsiedeln hat die gleiche Überzeugung kürzlich auf seine Weise formuliert:<br />

„Wenn wir sagen, das Wichtigste im Gottesdienst ist die Wandlung, aber in <strong>der</strong> Kirche<br />

selbst darf sich nichts wandeln, dann sind wir nicht mehr katholisch.“<br />

Ich möchte schliessen mit einem ermutigenden Zeichen, das unsere Preisträgerinnen aus den<br />

USA gesetzt haben. In den Annalen des LCWR kann man lesen, dass die Nonnen auf ihrer ersten<br />

nationalen Konferenz von 1964 sich über die Vorgänge am Zweiten Vatikanischen Konzil<br />

orientierten und zur Überzeugung gelangten, dass da doch auch Frauen hingehörten. So fassten<br />

sie den Beschluss, dass ihre damalige Präsidentin Schwester Mary Luke Tobin zur dritten<br />

Session des Konzils ziehen solle. Und auch wenn sie erwartungsgemäss keine Konzilsmutter<br />

wurde, war <strong>der</strong> Vatikan doch beweglich genug, dass er Sister Mary – noch während sie im Flugzeug<br />

sass – einlud, im Rahmen einer Gruppe von offiziellen Frauenbeobachterinnen am Konzil<br />

teilzunehmen. Mich berührt solcher Freimut. Lassen wir uns davon anstecken.<br />

Meine Damen und Herren, wenn Sie ihre Freundinnen und Freunde hinweisen möchten auf<br />

weitere Möglichkeiten, wo sie unseren Preisträgerinnen begegnen können, finden Sie Informationen<br />

dazu auf <strong>der</strong> Einladung und auf unserer Homepage. Schwester Pat Farrell wird unter<br />

dem Motto „Sie können ein paar Blumen zertreten, aber den Frühling aufhalten können sie<br />

nicht" am Montag, Dienstag und Mittwoch in Luzern, Basel und Zürich an öffentlichen Anlässen<br />

präsent sein. Ihre Nachfolgerin Schwester Florence Deacon wird in einer Woche unter dem Titel<br />

„Franziskus, erneuere unsere Kirche!“ in Innsbruck, München, Frankfurt am Main und später<br />

noch in Dublin auftreten. Ich danke „Wir sind Kirche“ für die Organisation und den Schwestern<br />

Pat Farrell und Florence Deacon für die Bereitschaft, den Menschen in Europa mit ihren Visionen<br />

nahe zu sein.<br />

Ich schliesse mit einem Lieblingswort aus ‚Gaudium et spes‘ Nr. 31:<br />

„Mit Recht dürfen wir annehmen, dass das künftige Schicksal <strong>der</strong> Menschheit in den Händen<br />

jener ruht, die es verstehen, den Generationen von morgen Gründe zu geben, um zu<br />

leben und zu hoffen.“<br />

Ich danke Ihnen.<br />

Weitere Informationen und Kontakte:<br />

www.herberthaag-stiftung.ch

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