Ein Plan mit der Wucht eines Panzerkreuzers - Stadtkino Wien
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Das Kommunale Kino <strong>Wien</strong>s, Schwarzenbergplatz 7-8, 1030 <strong>Wien</strong> September 08 | #455<br />
Alexan<strong>der</strong> Kluge Nachrichten aus <strong>der</strong> ideologischen Antike, ab 10. Oktober 2008<br />
Christoph Schlingensief Menu Total, ab 26. September 2008<br />
<strong>Ein</strong> <strong>Plan</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wucht</strong><br />
<strong>eines</strong> <strong>Panzerkreuzers</strong><br />
„Nachrichten aus <strong>der</strong> ideologischen Antike“, ein utopisches Großprojekt als Ausgangspunkt<br />
für Möglichkeitsräume: 1929 wollte Sergej Eisenstein „Das Kapital“ verfilmen. ALEXANDER KLUGE<br />
1. Der <strong>Plan</strong><br />
Erschöpft saß er da. Wir schreiben den 12.10.1927. Am Tag zuvor<br />
hat er die Dreharbeiten für seinen Film OKTOBER abgeschlossen.<br />
Er sitzt auf 60 000 Metern Filmmaterial, d.h. er<br />
verfügt über 29 Stunden belichtetes Filmnegativ. Das muss er<br />
sortieren und zu einem Film kürzen. Die Anstrengung, einen<br />
Film zu drehen, ist geringfügig gegenüber <strong>der</strong> Strapaze, ihn zu<br />
montieren. Sergej Eisenstein steht also vor einem „Berg von<br />
Arbeit“. An diesem Abend beschließt er, DAS KAPITAL „nach<br />
dem Szenario von Karl Marx“ zu verfilmen. Mit Szenario<br />
meint er das legendäre Buch selbst.<br />
In den folgenden zwei Jahren verfolgte Eisenstein diesen<br />
<strong>Plan</strong>, den ihm keiner finanzieren wollte: Das Zentralko<strong>mit</strong>ee<br />
nicht, <strong>der</strong> Gaumont-Filmverleih in Paris und die Tycoons<br />
in Hollywood ebenfalls nicht. Am 30. November 1929<br />
sitzt er in Paris James Joyce gegenüber. Joyce, praktisch blind,<br />
spielt ihm auf dem Grammophon seine Lesung aus ULYSSES<br />
vor; selbst könnte er nicht mehr lesen. Eisenstein will entwe<strong>der</strong><br />
– parallel zum KAPITAL – den ULYSSES von Joyce verfilmen<br />
o<strong>der</strong> aber DAS KAPITAL nach <strong>der</strong> literarischen Methode des<br />
ULYSSES in Film umsetzen.<br />
Die Notizen zu diesen Plänen Eisensteins hat Naum Klejman,<br />
<strong>der</strong> Direktor des Filmmuseums in Moskau aus den fast<br />
25 000 Seiten von Eisensteins Nie<strong>der</strong>schriften zusammengestellt.<br />
Eisensteins Biografin Oksana Bulgakowa stellt diese Skizzen<br />
in den Kontext <strong>der</strong> gleichzeitig von Eisenstein verfolgten<br />
Projekte. Fritz Langs METROPOLIS hatte Eisenstein angeregt,<br />
den Film DAS GLASHAUS zu planen. <strong>Ein</strong>e Glasfabrik in den<br />
USA war bereits beauftragt, die Glasbauten für einen solchen<br />
„Wolkenkratzer aus Glas“ herzustellen: eine nach allen Seiten<br />
und nach oben und unten durchsichtige Welt, die Freiheit von<br />
<strong>der</strong> Perspektive und den Wänden. Der <strong>Plan</strong> war nicht weniger<br />
verrückt als <strong>der</strong>, das KAPITAL zu verfilmen. Rasch sah Eisenstein<br />
ein, dass es bei dem Film DAS KAPITAL nicht um eine<br />
Inhalt<br />
Kluges Fernsehen<br />
Christian Schulte über <strong>mit</strong>tlerweile legendäre Freiräume des<br />
deutschen Privatfernsehens. 5<br />
Verbrechen und Kino<br />
Dietrich Kuhlbrodt über Schlingensiefs kinematografischen<br />
Vatermord „Menu Total“ 6<br />
„Eigentlich bin ich Filmemacher“<br />
Christoph Schlingensief über erhitzte Laufbil<strong>der</strong>. im Gespräch<br />
<strong>mit</strong> Alexan<strong>der</strong> Kluge. 7
02 Kluge: „Nachrichten aus <strong>der</strong> ideologischen Antike“<br />
<strong>Stadtkino</strong>Zeitung<br />
Abendvorstellung gehen könnte. Eher um vier<br />
Abende wie bei Richard Wagner. Eisenstein,<br />
<strong>der</strong> Baumeister großer Projekte. Wie ein „Catilina<br />
<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne“.<br />
2.<br />
Es ist wenig verwun<strong>der</strong>lich, dass <strong>der</strong> Film nicht<br />
verwirklicht wurde. In <strong>der</strong> äußeren Handlung<br />
sollte <strong>der</strong> Film einen einzigen Tag zweier Menschen<br />
begleiten, von <strong>der</strong> Mittagszeit bis in die<br />
Nacht, ähnlich wie in ULYSSES <strong>der</strong> Lebenstag<br />
des Leopold Bloom (in <strong>der</strong> Nacht trifft<br />
er auf seine Frau) beschrieben wird, während<br />
Assoziationsketten und Subtexte die Menschheitsgeschichte<br />
seit Troja aufrufen. So wollte<br />
Eisenstein aus den Elementen des KAPITAL,<br />
die Ware am Anfang und die Klassenkämpfe<br />
am Ende, eine GESAMTMONTAGE entstehen<br />
lassen, in die sich die „Handlung <strong>der</strong> zwei<br />
verlorenen Menschen“ einfügt. O<strong>der</strong> aber die<br />
Elemente fügen sich in die Lücken des Berichts<br />
über das Leben <strong>der</strong> zwei Menschen ein.<br />
„Kinematografisch ist<br />
jener Film, dessen<br />
Sujet sich in<br />
zwei Wörtern<br />
wie<strong>der</strong>geben lässt.“<br />
<br />
Eisenstein in: Notate, a. a. O., S: 300<br />
Sollte man das Projekt im Atelier verfilmen?<br />
O<strong>der</strong> muss man es in den wirklichen Verhältnissen<br />
aufspüren, also dokumentieren? Dsiga<br />
Wertow und dessen Bru<strong>der</strong>, <strong>der</strong> Kameramann<br />
Michail Kaufman, wären eventuell für das Projekt,<br />
das KAPITAL zu verfilmen, geeigneter<br />
gewesen. Sie hätten ihre Kamera auf die wirklichen<br />
Verhältnisse des Jahres 1929 gerichtet.<br />
An diesen geht Eisenstein merkwürdigerweise<br />
fast ganz vorüber.<br />
3.<br />
Bei seinem Aufenthalt in Berlin hatte Eisenstein<br />
sich 1929 in Babelsberg eine „Requisite“ bestellt:<br />
„Rin<strong>der</strong>zunge in Silberpapier“. <strong>Ein</strong> Zeitungsartikel<br />
hatte ihn angeregt, <strong>der</strong> von dem<br />
Tod des ehemaligen Reichskanzlers, Fürst von<br />
Bülow, berichtete. Dieser Politiker, Chef <strong>der</strong><br />
deutschen Regierung von 1900 bis 1909, trug<br />
den Beinamen „Silberzunge“, weil er so glatt<br />
und ciceronianisch zu reden verstand. Eisenstein<br />
beabsichtigte, eine auf ihn bezogene Montage<br />
in das KAPITAL einzufügen. Zu einem zweiten<br />
Ereignis des Jahres 1929, dem Schwarzen<br />
Freitag im Oktober, nimmt Eisenstein in seinen<br />
Notaten keinen Bezug. Er reist in diesen Tagen<br />
nach Paris, sucht Filmverträge abzuschließen<br />
<strong>mit</strong> dem Verleih Gaumont.<br />
<strong>Ein</strong> Börsencrash ist im Jahr 1929 nichts Neues.<br />
Schon 1872 kommt es zu einem Zusammenbruch<br />
an einem Freitag an <strong>der</strong> Börse in <strong>Wien</strong>.<br />
Der österreichische Hochadel verliert seine Vermögen.<br />
Der Operettentext „Glücklich ist, wer<br />
vergisst, was doch nicht zu än<strong>der</strong>n ist!“ in <strong>der</strong><br />
FLEDERMAUS von Johann Strauß bezieht<br />
sich auf dieses historische Ereignis ebenso wie<br />
die Szene im Schuldturm im 3. Akt <strong>der</strong> Operette.<br />
Schon <strong>der</strong> Ausdruck Schuldturm zeigt die<br />
weite Entfernung dieser Erfahrung. Es geht um<br />
einen Bankcrash, <strong>der</strong> die Welt nicht ergriff. Das<br />
ist im Herbst 1929 grundlegend an<strong>der</strong>s. Hier ist<br />
zum ersten Mal eine den ganzen <strong>Plan</strong>eten erfassende<br />
Welle von Depression und Zusammenbruch<br />
zu beobachten, von New York am Donnerstag<br />
dem 25. Oktober ausgehend, am Freitag<br />
Europa erfassend und am folgenden Dienstag<br />
durch einen Vertrauensbruch von U.S.-Banken<br />
endgültig besiegelt. Die Krise reicht bis 1934,<br />
wird eigentlich erst durch die kumulierten<br />
Rüstungsanstrengungen in <strong>der</strong> Welt, die zum 2.<br />
Weltkrieg führen, unterbrochen.<br />
Am Ende s<strong>eines</strong> KAPITAL, im 23. Kapitel,<br />
beschreibt Marx die mo<strong>der</strong>ne Kolonialisationstheorie.<br />
Da<strong>mit</strong> meint er Erfahrungen in den<br />
USA, in Kanada und in Australien. Die Arbeitskraft,<br />
die aus Europa ausgewan<strong>der</strong>t ist, ordnet<br />
sich in diesen „Kolonien“ den Unternehmern<br />
nicht unter. Sie bewegt sich in den USA frei<br />
in Richtung Westen. Sie nimmt un<strong>mit</strong>telbar<br />
Boden in Besitz (und im Gold Rush die Naturschätze),<br />
sie ist dem Begriff <strong>der</strong> Ausbeutung<br />
entkommen. Erst 1929, und <strong>mit</strong> voller Wirkung<br />
in den Dreißiger Jahren, kommt das Kapital<br />
über die selbstbewussten Siedler: in Form <strong>der</strong><br />
Folgekosten, des kapitalistischen Zusammenbruchs.<br />
<strong>Ein</strong>en Moment ergreift den Kontinent<br />
die Depression. Die „Unterjochung unter die<br />
Folgekosten“ gibt es auch in Europa. Hier hatte<br />
die reelle Subsumtion unter das Kapital nie aufgehört.<br />
Es entsteht hier eine verblüffende und<br />
neuartige zusätzliche Unterwerfung <strong>der</strong> subjektiven<br />
Seite in den Menschen: was linke Energie<br />
war, marschiert politisch nach rechts. Diese bitteren<br />
Geschehnisse, die sich <strong>mit</strong> den Kategorien<br />
<strong>der</strong> besten Schüler von Karl Marx (Benjamin,<br />
Adorno, Horkheimer, Korsch, Brecht) entschlüsseln<br />
lassen, sind filmisch und literarisch<br />
nie beschrieben worden.<br />
Das Objektive wächst uns über den Kopf.<br />
4.<br />
Wir sehen den großartigen <strong>Plan</strong> Eisensteins,<br />
das KAPITAL zu verfilmen als eine Art „imaginären<br />
Steinbruch“. Man kann darin Bruchstücke<br />
finden, man kann aber auch herausfinden,<br />
dass darin überhaupt nichts zu finden ist.<br />
„Das Unverfilmte kritisiert das Verfilmte.“<br />
Es ist zu bemerken, wie ähnlich ein solcher<br />
respektvoller Umgang <strong>mit</strong> den Plänen <strong>eines</strong><br />
Meisters wie Eisenstein den Grabungen auf<br />
einer antiken Fundstelle ist. Man erfährt durch<br />
solches Graben mehr über sich selbst als man<br />
an Fundstücken findet. Es fällt auf, dass die besten<br />
Marx-Texte ähnlich unter Massen an historischem<br />
Geröll verbuddelt sind.<br />
Bei den Ausgrabungen findet man vor allem<br />
Werkzeuge. Die analytischen Gerätschaften und<br />
Maschinen, die <strong>der</strong> Theorie-Ingenieur Marx<br />
baute, sind von äußerster Seltenheit und erstaunlich<br />
anwendbar auf Situationen im Jahr<br />
2008. Noch verblüffen<strong>der</strong> sind die Vorschläge,<br />
die Sergej Eisenstein in seinen Notaten für die<br />
Zukunft des Filmemachens zusammenstellt, selber<br />
aber nie befolgt hat.<br />
Er schlägt vor, in den Filmen die lineare<br />
Handlung völlig aufzugeben. Es sei, sagt er, notwendig,<br />
Filme wie Kugeln (also wie Sterne und<br />
<strong>Plan</strong>eten, die sich in einem Raum frei bewegen<br />
und <strong>der</strong>en Gravitationen „kugelförmige Dramaturgien“<br />
enthalten) herzustellen. Außerdem<br />
Kugelbücher! Das wären in <strong>der</strong> Praxis gigantische<br />
Kommentarwerke, ähnlich dem Babylonischen<br />
Talmud.<br />
Man müsse, sagt Eisenstein weiter, die filmische<br />
Montage ersetzen, indem man Wirkungen<br />
nachahmt, die den Obertönen in <strong>der</strong><br />
Musik entsprechen. Bil<strong>der</strong>, die simultane Geschehnisse,<br />
Gleichzeitigkeiten im Kopf des Zuschauers<br />
anregen, d.h. auf die Vielfalt, die solche<br />
Menschenköpfe von sich aus hervorbringen,<br />
im Film antworten. Wie in <strong>der</strong> seriellen mo<strong>der</strong>nen<br />
Musik, z.B. in den Zwölfton-Kompositionen,<br />
befestigt Eisenstein die Autonomie des<br />
Zuschauers (gegenüber <strong>der</strong> Überredungswucht<br />
des Films) und die des Materials (gegenüber<br />
dessen Verarbeitung durch den Kunstverstand.<br />
<strong>Ein</strong>e neue Kunst ist im Entstehen, anstelle <strong>der</strong><br />
antiken Hochkunst. Sie ist nicht einfach, son<strong>der</strong>n<br />
komplex, denn Menschen, sagt Eisenstein,<br />
sind nicht einfach, son<strong>der</strong>n komplex.<br />
Warum, fragt Eisenstein, noch unter dem Leidensdruck,<br />
in welchem er aus 60 000 m ihm<br />
teuren Rohmaterials 2 000 m Gebrauchsfilm<br />
montieren musste, gibt es nicht die Vorführung<br />
<strong>der</strong> Rohmaterialien vor dem Publikum?<br />
Wahr ist, dass immer dann, wenn eine solche<br />
Vorführung versucht wurde, sie in <strong>der</strong> Filmgeschichte<br />
ein großer Publikumserfolg wurde.<br />
Aber wie selten geschah das! Wie viel interessanter<br />
als die Rhythmusvorlage Symphonie einer<br />
Großstadt von Walter Ruttmann wäre für uns,<br />
das unverschnittene, vollständige Originalmaterial<br />
zu sehen, ein Spiegel des Berlin von 1929.<br />
Das Kino, behauptet Eisenstein, wird missverstanden<br />
als Treibhaus <strong>der</strong> Erfahrung. Wir müssen<br />
zurück zur extensiven Landwirtschaft <strong>der</strong><br />
Erfahrung. Neugründung <strong>der</strong> Gesellschaft. Was<br />
heißt bei Marx „zweite Natur“, Humanisierung<br />
<strong>der</strong> Natur und Naturalisierung <strong>der</strong> Menschen?<br />
Es heißt, in un<strong>mit</strong>telbarem Kontakt <strong>mit</strong><br />
<strong>der</strong> schlechten Wirklichkeit, eine Reinschrift in<br />
Form einer zweiten Gesellschaft, einer dritten<br />
und vierten zu entwickeln, so wie ein mo<strong>der</strong>ner<br />
Mensch mehrfache Geburten hinter sich<br />
hat, nicht nur die eine.<br />
Die Achtung vor den intellektuellen Gerätschaften,<br />
die <strong>der</strong> Alchemist Marx in seinen Vorratshäusern<br />
gestapelt hat, und <strong>der</strong> Respekt für<br />
die grandiose Verrücktheit, aber auch den Elan<br />
von Sergej Eisenstein (man muss die Großen<br />
nicht bewun<strong>der</strong>n, aber achten) führt zu einer<br />
interessanten Beobachtung: es gibt eine Vielzahl<br />
von Werkzeugen, die Realität aufzuschließen<br />
vermögen. Umso verblüffen<strong>der</strong> ist es, dass sie auf<br />
Wirklichkeit nur relativ und selektiv angewendet<br />
werden. Immer wie<strong>der</strong> geht die Philosophie<br />
auf das Verhältnis von Mensch und Gegenstand<br />
ein, also den Tisch vor mir und das Bewusstsein<br />
in mir. Hier aber liegen nicht die bedrängenden<br />
Fragen. Es gehört genauso viel Zuwendung<br />
dazu, die dem spontanen Blick nicht sofort<br />
offenen Wirklichkeiten vor uns (und zwar in<br />
einer Öffentlichkeit, nicht vor dem <strong>Ein</strong>zelnen<br />
allein) zu versammeln, wie an Zuwendung nötig<br />
ist, sie <strong>mit</strong> längst vorhandenem Geistesgerät<br />
zu beantworten.<br />
Wir leben in einer Inflationierung <strong>der</strong> wirklichen<br />
Verhältnisse. Das Objektive wächst uns<br />
über den Kopf, aber wir haben auch Grund,<br />
uns vor den Massen an Subjektivem, das dem<br />
Bewusstsein entkommen ist, zu fürchten. Mit<br />
<strong>der</strong> Methode und dem Anspruch von Marx ist<br />
es gefährlich, sich dieser Wirklichkeit von 2008<br />
auszusetzen: man wird mutlos. Man braucht<br />
„Nachrichten aus <strong>der</strong> ideologischen Antike“: Was ist zu sehen?<br />
Seinen Entschluss aus dem Jahr 1927, spätestens 1929 das KAPITAL von Marx zu verfilmen,<br />
hat <strong>der</strong> russische Regisseur Sergej Eisenstein (Panzerkreuzer Potemkin, Oktober) nicht<br />
durchgeführt. Die Verlegerin des Suhrkamp Verlages, Ulla Unseld-Berkéwicz gab während<br />
<strong>der</strong> Buchmesse 2007, bei einem Empfang im Garten ihres Hauses, die Losung aus, dass das Projekt<br />
Eisensteins in einer neuen Suhrkamp-DVD-Edition einen Gedenkstein erhalten soll. Schließlich<br />
seien im Suhrkamp Verlag genügend Autoren präsent, die sich <strong>mit</strong> Marx ernsthaft beschäftigt hätten,<br />
z. B. Theodor Adorno, Walter Benjamin, Bert Brecht, Peter Weiß, Dietmar Dath, Peter Sloterdijk,<br />
H. M. Enzensberger. Jürgen Habermas, Durs Grünbein – jeweils in größerer Nähe o<strong>der</strong> Ferne zu<br />
dem antiken Autor Marx.<br />
Die „Nachrichten aus <strong>der</strong> ideologischen Antike“, die ab 10. Oktober im <strong>Stadtkino</strong> <strong>Wien</strong> erstmals öffentlich<br />
präsentiert werden, konzentrieren sich auf 3 DVDs:<br />
1. Eisenstein und Marx im gleichen Haus (eine Annäherung an das, was Eisenstein plante und<br />
an den Ton von Marx‘ Texten als Echos aus ferner Zeit);<br />
2. Alle Dinge sind verzauberte Menschen (über den sog. Waren-Fetisch und das Echo vergangener<br />
Revolutionen);<br />
3. Paradoxe <strong>der</strong> Tauschgesellschaft (über die allseitige Präsenz des Tauschs und die Chance<br />
multimedial darauf zu antworten).<br />
Wieso „ideologische Antike“? Jede Gegenwart (weil sie praktisch ist) braucht eine Theorie. Geeignet<br />
sind dafür Flächen, die außerhalb des gegenwärtigen Geschehens liegen.<br />
An den Küsten Europas gab es Strandräuber. Sie rückten die Leuchtfeuer, an denen sich die<br />
Schiffe orientierten, so um, dass die Schiffe scheiterten. So konnte man die Fracht an sich bringen.<br />
Besser für die Seefahrt ist die Navigation nach den Sternen. Sie sind unverrückbar. Es gehört zur<br />
Antike, dass die Helden (z. B. Herkules) an den Sternenhimmel versetzt werden.<br />
In <strong>der</strong> gegenwärtigen Praxis des Films und <strong>der</strong> Wissenschaft ist mir keine <strong>mit</strong> dem Projekt Eisensteins<br />
o<strong>der</strong> <strong>mit</strong> dem Werk von Karl Marx vergleichbare Anstrengung bekannt. Es ist deshalb ein<br />
Vorzug, dass Eisenstein, das Jahr 1929, in dem er vermutlich seine Dreharbeiten durchgeführt hätte,<br />
ebenso wie das Werk von Marx (und die Beispiele, die dieser vor sich sah, wenn er schrieb) für uns<br />
so fern sind wie eine Antike. Sie rücken nicht zu unserem Sumpfgelände hin, son<strong>der</strong>n hin zu Aristoteles,<br />
Ovid und an<strong>der</strong>em sicheren Boden, über den die Menschheit verfügt.<br />
Der PROZESS DER AUFKLÄRUNG, von dem Immanuel Kant spricht (und dem Marx <strong>mit</strong><br />
großer Ungeduld anhing) zeigt eine eigenwillige Oszillation: Seit 300 Jahren existieren Durchbruchsversuche<br />
zu einem „Zustand <strong>der</strong> Aufklärung“. Zugleich hat es den Anschein, dass es bei dem<br />
Satz „räsoniert aber gehorcht“, wie es Immanuel Kant in seiner Schrift „Was heißt Aufklärung?“<br />
formuliert, bleibt. Im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t entsprach das <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung des preußischen Königs. Heute<br />
stehen die Realverhältnisse dort, wo früher <strong>der</strong> König befahl. Sie sagen: Räsoniert aber gehorcht.<br />
Im Gegensatz zur „Ideologischen Antike“ genügt es heute nicht, die elfte Feuerbach-These zu<br />
wie<strong>der</strong>holen: „Die Philosophen haben die Wirklichkeit nur interpretiert, es kommt darauf an, sie<br />
zu verän<strong>der</strong>n.“ Der Beobachtung entspricht eine vertrackte neue Situation: Es gibt nicht nur eine<br />
Wirklichkeit, son<strong>der</strong>n viele, die meisten davon antagonistisch. Dies eröffnet Zwänge und Auswege.<br />
Keine dieser Wirklichkeiten (nicht einmal solche des second life) lassen sich aber in <strong>der</strong> Organisationsweise<br />
wirklicher Menschen auf dem <strong>Plan</strong>eten willkürlich verän<strong>der</strong>n. Die inflationierten Wirklichkeiten<br />
haben jede für sich Arroganz und Befehlsgewalt.<br />
In dieser Lage ist es in keiner Weise gleichgültig, dass räsoniert werden kann. Der Prozess <strong>der</strong><br />
Aufklärung bleibt zwar zunächst nur in <strong>der</strong> Ausgangsstellung. Aber sie lässt sich auch nirgends ausschließen<br />
o<strong>der</strong> einkesseln. Es gibt sozusagen Gärten <strong>der</strong> Freiheit. Für sie sind die Pflanzungen an<br />
Gedanken, die Marx angelegt hat, schöne Beispiele <strong>der</strong> Evolution. <br />
A.K.
<strong>Stadtkino</strong>Zeitung Kluge: „Nachrichten aus <strong>der</strong> ideologischen Antike“<br />
03<br />
einen Schuss Leichtsinn, um da<strong>mit</strong> umzugehen.<br />
Man muss Till Eulenspiegel einmal über<br />
Marx (und auch Eisenstein) hinweg ziehen<br />
lassen, um eine Verwirrung zu erhalten, <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />
sich Erkenntnisse hin und her tragen lassen.<br />
5. Textproben aus den Notaten<br />
12.X.[1927]<br />
Der Entschluss steht fest, das <br />
nach dem Szenarium von K. Marx zu verfilmen<br />
– dies ist <strong>der</strong> einzig mögliche formale Ausweg.<br />
(Mit Bleistift geschriebener Zettel, <strong>der</strong> in das<br />
Heft eingeklebt ist [Anm. des Hrsg.] [...]<br />
13.X.27<br />
[...]Hier stößt man schon auf völlig neue<br />
Filmperspektiven und auf das aufgehende<br />
Licht jener Möglichkeiten, die ihre Vollendung<br />
in meiner neuen Arbeit finden werden<br />
– im nach dem Libretto von<br />
Karl Marx. [In einem Filmtraktat.]<br />
4.XI. [1927], abends<br />
In Amerika sind sogar die Friedhöfe privat.<br />
Hun<strong>der</strong>tprozentige Konkurrenz. Bestechung<br />
<strong>der</strong> Ärzte etc. Die Sterbenden erhalten Prospekte:<br />
„Nur bei uns werden Sie ewige Ruhe<br />
im Schatten <strong>der</strong> Bäume und beim Plätschern<br />
<strong>der</strong> Bächlein finden“ (fürs K[apital])<br />
23.XI.27 [...]<br />
Das Prinzip <strong>der</strong> De-Anekdotisierung ist offensichtlich<br />
(zweifelfrei) für „Oktober“ grundlegend.<br />
Die Arbeitstheorie <strong>der</strong> „Obertöne“<br />
kann wahrscheinlich sogar in diesem einen<br />
Leitsatz zusammengezogen werden. Bei einer<br />
Darstellung <strong>der</strong> „Oktober-Prinzipien“ ist es in<br />
didaktischer Hinsicht nützlich und notwendig,<br />
zur Entwicklung des Prinzips auch diese Etappe<br />
abtastend darzulegen. Denn seinem Wesen<br />
nach bleibt „Oktober“ noch das Muster einer<br />
zweischichtigen (dvuplanovyj) Darstellungsart:<br />
Die De-Anekdotisierung jedoch ist ihrem Wesen<br />
nach ein Stückchen vom „morgigen Tag“,<br />
d. h. die Voraussetzung unserer nächsten Sache:<br />
des .<br />
2.I.28<br />
Fürs . Die Börse darf nicht durch<br />
eine „Böse“ wie<strong>der</strong>gegeben werden ([wie in]<br />
„Mabuse“ [o<strong>der</strong>] „St. Petersburg“), son<strong>der</strong>n<br />
durch Tausende von kleinen Details. Durch<br />
Genreismus. Vgl. hierzu Zola („L´argent“).<br />
Curé – <strong>der</strong> Generalmakler <strong>eines</strong> ganzen Rayons.<br />
Die Concierge als Anleihenhalterin. Druck<br />
solcher Concierges in Fragen <strong>der</strong> Schuldenanerkennung<br />
durch Sow[jet]rußland. [...]<br />
4.IV.28<br />
[...]Im Zusammenhang <strong>mit</strong> „Kapital ist eine<br />
Abteilung für „Reizerreger“ einzurichten,<br />
d. h. eine Abteilung für zielgerichtete Materialien.<br />
So wie etwa dieser Blejman-Ausschnitt<br />
zielgerichtete Elemente für eine Pathetik des<br />
„Kapitels“ angibt (sagen wir für das letzte<br />
„Kapitel“ – für die dialektische Methode in<br />
<strong>der</strong> Klassenkampf-Praxis) [...]<br />
[...] die Sprache des Films hat die Eigenheit,<br />
für das „<strong>Ein</strong>spielen“ <strong>eines</strong> seiner Zeitdauer<br />
nach unbedeutenden Faktums eine erheblich<br />
größere Anzahl gestalterischer Mittel zu benötigen,<br />
als dies in allen an<strong>der</strong>en Kunstarten <strong>der</strong><br />
Fall ist. Das was man in <strong>der</strong> Literatur <strong>mit</strong> wenigen<br />
Wörtern erfassen kann, wird auf <strong>der</strong> Leinwand<br />
<strong>mit</strong> Hilfe einer ganzen Reihe von Szenen<br />
wie<strong>der</strong>gegeben, ja zuweilen sogar durch<br />
Episoden, die einen großen Raum innerhalb<br />
des Films einnehmen. [...]<br />
[...] denn wenn wir weitergehen, so kommen<br />
wir dahinter, dass das gesamte „Kapitel“ – ohne<br />
den Düften Ägyptens nachzujagen – im Studio<br />
„aufgebaut“ werden kann. [...]<br />
7.IV. [1928], 00.45 h<br />
In <strong>der</strong> Straßenbahn „A“ vom Strastnof [bulvar]<br />
nach Petroviskie vorota (möglicherweise<br />
auch von Nikitskie – ich erinnere mich<br />
nicht mehr genau...) legte mir Grisa heute<br />
die Mechanik <strong>der</strong> „Kapital“-Sache anhand<br />
banaler <strong>Ein</strong>fälle zur ringförmigen Kostruktionsweise<br />
<strong>der</strong> Sherezahada, Tutti Namehs<br />
(Papageienbuch), <strong>der</strong> Hauff-Märchen etc. als<br />
vorläufiges Arbeitsdrehbuch dar. Wir kamen<br />
von <strong>der</strong> Sub, wo wir zu Pascha und Kulitsch<br />
Schokolade tranken[...]<br />
Im Ablauf des gesamten Filmes kocht eine<br />
Frau für ihren heimkehrenden Mann Suppe.<br />
Es sind zwei sich überschneidende assoziative<br />
Themen möglich: die kochende Frau und <strong>der</strong><br />
heimkehrende Ehemann. [... ]Die Assoziation<br />
des dritten Teils (zum Beispiel kommt aus<br />
dem Pfeffer, <strong>mit</strong> dem sie würzt: Pfeffer, Cayenne.<br />
Teuflich scharf: Dreyfus. Französischer<br />
Chauvinismus. [...] Krieg. Im Hafen versenkte<br />
Schiffe [...]<br />
[...] die versinkenden englischen Schiffe konnte<br />
man gut <strong>mit</strong> dem Deckel des Kochtopfes<br />
zudecken [...]<br />
7.IV.[1928], 1.30 h<br />
<strong>Ein</strong> Kapitel ist für das materialistische Verständnis<br />
von „Seele“ nötig. [...]<br />
6. Was heißt radikale Erneuerung des<br />
Films?<br />
Eisensteins frühe Filme folgten dem klassischen<br />
Agitationsprinzip. Schrift und emotionale, auf<br />
Typik gerichtete Bil<strong>der</strong>, ergeben „emotionale<br />
Konvolute“. Die Montage davon dient weniger<br />
<strong>der</strong> Beobachtung, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> gedanklichen<br />
und dramaturgischen Steigerung.<br />
Diese Methode und zugleich sämtliche an<strong>der</strong>en<br />
Methoden, die <strong>der</strong> traditionellen Melodramen<br />
(also <strong>der</strong> Filmkunst, <strong>der</strong> Eisenstein<br />
selbst nicht folgt), will Eisenstein bei seinem<br />
KAPITAL-Projekt hinter sich lassen!<br />
Keine lineare Erzählung!<br />
„Der ,antike’ Film<br />
drehte eine Handlung<br />
aus mehreren<br />
Gesichtspunkten.<br />
Der neue Film montiert<br />
einen Gesichtspunkt<br />
aus mehreren<br />
Handlungen.“<br />
7. Was sind überhaupt Bil<strong>der</strong>?<br />
Sind z. B. Schriften Bil<strong>der</strong>? Wenn etwas<br />
mündlich erzählt wird, welche Bil<strong>der</strong> entstehen<br />
im Zuhörer? Der Film entsteht im Kopf<br />
des Zuschauers. Und zwar in einem vollbe-<br />
setzten, auf einan<strong>der</strong> reagierenden Kinosaal:<br />
einer Filmöffentlichkeit. ÖFFENTLICH-<br />
KEIT und AUTONOMIE DER BILDER<br />
(sie gehören den Menschen selber) sind das,<br />
wo<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Filmemacher umgeht.<br />
Es ist deshalb falsch, wenn das Bild auf <strong>der</strong><br />
Leinwand dem Zuschauer die eigenen Bil<strong>der</strong><br />
wegnimmt. Assoziation, Fragmentierung,<br />
Lücken sind angesagt, die eine Wechselwirkung<br />
zwischen Zuschauer und Leinwand<br />
ermöglichen. Insofern enthalten gerade die<br />
Schriften, wie sie für die Stummfilme typisch<br />
sind, starke „Bild“anreize. Umgekehrt gibt es<br />
Bil<strong>der</strong>, die <strong>der</strong> Zuschauer wie Texte „verstehen“<br />
und quasi nachlesen kann.<br />
1929 haben wir die Bruchstelle zwischen<br />
Stummfilm und Tonfilm. Der Ton würde<br />
nach Eisensteins Vorstellung dann eine weitere<br />
Dimension hinzufügen, wenn er autonom,<br />
das heißt polyphon <strong>mit</strong> Schrift und<br />
Bild korrespondiert. Auch die Töne sind Bil<strong>der</strong>.<br />
Dies alles entspricht Eisensteins Theorie<br />
des „dritten Bildes“, <strong>der</strong> EPIPHANIE. Man<br />
sieht Kontraste, zum Beispiel zwei gegensätzliche<br />
Bil<strong>der</strong> und dabei entsteht im Kopf<br />
spontan ein drittes (unsichtbares) Bild.<br />
Was sind überhaupt Bil<strong>der</strong>? In dem berühmten<br />
Schematismus-Kapitel in <strong>der</strong><br />
„Kritik <strong>der</strong> reinen Vernunft“ wun<strong>der</strong>t sich<br />
Immanuel Kant, dass alle Menschen einen<br />
Begriff vom Hund haben (er nennt das den<br />
„transzendentalen Hund“) obwohl es doch<br />
für die verschiedenen Hun<strong>der</strong>assen (vom<br />
Pekinesen bis zum Bernhardiner) kein gemeinsames<br />
Bild gibt.<br />
<strong>Ein</strong> Ver<strong>mit</strong>tlungsversuch zwischen Begriff<br />
und Anschauung sind die idealtypischen Bil<strong>der</strong>.<br />
Sie funktionieren wie Sammelbecken,<br />
Hinweisschil<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Zäune. In ihnen ist<br />
jeweils eine Fülle von Bil<strong>der</strong>n sortiert, aber<br />
kein einzelnes ist bestimmt. So sind Bil<strong>der</strong><br />
wie „Arbeiter“, „Unternehmer“ o<strong>der</strong><br />
„Am Fuß des Berges“ (es ist kein Fuß und<br />
es zeigt auch nicht: „Wo genau am Berg“),<br />
„Wurzel des Lebens“, Ausdrücke von großer<br />
Reichweite, aber ohne konkretes Bild. Diese<br />
die Bil<strong>der</strong> sortierenden, typisierenden Ausdrucksformen<br />
gibt es auch im Filmbild.<br />
Radikal entgegengesetzt dazu sind konkrete<br />
Bil<strong>der</strong>, das heißt Momentaufnahmen.<br />
Bil<strong>der</strong>, die ganz in sich ruhen. Bil<strong>der</strong> ohne<br />
Sinnzwang. Oft sind dies „ungesehene Bil<strong>der</strong>“.<br />
Die Kamera ist ein Instrument, wie<br />
Walter Benjamin sagt, für das „optisch Unbewusste“.<br />
Das menschliche Auge, das ständig<br />
adaptiert und auf die <strong>Ein</strong>flüsterungen<br />
und Vorverständnisse des Hirns wartet, hat<br />
die meisten un<strong>mit</strong>telbaren <strong>Ein</strong>drücke nie ge-<br />
Alexan<strong>der</strong> Kluge<br />
Nachrichten aus <strong>der</strong><br />
ideologischen Antike<br />
Deutschland 2008<br />
Bil<strong>der</strong> ohne Sinnzwang.<br />
sehen. Sie werden sichtbar, wenn die Kamera<br />
sie aufdeckt. Das gehört zu den Erfindungen<br />
des Films.<br />
Solche „Monaden“, (sie enthalten das<br />
Ganze und sind doch blind) wollte Eisenstein<br />
seriell zusammenstellen. So wie es <strong>mit</strong> Tönen<br />
die serielle Musik getan hat. Voneinan<strong>der</strong> differente<br />
Bil<strong>der</strong> plus die Lücke, die durch das<br />
Nebeneinan<strong>der</strong>stehen von Unvereinbarem,<br />
Autonomem entstehen, ergeben einen neuen<br />
Zusammenhang. Und so arbeiten, nach<br />
Eisenstein und Vertov, die tatsächlichen Sinneskräfte<br />
<strong>der</strong> Menschen. <br />
<br />
Das Team von Alexan<strong>der</strong> Kluge:<br />
Ich danke Galina Antoschewskaja, Oksana<br />
Bulgakowa, Jan Czaikowski, Dietmar Dath,<br />
H.-M. Enzensberger, Agnes Ganseforth, Boris<br />
Groys, Durs Grünbein, Ute Hannig, Hannelore<br />
Hoger, Günter Hörmann, Rudolf Kersting,<br />
Heather McDonnell, Sophie Kluge, Charlotte<br />
Müller, Oskar Negt, Thomas Niehans, Gabriel<br />
Raath, Irmela Roelcke, Sophie Rois, Helge<br />
Schnei<strong>der</strong>, Werner Schröter, Peter Sloterdijk,<br />
Rainer Stollmann, Andreas Tobias, Tom<br />
Tykwer, Joseph Vogl für die Kooperation.<br />
Kamera und Lettering Michael Christ, Erich<br />
Harandt, Werner Lüring, Claudia Marcell,<br />
Heribert Kansy, Thomas Mauch, Thomas<br />
Willke, Walter Lennertz<br />
Postproduction, Schrift und Schnitt Kajetan<br />
Forstner, Andreas Kern<br />
Mitarbeit Roland Forstner, Michael Kurz, Toni<br />
Werner, Erich Harandt, Michel Gaißmayer,<br />
Claudia Toursarkissian, Beata Wiggen,<br />
Alexan<strong>der</strong> Weil<br />
Das Team von Tom Tykwer:<br />
Kamera Frank Griebe<br />
Kamerassistenz Christian Almesberger<br />
Spezialeffekte / Bildbearbeitung Viktor Müller<br />
Ton Frank Kruse<br />
Musik Tykwer / Klimek / Heil<br />
Produktionskoordination Svenja Rieck<br />
Eilige Frau Marie Steinmann<br />
Recherche Zita Gottschling / Svenja Rieck<br />
10. – 16. Oktober 2008, <strong>Stadtkino</strong><br />
Beginnzeiten auf Seite 4
04 Kluge: „Nachrichten aus <strong>der</strong> ideologischen Antike“<br />
<strong>Stadtkino</strong>Zeitung<br />
Kluge im <strong>Stadtkino</strong>:<br />
Die Programme<br />
programm 1 Eisenstein und Marx im gleichen Haus<br />
Was wollte Eisenstein verfilmen? Es geht um seine Notate zur „Kinofizierung“ des KAPITAL von<br />
Marx. Wie hören sich im Jahre 2008 Texte an, die Karl Marx vor 136 Jahren schrieb? Es geht um eine<br />
Annäherung über das Ohr. Wo liegt die Grenze zwischen Antike und Mo<strong>der</strong>ne, wenn es um Ideologie<br />
geht? Liegt sie schon 1929 o<strong>der</strong> 1872 o<strong>der</strong> wo? Wie würde das Geld, könnte es sprechen, sich erklären?<br />
Kann das Kapital „Ich“ sagen? Dietmar Dath über den Kerninhalt des berühmten Buches von Marx.<br />
Sophie Rois über Geld, Liebe und Medea. Schließlich: Tristan in den Kostümen <strong>der</strong> Matrosen in „Panzerkreuzer<br />
Potemkin“ (von Werner Schroeter).<br />
1. Aus Eisensteins Arbeitsheften. Mit Heather McDonnell, (Piano), Irmela Roelcke (Piano),<br />
Hannelore Hoger (Sprecherin), Charlotte Müller, Thomas Niehans (Berliner <strong>Ein</strong>semble).<br />
2. Projekte 1927 – 1929 Mit Eisenstein-Biografin Oksana Bulgakowa.<br />
3. Drei Texte aus dem KAPITAL und den GRUNDRISSEN.<br />
4. Soll / Ist. Fließband <strong>mit</strong> noch vielen Lebenden.<br />
5. Landschaft <strong>mit</strong> klassischer Schwerindustrie. Musik: Multiple Personality Disor<strong>der</strong>.<br />
Norm Plastic. The Revenger.<br />
6. Das Buch <strong>der</strong> menschlichen Wesenskräfte. Musik: Rigoletto von Verdi <strong>mit</strong> Sir Henry.<br />
7. „<strong>Ein</strong> Mensch ist des an<strong>der</strong>en Spiegel“. Mit Sophie Rois.<br />
8. Das Lamento <strong>der</strong> liegen gebliebenen Ware. Musik: Ennio Morricone,Wolfgang Rihm,<br />
Monteverdi.<br />
9. Von den Menschen verlassene Maschinen. Musik: Ennio Morricone.<br />
10. Wir <strong>Ein</strong>wohner des Kosmos. Musik: Sozialistisches Patientenkollektiv.<br />
11. „Zauber <strong>der</strong> Antike“. Mit Sophie Rois. Musik: Jan Czaikowski. Norma von Bellini.<br />
12. „Flüssigmachen“.<br />
13. Zwei Stasi-Kundschafterinnen bereiten sich auf ihren <strong>Ein</strong>satz vor.<br />
14. Vorbereitung auf die Prüfung zum Unteroffizierslehrgang in <strong>der</strong> Volksarmee.<br />
15. Es waren ungemütliche Zeiten. H.M Enzensberger über sein Geburtsjahr 1929.<br />
16. Das Kapital wi<strong>der</strong>legt sich selbst. Schwarzer Freitag, 23. Oktober 1929.<br />
17. Die Großnichte von Lenins Dolmetscherin: „Die Bildung <strong>der</strong> fünf Sinne ist eine<br />
Arbeit <strong>der</strong> ganzen bisherigen Weltgeschichte“. Mit Galina Antoschewskaja.<br />
18. Gespräch <strong>mit</strong> Dietmar Dath: Kann das Kapital „Ich“ sagen?<br />
19. Liebe ist härter als Beton. Mit Sophie Rois.<br />
20. Die Wie<strong>der</strong>geburt des Tristan aus dem Geiste des <strong>Panzerkreuzers</strong> Potemkin.<br />
Mit Werner Schroeter.<br />
programm 2 Alle Dinge sind verzauberte Menschen<br />
Was nennt man den „Warenfetisch“? Welche Zaubereien – nach Marx und Eisenstein – bewirkt die<br />
sanfte und die stürmische Gewalt des KAPITALS? Warum sind Menschen nicht Herren <strong>der</strong> von ihnen<br />
geschaffenen Produktion? Was heißt „Verein freier Produzenten“? Scheitern Revolutionen aus Mangel an<br />
Zeit o<strong>der</strong> aus Prinzip? Was heißt: „Alle Dinge sind verzauberte Menschen“? Mit einem Film von Tom<br />
Tykwer über den Reichtum <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>zelheiten in einem Filmbild, sobald man sich für den Produktionsprozess<br />
<strong>der</strong> Dinge interessiert, die zu sehen sind.<br />
1. Der Mensch im Ding. Film von Tom Tykwer..<br />
2. Fackel <strong>der</strong> Freiheit.<br />
3. Alle Dinge sind verzauberte Menschen. Peter Sloterdijk über die Metamorphosen des<br />
Mehrwerts.<br />
4. O-Ton <strong>eines</strong> Arbeitskampfes, den es schon nicht mehr gibt.<br />
5. Song des Krans Milchsack Nr. 4.<br />
6. Was heißt fröhliches Scheitern in <strong>der</strong> Risikogesellschaft? Mit Oskar Negt.<br />
7. Kurze Geschichte <strong>der</strong> Bourgeoisie. Von H.M. Enzensberger.<br />
8. Revolutionen sind Lokomotiven <strong>der</strong> Geschichte. Oskar Negt und Alexan<strong>der</strong> Kluge.<br />
9. Die Vernunft ist eine Fackel. <strong>Ein</strong> Artikel von Condorcet aus <strong>der</strong> Enzyklopädie.<br />
10. Zeitbedarf <strong>der</strong> Revolution.<br />
11. Stichwort: Was ist ein Revolutionär? Mit Joseph Vogl.<br />
12. Abschied vom industriellen Zeitalter. Hätten die Arbeiter 1929 das KAPITAL kaufen<br />
können, eine Episode aus Anlass des Börsenkrachs von 1929.<br />
13. Abschied von <strong>der</strong> Revolution. Mit Peter Konwitschny, Martin Kusej, Martin Harneit.<br />
14.Text aus <strong>der</strong> <strong>Ein</strong>leitung zu den Grundrissen: Krieg früher als <strong>der</strong> Frieden.<br />
Extras progRAMM 2<br />
1. Manifeste <strong>der</strong> Unsterblichkeit. Boris Groys über biopolitische Utopien in Russland (vor<br />
und nach 1917).<br />
2. Rosa Luxemburg und <strong>der</strong> Reichskanzler.<br />
3. Ich glaube an Solidarität. Lucy Redler über politischen Streik und soziale Gegenwehr.<br />
Gespräch <strong>mit</strong> Lucy Redler.<br />
4. Königin Dampf, Kaiserin Elektrizität. Von Rudolf Kersting und Agnes Ganseforth.<br />
programm 3 Paradoxe <strong>der</strong> Tauschgesellschaft<br />
Wir leben in <strong>der</strong> ZWEITEN NATUR. Davon handelt Marx. Diese „gesellschaftliche Natur“ kennt wie<br />
die biologische, die Darwin erforschte, eine Evolution (und Marx wäre gern für Ökonomie und Gesellschaft<br />
Darwins Cousin geworden. Aber bei dieser „gesellschaftlichen Verän<strong>der</strong>ung“ verhält sich das meiste an<strong>der</strong>s als<br />
in <strong>der</strong> ursprünglichen Natur: Hunde tauschen keinen Knochen. Menschen, die in einer mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft<br />
leben, gehorchen dem Tauschprinzip. Wie liest man im KAPITAL? Was heißt Tauschwert? Hätte Marx<br />
weitere Bücher schreiben sollen, z. B. über die politische Ökonomie des GEBRAUCHTSWERTS, die<br />
politische Ökonomie <strong>der</strong> REVOLUTION o<strong>der</strong> die politische Ökonomie <strong>der</strong> ARBEITSKRAFT?<br />
1. Karl Korschs Blitzkriegstheorie.<br />
2. Schiffe im Nebel. Mit Sophie Kluge und Gabriel Raab.<br />
3. Die Concierge von Paris. Mit Ute Hannig.<br />
4. Zur Genese <strong>der</strong> Dummheit. Aus: Dialektik <strong>der</strong> Aufklärung von Max Horkheimer und<br />
Theodor W. Adorno.<br />
5. Maschinist Hopkins. Industrieoper von Max Brand aus dem Jahre 1929.<br />
6. Durs Grünbein: Brechts Hexameter zum Kommunistischen Manifest.<br />
7. Der frühe und <strong>der</strong> späte Marx.<br />
8. Der Gesamtarbeiter vor Verdun. Mit Sprengmeister Helge Schnei<strong>der</strong>.<br />
9. Wie liest man im KAPITAL? Mit Oskar Negt (nach Karl Korsch).<br />
10. „Wie viel Blut und Grausen ist auf dem Boden aller ‚guten Dinge’!“ Fragment.<br />
11. Gewaltsame <strong>Ein</strong>prägung des Tauschs. Kurzfilm<br />
12. Ich habe noch nie zwei Hunde einen Knochen tauschen sehen: Rainer Stollmann<br />
über den Tauschwert.<br />
13. Sozialistische Robinsonisten von 1942.<br />
14. Stichworte <strong>mit</strong> Joseph Vogl.<br />
a) Ideologie<br />
b) Entfremdung<br />
c) Was heißt subjektiv-objektives Verhältnis?<br />
d) Gibt es ein Menschenrecht <strong>der</strong> Dinge?<br />
Extras PROGRAMM 3<br />
1. Der große Kopf von Chemnitz.<br />
2. Wer die beste Musik hat, wird <strong>der</strong> Hauptfilm. Mit Helge Schnei<strong>der</strong> als Atze Mückert<br />
(Hartz 4), als Marx-Darsteller und als Filmkomponist für Eisenstein.<br />
Terminplan<br />
Freitag, 10. Oktober<br />
17.30 PROGRAMM 1 Eisenstein und Marx im gleichen Haus<br />
21.00 PROGRAMM 2 Alle Dinge sind verzauberte Menschen<br />
Samstag, 11. Oktober<br />
11.00 PROGRAMM 1 Eisenstein und Marx im gleichen Haus (Teil1)<br />
13.30 PROGRAMM 1 Eisenstein und Marx im gleichen Haus (Teil2)<br />
15.30 PROGRAMM 2 Alle Dinge sind verzauberte Menschen<br />
18.00 EXTRAS PROGRAMM 2<br />
20.00 PROGRAMM 3 Paradoxe <strong>der</strong> Tauschgesellschaft<br />
23.00 EXTRAS PROGRAMM 3<br />
Sonntag, 12. Oktober<br />
11.00 PROGRAMM 1 Eisenstein und Marx im gleichen Haus (Teil1)<br />
13.30 PROGRAMM 1 Eisenstein und Marx im gleichen Haus (Teil2)<br />
15.30 PROGRAMM 2 Alle Dinge sind verzauberte Menschen<br />
18.00 EXTRAS PROGRAMM 2<br />
20.00 PROGRAMM 3 Paradoxe <strong>der</strong> Tauschgesellschaft<br />
23.00 EXTRAS PROGRAMM 3<br />
Montag, 13. Oktober<br />
18.00 PROGRAMM 3 Paradoxe <strong>der</strong> Tauschgesellschaft<br />
20.30 PROGRAMM 1 Eisenstein und Marx im gleichen Haus<br />
Dienstag, 14. Oktober<br />
18.30 PROGRAMM 2 Alle Dinge sind verzauberte Menschen<br />
21.00 PROGRAMM 3 Paradoxe <strong>der</strong> Tauschgesellschaft<br />
Mittwoch, 15. Oktober<br />
17.30 PROGRAMM 1 Eisenstein und Marx im gleichen Haus<br />
21.00 PROGRAMM 2 Alle Dinge sind verzauberte Menschen<br />
Donnerstag, 16. Oktober<br />
18.30 PROGRAMM 3 Paradoxe <strong>der</strong> Tauschgesellschaft<br />
21.00 EXTRAS PROGRAMM 2, 3
<strong>Stadtkino</strong>Zeitung Kluge: „Nachrichten aus <strong>der</strong> ideologischen Antike“<br />
05<br />
Das Archiv ist <strong>der</strong> Prozeß<br />
Anmerkungen zu Kluges Fernsehen. Christian Schulte<br />
Da<strong>mit</strong> hatte vor zwei Jahrzehnten niemand<br />
gerechnet: Alexan<strong>der</strong> Kluge,<br />
Autor einer eher sperrigen Prosa,<br />
Regisseur und Vordenker des deutschen Autorenfilms,<br />
war plötzlich im Fernsehen präsent,<br />
jede Woche, <strong>mit</strong> eigenen Sendungen.<br />
Geschickt hatte er eine Auflage des Mediengesetzes<br />
genutzt, die die neuen kommerziellen<br />
Vollprogramme RTL und SAT.1 dazu<br />
verpflichtete, Kulturprogramme in ihr Angebot<br />
aufzunehmen. Seither irritiert Kluge <strong>mit</strong><br />
den drei Formaten Primetime/Spätausgabe,<br />
10 vor 11 und News & Stories vor und nach<br />
Mitternacht die eingeübten Schaltreflexe <strong>der</strong><br />
Zapper. Kluge leiht sich zwar die Bezeichnung<br />
Kulturmagazin, doch sprengt das thematische<br />
Spektrum seiner Sendungen bei<br />
weitem das klassische Themenrepertoire des<br />
Genres. Ihre Diversität hat allen Anspruch,<br />
als enzyklopädisch bezeichnet zu werden;<br />
neben den Künsten (vor allem <strong>der</strong> Oper)<br />
bleibt kaum ein Wissensgebiet unerörtert:<br />
Insekten-, Gehirn- und Weltraumforschung<br />
sind ebenso selbstverständlich vertreten wie<br />
Fragen <strong>der</strong> Kriminalistik, <strong>der</strong> Physiognomik<br />
o<strong>der</strong> <strong>der</strong> strategischen Kriegsführung.<br />
Die eigentliche Differenz zu vergleichbaren<br />
Formaten des öffentlich-rechtlichen<br />
Fernsehens kommt aber weniger durch die<br />
thematische Breite seiner Sendungen zustande,<br />
son<strong>der</strong>n vielmehr durch ihre ästhetischen<br />
Verfahren, die deutlich die Handschrift des<br />
Autors Kluge erkennen lassen.<br />
Rohstoffe <strong>der</strong> Erfahrung<br />
Hier lassen sich zwei Grundformen unterscheiden:<br />
das Interview und <strong>der</strong> Montage-<br />
Essay. Letzterer knüpft <strong>mit</strong> elektronischen<br />
Mitteln an die Klugesche Filmästhetik an<br />
und avanciert in seinen radikalsten Beispielen<br />
zu komplexen Chiffren des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />
In einer Sendung über den Gaskrieg<br />
etwa werden dokumentarische Bil<strong>der</strong> aus<br />
dem Ersten Weltkrieg in einer Art Scherbenoptik<br />
gebrochen und auf mannigfaltige<br />
Weise verfremdet, von atonaler Musik o<strong>der</strong><br />
einem Antikriegslied begleitet, <strong>mit</strong> Schrift<br />
überblendet o<strong>der</strong> von Texttafeln unterbrochen.<br />
Bil<strong>der</strong> einer Sektion demonstrieren,<br />
was aus dem menschlichen Körper unter den<br />
Händen des Anatomen wird, und machen im<br />
Kontext <strong>der</strong> Sendung doch evident, was <strong>mit</strong><br />
den Menschen im Krieg geschieht.<br />
In ganzen Sendungen ist überhaupt kein<br />
Bild zu sehen, son<strong>der</strong>n nur Text zu lesen,<br />
ein Text allerdings, dessen graphische Form<br />
schon wie<strong>der</strong> Bildqualitäten aufweist, wenn<br />
aus <strong>der</strong> Anordnung <strong>der</strong> Worte und Buchstaben<br />
<strong>der</strong>en Bedeutung herausgesehen werden<br />
kann – <strong>der</strong> aber auch ironisch darauf verweist,<br />
daß das Fernsehbild ein aus Zeilen bestehen<strong>der</strong><br />
Text ist, <strong>der</strong> gelesen werden muß.<br />
An<strong>der</strong>e Sendungen zeigen Bil<strong>der</strong> im Zeitraffer,<br />
von Metropolen, Jahrmärkten o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Verhüllung des Reichstags, oft unterlegt <strong>mit</strong><br />
Technorhythmen. Zahlreiche Beiträge <strong>der</strong><br />
frühen Jahre waren den Anfängen des Kinos,<br />
<strong>der</strong> pri<strong>mit</strong>ive diversity, gewidmet, den Nummernprogrammen<br />
des Zirkus o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schlagerrevuen.<br />
Alle diese Beiträge konfigurieren<br />
eine Art virtueller Weltausstellung, in <strong>der</strong> all<br />
das zusammengetragen ist, was die Wirklichkeit<br />
an Tatsachen und ungenutzten Möglichkeiten<br />
bereithält, Fundstücke des Realen<br />
und <strong>der</strong> Phantasie gehen überraschende Koalitionen<br />
ein und können vom Zuschauer<br />
auf ihren Gebrauchswert als Rohstoff für<br />
die eigene Erfahrungsbildung hin getestet<br />
werden. Die in immer wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Zusammenhängen<br />
kursierenden Fragmente nötigen<br />
dem Zuschauer kein rasches Verstehen<br />
ab, son<strong>der</strong>n konfrontieren ihn <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Möglichkeit,<br />
daß er hier zurückgewinnen kann,<br />
was die unausgesetzte Bil<strong>der</strong>- und Datenflut<br />
ihm zu nehmen droht: Zeit als Bedingung<br />
<strong>der</strong> Möglichkeit von Erfahrung. Frieda Grafe<br />
schrieb über Kluges Magazine erhellend:<br />
„Die Bil<strong>der</strong> argumentieren, das Sprechen<br />
mimt. Daß Fernsehtext, gewebt aus beiden,<br />
die alte Leserichtung umorientiert hat, wird<br />
bestürzend sichtbar, wenn die Laufschriften<br />
von rechts nach links sich durchs Bild bewegen.<br />
Definition wird <strong>mit</strong> den neuen Bil<strong>der</strong>n<br />
als Auflösung übersetzt. Sprache ist wirklich<br />
praktisches Bewußtsein.“<br />
Die Befreiung des Ausdrucks<br />
vom Zwang des Sinns<br />
Auch Kluges Interviews verhalten sich konträr<br />
zu den Regeln des Genres. Sie werden<br />
nicht in einem Studio aufgezeichnet, son<strong>der</strong>n<br />
in Kluges Münchner Arbeitswohnung o<strong>der</strong><br />
an öffentlichen Orten, <strong>der</strong>en Geräuschkulisse<br />
oft die Gespräche grundiert. Gedreht <strong>mit</strong> nur<br />
einer Kamera verzichten sie gänzlich auf die<br />
gewohnten Wechsel von Schuß und Gegenschuss<br />
und fokussieren den Gesprächspartner<br />
nicht selten über die Dauer einer ganzen Sendung<br />
in Nah- und Großaufnahmen, während<br />
Kluges Stimme aus dem Off zu vernehmen<br />
ist. Wie<strong>der</strong> geht es um Zeitgewinn durch Verlangsamung:<br />
„Daß die Dauer nicht beschnitten<br />
wird, ist wichtiger als je<strong>der</strong> Inhalt.“ Der<br />
Zuschauer ist Zeuge <strong>eines</strong> Gesprächs, das immer<br />
schon begonnen hat und das auch <strong>mit</strong><br />
dem Ende <strong>der</strong> Sendung nicht zum Abschluß<br />
gekommen ist. Mehr noch als das explizite<br />
Thema – ein neues Buch, ein Film, eine aktuelle<br />
Operninszenierung etc. – ist die Form<br />
des Sprechens <strong>der</strong> eigentliche Gegenstand<br />
dieser Sendungen, <strong>der</strong> Sprechakt selbst wird<br />
als Denkform ausgestellt, die sekundäre Rede<br />
über etwas, wie sie in den gängigen Formen<br />
des Genres praktiziert wird, ist bei Kluge stets<br />
zugleich genuiner Ausdruck, etwas Primäres,<br />
das hinter dem Kommentierten nicht zurücksteht:<br />
„Ich vetraue auf den Tonfall. Unsere<br />
Sendungen sind nicht durch den Inhalt<br />
gekennzeichnet, son<strong>der</strong>n durch einen von<br />
den Zuschauern überprüfbaren Tonfall.“<br />
Legendär in dieser Hinsicht sind die Sendungen<br />
<strong>mit</strong> dem Dramatiker Heiner Müller,<br />
die nicht nur <strong>Ein</strong>blicke in die Produktions-<br />
Vordenker des deutschen Autorenfilms: Alexan<strong>der</strong> Kluge, geboren 1932 in Halberstadt.<br />
weisen zweier in vielem verwandter Autoren<br />
erlaubten, son<strong>der</strong>n darüber hinaus die „allmähliche<br />
Verfertigung <strong>der</strong> Gedanken beim<br />
Reden“ (Kleist) als ein fernsehtaugliches<br />
Genre definierten – Gespräche, die bis zu<br />
Müllers Tod zu einem eigenen Work in Progress<br />
angewachsen waren. An<strong>der</strong>e wie<strong>der</strong>kehrende<br />
Dialogpartner sind <strong>der</strong> Goethekenner<br />
Manfred Osten, <strong>der</strong> Soziologe (und philosophische<br />
Koautor) Oskar Negt, die Proust-<br />
Spezialistin und kongeniale Übersetzerin<br />
Ulrike Sprenger, <strong>der</strong> Opernregisseur Peter<br />
Konwitschny, <strong>der</strong> Kriminalsoziologe Joachim<br />
Kersten, aber auch Christoph Schlingensief,<br />
Helge Schnei<strong>der</strong> und Peter Berling, <strong>mit</strong> denen<br />
Kluge regelmäßig Fake-Gespräche führt,<br />
Slapstick-Dialoge, die die historische Wirklichkeit<br />
in den Konjunktiv setzen, phantasievoll<br />
zuspitzend und solange überbietend, bis<br />
sie ihre grotesken Züge zu erkennen gibt.<br />
„Unsere Sendungen sind nicht durch den<br />
Inhalt gekennzeichnet, son<strong>der</strong>n durch einen<br />
von den Zuschauern überprüfbaren Tonfall.“<br />
Foto: dctp<br />
Die Trennung <strong>der</strong> Elemente<br />
Kluges multimediale Versuchsanordnung<br />
(Film, Fernsehen, Philosophie und Literatur)<br />
kann als Modellfall einer selbstreflexiven<br />
Autorenschaft begriffen werden.<br />
Diese Selbstreflexivität entsteht durch einen<br />
spezifischen Gestus <strong>der</strong> Zitation frem<strong>der</strong><br />
Materialien, die – aus ihrem ursprünglichen<br />
Kontext herausgerissen – als erkennbare<br />
Fragmente ausgestellt werden. Homogene<br />
Werkzusammenhänge werden dekonstruiert,<br />
die herausgesprengten Materialien in offene,<br />
weiträumige Montagezusammenhänge transferiert.<br />
Zu Resultaten geronnene ästhetische<br />
Formen werden verflüssigt, ihre Elemente<br />
werden als autonome Rohstoffe analysierbar<br />
und können flexible Beziehungen eingehen.<br />
Dieser Zitationsgestus, <strong>der</strong> die tote Arbeit<br />
in lebendige Arbeit übersetzt, initiiert den<br />
Prozeß einer prinzipiell unabschließbaren<br />
Kombinatorik, die als Modell einer universalen<br />
Dialogizität verstanden werden kann.<br />
<strong>Ein</strong> solcher Kommunikationsprozeß ist labil<br />
gegenüber den etablierten Settings literarischer<br />
und filmischer Kommunikation, weil<br />
die Hybridformen, über die er sich organisiert,<br />
das kanonisierte Ideal <strong>der</strong> Herstellung<br />
des einen Sinns suspendieren.<br />
Lebendige Archive<br />
Dieser offene Horizont hat Konsequenzen<br />
für das asymmetrische Rollenverständnis von<br />
Autor und Rezipient. In Kluges Selbstbeschreibungen<br />
ist <strong>der</strong> Autor nicht länger ein<br />
schöpferisches Ich, son<strong>der</strong>n vielmehr ein literarischer<br />
Buchhalter, ein Kommentator<br />
vertrauenswürdiger Überlieferungen (die<br />
allerdings von Ovid über Montaigne bis zu<br />
Robert Musil, Walter Benjamin und Heiner<br />
Müller reichen). Der Autor ist ein Sammler<br />
und Konstrukteur, dessen Phantasie sich an<br />
dem entzündet, „was an<strong>der</strong>e schon getan haben“<br />
(Adorno) und <strong>der</strong> seine Selbständigkeit<br />
darin gewinnt, dass er sich aus den Quellen<br />
das aneignet, was er braucht, um weiterarbeiten<br />
zu können: <strong>der</strong> Erzähler, Filmemacher,<br />
Philosoph und Fernsehautor als Essayist,<br />
dem die diversen Medien seiner Artikulation<br />
ebenso gleich bedeutend sind wie die Materialien,<br />
die er auf diesen Kanälen in Bewegung<br />
setzt: das Thekengespräch steht neben<br />
Höl<strong>der</strong>lin, Gebrauchsmusik neben dem hohen<br />
Ton <strong>der</strong> Oper.<br />
Nicht länger um Originalität geht es, son<strong>der</strong>n<br />
um die Organisation von Erfahrung <strong>mit</strong><br />
den Mitteln einer multi- und transmedialen<br />
Versuchsanordnung. Das Archiv ist <strong>der</strong> Prozeß.<br />
Das Archiv aber muß <strong>mit</strong> Leben erfüllt<br />
werden, es hat Geltung nur durch die Adaptierbarkeit<br />
seiner Materialien. Es besteht genau<br />
genommen nur in <strong>der</strong> Umschrift seiner<br />
Texte, die zitiert, verkürzt o<strong>der</strong> paraphrasiert<br />
in neuen Kontexten weiterleben. <strong>Ein</strong> Archiv<br />
im Sinne Kluges ist weit mehr als die Summe<br />
seiner inventarisierten <strong>Ein</strong>träge, es ist vor allem<br />
ein Raum <strong>der</strong> Kommunikation zwischen den<br />
Zeiten, ein Echoraum, in dem die Stimmen aus<br />
vergangenen Epochen nicht allein nachhallen,<br />
son<strong>der</strong>n vor allem gehört und <strong>der</strong> aktuellen<br />
Rede einverleibt werden, verdeckt o<strong>der</strong> ausgewiesen<br />
als Zitat o<strong>der</strong> Camouflage; überführt in<br />
Mischformen aus Dokument und Fiktion, aus<br />
Facts and Fakes avancieren sie zu Baustoffen<br />
<strong>eines</strong> Modells lebendiger Öffentlichkeit, einer<br />
Öffentlichkeit, in <strong>der</strong> die geltenden Rankings<br />
und Ausgrenzungsmechanismen zugunsten einer<br />
allumfassenden Partizipation aufgehoben<br />
wären; kaum ein Autor hat diese vielstimmige<br />
Kollektivität <strong>der</strong>art ins Zentrum seiner Arbeit<br />
gerückt wie Alexan<strong>der</strong> Kluge.
06 Schlingensief: „Menu Total“<br />
<strong>Stadtkino</strong>Zeitung<br />
Schlingensief<br />
Diskussion im <strong>Stadtkino</strong><br />
Verbrecherlust, einen<br />
Film zu machen<br />
Christoph Schlingensief und „Menu Total“. Dietrich Kuhlbrodt<br />
<strong>Ein</strong>e kleine Sensation nach einer längeren,<br />
schweren Erkrankung des Filme- und Theatermachers:<br />
Christoph Schlingensief wird<br />
am 3. Oktober persönlich im <strong>Stadtkino</strong> in<br />
einem Podiumsgespräch <strong>mit</strong> Claus Philipp<br />
Rede und Antwort zu Menu Total stehen. Am<br />
nächsten Tag, dem 4. Oktober, präsentiert<br />
Schlingensief dann in <strong>der</strong> Neuen Galerie<br />
in Graz beim steirischen herbst ein weiteres<br />
Projekt: The African Twin Towers, gedreht<br />
in Lü<strong>der</strong>itz/Namibia, vereint delirierende<br />
Filmskizzen <strong>mit</strong> Polaroids von Patti S<strong>mit</strong>h<br />
und Texten von Elfriede Jelinek.<br />
Neue Filme<br />
im <strong>Stadtkino</strong> Filmverleih<br />
Elle s’appelle Sabine<br />
Sandrine Bonnaire<br />
Waltz with Bashir<br />
Ari Folman<br />
Jerichow<br />
Christian Petzold<br />
O’Horten<br />
Bent Hamer<br />
März<br />
Händl Klaus<br />
7915 KM<br />
Nikolaus Geyrhalter<br />
24 City - Er Shi Si Cheng Ji<br />
Jia Zhangke<br />
Wendy und Lucy<br />
Kelly Reichardt<br />
La vie mo<strong>der</strong>ne<br />
Raymond Depardon<br />
Chop Shop<br />
Ramin Bahrani<br />
Won<strong>der</strong>ful Town<br />
Aditya Assarat<br />
Itinéraire de Jean Bricard<br />
Jean-Marie Straub, Danièle Huillet<br />
Le Genou d‘Artémide<br />
Jean-Marie Straub, Danièle Huillet<br />
Retour en Normandie<br />
Nicolas Philibert<br />
Wolfsbergen<br />
Nanouk Leopold<br />
„Lady Jane“<br />
ab 26. September Filmhauskino<br />
18.00 / 20.00 / 22.00<br />
„Die Geschichte <strong>eines</strong> in die Jahre gekommenen<br />
Räubertrios, das sich eigentlich längst zur Ruhe<br />
gesetzt hat. <strong>Ein</strong>e Tragödie, ‚out of the past‘, nimmt<br />
ihren Lauf. <strong>Ein</strong> tiefschwarzer, pessimistischer, aber<br />
vor allem ziemlich spannen<strong>der</strong> Film. Großartig<br />
die Schauspieler, die bereits seit Jahren im Orbit<br />
um Robert Guédiguian kreisen - allen voran<br />
Ariane Ascaride, Gérard Meylan und Jean-Pierre<br />
Darroussin <strong>mit</strong> apartem Seehundschnauzer.“<br />
<br />
Michael Omasta, „Der Falter“<br />
„<strong>Ein</strong> schöner, gelassener, <strong>mit</strong> einem Hauch<br />
Melancholie versehener Film übers Älterwerden.<br />
Über die unüberbrückbare Differenz<br />
zwischen damals und heute.“<br />
Isabella Reicher, „Der Standard“<br />
Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre war <strong>der</strong> Neue<br />
Deutsche Film in die Jahre gekommen<br />
und reagierte betroffen und<br />
weinerlich auf den Verlust <strong>der</strong> politischen<br />
und auch ästhetischen Utopien. <strong>Ein</strong>e Krise<br />
<strong>der</strong> Sinnstifter, diagnostizierte <strong>der</strong> Filmenthusiast<br />
Christoph Schlingensief, und eine<br />
Neurose, die nicht die seine war. Statt sich als<br />
Opfer zu fühlen und dem verlorenen Glauben<br />
an den Fortschritt hinterherzutrauern,<br />
schlug er zu Beginn des Jahrzehnts – 1980<br />
war er 20 Jahre alt – eine Täterkarriere ein<br />
(„Die verbrecherische Lust, einen Film zu<br />
machen“), d.h. er kultivierte den Glauben an<br />
sich. Ohne jede Rücksicht auf die Normen<br />
des Erzählkinos o<strong>der</strong> auf die Theorien <strong>der</strong><br />
Avantgardekunst o<strong>der</strong> auf die Verwertbarkeit<br />
seiner Filme begab er sich als Abenteurer,<br />
Held und <strong>Ein</strong>zelkämpfer auf die Suche nach<br />
Ausdruck für eigene Bil<strong>der</strong>, eigene Mythen<br />
und eigene Symbole.<br />
Schlingensiefs Kreativität nutzt den Film als<br />
Bil<strong>der</strong>-Medium in seiner ganzen Breite. Die<br />
Expressivität, die im Stummfilm möglich war,<br />
wird wie<strong>der</strong> Gegenwart, und <strong>der</strong> Glaube an<br />
die (eigene) Emotionalität, die <strong>der</strong> narrative<br />
Film, aber auch <strong>der</strong> politische und experimentelle<br />
Film in den beiden Jahrzehnten zuvor<br />
ausgetrieben hatte, ist wie<strong>der</strong>hergestellt.<br />
Selbstredend <strong>mit</strong> allen Unwägbarkeiten, aber<br />
auch <strong>mit</strong> allen Hoffnungen. Es ist richtig, dass<br />
Schlingensief keiner Schule angehört (auch<br />
wenn er Assistent von Werner Nekes war),<br />
noch dass er eine solche begründet hat (auch<br />
wenn er Film in Offenbach und Düsseldorf<br />
gelehrt hat). Aber er hat Paten. Auf Bataille<br />
beruft er sich („Wir müssen unseren Kin<strong>der</strong>n<br />
die merkwürdige Abweichung beibringen,<br />
die <strong>der</strong> Ekel ist“). Wir wollen ihm Artaud<br />
beiseite stellen: „Das Aufkommen des Kinos<br />
fällt zusammen <strong>mit</strong> einer Wende im menschlichen<br />
Denken – <strong>mit</strong> genau jenem Zeitpunkt,<br />
an dem die Sprache, verbraucht, ihre Symbolkraft<br />
verliert. Das klare Denken genügt nicht.<br />
Es definiert eine bis zum Übelwerden verbrauchte<br />
Welt.“<br />
Schlingensiefs Filme sind katastrophale Familienfilme<br />
aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Pubertierenden<br />
(„Ich mache pubertäre Filme“, sagt er, wobei<br />
das Adjektiv für ihn – Rimbaud! – positiv besetzt<br />
ist). Die Katastrophen sind austauschbar,<br />
niemals „Thema“; sie dienen den Jungen als<br />
Stimulanz, sich selbst zu behaupten. Schlingensiefs<br />
Familienserie ver<strong>mit</strong>telt Überlebenstraining<br />
– für die, die auch das Sehen trainieren<br />
möchten. Wobei nötig ist, sich von den<br />
außermedialen (literarischen) <strong>Ein</strong>grenzungen<br />
des Bil<strong>der</strong>-Mediums zu befreien. <strong>Ein</strong>e vom<br />
Erzählkino noch nicht korrumpierte Seh-<br />
Erfahrung ist gefor<strong>der</strong>t – eine Erfahrung, die<br />
je<strong>der</strong> wie selbstverständlich aus an<strong>der</strong>en Medien<br />
<strong>mit</strong>bringt, wenn er Musik hören kann,<br />
ohne sie auf einen Text o<strong>der</strong> einen Gedanken<br />
reduzieren zu müssen.<br />
Schlingensief, <strong>der</strong> noch in den ersten beiden<br />
80er Jahren in einer Musikgruppe spielte<br />
(Vier Kaiserlein), versucht in seinen Filmen,<br />
die Seh-Erfahrung von den narrativen Fesseln<br />
zu befreien und Filmverständnis wie<br />
Filmkritik zu beleben. Selbstverständlich geschieht<br />
dies lustvoll-bildhaft und k<strong>eines</strong>wegs<br />
argumentativ-diskursiv. Mit <strong>der</strong> Trilogie zur<br />
Filmkritik – Film als Neurose (1983/84) entwirft<br />
er sein erstes Sehsportprogramm. Die<br />
beiden ersten Teile, Kurzfilme, erhellen die<br />
reduzierte, ja unmündige Position des Zuschauers<br />
(Filmkritikers). In Phantasmus muss<br />
an<strong>der</strong>s werden (1983) harrt auf einstweilen<br />
sprachlose Säuglinge die Aufgabe, sich <strong>der</strong>einst<br />
aus Normen und Zwängen sowohl <strong>der</strong><br />
Familie als auch <strong>der</strong> Kunstformen zu befreien.<br />
Dass dieser Befreiungskampf jedenfalls filmisch<br />
<strong>mit</strong> höchstem Lustgewinn verbunden<br />
ist, lehrt What Happened to Magdalena Jung?<br />
(1983), denn Magdalena, die fliegen kann,<br />
wi<strong>der</strong>spricht <strong>mit</strong> größtem Vergnügen sowohl<br />
den physikalischen Normen als auch den Vorschriften<br />
für filmischen Realismus. Im letzten<br />
Teil <strong>der</strong> Trilogie, dem 75-Minuten-Film Tunguska<br />
– die Kisten sind da (1983/84), entwirft<br />
Schlingensief <strong>mit</strong> animatorischer Geste zum<br />
erstenmal seine eigenen Spielregeln, Filmbil<strong>der</strong><br />
ohne theoretisches Vorverständnis zu<br />
erfassen, operabel zu machen und für eigene<br />
Zwecke zu benützen.<br />
Die Messen, die er <strong>mit</strong> seinen nächsten<br />
Filmen zuverlässig abhält, sind Ernst und<br />
Travestie in einem, abenteuerliche Suche<br />
nach Erleuchtung und exzentrische Drohgebärde,<br />
böses Schwarz und grelle Komik.<br />
„<strong>Ein</strong>en religiösen Beitrag“ steuert er zum<br />
Buch „Kino-Fronten“ bei: „Wir alle suchen<br />
nach Bil<strong>der</strong>n, die uns Anhaltspunkte geben<br />
in einer Zeit, in <strong>der</strong> man uns alles erklärt<br />
hat. Wie großartig sind da grade die Dinge,<br />
die nichts erklären, – die sich uns zur freien<br />
Verfügung präsentieren. Wie großartig ist<br />
die Monstranz, die etwas zeigt, was wir nicht<br />
wissen.“ (Schlingensief, 1988).<br />
Die kecke Attitüde täuscht nicht darüber<br />
hinweg, dass hier einer ernst macht, in den<br />
Bil<strong>der</strong>n, die ihn umgeben und die er <strong>mit</strong><br />
sich trägt, Anhaltspunkte zu finden. Menu<br />
Total (1985/86), schwarz-weiß (und in Super-16mm,<br />
einem ungewöhnlichen Format)<br />
gedreht, ist einerseits quasi-dokumentarische<br />
Aufzeichnung <strong>der</strong> Rituale einer Elterngeneration,<br />
die den Kin<strong>der</strong>n Angst machen. An<strong>der</strong>erseits<br />
trainiert <strong>der</strong> Film in expressiv verdichteten<br />
Sequenzen Flucht und Überleben.<br />
Doch das furchtbare Faszinosum <strong>der</strong> Naziuniformen<br />
erledigt sich nicht. Montiert ist<br />
<strong>der</strong> Film als Folge <strong>eines</strong> Fotoromans o<strong>der</strong> präziser<br />
gesagt einer Fernsehserie, was den Vorteil<br />
hat, dass die narrative Struktur ihren Sinn<br />
von selbst entleert (das weiß je<strong>der</strong> Dallas-<br />
Zuschauer, nachdem <strong>der</strong> tote Bobby Ewing<br />
duschte und plötzlich wie<strong>der</strong> dabei war). Die<br />
Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Menu Total-Serie dokumentieren<br />
Schlingensiefs Heimat; sämtliche Drehorte<br />
finden sich um Mülheim/Ruhr herum. Es ist<br />
richtig, dass diese Vorgaben vom Fast-nicht-<br />
Etat diktiert wurden, den Schlingensief für<br />
diesen (wie für die folgenden Filme) hatte: jeweils<br />
wenige tausend Mark. Es waren jedoch<br />
gerade die Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Unverwechselbarkeit<br />
und Nähe, die zum Ausdruck brachten, wie<br />
einer den Drehort wahr- und ernstnahm,<br />
und wie gerade im heimischen Bereich <strong>der</strong><br />
ideologischen Besetzung aller Bil<strong>der</strong> getrotzt<br />
und etwas gefunden werden konnte. In <strong>der</strong><br />
Montage findet Menu Total zur einheitlichen<br />
expressiven, hintergründig-komischen, hintergründig-wahrheitssuchenden<br />
Gebärde.<br />
<strong>Ein</strong> noch nicht besetztes Bild für eine Messe<br />
ist in Menu Total eine Elternpolonaise. Ausgelassen<br />
haben sie auf einer Picknickwiese in<br />
Mülheim-Speldorf ihre alten Naziuniformen<br />
wie<strong>der</strong> angelegt. Da macht die Polonaise<br />
noch mehr Spaß. Die Mama gibt das Startzeichen<br />
für eine außergewöhnliche Vorführung.<br />
Derweil wird Sohn Joe aus dem Schlaf gerissen.<br />
Aber wird er verstehen, was sie <strong>mit</strong> ihm<br />
vorhaben? Wird er sich dem brutalen Kampf<br />
<strong>der</strong> Systeme wi<strong>der</strong>setzen können? Klappt<br />
<strong>der</strong> Austausch von Sperma? Wird er das rohe<br />
menschliche Gehirn essen? Joe scheint verloren.<br />
Sein Weg führt in einen verlassenen<br />
Schacht <strong>der</strong> Zeche Rosendelle, wo sich ein<br />
Versuchslabor befindet. Joe verweigert die<br />
Nahrungsaufnahme, wird operiert und kann<br />
trotzdem fliehen. Die Sache gerät in Bewegung!<br />
Dr. De Pen bringt Cuca, die Stinkende,<br />
um, trifft sich <strong>mit</strong> seiner Assistenzärztin in<br />
Hemer/Sauerland und nimmt Martha, die an<br />
den Rollstuhl gefesselte Jungfrau, entgegen.<br />
Während Evi den Schwanz brät und ihn von<br />
Wolf in den Mund gestopft bekommt, flüchtet<br />
Joe abermals und erreicht das im friesischen<br />
Stil erbaute und <strong>mit</strong>tlerweile von Evi besetzte<br />
Haus in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Polonaiseveranstaltung.<br />
Immer wie<strong>der</strong> grüßen Zombies den gröhlenden<br />
Führer. Die Lage scheint verworren. Wird<br />
Dr. De Pen die Situation klären und seinen<br />
Sohn töten können o<strong>der</strong> selbst den Tod finden?<br />
Und was ist Menu total? Cuca jedenfalls<br />
fand das Menu zum Kotzen; die Kid- und<br />
Meat-Generation liebt nur das abgehangene<br />
Fleisch. Die Worte, die den Inhalt von Menu<br />
Total wie<strong>der</strong>geben, bringen ihrerseits zum<br />
Ausdruck, wie die Gebärde des Ekelns und des<br />
Faszinieren-lassens den Inhalt des narrativ entleerten<br />
Serienplots ausmacht. Die Vätergeneration<br />
wird in diesem Film restlos bewältigt, zwar<br />
unakademisch, aber frontal. Das Problem ist<br />
gegessen, und wem’s nicht kannibalisch wohl<br />
ist, <strong>der</strong> kotzt sofort – übern Tisch o<strong>der</strong> wohin<br />
auch immer. Schlingensief, enfant terrible<br />
des deutschen Films, erteilt keine Ratschläge.<br />
Er schreitet zur Tat. Sich selbst (und uns) Mut<br />
machend, überwindet er Berührungsängste, so<br />
viel Abweichung heute auch darin gesehen<br />
wird, und beschwört das Nicht-Geheure. Indem<br />
er Mythen des Stummfilms aktiviert, bindet<br />
er die alte Expressivität, die er – wie Werner<br />
Schroeter – freigesetzt hatte, an die Generation<br />
<strong>der</strong> Väter, Großväter und Vor<strong>der</strong>en. Da<strong>mit</strong> ist er<br />
einzigartig im deutschen Film.
<strong>Stadtkino</strong>Zeitung Schlingensief: „Menu Total“<br />
07<br />
„In erster Linie<br />
bin ich Filmemacher“<br />
Begegnung <strong>mit</strong> Christoph Schlingensief anlässlich seiner „Hodenpark“-Installation,<br />
2006 im Museum Mo<strong>der</strong>ner Kunst in Salzburg. alexan<strong>der</strong> kluge<br />
Christoph Schlingensief Ich komme<br />
eigentlich vom Film. Und am Film finde ich<br />
das Interessante, dass das Werk zerstörbar ist,<br />
dass die Filmkopie früher aus Körnern bestand,<br />
zu heiß entwickelt o<strong>der</strong> so, und das Filmmaterial<br />
im Projektor wurde eben auch gekühlt,<br />
zum Beispiel diese ganzen Nitrofilme. Ich<br />
hatte noch einen Projektor in Mülheim an <strong>der</strong><br />
Ruhr, <strong>der</strong> hatte ein Aquarium, das musste <strong>mit</strong><br />
Wasser gefüllt werden, wurde dann zwischen<br />
den Film und die Lampe reingeschoben, dann<br />
erhitzte sich das Wasser. Und wenn das zu heiß<br />
wurde, also dass <strong>der</strong> Nitrofilm plötzlich hätte<br />
anfangen können zu brennen, ging ein Pfeifton<br />
los, das heißt, dieses Wasser kochte …<br />
Alexan<strong>der</strong> Kluge Wie ein Teekessel. Tierschutzvereine<br />
unterbanden das, denn wenn<br />
Fische in dieses Verfahren hineingeraten, dann<br />
ist das doch nicht gut.<br />
Schlingensief Das war sogar eine Idee, einen<br />
Fisch in dieses Aquarium zu tun, <strong>der</strong> den<br />
Projektionsstrahl permanent stört, indem er<br />
darin rumschwimmt. Man sieht irgendwelche<br />
schwarzen Flecken, dann lässt man ihn kochen,<br />
um ihn nach <strong>der</strong> Vorführung gemeinsam <strong>mit</strong><br />
den Zuschauern zu essen.<br />
Kluge <strong>Ein</strong> Fisch für so viele? Interessant. Dass<br />
Sie in Ihrer neuen Installation, von Island,<br />
Bayreuth Afrika, Südafrika kommend … Hier<br />
in Salzburg liegt es ja nahe, wenn man eine<br />
Installation verfertigt, in einem Museum <strong>der</strong><br />
mo<strong>der</strong>nen Künste, dass dann auch Mozart<br />
vorkommt. Er kommt bei Ihnen allerdings eigentümlich<br />
vor. Zunächst einmal sehe ich ein<br />
Spinett. Und auf den Saiten des Klavizimbel<br />
liegen Eier. Wie das?<br />
Schlingensief Ich komme gerade aus<br />
Bayreuth, wo ich Generalprobe hatte, also mal<br />
wie<strong>der</strong> „Öffnet den Schrein“ gehört habe.<br />
Mozart kenne ich aus meiner Jugend, als ich<br />
„alla turca“ immer üben musste ...<br />
Kluge Die A-Dur-Sonate? Bis dahin sind Sie<br />
gekommen?<br />
Schlingensief Genau. Und ich wollte noch<br />
immer die Pathétique.<br />
Kluge Das ist aber schwerer.<br />
Schlingensief Ja, aber schöner.<br />
Kluge Abwechslungsreicher.<br />
Schlingensief Und jetzt komme ich also hier<br />
her, und Salzburg ist natürlich ein beson<strong>der</strong>es<br />
Pflaster, wo rund um Mozart, <strong>der</strong> ja doch sehr<br />
verspielt daherkommt, ein einziger Disney-<br />
Zirkus herrscht, und bringe also den Gral von<br />
Wagner, den ich als viel schwerer empfinde,<br />
<strong>mit</strong> dem angeblich nicht richtig ausgelebten<br />
Sexualleben von Mozart o<strong>der</strong> <strong>mit</strong> seinem<br />
Gral, seinen Eiern, seinen Hoden zusammen.<br />
Ich sehe den Hoden auch als Gral, als Zellteilungsanstalt,<br />
in <strong>der</strong> verschiedenste Ideen<br />
und Deutungen entstehen können. Und den<br />
kreuze ich jetzt praktisch <strong>mit</strong> Wagners Gral,<br />
also den Hodensack <strong>mit</strong> dem Gral, den Mozart,<br />
den verspielten, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Frage: Wer öffnet<br />
den Schrein?<br />
Kluge Wieso ist Mozart verspielt? Er ist doch<br />
ein ganz großer Architekt, guckte immer in<br />
sein Hirn, las die Noten dort und schrieb sie<br />
nach<strong>mit</strong>tags, so ein bisschen beschickert, nie<strong>der</strong>.<br />
Schlingensief Komischerweise fasziniert<br />
Wagner mich doch mehr. Erinnern heißt<br />
Impressum<br />
vergessen, hat mein Vater früher immer gesagt.<br />
Jetzt habe ich in einem Vortrag von einem<br />
Hirnphysiker gehört, dass tatsächlich durch<br />
die Erinnerung wie<strong>der</strong> die Sache übermalt<br />
wird. Sobald ich mich an meine Vergangenheit<br />
erinnere, überschmiere ich die eigentlich. <strong>Ein</strong><br />
paar Synapsen stabilisieren sich. Dazwischen<br />
flimmert es aber. Und dazwischen kann ein<br />
Bild sein, was da nicht reingehört. Das hat<br />
mich auch in den Filmen immer interessiert,<br />
die Doppelbelichtung, die Dreifachbelichtung.<br />
Und das finde ich bei Wagner spannend: seine<br />
Lebensbewegung. Revolution, dann fliehen<br />
und Verfolgung und sich verlieben in die Frau<br />
des Geldgebers, dann plötzlich im Sturm<br />
landen und „Paris soll brennen“, antise<strong>mit</strong>isch,<br />
aber natürlich in einem an<strong>der</strong>en Zeitkontext<br />
als dem Zweiten Weltkrieg.<br />
Kluge <strong>Ein</strong> problematischer Charakter. Wie<br />
sind Sie eigentlich zu Wagner gekommen? In<br />
Ihrem frühen Filmwerk, da wusste man nicht,<br />
dass das auf Wagner hinauslaufen sollte.<br />
Schlingensief Nein, das war erst später klar.<br />
Beim Andalusischen Hund von Buñuel, als da<br />
Tristan drunter lief, habe ich gedacht, was ist<br />
das für eine Musik. Dann habe ich erst Wagner<br />
kennengelernt, durch Buñuel eigentlich.<br />
Kluge Sind aber zu ihm nicht durch Tristan<br />
vorgestoßen, weil Ihnen die Geschichte zu<br />
umständlich war. Im Sinne <strong>der</strong> Evolution<br />
werden ja solche Paare nichts. Die kriegen alle<br />
keine Kin<strong>der</strong>, die sterben alle früh. (...) Das<br />
sind die Eier. Deswegen liegen die Eier hier<br />
auf Mozarts Spinett. Dadurch entsteht eine<br />
neue Klangfarbe.<br />
Schlingensief Man spielt an<strong>der</strong>s.<br />
Kluge Das ist <strong>der</strong> Mozart-Ton.<br />
Schlingensief Wenn er das mal wäre. Man<br />
hört nur dieses komische Gequietsche und<br />
dieses … Wir haben das mal Kin<strong>der</strong>kacke<br />
genannt.<br />
Kluge Man hat gesagt, dass die Kamera,<br />
die die Brü<strong>der</strong> Lumière und Edison parallel<br />
erfunden haben, eigentlich das Prinzip Fahrrad<br />
<strong>mit</strong> dem Prinzip Nähmaschine verbindet. Alles<br />
Übrige ist dasselbe wie fotografieren. Das eine<br />
macht diese Löcher an den Seiten und das<br />
an<strong>der</strong>e transportiert das. Und Ihre Vorkehrung<br />
hier, die sich dreht, doppelt dreht, hat ja auch<br />
ein bisschen was von einer Kamera.<br />
Schlingensief Das ist eine riesige begehbare<br />
Kamera, eigentlich ein Imax-Kino für Arme.<br />
Man sitzt in dieser Eikuppel, ist das Spermium<br />
und guckt in die Welt. Und diese Welt wird<br />
projiziert <strong>mit</strong> vier verschiedenen Filmen. Hier<br />
wird <strong>der</strong> Raum zur Zeit.<br />
Kluge Es ist ja ein Schnittgerät.<br />
Schlingensief Genau. Und das habe ich<br />
eigentlich am allerliebsten: dass <strong>der</strong> Film sich<br />
selber schneidet.<br />
Ich habe zwar etwas vorgegeben, wie ein<br />
Motiv, wie eine Personenkonstellation, aber<br />
ich lasse es plötzlich selber schneiden. Der<br />
Animatograph for<strong>der</strong>t mich auf, ihm Material<br />
zu geben. Er macht daraus selber die Welt.<br />
Kluge Er verhäckselt sie?<br />
Schlingensief Er verblendet sie, er übermalt<br />
sie. Wenn er sie häckseln würde, würde er sie<br />
nur zu Kleinvieh machen, das ist mir in Hof<br />
passiert. In Hof wurde halt eben am Ende <strong>der</strong><br />
Film gehäckselt. Meine erste große Vorführung<br />
dieses ersten Films <strong>mit</strong> unserem Freund<br />
Alfred Edel, Tunguska, endete im Desaster, weil<br />
<strong>der</strong> Projektor sich verselbständigte und das<br />
Material häckselte. Irgendwie brannte <strong>der</strong> Film,<br />
obwohl ich die Verbrennung im Film selber<br />
schon am Tricktisch <strong>mit</strong> einem Freund zusammen<br />
aufgenommen hatte. Wir hatten eine<br />
Verbrennung simuliert, die nachher tatsächlich<br />
stattgefunden hat. Der Film wurde gehäckselt.<br />
Und <strong>der</strong> Filmprojektor …<br />
Kluge Ach, <strong>der</strong> Filmprojektor war so intelligent,<br />
die Absicht des Regisseurs … die nicht<br />
verwirklicht war …<br />
Schlingensief Der Vorführer war gegangen,<br />
weil er sauer war, dass <strong>der</strong> Film selber brannte,<br />
also reproduziert brannte und nicht wirklich<br />
brannte. Dann hätte er eingreifen können, das<br />
Telefonische Reservierungen Kino 712 62 76 (Während <strong>der</strong> Kassaöffnungszeiten) Büro 522 48 14<br />
(Montag bis Donnerstag 8.30–17.00 Uhr Freitag 8.30–14.00 Uhr) 1070 <strong>Wien</strong>, Spittelberggasse 3<br />
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Tel. 712 62 76 Herausgeber, Medieninhaber <strong>Stadtkino</strong> Filmverleih und Kinobetriebsgesellschaft m.b.H., 1070 <strong>Wien</strong>, Spittelberggasse 3 Graphisches<br />
Konzept Markus Raffetse<strong>der</strong> Redaktion Claus Phillpp, Franz Schwartz Druck Goldmann Druck, 3430 Tulln, Königstetter Straße 132 Offenlegung gemäß<br />
Mediengesetz 1. Jänner 1982 Nach § 25 (2) <strong>Stadtkino</strong> Filmverleih und Kinobetriebsgesellschaft m.b.H. Unternehmungsgegenstand Kino, Verleih,<br />
Videothek Nach § 25 (4) Ver<strong>mit</strong>tlung von Informationen auf dem Sektor Film und Kino-Kultur. Ankündigung von Veranstaltungen des <strong>Stadtkino</strong>s. Preis pro<br />
Nummer 7 Cent / Zulassungsnummer GZ 02Z031555 Verlagspostamt 1150 <strong>Wien</strong> / P.b.b.<br />
hat ihn beleidigt, deshalb ist er gegangen und<br />
hat die Kammer abgeschlossen. Daraufhin hat<br />
<strong>der</strong> Projektor beschlossen, selber zu brennen<br />
und selber zu häckseln und hat den Film zerstört.<br />
Ich konnte nicht eingreifen. Und Hof war<br />
in Lebensgefahr. Die Hofer Filmtage waren in<br />
Lebensgefahr. Und mein Film war erledigt.<br />
Kluge Sie würden ja sagen, dass Sie in erster<br />
Linie Filmemacher sind.<br />
Schlingensief Auf alle Fälle.<br />
Kluge Wenn Sie mir mal sagen, was ist Film?<br />
Schlingensief Film ist für mich fast schon<br />
ein Lebewesen, es ist etwas, was zerstörbar ist.<br />
Film kann brennen, er kann unscharf sein, er<br />
kann sich verän<strong>der</strong>n, über Jahre kann das Material<br />
schrumpfen, plötzlich passt es nicht mehr<br />
in den Projektor, wo es mal gezeigt wurde.<br />
Kluge Was machen Sie dann?<br />
Schlingensief Wässern. O<strong>der</strong> unbelichtetes<br />
Material kann durch Hammerschläge belichtet<br />
werden, nur durch die Reibung, durch<br />
den Kontakt <strong>mit</strong> dem Material, durch den<br />
Schlag da drauf, gibt es Blitze und dann wird<br />
das belichtet. Das ist Energie. Lange Zeit habe<br />
ich die Reinheit fast zu hoch gehalten. Ich<br />
habe einen Film <strong>mit</strong> Vorspann und Nachspann<br />
gemacht, und dazwischen war eine<br />
Handlung. Dann haben die einen gesagt, das<br />
ist zu laut, das ist zu unscharf, das ist irgendwie<br />
nicht zu verstehen, schlecht erzählt. Diese<br />
Handlung ist jetzt einfach weg. Es schneidet<br />
sich ja selber. Die Handlung ist <strong>der</strong> Mensch,<br />
<strong>der</strong> da reingeht, und das steinzeitliche Erlebnis<br />
ist <strong>der</strong> Schatten auf <strong>der</strong> Wand, <strong>der</strong> mich<br />
gleichzeitig auf meine Reproduzierbarkeit<br />
hinweist. Weil ich mich erschrecke, denke ich:<br />
Was ist das für ein Schatten? Und merke: Das<br />
bin ja ich. Da gibt es ein Abbild von mir. In<br />
<strong>der</strong> Unreinheit liegt eigentlich ein viel größeres<br />
Potenzial an Wahrheit. <br />
<br />
Gekürzte Fassung <strong>eines</strong> Gesprächs aus „Alexan<strong>der</strong><br />
Kluge – Magazin des Glücks“ (Hg. : Sebastian<br />
Huber / Claus Philipp), erschienen in <strong>der</strong> „Edition<br />
Transfer“/Springer <strong>Wien</strong> New York.<br />
Christoph Schlingensief<br />
Menu Total<br />
BRD 1985/1986<br />
Regie Christoph Schlingensief<br />
Drehbuch Christoph Schlingensief<br />
Kamera Christoph Schlingensief<br />
Kameraassistenz Ralf Malwitz<br />
Technik/Licht Norbert Schliewe<br />
Kostüme Katrin Köster, Eckhard Kuchenbecker<br />
Musik Helge Schnei<strong>der</strong><br />
Script Volker Bertzky<br />
Schnitt Eva Will<br />
Ton Andreas Wölki<br />
Filmskizzen Ariane Traub<br />
Produzent Christoph Schlingensief<br />
Produktion DEM Filmproduktion, Oberhausen<br />
Darsteller<br />
Helge Schnei<strong>der</strong>, Volker Bertzky, Dietrich<br />
Kuhlbrodt, Alfred Edel, Reinald Schnell, Anna<br />
Fechter, Joe Bausch, Annette Bleckmann,<br />
Thirza Bruncken, Wolfgang Schulte<br />
Technik 35mm (Blowup von 16mm) /<br />
Schwarzweiß / 1:1,66<br />
Länge 81 Minuten<br />
Deutsche Originalfassung<br />
26. September bis 9. Oktober 2008,<br />
18.30 / 20.15 / 22.00 <strong>Stadtkino</strong>
WALTZ BASHIR<br />
WITH<br />
ein film von ari folman<br />
Bridgit Folman Film Gang Les Films D’ici Razor Film präsentieren in Koproduktion <strong>mit</strong> Arte France Itvs International in Zusammenarbeit <strong>mit</strong> Noga Communications – Channel 8<br />
The New Israeli Foundation For Cinema & T.V. Medienboard Berlin-Brandenburg Israel Film Fund HOT – Telecommunication Systems Ltd.<br />
WALTZ WITH BASHIR ein Ari Folman Film Art Director & Illustrator David Polonsky Director of Animation Yoni Goodman Schnitt Nili Feller Visual Effects Supervisor Roiy Nitzan Sound Designer<br />
Aviv Aldema Komponist Max Richter Produzenten Serge Lalou Yael Nahlieli Gerhard Meixner Roman Paul Buch, Regie & Produktion Ari Folman<br />
zu sehen im stadtkino (OmdU), Burgkino (OmeU), village wien <strong>mit</strong>te (df), cine center (df)